Title: Die menschliche Familie nach ihrer Entstehung und natürlichen Entwickelung
Author: Friedrich von Hellwald
Release date: September 10, 2016 [eBook #53025]
Language: German
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von
Friedrich von Hellwald.
LEIPZIG
Ernst Günthers Verlag.
1888.
Die
menschliche Familie
nach ihrer Entstehung
und natürlichen Entwickelung
von
Friedrich von Hellwald.
LEIPZIG
Ernst Günthers Verlag.
1889.
Alle Rechte vorbehalten.
Dem Buche, welches ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, habe ich nur wenige Worte voranzusenden. Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der menschlichen Familie ist in den jüngsten Jahren mehrfach erörtert und selbst in populärer Weise dargestellt worden. Ernste Forscher haben sich damit beschäftigt. Mein Buch, die Frucht langjähriger und eingehender Studien, wendet sich nun vornehmlich an die wissenschaftlichen Kreise und versucht mit Heranziehung besonders der vergleichenden Völkerkunde die bisher vorgebrachten Meinungen zu sichten, auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen und auf diesem Wege ein Gebäude aufzurichten, welches dem dermaligen Stande unserer Kenntnisse sowohl von der Urzeit, als von der Gegenwart unseres Geschlechtes entspricht. Wenn in den verwickelten und in die mannigfachsten Gebiete einschlägigen Fragen, aus welchen die Geschichte der Familie sich zusammensetzt, der Ethnograph hauptsächlich zum Worte kommt, so möge dies in der Studienrichtung des Verfassers einige Entschuldigung finden. Ich glaube dies um so sicherer erhoffen zu dürfen, als eben die Völkerkunde, deren wachsende Bedeutung deswegen immer allgemeiner anerkannt wird, den erklärenden Schlüssel zu den meisten kulturgeschichtlichen Phänomenen und gesellschaftlichen Problemen verwahrt.
Tölz, im September 1888.
Der Verfasser.
I. | Einleitung | 1 |
II. | Die Geschlechter und der Paarungstrieb | 4 |
III. | Werbesitten und Geschlechtsverkehr im Tierreiche | 17 |
IV. | Das Familienleben der Tiere | 33 |
V. | Naturmensch und Urmensch | 43 |
VI. | Das Schamgefühl und dessen Äusserungen | 60 |
VII. | Kuss und Liebe | 97 |
VIII. | Der Geschlechtsverkehr in der Urzeit | 121 |
IX. | Geschlechtsgenossenschaft und Muttergruppe | 145 |
X. | Exogamie und Clanbildung | 176 |
XI. | Entwicklungsbedingungen und Wesen des Matriarchats | 197 |
XII. | Einrichtungen und Sitten im Matriarchat | 208 |
XIII. | Die Bündnisformen im Matriarchat | 227 |
XIV. | Die Polyandrie | 241 |
XV. | Das Levirat | 262 |
XVI. | Der Frauenraub und seine Folgen | 275 |
XVII. | Die Phasen des Scheinraubs | 287 |
XVIII. | Der Frauenkauf | 306 |
XIX. | Kulturwirkungen des Frauenkaufs | 323 |
XX. | Ausbildung des Patriarchats | 347 |
XXI. | Die patriarchalische Vielweiberei | 366 |
XXII. | Die Familie im Islâm | 391 |
XXIII. | Der Harem | 417 |
XXIV. | Zeitehen und wilde Ehen | 438 |
XXV. | Entwicklung des Patriarchats in Indien | 453 |
XXVI. | Clan- und Dorfverfassung | 481 |
XXVII. | Der Geschlechter- oder Sippenverband | 497 |
XXVIII. | Die Altfamilie | 529 |
XXIX. | Entwicklung der modernen Ehe und Familie | 554 |
XXX. | Rückblick und Ausblick | 567 |
Sach-Register | 582 |
[1], und da er fast ausschliesslich den Kulturmenschen und insbesondere den deutschen Kulturmenschen im Auge hat, so ist seine Definition ziemlich unantastbar. Er fährt indes fort: „Sie ist die ursprünglichste, urälteste menschlich-sittliche Genossenschaft, zugleich eine allgemein menschliche; denn mit der Sprache und dem religiösen Glauben finden wir die Familie bei allen Völkern der Erde wieder.“[2] Dem ist nun nicht so; nicht nur kennt die Völkerkunde familienlose Menschenstämme, sondern bei vielen, welche wir nicht als familienlos[S. 2] bezeichnen möchten, tritt das, was man etwa mit starker Dehnung des Begriffes als „Familie“ gelten lassen kann, unter sehr verschiedenen Formen auf, ja unter Formen, welche mitunter unseren heftigsten Abscheu erregen und gradezu das Gegenteil von der geheischten leiblichen und sittlichen Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechtes zu sein scheinen. Die Frage ist daher berechtigt, woher es kommt, dass uns Kulturmenschen der oben aufgestellte Begriff der Familie gewissermassen der einzig zulässige geworden und ob dem zu allen Zeiten so gewesen sei? Darin liegt aber die stillschweigende Anerkennung, dass auch die Familie, dieser Eckpfeiler unserer Gesittung und sozialen Anschauungen, kein Unwandelbares, weder eine göttliche Einrichtung, noch ein allgemein menschliches Bedürfnis sei. Über Ursprung und Entwicklung dieser allerwichtigsten unserer gesellschaftlichen Institute sollen nun die nachstehenden Blätter — Ergebnisse langjähriger ethnographischer Forschungen — einigen Aufschluss gewähren.
urch die leibliche und sittliche Verbindung von Persönlichkeiten der beiden Geschlechter zur Wiederherstellung des ganzen Menschen — die Ehe — entsteht die Familie. Denn mit jener Wiederherstellung des ganzen Menschen ist zugleich die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes gegeben und die drei Elemente der Familie: Vater, Mutter und Kinder sind in ihr bereits vollständig vorausgesetzt. Die Familie ist darum der erste und engste Kreis, in welchem wir unser ganzes menschliches Wesen wiederfinden, uns in uns befriedigt und bei uns selbst daheim fühlen.“ Also spricht einer der bedeutendsten deutschen Kulturhistoriker, W. H. Riehl, in seinem Buche über die FamilieIch will dabei ganz methodisch zu Werke gehen. Vater, Mutter und Kind bilden, wie oben bemerkt, die drei Elemente der Familie nach unseren Begriffen, und dabei spielt das Kind gewissermassen die Hauptrolle, denn erst mit seinem Erscheinen erweitert sich die Vereinigung von Mann und Frau zur „Familie“. „Haben Sie Familie?“ hört man fragen und meint damit, ob Kinder vorhanden seien. Von kinderlosen Ehepaaren sagen wir bedauernd, sie hätten „keine Familie“. Im weiteren Sinne lässt man zwar solche Ehepaare als Familien gelten, weil vorausgesetzt wird, dass jede Ehe behufs Begründung einer Familie zustande kommt; im eigentlichen Sinne aber werden sie nicht als Familie anerkannt, denn es fehlt ihnen dazu eben deren wesentlichstes Merkmal: die Nachkommenschaft. Da nun letztere erst eine Folge der Vereinigung zweier Personen verschiedenen Geschlechtes ist, welche Vereinigung in der Kulturwelt ihren anerkannten Ausdruck in der Ehe findet, so wird jede Untersuchung über die Geschichte der Familie notwendig eine solche über die Ehe einschliessen müssen. Weil aber die Ehe ihrerseits wiederum nur innerhalb bestimmter Gesittungskreise als Weihe des Geschlechts[S. 3]verkehrs erachtet wird, so liegt uns zunächst die Aufgabe ob, diesem letzteren selbst in seinen wechselnden Formen bis auf jene untersten Stufen nachzuspüren, wo er sich als rein animale Verrichtung des menschlichen Organismus erweist. Im Geiste der Darwinschen Entwicklungslehre, welche eine qualitative Verschiedenheit zwischen menschlichem und tierischem Organismus nicht anzuerkennen vermag, glaube ich nun zu dem angedeuteten Zwecke zunächst einen flüchtigen Blick auf das organische Gattungsleben in der Tierwelt werfen zu sollen, der nicht ohne Nutzen für die späteren Untersuchungen bleiben dürfte.
[S. 5] Ausbildung neuer Charaktere, die Hervorbringung neuer Arten, zu ermöglichen.[3]
ie Erhaltung der Art und in noch höherem Masse die Weiterbildung und Entwicklung derselben zu neuen Formen ist die wichtigste Sorge der Natur, welche zur Erreichung dieses ihres vornehmsten Zweckes des Kampfes ums Dasein sich bedient. Den höheren Geschöpfen wird dieser Kampf ums Dasein wesentlich erleichtert durch die Trennung der Geschlechter. Auf den niedrigsten Stufen des Tierreiches kommt sie noch nicht vor; sie tritt erst dort auf, wo der kunstvoll gebaute Organismus eine grössere Reihe von Verrichtungen zu vollziehen hat, um im Flusse des Geschehens dauernd aufrecht sich zu erhalten. Wo also ein Tier zu grösserer Anstrengung bestimmt ist, wo es arbeiten muss, um zu bestehen, wo es nicht mehr widerstandslos den Strom der Ereignisse auf sich eindringen lässt, sondern ihm sich entgegenstellt und in ihm eigene Bahnen zu verfolgen strebt, da erscheint die Trennung der Geschlechter, und zwar als eine Teilung der Arbeit, von der Natur zu ihrem Zwecke der Artenentwicklung geschaffen. Dem einen, dem weiblichen Wesen, ist die Sorge für die Nachkommenschaft, die Aufgabe der Erhaltung der Art übertragen; das andere, das männliche Individuum ist für die Entwicklung geschaffen; es ist bestimmt im Kampfe ums Dasein besondere Eigentümlichkeiten zu erwerben, diese dadurch, dass es auch am Geschäfte der Fortpflanzung sich beteiligt, den Nachkommen zu vererben und so eine allmähliche Steigerung der letzteren, die endlicheDem entsprechend zeichnet sich fast das ganze Tierreich hindurch das männliche Geschlecht durch grössere Kraft und Beweglichkeit des Leibes, durch höhere Ausbildung der Sinne aus, ist auch mit grösserer Leidenschaftlichkeit begabt. Das weibliche Geschlecht erscheint unbeholfener und schwerfälliger in seinem Leibesbau; es ist behindert und gehemmt durch vielfache Einrichtungen zum Schutz und zur Pflege der Nachkommenschaft, und seinem geistigen Wesen nach zeigt es sich scheu und zurückhaltend. So ist es auch beim höchstorganisierten Lebewesen, dem Menschen. Um in ihm etwas anderes zu sehen, als den obersten und vornehmsten Vertreter der irdischen Tierwelt, muss man von metaphysischem Nektar berauscht sein, und nichts ist mehr als die vergleichende Physiologie geeignet in dieser Beziehung jeglichen Stolz zu dämpfen. Des Menschen ganze Organisation ist homolog derjenigen der höheren Tierarten. Er hat ein ähnliches Knochenskelett, ein ähnliches Gebiss, ein Muskel-, Nerven-, Verdauungssystem, wie es bei den Säugetieren sich vorfindet. Er ist fähig, ansteckende Krankheiten auf Tiere zu übertragen[4] und von diesen anzunehmen, wodurch sich erweist, dass eine grosse Ähnlichkeit zwischen dem Tier- und Menschenblute vorhanden sein muss. Die Affen werden in einem ähnlichen hilflosen Zustande geboren wie die Menschen, und die Völkerstämme in den Tropen kommen mitunter in demselben Alter zu einer gewissen Reife, wie einige hoch organisierte Vierhänder. Und wie bei letzteren Männchen und Weibchen auf den ersten Anblick nur ganz geringfügige Abweichungen im Körperbau aufweisen, so ist auch bei sehr vielen rohen Menschenstämmen das Weib vom Manne leiblich nur sehr wenig unterschieden. Von den nackten Insulanern auf Neubritannien erzählt Wilfred Powell,[S. 6] welcher drei Jahre unter diesen Kannibalen verweilte, dass die Frauen in einiger Entfernung schwer von den Männern zu unterscheiden seien.[5] Désiré Charnay bemerkt das Gleiche von den Lacandon-Indianern Mittelamerikas.[6] Negerinnen von unvermischtem Blute haben nur selten üppige Formen und ähneln in Bezug auf den Knochenbau in auffälliger Weise den Männern, so dass sie, aus einiger Entfernung gesehen, von diesen kaum zu unterscheiden sind. Das Nämliche gilt von einer ganzen Reihe niedriger Völkerstämme.
In diesem Zustande der Dinge bewirkt beim Menschen freilich eine zuweilen bis ins Gegenteil umschlagende Veränderung oder „Differenzierung“ den Hinzutritt jenes Etwas, das wiederum mit einem, in unserer Sprache nicht völlig sinnerschöpfend wiederzugebenden, Fremdworte als „Kultur“ bezeichnet wird. Die leibliche Differenzierung der Geschlechter bleibt desto geringer, je tiefer die betreffenden Stämme auf der Stufenleiter der Kulturentwicklung stehen; sie wächst mit dieser. Julius Lippert, ein geistvoller Forscher, hat recht scharfsinnig dargethan, wie das Fortschreiten von der in der Urzeit vorherrschenden Pflanzennahrung zur Fleischkost, wie die auf Erfindung von Waffen und Fangmethoden gegründete Jagd jene Differenzierung zuerst ermöglichte und damit die natürliche Scheidung der Geschlechter erweitern musste. Sowohl das Mädchen als Kind, wie das Weib als Mutter waren schlechte Jagdgenossen. Auf der Stufe der höheren, gefahrvolleren Jagd sondert sich die Erwerbs- und darnach auch die Nahrungsweise des Weibes von der des Mannes ab, und zweifellos hat schon in früherer Zeit diese Verschiedenheit der Ernährungsformen auch über die Gestaltung der untergeordneten, jüngeren (sekundären) Merkmale der Geschlechter hinaus ihren Einfluss üben müssen. Das längere Verharren bei der Pflanzenkost hat dem weiblichen Geschlechte das Merkmal des Zarteren, Schwächeren verliehen, was im Durchschnittsmasse der Körpergrösse, in Musku[S. 7]latur und Stärke sich ausspricht, bei einigen Stämmen, wie beispielsweise den nordamerikanischen Indianern, so sehr, dass — ganz im Gegensatze zu den oben gemeldeten, ursprünglicheren Erscheinungen — die beiden Geschlechter desselben Volkes wie zwei verschiedenen Rassen angehörend aussehen.[7] Aber nicht bloss die Nahrung, sondern auch andere Momente können eine Rolle in der Differenzierung der Geschlechter spielen. Die Erbreiterung des durch seine Schmalheit auffallenden weiblichen Beckens und sonstige Ausbildung des Körpers bei den Negerinnen scheint z. B. Herrn Hugo Zöller durch eine wenn auch noch unbedeutende Beimischung europäischen Blutes begünstigt zu werden, darnach zu urteilen, dass die meisten Mulattinnen fast übermässig stark entwickelte Körperformen besitzen.[8] Man darf also füglich sagen, dass die leibliche Differenzierung der Geschlechter mit ihrer jeweiligen Kulturentwicklung gleichen Schritt halte.
Wie ähnlich oder verschieden nun männliche und weibliche Geschöpfe sein mögen, stets ergänzen sie einander und bilden in ihrer Vereinigung erst das rechte, wahre Individuum. Zu dieser Vereinigung werden sie aber durch den mächtigsten Drang getrieben:
singt Friedrich Schiller und fasst in diesen wenigen Worten mit scharfem Blicke die zwei Haupttriebfedern des Thuns und Lassens der Lebewesen zusammen. Der mächtigste Urheber alles Fortschrittes ist sonder Zweifel der Hunger gewesen, denn das Nahrungsbedürfnis kehrt stets in kurzen Zeiträumen wieder und lässt sich darüber hinaus nur schwer und dann nicht lange beschwichtigen. Überall auf Erden geht der Geschöpfe erstes Sinnen und Trachten auf Stillung des Hungers aus, und welche Eroberungen verdankt[S. 8] die Menschheit nicht diesem allgewaltigen Triebe! Jagd, Fischfang, Ackerbau, ja eine Menge von Industriezweigen und selbst von gesellschaftlichen Einrichtungen haben keine andre Ursache, als den Stachel des Hungers.
Nächst dem Hunger der mächtigste Tyrann der organischen Welt ist der Geschlechts- oder Paarungstrieb, welcher die Geschlechter einander in die Arme führt. Ernährung, Kreislauf, Atmung, Ab- und Aussonderungen sorgen für die Erhaltung des Individuums. Zur Erhaltung der Gattung führt die Zeugung (Generatio), welche in der Pflanze auf einer Notwendigkeit, im Tiere auf einem Instinkte beruht, im Menschen ein durch die Dazwischenkunft des Geistigen veredelbarer Trieb ist,[9] zur Liebe werden kann, von der Schiller spricht und die Dichter aller Zeiten singen. Dem Paarungstriebe sind in einem gewissen Stadium ihrer Entwicklung ausnahmslos alle normal gebildeten Individuen der höheren Tierarten unterworfen; er ist mit einem Worte ein Naturgesetz. Auf einer untersten Stufe ist dem Geschöpfe, nicht als Individuum, sondern in Anbetracht seiner Erhaltung, nichts so sehr von Nutzen, als dass durch unvermitteltes Nervenspiel dem Anreize zur Fortpflanzung sofort die entsprechende Thätigkeit der Bewegungsnerven folge. Der Mensch bewahrt noch unverloren dieses alte Erbe. Das Zeugungsgeschäft (Coitus) ist eine reflexive, automatische Bewegung, welche man ererbt und welche sich vollzieht wie das Atmen und Milchsaugen aus dem mütterlichen Busen. Werden ein mannbarer Mann und ein eben solches Weib, so führt Paolo Mantegazza, der gefeierte Florentiner Anthropologe, aus, mögen sie noch so unschuldig sein, sich selbst überlassen, so werden sie, nachdem sie sich einander genähert haben, ohne es fast zu wissen, den Weg finden, durch den ein neues Geschöpf in das Leben gerufen wird.[10] Plato hat den Träger des Geschlechtssinnes deshalb nicht mit Unrecht[S. 9] als ein Tier für sich innerhalb des Menschen bezeichnet; so selbständig erschien ihm sein Verhalten unter Abweisung des Einflusses der „oberen Seelen“, so überwiegend wirksam erscheint hier noch der ererbte Instinkt aus der Zeit primitivster Sorge für die Erhaltung des Lebens der Art.[11] Man nennt daher diesen Paarungs- oder Begattungstrieb auch den „Zeugungstrieb“, insoferne als dessen Befriedigung normal das Entstehen von Nachkommenschaft zur Folge hat. Doch möchte ich letztere Benennung weniger bevorzugen, weil in ihr der Sinn zu schlummern scheint, als ob die Zeugung der von den Individuen beabsichtigte Zweck ihrer Vereinigung wäre. Dies ist aber durchaus nicht der Fall.
Die Vereinigung der Tiere erfolgt instinktiv; sie dienen in derselben nicht sich, nicht ihrem eigenen Nutzen, sondern sie folgen unbewusst den Zwecken der Natur. Freilich wird der Geschlechtstrieb befriedigt, dessen Unterdrückung für das Geschöpf die schwersten Schädigungen herbeiführen kann und somit einfach widernatürlich ist. Das vornehmste Wesen der Schöpfung vermag allerdings, wenn zum Kulturmenschen emporgestiegen und auf der höchsten Staffel der Gesittung, diesen Naturtrieb zu zügeln, einzuschränken und unter Umständen zu unterdrücken, ohne gegen seinen Organismus allzu empfindlich zu freveln, wie ja die fortschreitende Kultur so manche Äusserung unseres tierischen Seins zu bemeistern versteht. Auf niedrigen Entwicklungsstufen und in der Tierwelt fehlt die den Trieb bändigende Vernunft. Da aber dieser Trieb an sich nicht dem Tiere, sondern nur den Zwecken der Natur dient, so kann seine Befriedigung nicht als eigentlich nützlich angenommen werden. Er erweist sich im Gegenteil in seinen Folgen als geradezu nachteilig. Schon die Erzeugung der Nachkommenschaft ist dem weiblichen Individuum eine schwere Last. Die Pflege derselben erfordert von den Eltern, mag sie nun von beiden in gemeinsamer Thätigkeit oder von einem derselben allein geübt werden, eine grosse Aufopferung, das häufige Hintansetzen des eigenen Wohlergehens eine persönliche Schädigung,[S. 10] die durchaus nicht in dem Gefühl der Liebe der Eltern für ihre Jungen einen Ausgleich finden kann. In den Nachkommen endlich erwachsen den Eltern die ärgsten Feinde. Denn da gerade sie mit diesen unter den gleichen Verhältnissen leben, so verkümmern sie ihnen am meisten den Lebensunterhalt, so treten sie mit ihnen am unmittelbarsten in den Kampf ums Dasein ein.[12] Dies gilt mit gleicher Schärfe, wie von den Tieren, vom Menschen auf niederer Entwicklungsstufe und, wenn auch vielfach abgeschwächt, gemildert und in veränderter, unauffälliger Form, selbst in den Kreisen fortgeschrittenster Gesittung. Auch da wird gar oft Kindersegen zum Unheil der Erzeuger. Wenn man trotzdem gar häufig solche unter der Kinderlast seufzenden, auch wohl zusammenbrechenden Paare beharrlich mit der Vermehrung ihrer Nachkommenschaft beschäftigt sieht, so muss dies einen Beweggrund haben, welchem die Willenskraft nur sehr schwer und selten zu widerstehen vermag. Das Zeugungsgeschäft ist nämlich, wie man weiss, mit einem sinnlichen Reize verbunden, dem heftigsten, berauschendsten, den man kennt, und die Steigerung des Lustgefühls hält in Form und Wirksamkeit (Intensität) gleichen Schritt mit der Entwicklung der diesem Zwecke dienenden Organe, sowie der Vervollkommnung der Nervencentren. Wie in so vielen anderen Dingen scheint der Mensch auch in den Freuden des Geschlechtsgenusses am reichlichsten bedacht. Ist es doch, als ob die Natur alle ihre Schätze verschwenden wollte, indem sie die Annäherung der Geschlechter mit allen erdenklichen Reizen ausstattet, gleichsam um den Mann zu entschädigen für den Verlust so vieler Kräfte, das Weib aber für die unsäglichen Schmerzen und Opfer, deren Preis eben die kurzen Augenblicke sinnlicher Glückseligkeit sind.[13] Diesen Taumel physischer Wollust, zu deren Beschreibung keine Sprache Worte hat und den der schwache Mensch nicht zu ertragen vermöchte, wenn er von längerer Dauer wäre, dies und nur dies allein erstrebt der seinem inneren Wesen nach völlig blinde Paarungstrieb, und man darf dreist behaupten, dass ohne[S. 11] den Köder dieser wichtigen Beigabe das Zeugungsgeschäft nimmer die Macht eines Naturgesetzes ausüben würde und könnte. Dem „Wilden“ — wenn ich mich dieses unzutreffenden Ausdruckes bedienen darf — gilt wenigstens die Zeugung für eine Beigabe der Geschlechtswonnen, nicht umgekehrt; für eine Beigabe, die oft weder erwünscht, noch viel weniger beabsichtigt ist. Beweis dafür die sinnreichen Versuche so vieler ungesitteter Völker, auf künstliche Art den Genuss sich zu sichern, dessen lästige Folgen, die Nachkommenschaft, aber zu verhüten. Bei den barbarischen Völkern Guyanas, wie bei den halbzivilisierten Bewohnern der Südseeinseln giebt es viele junge Weiber, die nicht Mütter werden wollen und zu diesem Behufe nach Alexander von Humboldts Zeugnis giftige Kräuter gebrauchen.[14]
Im allgemeinen dürfte jedoch dem Urteile nicht zu widersprechen sein, dass bei niedrigen Menschenstämmen und unter normalen sozialen Verhältnissen der erotische Antrieb, der Paarungstrieb — wie auch in der Tierwelt — ein beschränkterer sei, als auf höheren Staffeln der Gesittung.[15] Einen sehr verwandten Gedanken spricht Cesare Lombroso[16] aus, ein hervorragender Kriminalstatistiker des modernen Italien. Es dünkt mir indessen auch eine, zwar keines direkten Beweises fähige, aber sonst nicht ganz unstatthafte Vermutung, dass die sinnlichen Freuden ihrerseits einer Entwicklung, einer Steigerung fähig seien und dass unsere urgeschichtlichen Vorfahren dieselben nicht in dem gleichen Grade empfunden haben, wie spätere, feiner ausgebildete Geschlechter. Niemand wird im Ernste bestreiten wollen, dass mit wachsender Gesittung auch das menschliche Nervensystem sich verfeinere. Man blicke nur zurück auf die Zustände innerhalb der europäischen Kulturnationen noch vor wenigen Jahrhunderten; unwillkürlich drängt die Überzeugung sich auf, dass die Menschen der Gegen[S. 12]wart wahrscheinlich anders geartet sind als ihre Vorgänger. Es scheint wirklich, dass der physikalische Charakter der Menschheit im Laufe der Zeit sich wesentlich verändert hat, und es unterliegt keinem Zweifel, dass das Blut und die Säfte des Menschen früher die vorherrschende Rolle spielten, während es jetzt die Nerven sind, die fast ausschliesslich den Körper der Europäer, sowie der Weissen in Nordamerika beherrschen. Gröber angelegte Wesen vermögen aber Lust und Schmerz[17] nicht in gleich wirksamer Weise zu empfinden, wie die feiner organisierten. Alexander von Humboldt bezeugt, dass die ungemein schmerzhaften Stiche und Bisse der Moskiten von den Indianern Südamerikas weit weniger als von den Europäern empfunden werden, denn Grad und Dauer des Schmerzes hängen von der Reizbarkeit des Nervensystems der Haut ab.[18] Leutnant Mage, der mit Dr. Quintin mehreren mörderischen Gefechten gegen die Bambarra beiwohnte, hatte dabei Gelegenheit wiederholt zu beobachten, — so sagt er selbst — wie viel weniger entwickelt oder vielmehr wie viel weniger empfindlich das Nervensystem der Neger ist als das unsrige, woraus es sich erklärt, dass sie auch schwerere Operationen so leicht ertragen.[19][S. 13] Freilich stehen über die Empfindung der Lust noch weit weniger Beobachtungen zu Gebote als über den Schmerz, der sich zu äussern viel mehr Gelegenheit findet. Indes hat der leider der Wissenschaft zu rasch entrissene Paul Broca an den Schädeln der Pariser Katakomben den Nachweis geliefert, in welchem Masse das Volumen derselben innerhalb sechs Jahrhunderte, d. h. mit Fortschreiten der Gesittung sich vergrössert habe. Es hiesse aber aller Analogie ins Gesicht schlagen, wollte man für das Nervensystem verneinen, was für den Behälter unseres Denkvermögens sich nicht bestreiten lässt. Anthropologische Messungen haben auch ergeben, dass Grösse und Gewicht des Gehirns mit der erklommenen Kulturstufe gewissermassen Schritt halten, derart, dass die höchstgestiegenen Rassen sich auch der grössten und schwersten Gehirne erfreuen, während bei niedrigen Stämmen das Umgekehrte eintritt. Der geschätzte Anatom und Physiologe Th. Bischoff hat in einem neueren Werke[20] nachgewiesen, so weit dies die noch unzulänglichen Materialien gestatten, dass: während das mittlere Hirngewicht bei allen gesitteten Nationen so ziemlich das gleiche zu sein scheint, das der niederen Negerrassen in der That nicht nur ein geringeres ist, sondern auch geringere Unterschiede in Beziehung auf die Geschlechter und die Individuen darbietet. Zu gleichen und manchen anderen überraschenden Ergebnissen gelangt auch Dr. Gustave Le Bon in einer ungemein fleissigen, auf sorgfältigen Messungen beruhenden Arbeit.[21] Innerhalb der Kulturwelt haben wiederum, wie der Pariser Gelehrte ziffermässig darthut, die geistig thätigeren Klassen durchschnittlich die grössten Gehirnmassen, wie der Schädelumfang zu schliessen gestattet.[22][S. 14] Wird auch das geistige Vermögen nicht ohne weiteres von der Massigkeit des Gehirns beherrscht, so bilden doch den bisherigen Befunden zufolge bei geistig hervorragenden Individuen grössere Gehirnmengen zwar keine ausnahmslose Regel, aber doch die entschiedene Mehrzahl, und da das Nervensystem mit den enkephalen Zuständen innig zusammenhängt, so ist es vielleicht nicht unerlaubt zu schliessen, dass jene Geistesriesen auch nervös feiner organisiert sind, d. h. Lust und Schmerz lebhafter empfinden als andre. Vielleicht erklärt sich dadurch, dass gerade solche Individuen, wie Napoleon oder ein Goethe, erotischen Freuden ganz besonders zugethan sind. Bekanntlich bestehen auch innerhalb eines und desselben Kulturvolkes, je nach seinen verschiedenen Schichten, starke Abstufungen der individuellen Nervenorganisation. Was nun für die einzelnen richtig ist, gilt wohl auch für die verschiedenen Stämme, Völker und Rassen.
Möge indes der Sinnengenuss einer Steigerung fähig sein oder nicht, stets ist derselbe gross genug, um allen Lebewesen als begehrenswertestes Ziel zu winken. Dabei ist es immer das Männchen, welches den Dingen entgegenstürmt, oft des erhofften Genusses wegen Gefahren des Lebens sich aussetzt, während das Weibchen sich scheu zurückzieht und dem Strome des Geschehens auszuweichen sucht. „Jeder Jäger,“ bemerkt ein bewährter Naturforscher,[23] „kennt das Sprengen bei Reh und Hirsch: das weibliche Thier flieht, das männliche verfolgt — dasselbe[S. 15] Verhältnis, wie zwischen Raubtier und Beute. Mir ist kein Tier bekannt, bei welchem das weibliche Geschlecht das verfolgende, überwältigende, das männliche das verfolgte und Widerstand leistende wäre; es ist stets umgekehrt, auch in solchen Fällen, in denen, wie bei den Spinnen, das weibliche Tier das stärkere ist und nach der Begattung oft genug das Männchen auffrisst. Trotz aller Maskierung, die der Instinkt beim Menschen durch erzieherische Einflüsse erfährt, verleugnet sich dasselbe auch bei ihm nicht: die Sprödigkeit ist eine Eigenschaft des Weibes, die Zudringlichkeit kommt dem Manne zu.“ Und dieses Verhältnis gelangt, wie ich bemerken möchte, auch schon zu deutlichem Ausdruck in dem anatomischen Bau der beiden Geschlechter, welcher dem männlichen Zeugungsapparat eine bevorzugte, zum Angriff geeignete Stellung anweist, während er den weiblichen in der Tiefe des Beckens verbirgt und die Wahrung desselben gegen unerwünschte Angriffe ermöglicht. Nur mit Gewalt kann das widerstrebende Weib bezwungen werden, daher bleibt es von Natur aus der gewährende Teil, physisch wie moralisch. Alle Phänomene, welche der Vereinigung der Geschlechter vorangehen, laufen darauf hinaus, dass dem Weibe von Haus aus die Aufgabe zufiel, eine gewisse zeitlang die Angriffe des Mannes zu vereiteln, indem es einen für beide Teile schweren Strauss kämpft, welcher den Sieg desto köstlicher erscheinen lässt, je heftiger und hartnäckiger der Widerstand war. Das Weib des Wilden, vom Manne verfolgt, flüchtet und verbirgt sich, während die europäische Jungfrau mit den Waffen der Schamhaftigkeit und Züchtigkeit das glühende Verlangen des Geliebten reizt und steigert, welchem sie erst nach harten Proben sich überlässt.[24]
Der Paarungstrieb spielt in der menschlichen wie in der tierischen Gesellschaft auch um deswillen eine hochwichtige Rolle, weil seine Befriedigung bei den höher organisierten Geschöpfen ein mehr oder minder langes Zusammenleben nach sich zieht. Gewiss ist letzteres meist bloss zeitweilig; die zum Aufziehen der Jungen erforderliche Frist bestimmt im günstigsten Falle dessen Dauer. Wie kurz aber auch ein solches Zusammenleben bemessen sein möge, so zwingt dasselbe doch jedes höhere Wesen auf den oder die Gefährten Rücksicht zu nehmen, sie zu schonen, ja oft um deren Gunst zu buhlen. Aus dieser notwendigen Gemeinschaft entspringen, insbesondere wenn die beiden Geschlechter um die Pflege der Jungen sich bekümmern, Neigungsgefühle, moralische Bande und soziale Gewohnheiten.
[3] Dr. Herm. Frerichs. Zur Naturgeschichte des Menschen. Norden. 1886. S. 97–100.
[4] Dr. Otto Mohnicke teilt einen Fall mit, wo die dem Menschen für spezifisch eigentümlich geltende Krankheit der Pocken auf einen Gibbon übertragen wurde. (Ausland 1872, S. 800–801).
[5] Wilfred Powell. Unter den Kannibalen von Neubritannien. Drei Wanderjahre durch ein wildes Land. Leipzig, 1884. S. 123.
[6] Désiré Charnay. Les anciennes villes du Nouveau Monde. Paris, 1885. S. 399.
[7] Julius Lippert. Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau. Stuttgart, 1886. Bd. I. S. 64–65.
[8] Hugo Zöller. Forschungsreisen in der deutschen Kolonie Kamerun. Berlin u. Stuttgart, 1886. Bd. II. S. 85.
[9] Joseph Hyrtl. Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Fünfzehnte Aufl. Wien, 1881. S. 9.
[10] Paul Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Skizzen über die Geschlechtsverhältnisse des Menschen. Aus dem Italienischen. Jena, 1886. S. 48.
[11] Lippert. A. a. O. Bd. I. S. 14.
[12] Frerichs. A. a. O. S. 101.
[13] Paolo Mantegazza. Fisiologia del piacere. Mailand, 1870. S. 37.
[14] Alexander von Humboldts Reise in die Äquinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff. Stuttgart, 1860. Bd. III. S. 154. 156.
[15] Julius Lippert. Die Geschichte der Familie. Stuttgart, 1884. S. 30.
[16] Quanto più cresce l’intelletto e quanto più crescono i messi della vita, più si moltiplicano i desiderii e la potenza d’amore. (Cesare Lombroso. L’amore nel suicidio e nel delitto. Turin, 1881. S. 38.)
[17] Vom Schmerz weiss man bestimmt, wie manche Halbwilde uns schier unerträgliche Pein und Qualen auszuhalten vermögen, ohne das leiseste Zeichen von Schmerzempfindung zu geben. Wenn auch die dabei entfaltete Willensstärke nicht gering anzuschlagen sein mag, so sprechen doch die vielfachen Martern, welche sie sich selbst auferlegen, die mannigfachen Verstümmelungen, die sie oft um einer nichtssagenden Zier willen sich zufügen, die ausgesuchten Grausamkeiten, welche sie an ihren Feinden verüben, sattsam dafür, dass leiblicher Schmerz von ihnen weniger gefühlt wird, als von den nervösen Kulturvölkern. In unseren Augen möchte wohl schon oft der hundertste Teil der auszustehenden Qualen als empörende Scheusslichkeit empfunden werden. Da nun der Mensch stets von sich auf andere schliesst, so muss der Wilde selbst schon ein beträchtliches Mass von Schmerz ertragen können, wenn er es für nötig hält, dieses Mass, um seinen Feind zu quälen, in so barbarischer Weise zu steigern. Auch die Roheiten unserer eigenen Vergangenheit wurzeln sicherlich zum Teile in dem noch geringer entwickelten Nervensystem unserer Väter im Altertum und Mittelalter.
[18] Humboldts Reise in die Äquinoktial-Gegenden. Bd. III. S. 208.
[19] Globus. Bd. XIV. S. 260.
[20] Siehe Dr. Th. L. W. Bischoff. Das Gehirngewicht des Menschen. Eine Studie. Bonn, 1880.
[21] Gustave Le Bon. Recherches anatomiques et mathématiques sur les lois des variations du volume du cerveau et sur leurs relations avec l’intelligence. (Revue d’anthroprologie. 1879. S. 27–104.)
[22] A. a. O. S. 80 teilt Le Bon das Ergebnis seiner an 1200 Individuen angestellten Messungen des Schädelumfanges mit. Es ist wohl interessant genug, um hier eine Stelle zu finden. Darnach entfielen auf einen
Schädelumfang | Gelehrte, | Adel, | Bürger | ||
von | 52–53 | cm | 0,0 | 0,0 | 0,6 |
„ | 53–54 | „ | 2,0 | 3,7 | 1,9 |
„ | 54–55 | „ | 4,0 | 9,2 | 6,2 |
„ | 55–56 | „ | 6,0 | 12,8 | 14,0 |
„ | 56–57 | „ | 18,0 | 28,5 | 24,5 |
„ | 57–58 | „ | 36,0 | 22,0 | 24,5 |
„ | 58–59 | „ | 18,0 | 12,8 | 14,9 |
„ | 59–60 | „ | 8,0 | 8,3 | 7,6 |
„ | 60–61 | „ | 6,0 | 1,8 | 3,3 |
„ | 61–62 | „ | 2,0 | 0,0 | 1,8 |
„ | 62–62,5 | „ | 0,0 | 0,9 | 0,7 |
[23] Gustav Jäger. Die Entdeckung der Seele. Leipzig, 1880. S. 31
[24] Mantegazza. Fisiologia del piacere. S. 39. Mit Bezugnahme auf das oben über den anatomischen Bau Bemerkte, lässt sich die Frage aufwerfen, ob nicht auch in dieser Hinsicht eine Art körperlicher Anpassung an die Anforderungen des Geisteslebens stattfinde. Im Tierreiche versagt sich das Weibchen innerhalb gewisser Zeiten nur selten dem verlangenden Männchen, seine Geschlechtsorgane sind, übereinstimmend damit, ihrer Lage nach weniger verborgen oder geschützt, zugänglicher als beim Menschen, bei dem, selbst auf rohester Stufe, nebst dem Naturtrieb noch andere Momente die weibliche Hälfte in Gewähr oder Versagen ihrer Gunst beeinflussen. Wer nun viel in anthropologischen und ethnologischen Schriften sich unter den Abbildungen wilder und daher noch ungebundener lebenden Menschenspezies umgesehen hat, dem mag es aufgefallen sein, dass bei solchen, wenn anders die Zeichnungen richtig sind, das ostium vaginae sichtbar erscheint in Stellungen, welche dies bei Weibern gesitteterer, nach unseren Begriffen züchtigerer Volksstämme nicht gestatten. Das Organ erscheint darnach weit mehr vorgerückt und zugänglich, viel weniger in die Leibeshöhle zurückgezogen, als z. B. bei den durch ihre Gesittung vielfach auf Versagen angewiesenen Europäerinnen. Vergleichende Messungen des weiblichen Perineums, die aber leider noch fehlen, könnten allein auf die interessante Frage Licht werfen.
s ist unnötig bei der Frage zu verweilen, wieso der tyrannische Geschlechtsinstinkt, dieser Erhalter der Arten, sich zuerst gebildet habe, und woraus er noch in der Gegenwart entstehe. Vom Standpunkte der Gesellschaftslehre (Soziologie) genügt es, einfach die Thatsache seines Vorhandenseins festzustellen und die verschiedenen Formen, welche im Geschlechtsverkehre sich kundgeben, kurz zu beleuchten. Doch halte ich es für empfehlenswert, zuvörderst einen Blick in das Gebahren der Tierwelt zu thun, ehe der Mensch und sein geschlechtliches Treiben zur Erörterung gelangen. In der Tierwelt gelangt nun der Paarungstrieb sehr deutlich zunächst in den Werbesitten der höheren Arten zum Ausdruck, wobei, anknüpfend an das im vorhergehenden Abschnitt Gesagte, stets das Männchen als der werbende Teil auftritt. Oft spielt darin der Kampf um das Weibchen die bedeutendste Rolle.
Von den zahlreichen Beispielen aller Arten erotischer Leidenschaften sei bloss die launige Schilderung angeführt, welche Kapitän Bryant von dem merkwürdigen Treiben der nach Art der türkischen Grossen sehr verliebten und in Polygamie lebenden Ohrenrobben (Otaria jubata L.) auf der St. Paulsinsel entwirft. Gegen den 15. Juni, erzählt Bryant, sind alle Männchen versammelt und alle passenden Plätze vergeben. Die alten Herren erwarten jetzt offenbar die Ankunft der Weibchen. Letztere erscheinen zuerst in kleiner Anzahl, dann aber in immer zu[S. 18]nehmenden Scharen, bis Mitte Juli alle Landungsplätze überfüllt sind. Viele der Weibchen scheinen bei ihrer Ankunft den Wunsch zu hegen, mit einem bestimmten Männchen sich zu vereinigen. Aber sie werden daran durch die „Junggesellen-Robben“ gehindert, welche längs der Küste schwimmend, die ankommenden Weibchen beobachten und sie ans Land treiben. Sobald sie dieses betreten haben, nähert sich ihnen das nächstliegende Männchen, lässt einen glucksenden Laut vernehmen und sucht, der neu angekommenen Genossin freundlich zunickend und sie auch wohl liebkosend, allmählich zwischen sie und das Wasser zu kommen, so dass sie nicht mehr zu entfliehen im stande ist. Sobald ihm dies gelungen, ändert der Haustyrann sein Betragen vollständig, denn an Stelle der Liebkosungen tritt Zwang und das Weibchen wird genötigt, einen der noch freien Plätze im Harem des gestrengen Herrn einzunehmen. In dieser Weise verfährt jeder männliche Seebär, bis alle Plätze in seinem Harem besetzt sind. Aber nun muss er den Besitz seiner Auserkorenen auch energisch verteidigen, da seine über ihm lagernden Kollegen versuchen, seine Weiber zu rauben, indem sie eines derselben mit den Zähnen packen, wie eine Katze die Maus, und in ihren eigenen Weiberzwinger schleppen. Die über ihnen lagernden Männchen verfahren in derselben Weise, und so dauert das Weiberstehlen fort, bis alle Plätze besetzt sind. Dabei giebt es denn oft sehr heftige Kämpfe der Herrn Sultane, welche schliesslich, wenn jeder Harem gefüllt ist, selbstgefällig auf und nieder wandeln, ihre Familien überblicken, die unruhigen Weibchen schelten und alle Eindringlinge wütend davontreiben.
Auch den hässlichen Amphibien schlägt ein begehrendes Gefühl im gepanzerten Busen. Der Alligator ist nach Bartram bestrebt, die Gunst des Weibchens dadurch zu gewinnen, dass er in der Mitte seiner Lagune sich herumtummelt und brüllt und sich dabei benimmt „wie ein Indianerhäuptling, der seine Kriegstänze einstudiert“. Manche Tierarten wissen sogar ihr erotisches Streben mit einem — fast möchte man sagen — poetischen Schimmer zu verklären. Charles Darwin ist der Ansicht, dass den Tieren einiger Schönheitssinn zukomme, wenigstens solchen[S. 19] der höchsten Klassen; dass demnach z. B. weibliche Vögel die Schönheit der vor ihnen Staat machenden Männchen bewundern, sowie sie sich an deren Gesang erfreuen. Hinsichtlich der männlichen Tiere glaubt aber Gerlach, dass die Entfaltung der Schmuckfedern vor den Weibchen männlicherseits keine Kenntnis des Schmuckgefieders voraussetze, sondern nur den geschlechtlichen Reiz, welcher auf diesen Teil des Sexuallebens wirke. Er führt dabei eine Stelle aus Waitz’ Psychologie an: „Die sämtlichen Tiere gebrauchen ihre Glieder im höchsten Grade zweckmässig, ohne dass es darum wahrscheinlich würde, dass sie davon einige Kenntnis besässen.“ Sei dem, wie ihm wolle, Thatsache ist es, dass viele Geschöpfe in der Paarungszeit ihre besten Reize zu entfalten bestrebt sind.
Ganz besonders gilt dies von der Vogelwelt, welche zahlreiche diesbezügliche Beispiele liefert. Wer hat nicht schon von den Trommelkünsten der gefiederten Werber gehört, denen der Gesang versagt ist? Der Schwarzspecht (Picus martius L.) hängt sich an den dürren Wipfel eines hohen Baumes oder wenigstens an einen dürren Ast an und hämmert mit seinem Schnabel so heftig dagegen, dass der Ast in zitternde Bewegung gerät. Hierdurch entsteht ein wunderbares Trommeln, welches im Walde so stark widerhallt, dass man es bei trockenem Wetter wohl eine Viertelstunde weit hört. Dasselbe dient dazu, das Weibchen zu erfreuen, welches auf dieses Geräusch auch gewöhnlich sofort herbeikommt und Antwort giebt. Alle Künste der Buhlerei werden entfaltet zur Werbezeit, alle Mittel, um persönliche Schönheit und Vorzüge ins rechte Licht zu setzen, mit heissem Bemühen angewendet. Wer hörte nicht vom „Balzen“ des Auerhahns und seiner Verwandten, in deren erotischer Verzückung Tanz und Gesang sich vereinigen. Der Birkhahn (Tetrao tetrix L.) z. B. stösst in der Balze die sonderbarsten Töne aus, macht die merkwürdigsten Gebärden, Sprünge und Bewegungen bei gesträubten Federn und erhitzt sich immer mehr, bis er zuletzt wie toll erscheint. Das Männchen des nordamerikanischen Tetrao urophasianus hat beim Umwerben des Weibchens seinen nackten gelben Kopf ungeheuer aufgetrieben, stösst kratzende, hohle, tiefe Töne aus, richtet die[S. 20] Holle auf, breitet die Schwanzfedern aus, schleift die Flügel auf dem Boden und nimmt die sonderbarsten Stellungen an. Das Männchen des ebenfalls nordamerikanischen Tetrao umbellus trommelt mit seinen gesenkten Flügeln laut auf seinem eigenen Körper, richtet den Schwanz auf und entfaltet seine Krause, worauf das in der Nähe befindliche Weibchen herbeifliegt. Der Albatros der südlichen Hemisphäre (Diomedea exulans) berührt mit seinem Schnabel den des Weibchens, beide schaukeln die Köpfe im Takte und sehen sich lange an. Das Schnäbeln unserer Turteltauben ist nahezu ein wahres Küssen. Von dem niedlichen, kleinen, schwarzen Webervogel (Ploceus socius Lath.) mit gelben Schultern erzählt David Livingstone, dass drei bis vier derselben sich nach dem Frühstücke auf den Büschen mit Gesang erlustigen, worauf ein Spiel im Fluge folgt. Diese Spiele finden aber nur während der Paarungszeit und im Hochzeitskleide statt, nicht so lange der Vogel sein einfaches braunes Winterkleid trägt. Bei der australischen Moschusente ist der Moschusgeruch immer nur auf den Enterich beschränkt und wird in der Paarungszeit lange vorher wahrgenommen, ehe der Vogel sichtbar wird. Der Felshahn, die Paradiesvögel u. a. sammeln sich in Gruppen vor den Weibchen und machen Staat vor ihnen, welche dann die ihnen zusagendsten erwählen. Der Felshahn (Rupicola aurantia L.), ein prachtvoller Schmuckvogel Südamerikas, errichtet an abgelegenen Orten förmliche Tanzplätze von 1¼ - 1½ m Durchmesser, von denen jeder Grashalm entfernt wird und auf welchen der Boden so glatt ist, als hätten ihn menschliche Hände geebnet. Auf dieser Schaubühne, um welche die übrigen Vögel still und bewundernd umherstehen oder auf niedrigen Büschen sitzen, tritt nun ein Männchen nach dem andern auf, um seine Künste zu zeigen, welche in verschiedenen Gebärden und dem Ausstossen eigentümlicher Töne bestehen. Schomburgk sah auf diese Weise drei Helden nacheinander auftreten, bis ein plötzliches Geräusch die ganze Vogelgesellschaft verscheuchte. Die Indianer, welche die schönen Bälge dieser Vögel ungemein schätzen, suchen deren Vergnügungsplätze eifrig auf und verbergen sich in der Nähe mit Blasrohr und vergifteten Pfeilen. Sind die Tiere einmal mit ihrem Tanzvergnügen[S. 21] beschäftigt, so werden sie davon derart eingenommen, dass die Jäger mehrere hintereinander erlegen können, ehe es die übrigen merken und davon fliegen.
Auch der gewöhnliche stelzbeinige Kranich (Grus cinerea Bech.) übt, von dem allmächtigen Triebe angefeuert, die edle Tanzkunst mit Leidenschaft, obwohl vielleicht mit weniger Geschicklichkeit aus. Die Palme in jeder Hinsicht gebührt aber sicherlich australischen Paradiesvögeln, wie Amblyornis ornata und ihren Verwandten. Die australischen „Lustlauben-Verfertiger“ (Atlasvögel und Kragenvögel) bauen nämlich gar Versammlungshäuser, die nicht etwa als Niststätten, als Nester dienen, sondern lediglich als Ballsaal, worin Herren und Damen Bekanntschaft machen und in minnigen Pantomimen sich ergehen. Der merkwürdige Vogel beginnt damit, dass er einen ziemlich festen Fussboden von kleinen Zweiglein webt. In diesen Fussboden stösst er an beiden Seiten eine Anzahl langer und dünner Zweige derart ein, dass ihre Spitzen sich kreuzen und ein einfaches Gewölbe bilden. Es entsteht so eine gewölbte Laube oder ein Laubengang, bei grösseren Kragenvögeln etwa 1¼ m lang und 45 cm hoch, welcher als Versammlungssaal oder Stelldichein dient. Eine Anzahl Vögel kommen daselbst zur Minnezeit mehrere Stunden des Tages über zusammen und geben sich ihren Vergnügungen hin. Aber nicht genug damit — die beiden Eingänge der Laube werden mit einer Menge schön gefärbter oder hellglänzender Gegenstände verziert, um sie dem Auge angenehm zu machen. Muscheln, Zähne, Knochen, bunte Steine, Scherben, Papier- oder Kattunschnitzel, auch allerhand kleine, dem Menschen entwendete Gegenstände, wie Fingerhüte u. dgl. werden herbeigetragen, um dem Schönheitssinne der gefiederten Gäste Genüge zu thun. Diese Dinge werden beständig anders geordnet und von den Vögeln in ihrem Spiel umhergeschleppt. Überdies wird, wie Gould berichtet, die Laube selbst im Innern schön mit langen Grashalmen ausgefüttert, welche so angeordnet werden, dass die Spitzen sich nahezu treffen, und die Verzierungen sind ausserordentlich reich. Nach Darwin benützen die Vögel runde Steine dazu, die Grasstengel an ihrem gehörigen Orte zu halten und verschiedene nach der Laube hin[S. 22]leitende Pfade zu bilden. Es sind dies sicherlich Verfeinerungen, welcher sehr niedrig stehende Menschenstämme, wie die Australier, die früheren Tasmanier, die Pescheräh u. a. völlig unfähig wären.
Wenden wir uns von den Werbesitten den Formen des Verkehrs zwischen den Geschlechtern zu, so bietet die Tierwelt darin grosse Mannigfaltigkeit. Wohl die niedrigste Stufe, zugleich aber eine der häufigsten, ist jene der schrankenlosen Vermischung (Promiskuität.) Sehr viele Tiere paaren sich, je nachdem der Zufall sie zusammenführt, ohne Rücksicht auf die Freiheit der Wahl und ohne irgend einen Anspruch auf Treue zu erheben. Dahin gehören die meisten niederen Tiere, die lediglich Empfindungstrieben folgen. Diese Tiere vermögen wenigstens scheinbar jene, mit welchen sie sich vereinigen wollen, aus der Entfernung nicht zu unterscheiden; sie suchen nach solchen auf Grund eines subjektiven Empfindungsgefühles, wahrscheinlich des Geruches, umher und vollziehen die Verschmelzung, sobald sie sich berühren. Aber selbst höhere Tiere, wie gewisse Vogelarten, leben in völliger Ungebundenheit trotz des vorangehenden Werbens um das Weibchen. Am lockersten zeigt sich das Verhältnis der Kuckucke, von denen man gar nicht weiss, ob irgend ein bestimmtes Band unter ihnen vorhanden ist. Bei anderen Species verlassen sich mitunter die Gatten, sobald ihrem Triebe Genüge geschehen ist, oft auch erst nach Aufbringung der Jungen. Aber selbst von den Sitten der auf den ostindischen Inseln gesellig in grösserer oder geringerer Anzahl beisammen lebenden, menschenähnlichen Hylobates-Arten, von welchen auf Borneo, Java und Sumatra je eine Art vorkommt, ist ausser der Zärtlichkeit, womit das Weibchen ihre Jungen behandelt, nichts Rühmliches zu melden, denn sie streifen bedenklich an Promiskuität.
Ist nun schrankenlose Vermischung in der Tierwelt häufig genug, so trifft man Vielweiberei (Polygamie oder Polygynie) nicht selten; doch kommt sie mit wenigen Ausnahmen nur bei höheren Tierarten vor. Viele Affen, soweit sie truppenweise leben, wie Pavian, Mycetes, Caraya, sind Polygamisten. Das Männchen eignet sich eine gewisse Anzahl Weibchen an und hält alle Nebenbuhler fern. Selbst der fürchter[S. 23]liche nomadische Gorilla, welcher einzeln mit seinen Weibchen im Dickicht des Waldes lebt, scheint Polygamist zu sein. Der Amerikaner Paul Duchaillu, der uns zuerst mit diesem Riesen des Affengeschlechts vertraut gemacht hat, überraschte allerdings manchmal ein Pärchen, Darwin aber berichtet: in einer Gruppe sei stets nur ein erwachsenes Männchen zu sehen. Wächst das junge Männchen heran, so findet ein Kampf um die Herrschaft statt und der Stärkste setzt sich dann, wenn er die andern getötet oder fortgetrieben hat, als Oberhaupt der Gesellschaft fest.[25] Ganz ähnlich handeln die meisten Affen, von welchen man kaum behaupten kann, dass sie ein nach europäischen Begriffen nachahmenswertes Geschlechtsleben führen. Türkische Serailwirtschaft tritt da mit altem Feudalrecht gepaart zu Tage. Der stärkste Affe ist nicht allein der Führer, sondern kraft seiner Stärke der unbeschränkte Herr der gesamten vielköpfigen Gesellschaft, der Gebieter aller der Männchen und Weibchen, der Gutsherr, welcher sein jus primae noctis mit Gewalt festhält, jedem jungen Stutzer die anwandelnde Lust zu etwaigem Liebesspiel mit weiblichen Wesen der Herde gar unsanft vertreibt und auch den wetterwendischen Affenschönen gegenüber keineswegs den galanten Herrn spielt, vielmehr auch da derbe Strenge für die wichtigste Kur ansieht.
Nebst den Affen sind auch sehr viele Säuger und andere Tiere ausgesprochene Anhänger der Vielweiberei; so z. B. alle Wiederkäuer, das Pferd und der Esel, aber auch der Eber, der Elefant, der Löwe, ferner die Robben und unter den Vögeln solche, welche ebenfalls in grösserer Anzahl beisammen leben, also die Hühnerartigen, die Trappen, die Strausse und vermutlich auch der Kampfhahn, ferner die Wachteln, Auer- und Birkhühner, Fasanen, Kampfstrandläufer, Perlhühner, Puter, Pfauen. Ganz besonders ist unser Haushahn der Typus eines polygamischen und eifersüchtigen Geschöpfes. Auf dieser Stufe des Geschlechtsverkehrs tritt nämlich die Eifersucht auf, eine Gefühlsempfindung, welche den in Ungebundenheit lebenden Tieren völlig fremd ist. Die[S. 24] Männchen auch vieler Säugetiere sind sehr eifersüchtig und mit Waffen zum Kampfe um die Weibchen ausgerüstet. Doch ist Polygamie keineswegs die Regel bei den Tieren. In der That ist sie wohl nur möglich bei gesellig, also in Herden, Rudeln oder Schwärmen lebenden Geschöpfen oder bei solchen, wo die Anzahl der Weibchen jene der Männchen bei weitem übertrifft. Unbedingt notwendig ist sie dagegen in den Tierstaaten der Hymenopteren, wo eine ungeheure Anzahl von Weibchen bloss einige Männchen besitzt.
Vielmännerei (Polyandrie), d. h. dauernde Verbindung eines Weibchens mit mehreren bestimmten Männchen, kommt im Tierreiche so gut wie gar nicht vor, da bei fast allen höheren Arten das Weibchen wegen seiner relativen Schwäche gezwungen ist, die Liebkosungen des Männchens zu erdulden, auch nimmer die Kraft hätte, ein männliches Serail sich zu bilden und zu verteidigen. Dennoch scheint bei einigen Fischarten, beim Karpfen, Brachsen, der Schleihe und Pfrille, etwas wie Polyandrie zu herrschen, wenn die Deutung des Umstandes richtig ist, dass zwei bis vier Männchen das Weibchen beim Laichen begleiten. Ebenso will ich es dahingestellt sein lassen, ob bei einigen Vogelarten, wie z. B. beim neuholländischen Kasuar, das Weibchen grösser und stärker geworden ist, um, wie Darwin will, andere Weibchen besiegen und in den Besitz des Männchens gelangen zu können. Umgekehrt hat aber unläugbar in vielen Arten das Weibchen eine ausgesprochene Vorliebe für das stärkste Männchen, und wenn die Nebenbuhler um ihren Besitz mit einander kämpfen, wartet es geduldig auf den Ausgang des meist blutigen Streites, um sich dem Sieger zu ergeben. Bei den Säugetieren insbesondere werden die Weibchen mehr durch Kampf, als durch Entfaltung der Reize gewonnen, und man hat diese Kämpfe bei einer Menge von Spezies, besonders bei Hirschen und Löwen beobachtet. Nicht selten wird in der Zeit des Werbens eine Löwin von drei oder vier Männchen begleitet, welche ihr auf Schritt und Tritt folgen und fortwährend einander in den Haaren liegen, bis ihr die Sache langweilig wird und sie im Ärger darüber, dass die Verehrer sich unter einander um ihretwillen nicht umbringen, mit ihnen zu[S. 25] einem grossen alten Löwen wandert, dessen Kraft sie schätzen lernte, als sie ihn brüllen hörte. Die Liebhaber folgen ihr keck bis zu dem bevorzugten Nebenbuhler. Von langen Verhandlungen ist nie die Rede und das Resultat solcher Begegnungen zu jeder Zeit sicher. Der alte Löwe wird mit den jüngeren bald fertig. Ist das Feld rein, so schüttelt das edle Tier die Mähne, dann streckt er sich demütig bei der Löwin aus, die ihm als erstes Pfand ihrer Zuneigung mit schmeichelnden Blicken die Wunden leckt, welche er im Kampfe um sie erhalten. Treffen unter solchen Umständen zwei völlig ausgewachsene Löwen auf einander, so nimmt das Duell einen oft für beide tödlichen Ausgang. Gleich im Beginn des Kampfes legt sich die Löwin auf den Bauch um zuzusehen und gibt, so lange er dauert, durch Wedeln mit dem Schweife zu erkennen, wie sehr sich ihre Eitelkeit geschmeichelt fühlt, dass zwei solche Löwen um ihretwillen sich zerfleischen. Ist der Kampf vorüber, so geht sie langsam und vorsichtig zu den beiden Toten, um sie zu beriechen, und wandert dann stolz hinweg, ohne die Gefallenen weiter eines Blickes zu würdigen. Vorzugsweise scheint die Löwin sich gerne einen vollerwachsenen starken Löwen auszusuchen, der sie von den zudringlichen jüngeren befreit, deren fortwährende erfolglose Kämpfe sie langweilen. Sobald aber ein noch stärkerer erscheint, ist er stets willkommen. Alle diese Kämpfe geschehen wohl unbewusst, naturgesetzlich, damit nur die gesündesten und kräftigsten Männchen zur Fortpflanzung gelangen und eine tüchtige Nachkommenschaft erzeugt werde. Man müsste aber absichtlich die Augen verschliessen, um nicht bis ins Menschengeschlecht hinauf diese eigentümliche Form von Liebeswahl, wenn auch verhüllter und in mannigfachster Variation, wiederzuerkennen.
Die Monogamie oder Einzelehe, welche einige der höher stehenden Völkergruppen und insbesondere die höchstgestiegenen christlichen Kulturnationen Europas zur Grundlage ihrer Gesittung erhoben haben, die Einzelehe, welche unsere Morallehrer gewohnt sind, als die Form κατ’ ἐξοχὴν der menschlichen „Ehe“ zu betrachten, existiert gar nicht selten bei den Tieren. Sie wird vorerst geradezu zur Notwendigkeit bei den sehr zerstreut lebenden Spezies, wie z. B. bei vielen Raubtieren, sowie bei allen[S. 26] jenen, welche nur paarweise leben können, sei es dass ihre Nahrungsmittel selten, sei es dass sie von Haus aus besonders ungesellig sind. Doch sind diese Bedingungen nicht einmal unbedingt unerlässlich, und es giebt sogar einige, wenn auch wenige, monogame Affenarten. Der indische Makak Uanderu (Macacus silenus) hat nur ein Weibchen und bleibt ihm treu bis zum Tode. Cuvier erzählt auch, dass als im Jardin des plantes zu Paris eines der Uistitiäffchen (Harpale Jacchus) gestorben war, der überlebende Gatte sich trostlos gebärdete, lange Zeit die Leiche liebkoste, endlich aber von der Wirklichkeit überzeugt, seine Augen mit den Vorderpfoten bedeckte und so lange ohne Nahrung liegen blieb, bis er schliesslich selber zu leben aufgehört hatte. Wohl etwas weniger „sittlich“, wenn man so sagen darf, aber noch immer als Beispiel empfehlenswert, benimmt sich der Orang-Utan. Das Männchen lebt nämlich nur in der Zeit der Paarung mit dem Weibchen vereinigt, die übrige Zeit meistens allein und für sich.[26] Doch stiess der britische Leutnant C. de Crespigny im südlichen Borneo auf eine Orang-Utan-Familie, bestehend aus dem Männchen, dem Weibchen, einem grösseren und einem kleineren Jungen, woraus sich schliessen lässt, dass ihr Bündnis schon längere Zeit bestanden haben müsse. Bei dem ausserordentlich scheuen Nschiego-mbouvé, dem kahlen Schimpanse (Troglodytes calvus) des äquatorialen Westafrika, dessen Schädel viel geringere Unterschiede von jenem der Australier aufweist, als mancher im stillen wünschen möchte, nimmt nach Angaben der Eingebornen am Bau des Nestes das Männchen wie das Weibchen teil. Dieser Anthropoide lebt, wie es scheint, nicht herdenweise, sondern einsiedlerisch und in Monogamie; mit einem lauten, eigentümlichen „Yuh! Yuh!“ ruft er in der Dämmerung seine Genossin herbei.[27]
Auf diese Beispiele ist nicht geringes Gewicht zu legen, weil die Anthropomorphen nicht bloss als die höchst organisierten Tiere, sondern auch als die nächsten animalischen Verwandten[S. 27] des Menschen zu betrachten sind. Weniger Wert messe ich deshalb der Monogamie in der Vogelwelt bei, welche dem Menschen unvergleichlich ferner steht. Gerade das gefiederte Volk ist reich an Beispielen von Einzelverbindungen, welche übrigens eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Eheleben gesitteter Menschen aufweisen. Sing- und Raubvögel, Raben, Elstern, Tauben, Sperlinge leben vielfach in lebenslänglicher Einzelehe. Zu den ganz unzertrennlichen Vögeln gehören die sonst wilden Lerchenfalken. Sehr viele Vögel scharen sich im Herbst in grösseren und kleineren Gruppen, aber auch hier sind die einzelnen Paare treu vereint. Bei anderen Zugvögeln vereinigen sich die Männchen und Weibchen in besonderen Schwärmen und begeben sich, in dieser Weise getrennt, auf die Wanderung; im Frühling finden sich jedoch stets dieselben Paare wieder zusammen. Pfarrer Snell, ein aufmerksamer Beobachter, sagt über das uns beschäftigende Thema: Die Ehen der Vögel werden meist im Frühjahre nach dem Geburtsjahr geschlossen, und es findet dabei eine ganz bestimmte Wahl statt, deren Gründe ebenso wenig zu enträtseln sind, wie die der Menschen, wenn nicht die gewöhnlichen Rücksichten des Lebens obwalten. Oft entscheidet der blosse Zufall oder, wenn mehrere Bewerber sich um die Braut drängen, das Recht des Stärkeren. Selbst wenn die Überzahl auf seiten der Weibchen ist (was selten vorkommt, da es bei den Vögeln mehr Männchen als Weibchen giebt) entstehen oft heftige Kämpfe der Eifersucht. In der Ehe selbst kommen Streitigkeiten nicht vor. Das Weibchen ordnet sich dem Männchen unter, geht also ihren menschlichen Schicksalsgefährtinnen mit gutem und lehrreichem Beispiele voran. Die Wahl des Nestes z. B. trifft immer das Männchen, und es sind bei Sperlingen und Tauben Fälle beobachtet worden, wo das Männchen aus Dummheit oder Ängstlichkeit einen ganz unpassenden Platz wählte, das Weibchen aber sofort Material herbeischleppte, obwohl dasselbe gar nicht anzubringen war. Nur bei Lerchenfalken kommen zuweilen Streitigkeiten vor, die aber nie zu Thätlichkeiten führen. Die ganze Innigkeit und Treue der Vogelehe zeigt sich uns am schönsten in den Pärchen der Prachtfinken und kleinen Sittiche. Hier ist vollkommene Harmonie des Wollens[S. 28] und Thuns; diese beiden Tierchen trennen sich während ihres ganzen Lebens freiwillig keinen Augenblick; sämtliche Verrichtungen, Essen und Trinken, Baden und Putzen des Gefieders, Schlafen und Wachen u. s. w. führen sie gemeinsam aus, dicht aneinander gedrängt ruhen sie, viele von ihnen brüten auch gemeinsam, und bei den andern sitzt das Männchen wenigstens die ganze Nacht mit in dem Neste oder dicht neben demselben. Aber auch hier zeigen sich für den scharfen Blick noch mancherlei Abstufungen.
Bei den kleinen Prachtfinken steht das innige Verhältnis wohl am höchsten unter allen Vögeln. Andere Prachtfinken haben dieselben Zärtlichkeitsbezeugungen, doch giebt es bei ihnen bereits hin und wieder, besonders um das Futter, einen kleinen, freilich immer nur harmlosen Streit. Dann folgen die Zwergpapageien, welche ebenfalls so innig zusammenhängen, dass man eine Art ja sogar Inséparables, Unzertrennliche, benannt hat. Im Menschenleben lässt der Tod eines Ehegatten den Überlebenden nur in den seltensten Fällen für alle Zeiten untröstlich zurück. Bei Psittacus pertinax ist aber Witwertum oder Witwenschaft und Tod gewöhnlich gleichbedeutend. Dennoch zeigt diese Ehe alle Augenblicke, selbst während der Brutzeit, kleine Zänkereien, oft sogar von beiden Seiten arge Schnabelhiebe. Ebenso, nur während des Nistens ganz verträglich, leben die Gatten eines Edelfinkenpärchens. Unser kleiner Gimpel oder Dompfaff ist seinem Weibe ein liebevoller Gatte, hilft ihm das Nest bauen, die Kinder grossziehen und singt ihm während des Brütens, sowie zur Zeit der keimenden Liebe seine sanften Lieder vor. Einen glänzenden Beweis ehelicher Treue gab ein Gimpelmännchen, dessen angstvolles Ab- und Zufliegen durch mehrere Tage beobachtet worden war, bis man endlich unter den überhängenden Zweigen eines Busches sein Weibchen mit gebrochenem Flügel im Grase sitzend fand. Der kleine Vogel brachte ihr dorthin das Futter, sass neben ihr, umflatterte sie und gab alle Zeichen der tödlichsten Angst, als man die Patientin forttrug, um sie gegen allfällige Unbill und Überfälle zu schützen. Tagelang umflog er rufend und lockend das Fenster, an dem das Bauer stand, in welchem das kranke Weibchen sass, und erst nachdem er sich die Überzeugung geholt,[S. 29] dass es gelähmt blieb und dass sein Fliegen und Rufen fruchtlos sei, flog er fort, um nie wiederzukehren. Auch unsere Hausgans sowie alle anderen Gänsevögel sind musterhafte Ehegatten. Hier ein charakteristischer Zug: Auf einem Hofe zu Troisdorf waren von einer früheren zahlreichen Schar von Gänsen zwei Exemplare, Männchen und Weibchen, übrig geblieben, denen man aus Dankbarkeit für die von ihnen erzielte Nachkommenschaft mit löblicher Pietät das Gnadenbrot zu teil werden liess. Das vielleicht gegen zwanzig Jahre mit einander alt gewordene Pärchen empfand schon die Gebresten des Alters, und namentlich war die mit einem stattlichen Fettbäuchlein behaftete Gans in letzter Zeit nicht wohl mehr im Stande, den nahen Teich zu erreichen. Da half ihr denn mit rührender Beflissenheit der treue Lebensgefährte durch Aufmunterung, Ziehen und Schieben, so gut es gehen wollte. Endlich einmal war alles umsonst. Die Gans kam nicht von der Stelle und nach vergeblichen Anstrengungen schmiegte sich das resignierende Männchen an, legte seinen Hals auf den Rücken der Freundin und beharrte wohl eine Stunde lang in dieser Haltung, die endlich auffiel und die Hofbewohner zum Nachsehen veranlasste. Man fand das Männchen tot; es war ohne sichtbaren Todeskampf an der Seite der Gattin gestorben; diese aber starb in gleich stiller Weise eine Stunde nachher. Ebenso schöne Züge lassen sich von den Amseln berichten. Ein Amselpaar (Merula vulgaris) hatte sein Nest in der Nähe einer Baustätte; eines Tages kam eine zahme Elster, erfasste das Weibchen und trug es bis dicht zu den auf dem Bauplatze beschäftigten Arbeitern; das Männchen eilte ihr aber mutig nach, nahm einen erbitterten Kampf mit der Elster auf und befreite endlich seine Gefährtin, worauf beide triumphierend nach ihrem Neste zurückflogen, obgleich das Weibchen bei dem Scharmützel die Hälfte des Schwanzes eingebüsst hatte. Umgekehrt berichtet Bennett von einem Fall, in welchem das Weibchen die zärtlichste Liebe für ihren Gatten an den Tag legte. Er selbst hat den Vorgang in Macao beobachtet. In einem dortigen grossen Vogelbauer befanden sich mehrere chinesische Enten (Anas galericulata); eines der Männchen wurde in der Nacht gestohlen; sofort konnte man an dem[S. 30] Weibchen die unverkennbarsten Zeichen von Schmerz gewahren; es verkroch sich in die Ecke und verweigerte die Nahrung. Da versuchte ein anderes Männchen sich ihr zu nähern und sie zu trösten, doch sie stiess den neuen Liebhaber rauh zurück und fuhr fort sich ihrer Trauer hinzugeben. Mittlerweile wurde ihr ursprünglicher Gefährte wiedergefunden und in den Käfig zurückgebracht. Überraschend waren die lauten Freudenbezeigungen, womit das Paar seine Wiedervereinigung feierte, und was mehr ist, das Männchen schien erfahren zu haben, dass es während seiner Abwesenheit einen Nebenbuhler gehabt; denn es suchte diesen auf und tötete ihn.
Die Tugend der ehelichen Treue muss man im allgemeinen allen in Einweiberei lebenden Vögeln zuerkennen, doch ist ein Unterschied zwischen beiden Geschlechtern zu machen. Von Seiten des Weibchens hat z. B. Pfarrer Snell, so lange und so sorgfältig er auch die Vögel beobachtete, niemals einen Fall von Untreue erlebt. Bei den Männchen kommen hingegen, wenn auch nur ausnahmsweise, solche Fälle vor. Wenn man erwägt, dass dem Weibchen von Natur eine grössere Zurückhaltung und Schüchternheit eigen ist, so wird man diesen Unterschied erklärlich finden. Wohl fehlen auch hier nicht Abirrungen vom „Rechte“. Wohl wird auch hier zuweilen der Hausfrieden gebrochen und weiss sich ein heiratslustiger Junggeselle in Ermangelung eines ledigen Weibchens in das Eheglück eines Paares einzudrängen und den vielleicht älteren, hässlicheren Gemahl auszustechen. So soll es unter den übrigens zu nicht ganz verdienter Volkstümlichkeit gelangten Störchen „Ehebrecherinnen“ geben, welche angeblich dann von den Männchen durch Schnabelstösse getötet werden. Mehrere solcher „Strafgerichte“ der Störche will man erst wieder in allerjüngster Zeit beobachtet haben.[28] Neuere Untersuchungen haben aber ergeben, dass alle diesbezüglichen Anekdoten unbewiesen oder doch die hier vorliegenden Beobachtungen einer andern Deutung fähig sind. Immerhin beweist das Beispiel der nicht einmal monogamen Pferde, dass[S. 31] Untreue wirklich empfunden wird. Hat sich eine Stute einer der verwilderten Pferdeherden in Südamerika mit einem Hengste einer anderen Herde abgegeben, so wird sie nicht mehr von dem Leithengste ihrer Stammherde geduldet. Gar nicht selten ist die Untreue gerade unter den sich zärtlich schnäbelnden Tauben, die doch als das Muster des Gegenteils gepriesen werden, und unter Beobachtung gewisser Vorsichten ist es gelungen, wenigstens den Kanarienvögeln eine nichts weniger als unfruchtbare Polygamie aufzunötigen oder richtiger mehrere in verhältnismässig kurzen Zwischenräumen nacheinander folgende, nachkommenreiche Monogamieen zwangsweise zuzuerkennen. Endlich kommen auch Ehescheidungen bei den Vögeln vor, so gut wie bei den Menschen, freilich bloss bisweilen, und auch nur die Weibchen vollziehen manchmal freiwillig die Trennung von dem Gatten.
So sind denn die einzelnen Tierarten mit sehr verschiedenen Empfindungen oder Gefühlen ausgestattet. Geschlechtsliebe wie auch Mutterliebe können freilich, strenge genommen, nicht als wirkliche Äusserungen des Gefühles betrachtet werden, denn das Tier, festgehalten im Zwange der Natur, mit gering entwickeltem Intellekt, muss rücksichtslos seinen Trieben folgen, und besonders der Paarungstrieb ist für dasselbe um so zwingender, als er auf eine kurze und bestimmte Zeit eingeschränkt ist. Immerhin lässt sich nicht verkennen, dass in einigen Tierehen, und zwar nur in monogamen, ein Gefühl Platz greift, welches, wenn auch entfernt, jenem der Liebe im menschlichen Sinne sich nähert, wie die angeführten Beispiele darthun. Gewiss, die idealisierte Liebe, wie die Dichter sie schildern, diese Liebe ist dem Tiere unbekannt, wie alle im Menschen gesteigerten und im Kulturmenschen besonders verfeinerten Empfindungen. Aber hier wie dort wirkt der Paarungstrieb, so wenig idealisiert als möglich, dennoch seine Wunder. Niemals und nirgends völlig unterdrückt, vermag er indes auch seltsame Einschränkungen zu erleiden, wie in den Tierstaaten der Bienen und Ameisen, in welchen die Sorge für die öffentliche Wohlfahrt die Instinkte des einzelnen in solchem Masse besiegt hat, dass infolge fortgesetzter Teilung der Arbeit das Zeugungsgeschäft die Aufgabe nur einiger weniger[S. 32] Individuen geworden ist, ein Vorgang, der nicht ohne Beispiel auch in der menschlichen Gesellschaft ist.
Aus all dem Gesagten ergiebt sich, dass gemeinsames Zusammenleben und Zusammenwirken der Geschlechter im Tierreiche lange nicht vorherrschen. Nicht das eheliche Leben zwischen zweien, sondern Vielmännerei und Vielweiberei, Junggesellenwirtschaft, Vagabundentum und allerhand Laster, um mit unseren Begriffen zu reden, sind da an der Tagesordnung. Wenn man aber die Frage aufwirft, warum die Formen des Geschlechtsverkehrs in der Tierwelt so mannigfache seien, so kann es wohl nur eine Antwort darauf gaben: einzig und allein in dem Wettbewerb, in den Heischesätzen des Kampfes ums Dasein ist die Ursache dafür zu suchen. Die Zerstreuung oder Verdichtung der Individuen, das Zahlenverhältnis der beiden Geschlechter zu einander spielen sicherlich die bedeutsamste Rolle in dem Vorwalten der Promiskuität, der Polygamie oder Monogamie bei den einzelnen Spezies. Jene Eheform, welche der Fortpflanzung der Art am besten dient, welche sich den Umständen der Wohnstätte, der zu besiegenden Nebenbuhlerschaften u. s. w. anpasst, jene nützliche Form ist notwendigerweise mit Vorliebe gewählt, dann Gewohnheit, endlich Instinkt geworden. Die nämlichen Gesetze, die nämlichen Notwendigkeiten haben auch die verschiedenen menschlichen Gesellschaftskreise in diese oder jene Form der Ehe gezwängt, und um die Wahrheit zu gestehen, hat darin der Mensch, wie vernünftig er auch ist, sich kaum erfinderischer gezeigt als das Tier. Nur hat er sein Geschlechtsleben durch gesellschaftliche Vereinbarungen geregelt, die freilich weit davon entfernt sind, überall und immer die Bindekraft strenger Gesetze zu besitzen.
[25] Charles Darwin. Die Abstammung des Menschen. Stuttgart, 1875. Bd. II. S. 324.
[26] O. Mohnicke im „Ausland“ 1872, S. 850.
[27] Paul Duchaillu. Explorations and adventures in Equatorial Africa. London, 1861. S. 231–232.
[28] „Echo“. Bd. I. S. 23–24 und 93.
[S. 34] sie ein Floss bilden; hieran werden nun die Eier befestigt und dadurch schwimmend erhalten, was jedenfalls für ihre Entwicklung unerlässliche Bedingung ist. Von diesen allen zerstörenden Zufällen preisgegebenen Keimen geht die Mehrzahl zu Grunde, es überleben ihrer aber dennoch genug, um die Erhaltung der Art zu sichern. Auf dieser Stufe existiert noch keine Familie, nicht einmal im allerrudimentärsten Zustande. Sehr allgemein ist dagegen die Brutpflege schon bei den Spinnen und Insekten. Wie es scheint, geht dieselbe aus Wahrnehmungstrieben hervor; allein es wirken auch Empfindungstriebe, die durch das Gefühl vom Legen der Eier und durch die Berührung derselben, nachdem sie gelegt sind, hervorgerufen werden. Wenn die Tarantelspinne den Eikokon an die Spinnwarzen heftet, die Uferfliege die Eier an den Bauch klebt, um sie dann klümpchenweise ins Wasser fallen zu lassen, und der Kotkäfer, der im Miste lebt, unter demselben Löcher in die Erde gräbt, einen Pfropfen Mist in jedes Loch steckt und dann in jeden Pfropfen ein Ei legt, so wirken hierbei wohl hauptsächlich Empfindungstriebe. Ebenso sind es vornehmlich Tastempfindungen, welche das Insekt beim Legen der Eier in andere Tiere, in junge Triebe, in die Erde u. s. w. leiten, wie schon aus den tastenden Bewegungen, welche sie mit der Legeröhre oft machen, hervorgeht. Auch manche Krokodilweibchen zeigen ein wenig Sorge um die Brut; sie versuchen die Eier zu verbergen und tragen mitunter die eben ausgekrochenen Jungen in das Wasser. Am Rio Guayaquil in Südamerika legt das Krokodilweibchen seine Eier in den Sand, kehrt aber zur rechten Zeit zurück, zerbricht sie mit Vorsicht und trägt dann die Jungen auf dem Rücken in den Fluss.
ie verschiedenartig auch der geschlechtliche Verkehr in der Tierwelt sich gestalten möge, die vereinigende Begegnung hat doch nur in wenigen Fällen die Familie zur Folge. Natürlich ist zur Erhaltung der Art die Erzeugung von Jungen unerlässlich; unerlässlich auch, dass diese in genügender Menge am Leben bleiben. Aber dieses Ziel kann auf verschiedenerlei Weise erreicht werden. Als allgemeine Regel gilt, dass die Anzahl der Keime oder Nachkommen desto grösser ist, je tiefer eine Art steht, je ärmer sie an Intellekt ist und je weniger die Erzeuger sich um die Aufbringung der Brut kümmern. Dies ist bei den meisten niederen Tieren der Fall, weil die Empfindungstriebe nur bei den entwickelteren Geschöpfen, besonders bei den Gliederfüssern (Arthropoden) und Wirbeltieren (Vertebraten) ausgebildet sind. Viele der niederen Arten lassen die Eier einfach ins Wasser fallen, und diese entwickeln sich zu Larven, welche ein vom Muttertiere ganz unabhängiges Leben führen; die Fälle, in welchen Wirbellose den Eiern einige Aufmerksamkeit widmen, sind ungemein selten. Von den Astdärmern oder Plattwürmern (Plenarien) ist bekannt, dass sie die Eier in einem Kokon an Steinen und Pflanzen befestigen. Noch interessanter ist die Eierpflege der Janthina, der Amethyst-Schnecke. Das Tier schwimmt an der Oberfläche des Wassers, nimmt durch Umbiegen des zungenförmigen vorderen Körperendes Luftblasen herunter ins Wasser, welche durch einen abgesonderten Schleim zusammengehalten werden, so dassBei den höheren Tieren ist es hauptsächlich das Lustgefühl, das mit der Umarmung der Jungen verbunden ist, aus welchem Empfindungstriebe zur Pflege der Nachkommen entstehen. Darin wurzelt auch einer der wesentlichsten Hebel in der Familie: die Mutterliebe, welche mit ihrer aufopfernden Hingabe und unermüdlichen Fürsorge so oft zur Bewunderung Anlass giebt. Welch’ glänzendes Beispiel von mit äusserster List und Klugheit gepaarter Mutterliebe bieten Vogelmütter dar, welche beim Herannahen des[S. 35] Verfolgers sich flügellahm stellen und denselben, indem sie in kurzen Sätzen vorwärts trippeln oder am Boden hinfliegen, auf ihre eigene Verfolgung hin- und von den Kindern abzulenken suchen, oder auch die Elefantenmütter, von denen Schweinfurth erzählt! Letztere suchen bei den durch Anzünden der verbergenden Ufergebüsche veranstalteten Jagden in Afrika ihre Jungen dadurch zu retten, dass sie ihre Rüssel voll Wasser saugen und dieselben damit bespritzen, während sie selbst dabei rösten. Auf dem Gute „Tralauer Holz“ in Holstein sah eine Stute ihr Füllen, an dem eine Operation vorgenommen werden sollte, an den Hinterbeinen aufgezogen im Hofe hängen und kläglich schreien. Sie stürzte sofort tot zusammen und die Sektion ergab, dass ihr eine grosse Herzader gesprungen, „das Herz gebrochen“ war. Aber diese opferwillige Mutterliebe durchdringt durchaus nicht die ganze Tierwelt, sondern erwacht erst in den höheren Arten. Und auch bei diesen giebt es in der Mutterliebe zahlreiche Abstufungen, gerade wie in der Art des Zusammenlebens der Eltern.
Hält manche Tiere der überaus rege Fortpflanzungstrieb beisammen, wie in der Ordnung der Nager, so finden wir gerade aus diesem Grunde bei ihnen wenig Beispiele zärtlicher Mutterliebe. Es werden nämlich die Jungen so früh alt und kommen der Jungen so viele nacheinander, dass einigermassen anhaltendere Beschäftigung mit ihnen seitens ihrer Mutter wohl nicht zu verlangen ist. Am besten thun sich noch unter den Nagern, was geselliges familiäres Zusammenleben anbelangt, die Murmeltiere hervor, welche jährlich höchstens zweimal Junge zur Welt bringen, die Biber, die einander beim Aufbau ihrer Burgen und Dämme hilfreich beispringen, die Meerschweinchen, die sich mit grosser Zärtlichkeit immer und immer liebkosen, einigermassen auch die Kaninchen, bei welchen bisweilen ein Paar mit grosser Anhänglichkeit zusammenhält. Rührende Episoden erzählt man von dem Löwenmute der bedrängten Mäusemutter, von ihrer Kampfwut und der Blindheit, mit der sie sich in Todesgefahr stürzt, um ihre bedrohten Kinder zu retten. Doch kennt man auch unrühmliche Beispiele des Gegenteils. Aglaia von Enderes, eine aufmerksame Beobachterin der Tierwelt, besass ein lustiges Pärchen[S. 36] zahmer Albinomäuse. Da kam ein neues Ereignis in ihr harmloses Mäuseleben. Eines Morgens lagen zehn wohlkonditionierte kleine Mäusekinder in dem Lager der Eltern; aber mit diesem Kindersegen kam eine erstaunliche Charakterwendung über die Alten. Sie wurden misstrauisch und unstät, scheu gegen die Menschen und zanksüchtig unter einander. Kleine häusliche Szenen fanden statt, infolge deren sich der Gatte plötzlich aus dem Staube machte. Die Mutter besann sich einige Tage und nährte ihre Kinder; als aber der lieblose Vater nicht wieder kommen wollte, verdross sie die Kinderstube und ihre Mühen, und ohne weitere Veranlassung überliess sie ihr holdes Mutteramt andern Händen und ging auf und davon. Ein wahrhaft abschreckendes Beispiel zuchtlosen Familienlebens bieten die Ratten, die bei ihrer überaus raschen Vermehrung und dem dadurch oft bedingten Nahrungsmangel sich selbst gegenseitig anfallen. Nicht minder das zänkische Hamsterpaar, bei welchem des Männchens anfängliches Minnespiel gar bald in bissige Wut gegen das Weibchen übergeht, das nun, wenn es nicht totgebissen werden will, ohne Säumen des Gemahls ungastliches Haus fliehen und ein eigenes Heim sich wählen muss. Einsam bringt sie dann ihre Jungen zur Welt, die aber, wie sie etwas herangewachsen sind, sich mit ihrer Mutter nicht mehr vertragen und dieselbe gleich ihrem Vater verlassen. Nicht besser steht es um das Familienleben der Insektenfresser. Einsam und verlassen liegt des Swineigels Gattin auf selbstbereitetem Wochenbett mit ihren Kleinen. Und echte Einsiedler beide, hausen Maulwurf und Maulwürfin in getrennten Behausungen. Im Frühjahr, wenn über der Erde alles grünt und spriesst, fängt der Paarungstrieb auch in der kleinen Maulwurfsbrust sich zu regen an. Unruhig verlässt er seinen Bau — das grösste Wunder bewirkt der Zauber des neuen Gefühles, und der scheue, mürrische Weltfeind läuft des Nachts in drängender Sehnsucht und heissem Verlangen über die offene Erde hin, um sich sein Liebchen zu suchen. Wie es schon in seinem Charakter liegt, nimmt er die Liebe ernst und schwer. Er gaukelt nicht, er spielt nicht und liebelt nicht; er sucht seine Braut mit Gefahr seines Lebens; er kämpft manchen harten, heissen Strauss[S. 37] mit seinesgleichen, ehe es ihm gelingt, die Auserwählte heimzuführen; und wenn er endlich an diesem ersehnten Ziele ist, sie sein eigen nennt, wenn er sie in seinem Hause weiss, wenn sie die Sorge für den künftigen Haushalt übernommen hat und in der neuen Heimat zu schaffen beginnt, selbst dann kommen keine süssen Flitterwochen, selbst dann kommt der sorglose Jubel der Liebe nicht auf. Wie es sein einsames, scheues Leben mit sich bringt, fehlt ihm der Glaube an seine Stammesgenossen, das Vertrauen auf sein Weib, und mit der Angst des finsteren, brütenden Grillenfängers sperrt er seine junge Gattin in ihr eigenes Haus und forscht und spürt mit mordgierigem Verlangen nach Nebenbuhlern und Schelmen, die ihm den neuerworbenen Besitz stören könnten. Ist diese erste Zeit vorüber, das Othellogefühl im kleinen Maulwurfsherzen zur Ruhe gebracht, haben sich die beiden Sonderlinge aneinander gewöhnt, dann beginnt die Sorge für die Zukunft; das Lager wird bestellt, Gräser und Halme werden eingetragen zur warmen Stätte für die drei bis fünf winzigen Maulwurfskinder, welche nach wenig Wochen den futterbedürftigen, ewig hungrigen Haussegen der glücklichen Eltern repräsentieren. In die Jugendzeit dieser Kinder fällt alles, was der Maulwurfsvater an Liebenswürdigkeit zu leisten vermag. Mit Hingebung und Treue widmet er sich Weib und Kind; er pflegt sie, schützt sie, hält in Gefahr und Tod bei ihnen aus und wagt sein Leben, wenn es ihre Rettung gilt. In dieser Zeit ist ihm seine Familie alles, und es geht von ihm die schöne Sage, dass er sich zuweilen über den Verlust von Weib und Kind zu Tode härme. Leider hält diese Selbstverleugnung nicht lange vor; die sonnige Zeit der Liebe und des Glücks geht wie ein Traum vorüber, die Kinder werden nach wenigen Wochen gross und verlassen das Elternhaus, um sich eine eigene Existenz zu gründen; die Mutter sucht ihre frühere Wohnstätte auf, und der alte Sonderling, vereinsamt und verlassen, schliesst sein verödetes Haus, um sein zornerfülltes, düsteres Räuberleben voll Blut- und Mordgeschichten von neuem zu beginnen, um von nun an niemandem zu leben, als sich und seinem Hunger.
Bezüglich des Familienlebens der Seehunde und Wale hat[S. 38] man wohl noch wenig beobachtet; von der Fischotter aber weiss man, dass sie ihre Jungen gegen jede Gefahr mit dem grössten Mute verteidigt. Nicht nur kein Familienleben, nicht einmal lebhaftere Mutterliebe finden wir bei den Zahnarmen. So säugt die Gürteltiermutter ihre Jungen nur ganz kurze Zeit und überlässt sie dann sich selbst. Das Faultierweibchen lässt sein Junges mit beispielloser Gleichgültigkeit an sich hängen und ohne weiteres sich rauben. Nur vom Weibchen des Ameisenbären sagt man, dass es sein Junges ein Jahr lang mit sich führe und tapfer verteidige. Die Beuteltierweibchen schleppen ihre unbehilflichen Kleinen in der Beuteltasche mit sich herum oder lassen sie, wie die Surinamsche Beutelratte, auf ihrem Rücken herumkriechen, während diese ihre kleinen Schwänzchen um den Schwanz der Alten schlängeln. Einen ausgeprägten Sinn für Häuslichkeit und Familienleben aber in edelster Bedeutung findet man unter den Vögeln. Ihre überwiegende Mehrzahl lebt, wie schon bemerkt, in Monogamie, führt ein ungetrübtes Familienleben und teilt sich ehrlich in die Sorge der Ehe. Hier erkennen wir auch, dass die Geschlechtsliebe nicht immer ein Produkt des Zeugungsinstinktes ist. Das Zusammenwirken von Männchen und Weibchen beim Bau des Nestes ist vielmehr der Ausdruck eines Gefühles von Hilffertigkeit, und unzweifelhaft ist diese nämliche Regung im Spiele, wenn wir das Männchen der Reihe nach die Sorge des Brütens übernehmen sehen, denn vor dem Aufpicken der Eier kann doch von Elternliebe nicht die Rede sein. Und das nämliche gilt auch von vielen niederen Tierarten. Wie sorgt und müht sich z. B. das Weibchen einer Mauerbiene, eines Blattschneiders, einer Lehmwespe oder dergl. den ganzen Sommer ab, um den Brutbau herzustellen und Futter herbeizuschaffen! Selten nur, wie bei den Totengräbern, den Pillendrehern, unterzieht sich auch das Männchen diesen Arbeiten. Nur bei den Laufvögeln findet ein interessantes Gegenstück zu der sonst üblichen Vorsorge der Mutter statt. Beim Strauss und Nandu ist es nämlich das Männchen, welches die Eier bebrütet, die Jungen füttert, ausführt, verteidigt und so bei ihnen anstatt der sorglosen Ehegenossin Mutterstelle vertritt. Dies sind aber seltene Ausnahmen.
Zu diesen gehört unter den Fischen der wohlbekannte Stichling (Gasterosteus pungitus), unser kleinster Süsswasserfisch, welcher, obwohl er in Polygamie lebt, als Gatte und Vater eine solche Liebe und Sorgfalt an den Tag legt, dass Ludwig Büchner ihn gradezu als Muster eines guten Familienvaters hinstellt. Man kann sein Treiben in unseren durchsichtigen Aquarien leicht beobachten. Zuerst baut er ein wunderbares kleines Nest aus Grashalmen und andern Körpern, die er mit Schleim verkittet. Ist er damit fertig, so ladet er ein vorüberschwimmendes Weibchen ein, das Nest in Augenschein zu nehmen, das er für dieses gebaut hat, indem er fortwährend flink um dasselbe herum und zum Nest hin und zurück schiesst. Und geht sie nicht willig, so stösst er sie mit der Schnauze an und sucht sie mit den Seitenstacheln hineinzutreiben, um dort den Laich abzulegen. So führt er nach und nach eine ganze Reihe Weibchen zum Neste, die sich nach der Eierablage auf der entgegengesetzten Seite wieder hinausbohren. Nach jedem Weibchen geht der Stichling selbst hinein, um den Laich zu befruchten. Ist dies geschehen, so schliesst der vorsorgliche Vater die eine Öffnung und bleibt wochenlang vor der andern Öffnung in senkrechter Stellung stehen, indem er regelmässig die Flossen bewegt, um eine der Erhaltung und Ausbrütung der Eier günstige Wasserströmung im Innern des Nestes zu unterhalten. Jede feindliche Annäherung wird mit Wut abgewiesen. Aber die Vatersorgen beginnen erst recht, wenn die Jungen ausgeschlüpft sind. Er bewacht und behütet dieselben mit musterhafter Sorgfalt, führt sie zum Neste zurück, wenn sie sich zu weit entfernt haben, und füttert sie wie ein Vogel seine Jungen. Dank solcher Fürsorge ist der Stichling so fruchtbar, dass man die Äcker mit diesen Fischchen düngt. Auch bei andern Fischarten findet man ähnliche Vaterliebe. Bei dem brasilianischen Pater familias (Familienvater) ist dieselbe sogar derart entwickelt, dass er ein völliges „Männerkindbett“ durchmacht. Er treibt nämlich die Sorgfalt für seine Jungen so weit, dass er sie in seinen eigenen Kiemen zur Ausbrütung bringt und beherbergt. Er verschluckt anscheinend die Eier, aber nur um sie durch eine eigentümliche Atembewegung in die Kiemhöhle zu pressen. Hier[S. 40] durch den elastischen Druck der Kiemenblättchen festgehalten, werden die Eier ausgebrütet. Die Jungen schlüpfen aus, wachsen rasch und wandern nun, da sie in dem beengten Geburtsort nicht mehr Platz finden, in den Mund des Vaters, wo sie alle mit nach der Mundöffnung gerichtetem Kopfe verbleiben. Der gutmütige Alte bekommt dadurch ein höchst groteskes Aussehen. Mit weit aufgesperrtem Maule und dickgeschwollenen Wangen steht er im Wasser, bis er endlich seine selbständig gewordene Brut los wird.
Im allgemeinen wird man behaupten dürfen, dass die Fürsorge für die Brut bei den Tiergeschlechtern wie beim Menschen zuerst beim Weibchen erwacht, und dass die Zärtlichkeit der weiblichen Individuen auch bei den wildesten Tieren noch mehr als gegen den Gatten sich im Benehmen gegen die Jungen ausspricht, welche die Mutter oft sogar gegen die Wildheit des eigenen Vaters verteidigen muss. Bei den Säugern ist es immer das Weibchen, welchem das Aufbringen der Nachkommenschaft obliegt und das dieses Geschäft mit Hingebung und Liebe besorgt. Die Liebe der Affenmutter ist geradezu sprichwörtlich geworden. Allein selbst da ist die Familie keine dauernde, sondern bloss eine vorübergehende, zeitweilige, insofern als sogar bei den am höchsten entwickelten Arten die mütterlichen Gefühle erlöschen, sobald die Jungen herangewachsen sind. Allerdings ist bei manchen Tieren das Bedürfnis der Mutterliebe so gross, dass wenn sie selbst keine Jungen haben, sie andere übernehmen, sogar sich solcher zu bemächtigen suchen. Dies ist dann sicherlich der Ausfluss einer edleren Empfindung, welche mit dem Instinkt nichts mehr zu schaffen hat. Die Henne kennt ihre Küchlein und verjagt die fremden, die sich etwa unter ihre Schar mischen wollten. Ein Überrest dieser Exklusivität tritt auch bei den Menschen und zwar in jenen Fällen zu Tage, wo die Stiefmutter die Kinder aus erster Ehe lieblos behandelt. Gleichwohl nimmt diese Eigenschaft an Härte ab, je höher man die Stufenleiter der Säugetiere emporsteigt: die Kuh verstösst das Kalb einer andern, das Elefantenweibchen hingegen lässt willig was immer für ein Junges aus dem Trupp an sich saugen. Wenn eine Katze beim Wurfe zu Grunde[S. 41] geht, fällt es nicht schwer, ihre verwaisten Jungen von einer noch säugenden Hündin ernähren und aufziehen zu lassen und umgekehrt. Houzeau berichtet diesbezüglich einen, seiner eigenen Erfahrung entnommenen Fall, der deutlich darthut, dass bei der Katze sowohl wie bei der Frau die Liebe zu den Jungen nicht von der Thatsache des Gebärens abhängt und folglich nicht schlechtweg die Konsequenz eines physiologischen Zustandes ist. Vater- und Kindesliebe haben gleichfalls mit dem Instinkt der Fortpflanzung nichts gemein, trotzdem findet man von beiden, wenn auch nicht so häufig, Beispiele im Tierreiche, zumal unter den Vögeln. Unter den Säugern ist Kindesliebe eine seltene Ausnahme. Doch erzählt Harris von einem jungen, kaum meterhohen afrikanischen Elefanten, der die tiefste Trauer an den Tag legte, als seine Mutter, von einem Schusse getroffen, niedergestürzt war; er lief beständig jammernd um sie herum und versuchte, obgleich vergebens, ihren schweren Körper mit seinem kleinen Rüssel wiederaufzurichten.[29] Ebenso wenig macht sich die Vaterliebe bei den Säugern bemerklich und auch die Völkerkunde versieht uns, wie ich später ausführlicher darthun werde, mit einer genügenden Menge von Beispielen, welche beweisen, dass das Gefühl der Vaterliebe dem Menschen keineswegs angeboren ist. Bei den Tieren ist dasselbe so rudimentär, dass oft der Vater die eigenen Kinder verspeist. Immer wiederkehrt die fast die Regel bildende Erscheinung ärgster Belastung des Weibchens und gänzlicher Sorglosigkeit des Männchens, nur ganz flüchtigen Verkehrs zwischen den beiden Geschlechtern, der bald wieder völliger Gleichgültigkeit weicht und einen krassen Ausdruck findet in der Lieblosigkeit der stärkeren Spinnenweibchen, die ihren schwächeren Ehegatten gemütlich aufzehren.
So ist denn bei den Säugern allgemein das Weibchen der Stamm der zeitweiligen Tierfamilie; um die Mutter gruppieren sich die Jungen. Selbst dann, wenn das Männchen in dieser Gesellschaft ausharrt, geschieht es weit eher aus Anhänglichkeit an[S. 42] das Weibchen, denn aus Neigung zu den Jungen. Das Matriarchat, bei niederen Menschenstämmen so häufig, ist im Keime schon in der Tierwelt vorhanden. Sehr treffend und wahr sagt daher der Mailänder Gelehrte Vignoli: „Die Gemeinschaft der Familie, in der der Mensch sich ursprünglich befindet, ist nicht eine wesentlich menschliche, sondern auch tierische Thatsache, da jene Weise gesellschaftlichen Zusammenlebens sich bei dem grösseren Teile der Tiere und immer bei den höheren Tieren vorfindet. Die Notwendigkeit der Aufziehung der Jungen ist es, die die Eltern vereint und ihr Leben für eine kürzere oder längere Periode zu einem gemeinsamen macht: ja in einigen Spezies setzt sich diese Ehe der Liebe und Sorgen die ganze Dauer ihrer Existenz hindurch fort. Demnach ist das Faktum familienhafter Geselligkeit nicht ein ausschliessliches Produkt der Menschheit, sondern der allgemeinen Gesetze des ganzen Tierlebens auf der Erde. Man behaupte nicht, dass im Menschen die Zuneigung zwischen den beiden Geschlechtern und zu den Nachkommen, die von ihnen geboren werden, lebhafter, intensiver und beständiger sei; denn mit gleicher Stärke und bisweilen auch Ausdauer zeigt sie sich auch bei den Tieren zu einander und zu den Jungen. Der Mensch also liebt, vereinigt sich sinnlich und lebt gesellig in einer ursprünglichen Gemeinschaft der Familie allein weil er Tier ist und zwar höheres Tier in der organischen Reihe derselben. Die Thatsache der Familie vollzieht sich also nach der Notwendigkeit kosmischer Gesetze, die einen grossen Teil der wieder erzeugenden und sozialen Thätigkeit des Tierreiches beherrschen.“[30]
[29] J. C. Houzeau. Etudes sur les facultés mentales des animaux. Mons, 1872. Bd. II. S. 110.
[30] Tito Vignoli. Über das Fundamentalgesetz der Intelligenz im Tierreiche. Versuch einer vergleichenden Psychologie. Leipzig, 1879. S. 227–228.
[31] — vermögen wir uns kein zutreffendes Bild zu entwerfen, da es uns hierzu an jeglichem Anhaltspunkte oder Vergleiche gebricht. Selbst die rohesten Wilden der Gegenwart haben augenscheinlich einen höheren Gesittungsrang errungen, als man dem Urmenschen zusprechen kann. Überall finden sich dermalen mehr oder weniger entwickelte gesellschaftliche Gliederungen, irgend eine wenn auch noch so rohe Vorstellung von einer Gottheit, endlich gewisse Künste, ja sogar Luxusgewerbe, und ein Schatz von Dichtungen. Kurzum man hat erkannt, dass es wirklich wilde Völker nicht giebt; nicht einmal aussprechen lässt sich, welches Volk auf Erden überhaupt am tiefsten, d. h. dem Naturzustande am nächsten stehe. Zwar liest man oft von diesem oder jenem Stamme, er befinde sich auf der denkbar niedrigsten Stufe und erhebe sich kaum über die Tierheit; stets fand sich aber auch ein Verteidiger, welcher den Angeschuldigten nach Kräften und auch nicht erfolglos von dem ausgesprochenen Verdachte reinigte und um etliche Staffeln der Gesittungsleiter emporrückte, indem er zu seinen Gunsten diese oder jene übersehene Sitte, Einrichtung oder Geistesäusserung beibrachte. Gewiss muss unter den jetzt[S. 44] lebenden Völkern eines den tiefsten Rang einnehmen, welches es ist, lässt sich aber mit Bestimmtheit nicht sagen. Nur ganz im allgemeinen kann man durch Abschätzung und Vergleichung der Kulturunterschiede bei einzelnen Stämmen die Überzeugung gewinnen, dieses Volk stehe höher oder tiefer als jenes. So ist denn auch die vielgebrauchte Bezeichnung „Naturvölker“ im Gegensatze zu den „Kulturvölkern“ eine den thatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechende, insoferne als jene keineswegs mehr im Naturzustande leben. Nur in dem Sinne darf man von Naturvölkern sprechen, als sie in der Regel mit dem sich begnügen, was die Natur ihnen unmittelbar und freiwillig darbietet, sie daher ganz von deren Laune abhängen. Sie sind aber, so weit sich heute absehen lässt, nicht ohne jegliche Gesittung, nicht kulturlos, sondern nur kulturarm. Nirgends giebt es da schroff gezogene Grenzen, überall vielmehr zahlreiche Schwankungen und Abstufungen, nicht bloss zwischen, sondern auch innerhalb der aufgestellten Gruppen, so dass insbesondere das Bereich der gesitteten Menschheit von der ungesitteten durch Grenzpfähle sich nicht abscheiden lässt. Auch so viel haben die neueren ethnologischen Forschungen festgestellt, dass keinem der heute auf Erden lebenden Menschenstämme die geistige Anlage, sich auf höhere Zustände emporzuschwingen, abgesprochen werden darf. Es entspricht den Thatsachen, aktive und passive Rassen zu unterscheiden; aber, wie Lippert sehr richtig bemerkt, in jeder Rasse, in jedem Volke, in jeder Menschengruppe werden sich Typen aus beiden Gattungen finden,[32] und nur das durch Zuchtwahl beeinflusste Überwiegen des einen oder des anderen wird dem Ganzen seine Eigenart als vorherrschendes Merkmal aufdrücken.
on dem eigentlichen Urzustande der Menschheit — so habe ich schon vor Jahren an einem andern Orte ausgeführtDie unter den zahlreichen Menschenstämmen der Gegenwart und der Vergangenheit — so weit wir davon Kunde besitzen — unleugbar obwaltenden Abstufungen gestatten nun, an ihnen bis zu einem gewissen Grade der Wahrscheinlichkeit die Entwicklungsgeschichte der ganzen Menschheit zu studieren. Unter den Wilden, und selbst unter den allerrohesten, bei denen unter den an die[S. 45] Oberfläche tretenden ursprünglichen, tierischen (primären) Instinkten kaum noch die Keime zu den jüngeren edleren Regungen zu erkennen sind, lässt sich lernen, wie unser Geschlecht allmählich zum menschlichen Dasein sich emporgearbeitet und die Grundlagen der Gesittung erworben hat. Dieser Fortschritt hat sich nicht lückenlos, sondern oft mit langen Stillständen, selbst mit vereinzelten, durch äussere Ursachen veranlassten Rückfällen vollzogen; immerhin ist gestattet den Weg der Menschheit rückwärts bis zu seinem Ausgangspunkt zu ahnen, den man frühestens in die Tertiärzeit und an die äusserste Grenze des Tierreichs verlegen darf, an jene denkwürdige Stelle, wo aus dem höchstbegabtesten Lebewesen der vermutlich sprachlose Urmensch ganz allmählich, ohne jeglichen Sprung, sich entwickelte. Es ist hier nicht meine Aufgabe, dem freundlichen Leser ein der allgemeinen Kulturgeschichte angehöriges Gemälde dieser Vorgänge im Lichte des wissenschaftlich Möglichen zu entrollen; nur Bruchteile des gesamten Kulturlebens, Familie und Ehe, sollen in diesem Buche Gegenstand der Betrachtung sein. Doch ist es unthunlich, dieselben aus dem Ganzen derart loszulösen, dass die dasselbe beeinflussenden Meinungen nicht auch für sie massgebend wären. Es darf daher nicht verschwiegen bleiben, dass der eben kurz angedeutete entwicklungsgeschichtliche Gedanke (dessen Durchführung in grossem Massstabe durch die ganze Menschheitsgeschichte zuerst, schon vor Jahren, versucht zu haben ich vielleicht wähnen darf), trotz des Anklanges, den er bei unbefangenen Denkern und Freunden der naturwissenschaftlichen Methode gefunden, durchaus nicht nach jedermanns Geschmack ist. Die Gegner sind namentlich auf dogmatischer Seite zu suchen, welche an dem biblischen Berichte von der ursprünglichen Paradiesesunschuld und dem darauffolgenden Sündenfalle festhält, welche die Bevorzugung des Urmenschen in Form göttlicher Belehrung oder einer ausserordentlichen Führung bis zur Möglichkeit der eigenen Fortbildung für „unvergleichlich anmutiger“ und „wissenschaftlich annehmbarer“ erachtet, als die „Herabwürdigung“ desselben zum tierischen Urerzeuger. Diese von ihrem Glaubenseifer völlig berauschte Schule erblickt auch in den kulturarmen, geschichtslosen Stämmen der[S. 46] Gegenwart nicht zurückgebliebene, sondern von ihrer uranfänglichen Reinheit in ihre dermaligen „Laster“ versunkene Menschen und spricht unter Berufung auf die ganz unerweisliche, leere Behauptung: philosophia quaerit, religio possidet veritatem der modernen Forschung das Recht ab, aus den bei den heutigen Wilden herrschenden Sitten und Empfindungen Schlüsse auf noch ältere Zustände, auf die Urzeit und den Urmenschen zu ziehen. Obwohl das Beharren bei diesem dogmatischen Gesichtspunkte in vielen Stücken lediglich subjektive Geschmackssache ist, die mit ernstem Forschen nach wissenschaftlicher, objektiver Wahrheit nichts gemein hat, scheint doch eine tiefere Begründung der für uns massgebenden Ansichten an dieser Stelle geboten.
Was gegen dieselben von den Bibelgläubigen vorgebracht wird, hat mit grossem Fleiss und Geschick Dr. Wilhelm Schneider in seinem zweibändigen Werke[33] zusammengetragen. Zweierlei soll erhärtet werden: dass auch der allerroheste Wilde, sowohl leiblich wie geistig und sittlich, noch hoch über dem höchsten Tiere stehe; dann aber dass die Naturvölker „entartet“ und die Voraussetzung unbewiesen und unbeweisbar sei, dass die rohesten Wilden dem menschlichen Urzustande am nächsten stünden:[34] „Nein, auf gleichem Niveau mit den Zuständen der äussersten Wildheit (d. i. die Entartung) ist die Bildungsstufe[S. 47] unserer Stammeltern nicht gelegen,“[35] ruft Dr. Schneider aus. Für alle Anhänger der Darwinschen Entwicklungslehre bedarf die erstere der beiden Behauptungen keines Beweises; es heisst das offene Thüren einstossen. Ein anderes ist es mit der angeblichen „Entartung“ der Naturvölker, welche auch von einem Gesinnungsgenossen Schneiders, dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Karl Schmidt in Kolmar, verfochten wird.[36] „In geschichtlicher Zeit,“ sagt dieser, „sind bekanntlich manche Völker, die einst eine hohe Bildungsstufe einnahmen, später in Barbarei gesunken, und kein Grund nötigt zu der Annahme, dass eine derartige Entartung der Völker in vorgeschichtlicher Zeit nicht vorgekommen sei. Es kann daher nicht angenommen werden, dass in vorgeschichtlicher Zeit sämtliche Völker vom Zustande der Roheit zu dem der Gesittung vorgeschritten seien.“ Die letztere Schlussfolgerung ist unzulässig. Die Geschichte bewahrt uns kein Beispiel, dass jemals ein Volk von der erreichten Gesittungshöhe von selbst herabgestürzt wäre. Wo je Völker in Barbarei versanken, da deckt sie auch die Ursachen des Rückfalles auf, welche ausnahmslos in äusseren Anstössen zu suchen sind. Zumeist sind es die Berührungen mit niedrigeren Kulturelementen, wie sie die Blutmischungen mit roherem Volkstume am heftigsten mit sich brachten, welche den Verfall bewirken. Die Völker gingen ihrer eigenen ethnischen Reinheit verlustig und zwar in immer fortschreitendem Masse, bis sie sich endlich völlig verflüchtigten und oft nichts als ihren Namen der Nachwelt hinterliessen. So sind sie denn auch als Volksindividuen verschwunden, die Ägypter, Perser, Hellenen und Römer des Altertums und wie sonst die übrigen Kulturvölker hiessen, wenn nicht vollkommen hinweggespült und verschlungen von der barbarischen Flut, so doch zersetzt, umgestaltet fast zum Nimmererkennen oder in ihren schwachen Resten, wie etwa die Kopten, den Einwirkungen einer erdrückenden Mehrheit preisgegeben. Eine tiefgehende Umgestaltung verursachen unbestritten auch die Berührungen der hochgestiegenen[S. 48] Weissen Europas mit den Farbigen anderer Erdteile, und diese Umgestaltungen sind desto nachhaltiger, je andauernder sie sind. Von ihren Zuständen vor der Bekanntschaft mit den Europäern sind diese Völkerschaften ohne alle Frage „entartet“, wenn man damit vermehrten Kulturgewinn bezeichnen darf. Denn wie grauenhaft und empörend ihre Misshandlungen sein und gewesen sein mögen, nirgends auf Erden lässt sich der Nachweis führen, dass die heute lebenden Vertreter dieser Völker auf einer niedrigeren Stufe der Gesamtkultur stünden, denn vor diesen Berührungen. Allemal noch ward die Einbusse in den sittlichen Eigenschaften durch Erweiterung des geistigen Horizonts, durch die Entwicklung der jüngeren Instinkte grösserer Lebensfürsorge und die Häufung materieller Güter schliesslich mehr denn aufgewogen. Nach absteigender wie nach aufsteigender Richtung lassen sich also die Ursachen der jeweiligen „Entartung“ erkennen, so dass nicht das leiseste Recht vorliegt, eine solche dort vorauszusetzen, wo sich keine Spur einer Begründung dafür beibringen lässt. Wir müssen daher den im Glaubenstaumel befangenen Gegnern den Nachweis thatsächlich erfolgter Entartung geschichtloser und gar vorgeschichtlicher Völker zuschieben und, so lange dieser nicht erbracht ist, an der Meinung festhalten, dass wir von Barbaren abstammen.[37]
Ehe man der Lehre vom „Sündenfalle“ beipflichten und unsere Kulturarmen als durchweg Gesunkene betrachten könnte, müsste man auch genau den „kulturlichen Urbesitz“, die Gesittungsstufe kennen, von welcher sie auf ihren späteren Zustand herabgesunken sind. Welches dieser Urbesitz, diese Urgesittung[S. 49] gewesen, kann ehrlich niemand sagen. Die Glaubensstarken allerdings lassen unter deren Schätzen Religion und Sittenreinheit glänzen, womit freilich der Urbesitz nicht erschöpft sein kann, weil die beiden genannten Eigenschaften, so wichtig sie sind, nicht ausreichen, um durch sie das Aufsteigen zur geschichtlichen Kultur zu erklären. Aber selbst diese unzulänglichen Güter, woher weiss man denn, dass sie bestanden? Wo liegen die Beweise für eine einst „bessere“ Zeit? Wissenschaftlich sind deren keine vorhanden, es kann also die angedeutete Annahme nur Glaubenssache sein. Zu wissen, was „im Plane der göttlichen Weltregierung“ liegt, ist ein ausschliessliches Vorrecht gläubiger Gemüter. Die Wissenschaft, welche in ihrer nüchternen Betrachtungsweise Gut und Böse mit gleichem Interesse behandelt, kennt solche Unbescheidenheiten nicht. Sie behauptet nicht zu wissen, was in der Urzeit war und wofür sie über keine Beweise verfügt; wenn sie mit der Fackel des Erkannten das vorgeschichtliche Dunkel zu erleuchten versucht, so spricht sie doch nur Vermutungen aus, die sie durch den natürlichen Zusammenhang der Dinge zu Wahrscheinlichkeiten zu erheben sich bestrebt. Weiter geht ihr Verlangen nicht und kann auch nicht gehen, weil dies vollständig genügt. Es ist demnach eine unbedingt zurückzuweisende Unterstellung, dass die „gelehrte Dichtung“, wie ein Virchow die Darstellung der Urgeschichte im Lichte der Entwicklungslehre zu bezeichnen beliebte,[38] als wissenschaftlich gesicherte Wahrheit verkündet werde.[39] Vielmehr betont jeder aufrichtige und gewissenhafte Forscher, dass er über die Grenzen des positiv Erkannten nur Hypothesen vortragen könne; aber Hypothesen aufzustellen, ist ein unantastbares Recht der Wissenschaft, sie zu stützen und zu begründen ihre Pflicht, und wenn es ihr gelingt, eine derselben zu bis an die Grenzen der Gewissheit streifender Wahrscheinlichkeit zu erheben, so mag dies allerdings vielen sehr unbequem sein, doch trifft die Forschung dafür wahrlich keine Schuld.
Es ist ein verdienstvolles Unternehmen die Kulturfähigkeit des Menschen, die geistige und seelische Ebenbürtigkeit aller Völker den Zweiflern gegenüber zu verfechten, die indes keineswegs in den Reihen der Anhänger Darwins zu suchen sind. An der Einheit des Menschengeschlechts festhaltend, geben diese vielmehr willig zu, dass in allen Menschen die Anlagen zu höherer Gesittung schlummern, und sie müssen dies folgerichtig schon deshalb einräumen, weil sie eben schon im Tiere so manche edlere Anlage erkennen wollen. Ohne dass deshalb die Schranke zwischen Mensch und Tier falle, ist es indes nicht weniger wahr, was ja auch die Dogmatiker anerkennen, dass je geringer der Grad der Kultur, um so mehr der Habitus in vielen Beziehungen dem tierischen sich nähere. „Wie die Domestikation auf das Tier einwirkt, so die Zivilisation auf den Menschen,“[40] die, wie ich seinerzeit bemerkte, nichts anderes ist als die „Zähmung“ der ursprünglichen Wildheit. Man kann sich nun noch so viele Mühe geben darzuthun, dass die Schreckbilder der Menschheit, als welche man abwechselnd Australier, Tasmanier, Eskimo, Botokuden, Feuerländer, Hottentotten und Buschmänner, Weddah und Minkopie hinstellen wollte, weit besser seien als ihr Ruf, dass ihr leibliches Aussehen nicht so sehr abweiche von jenem der Kulturmenschen, die Thatsache ist nicht hinwegzuräumen, dass es unter ihnen ausserordentlich hässliche Exemplare der Gattung Homo giebt, und dass wenn es unrichtig sei, sich nach diesen einen Begriff von dem ganzen Stamme zu machen, ihr Vorhandensein allein genügt um zu zeigen, wie weit der Mensch hinter der im Kulturbereiche erlangten körperlichen Beschaffenheit zurückbleiben mag. Die beliebte Ausflucht, dass es sich da um „die verkümmertsten und verkommensten Exemplare unserer Gattung handle, wie sie in den elendesten Winkeln unseres Planeten hausen“,[41] ist nicht stichhaltig, denn mehrere der Genannten bewohnen geradezu begünstigte Erdräume, wie die Tasmanier, die Botokuden und Weddah. Wenn auch gründ[S. 51]licheres Studium zu der sicheren Erkenntnis hingeleitet hat, dass die Menschen auf Grund ihrer körperlichen Eigentümlichkeiten keineswegs als besondere Arten anzusehen sind, so ist die Natur doch stets bestrebt oder bereit, nicht bloss im Tierreiche, sondern auch in unserer Gattung Spielarten zu erzeugen. Solche Spielarten sind die verschiedenen Menschenrassen. Wie alles in der Natur sind auch sie nichts Starres, Abgeschlossenes, sondern in stetem Flusse begriffen, daher zwischen ihnen unzählige Übergänge stattfinden. Die untersten dieser Stufen als „Affenmenschen“ zu beanspruchen, ist noch keinem besonnenen Forscher beigefallen, die Behauptung, dass dies geschähe, aber eine bösliche Unterschiebung. Niemand aber wird gleichwohl verkennen wollen, welche mächtigen Unterschiede zwischen den beiden äussersten Flügeln menschlicher Leibesbildung annoch gelegen sind und wie unbestreitbar diese beiden Flügel durchschnittlich mit den niedrigsten und höchsten Gesittungsstaffeln zusammenfallen. Reichen diese Unterschiede, die sich nicht allein in der Grösse und Schwere des Gehirnes und der edlen Form der Schädelkapsel, sondern auch im übrigen Gliederbau, in der Länge und Gefälligkeit der Arme und Beine am Lebenden wie am Skelett, an der Geräumigkeit und Stellung des Beckens u. s. w. in aufsteigender Stufenfolge bekunden, nicht aus, um die Gattungseinheit aufzuheben, so berechtigen sie doch vollauf, von höher und niedriger organisierten Spielarten und Individuen zu sprechen. Es ist dann nur ein logischer Schluss, wenn diese Menschen niedrigsten, unvollkommensten Schlages als die unentwickeltsten aufgefasst werden, d. h. als solche, welche — ohne die zwischen ihnen und den höchsten Tierspezies aufgerichteten Schranken zu übersehen — doch eben diesen tierischen Lebewesen am nächsten stehen.
Was vom Körper, gilt auch in seelischer und geistiger Beziehung. Die Horden von Jammergestalten mit dünnen, schwächlichen Gliedmassen, eckig, mager, abgezehrt bis auf das Knochengerüst oder mit ungewöhnlicher Neigung zur Fettbildung, wieder andere von hässlichem Aussehen, huldigen auch unbeschreiblich rohen, oft tierischen Gewohnheiten. Dr. Schneider sogar bequemt sich zu dem wichtigen Zugeständnisse: „Cibus et venerea, wie der[S. 52] hl. Thomas von Aquin die Zwecke des Tierischen im Menschen nennt, sind bei allen Naturvölkern die herrschenden, bei manchen die einzigen Triebfedern des Handelns.“[42] Er gesteht, dass diese Naturkinder sich nicht selten als hochintelligente und sinnlich raffinierte Bestien entpuppten, und die Wucht dieser Wahrheit wird durch die spätere, thunlichste Hervorhebung edlerer Charakterzüge nicht abgeschwächt. Auch ist es ein unlösbarer Widerspruch, gewissermassen in einem Atem in den Handlungen der Wilden das Tierische als das Vorherrschende, ihre Ausschweifungen aber als sporadische Verirrungen zu bezeichnen. Wohl hat noch Altmeister Peschel manche schnöde Sitte als „örtliche Verirrung“ oder „Sittenverwilderung“ gedeutet, und in einzelnen beschränkten Fällen ist diese Auffassung auch nachweisbar die richtige. Seit einem Jahrzehnt und darüber hat indes die Völkerkunde die Zahl solcher „Verirrungen“ derart vermehrt, dass sie keineswegs mehr als örtliche oder sporadische, sondern geradezu als Regel erscheinen, auf welche die mildere Deutung nicht mehr anwendbar ist, weil durch keinerlei Beweisgründe gestützt. Natürlich sind unter den Kulturarmen wiederum unzählige Abstufungen vorhanden, welche vom Ärmsten zum Reichsten hinanführen; wiederum ist es aber nur logisch vorauszusetzen, dass diese an Gesittungsschätzen Allerärmsten ihrem Vorgänger, dem Urmenschen, am nächsten kommen. Nur dieses, und nicht, dass der dermalige Naturmensch den kulturlosen, tierähnlichen Urmenschen der Entwicklungslehre darstelle, drängt sich einem logisch denkenden Hirn mit fast zwingender Notwendigkeit auf, sobald es die lediglich auf subjektivem Glauben, nicht auf Wissen beruhende Lehre ursprünglicher Vollkommenheit als mit der Analogie alles positiv Erforschten unvereinbar erkannt hat. Es bedarf dazu der Annahme nicht, dass die Kulturarmen seit der Urzeit gelebt und die damaligen Sitten und Gebräuche unverändert beibehalten hätten. Wäre dies der Fall, so gäbe es ja heutzutage noch wahre Wilde, die bekanntlich dermalen vergeblich auf Erden gesucht werden. Wer aber die Zähigkeit der Sitten und Gebräuche bei den[S. 53] geschichtlichen Völkern nicht absichtlich übersehen will, wer nicht die gesamte Forschung über die Überbleibsel der alten Heidenzeit inmitten unserer europäischen, christlichen Kulturwelt über den Haufen zu werfen gesonnen ist, wer dann vollends mit unserer rasch fortschreitenden, alles umgestaltenden Gesittung die Abgeschlossenheit der Ideenkreise, die Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit bloss des uns so nahe liegenden Morgenlandes vergleicht, der wird vernünftigerweise an der Altertümlichkeit der Sitten niedriger Völker keinen Zweifel hegen dürfen. Die Nomaden Syriens und Arabiens denken und leben noch wie zur Zeit Abrahams; die Nachrichten der Alten über die Brahmanen und Fakire Indiens scheinen wie im neunzehnten Jahrhunderte geschrieben. Und nun sollen die Sitten noch weit unbeweglicherer, geistig viel beschränkterer Völker nicht aus uralten Epochen herrühren? Man sieht, eine solche Annahme ist bare Willkür und schlägt aller Analogie ins Gesicht.
Wie alt aber die Sitten der Kulturarmen auch sein mögen, sie bekunden sicherlich schon einen unermesslichen Fortschritt gegenüber den ersten Anfängen der Urzeit. So weit wir die Geschichte rückwärts zu schauen vermögen, überall sind selbst die rohesten Menschenhorden im Besitze der Sprache, der einzigen hohen Schranke zwischen Mensch und Tier. Wie lange aber es gedauert, ehe der sprachlose Urmensch (Homo alalus) zum redenden Wesen sich entwickelte, entzieht sich jeder Berechnung. Auch die rohesten Wilden der Geschichte wie der Gegenwart haben teil an den eigenartigen Gütern der Menschheit und erweisen ihre Zusammengehörigkeit durch die Kunst, Nahrung, Obdach, Schmuck und Kleidung zu bereiten, Nährpflanzen zu ziehen, Nutztiere zu züchten und höchst zweckmässige Geräte und Waffen zu verfertigen. Alle Wilden kennen ferner, wenn auch in mehr oder weniger ausgebildetem Grade, die Zählkunst, den Ausdruck der Gemütsbewegungen durch Lachen und Weinen, durch Gesang und Musik, durch Spiel und Tanz. Sie sind vertraut mit dem Austausche der Freundschaft, mit Begrüssungs- und Höflichkeitsformen, sind der Mode und Etikette unterworfen, feiern zum Teil Geburts-, Hochzeits- und Totenfeste, halten Ernte- und Siegestänze.[S. 54] Alle haben zum mindesten einen gewissen Schatz abergläubischer Vorstellungen, welche der genügsame Forscher als die ältesten Spuren von Religion betrachtet, alle kennen und üben den Krieg. Sie leben endlich, wenn auch auf unterster Stufe, horden- und familienweise, haben einen Begriff von Eigentum und Sitten, welche die Begegnung der Geschlechter und die Hinterlassenschaft der Verstorbenen regeln, besitzen in ihren Stammessatzungen eine Art Rechtsgemeinschaft, stehen meist unter einer Obrigkeit und haben auch einigen Anteil am Ruhme der Erfindungen. Es bedarf wohl keiner weiteren Ausführung, dass die Gesittungshabe der Urzeit im Sinne der Entwicklungslehre eine beträchtlich geringere gewesen sein müsse. Die Sitten niedrigster Menschenstämme der Jetztzeit können daher als eine Art Grenze gelten, hinter welcher noch die Urzeit liegt, und in diesem Sinne ist deren Heranziehung bei urgeschichtlichen Betrachtungen ganz unerlässlich. Nicht als Vertreter urzeitlicher Zustände, sondern bloss als Wegweiser zu denselben haben sie zu dienen. Ist diese oder jene Sitte an der dermaligen äussersten Kulturgrenze nachweisbar, so spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Urzeit noch hinter derselben zurückgeblieben, im günstigsten Falle sie erreicht hat.
Nimmt man im Gegensatze zu der ganz unbewiesenen und unbeweisbaren Behauptung eines goldenen Zeitalters mit einem vollkommenen Urvolke eine natürliche Entwicklung, eine schrittweise Vervollkommnung namentlich der geistigen Fähigkeiten, sowie der sittlichen und geselligen Ausbildung des Menschen, als das Wahrscheinlichere an, so dürfen wir deshalb den ursprünglichen Zustand desselben in der That als einen tierähnlichen denken. Aber auch nur einen tierähnlichen, keinen tierischen mehr. Nur durch fortgesetzte, von äusseren Einflüssen begünstigte Veredlung konnte der Mensch aus seinen tierischen Vorfahren hervorgehen. Der Mensch im gewöhnlichen Sinne kann nur ganz allmählich entstanden sein, so dass er schon da war, als er noch nicht da war und umgekehrt, mithin der Ausdruck: „erster Mensch“ ein ungereimter ist. Einen ersten Menschen hat es niemals gegeben.[43][S. 55] Ich will, weil dies hier überflüssig, nicht näher eingehen auf die früheren Urerzeuger des Menschen, wie sie Darwin auf Grund seiner Studien ahnt,[44] sondern nur betonen, dass der sprachlose Urmensch auch damals schon das höchstentwickelte und höchstgestiegene Lebewesen war, also in der organischen Welt an derselben Stelle stand wie auch heute, nämlich an der Spitze aller Geschöpfe. Gleichwohl ist die Annahme eines solchen Wesens und seiner allmählichen Entwicklung, seiner ethischen Menschwerdung, den Gläubigen aller Schattierungen höchst widerwärtig. Ihm vor allem gilt ihr Sturmlauf. Sie klagen und jammern, dass der Paradiesesmensch, „jene schön verzierte und tiefsinnige Initiale der biblischen Urgeschichte, dem hässlichen Bilde eines affenartigen Wilden weichen müsse, der an der Spitze der materialistischen Urgeschichte sich als Lehrer der Civilisation spreizt“.[45] Auch hierin liegt wieder eine der beliebten Verdrehungen. Nie und nirgends ward der „affenartige Wilde“ als „Lehrer“ der Civilisation, sondern lediglich als deren Ausgangspunkt dargestellt. Ein Ausgangspunkt ist aber kein Lehrer. Vollends frivol ist die Anschuldigung, dass die angebliche Verdrängung „um der religiösen Bedeutung und Lieblichkeit willen“ stattfinde. Die ernste Wissenschaft kennt kein anderes Ziel als die Erkenntnis der Wahrheit. Dem Glauben tritt sie nicht als solchem entgegen, dort wo er sich ausserhalb ihrer Sphäre bewegt. Sie lässt sich bloss nicht vom Glauben die Pfade vorschreiben, auf welchen sie ihrem Ziele entgegenschreitet. Endlich verlohnt es sich zu prüfen, wie sich denn „die schön verzierte und tiefsinnige Initiale der biblischen Urgeschichte“ zu dem Bilde verhält, welches die moderne Forschung vom Urmenschen entwerfen zu dürfen glaubt.
Der Urmensch, dem zuerst die Sprache fehlte, war auch lange nach Entwicklung dieses Vermögens ein nach unseren Begriffen unbeholfenes und hilfloses Wesen. Es wusste nichts von Obdach und Kleidung; das Feuer war noch nicht erfunden, seine Nahrung also eine vegetabilische, den Früchten der Bäume und[S. 56] Sträucher entnommen. Er hatte keine Waffen und kein Gerät. Es gab kein Eigentum. Fürsorglosigkeit ist eines seiner Merkmale. Auch später noch führt er den Kampf unmittelbar mit der Natur. Das Sinnen um die Erhaltung des Lebens, das Ringen um die tägliche Nahrung, die Abwehr der natürlichen, ihn stets und von allen Seiten her bedrohenden Feinde nimmt ihn völlig in Anspruch. Keine Spur von höheren geistigen Interessen ist noch bei ihm zu finden. Kein religiöser Begriff erhellt sein Dasein, moralische Regungen sind noch nicht vorhanden. Vermutlich fand er sich bald in kleinen Truppen zusammen, um so den Kampf ums Dasein, in dem er allein wegen seiner natürlichen Hilfslosigkeit nicht bestehen konnte, auf die Gesellschaft abzuwälzen. Aber roh und tierisch in ihrem Wesen gleichen einander die Genossen der Horde. Arm und inhaltsleer verrinnt ihr Leben. Keiner hat Gedanken, die er mit andern auszutauschen Bedürfnis hätte, keiner besitzt einen Inhalt des Empfindens, an welchem er einen andern möchte teilnehmen lassen. Gleichgültig leben alle neben einander her, und stumpfsinnig wendet sich der Mann vom Weibe ab, das ihm wohl gut ist, der Sinne Lüste zu stillen, das ihm nach erlangter Befriedigung aber wertlos ist, das er daher gleichgültig dem Genossen überlässt.[46] Sein impulsives Handeln folgt immer nur den nächsten Antrieben, die ausser ihm liegen, daher der Urmensch von Haus aus weder gutartig noch bösartig erscheint. Gewissen und Reue sind ihm fremd.
Wir nehmen nun die Bibel zur Hand, die einzige Quelle alles Wissens der Gläubigen über die Urzeit. Es ist wohl unnötig zu betonen, dass wer nicht mit vorgefassten Meinungen an dieses Buch herantritt, in demselben eine der denkwürdigsten Geschichtsurkunden der Welt zu verehren hat. Mehr kann man darin nicht erblicken, seitdem Bibelforschung und Textkritik die verschiedenen Quellen aufgedeckt haben, aus welchen die Verfasser schöpften, und erwiesen ist, dass, was den hier allein in Betracht kommenden Pentateuch, d. h. die fünf Bücher Mosis anbelangt, die Schlussredaktion erst zur Zeit des Esra geschehen[S. 57] und der Redaktor nur in dem Kreise der in Babylonien lebenden Schriftgelehrten gesucht werden kann, zu welchen auch Esra als einer der berühmtesten, wenn nicht der berühmteste zählte.[47] Es liegt mir natürlich ferne, diese Ergebnisse strengster Forschung des weiteren hier zu verfolgen. Unerlässlich däucht mir aber der Hinweis, dass schon in Kapitel 1 und 2 der Genesis zwei völlig verschiedene und mit einander nicht zu vereinbarende Schöpfungsberichte vorliegen, von welchen das erste Kapitel, dem der sogenannte Priesterkodex zu Grunde liegt, eine kosmogonische Theorie geben will,[48] während die jahwistische Erzählung im zweiten und auch dritten Kapitel durch Abwesenheit jeglichen rationellen Erklärungsstrebens, durch die Verachtung jeglicher kosmologischer Spekulation glänzt.[49] Ich lege indes auf diese Widersprüche hier kein Gewicht; es genügt vollständig festzustellen, dass aus der biblischen Erzählung über den Urzustand des Menschen sich so gut wie gar nichts herauslesen lässt. Wir erfahren bloss, dass der Mensch im Garten Eden lebte, die Sprache besass und nackend war, wessen er sich nicht schämte. Nichts hören wir davon, dass er ein Obdach oder ein Werkzeug besessen; in seiner Nahrung war er auf die Früchte der Bäume angewiesen. Von Gottesverehrung, Religion, keine Spur; nur Scham lernen wir als erste Empfindung des Menschen kennen, als er vom Baum des Erkenntnisses gegessen, dann Furcht, als er sich entdeckt sieht. So weit ist also der biblische Urmensch von jenem der wissenschaftlichen Vermutung nicht entfernt. Der fernere Verlauf der biblischen Erzählung ist eben so arm an bestimmten Angaben. Nirgends steht von einer ursprünglichen Vollkommenheit geschrieben, höchstens tierische Glückseligkeit lässt im Paradiese sich vermuten, im Gegensatze zu dem Lose, welches den Menschen nach seiner Vertreibung trifft. Auch ist mit Gut und Böse, wie es in Genesis 2 und 3 gemeint ist, keine Entgegensetzung der Handlungen nach ihren sittlichen Unterschieden beabsichtigt, sondern eine Zusammenfassung der Dinge nach ihren zwei polaren[S. 58] Eigenschaften, wonach sie den Menschen interessieren, ihm nützen oder schaden; denn nicht was die Dinge metaphysisch sind, sondern wozu sie gut sind, will er wissen. Neben dem ausführlichen Ausdruck kommt übrigens, wie Wellhausen hervorhebt, auch der einfache, Erkenntnis schlechthin, vor, und zu beachten ist noch das, dass es nicht heisst: erkennen das Gute und das Böse, sondern: Gutes und Böses.[50] Ohne es irgendwie zu beabsichtigen, hat der jahwistische Darsteller im „Sündenfalle“ einen wichtigen Markstein in der Gesittungsentwicklung seines Urmenschen geschaffen, den auch die moderne Anschauung gelten lassen muss, freilich ohne eines „Sündenfalles“ zu bedürfen. Tief unter der untersten Grenze geschichtlichen Menschentums bewegt sich aber auch nach dem Verlassen des Paradieses der solchergestalt fortgeschrittene Urmensch. Nur die Kleidung trägt er daraus mit, keinen ersichtlichen höheren Gedanken. Auch an ein Leben nach dem Tode kein Gedanke. Unsterblichkeitsglaube existiert für ihn so wenig wie Religion, und wenn die Eiferer sich heftig auflehnen gegen eine religionslose Urzeit, weil heutzutage — und, füge ich hinzu, wohl auch geschichtlich — der religionslose Naturmensch ebenso ins Reich der Fabel gehört, wie der sprachlose Urmensch,[51] so steht doch der modernen Anschauung die Bibel nicht im Wege. Auch wir sind der entschiedenen Ansicht, dass der Name „Religion“ selbst noch auf solche Vorstellungen und Gebräuche anzuwenden sei, die allerdings von unserem höheren Standpunkte als düsterer Aberglaube zu bezeichnen sind. Allein es handelt sich nicht darum, wie Roskoff sehr treffend bemerkt, ob religiöse Vorstellungen dem Europäer als Aberglaube erscheinen, sondern ob jene einem Volksstamme als Religion gelten,[52] und in diesem Sinne darf man wohl sagen, dass jedes Volk eine gewisse Religion besitze. Um dies zuzugestehen, müssen wir indes unsere Genügsamkeit in vielen Fällen auf das äusserste Mass herabsetzen, und es ist nur logisch, zu schliessen, dass den ur[S. 59]geschichtlichen Vorgängern dieser Religionsarmen selbst dieses geringste Mass nicht eigen war. Auf die gesellschaftlichen Zustände der ausgetriebenen Ureltern fällt aber gar der schwärzeste Schatten, denn nach Genesis 4 bleibt nichts übrig, als den ersten Menschen und ihre Nachkommen der Blutschande, und zwar begangen mit der eigenen Mutter, zu beschuldigen.[53] Im übrigen leuchtet auch aus der biblischen Erzählung hervor, wie die einzelnen Künste des Lebens erst nach einander erwuchsen in dem langen Zeitraume, der bis zur Sündflut verfloss. Soweit die mosaische Überlieferung, denn nur solche und nicht beglaubigte Geschichte ist es, welche im Pentateuch und den übrigen Schriften bis herab zum Königsbuch redaktionellen Ausdruck gefunden. Unbefangener Prüfung gegenüber hält die Wahrscheinlichkeit dieser Überlieferung, verglichen mit jener der neueren Annahmen über die Urzeit, nicht im entferntesten Stand. Immerhin schien mir der Hinweis von Belang, dass die spärlichen Angaben der Genesis keinen ernsten Widerspruch gegen jene begründen. Nicht zur allergeringsten materiellen oder geistigen Lebenskunst hat der Paradiesesmensch sich erhoben; in nichts, in rein gar nichts äussert sich die göttliche Belehrung oder ausserordentliche Führung, und nichts, auch nicht das Geringste nimmt der Verstossene mit sich, als den Fluch der erzürnten Gottheit. Kurz, der vertriebene Adam der mosaischen Schöpfungssage steht genau an dem nämlichen Punkte wie unser Urmensch, dem kein Paradies geglänzt hat. Was Adam und sein Geschlecht ersonnen und an Kulturschätzen erreicht, es geschah ohne die Erleuchtung des feindseligen Gottes, der erst wieder eingreift, um durch die Sündflut die verderbte Menschheit hinwegzutilgen. So kehrt sich denn genau nicht mehr und auch nicht minder gegen den biblischen Urvater und die Seinen der wohlfeile Spott, welcher „den Urmenschen, dem es einfiel, die Kunst des Feuerzündens und des Kochens, der Tierzähmung und des Ackerbaues zu erfinden, als ein Universal- und Säkulargenie“[54] angesehen wissen will.
[31] Hellwald. Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart. Dritte Aufl. Augsburg, 1883. Bd. I. S. 11.
[32] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 43.
[33] Dr. Wilhelm Schneider. Die Naturvölker. Missverständnisse, Missdeutungen und Misshandlungen. Paderborn u. Münster, 1885–86, 2 Bde. Das Buch zeugt von grosser Belesenheit und vielem Sammelfleiss. Auch kann ich nicht umhin einzuräumen, dass der Verfasser meine eigenen Schriften mit augenscheinlicher Bevorzugung gelesen und zu Rate gezogen hat, da ich ganze Stellen aus denselben wiedererkenne und auch meine Quellenangaben reichlich benützt finde. Sind letztere in dem Schneiderschen Werke also vielfach auch nur aus zweiter Hand geschöpft, so verficht doch der Verfasser, wohl ein katholischer Theologe, seinen Standpunkt mit Energie und in einzelnen Punkten auch nicht ohne Glück. In manchem ist ihm unbedingt beizustimmen, so in fast allem, was die Misshandlungen der Naturvölker betrifft. In anderem wirkt er berichtigend, so dass sein Buch jedenfalls ein belehrendes bleibt und auch von Denkern anderer Färbung als dankenswerte Leistung anerkannt zu werden verdient.
[34] A. a. O. Bd. I. S. 63.
[35] A. a. O. Bd. I. S. 61.
[36] Zeitschrift für Ethnologie. Berlin, 1884. S. 39–41.
[37] Mit Bezug auf den auch auf religionswissenschaftlichem Gebiete vorgeschützten „Rückschritt“ der Menschen von vollkommneren religiösen Vorstellungen, sagt sehr treffend Prof. Bernhard Stade in seiner „Geschichte des Volkes Israel“. Berlin, 1887. Bd. I. S. 405: „Es ist dies wohl ein rudimentärer Rest jener Theorieen früherer Zeiten über die Uroffenbarung, welche heutzutage allenfalls noch ein Parlamentarier in einer unglücklichen Stunde aufwärmt, welche aber die Theologen aufgegeben haben, da sie eine genügende Würdigung der Offenbarung Gottes in Christo ausschliessen. In Kreisen, welche von den wissenschaftlichen Hypothesen vergangener Zeiten zehren, hält sich diese Theorie noch....“
[38] Rudolf Virchow. Die Urbevölkerung Europas. Berlin, 1874. S. 4.
[39] Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 413–414.
[40] Schneider. A. a. O. Bd. I. S. 5.
[41] Ebd. Bd. I. S. 61.
[42] A. a. O. S. 4.
[43] B. Carneri. Sittlichkeit und Darwinismus. Wien, 1871. S. 28.
[44] Charles Darwin. Die Abstammung des Menschen. Bd. I. S. 210.
[45] Schneider. Die Naturvölker. Bd. I. S. 66.
[46] Frerichs. Zur Naturgeschichte des Menschen. S. 106.
[47] Dr. Bernhard Stade. Geschichte des Volkes Israel. S. 64.
[48] J. Wellhausen. Geschichte Israels. Berlin, 1878. Bd. I. S. 341.
[49] A. a. O. S. 347.
[50] A. a. O. S. 345–346.
[51] Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 348.
[52] Gustav Roskoff. Das Religionswesen der rohesten Naturvölker. Leipzig, 1880. S. 13.
[53] Fr. Müller. Allgemeine Ethnographie. Zweite Aufl. Wien, 1879. S. 50.
[54] Schneider. Die Naturvölker. Bd. I. S. 66.
[S. 61] des Menschen vor den übrigen Geschöpfen. „Medizinische Beobachtungen der neueren Zeit,“ sagt Carus Sterne, „hatten nämlich ergeben, dass die Einzelheiten, aus denen sich diese Erscheinung zusammensetzt, die Beschleunigung des Herzschlages, die geistige Verwirrung und die Röte, welche sich gleichzeitig über Antlitz und Brust ergiesst, auch sehr schnell beim Einatmen von Amylnitrit eintreten, einer zu medizinischen Zwecken benützten Ätherart. Darwin hatte schon vor Jahren auf die Ähnlichkeit dieser künstlichen Scham mit der natürlichen die Aufmerksamkeit gelenkt, und W. Filehne zeigte vor kurzem, dass beide gleichmässig dadurch entstehen, dass eine Gehirnpartie, welche die Blutgefäss-, Atmungs- und Herznerven gleichzeitig beeinflusst, ihre regelnde Thätigkeit vorübergehend einstellt. Es wurde ferner nachgewiesen, dass die meisten Säugetiere in denselben Zustand versetzt werden konnten, dass also die Anlage, unter Herzklopfen zu erröten und in Verwirrung zu geraten, schon bei den Tieren vorhanden ist, wenn diese Erscheinungen auch für gewöhnlich nicht eintreten, weil von der minder feinfühlig entwickelten Psyche kein Antrieb zur Abspielung dieses interessanten Vorganges gegeben wird. Diese Nachweisungen scheinen aber, wie ihr Urheber mit Recht hervorhob, ein Verständnis dafür anzubahnen, wie sich beim Menschen im Verlaufe seiner Veredlung jener eigentümliche Verräter seiner inneren Empfindung mit all seinen Begleiterscheinungen hat ausbilden können.“[55]
nbeirrt von dogmatischen Einwänden habe ich den Nachweis zu führen versucht, wie die menschlichen Gefühle in wenn auch sehr rudimentärem Zustande schon im Tierreiche sich vorfinden. Unter diesen ist indes eines, welches dem Anscheine nach eine unüberbrückbare Kluft zwischen Mensch und Tier herstellt und das wegen seiner engen Beziehungen zum Geschlechtsleben vor allen eine genauere Betrachtung erheischt. Ich meine die Schamhaftigkeit, womit der Mensch alle natürlichen Leibesverrichtungen zu umgeben gewohnt ist. Bei stark materialistisch zugeschliffenem Verstande mag man es zwar ziemlich lächerlich finden, sich Handlungen oder Dingen zu schämen, die ganz natürlich sind, ja die gradezu sein müssen, und doch kann der zur Selbsterkenntnis gekommene Kulturmensch dieses Gefühl nicht loswerden. Noch mehr, dieses Gefühl ist so stark, dass es sogar einen besonderen physischen Ausdruck besitzt: das Erröten, von dem manche meinen, es sei dem Geschöpfe vom Schöpfer als eine Art Talisman, als ein Hemmnis seine Gebote zu überschreiten, eingepflanzt. Indes zeigt diese von den Dichtern gepriesene Blüte edelster Menschlichkeit, diese Verräterin des Gewissens und der leisesten Regungen des Gefühls, gewisse Eigentümlichkeiten, welche beweisen, dass die Möglichkeit der Entfaltung dieser psychischen Vorgänge schon im Tierreiche gegeben war, und das Vermögen die Farbe zu wechseln, ist kein VorzugDas Erröten ist mithin keineswegs ein ausschliessliches menschliches Vorrecht. Weder besitzen wir es allein, noch besitzen es die Menschen alle im nämlichen Grade. Charles Darwin gelangt allerdings zu dem Schlusse, dass das Erröten „den meisten und wahrscheinlich allen Menschenrassen gemeinsam zukommt;“[56] allein aus den von ihm gesammelten Zeugnissen erhellt deutlich, dass dieses Vermögen doch hauptsächlich den geistig entwickeltsten[S. 62] Stämmen eignet. Was er von den Negern, den Kaffern und Australiern sagt, gestattet zwar auf das Vorhandensein eines Schamgefühles zu schliessen, welches indes keinen oder nur einen ungemein schwachen physischen Ausdruck findet. Und dies ist auch recht erklärlich, denn um zu erröten, muss der Geist erregt werden. Wo derselbe, wie bei rohen Völkern, seiner geringen Ausbildung halber, nur selten und wenig erregbar ist, kann auch die Fähigkeit des Errötens nicht besonders entwickelt sein. Selbst in unseren gebildeten Kreisen erröten zartbesaitete Gemüter öfter und leichter als rohere Naturen, denn es hängt die Empfindlichkeit des Schamgefühls von dem Grade der angebornen oder anerzogenen Feinfühligkeit ab.[57] Diese wächst aber mit steigender Geistesbildung und letztere ist ein Erzeugnis der Gesittung. An einen etwaigen übersinnlichen Ursprung der Schamröte zu glauben, muss uns schon der Umstand in Zweifel setzen, dass eine und dieselbe Erscheinung, wie es das Erröten ist, bald den Abglanz der Unschuld, bald das Kainszeichen der Schuld vorstellen soll. Beim Kulturmenschen tritt als letzter Grund des Errötens die Rücksichtnahme auf die Beurteilung durch andere auf; es zeigt sich daher fast unausweichlich, wenn er in Gegenwart dritter eine die Schamhaftigkeit verletzende Handlung begehen soll, eine solche sieht oder auch nur davon hört. Es ist ein Gedicht, welches die Tugend mit rosenfarbener Tinte auf die Wangen schreibt.
So wenig wie das Erröten kann auf ihrer untersten Stufe die Menschheit die Schamhaftigkeit besessen haben. Unterscheidet man mit Julius Lippert ursprüngliche, ältere (primäre) Instinkte, d. h. solche, welche allen Menschen von Haus aus unbedingt gemeinsam sind, und jüngere (sekundäre), welche später und nicht von allen, auch nicht von allen gleichmässig im Laufe ihrer Entwicklung erworben wurden, so ist die Schamhaftigkeit unzweifelhaft ein solcher Instinkt jüngerer, gesellschaftlicher Art. „Auf der ersten Stufe,“ so führt Lippert überzeugend aus, „wird die möglichste Verstärkung des Geschlechtssinnes von wohlthätigen Folgen[S. 63] für die Erhaltung der Art. Je feiner die Sinne für die Wahrnehmung geschärft werden, je intensiver und unmittelbarer auf die Sinnesempfindung der Antrieb folgt, desto weniger besorgt braucht Mutter Natur um die Arterhaltung ihrer Geschöpfe zu sein. Die Intensität dieses Instinktes ist in der That bei allen Geschöpfen ausserordentlich gross; sie führt sie mit Ausserachtlassung der grössten Gefahren für das Individuum dem Ziele zu. Seiner Intensität nach nimmt dieser Instinkt auf höheren Entwicklungsstufen nicht ab, je nach der Anzahl seiner Impulse verstärkt er sich noch. Zu den Sinneseindrücken, welche im Tiere sowohl, als auch im Urmenschen die entsprechenden Reflexerscheinungen, wie wir sie wenigstens einer Analogie nach nennen können, auslösen, gesellt sich auf einer höheren Stufe die willkürliche und unwillkürliche Reproduktion des Gedächtnisses und der Einfluss einer entwickelteren Vorstellungskraft. Um so notwendiger erscheint, sobald die Menschen zu erweiterter Fürsorge auf der Basis der Gesellschaft fortschreiten, ein zügelnder Instinkt.“[58] Dieser hat aber ursprünglich so wenig bestanden, wie gegenwärtig auch beim Tiere; erinnert doch noch die biblische Überlieferung an einen Urzustand, in welchem die Menschen das Gefühl geschlechtlicher Scham nicht besassen. Der Standpunkt der Schamhaftigkeit, auf dem wir heutigen Tages in Europa stehen, ist also nicht etwas von Hause aus Gegebenes und ein- für allemal Unwandelbares, sondern vielmehr ein sehr wandelbares Erzeugnis jener Kultur, welche sich hauptsächlich in der Entwicklung allgemein menschlicher und auch bei den Naturvölkern zu findenden Anlagen offenbart.[59] Der Neger z. B. besitzt die gleiche Anlage zur Schamhaftigkeit wie wir, aber auf den allerverschiedensten Stufen der Ausbildung. Thatsache ist, dass es noch heute eine grosse Menge von Völkern giebt, bei welchen eine Schamhaftigkeit in unserem Sinne gar nicht vorhanden ist. Brauch und Sitte entscheiden eben allein über Verstattetes und Anstössiges, und erst nachdem sich eine Ansicht befestigt hat,[S. 64] wird irgend ein Verstoss zu einer verwerflichen Handlung.[60] Allerdings ist bei barbarischen Stämmen vieles des Charakters des Herausfordernden entkleidet, das einen solchen erst einem geübteren Verknüpfungs- (Kombinations-) und Vorstellungsvermögen gegenüber gewonnen hat. So ist auf dem Standpunkte der Bibel vieles als Thatsache längst unter das abwehrende Gesetz der Scham gestellt, aber noch nicht das nackte, unverblümte Wort dafür und der nackte Bericht. Seither ist das Schamgefühl fortgeschritten, indem es auch das Wort verbietet, welches die Vorstellung mit konkreter Bestimmtheit oder gerade nach der Richtung hin hervorruft, in welcher sich jener Instinkt bewegt. Dieser Fortschritt vollzieht sich noch in unserer Zeit, und es ist noch nicht allzulange her, dass er angebahnt wurde.[61]
So schämt der Kulturmensch sich jeder Handlung, wenigstens vor andern, die aus Notwendigkeit hervorgeht, selbst der zur Erhaltung des Organismus unbedingt unerlässlichen. Während er aber anstandlos isst, trinkt, raucht, schnupft, dünken ihm alle Ausscheidungen gleichsam unverdiente Erniedrigungen, die der Haushalt des tierischen Leibes ihm auferlegt. Über sie vor allem trachtet das Schamgefühl einen dichten Schleier zu werfen, um vor andern zu erscheinen, als seien wir so rein und sehenswürdig, wie die Lilien in der Sprache der Evangelien. An dieses unser Naturleben wollen wir nicht gemahnt sein und verhüllen daher ängstlich die Organe und Körperteile, welche diesem ausschliesslichen Zwecke dienen. In der gesitteten Gesellschaft mit ihrer hochgradigen Scheu vor der Nacktheit existiert diese Seite unseres Naturlebens scheinbar gar nicht, und in der Rede geschieht von deren Vorhandensein keinerlei Erwähnung. Vollends aber wird das Schamgefühl durch jede, auch die leiseste Anspielung auf das Erotische empfindlichst beleidigt, freilich bei Völkern, wie bei Individuen nicht immer im gleichen Grade. Und das kleine Kind des Kulturmenschen kennt die Scham ebensowenig wie das Tier. Dieses kommt nie dazu, weil es nicht zum Bewusstsein des Geistes[S. 65] gelangt, das Kind aber erst dann, wenn es in sich den qualitativen Gegensatz zwischen Geist und Körper zu fühlen beginnt. Ganz rohe Stämme, die auf dem Standpunkte des Tieres oder richtiger auf jenem kleiner Kinder stehen, wissen deshalb auch nichts von unserer Schamhaftigkeit. Ohne alle Scheu vollziehen sie Verrichtungen, welche der Kulturmensch sorgfältig fremden Blicken entzieht, und es ist nur zu beklagen, dass die meisten Reisenden, welche uns mit fernen Völkern vertraut machen, über Dinge, die ihrer Aufmerksamkeit unmöglich entgehen konnten, eine zwar erklärliche, aber wissenschaftlich recht anfechtbare Zurückhaltung beobachten zu müssen glauben. So sagt z. B. Alfred Lortsch in einer sonst verdienstvollen Studie über Neukaledonien: „Die Tracht der Neukaledonier ist eine sehr sonderbare und keineswegs geeignet, hier speziell beschrieben zu werden.“[62] Mit solcher Zurückhaltung wird der Wissenschaft herzlich schlecht gedient. Hunderte von Reisewerken wird man deshalb enttäuscht aus der Hand legen, ehe man auf eine jener Mitteilungen stösst, welche einen direkten Schluss auf das Schamgefühl der beschriebenen Völker gestatten würden.
In der Beurteilung der Frage, ob einem Volke der Sinn für Schamhaftigkeit abgehe oder bis zu welchem Grade derselbe etwa vorhanden sei, werden häufig, ja sogar gewöhnlich ganz verschiedene Regungen vermengt und insbesondere Sittsamkeit oder Anstandsgefühl und Keuschheit mit Schamhaftigkeit verwechselt. Keuschheit (Castitas) oder, was das Nämliche ist, Züchtigkeit erheischt zunächst strenge Eindämmung der geschlechtlichen Verrichtungen innerhalb der von der Sittenlehre vorgeschriebenen Schranken. Sie paart sich mit der Sittsamkeit, dem äusseren Anstande, welcher seinerseits jeglichen Hinweis auf das Geschlechtsleben, sei es in Wort oder Gebärde, verbietet. Auf der obersten Stufe steht die geschlechtliche Scham (Pudor), welche vor der leisesten Andeutung dieser Prozesse zurückbebt und daher vor allem die tierische Seite des menschlichen Körpers fremden Blicken zu entziehen beflissen ist. Zwischen ihr und der Sittsamkeit walten[S. 66] feine psychologische Unterschiede, die nur selten die gebührende Beachtung finden. Mit der Keuschheit im obigen Sinne hängt das Schamgefühl dagegen nur lose zusammen. Die Keuschheit betrifft das verborgene, die Schamhaftigkeit das augenscheinliche Thun und Lassen. Niemand schämt sich vor sich selbst, stets nur vor dritten; die Keuschheit wird bewahrt oder verletzt auch ohne Zeugen. Daraus ergiebt sich, wie sehr wohl Unkeuschheit mit Schamgefühl, Schamlosigkeit mit Keuschheit vereinbar ist. Die feinen Lebemänner unserer Grossstädte, wie die eleganten Damen der sogenannten Halbwelt lassen sich kaum einen Verstoss gegen die Sittsamkeit zu Schulden kommen, während die Unzüchtigkeit ihres Wandels keinem Zweifel unterliegt und wahres Schamgefühl höchstens in Gegenwart unberufener Dritter sich ihrer wohl bemächtigen würde. Umgekehrt fehlt es nicht an geschlechtlicher Zurückhaltung, an Keuschheit, bei einzelnen, wie bei ganzen Völkern, die im Punkte der Schamhaftigkeit, wie wir sie auffassen, unendlich viel, fast alles zu wünschen übrig lassen.
Aus dem Gesagten erhellt, dass wenn man vielleicht mit „Schamlosigkeit“ den Mangel an Keuschheit, Sittsamkeit und Schamgefühl zusammenfassend bezeichnen darf, doch nur für letzteres, nicht auch für Anstand und Züchtigkeit, in der grösseren oder geringeren Entblössung des Körpers ein Massstab zu suchen ist. Nur die Vermengung dieser verschiedenen Begriffe verleiht dem Schamgefühl eine viel grössere Ausdehnung, als ihm thatsächlich zukommt. Auf verschiedenen Stufen und unter verschiedenen Gestalten ist das Schamgefühl fast unter allen Wilden zu finden, sagt A. de Quatrefages.[63] Und erst unlängst verkündete auch ein deutscher Gelehrter wieder: „Das Schamgefühl ist allgemein in der heutigen Menschheit; wo es aber zu fehlen scheint, ist sein Mangel ein zufälliger oder vorübergehender Zustand.“[64] Das ist nun freilich ein weiter Sack, in den man bequem die ganze Unzahl von Beispielen des Gegenteiles stecken kann. Man[S. 67] sollte aber nicht als wissenschaftliches Ergebnis einführen, was bloss persönliche Ansicht sein kann; denn der Zeugnisse moderner Beobachter für einen völligen Mangel des Schamgefühls, der weder zufällig noch vorübergehend ist, sind zu viele, um sie so kurz von der Hand weisen zu dürfen. Weder für die Zufälligkeit, noch für den bloss vorübergehenden Charakter dieses Mangels ist auch nur der entfernteste Beweis zu erbringen, und so muss es denn wohl bis auf weiteres unerschüttert stehen bleiben, dass es wirklich schamlose Völker giebt, Völker, bei welchen keine Spur von Schamhaftigkeit vorhanden ist. Der grosse italienische Anthropologe Paul Mantegazza hat daher, diesen Thatsachen Rechnung tragend, den sehr vernünftigen Vorschlag gemacht, die Völker — stillschweigend will ich hinzudenken: die Menschen aller Völker — in schamlose, halbschamhafte und schamhafte einzuteilen, um damit in groben Umrissen eine aufsteigende Stufenfolge von Null bis zu einem äusserst hohen Grade schamhafter Anforderungen zu bezeichnen[65] — zweifelsohne ein weit wissenschaftlicheres Vorgehen, als die oben besprochene Verallgemeinerung.
Die Entblössung zum Massstabe nehmend, verweist man wohl mit Recht in die unterste Klasse der Schamlosen alle jene Stämme, welche im Zustande völliger Nacktheit lebten oder noch leben. Auf diese Liste gehören die Guantschen, d. h. die ausgestorbenen, angeblich halbgesitteten Bewohner der Kanarischen Inseln, desgleichen, nach den Beschreibungen der ersten spanischen Entdecker, die dahingeschwundenen Bewohner der Bahamainseln, der Kleinen Antillen, sowie eine Anzahl von Küstenstämmen des heutigen Venezuela und Guyana.[66] In letzterem Lande fand noch Alexander von Humboldt die meisten Völkerschaften, selbst solche mit schon ziemlich entwickelten Geisteskräften, so nackt, so arm, so schmucklos, wie die Neuholländer. Bei der ungeheuren Hitze, beim starken Schweiss, der den Körper den ganzen Tag über und zum Teil auch bei der Nacht bedeckt, ist jede Bekleidung unerträglich. Die Putzsachen, namentlich die Federbüsche,[S. 68] werden nur bei Tanz und Festlichkeiten gebraucht.[67] Vor hundert Jahren beobachtete G. T. Marlier die brasilischen Puri in völliger Nacktheit, und in solcher ergehen sich heute noch die Trumai und Suya am Schingu, welche Dr. Karl von den Steinen erst 1884 besucht hat.[68] Desgleichen die Engeräckmung oder Botokuden sowie die Pescheräh auf Feuerland. Zu Cooks Zeiten gingen bei vielen Australierstämmen beide Geschlechter ganz nackt, und einige sind auch heute noch kaum weiter gekommen. So nach John Forrest die Westaustralier, die doch von der Witterung viel zu leiden haben.[69] Am Kap York in Nordaustralien gehen nach Frank Jardine wenigstens die Männer völlig entblösst, die Frauen mit einem blossen Laubgürtel, in den sie vorn ein paar Palmblätter einfügen.[70] Dr. Adolf Bernhard Meyer fand bei seiner Bereisung Neuguineas an der Geelvinksbai ebenfalls Stämme, die Tarungareh, welche „ganz und gar nackt gehen, ohne jede, auch die geringste Bekleidung“.[71] Cañamaque sprach den philippinischen Tagalen alles Schamgefühl ab: „Männer wie Weiber, besonders in der Provinz, lassen sich splitternackt erblicken, ohne die geringste Verlegenheit zu zeigen.“[72] Ganz ähnlich benehmen sich die Mincopies auf den Andamanen.[73] Afrika ist nicht minder reich an solchen Beispielen. Splitternackt sind nicht bloss die Buschmänner im Süden des schwarzen Erdteils, sondern auch die sanftmütigen Adiye oder Bubi auf der Insel Fernando Po. David Livingstone fand die Bawe am Sambesi, Sir Samuel White Baker etliche Stämme am Weissen Nil, wie die Latuka, ganz nackt, und das nämliche bestätigt Georg Schweinfurth für die Schilluk,[S. 69] Nuer und Dinka, John Petherik für die Dschangar. Von den ostafrikanischen Wataweta, die erst jetzt bekannt werden, sagt einer ihrer Erforscher, H. H. Johnston: „Beide Geschlechter entbehren jedes Begriffs und jeder Vorstellung von Scham. Die Männer besonders sind sich völlig unbewusst, dass Nacktheit unschicklich sei.“[74] Auch den Wadschagga schreibt dieser Forscher „fast tierische Unbewusstheit des Schamgefühls“ zu.[75] Ja, die Neukaledonierinnen gehen soweit, dass sie Abortus treiben, geradezu aus Buhlkunst, nämlich um das Welken von Reizen zu verhüten, welche die Schamhaftigkeit der Europäerinnen sorgfältig verbirgt, sie aber der Öffentlichkeit preisgeben.[76] Bei allen diesen Menschen ist die Nacktheit buchstäblich zu nehmen.
In die Klasse von Mantegazzas halbschamhaften Völkern darf man vielleicht die grosse Reihe jener einstellen, bei welchen der aufkeimende Instinkt des Schamgefühls das vormannbare Alter noch nicht einschliesst. Viele Menschenstämme legen nämlich die Bedeckung erst mit der Altersreife an, lassen also die Kinder, Knaben wie Mädchen, bis zur Pubertät noch völlig nackt. Diese Sitte findet sich bei den Aschira in Westafrika, den Gamergu im mittleren Sudan, den Chaymas in Mittelamerika, den Neuhebrideninsulanern und vielen andern. Als ich in den sechziger Jahren die ungarische Tiefebene durchritt, war der Anblick völlig nackter Zigeunerkinder, darunter selbst halbwüchsiger Mädchen mit bronzefarbener Haut, durchaus keine Seltenheit. Ägyptische Bildwerke, die Häuslichkeit der Pharaonen darstellend, zeigen selbst die Prinzessinnen im Königshause bis zu jenem Lebensalter noch gänzlich unbekleidet. Diese Sitte reicht, Knaben und Mädchen umfassend, sehr allgemein noch in ziemlich hohe Epochen herauf. Viele Stämme lassen endlich die Mädchen unbekleidet, und zwar bis zur Verheiratung, andere dagegen bloss die verheirateten Frauen, die Mädchen nicht. Letzterer Fall ist allerdings der weit seltenere, doch[S. 70] huldigen einige Afrikaner auch diesem Gebrauche. Bei manchen Völkerschaften geht nur eines der Geschlechter, ohne Rücksicht auf Alter und Stand, bekleidet, das andere gar nicht. Die Männer der Dinka z. B. sind geradezu stolz auf ihre Nacktheit; sie erachten Kleidung für entehrend und als eine ausschliessliche Sache der Weiber, daher sie den Reisenden Georg Schweinfurth ironisch bloss „das Weib der Türken“ nannten.[77] Ich möchte es dahingestellt sein lassen, ob diese Völker überhaupt schon zu den Halbschamhaften gerechnet zu werden verdienen.
Die Halbschamhaftigkeit reicht übrigens bis zu ganz ansehnlicher Kulturhöhe hinauf. Bildhauereien auf alten indischen Tempeln beweisen deutlich, dass ein Volk bis zu einer bedeutenden Gesittungsstufe sich erheben und deshalb füglich nicht mehr zu den Schamlosen gezählt werden kann, ohne dabei die leiseste Notwendigkeit einer Bekleidung einzusehen. Dies ist aber der Fall bei den Frauen, die dem predigenden Buddha lauschen, und selbst Buddhas Weib, sowie seine Mutter, Maya, werden in der Regel nackt dargestellt. Fergusson behauptet sogar, dass bis zur muhammedanischen Eroberung in Indien Nacktheit durchaus nicht das Anstandsgefühl verletzt habe.[78] Jedenfalls duldet dasselbe auch heute noch in Benares, gelegentlich auch sonst in Hindustan bis nach Assam, den Anblick der scheusslichen Aghori oder Aghorpunts, einer Sekte, deren Mitglieder, splitternackte Zweifüssler, den cynischen Ausdruck des menschlichen Pessimismus darstellen.[79]
Es ist vielleicht hier der Hinweis am Platze, dass auch die längst gut bekleideten klassischen Alten in ihren Bildwerken eine auffallende Schaustellung des Nackten übten, was gewiss nicht sein könnte, hätte nicht wirklich das Nackte noch in ihre Gesittung hineingeragt, wäre ihr Schamgefühl so ausgebildet gewesen[S. 71] als das unserige. Ich rede nicht von so archaistischen Darstellungen wie jene der behelmten, sonst aber ganz nackten Äginatenkrieger, denn sie stammen aus einer Zeit, in welcher man trotz der schon erreichten Kunsthöhe die hellenische Gesittung noch als keine beträchtliche sich denken darf. Ich rede auch nicht davon, dass viele, ja die meisten Götterstandbilder der Griechen und auch der Römer in geringerem oder grösserem Masse der Bekleidung entbehren;[80] denn diese Bildnisse knüpfen an uralte, barbarische Vorstellungen an, welche der Kult für lange Zeiten befestigt hat, wie ja auch das christliche Kruzifix uns heute noch den entblössten Leib des Erlösers zeigt, ohne Anstoss zu erregen.[81] Ungemein kennzeichnend ist dagegen die augenscheinliche Freude am Nackten, welche die weit fortgeschrittenere und uns viel näher gerückte römische Kaiserzeit in Dingen bekundet, wo unser heutiges Schamgefühl das Nackte geradezu ausschliesst. Wie wäre ohne geringere Feinfühligkeit in dieser Hinsicht es sonst zu erklären, dass[S. 72] die auf uns gekommenen Standbilder so vieler hervorragender Persönlichkeiten dieselben gewandlos zeigen? Die nackten Kaiserbüsten mag man allenfalls hingehen lassen, es am Ende auch noch begreiflich finden, wenn unter die Götter versetzte Imperatoren in dieser Eigenschaft nackt erscheinen.[82] Zahlreiche Standbilder gefallen sich aber in halben oder ganzen Entblössungen ohne jeglichen für unser heutiges Empfinden ersichtlichen Grund. Germanikus ging zu seinen Lebzeiten gewiss nicht so halbnackt einher, wie ihn sowohl die zu Frascati, als die 1792 in den Ruinen der Basilika von Gabii ausgegrabene Statue (jetzt im Louvre) zeigt; auch Augustus, Claudius und Nero nicht, wie sie, zum Teil in sitzender Stellung, in den Museen von Neapel, des Louvre und des Vatikans zu schauen sind. In ähnlicher, unbegründeter Halbnacktheit sitzt der ehrwürdige Kaiser Nerva und steht der mit Eichenlaub bekränzte Antoninus im Vatikan. Allein nicht genug daran, auch im „heroischen Kostüm“ wurden die Herrscher verewigt. Dieses heroische Kostüm bestand darin, gar keines zu sein. Ein solches „trägt“ z. B. der zu Otricoli gefundene Caligula, welchen eine andere Statue (im Palast Farnese zu Rom) ebenfalls nackt, bloss einen nichts verhüllenden Mantel über die Achsel geworfen, gar aufs Pferd setzt! Im Palaste Grimaldi zu Venedig befindet sich eine ähnliche „heroische“ Statue des Agrippa, und auf dem Kapitol zu Rom sieht man das zu Ceprano aufgefundene Standbild des Kaisers Hadrian, bloss mit Helm und kurzem Armschild bekleidet, weiter nichts. Sein Adoptivsohn L. Aelius Verus steht im Louvremuseum in fröhlicher Nacktheit, und noch geringere Ansprüche verrät der die Viktoria tragende Lucius Verus der Jüngere im Braccio nuovo des Vatikans. Was er etwa an Gewandung besass, hat er sorgsam zur Seite gelegt und buchstäblich splitternackt trägt Marc Aurels Schwiegersohn die — ein[S. 73] seltsamer Kontrast — von wallenden Gewändern umflossene Viktoria. Am drastischsten wirkt aber wohl das Standbild des Königs Ptolemäos auf dem Kapitol, welches diesen Herrscher im vollkommensten Naturzustande vorführt. Diese Beispiele könnte ich noch sehr beträchtlich vermehren. Die mitgeteilte Blumenlese genügt indes, den Geist der damaligen Zeit zu kennzeichnen. Erwägt man, dass alle diese Standbilder der Öffentlichkeit preisgegeben waren, so muss man annehmen, dass deren Anblick das Schamgefühl der in Toga und Tunika einherschreitenden Römer und Römerinnen nicht sonderlich verletzt habe. Die Römer der Kaiserzeit waren nun gewiss ein schon hohes Kulturvolk; dass aber neben den vielen Bildsäulen der Imperatoren, welche diese im vollen Schmucke ihrer Amtstracht zeigen, so zahlreiche Abbildungen sie auch in einem Zustande verherrlichen konnten, der dem sittlichen Geschmacke einer schon sehr bald darauf folgenden Epoche nicht mehr entsprach, berechtigt uns gewiss, sie trotz ihrer Gesittungshöhe nur zu den Halbschamhaften zu zählen.
Zu den letzteren gehören auch eine Menge von Stämmen, um welche die europäische Gesittung der Gegenwart wirbt und die ihr erst zum Teil gewonnen sind. Auf mehreren Südseeinseln haben die christlichen Missionäre den Frauen und Mädchen ein kurzes, bis zum Nabel reichendes Busenhemdchen, „Pinnafore“, aufgenötigt; doch machen diese meist nur in der Kirche damit Staat, sonst tragen sie diese Hemdchen fast immer, aus den lästigen Ärmeln geschlüpft, über die Schultern zurückgeworfen. Selbst auf Hawaii, wo doch schon europäische Kleidung üblich ist, wird auch bei den Vornehmen zu Hause schnell alles ausgezogen, um frei und nackt sich es so viel wie möglich bequem zu machen und von dem erlittenen Zwange gehörig auszuschnaufen. Die dortigen Damen aber, die Kanakinnen, obwohl sie mit den europäischen Kulturformen schon vertraut sind, legen sogar von ihren in der That staunenswerten Schwimmkünsten den Vorübergehenden alltäglich die bereitwilligsten Proben ab, wobei diese bronzenen Aphroditen, völlig nackt, um die Preisgebung ihrer Reize sich wenig besorgt zeigen — wie Max Buchner berichtet, bei dem man eine gelungene Schilderung dieser in unseren Augen wenig schicklichen[S. 74] Schwimmvergnügungen nachlesen kann.[83] Selbst einem so hochgestiegenen Volke wie die Japaner ist das gemeinsame Baden beider Geschlechter[84] in geschlossenem Raume sowie im Freien erst neuerlich von den Behörden untersagt worden. Das Gleiche beobachtet man bei den spanisch-indianischen Mischlingen, welche dermalen den Grundstock der zivilisierten Bevölkerung in den Freistaaten Südamerikas ausmachen. Bezüglich der Cholos in Ekuador wurde der moderne Reisende Hugo Zöller mehrfach darauf aufmerksam gemacht, „wie sich Männer und Weiber gemeinschaftlich mit einer Unverfrorenheit im Flusse herumtummelten, die selbst den naiven Südseeinsulanern fremd ist.“[85] Von den schon im Alltagsleben nach europäischen Begriffen nicht sehr züchtig gekleideten Paraguitinnen erzählt ein Berichterstatter aus der Zeit des grossen Krieges von 1864–1870: „Die Weiber wuschen die wenigen Kleidungsstücke, welche sie noch besassen, häufig. Viele hatten nur noch einen Anzug, und während sie diesen auf dem Grase zum Trocknen ausbreiteten, standen sie selbst in adamitischem Kostüme dabei und rauchten ihre Zigarren.“[86] Und Mantegazza erzählt bestätigend: „Auf meiner Reise in Paraguay habe ich in den Strassen der Hauptstadt Kinder beiderlei Geschlechts nackend gesehen, und in einem Dorfe sah ich ein schon mannbares Mädchen nackt wie Eva, die, ohne sich im geringsten zu schämen, einem meiner Begleiter Feuer gab, um seine Zigarre anzuzünden.“[87] In der argentinischen Stadt Mendoza baden die spanischen Damen jeden Morgen und Abend völlig nackt und gemeinsam mit den Herren in einem Bache, welcher der „Alameda“, dem öffentlichen Spaziergange, entlang fliesst. Dazu kann ich[S. 75] Seitenstücke sogar aus Europa anführen. Ausserhalb der Stadt Jassy tummeln sich in den Fluten des Bahlu neben Pferden und Ochsen jüdische Knäblein und Mägdlein, weiterhin Männer und Weiber Israels, alle in unverfälschtem Adamskostüm und nicht die geringste Notiz von dem verblüfft dastehenden Fremden nehmend.[88] Auch in Russland, längs den Flüssen, in den Städten und Dörfern am Don und an der Wolga ist es nichts Seltenes, namentlich am Samstag, Mädchen oder Frauen ohne jegliche Bekleidung sich scharenweise an wenig abgelegenen Orten, mitunter sogar unter den begangensten Brücken, baden zu sehen.[89] Ebensowenig lässt das Innere einer finnischen „Badstube“ im entferntesten eine schamhafte Scheu der beiden Geschlechter erkennen,[90] ja selbst vor der Badstube, im Freien, sitzen, wie die photographischen Aufnahmen beweisen, die streng protestantischen Leute in starker Entblössung. Auch ein rein germanischer Stamm, die christliche, des Lesens durchweg kundige Bevölkerung Islands, ist noch nicht bis zu der Erkenntnis gelangt, welche die biblischen Eltern des Menschengeschlechts schon in Eden sich erwarben, denn sie ziehen sich vor dem Schlafengehen, um die Kleider zu ersparen, splitternackt aus.[91]
Bei den ganz schamhaften Völkern, obenan bei den gesitteten Nationen Europas, hat sich die Schamhaftigkeit vornehmlich in der Kleidung befestigt, welche in den gebildeten Ständen den Körper bis auf Antlitz und Hände vollkommen verbirgt, während die nackten Füsse der Gassenjungen oder mancher ländlichen Bevölkerung schon an die Grenze des Geduldeten streifen. Jede weitere Entblössung des Körpers verbietet unser Schamgefühl, völ[S. 76]lige Nacktheit aber fällt unter das Strafgesetz.[92] Da die Weissen Europas auch die klimatisch weniger begünstigten Erdräume innehaben, so hat bei ihnen das Schutzbedürfnis die Bekleidung naturgemäss gefördert, und die in unserem Erdteile nachweislich seit der sogenannten „Rentierzeit“ andauernde und zunehmende Entwöhnung an den Anblick des Nackten hat sehr wahrscheinlich unendlich viel zur Ausbildung dieser schamhaften Scheu vor ungewohnter Entblössung beigetragen. „Nackte oder kaum bekleidete Menschen zu sehen,“ sagt der vielgewanderte Dr. Otto Kuntze, „fällt ja einem Weltreisenden nicht besonders auf, aber es ist mit solchen Erscheinungen stets der Eindruck eines rohen Naturzustandes oder von Hässlichkeit verbunden.“[93] Gleichwohl bleibt es wahr, dass selbst europäische Augen von der Nacktheit dunkelfarbiger Völker nicht beleidigt werden, während sie bei Weissen meist anstössig erscheint. „Sie sind so schwarz, man bemerkt es ja kaum, dass sie nackt sind,“ sagte eine Dame zu Hugo Zöller von den Negern in Dakar.[94]
Gewiss ist es nun von hohem Interesse, den ersten Regungen des eine so grosse Stufenleiter durchlaufenden Schamgefühles nachzuspüren. Peschel warnt aus diesem Anlasse vor der Annahme, dass sich dasselbe früher beim weiblichen Geschlecht rege, als beim männlichen, weil die Zahl solcher Menschenstämme, bei denen die Männer allein sich bekleiden, keine unbeträchtliche sei.[95] In der That lassen sich dafür viele Beispiele anführen. Am Orinoko klagten die Missionäre unserm Alexander von Humboldt, dass Scham und Gefühl für das Anständige bei den jungen Mädchen nicht viel entwickelter seien, als bei den Männern,[96] und Cristobal Colon fand bei seiner Ankunft auf Trinidad die dortigen Frauen in völliger Nacktheit, während die Männer den „Guayuco“, eine Art schmalen Lendenstreifens, trugen. Bei den Obbonegern, nordöstlich vom Ausflusse des Nil aus dem Albertsee, besteht die Bedeckung der Frauen in einem Laubbüschel, während die Männer einen Fellschurz tragen. Die völlige Nacktheit der im schönsten Ebenmasse gebauten Longofrauen bei Foweira am oberen Nil bezeugt Dr. R. W. Felkin.[97] In Rohl darf ausser den arabischen Frauen kein Weib irgend ein Kleidungsstück anlegen.[98] In dem merkwürdigen Staate der Monbuttu am Uelle bedecken sich die Männer mit einem Gewande aus Baumrinde, das von der Brust bis auf die Knie reicht, ihre Frauen dagegen befestigen bloss ein handgrosses Stück Bananenlaub an der Lendenschnur. Ausserordentliche Strenge in Bezug auf sittsame Kleidung fand Speke[S. 78] am Hofe Mtesas,[99] des Königs von Uganda, welcher mit dem Tode jeden Mann bestrafte, der in seiner Gegenwart auch nur auf Zollbreite sein Bein unbedeckt liess, während doch gleichzeitig völlig nackte Frauen Kammerdienste verrichten mussten. Der arabische Reisende Ibn Batuta versichert, dass dem Könige des Mandingoreiches von Melli Frauen, selbst Prinzessinnen, nur unbekleidet nahen durften. Dies war freilich in der Zeit unseres Mittelalters, aber auch in unseren Tagen empfing die Königin der südafrikanischen Balonda den Missionär Livingstone im Zustande völliger Nacktheit, und nicht anders erschienen die Frauen der benachbarten Kissama bei Festlichkeiten.[100] In der centralafrikanischen Stadt Lari gehen nach Denham und Clapperton die Weiber gleichfalls splitternackt, obwohl die Bewohner eher Barbaren als Wilde sind. Bei den Heidenstämmen im Süden von Bagirmi sind die Männer mit dem einfachen Felle einer Ziege oder Gazelle um die Hüften bekleidet, die Weiber eigentlich gar nicht.[101] Die Männer der Tschumbuka und Tscheva im südlichen Afrika tragen einen aus Bast selbstverfertigten Schurz, die sonst sehr keuschen Frauen aber gehen meist völlig nackt und nehmen jeden Vorwurf darüber wie eine Beleidigung auf.[102]
Auch bei den Apingi Westafrikas gehört Schamhaftigkeit zu den geringsten Schwächen des schönen Geschlechts, denn als die Königin, ein noch junges Weib, dem Reisenden Duchaillu einen Besuch machte und er ihr aus Erbarmen über ihre dürftige Bedeckung — zwei an den Hüften herabhängende Stückchen Zeug von Sacktuchformat — ein Stück Kaliko schenkte, war sie so vergnügt über diese Gabe, dass sie in seiner Gegenwart auch das wenige noch ablegte, was sie besass, um ihre Garderobe zu wechseln.[103] Die Weiber der Maravaneger in Mittelafrika[S. 79] befestigen eine vier Finger breite Schürze vorn am Gürtel nebst zwei kleinen Läppchen an den Hüften, und auch diese luftige Gewandung entfernen sie, so oft sie sich gegen Ungeziefer wehren, mag sich dabei befinden, wer da will.[104] Der britische Reisende Joseph Thomson sah sich bei den Wakawirondo in Ostafrika von einer Schar unbekleideter Dämchen umgeben, deren einzige Tracht und Schmuck lediglich in einer Perlenschnur bestand.[105] Der französische Reisende Mage traf zu Kita im Innern Senegambiens einen Marabut aus Wallata. Seine Tochter, ein grosses schönes Mädchen von siebzehn Jahren, ging völlig unbekleidet, denn einen drei Finger breiten Streifen von Baumwolle kann man doch eben so wenig als Kleidung bezeichnen, wie einen Gürtel von Glasperlen. „Als ich dem Marabut einige Bemerkungen darüber machte,“ erzählt Mage, „entgegnete er, das sei bei ihm zu Lande so der Brauch und altes Herkommen. Und in der That erinnerte ich mich, dass ich die Tochter Bakaos, des Königs der Duaïsch-Mauren, in ähnlicher Evakleidung gesehen hatte; nur war sie noch mehr Eva als die Tochter des Marabut, und eben so wenig wie diese verlegen.“[106]
Die Südseeinsulanerinnen entkleiden sich ohne jede Ziererei und schwimmen den ankommenden Schiffen in vollkommen paradiesischem Zustande entgegen.[107] „Es ist beinahe keine unanständige Stellung zu denken,“ sagt G. H. von Langsdorff, „die sie uns nicht zum besten gegeben hätten.“[108] Auf Tahiti machten noch nach der Christianisierung der Insel die Damen ihre geheimste Toilette am seichten Meeresstrande und mit Vorliebe an solchen Plätzen, wo zahlreiche Fremde vorübergingen.[109] In[S. 80] früheren Zeiten war es noch schlimmer. Die Frauen entblössten sich vom Gürtel abwärts aus reiner Höflichkeit, wie Cook versichert, welcher auch berichtet, wie eine junge tahitische Prinzessin verlangte, sich durch den Augenschein zu überzeugen, ob die Europäer eben so gebaut seien, wie die Männer ihres Landes. Das Nämliche geschah dem französischen Reisenden Joseph Halevy in der südarabischen Stadt Scheub, wo die Weiber ganz ernstlich sein Geschlecht untersuchten,[110] und von allen Dingen, die einem in Westafrika zugemutet werden, klagt Hugo Zöller, sind ihm wenige so schwer geworden, als sich vom Kopf bis zum Fusse umkleiden zu müssen vor den Augen einiger Dutzend unverschämter und unzüchtiger Weiber und Mädchen, die gerade darauf zu lauern pflegten.[111]
Die Wucht aller dieser Thatsachen ist nicht zu unterschätzen, und auch Lippert scheint der Peschelschen Ansicht beizupflichten; ja er unterstützt dieselbe durch ein weiteres schwer wiegendes Argument. In dem Umstande, dass bei vielen Völkern das Schamgefühl beim männlichen Geschlechte entwickelter war, d. h. auf mehr Stellen des Leibes sich erstreckte als bei der Frau, erblickt er einen trefflichen Fingerzeig für den Hergang der Entwicklung, denn eben bei diesen Völkern ist es auch nur der Mann, der sich in reicherem Masse schmückt[112] — ganz wie auch im Tierreiche das Männchen meist als der von Natur aus geschmücktere Teil erscheint. Nach Mantegazza wäre es freilich ein allgemeines Gesetz, dass die Frauen die Schamgegend mehr bedecken als die Männer,[113] allein der italienische Gelehrte unterlässt es, diese Behauptung genügend zu beglaubigen. Und trotzdem möchte ich mich jenen anschliessen, welche, wie Dr. Charles Letourneau, die ersten Regungen der Schamhaftigkeit dem weiblichen Geschlechte zuschreiben.[114] Dafür spricht die allgemeine Er[S. 81]fahrung, dass es dem starken Geschlechte in der Regel in viel höherem Grade als dem zarten gelingt, sich über das Urteil seines lieben Nächsten hinwegzusetzen und nicht mehr über jede Kleinigkeit zu erröten, dann aber auch die in der ganzen Schöpfung wiederkehrende Sprödigkeit der weiblichen Wesen. Endlich scheinen mir mehrere von den oben angeführten Beispielen nicht völlig beweiskräftig zu sein, so hauptsächlich die Frauennacktheit bei festlichen Gelegenheiten, welche sehr wohl eine auf die Missachtung des Geschlechtes gegründete Vorschrift der Etikette sein kann. So sah z. B. Hugo Zöller zu Mahin an der Küste von Oberguinea eine ganze Anzahl erwachsener Mädchen pudelnackt einherspringen, und in Kamerun beobachtete er das Nämliche. Dies ist aber dort „Trauertoilette“, ebenso wie bei uns die Damen Schwarz anzulegen pflegen, und diese Sitte scheint in Westafrika sehr weit verbreitet zu sein.[115] Auch wissen wir von, freilich recht schwachen, Spuren des Schamgefühls bei ganz rohen Wilden und zwar fast immer nur bei weiblichen Individuen. Die gewöhnlich durchaus unbekleidete Tasmanierin achtete sorgfältig darauf, wenn sie auf den Boden sich niedersetzte und dabei die Knie öffnen musste, mit einem ihrer Füsse zu bedecken, was die elementarste Reserve zu verbergen gebietet, und unter den so schamlosen Insulanerinnen der Südsee rühmt Hr. von Langsdorff doch jenen der Markesas eine gewisse Schamhaftigkeit nach, „denn alle diejenigen, die ihre Blätter verloren hatten, waren nicht wenig besorgt, man möchte einen Teil ihrer sonst verborgenen Reize sehen, und um dieses zu vermeiden, gingen sie in kleinen Schritten, kaum einen Fuss vor den andern setzend, gekrümmt, mit eingezogenen und enge zusammengeschlossenen Knien und Schenkeln, indem sie mit der Hand das Blatt zu ersetzen suchten, so dass sie in dieser, der mediceischen Venus ähnlichen Stellung dem philosophischen Beobachter des Menschen ein schönes Schauspiel gewährten. Diejenigen hingegen, die noch ein Blättchen umhängen hatten, waren bei jeder ihrer Bewegungen beschäftigt, demselben wieder die rechte Stelle[S. 82] anzuweisen.“[116] Obschon die Ponapesinnen keinerlei Verlegenheit oder Verschämtheit zeigen, gegen entsprechendes Entgelt den Augen mehrerer zugleich sonst streng verhüllte Teile preiszugeben, machen sie doch niemals irgend welche unzüchtige Gebärden oder Gesten und überschreiten im Betragen niemals die Grenzen des Anstandes.[117] Ähnlich geht es oder richtiger ging es in Ohinemotu zu, dem durch die Erdbebenkatastrophe vom 10. Juni 1886 zerstörten beliebten Bade auf Neuseeland, wo braune Maoriherren und -Damen kunterbunt herumschwammen. Von einer Art Bekleidung ist dort natürlich nicht die geringste Rede, die Weiber und Mädchen beobachten aber in der Regel die grösste Sorgfalt, beim Hinein- und Herausgehen so wenig als möglich von ihren Reizen den Blicken auszusetzen. „Es war mir auffallend,“ schreibt ein moderner Reisender, Dr. Max Buchner, „dass ich im Bade niemals einen gröberen Verstoss gegen die Decenz zwischen beiden Geschlechtern, niemals eine Äusserung erotischer Triebe wahrnahm, obwohl doch die Anschauungen der Maori in diesem Punkte sehr liberal sind.“[118] Freilich ist eine solche Beobachtung des Anstandes nicht überall zu finden und die oben besprochenen Schwimmvergnügungen der hawaiischen Damenwelt lassen z. B. in diesem Punkte fast alles zu wünschen übrig.
Demnach genügen, wie ich glaube, die angeführten Beispiele, um die Meinung zu begründen, dass die ersten Regungen der Schamhaftigkeit sich weit eher beim weiblichen, als beim männlichen Geschlechte beobachten lassen. Wenn übrigens Menschen, die zum vollen Bewusstsein ihres Wesens gekommen sind, sich so kleiden, dass alles verdeckt ist, was nur auf das Naturleben, besonders auf das Geschlechtsleben hindeutet, so ist das Entstehen dieses Wunsches beim Weibe leicht begreiflich und natürlich. Denn beim Weibe ist das Geschlechtsleben so scharf und markiert, wie es beim Manne in solchem Grade nicht der Fall ist; vielleicht deshalb erwacht auch das Schamgefühl im Weibe früher[S. 83] und lebhafter als im Manne. Ich bleibe mit Letourneau dabei, dass es eine vorwiegend weibliche Empfindung ist, von der die Männer selbst im Banne der Gesittung nur wenig berührt werden, während sie den Kulturarmen unter ihnen meistens völlig unbekannt ist.[119]
Wenn nun, wie im vorstehenden gezeigt wurde, die grössere oder geringere Entblössung des Körpers mit dem Schamgefühle in so inniger Verbindung steht, dass für dessen Entwicklung die Bekleidung einen gewissen Massstab abgiebt, so gilt es doch vor einem schweren Irrtum zu warnen. Sowohl den Urgrund zur Bekleidung, den wir hier streifen müssen, hat man im Schamgefühl entdecken wollen, als auch jenen zur Hautmalerei, welche bei der Mehrzahl der Indianer Amerikas die Kleidung ersetzte, sowie den zur Tättowierung, die an verschiedenen Stellen der Erde üblich, am vollkommensten aber bei den Polynesiern der Südsee entwickelt ist und in der That bis zu einem hohen Grade den Eindruck der Nacktheit aufhebt. Die Menschen, welche diese Sitte pflegen, so meinte man, seien sich zwar weder des Grundes, noch des Zweckes klar bewusst, aber ein dunkles Gefühl treibe sie doch dazu, wenigstens auf diese Art die rohe Natürlichkeit an sich zu verklären und die Aufmerksamkeit des Beobachters von der Nacktheit auf die künstlichen Figuren und Zeichen abzulenken. Lippert tritt nun lebhaft dafür ein, und es ist ihm darin nur beizustimmen, dass der erste Anlass zur Bekleidung noch nicht das Schamgefühl war.[120] Kein Zweifel, dass der echte Urmensch nur völlig nackt zu denken ist und von Schamhaftigkeit nichts wusste. Aber auch seine Nachkommen, die schon mit Waffen ausgerüstet umhergingen, gehören noch in die Klasse der schamlosen Völker. Zwar begannen sie ihren Leib in mannigfacher Weise zu schmücken, aber sie trugen vorerst keine Kleider, und sogar als sie solche erfunden hatten, benützten sie dieselben bloss als festtäglichen Schmuck. Auf diesem Standpunkte bewegen sich auch heute noch manche Völker, be[S. 84]sonders dunkelfarbige, welche das Bedürfnis einer Umhüllung weniger lebhaft empfinden als hellhäutige.
Längst hatte man erkannt, dass der Schmuck viel älter als die Kleidung sei, und Hautmalerei wie Tättowierung sind lediglich als Ausschmückungen des Körpers zu betrachten. Auch der Wilde frönt schon in bedeutendem Masse der Eitelkeit. Der Einzelne will sich nicht nur im allgemeinen als Persönlichkeit, sondern als eine an sich bedeutende erhalten. Dazu dient ihm die Schmückung des eigenen Ichs, besonders das Bemalen mit leuchtender Farbe, eine Sitte, welche den Australier unserer Tage auf die Stufe des vorgeschichtlichen Ureuropäers rückt, denn schon in den dereinst bewohnt gewesenen Höhlen der Dordogne stiess man auf Knollen roten Ockers, der wohl nur zum Bemalen des nackten Körpers gedient haben mochte. Lipperts Verdienst bleibt es, überzeugend nachgewiesen zu haben, wie eine natürliche Zuchtwahl des Schmuckes gerade jenen Platz auserwählte, der zugleich oder wohl etwas später von einer ganz anderen Seite aus der Bedeckung empfohlen wurde.[121] Fast alle nackten Wilden behängen sich, wie die kannibalischen Fan im äquatorialen Westafrika, Arme und Beine mit dem mannigfaltigsten Zierrat und wenden zumeist dem Kopfputze eine erstaunliche Sorgfalt zu. Die merkwürdigen Haarkronen der Papua sowie mancher Negerstämme gehen bei entwickelteren Völkern in Kopfbinde, Kranz, Reif, Diadem und Krone über, an welch letzterem Kopfschmuck nach einer älteren Anschauung das Recht der Herrschaft hängt. So trat die Kopfzier gleichsam als Vertretung des gesamten Leibschmuckes neben die Leibwaffen. Indes ist die Wahl der Vertretung des gesamten Leibschmuckes nicht überall auf den Gürtel des Hauptes gefallen. Der tragfähigere der Lenden ist da und dort als siegreicher Nebenbuhler hervorgetreten.[122] Sobald die Faser zur Schnur geworden, wird die Lendenschnur zum Hauptträger des urwüchsigen Geschmeides. Sie wird zugleich in gutem Sinne der gemeinste Schmuckträger; wer auch gar nichts[S. 85] zu seiner Auszeichnung zu verwenden vermag, er würde für unanständig arm gelten, wenn nicht zum wenigsten von jenem Lendengürtel ein Schmuckstück herabhinge, das die schreitenden Füsse insbesondere der Mitte zuweisen.[123] Blätter oder Laubbüschel, auch eine Handvoll langen Grases, werden in die Lendenschnur gesteckt. Nicht viel besser ist der „Maro“, d. h. der Gürtel aus Gras oder Palmengeflecht der Polynesier, und der afrikanische „Rahad“, der Lederfransengürtel, welcher im ägyptischen Sudan vom weiblichen Geschlechte getragen wird und von Unyoro bis zum letzten Katarakte von Syene im Norden reicht. „Es wäre eine Verkehrung der Thatsachen, wenn man den in tausendfältigen Variationen über die ganze Erde mit nur sehr geringen Ausnahmen verbreiteten Lendengürtel von vornherein einen ‚Schamgürtel‘ nennen wollte;“ Beweis dessen, dass Professor Karl Semper die Männer von Aibukit auf der Palauinsel Babelthaub teilweise ganz nackt oder nur mit einem Lendengürtel bekleidet fand, den sie oft genug auch in der Hand hielten.[124] Die Neukaledonier gehen völlig nackt, mit Ausnahme einer höchst eigentümlichen Umhüllung aus Bast oder grellfarbigem Kaliko, die weniger den Zweck zu haben scheint zu verbergen, als vielmehr hervorzuheben.[125] „Ebenso wenig ist der Lendengürtel ursprünglich ein Schurz; zu einem solchen wird er erst in fast unausweichlicher Weise als Träger irgendwelchen Schmuckgegenstandes, der, wiewohl nicht ohne Ausnahme, aber doch meistenteils schon um deswillen nach vorn hin gehängt werden muss, weil er ja wie jeder Schmuck gesehen werden will. Dann muss er aber an jene Stelle zu liegen kommen, die eben deshalb von frühester Kindheit der Menschheit an der Bedeckung sich erfreut.“[126]
So erklärt sich denn sehr natürlich, wie Peschel meint und ihm vielfach nachgesprochen wird, dass die überwältigende Mehr[S. 86]zahl der Völker „immer genau gewusst habe, was einer Hülle am meisten bedürfe.“[127] Dieses „Wissen“ ist aber nur Schein und mangelt manchen Völkern vollständig. Die ostafrikanischen Massai z. B. halten es geradezu für schändlich, die ausserordentlich grossen Attribute ihrer Männlichkeit zu verbergen und tragen dieselben vielmehr prunkend zur Schau.[128] Die Lendenschnur der Trumai Centralbrasiliens lässt in gleicher Weise gerade das unverhüllt, was nach unseren Begriffen zu verhüllen am nötigsten wäre.[129] Vielfach wird endlich der Gürtel in einer Weise getragen, welche beweist, dass jene Gewöhnung eine Folge, aber nicht der ursprüngliche Zweck solcher Schmuckverlegung sein konnte, weil der damit angeblich angestrebte Zweck nur höchst unvollkommen erfüllt wird. Daher ist auch diesem „Minimum einer Toilette“ der Name einer „Kleidung“ gar nicht zuzugestehen und die sich damit begnügenden Völker sind sittlich den völlig nackten beizuzählen. Doch lässt sich der Lendenschmuck in seiner ferneren Ausbildung als Hülle um den Mittelleib verfolgen, welche der darüber gezogene Gürtel festhält, d. h. mit dem Aufkommen von Stoffen und Zeugen entsteht das Lendentuch, dessen weitere Entwicklung zu einer Form von Kleidung hinüberführt, die in den mannigfaltigsten Stadien überall in wärmeren Himmelsstrichen den Grundstock der Bekleidung bildet.[130]
Die Schamhaftigkeit ist also nicht die Mutter der Bekleidung, vielmehr schämt sich der Mensch, lediglich dem werdenden Instinkte der Gewohnheit folgend, der Entblössung dessen, was die Gewohnheit zu bedecken pflegt, oder, mit genauer Anpassung an die Thatsachen bei den Naturvölkern: er schämt sich ungeschmückt zu zeigen, was gewohnheitsmässig auch der Ärmste zu schmücken[S. 87] pflegt. Und er schämt sich dessen auch nur in dem Masse, in welchem die Gewohnheit ihren Einfluss übt. Lippert, dem ich auch hier unbedingt folge, bemerkt sehr richtig: „Wir schämen uns nicht, dieses mit blosser Hand zu schreiben, aber in einer Gesellschaft Behandschuhter schämen wir uns derselben blossen Hand, und wenn wir die Blicke auf sie gerichtet sehen, entsteht in uns dasselbe Gefühl, das wir als Schamgefühl kennen.“ Ganz ebenso heftet sich das Schamgefühl der Naturvölker immer an jene Stelle des Leibes, welche ein Gegenstand des Schmuckes zu sein pflegt, ohne ursprüngliche Beachtung der betreffenden Teile an sich. Alexander von Humboldt hat gezeigt, dass der übliche Schmuck nicht einmal in einer eigentlichen Bedeckung bestehen müsse, um Schamgefühl für den betreffenden Teil zu erzeugen. Man drückte am Orinoko die verächtliche Armseligkeit eines Menschen mit den Worten aus: „Der Mensch ist so elend, dass er sich den Leib nicht einmal halb malen kann.“[131] Es ist also ursprünglich niemals der Gegenstand, der nackte Körperteil selbst, dessen man sich schämt, sondern der Mangel des üblichen Schmuckes und dann jene Nacktheit, die dadurch entsteht.[132]
Ist die Sitte der Körperverhüllung also wohl nicht zum wenigsten der Lust am Schmuck und der Prunksucht entsprungen, so kam ihr in rauheren Gegenden das Bedürfnis nach Schutz des Leibes gegen die Unbilden der Witterung zweifelsohne unterstützend zu Hilfe. Schon an den Orang-Utan auf Borneo nimmt man die Neigung wahr, gern und anhaltend mit Decken, alten Kleidungsstücken, Matten u. dgl. zu spielen; sie ziehen dieselben über Kopf und Rücken, wickeln sich in sie ein oder untersuchen mit grosser Aufmerksamkeit ihr Gewebe. „Mitunter, wenn ich sie auf diese Weise beschäftigt sah,“ bemerkt Dr. Mohnicke, „stieg der Gedanke in mir auf, als spreche sich hierin bei ihnen das erste, freilich noch ganz dunkle und unbestimmte Verlangen oder Bedürfnis nach Kleidung aus;“[133] und ich glaube, der nämliche Gedanke wird[S. 88] sich bei den meisten einstellen, welche einmal in unseren Tiergärten den in ganz menschlicher Weise sich in warme Decken hüllenden Schimpanse beobachteten. Wo das Bedürfnis zur Kleidung zwingt, hat die Schamhaftigkeit an ihr abermals keinen Anteil. Dies zeigt sich an den gut verhüllten Maori Neuseelands,[134] wie an andern Völkern. Die Eskimo, zu Winterzeiten bis zum Gesicht in Pelz gehüllt, legen gleichwohl in ihren unterirdischen warmen Bauten ihre Kleidung völlig ab, nach Emil Bessels mit Ausnahme der kurzen Höschen; die Kleinen gehen aber nicht selten splitternackt.[135] Von den meist völlig nackten Feuerländern wissen wir, dass sie gegen die Kälte Pelze an einer um den Hals gehenden Schnur auf einer Schulter tragen und abwechselnd von einer Seite auf die andere werfen, wobei der übrige Leib völlig unbedeckt bleibt. Ein Gefühl der Scham macht sich aber bei keinem der Geschlechter bemerkbar.[136] Ebenso gelangen bei den nackten Australiern manchmal Schürzen aus Baumrinde oder Fellen zur Anwendung, aber nur zum Schutze beim Durchschreiten dorniger Gebüsche, niemals aus Schicklichkeitsgründen. Den vor einigen Jahren in Europa gezeigten Australiern aus Queensland sprechen aufmerksame Beobachter jegliches Schamgefühl ab.[137] Im gleichen Sinne berichtet Johnston von den schon oben angeführten Wataweita in Ostafrika: „Alle Kleidung, die sie tragen, dient nur als Zierrat oder zum Schutze gegen die Kälte in der Nacht und am Morgen.“[138]
Geleugnet soll nicht werden, dass die Bekleidung ihrerseits zur Erweckerin der Schamhaftigkeit wird oder werden kann, aber bloss mittelbar, indem sie als Putz aufgefasst, die Eitelkeit und[S. 89] Prunksucht aufstachelt. Je wohlhabender in Westafrika z. B. ein Neger ist und je mehr er mit Europäern oder andern Kulturvölkern in Berührung kommt, einen desto grösseren Wert pflegt er auf die ausgiebige Verhüllung seines Körpers zu legen, bis schliesslich mit dem Christentume oder dem Islâm auch die europäische oder orientalische Kleidung ihren Einzug hält. Setzt der männliche Neger einen Cylinder auf und verbreitert das Weib die Hüftenschnur zu einem Hüftentuch oder zieht sogar das Hüftentuch bis über die Brust hinauf, so geschieht das zunächst nur aus Prunksucht, die demnach als Vorläuferin der Schamhaftigkeit zu betrachten ist und ihr die Wege ebnet.[139] Auch die Marava-Negerinnen bedecken sich mitunter den Busen mit einem Tuche, doch nur aus Eitelkeit und wenn sie mager sind, denn das afrikanische Schönheitsgefühl verlangt, dass die Brüste der Weiber bis auf den Nabel herabhängen.[140] Wie die Bekleidung die Schamhaftigkeit fördert, lehrt das Beispiel jener zwei Baenda-Mädchen, welchen Livingstone Kleider anlegte und die nach vierzehn Tagen schon sogar den Busen bedeckten, wenn man durch ihr Schlafgemach ging. Ein junger Mincopie (Andamaneninsulaner), welcher von den Engländern gefangen und in Kleider gesteckt, eine Zeitlang in Kalkutta sich aufhielt, musste sich dort einer photographischen Verewigung unterziehen. Als man ihm dabei zumutete, sich in seinem nationalen Kostüm zu zeigen, d. h. alle Kleider abzulegen, sträubte er sich anfangs, — so rasch war ihm das Schamgefühl anerzogen worden.[141] Freilich ist damit keine Gewähr für die Dauerhaftigkeit dieses Gefühles gegeben, denn ungemein zahlreich sind die Beispiele von Rückfall in die frühere Nacktheit und Barbarei bei etwaiger Rückkehr in die Heimat. Ich erinnere unter anderen bloss an jene drei Pescheräh, welche Kapitän Fitzroy nach England gebracht, wo sie auf Kosten der Regierung erzogen und unterhalten wurden. Einer von ihnen, Jemmy Button ge[S. 90]tauft, war sogar eine Zeitlang in vornehmen Gesellschaften als Schosskind verhätschelt worden, hatte in Europa stets Handschuhe und blankgeputzte Stiefel getragen und sprach sogar englisch. In seine Heimat zurückgebracht und mit seinen Verwandten vereinigt, wurde er aber bald wieder der frühere nackte, ungewaschene und ungekämmte Feuerländer. J. J. v. Tschudi berichtet von einem talentvollen Botokudenknaben, der sorgfältig erzogen es zuletzt soweit brachte, dass er sich das Doktordiplom bei einer medizinischen Fakultät Brasiliens erwarb, dann aber plötzlich verschwand und nach längerer Zeit unter einer Botokudenhorde in seinem ursprünglichen, völlig nackten Naturzustande wieder angetroffen wurde. Ebenso lehrreich ist auch das Beispiel des neuerworbenen deutschen Schützlings Manga Bell, Sohn des vielbesprochenen „König“ Bell in Kamerun. Derselbe ist eigentlich Christ und in Bristol gut englisch erzogen worden, macht aber, von seinem häufigen Briefschreiben etwa abgesehen, keinen Gebrauch mehr von diesen Vorzügen.[142]
Unzweifelhaft bezeichnet das Erwachen des Bedürfnisses nach Kleidung bei jeder Völkerschaft eine gewisse Erhebung; fraglich muss es aber doch nach den bisherigen Ausführungen bleiben, ob wirklich, wie Peschel will, dieses Bedürfnis erst mit dem „Bewusstsein einer höheren Würde“ erwache und namentlich ob es[S. 91] das „Bestreben“ verkünde, die Scheidewand zwischen Mensch und Tier zu erhöhen.[143] Ein solches „Bestreben“ sollte doch in gesteigerter Sittsamkeit und Keuschheit seinen nächsten Ausdruck finden. Dem ist aber nicht so, und halb oder ganz bekleidete Völker thun es in dieser Beziehung nackten Stämmen häufig gleich. Ja, die völlig nackten Wakawirondo in Ostafrika sind z. B. wahre Engel der Keuschheit gegenüber den schamhaft verhüllten Massai, ihren Nachbarn, bei denen die Zügellosigkeit in der unverschleiertsten Form verbreitet ist.[144] Die gut bekleideten japanischen Mädchen besitzen unter anderen Spielen auch das der „Wunderschachtel“, aus der rosenrot gefärbte, erhobene Phallus hervorspringen. Der gewissenhafte russische Naturforscher Nikolaus v. Miklucho-Maclay, welcher so viel für die Entschleierung Neuguineas geleistet, berichtet, dass die australischen Eingebornen, wenn von Europäern aufgefordert und wenn Weiber bei der Hand sind, gegen eine geringfügige Belohnung durchaus kein Bedenken finden, am hellen Tage vor Zuschauern auszuüben, was selbst niedrige Rassen sonst mit dem Schleier des Geheimnisses zu umhüllen pflegen. Europäer, beim Zusammentreffen mit Eingebornen in fernen Bezirken, gönnen sich nicht selten „zum Spass“ für ein Glas Gin dieses Schauspiel.[145] Die Australier sind nun allerdings nackt, aber ein gleiches Beispiel von Schamlosigkeit bewahrt auch von einem wohlgekleideten Volke kein geringeres Buch als die Bibel, wo sie von den Juden erzählt: „Da machten sie Absalom eine Hütte auf dem Dache, und Absalom beschlief die Kebsweiber seines Vaters vor den Augen des ganzen Israel.“[146] Noch vor einem Jahrhunderte wurden auf Tahiti, wie Cooks Reisebegleiter sahen, die Umarmungen öffentlich vor aller Augen vollzogen, unter gutem Rat der Umstehenden, namentlich der Weiber, worunter die vornehmsten sich befanden. Ähnliches erlebte La Pérouse auf Samoa.[147] Bei den[S. 92] Malayen der Philippinen geschieht dies nach Cañamaque gleichfalls angeblich ganz ungescheut auf offener Strasse; desgleichen heute noch auf dem Eilande Peling, dem grössten in der Banggai-Gruppe östlich von Celebes.[148] Auf den Andamanen verlangt endlich die Sitte, dass die Frauen der nackten Mincopies gar öffentlich gebären müssen;[149] aber auch in Kamtschatka, wo doch das Klima eine starke Bekleidung erheischt, gebären die Frauen ohne jegliche Scheu in Gegenwart der sämtlichen Ostrogbewohner, ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes. Man sieht, dass die Kleidung an sich keinen Unterschied in dem sittlichen Verhalten der Völker bewirkt.
Aus dem Gesagten erhellt zur Genüge, dass die Schamhaftigkeit nichts Ursprüngliches, sondern ein Erzeugnis der Erziehung des Menschengeschlechts, und zwar sowohl der persönlichen wie der allgemeinen im Laufe der Jahrtausende ist,[150] ein jüngerer, gesellschaftlicher Instinkt und, wie alle zarten Gefühle, eine moralische Zierde, welche der Mensch nur langsam und spät erworben hat. Deshalb verschwindet sie auch wieder rasch und leicht, sowie Gefahr, Krankheit oder dergleichen hereinbrechen. Nichts anderes als die Ausgeburt einer von der Geisteskrankheit seiner Zeit angesteckten Phantasie, als eine widernatürliche Ungeheuerlichkeit, vermag ich daher in dem Gedanken Bernardins de Saint-Pierre zu erblicken, der in seinem vielgepriesenen Buche „Paul und Virginie“ die Heldin den Untergang in den Wellen der Verletzung ihres Schamgefühls durch, nebenbei gesagt, recht überflüssiges Entkleiden vorziehen lässt. Wie wenig Schamhaftigkeit der menschlichen Natur als solcher eigen ist, haben wiederum recht schlagend die modernen hypnotischen Versuche dargethan, bei welchen die züchtigsten Frauenzimmer das Gefühl der Schamhaftigkeit verlieren und, wenn man ihnen eine entsprechende Idee[S. 93] suggeriert, Akte eines offenbaren geschlechtlichen Cynismus begehen.[151]
Nur aus der sekundären Natur dieses Instinktes erklären sich endlich die erstaunlichen Rösselsprünge, welche das mehr oder weniger entwickelte Schamgefühl macht. Bei den sehr wenig bekleideten Mortlockinsulanern geht die Wahrung des äusseren Anstandes so weit, dass man in Gegenwart einer Frau, deren Stammesgenosse zugegen ist, sich nicht erlauben darf, irgend welche freien Redensarten zu führen, ja man darf dann nicht einmal das Wort Nabel, Bauch, den Namen des Gürtels, „Kinsak“, oder des die Hüften deckenden „Arvar“ nennen. Ein Europäer, durch das geschickte Muster des letzteren oder die gelungene Ausführung des Kinsak zu einem Ausdruck der Bewunderung verleitet, würde argen Anstoss erregen; die beiden Stammesgenossen würden sich schamrot abwenden und den unschuldigen Fremdling verachten. Würden die Gegenstände seines Lobes sich aber nicht an dem Leibe der Frau befunden, sondern etwa auf der Erde gelegen haben, so würde deren Nennung kein Vergehen gegen den Anstand gewesen sein.[152] Auf den Markesas schämt man sich durchaus nicht nackt zu gehen, aber es gilt für äusserst unanständig, das Praeputium nicht zuzubinden; ebenso auch auf Neuseeland und auf vielen andern Inseln der Südsee, wo die sonst ganz nackten Männer es schamlos fänden, sich ohne den Bambubehälter, das zusammengerollte Blatt, den Kürbis oder die Muschel (Bulla ovum) zu zeigen, in denen sie das Geschlechtswerkzeug verstecken. Dasselbe gilt von den sonst ausschweifenden Patagonen. Die Tubariweiber in Mittelafrika gehen ganz nackt bis auf einen schmalen Leibriemen, an welchem ein nur nach hinten herabhängender Zweig befestigt ist, bei dessen Verlust sie in Gesellschaft von der äussersten Scham ergriffen werden.[153] Die sehr mässig bekleideten Hottentottinnen[S. 94] tragen stets ein Tuch als Haube auf dem Kopfe und manche lassen sich durch nichts bewegen, es zu entfernen; umgekehrt erachten es die Palauinsulanerinnen für unanständig, einen Hut aufzusetzen. Der Schamhaftigkeit mancher Malayenvölker ist Genüge geleistet, wenn nur der Nabel bedeckt ist. Für eine grosse Frechheit wird es in dem alten Kulturlande China angesehen, wenn eine Frau einem Manne ihren künstlich verkümmerten Fuss zeigt; ja es ist sogar unschicklich von ihm zu sprechen und auf züchtigen Gemälden bleibt er immer unter dem Kleide versteckt. Die Frauen der germanischen Langobarden hielten sich ebenfalls für tötlich beschimpft, wenn Männer ihre Füsse bis zu den Knieen sahen; feine Europäerinnen denken heute über diesen Punkt viel weniger strenge.
Was aber einer grossen Reihe von Völkern am allermeisten der Verhüllung bedürftig erscheint, das ist das Antlitz der Frau! In Maskat sieht nicht einmal mehr die Mutter nach dem zwölften Jahre ihre Tochter mit unbedecktem Gesichte, dagegen lassen die durchsichtigen Gewänder Leib und Glieder deutlich erkennen.[154] Auch die häusliche Tracht der Perserinnen lässt den Busen vollständig durchscheinen, den Bauch und die Beine aber ganz frei und unbedeckt;[155] dagegen darf sich das Weib nur vor ihrem Manne und einigen nächsten Anverwandten unverschleiert sehen lassen; selbst dem Arzte ist das allerletzte, was ihm die Kranke zeigt, ihr Gesicht, sie glaubt sich dadurch zu prostituieren. Freilich weiss die wahre Tochter Evas auch dafür ein Auskunftsmittel; sie hat zuerst an den Zähnen etwas zu verbessern und hebt den Schleier bis zur Nase; dann findet sich ein Fleck auf der Stirn und sie senkt die obere Hälfte des Schleiers, so dass der Arzt nur zu addieren braucht, um die Totalsumme zu erhalten.[156] Muhammedanerinnen zu Basra, ja selbst zu Konstantinopel, die im[S. 95] Bade von Männern überrascht werden, verhüllen gleichfalls nur das Gesicht. Ebenso entblössen sich in Ägypten die Frauen der Fellahin vor Männern ohne Scheu, wenn nur das Antlitz verhüllt bleibt. Die Araberin, sagt Ebers, wird Fuss, Bein und Busen ohne Verlegenheit sehen lassen, dagegen gilt die Entblössung des Hinterhauptes für noch unanständiger als die des Gesichtes, welches letztere jede ehrbare Frau sorgsam verbirgt. Beleidigt der enganschliessende Anzug europäischer Frauen das Anstandsgefühl des Chinesen, dem jene als nackt erscheinen, so würde ein frommer Moslim aus Ferghana, wenn er auf unseren Bällen die Entblössungen unserer Frauen und Töchter, die halben Umarmungen bei unseren Rundtänzen wahrnähme, im Stillen nur die Langmut Allahs bewundern, der nicht schon längst über dieses sündhafte und schamlose Geschlecht Schwefelgluten habe herabregnen lassen. In der That liegt keinerlei Logik darin, wenn dieselbe Dame, die Herrn So und So vormittags nicht empfangen zu können meinte, da sie noch nicht — angekleidet sei, ihm abends im hellerleuchteten Ballsaale oder in der Opernloge ohne ein Zucken der Verlegenheit weit weniger bekleidet als sie es morgens war, entgegentritt. Auch die sehr koketten Französinnen stellen an öffentlichen Orten ihre allerdings anmutig geformten Schultern und Arme, ihre feinen Knöchel und noch etwas darüber bloss. Freilich, wollte man sich in ihrem Hause erlauben, auch nur die Spitze ihres Ellbogens zu bewundern, Entrüstung würde ihnen das Blut in die Wangen jagen.[157] Sie finden es ganz natürlich, ihre Reize der Gesamtheit preiszugeben, um sie sodann jedem einzelnen zu versagen. Gefallsucht und Buhlkunst veranlassen eben überall manchen Verzicht auf die Schamhaftigkeit. Aus einem Beweggrunde, den man bei uns Koketterie nennen würde, legen z. B. die schwarzen Mädchen von Quitta in Westafrika an Stelle der sonst üblichen breiten, den grössten Teil des Körpers bedeckenden Hüftentücher, lieber unverhältnismässig schmale an.[158] Ein ganz ähn[S. 96]licher sinnlicher Gedankengang schlummert aber am Urgrunde der vorhin besprochenen Sitte, welche im Kreise der schamhaften Kulturnationen widerspruchsvoll verlangt, dass eine Dame, um salonfähig zu erscheinen, Arme und Büste entblösst tragen müsse — eine beklagenswerte Versündigung gegen den guten Geschmack und den ästhetischen Sinn, da nur in Ausnahmefällen die Schaustellung dem Salon zur Zierde und den Beschauern zum Vergnügen gereicht!
Aus den Beispielen, welche ich hier angehäuft habe, ersieht man wohl sattsam, dass das Schamgefühl an gar vielen Stellen des Körpers haften kann, befestigt durch Sitte und Gewohnheit. Bei allem Schwanken desselben in einzelnem darf man aber immerhin ein doppeltes behaupten: Das Erwachen des geschlechtlichen Schamgefühls bedeutet eine Erhebung bei jeder Völkerschaft;[159] und ferner: Das Schamgefühl hält gleichen Schritt mit der Kulturentwicklung der Menschheit.
[55] Carus Sterne. Werden und Vergehen. Eine Entwicklungsgeschichte des Naturganzen in gemeinverständlicher Fassung. Zweite Aufl. Berlin, 1880. S. 483.
[56] Charles Darwin. Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Stuttgart, 1887. S. 293.
[57] Carus Sterne. Die Krone der Schöpfung. Wien u. Teschen, o. J. S. 79.
[58] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 16.
[59] Hugo Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. II. S. 86.
[60] Oskar Peschel. Völkerkunde. Fünfte Aufl. Leipzig, 1881. S. 173.
[61] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 17.
[62] Globus. Bd. XLIV. S. 106.
[63] Revue d’anthropologie. 1872. S. 209.
[64] Prof. Dr. Friedrich Ratzel. Völkerkunde. Leipzig, 1885. Bd. I. Grundzüge der Völkerkunde. S. 63.
[65] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Studien. S. 28.
[66] Peschel. Völkerkunde. S. 173.
[67] Alex. von Humboldts Reise in die Äquinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. III. S. 96.
[68] Karl von den Steinen. Durch Centralbrasilien. Expedition zur Erforschung des Schingu im Jahre 1884. Leipzig, 1886. S. 192. 195.
[69] Globus. Bd. XXIX. S. 207.
[70] Ausland 1867. S. 892.
[71] Globus. Bd. XXV. S. 165.
[72] Ferdinand Blumentritt. Versuch einer Ethnographie der Philippinen. Gotha, 1882. S. 15.
[73] Frederic J. Mouat. Adventures and researches among the Andaman Islanders. London, 1863. S. 122.
[74] H. H. Johnston. Der Kilima-Ndscharo. Forschungsreise im östlichen Äquatorialafrika. Leipzig, 1886. S. 409.
[75] A. a. O. S. 412.
[76] Victor de Rochas. La Nouvelle Calédonie et ses habitants. Paris, 1862. S. 237.
[77] Georg Schweinfurth. Im Herzen von Afrika. Reisen und Entdeckungen im äquatorialen Centralafrika. Leipzig, 1874. Bd. I. S. 163.
[78] Sir John Lubbock. Pre-historic Times as illustrated by ancient remains and the manners and customs of modern Savages. London, 1869. S. 533.
[79] Paul Mantegazza. Indien. Aus dem Italienischen von H. Meister. Jena, 1885. S. 207.
[80] Merkwürdigerweise werden hauptsächlich männliche Gottheiten ganz nackt dargestellt, oder die Gewandung erscheint, wie beim Apoll vom Belvedere, dort, wo sie nach unseren Begriffen überflüssig wäre. Ganz ähnlich verhalten sich, um nur einige Beispiele zu nennen, die Sylvanusstatue in der Blundellschen Sammlung, die Bronzestatue von Herculaneum, der Eros im Pariser Louvre, der vatikanische Apoll (im Museo Pio-Clementino) und das Marmorstandbild des erst spät aufgekommenen Gottes Atys in der Landsdowneschen Sammlung. Letzterer hat nicht die allergeringste Spur von Bekleidung, nur den das Geschlechtswerkzeug verdeckenden üblichen Blätterschmuck, welcher an sich schon ein Beweis ist, dass das Schamgefühl sich dessen bewusst geworden, was der Verhüllung bedürftig. Der im Hause des Augustus gefundene Apollo Sauroktonos verzichtet aber sogar darauf und prangt als splitternacktes Menschenkind mit dem völlig unverhüllten Wahrzeichen seiner Männlichkeit. Seltener sind ganz nackte Göttinnen. Ausser Venus in ihren mannigfachen Gestalten und den Grazien erscheinen die übrigen Göttinnen nicht leicht ohne irgend eine Gewandung. Liegt in dieser auffallenden Bevorzugung des männlichen Körpers in der Darstellung des Nackten durch die antike Kunst nicht etwa ein Fingerzeig, dass die Alten das menschliche Schönheitsideal in der männlichen und nicht in der weiblichen Gestalt erblickten?
[81] Ich will indess nicht unbemerkt lassen, dass die alten byzantinischen Kruzifixe, wie z. B. jenes, welches im Dom zu Braunschweig aufbewahrt wird, Christus in eine lange Kutte gekleidet darstellen.
[82] So z. B. der Hermes-Augustus im Museum zu Rennes, die Kolossalstatue aus Bronze, welche Augustus als Jupiter darstellt (Museum zu Neapel), Britannikus als Bacchus, gefunden zu Tivoli. Ganz nackt ist ein Mars Ultor, eine Marmorstatue, welche aber eher einen Römer des ersten Jahrhunderts als Mars Ultor vorstellen dürfte, denn gerade die Gottheit an sich.
[83] Max Buchner. Reise durch den Stillen Ozean. Breslau, 1878. S. 352–354.
[84] Georges Bousquet. Le Japon de nos jours et les échelles de l’extrème Orient. Paris, 1877. Bd. I. S. 87.
[85] Hugo Zöller. Pampas und Anden. Sitten- und Kulturschilderungen aus dem spanisch redenden Südamerika mit besonderer Berücksichtigung des Deutschtums. Stuttgart u. Berlin, 1884, S. 364.
[86] Ausland, 1870. S. 294.
[87] Mantegazza. Anthropologisch-kulturgesch. Studien. S. 36–37.
[88] Rudolf Bergner. Rumänien. Eine Darstellung des Landes und der Leute. Breslau, 1887. S. 61.
[89] Anatole Leroy-Beaulien. L’empire des Tsars et les Russes. Paris, 1881. Bd. I. S. 132.
[90] Gustaf Retzius. Finska kranier jämte några Natur- och Literatur-Studier inom andra områden af finsk antropologie. Stockholm, 1878. S. 119.
[91] G. G. Winkler. Island, seine Bewohner, Landesbildung und vulkanische Natur. Braunschweig, 1861. S. 107–111.
[92] Dies hindert freilich nicht, dass die Künstler, Maler wie Bildhauer, sich mit Vorliebe das Nackte und insbesondere das nackte Weib zum Vorwurfe ihrer Darstellungen wählen und dass solche Kunstleistungen von Herren und Damen gemeinsam besichtigt und ohne Erröten bewundert und besprochen werden, wie denn auch die Kunstläden Nuditäten der Schaulust ausstellen, welche alt und jung mit Behagen betrachten. Jedenfalls auch ein Widerspruch, den selbst das „Göttliche in der Kunst“ nicht zu erklären vermag.
[93] Dr. Otto Kuntze. Um die Erde. Reiseberichte eines Naturforschers. Leipzig, 1881. S. 487.
[94] Zöller. Pampas und Anden. S. 64. Treffend fügt der Verfasser hinzu: „Es ist in der That seltsam, wie viel weniger die Nacktheit eines Farbigen unserem Auge auffällt, als diejenige eines Europäers. Erzählt man einem Mitreisenden, der noch niemals wilde oder halbwilde Länder besucht hat, von der Nacktheit der sogenannten Naturkinder, deutet man namentlich dem weiblichen Teil der Passagiere dergleichen an, so denken sie sich darunter etwas Fürchterliches. Naht der betreffende Augenblick, so ist es höchst interessant, jenen eigentümlichen Kampf zwischen Zurückhaltung, Furcht, Übermut und Neugierde zu beobachten, der stets mit dem Siege der letzteren endet. Und lebt man nun gar in Ländern, wo die Mehrzahl der eingeborenen Bevölkerung den grössten Teil des Körpers unbedeckt lässt, so gewöhnt man sich so schnell daran, dass man schon nach wenigen Tagen die Sache weit weniger komisch findet, als das gemeinsame Baden der Geschlechter in belgischen, französischen und italienischen Seeplätzen. Ich habe auf Timor, in den Bergen von Java, in Hinterindien u. s. w. junge Damen so ungeniert und augenscheinlich so unschuldig und arglos einem Dutzend nackter Eingeborener ihre Befehle erteilen sehen, als ob es europäische Wäscherinnen oder Dienstmädchen gewesen wären.“
[95] Peschel. Völkerkunde. S. 173.
[96] Humboldts Reise nach den Äquinoktialgegenden des neuen Kontinents. Bd. II. S. 19.
[97] Wilson u. Felkin. Uganda und der ägyptische Sudan. Stuttgart, 1883. Bd. II. S. 33.
[98] A. a. O. S. 75.
[99] Gestorben am 10. Oktober 1884.
[100] Peschel. A. a. O.
[101] Dr. Gustav Nachtigal. Sahara und Sudan. Ergebnisse sechsjähriger Reisen in Afrika. Berlin, 1881. Bd. II. S. 574.
[102] Ausland 1858. S. 261.
[103] Paul Duchaillu. Explorations and adventures in equatorial Africa. S. 444.
[104] Ausland. A. o. O.
[105] Joseph Thomson. Durch Massailand. Erforschungsreisen in Ostafrika. Leipzig, 1885. S. 422.
[106] Globus. Bd. XIV. S. 38.
[107] Fenton Aylmer. A cruise in the Pacific. London, 1860. Bd. I. S. 209.
[108] G. H. von Langsdorff. Bemerkungen auf einer Reise um die Welt. Frankfurt, 1813. Bd. I. S. 125.
[109] Moerenhout. Voyage aux îles du grand océan. Paris, 1837. Bd. I. S. 219.
[110] Bulletin de la Société de géographie de Paris. 1873. Bd. II. S. 252.
[111] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. I. S. 133.
[112] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 433.
[113] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Studien. S. 30.
[114] Dr. Charles Letourneau. La Sociologie d’après l’éthnographie. Paris, 1880. S. 48.
[115] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. I. S. 79. 185.
[116] Langsdorff. Bemerkungen auf einer Reise um die Welt. Bd. I. S. 127.
[117] Zeitschrift für Ethnologie. Berlin, 1880. S. 318.
[118] Buchner. Reise durch den Stillen Ozean. S. 129.
[119] Letourneau. Sociologie. S. 59.
[120] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 18.
[121] A. a. O. Bd. I. S. 19.
[122] A. a. O. S. 407.
[123] Lippert. A. a. O. S. 18.
[124] Karl Semper. Die Palauinseln im Stillen Ozean. Reiseerlebnisse. Leipzig, 1873. S. 35.
[125] Globus. Bd. XLIV. S. 106.
[126] Lippert. A. a. O. S. 408.
[127] Peschel. Völkerkunde. S. 176.
[128] Johnston. Der Kilima-Ndscharo. S. 389.
[129] Vgl. die Abbildung bei: Dr. Karl von den Steinen. Durch Centralbrasilien. S. 195. Im Text bemerkt der Verfasser, dass diese Indianer sich in sehr primitiver Weise gegen eindringende Insekten schützen: praeputium filo gossypii rubro ante glandem farciminis instar constringunt, was nicht nötig wäre, wenn eine Verhüllung die Stelle schützte.
[130] Lippert. A. a. O. S. 410.
[131] Humboldts Reise in die Äquinoktialgegenden. Bd. III. S. 92.
[132] Lippert. Kulturgesch. Bd. I. S. 432–433.
[133] Ausland 1872. S. 802–803.
[134] Theodor Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Zweite Aufl. von Dr. G. Gerland. Leipzig, 1877. Bd. I. S. 356.
[135] Emil Bessels. Die amerikanische Nordpolexpedition. Leipzig, 1879. S. 358.
[136] Verhandlungen d. Berl. Gesellsch. f. Anthropologie. 1880. S. 62.
[137] So die Herren Houzé und Jacques, welchen wir umständliche Mitteilungen über dieselben verdanken im Bulletin de la Société d’anthropologie de Bruxelles 1885. S. 53–156, ganz besonders auf S. 124.
[138] Johnston. Der Kilima-Ndscharo. S. 409.
[139] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. II. S. 86–87.
[140] Ausland 1858. S. 261.
[141] Mouat. Adventures and researches among the Andaman islanders. S. 284.
[142] Charakteristisch, ja typisch und ungemein drollig ist die Geschichte seines Rückfalles ins Negertum, wie Dr. Max Buchner sie erzählt: „Als er noch nicht zwanzig Jahre alt, von Bristol zurückkam, hatte er auf dem Kopf einen schwarzen Cylinderhut, am Halse zwei Vatermörder und eine schwarze Kravatte, auf dem Leibe aber einen strenggläubigen schwarzen Anzug, an den Füssen gewichste Stiefel. Selbst ein Veloziped soll er damals besessen und hie und da kunstgerecht getummelt haben. Sogleich auch liess er sich von den Missionären ein eheliches Weib, eine untadelhafte Negerlady, kirchlich antrauen. Es dauerte nicht lange, da spotteten seine Kameraden, dass ein so hoher Jüngling wie Manga doch unmöglich mit einer einzigen Gattin auskommen könne, und siehe, er nahm eine zweite. Kirchlich konnte er sich diese allerdings nicht mehr antrauen lassen, er nahm sie aber doch, und zugleich zog er für immer die Stiefel aus. Bald folgte eine dritte, und die Vatermörder nebst der schwarzen Halsbinde schwanden dahin. Eine vierte kam und mit ihr gingen Frack und Hose. Heute hat Manga Bell ungefähr zwanzig Weiber und geht wieder ebenso nackt oder halbnackt wie sein Vater.“ (M. Buchner. Kamerun. Skizzen und Betrachtungen. Leipzig, 1887. S. 49).
[143] Peschel. Völkerkunde. S. 176.
[144] Thomson. Durch Massailand. S. 435.
[145] Verhdlgen. d. Berl. Gesellsch. f. Anthropologie. 1880. S. 88.
[146] Lib. II Samuelis. Cap. 16. V. 22.
[147] Dr. H. Ploss. Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Anthropologische Studien. Leipzig, 1885. Bd. I. S. 224.
[148] G. A. Wilken. Over de Verwantschap en het Huwelijks-en Erfrecht by de volken van den indischen Archipel. Leiden, 1883. S. 7.
[149] Mouat. Adventures and researches among the Andaman Islanders. S. 294.
[150] Carus Sterne. Die Krone der Schöpfung. S. 101.
[151] Ludwig Büchner. Thatsachen und Theorieen aus dem naturwissenschaftlichen Leben der Gegenwart. Berlin, 1887. S. 216–217.
[152] J. Kubary. Die Bewohner der Mortlock-Inseln, in den Mitteil. der geographischen Gesellschaft in Hamburg. 1878–79. S. 252.
[153] Petermanns. Geographische Mitteilungen. 1857. S. 138.
[154] Gräfin Pauline Nostitz. Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig, 1873. Bd. II. S. 13.
[155] Dr. Jak. Ed. Polak. Persien. Das Land und seine Bewohner. Leipzig, 1865. Bd. I. S. 160.
[156] A. a. O. S. 224.
[157] Quelle femme du monde ne rougirait, si elle était surprise chez elle décolletée comme elle se montre au bal? sagt A. de Quatrefages in der Revue d’anthropologie. 1872. S. 209.
[158] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. I. S. 16.
[159] Peschel. Völkerkunde. S. 176.
[160] Der uns bedeutend näher gerückte Leibniz erklärt die Liebe als „die Empfänglichkeit für die eigene Freude an der Vollkommenheit, dem Wohl oder Glück des geliebten Gegenstandes.“[161] Den in diesen Sätzen verkappten Egoismus, der darin besteht, dass jene fremde Lust doch schliesslich nur Ziel und Ursache unserer eigenen Lust ist, bringt Spinoza sehr richtig, aber nur nicht scharf genug zum Ausdruck, indem er die Liebe „als eigene Lust, begleitet von der Vorstellung der diese Lust bewirkenden Ursache“ betrachtet. Dies gilt wohl von allen Arten von Liebe, der Freun[S. 98]des-, Kinder-, Eltern- und Geschlechtsliebe. Letztere, die uns hier allein angeht, darf man insbesondere, alles in allem genommen, wohl mit Karl Bleibtreu bezeichnen als: „das Gefühl, die Sinnlichkeit bis zur Aufopferung derselben auf ein Einzelwesen zu übertragen.“[162] Aber Liebe ist nicht bloss Sache des Gefühls, sondern sie wohnt auch auf dem tiefsten Grunde des Willens. Liebe heisst: nicht sich selbst wollen. Liebe ist Selbstverleugnung und dadurch der gerade Gegensatz der Selbstsucht, vom Lebensprinzip des Egoismus aus betrachtet, auf welchem doch schliesslich alles menschliche Thun und Lassen beruht, also ein anormaler Zustand, freilich nur scheinbar; denn obwohl diese Liebe sich dem andern völlig unterordnet, weshalb auch Mitleid und Bewunderung so mächtige Nährgefühle derselben sind; obwohl sie sich völlig vergisst über dem Du und auch nicht zerstört wird durch das Leid, das etwa der Liebende vom Geliebten erfährt; obwohl sie nicht der Rausch der Sinne, sondern die ruhige Entschlossenheit der Seele ist, woran der Geist einen sehr hervorragenden Anteil hat: so ist die Liebe, unbestreitbar die höchste menschliche Leidenschaft, welche der Ansporn zu allem Schönen und Hässlichen im moralischen Sinne des Wortes werden kann, doch sich augenscheinlich Selbstzweck und Selbstlust und erwägt den Fortpflanzungstrieb erst in zweiter Linie, welcher, wie schon früher betont, mit der fleischlichen Begierde und gar mit der Liebe gar nichts zu thun haben braucht; denn es unterliegt keinem Zweifel, dass es einer solchen psychischen Regung wenigstens seitens des weiblichen Teiles für die Fortpflanzung des Geschlechtes gar nicht bedarf.[163] So sehr indes sinnliche Begierde und Liebe an sich auseinander zu halten sind, so haben sie doch einen gemeinsamen Berührungspunkt darin, dass ohne sinnliche Beimischung Liebe durchschnittlich kaum denkbar ist. Wie krystallhell die Quelle, wie rein ihr Wesen auch sei, immer strebt doch die Liebe nach dem[S. 99] nämlichen groben Endzweck.[164] Jedes Wesen fühlt wohl das Lieben als eine Notdurft der Natur, aber erst durch Beimischung des sinnlichen Elements erhält das Liebebedürfnis jene bittere Schärfe, welche den ganzen Organismus durchzittert. Die Sinnlichkeit selbst und insbesondere der Gattungstrieb ist aber darum weder Liebe, noch hat er bestimmenden Einfluss darauf. Er ist bloss, wie schon Hyrtl vor mehr denn dreissig Jahren bemerkte, veredelbar durch die Dazwischenkunft des Geistigen, und das ist die Liebe. Sehr richtig sagt ein scharfsinniger Schilderer menschlicher Leidenschaften, Leopold von Sacher-Masoch: „Von der Sinnlichkeit geht jede noch so tiefe Neigung aus, ohne sie giebt es keine Liebe, kein Glück, — aber es darf nicht dabei bleiben.“[165]
s ist ganz unerlässlich für den Gang der späteren Auseinandersetzungen, zuvor noch einige Punkte zu erörtern, die wie die Schamhaftigkeit mit dem Geschlechtsleben der Völker und dem Gegenstande unserer Untersuchungen in augenscheinlichem Zusammenhange stehen. Der vornehmste dieser Punkte betrifft jenes Gefühl, welches der europäische Kulturmensch als Liebe empfindet. Über dieses müssen wir uns zunächst verständigen. Forscht man vom ethischen Standpunkte nach dem wirklichen Wesen der Liebe, so trifft man schon bei Aristoteles die Auslegung: „Lieben ist, dass wir für jemand das wollen, was er für gut hält und zwar seinetwegen, nicht unsertwegen.“Es ist also immerhin die Rolle der Sinnlichkeit selbst in der idealsten Liebe, die sich ausschliesslich und heroisch einem einzigen Gegenstande opfert, nicht zu unterschätzen. Sogar die selbstloseste Liebe, welche unter Umständen völlige Entsagung zu ihren leidenvollen Freuden zählt, verzichtet ungern auf die Liebkosung des geliebten Wesens, worunter das Küssen obenansteht. Uns europäischen Menschen erscheint der Kuss als der natürliche Ausdruck der Liebe, und zwar nicht nur der geschlechtlichen. „Jedenfalls,“ sagt Steele, „war die Natur die Erfinderin desselben und der erste Kuss entstand mit der ersten Bewerbung.“ Niemand wird mir aber wohl darin widersprechen, dass der Kuss ein durchaus sinnlicher Genuss ist, hervorgerufen durch die fremde Berührung mit den in den Lippen auslaufenden feinen Nervenenden und unterstützt durch die Nähe des ebenso feinfühligen Riechorganes. Mit Recht fragt man wie der erste Kuss „schmeckt“, wenn man auch nicht die von einer jungen Dame darauf erteilte überschwängliche Antwort gelten zu lassen geneigt sein dürfte.[166][S. 100] Unter Verliebten gilt der Kuss gewissermassen als eine Vorstufe der Liebeslust, und obwohl ein altdeutscher Spruch meint:
so traut man dem Kuss „in Ehren“ doch nur sehr wenig, betrachtet vielmehr ziemlich allgemein die Gewährung eines Kusses seitens des Mädchens an einen Fremden als Ausdruck der Geneigtheit zu schliesslicher Hingabe, die dann oft nicht lange auf sich warten lässt, und behütet es daher sorgsam vor der Gefahr des Küssens. „Wenigstens“ einen Kuss! erfleht der unerhörte Jüngling, sozusagen als Ersatz für den entgangenen vollen Sinnengenuss. Der erste Kuss der Jungfrau gehört deshalb bei uns erst dem Verlobten, der ja ohnehin die gutgeheissene Anwartschaft auf die höchsten Wonnen besitzt. Aber auch wo geschlechtliche Beziehungen nicht im Spiele sind, z. B. beim Kusse unter Verwandten, unter Freunden, liegt demselben stets auch ein sinnliches Moment zu Grunde.
Daran ändert der Umstand nichts, dass der Kuss vielfach zum leeren Gebrauch herabgesunken, rein zeremoniell geworden ist. An altisraelitischen Kultstätten, an welchen Götterbilder sich befanden, begegnet uns schon als Gebärde huldigender Anbetung auch der Kuss,[167] ohne dass wir jedoch erfahren, ob wirklicher Kuss oder Kusszuwerfung oder beides sich fand,[168] wie es bei den alten Hellenen weit verbreitet war. An dem schwarzen Stein der Kaaba zu Mekka wird es heute noch geübt, und im Christentume hat sich das Küssen des Kruzifixes sowie der Heiligenbilder erhalten. Seinen europäischen Verehrern ist ferner der Kuss ein uraltes Zeichen, nicht bloss der Liebe, sondern auch der Versöhnung, des[S. 101] Friedens und der Freundschaft. Im Märchen bewirkt er einerseits Vergessenheit und ruft andererseits Vergessenes ins Gedächtnis zurück; ein Kuss löst den Bann der zum Drachen, zur Schlange oder Kröte verzauberten Jungfrau. Der altchristliche Friedenskuss lebt noch fort in dem Osterkuss der griechischen Kirche. Bei Übernahme des Lehens küsste im deutschen Mittelalter der Vasall den Lehensherrn. Der Kuss kam ferner in Anwendung nach Abschluss eines Vertrages, zur Besiegelung eines Versprechens, daher noch heute unsere Redensart „mit Kuss und Hand“. Im feineren (höfischen, hoflichen, d. h. ursprünglich hofartigen) Verkehr des Mittelalters wird von dem berühmten steirischen Ritter und Sänger Ulrich von Lichtenstein (gest. 1275 oder 1276) unterschieden zwischen dem Kuss der Minne, der Freundschaft und der Sühne. Der Sühnekuss hat als Pfand und Siegel aufgehobener Feindschaft und wiederkehrender Zuneigung ernstere Bedeutung. Der Judaskuss ist der Kuss des Verräters. Dem Herzenskuss steht der Kuss der höfischen Sitte gegenüber. Der Ankommende küsst die Herrin, wenn er ihr an Rang wenigstens gleichsteht. Meist ersuchte die Frau den Vorgestellten um den Kuss oder bat der Geringere den Vornehmeren, seiner Gattin oder Tochter den Willkommenkuss zu bieten. Auch beim Abschied küsste man sich, und zwar auf Mund, Wangen oder Augen; die erstere Form bildet immer eine Auszeichnung. Bei den Franzosen kam dazu noch der Kuss auf Nase, Kinn und Hals. In dem Heldengedicht Titurel werden sogar dem Sieger im Turnier die Küsse von achtzig Jungfrauen in Aussicht gestellt. Der Kuss der Geliebten aber, schon gewährt oder erst ersehnt, begeistert heute noch die Dichter zu Dithyramben voll himmlischer Verzückung, und selbst ein so leichtfertiger Schriftsteller wie Adolphe Belot hat sich veranlasst gefunden, in die Physiologie und Philosophie des Kusses sich zu vertiefen,[169] worin ihm sein Landsmann H. de Molière längst vorangegangen war.[170] Dass trotz des Scheffelschen Katers Hiddigeigei tiefsinniger Frage:
Dass Küssen den Kulturmenschen als ein Genuss gilt, bezeugen unter anderen die strengen Sonntagsgesetze, wie sie vor zweihundert Jahren in manchen Teilen der Vereinigten Staaten bestanden. Für den Sonntag war nicht nur Spazierengehen, das Kochen, Bartscheren u. dgl. verboten, sondern auch den Müttern untersagt, ihre Kinder zu küssen. Der Geschichtsschreiber Mac Cabe erzählt, dass diesem Kussverbote im Jahre 1654 bei einem Prozesse in Connecticut die weiteste Ausdehnung gegeben wurde, indem ein Liebespaar — Sarah Tuttle und Giacobbe Newton — wegen Übertretung desselben mit hoher Geldstrafe belegt ward.
Es spricht nun, glaube ich, für meine im ersten Kapitel entwickelte Vermutung, wonach die Geschlechtsfreuden des Urmenschen geringer bemessen gewesen seien, dass selbst heute noch, der poetischen Auffassung Steeles zum Trotz, das Küssen durchaus nicht allerorten Brauch ist, namentlich das Küssen auf den Mund. Der Kabyle küsst ins Gesicht, oft auch auf den Mund, während der Araber, nach Heinrich von Maltzan, meist nur die Schulter küsst.[172] Das Küssen ist natürlich von vorne herein ausgeschlossen bei allen Völkern, welche die Lippen aufschlitzen und kleine Hölzer einsetzen, wie es die Stämme an der Küste des Beringsmeeres und ihre Nachbarn, die Koljuschen, ferner die[S. 103] Botokuden in Brasilien und die mittel- und südafrikanischen Schwarzen thun, deren Frauen das „Pelele“ tragen.[173] Aber auch wo solche materielle Hindernisse fehlen, verschmäht man den Kuss in Afrika wie in Amerika und Ozeanien. Der Weltreisende Dr. Otto Kuntze, welcher manchen tieferen Einblick in die Lebensgeheimnisse der verschiedensten Völker nahm und darüber mit anerkennenswerter Offenheit berichtet, weiss vom Küssen gar nichts zu erzählen; ja, ich glaube, das Wort kommt in seinem umfangreichen Werke gar nicht vor. Winwood Reade erregte das Entsetzen eines Negermädchens, als er sie küsste, denn in ganz Westafrika sind solche Liebkosungen völlig ungebräuchlich, was neuerdings auch wieder Hugo Zöller bestätigte.[174] Desgleichen in Ostafrika, bei den Somal. Von den Kariben Guyanas bemerkt Karl Ferdinand Appun, vom Küssen sei bei ihnen gar nicht die Rede und diese angenehme Beschäftigung ihnen völlig unbekannt.[175] Weder Feuerländer noch Eskimo kennen diesen Ausdruck der Zärtlichkeit und sogar im europäischen Lappland stiess Bayard Taylor bei den Frauen auf eine entschiedene Abneigung gegen jede derartige Berührung. Kusslos sind auch nach Darwins Ermittlungen die Südseevölker, wie die Maori Neuseelands, die polynesischen Tahitier, die Papua und endlich die Australier.[176] Die Nervenempfindsamkeit aller dieser Völker ist eben noch nicht genügend entwickelt, um den Kuss als einen Sinnengenuss zu erkennen. Während mit fortschreitender Gesittung und Nervenverfeinerung das Lustgefühl bei uns sich ungemein ausgebildet hat, schärfte aber das Leben des Urmenschen, wie heute noch das der Wilden, die übrigen Sinne: Gesicht, Gehör und Geruch, daher bei ihnen das Riechorgan vielfach die Stelle des Mundes vertritt. Dafür zeugt der noch bei einzelnen Rassen[S. 104] und Völkerfamilien verbreitete „Nasengruss“,[177] wobei der Geruchssinn, nicht die Berührung, die Hauptrolle spielt, indem der Freund vom Freunde einen Teil von dessen individueller Ausdünstung durch den Nasengruss in sich aufzunehmen sucht. Die Hügelstämme von Tschittagong sagen nicht: „küsse mich“, sondern „rieche mich“. Die Maori Neuseelands reiben sich die Nasen zum Zeichen der Liebe und Freundschaft, oder, wie man in Neuseeland sagt: „Die Maori schnäbeln sich.“[178] Auch die ungleich höher stehenden Malgaschen gebrauchen statt des Kusses ein Drücken oder Reiben der Nasen: manóraka. Jetzt fangen sie wohl an, sich an den ihnen bisher unbekannt gewesenen Lippenkuss zu gewöhnen, doch kommt ein solcher heute noch sowohl zwischen alten als auch jungen Malgaschen nur höchst selten einmal vor.[179]
Selbst ein Kulturvolk vom Range der Chinesen kennt den Kuss nicht, und Gustav Kreitner, welcher das Innere des Himmlischen Reiches mit scharf beobachtendem Auge bereist hat, sagt es geradezu heraus: Dem Chinesen ekelt es vor dem Kusse. „Derselbe Mandarin, welcher sich so angelegentlich um die Grösse der Damenfüsse in Europa erkundigte, war es, der, als er vernahm, dass man weit im Westen seine Zuneigung oft durch einen Kuss auszudrücken gewohnt sei, mit einem der ganzen Welt verständlichen Worte antwortete: Brr!“.[180] Und in der höchst interessanten Sammlung von Volksliedern und poetischen Theaterstücken, welche auf das vertrauliche Leben der Chinesen Bezug nehmen und von Jules Arène zusammengetragen worden sind,[181] ist vom Kusse niemals die Rede. Auch in der japanischen Familie ist der Kuss eine unbekannte Zärtlichkeitsäusserung. Dies bezeugen übereinstimmend sowohl Professor Rein,[182] als Georges[S. 105] Bousquet, welch letzterer beifügt, dass um das Küssen sprachlich auszudrücken, die Japaner, in einer brutalen Metapher, kein anderes Wort kennen als jenes, welches in ihrer Sprache „saugen“ (nameru) bedeutet.[183] Dagegen scheint der Kuss den Mincopies nicht fremd zu sein. Wenigstens wird berichtet, dass Mincopiesträflinge in Port Blair ihren Gefangenwärter so lieb gewannen, dass sie ihm beim Abschiede die Hand küssten, und als einer derselben das erste englische Frauenzimmer zu Gesicht bekam, wollte er sie sogleich küssen.[184]
Im allgemeinen wird man kaum fehl gehen, wenn man hauptsächlich die Europäer und insbesondere die Gruppe der sogenannten Arier bis zu den Zigeunern[185] herab, für Liebhaber des Kusses hält. Ausnahmen kommen gleichwohl vor. Beim kleinrussischen Bauern ist der Kuss nicht Sawedenje (Gebrauch), und ein Beobachter, der vierzehn Jahre am untern Dnjepr zubrachte, sah in dieser Zeit niemals einen Bauer, ausser in der Trunkenheit, Jemanden küssen.[186] Auch dem Bewohner des norddeutschen Flachlandes sind Zärtlichkeitsbeweise jeder Art, darunter das Küssen, meist im höchsten Grade zuwider.[187] Aber schon die klassischen Völker des Altertums kannten den Kuss. Dass die der Liebe holden Hellenen auch Kussverständige waren, lässt sich erwarten. Doch findet sich bei ihnen das Wort für küssen gleichbedeutend mit dem für lieben: φιλεῖν, auch verstärkt zu καταφιλεῖν. Andere[S. 106] Ausdrücke für küssen sind ἀςπάζεσθαι und κυνεῖν. Der Kuss ist φίλημα, was freilich auch Liebkosung bedeutet; φιλεῖν τινα τῷ στόματι hiess aber unbedingt: jemanden einen Kuss geben. Das ernste Volk der Römer hatte für Kuss die Worte osculum, basium oder suavium, welch letzteres wohl ziemlich klar auf die Süssigkeit des Genusses hindeutet. Meum suavium gebraucht Terenz für: meine Liebste. Ovid geizt nicht mit Küssen und selbst der keusche Vergil kennt die Redewendung: alicui osculum libare. Von den küssenden Europäern ging die Mode später auch auf ihre Mischlinge mit farbigen Rassen in fremden Erdteilen über. Die amerikanischen Mulatten küssen und lassen sich küssen; desgleichen die Schwarzen, welche in Amerika unter dem Einflusse der Weissen zu einer gewissen Gesittungshöhe aufgestiegen sind. Hugo Zöller beobachtete einen solchen Fall.[188]
Die Geschichte des Kusses ist in gewisser Beziehung auch die Geschichte der Liebe, worunter ich ausschliesslich die in den höheren Sphären der Menschheit die Geschlechter beherrschende, bis zur wahren Leidenschaft steigerungsfähige Herzensneigung verstehe, im Gegensatze zum gewöhnlichen erotischen Triebe, den man gerne euphemistisch als „sinnliche Liebe“ bezeichnet. Es ist in hohem Grade beklagenswert, dass diese verschiedenen Zustände sprachlich nicht scharf auseinander gehalten und dem Worte Liebe ganz verschiedene Bedeutungen unterschoben werden, woraus eine heillose Verwirrung entsteht. Man spricht von einer „wahren“ oder „idealen“, von einer „romantischen“ oder „platonischen“ Liebe gerade so wie von einer „sinnlichen“ oder „fleischlichen“ Liebe, und beschönigt mit dem höhere Vorstellungen erweckenden geistigen Begriffe der Liebe die einfache Begierde der Sinne. Aber nur die auf Herzensneigung beruhenden Gefühle verdienen die Bezeichnung „Liebe“; alles was darunter bleibt, ist einfach Begierde, Freude an der Befriedigung der Sinnenlust mit einem oder mehreren bestimmten Wesen des andern Geschlechtes. Die überwiegende Mehrzahl hat nun Verständnis bloss für den tierischen Genuss, für die Wollust, sehr wenig oder keines für die[S. 107] Liebe. Diese spriesst vornehmlich im Gehirn der Idealisten, denn in ihr überwiegt das Geistige derart, dass nur in Menschen der höchsten Entwicklungsstufen die erforderlichen Grundbedingungen dazu vorhanden sind. Auch unter uns Europäern vermögen nur feiner organisierte Naturen wärmer zu empfinden. Wenigstens malen unsere Dichter Gluten und Liebesqualen, von welchen der Alltagsmensch sich nichts träumen lässt. Sicherlich, wenn wir auch die von Feodor Wehl in seinen „Herzensgeheimnissen“ erzählten Geschichten für bare Münze nehmen wollten, wird doch jedermann zugeben, dass solche ins Übersinnliche gesteigerte Weissglut der Leidenschaft zu den allergrössten Seltenheiten gehört, jedenfalls für die grosse Menge nicht massgebend ist. Sie bleibt Neunhundertneunundneunzig unter Tausend vollständig unbekannt, — bei wenigen, weil kein günstiger, oder richtiger ungünstiger, Zufall sie weckte, bei der Mehrzahl, weil sie zu einer solchen Liebe überhaupt unfähig sind.
In noch weit strengerem Sinne gilt dies von den ausserhalb unserer Gesittung sich bewegenden Völkern. Dr. Ploss’ fleissige Forschungen gestatten keinen Zweifel, dass — wie das Küssen — die Liebe (ich gebrauche das Wort fernerhin nur noch in seinem idealen Sinne) einer grossen Anzahl von Völkern durchaus unbekannt ist, wofür eine ganze Reihe von Zeugnissen vorliegen. Von den Schwarzen im oberen Nilgebiet sagt der erfahrene Sir Samuel White Baker ausdrücklich: Das was wir als Liebe bezeichnen, ist ein Gefühl, welches man in diesen Ländern nicht kennt und versteht; es existiert gar nicht. In dieser Beziehung ist alles handgreiflich, praktisch, ohne eine Spur von romantischer Zuthat.[189] „Eines der schönsten Geschenke des Schöpfers,“ sagt Appun, der jahrelang unter den Karibenstämmen Guyanas gelebt hat, „ist dem Indianer nicht zu teil geworden: die leidenschaftliche Liebe zum Weibe; unbekannt mit der schönsten und zartesten der Neigungen bleiben alle ihre Empfindungen dieser Art kalt und matt, und nur die physische Liebe ist ihnen bekannt.[S. 108] Während meines langjährigen Aufenthaltes unter den Indianern sind mir nur äusserst wenige Fälle vorgekommen, in welchen Ehepaare sich mit allen jenen Liebkosungen überschütteten, deren ein Europäer fähig ist. Ebenso wenig habe ich eine Liebkosung bei jungen unverheirateten Leuten bemerkt.“[190] Bei den Dualla Westafrikas hat Zöller wohl gesehen, dass ein Neger sein Kind, aber er hat nie gesehen, dass er sein Weib geliebkost hätte.[191] Ja sogar weniger rohe oder schon gesittete Völker wissen von keiner zarteren Neigung. Im Orient ist die Ehe rein sinnlicher Natur, und der Türke, sagt Feldmarschall Moltke, geht über das ganze „Brimborium“ von Verliebtsein, Hofmachen, Schmachten und Überglücklichsein als eben so viele faux frais hinweg zur Sache.[192] In ganz Ostasien — Japan, China, Java — werden die Ehen wohl nie aus Liebe geschlossen; immerhin kommt doch Liebe sporadisch vor.[193] Selbst unter Wilden finden sich unleugbar Beispiele von Herzensneigungen mehr oder weniger ausgeprägter Art. Von einzelnen Fällen, dass auch ein australisches Herz in einem jener poetisch-zarten Gefühle erglühte, welchen man die Benennung Liebe zugestehen muss, erzählen Hr. Thomas[194] und Dr. Mücke,[195] welch letzterer in den Roman solch einer wilden Liebe selbst handelnd eingriff. Auch unter den Negern kennt man einzelne Beispiele grosser Beständigkeit unter ungünstigsten Verhältnissen und wunderlicher Aufopferungsfähigkeit. Brodie Cruickshank teilt zwei Fälle dieser Art mit.[196] Davis erzählt von einem[S. 109] Neger, der nach vergeblichen Versuchen seine Geliebte aus der Sklaverei loszukaufen, sich entschloss, lieber selbst Sklave zu werden, als die Trennung von ihr zu ertragen.[197] Auch von den Sulukaffern weiss man ein Beispiel romantischer Liebe.[198]
Alle diese Fälle sind indes so sehr vereinzelt, dass aus ihnen kein gültiger Beweis gegen das Fehlen der über Sinnlichkeit hinausgehenden Liebe bei den Wilden zu schöpfen ist. Höchstens gestatten sie zu schliessen, was nicht erst des Beweises bedarf: dass die Anlagen zur Entwicklung höherer Gefühle bei allen Menschen vorhanden sind. Diese Ausbildung hat aber eben bei der Allgemeinheit noch nicht stattgefunden, daher alle Versicherungen des Gegenteiles mit einem gewissen Misstrauen aufzunehmen sind. So versichert z. B. R. Smyth nach Bunce, dass bei den Australiern die festeste Liebe bestehe zwischen Mann und Weib,[199] was nach der dort üblichen Behandlung der Frau ganz unglaubhaft erscheint, sich also höchstens auf einzelne Ausnahmen beziehen kann. Desgleichen meint H. H. Johnston, die Unsittlichkeit der Bakongo und anderer Anwohner des unteren Kongo entspringe eher aus übertriebener Liebe zu ihren Frauen, als aus Neigung zum Laster,[200] fährt aber in einem Atem fort zu berichten, dass Ehebruch nicht ungewöhnlich sei. Die Weiber gäben wenig auf ihre eigene Tugend vor und nach der Verheiratung, und ohne die Eifersucht der Männer würde ungehinderter Verkehr unter den Geschlechtern die Regel bilden.[201] Ausnahmen sind[S. 110] natürlich zuzugestehen; für die grosse Masse der Wilden und Barbaren gilt indes sicherlich als allgemeine Regel, was Hugo Zöller von den Westafrikanern beobachtete: Niemals, thatsächlich niemals hört man dort von einer Liebesgeschichte. Die Negerin besitzt niemals einen „Schatz“, weder in ganz jungen Jahren, noch nach der sogenannten Verheiratung. Das Verliebtsein ist auf den untersten Staffeln der Menschheit ein unbekanntes Ding, auf den folgenden kennt man darin dann gar viele Stadien und Abstufungen. Zwischen den beiden äussersten Grenzen, der blossen Sinnenlust und der vergeistigsten Liebe, läuft unverkennbar, sowohl individuell innerhalb der gesitteten Welt als ethnisch von Volksgruppe zu Gruppe, eine unabsehbare Reihenfolge feiner, oft kaum unterscheidbarer Zwischenstufen jenes geistigen Anteils, welcher ein unerlässlicher Bestandteil der Liebe ist und in der poetischen Verklärung der Geschlechtsbeziehungen gipfelt. Es ist mir ganz aus der Seele gesprochen — weil ich längst zur gleichen Überzeugung gelangte — wenn Hugo Zöller schreibt: „Die Liebe in dem Sinne, wie wir sie auffassen, ist eine Frucht unserer Kultur. Sie entspricht einer höheren Entwicklungsstufe der in unserer Natur schlummernden Anlagen, als die Negerrasse sie erreicht hat. Nicht bloss, dass jene zahlreichen Funktionen des Geistes, des Gemütes und des Herzens, welche wir unter den Begriff der Liebe zusammenfassen, dem Neger fremd sind; nein, auch in rein körperlicher Hinsicht kann man behaupten, dass sein Nervensystem nicht nur weniger reizbar, sondern auch weniger gut entwickelt sei. Der Neger liebt, wie er isst und trinkt. Aber ebenso wenig wie einen schwarzen Feinschmecker habe ich jemals einen Neger gesehen, welcher der Wollust eine idealere Seite abzugewinnen vermocht hätte.“[202] Ungescheut darf man in obigem den Neger, an welchen Zöller anknüpft, durch den allgemeinen Begriff des Wilden ersetzen, ohne sich irgendwie von der Wahrheit zu entfernen. Man darf aber auch hinzufügen: Die Liebe ist ewig wechselnd. Jedes Zeitalter, jede Geschlechtsfolge drückt ihr einen besonderen Stempel auf. So oft Männer[S. 111] und Weiber sich lieben, lieben sie sich anders als ihre Voreltern sich liebten, als ihre Nachkommen sich lieben werden. Heute schon ist in unseren Kreisen die Liebe nicht mehr, was sie vor einem Menschenalter war, und ebenso wechselt sie von Volk zu Volk. Der Italiener, der Spanier liebt in seiner höchsten geistigen Erregung immerhin anders als der Franzmann, der Deutsche anders als der Brite. Es ist nicht wahr, dass das menschliche Herz überall und immer das gleiche sei. Die menschlichen Leidenschaften sind die nämlichen, aber sie erregen in verschiedenartiger Weise das Gemüt der einzelnen Völker. Welches darunter Anspruch habe auf den höchsten Preis, ist wissenschaftlich nicht zu ergründen. Jedes vermeint ihn zu besitzen, wahrscheinlich gehört er keinem.
Übrigens können selbst schöngeistige Schriftsteller, welche in solchen Dingen allein zu Rate zu ziehen sind, weil subjektive Empfindungen nicht leicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung werden, sich der Einsicht nicht verschliessen, dass die Liebe kein dem Menschen als solchem von der Natur zugewiesenes Gemeingut sei. So sagt der bekannte Roman- und Kriegsschriftsteller Hans Wachenhusen, dem Reise-Beobachtungen in mannigfachen Länderstrichen zur Seite stehen, vom gläubigen Standpunkte ganz logisch: „Als Gott die Welt erschuf, legte er den ganzen Schwerpunkt seiner Schöpfung, um den sich diese von Anbeginn bis zu Ende drehen sollte, in die Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander. Der Mann sucht das Weib, das Weib den Mann, und wenn sie sich gefunden haben, ist der alle beide verurteilende Seelenprozess zu Ende. Die Liebe ist also nichts als eine ganz kurze Episode mit langem Vorspiel des Sehnens und endlosem Nachspiel der Nüchternheit. Die Liebe hat auch an sich keine moralische Berechtigung, nicht einmal eine historische. Moralisch nicht, weil sie nur bei Kulturvölkern durch Sublimierung eines von Hause aus ganz untergeordneten Instinktes mit der Zivilisation einheimisch geworden und sich naturgemäss in dieser wieder zu einer ganz ordinären Spekulation verflacht. Historisch nicht, weil die Heil. Schrift uns nicht sagt, dass Adam und Eva sich geliebt haben,[S. 112] sie vielmehr als zwei ganz untergeordneten Instinkten folgende Wesen hinstellt.“[203]
Unwillkürlich fragen wir nach Gründen, geeignet, die Lieblosigkeit der Urzeit einigermassen zu erklären. Einer darunter mochte wohl darin liegen, dass die Geschlechter von einander noch zu wenig differenziert, einander noch in jeder Hinsicht zu ähnlich waren, um jene tiefere Neigung des Gemütes zu erwecken, welche nicht zum wenigsten auf dem „Anderssein“ des geliebten Gegenstandes beruht. So weit ich sehe, ist der von mir schon im ersten Kapitel hervorgehobene Umstand noch nicht gehörig gewürdigt worden, dass bei niedrigen Stämmen Mann und Weib auch leiblich nur wenig unterschieden sind. Dies spricht sich zunächst deutlich in der Bekleidung aus; beschränkt, wie sie ist, zeigt sie fast gar keine Abweichung für die beiden Geschlechter. Die Haartracht, auf welche namentlich Unbekleidete hohes Gewicht zu legen pflegen, ist nicht selten bei Männern und Weibern eine sehr ähnliche, und auch die Unterschiede in Lebensweise und Beschäftigung, obwohl sehr frühzeitig auftretend, doch noch nicht gross genug, um die weibliche Individualität in ihrer so anziehenden leiblichen und seelischen Eigenart voll auszuprägen. Mit einem Worte: das Weib ist noch zu wenig Weib, um die Geistesthätigkeit des Mannes herauszufordern, sich mit ihr zu beschäftigen, und in gleichem Masse ist auch der Mann unter seinesgleichen noch zu wenig individualisiert. Klagen doch europäische Reisende selbst bei höheren Rassen, wie bei Chinesen, Japanern oder Mongolen, dass ein Einzelwesen aussehe wie das andere und dass es langer Übung bedürfe, um die Physiognomien unterscheiden zu lernen.
Die wie in der Tierwelt nur schwach mit den Kennzeichen der Weiblichkeit ausgerüsteten Wesen lassen auch in psychischer Beziehung alles vermissen, was gesitteten Epochen als ureigentümlich gilt. Von Natur ist der Mensch nicht gut im modernen Sinne, und seine Laster, wieder im modernen Sinne, sind keine[S. 113] Störungen einer göttlichen Weltordnung, sondern umgekehrt die Ordnung der Welt, die sich allerdings, aber langsam, zum Bessern entwickelt, ist Mord, Raub und Unzucht. Insbesondere ist der Mensch ein grausames Geschöpf, ein fleischfressendes Tier und somit vielfach mit Roheit und Gleichgültigkeit gegen die Leiden anderer behaftet. Nährungsweise und Erziehung vermögen eine Milderung zu bewirken,[204] aber bei vielen Wilden und Halbwilden ist eine solche Veränderung noch nicht eingetreten, und selbst in Mitte der gesitteten Gesellschaft giebt es bekanntlich noch, wie John Stuart Mill mit Recht betont, „Personen, welche von Charakter oder, wie man zu sagen pflegt, von Natur aus grausam sind, welche ein wirkliches Vergnügen daran empfinden, Schmerz zu bereiten oder bereiten zu sehen. Diese Art von Grausamkeit ist nicht blosse Hartherzigkeit oder Mangel an Mitleid oder Gewissensbissen; sie ist eine ganz positive Erscheinung, eine Art von wollüstiger Erregung.“ Dies erklärt auch, wie ich schon an einem andern Orte[205] bemerkte, warum sie in der Regel stärker aufzutreten scheint bei männlichen als bei weiblichen Individuen, und in warmen Himmelstrichen intensiver als in kälteren. Bemerkenswert bleibt auch, worauf ich bei den uns beschäftigenden Untersuchungen besonderes Gewicht legen möchte, dass, obwohl so nahe verwandt mit der Leidenschaft der Liebe, die Grausamkeit weit früher in der Lebensgeschichte des Individuums sich entwickelt. In der That sind die Kindheit und das Jünglingsalter, wenigstens in der gesitteten Gesellschaft, jene Stadien, worin die Grausamkeit am auffallendsten sich äussert. Die Ursache dafür liegt wohl darin, dass in jenem Lebensalter die einschränkende Kraft, welche in späteren Jahren die Überlegung ausübt, noch nicht zur Thätigkeit wachgerufen ist. Ebenso sind die das Jugendalter der Menschheit darstellenden Naturvölker deshalb grausam, weil die die Reflexion vertretende Kultur an ihnen noch nicht wirksam gewesen ist. Dass die Grausamkeit eine positiv tierische Seite der menschlichen[S. 114] Natur bildet, dürfte kaum irgend jemand in Zweifel zu ziehen gesonnen sein, und es ist interessant zu wissen, dass dieselbe am ähnlichsten beim Affen sich äussert.[206] Insbesondere von den Anthropomorphen hat Broderip in seinen Zoological recreations nachgewiesen, dass sie andere Tiere prügeln, ja selbst töten, obwohl sie selbst keine Fleischfresser sind.
Darnach wird es wohl niemanden in Erstaunen setzen, zu vernehmen, dass das Weib des Wilden heute noch vielfach, wie die Tigerin, den Instinkt der Grausamkeit besitzt und, wie die Löwin oft teilnimmt an den blutigen Kämpfen der Männer. Ungesprochen ist für das Weib des Wilden das schöne Frauenwort, welches Sophokles seine Antigone sagen lässt: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!“ Die französischen Schwestern der katholischen Mission in Weidah klagen, dass der jugendliche Teil der weiblichen Bevölkerung Dahomehs aus wahrhaften Tigerkatzen bestehe und weit schwerer zu erziehen sei als die Knaben.[207] Wilfried Powell erzählt von den entsetzlichen Martern und Qualen, welche die Neubritannier ihren Kriegsgefangenen aufzuerlegen pflegen. „Eine Art solcher Martern besteht darin, dass man Hände und Beine des Opfers an Stöcke im Boden festbindet und ihm Feuer auf den Leib legte. Diese teuflische Quälerei wird durch die Frauen vorgenommen, welche weit grausamer sind, als die Männer; letztere erlösen bisweilen den armen Gefangenen durch einen Speerstoss oder Beilhieb von seiner Pein, aber die Weiber lachen und jubeln dabei, stossen auch wohl den Dulder mit einem Speere, um ihn aufzustören, falls er ihnen nicht genug zuckt und heult.“[208] Wer dächte dabei nicht an die verschiedenen Sippen der Katzen, deren Weibchen an Grausamkeit den Männchen nichts nachgeben! Sogar unter Kulturnationen fehlt es nicht an Beispielen, dass Frauen blutgieriger sich zeigen als Männer.[209] Zwar verfehlt die[S. 115] vorwiegendere Pflanzenkost, auf welche das Weib sich im Laufe der Entwicklung bald angewiesen sieht, nicht, eine grössere Differenzierung der Geschlechter zu bewirken und aus dem Weibe im Durchschnitt eine immer schwächere Genossin des Mannes auf seinen rauhen Lebenspfaden zu machen; dagegen sehen wir auf tieferen Kulturstufen dasselbe ihn noch in den Krieg begleiten, Speere, Steine u. dergl. tragend und durch Zuruf aufreizend. Powell berichtet von einem Kampfe mit den Eingebornen Neubritanniens, welche standhielten, ermutigt durch die Weiber, die wie die Teufel herumsprangen und tanzten und Hohn- und Schimpfreden der ekelhaftesten Art dem Feinde entgegenschleuderten.[210] Das Gleiche berichtet der englische Forscher Joseph Thomson von dem bislang noch wenig bekannten Volke der wilden Massai in Ostafrika. Auch dort spornen die mit ins Feld ziehenden Weiber auf beiden Seiten die kämpfenden Krieger zu den kühnsten Thaten an.[211] Wie die Frauen der alten Germanen reizen auch die Kabylenweiber in Algerien durch Geschrei und Gesang zum Kampfe; bei diesem kriegerischen Volke muss das Weib eben so viel wagen und dulden als der Mann; ihr Scharfblick begleitet ihn in das Schlachtengetümmel, um über sein Betragen zu urteilen und zu richten. Die Weiber der Hesareh im Hindukusch, deren Männer keine Eifersucht kennen und welche sich dies zu nutze machen, sind stolz darauf, ein Ross mit Gewandtheit reiten und das Schwert mit gleicher Tapferkeit gebrauchen zu wissen, wie ihre kriegerischen Brüder und Gatten;[212] ihre Gegner fürchten sogar die Grausamkeit der Weiber mehr als jene der Männer.[213] Diese kühnen Reiterinnen nehmen stets Anteil am[S. 116] Kampfe und kein Mädchen heiratet, ehe es nicht eine Heldenthat vollbracht.[214] In der für Muhammed so unglücklichen Schlacht am Berge Ochod erschienen die ungeordneten aber frohmutigen Haufen der arabischen Heiden mit den Scharen der Weiber vor sich, welche ihre Pauken schlugen und das alte Kriegslied sangen:
Solcher Beispiele liessen sich noch gar viele anführen.
Endlich ist es bekannt, dass heute noch in einem Reiche des äquatorialen Afrika Weibersoldaten nichts Ungewöhnliches sind. Der König der Dahomehneger, deren eigentlicher Name Ffons ist, besitzt nämlich eine Leibgarde weiblicher Krieger, die früher 3000–8000 Köpfe stark, jetzt bloss noch 1500 Köpfe zählt, immerhin aber noch den Kern des mit Kanonen und Schiesswaffen versehenen Heeres bildet. Ich habe nach Richard Burton eine ausführliche Schilderung dieser Weibertruppe an anderer Stelle[216] gegeben und begnüge mich hier auf dieselbe zu verweisen. Dass diese Weiber tapfer sind und von ihren Waffen einen tüchtigen Gebrauch zu machen wissen, das haben anfangs der siebziger Jahre die Engländer erfahren, welche von der Meeresküste nach Dahomeh mit einem kleinen Heere einzudringen versuchten, aber von den schwarzen Weibersoldaten mit grossem Verluste zurückgeworfen wurden. Meiner Ansicht nach sehr richtig erklärt Zöller diese Vereinigung des Weiblichen mit dem Kriegerischen aus der eigentümlichen männlichen Bildung des Negerskelettes, dem nichts weniger als üppigen Körperbau und besonders der Schmalheit des weiblichen Negerbeckens, wozu dann noch das[S. 117] kurz geschorene Haar und die von jener der Männer durchaus nicht abweichende Kleidung kommen.[217]
Dass es solche Weiberregimenter auch in Indien giebt oder wenigstens noch bis in die Hälfte unseres Jahrhunderts gab, ist weniger bekannt. Eine aus jener Zeit stammende Quelle sagt vom damals noch unabhängigen Nizam von Haiderabad: „Ausser den gewöhnlichen prätorianischen Banden, die man aus Misstrauen gegen die englische Herrschaft im Solde behielt, hatte der Nizam noch vor wenigen Jahren und, so weit wir immer wissen, noch jetzt eine eigentümlich zusammengesetzte, nämlich ganz aus Weibern bestehende Wache. Diese Amazonen heissen Gardonis — wahrscheinlich aus dem europäischen Worte Garden verderbt — und sind oder waren zu der Zeit, von der wir sprechen, nämlich vor zwanzig oder dreissig Jahren, wie Sipahis gekleidet, mit Musketen versehen und bis zu einem gewissen Grade diszipliniert. Dass sie zum mindesten nicht schlechter waren als andere Haustruppen des Nizam, ergiebt sich aus dem Umstande, dass sie oft thätigen Anteil an den kriegerischen Operationen nahmen, deren Schauplatz das Gebiet des Nizam so häufig gewesen. Während des Krieges mit den Mahratten am Schlusse des vorigen Jahrhunderts nahm der Nizam Ali, als er ins Feld zog, zwei dieser weiblichen Bataillone, jedes tausend Köpfe stark, unter dem Namen Zaffer Pultuns, d. h. Siegesbataillone, mit sich. Sie nahmen Teil an dem Gefecht von Kurdlah, wo der Nizam von Daulet Rao Scindia geschlagen wurde und sie, wie die Geschichte jener Zeit meldet, zum mindesten nicht schlechter fochten, als der übrige Teil der Armee.“[218] Ja, selbst im Jahre 1885, als ein englisch-russischer Krieg auszubrechen drohte, machte die verwittwete Maharani von Baroda dem Vizekönig von Indien das Anerbieten, auf eigene Kosten ein Amazonenkorps aus Maharattifrauen bestehend aufzustellen und zu unterhalten.[219]
Wenden wir den Blick nach unserem eigenen Weltteile, so[S. 118] fällt selbst in der Gegenwart dem Weibe des Tschernagorzen im Kriege noch eine besondere Rolle zu, denn es wird zum Transport der Bagage, selbst bis mitten ins Feuergefecht hinein, verwendet. Die Heldengesänge der Südslaven vollends haben das Charakteristische, dass sie das verherrlichte Weib immer auch als Heldin darstellen. Sie muss Türken massakrieren und Köpfe abschneiden und auf das Schlachtfeld gehen wie unsere Frauen auf den Marktplatz. Bei den Bulgaren vermag manches junge Mädchen dem Drange zum Haidukentume nicht zu widerstehen. Sie legen dann Männerkleider an, ergreifen die Waffen und teilen, manchmal gekannt, manchmal auch nicht gekannt, mit ihren männlichen Genossen getreulich Kampf und Ungemach, und manche von ihnen, wie die heldenmütige Syrma aus dem bulgarischen Dorfe Tresanatz, schwang sich durch hervorleuchtende Tapferkeit sogar zur Harambaschenwürde empor.[220] Als letzte Ausläufer dieser dem[S. 119] Manne es gleichthuenden kriegerischen Thätigkeit der Weiber mögen jene zwar sporadischen, aber immerhin zahlreich genug auftretenden Beispiele von Frauen und Mädchen sein, welche aus Begeisterung fürs Vaterland die Waffen ergriffen. Spanien, Italien und Frankreich — man darf nur an Jeanne d’Arc erinnern — haben mehrere solcher Heldinnen aufzuweisen. Weibliche Soldaten der Fortuna fehlen auch bei den Deutschen nicht ganz und auch hier hat die Zeit der Befreiungskriege die meisten und bekanntesten der grösstenteils unter Verheimlichung ihres Geschlechtes kämpfenden „Frauen in Reih und Glied“ hervorgebracht.[221]
Wenn wir in der Tierwelt Umschau halten, so zeigt sich gar bald, dass in dieser den weiblichen Individuen es keineswegs an Mut gebricht, und zwar nicht etwa bloss da, wo die Sorge um die Brut in Frage kommt. Im Angriff wie in der Verteidigung steht das weibliche Tier dem Männchen an Kampfeslust nur wenig nach. Das Weib des Wilden bewegt sich vielfach noch auf dieser, von der Natur gegebenen Stufe. Wie die Liebe ist auch der durchschnittliche Mut- und Tapferkeitsmangel des Weibes nichts Ursprüngliches, sondern erst ein künstliches Erzeugnis, eine Folge der Gesittung, welche, wie in so vielen anderen Dingen,[S. 120] schliesslich als unweiblich brandmarkte und durch Vererbung unterdrückte, was meist natürlich war, in der Heranbildung anderer, sekundärer Eigenschaften Ersatz suchend und findend. Überbleibsel „barbarischer“ Sitten, wie wir jetzt sagen, haben sich aber, wie das Vorstehende lehrt, selbst noch zu höher stehenden Völkern und in uns nahe gerückte Epochen hinübergeflüchtet, und zahlreiche Sagen weisen in den verschiedensten Gegenden auf eine ähnliche Vergangenheit zurück. Weil die scheinbare Umkehrung der Gesetze, welche die Geschlechtsverschiedenheit der menschlichen Kulturentwicklung vorschreibt, immer lebhaft die Phantasie beschäftigt hat, so haben schon die Alten einen Staat kriegerischer Weiber erdichtet, dessen Heimat freilich nach Massgabe der Zunahme geographischer Kenntnisse immer weiter zurückweicht, in welchem aber, wie sich zeigen wird, wenn auch durch die Sage verhüllt und entstellt, das Spiegelbild eines längst entschwundenen Gesellschaftszustandes sich erkennen lässt. Bedenkt man nun, wie selbst Europäerinnen, die sich männlichem Sport hingeben, dadurch an weiblicher Anmut verlieren, um einigermassen Viragines zu werden, bedenkt man, wie sehr und wie oft dies der Annäherung hinderlich wird, so begreift sich, dass das vom Manne körperlich noch wenig differenzierte Weib der Urzeit, kräftig, mutig und grausam wie er, seinem geistig entwickelten männlichen Genossen in keiner Weise begehrenswerter erschien, als es die Natur zur Erfüllung ihrer Zwecke, hier wie im Kreise aller Lebewesen, gebot. Damit erklärt sich aber auch, wie ich glaube, die Liebelosigkeit der Urzeit.
[160] Aristoteles. Rhetor. 2, 4.
[161] Leibniz. Nouv. Essais II. 20 § 4.
[162] Karl Bleibtreu. Schlechte Gesellschaft. Realistische Novellen. Berlin, 1886. S. 33.
[163] Dr. H. Ploss. Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Bd. I. S. 240.
[164] Henri Rabusson in der Revue des deux Mondes vom 15. Oktober 1883. S. 746.
[165] Leopold von Sacher-Masoch. Vermächtnis Kains. Die Liebe. Marzella. Stuttgart, 1870. Bd. II. S. 409.
[166] Dieselbe schrieb in ihrem Tagebuche: „Am 20. Mai küsste mich R. zum erstenmale. Ich fühlte mich wie in einem Kübel mit Rosen, die in Honig, Eau de Cologne und Champagner schwammen; als ob etwas auf Diamantenfüssen über meine Nerven liefe und viele kleine Gondeln mit Engeln durch meine Adern strömten und als ob durch meinen ganzen Körper ein magisches Regenbogenlicht sich ergösse!“ —
[167] Hosea 13, 2.
[168] Bernhard Stade. Geschichte des Volkes Israel. Berlin, 1887. Bd. I, S. 489.
[169] Adolphe Belot. La bouche de Madame X. Paris, 1883. S. 106–117.
[170] H. de Molière. Code l’amour ou corps complet de définitions, lois, règles et maximes applicables à l’art d’aimer et de se faire aimer. Brüssel, 1829. S. 14. Im Deutschen giebt es „Das Buch vom Küssen“, ferner: „Der Kuss und das Küssen. Eine Studie von Liebrowicz“, Schriften, die ich jedoch nicht selbst kenne. Eine gelungene Charakteristik der Kussarten gewährt endlich Lessings Gedicht: „Der Kuss“.
[171] Jos. V. von Scheffel. Der Trompeter von Säkkingen. Stuttgart, 1872. S. 195.
[172] Globus. Bd. XVII. S. 297.
[173] Peschel. Völkerkunde. S. 236.
[174] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. II. S. 60. Bloss an einzelnen Orten, wie z. B. Lagos, Gabun u. s. w. ist durch den Einfluss der Europäer die Sitte des Küssens auch unter den Schwarzen verbreitet worden. A. a. O. S. 71.
[175] Ausland. 1871. S. 832–833.
[176] Darwin. Der Ausdruck der Gemütsbewegungen. S. 196.
[177] Siehe darüber: Richard Andree im „Globus.“ Bd. XXXI. S. 151.
[178] Globus. Bd. XVIII. S. 64.
[179] James Sibree. Madagaskar. Geographie, Naturgeschichte, Ethnographie der Insel. Autorisierte deutsche Ausgabe. Leipzig, 1881. S. 233.
[180] Gustav Kreitner. Im fernen Osten. Reisen des Grafen Béla Széchenyi in Indien, Japan, China, Tibet und Birma in den Jahren 1877–80. Wien, 1881. S. 522.
[181] Jules Arène. La Chine familière. Paris, 1883.
[182] J. J. Rein. Japan nach Reisen u. Studien. Leipzig, 1881. Bd. I. S. 494.
[183] Bousquet. Le Japon de nos jours. Bd. I. S. 93.
[184] Ausland. 1862. S. 471. 472.
[185] In einem Hochzeitsgedichte der siebenbürgischen Zigeuner ist vom „Kuss auf den weissen Mund“ die Rede. (Globus Bd. XXXVI. S. 91.) Auch finde ich von ihnen ein Sprichwort verzeichnet, welches lautet: „Das ist wie ein Kuss, nichtsnütz, wenn es nicht zwischen zweien geteilt wird.“ (Beilage zur Wiener Abendpost vom 18. Juli 1876. S. 647)
[186] Globus. Bd. XVII. S. 170.
[187] Friedrich Ewald im Globus Bd. IX. S. 267: Wie eigentümlich lautet nicht z. B. die (buchstäblich wahre) Geschichte von jenem Bauern, der gegen seinen Prediger sich über das schamlose Benehmen seiner Frau beklagte und auf die Frage, worin sich denn dasselbe äussere, zögernd zur Antwort gab: „Ja, sehn Se, neelich, als ick ruhig in de Kök (Küche) seet, do geef si mi mit eenmal, mit Erlaubnis to seggen, ’n Kuss!“
[188] Zöller. Pampas und Anden. S. 392.
[189] Sir Samuel White Baker. The Albert Nyanza, great basin of the Nile. London, 1866. Bd. I. S. 219.
[190] Ausland. 1871. S. 832–833.
[191] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. II. S. 60.
[192] Helmuth von Moltke. Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835–1839. Berlin, 1876. S. 34.
[193] Kuntze. Um die Erde. S. 253.
[194] Ausland. 1860. S. 64.
[195] Die Natur. Halle, 1866. S. 30 ff.
[196] Brodie Cruickshank. Eighteen Years on the Gold Coast of Africa. London, 1853. Bd. II. S. 208–210: Ein Fantivater verweigert seinem Sohne ein Mädchen, das ihm verpfändet war, und entschliesst sich endlich sie selbst zum Weibe zu nehmen. Er quält sie nunmehr mit Eifersucht hinsichtlich seines Sohnes, den er bevorzugt glaubt, und infolge dessen lässt sich letzterer von seiner Stiefmutter bewegen, ihrem Leben zugleich mit dem seinigen ein Ende zu machen: er erschiesst sie und versucht sich selbst den Hals abzuschneiden; doch misslingt ihm dies und er stirbt durch den Strang. Ein anderer erdolcht Weib und Kind und bringt zuletzt sich selbst um, aus Verzweiflung darüber, jene an seinen Gläubiger verpfänden zu müssen, den er nicht zu befriedigen vermochte.
[197] Davis. Evenings in my tent or wanderings in Balad Ejjareed. London, 1854. Bd. I. S. 232.
[198] Ausland. 1857. S. 888.
[199] Globus. Bd. XLIII. S. 185.
[200] H. H. Johnston. Der Kongo. Reise von seiner Mündung bis Bolobo. Leipzig, 1884. S. 375.
[201] A. a. O. S. 376.
[202] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. II. S. 69.
[203] H. Wachenhusen. Geschichten aus dem Badeleben. Stuttgart, 1875. S. 165–166.
[204] Globus. Bd. XXI. S. 335.
[205] Hellwald. Kulturgeschichte. Dritte Aufl. Bd. II. S. 355–356.
[206] Londoner Nature. Bd. IX. S. 149.
[207] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. I. S. 28.
[208] Powell. Unter den Kannibalen von Neubritannien. S. 80.
[209] Als 1880 der amerikanische Sozialistenführer Kearny an der Spitze der „Arbeiterpartei“ in San Francisko eine wilde Chinesenhetze zu Wege brachte und Geld sammelte für die Errichtung ständiger Chinesengalgen auf den Sandlots, schien seine Parteigängerin Anna Smith selbstloser zu sein, denn sie forderte in öffentlicher Rede auf, nicht bis zu Fertigstellung jener Galgen zu warten, sondern die schon vorhandenen Laternenpfähle sofort zu benutzen. Frauen sind aber immer auch sparsamer. Siehe: Newyorker Staatszeitung vom 6. März 1880.
[210] Powell. A. a. O. S. 122.
[211] Thomson. Durch Massailand. S. 391.
[212] J. P. Ferrier. Caravan Journeys and Wanderings in Persia, Afghanistan, Turkistan and Beloochistan. London, 1857. S. 194.
[213] A. a. O. S. 237.
[214] A. a. O. S. 252.
[215] A. Müller. Der Islâm im Morgen- und Abendlande. Berlin, 1885. Bd. I. S. 123.
[216] Hellwald. Naturgeschichte des Menschen. Stuttgart, o. J. Bd. II. S. 149. Die neueste Schilderung der Dahomeh-Amazonen verdanken wir Hugo Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. I. S. 42–46.
[217] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. I. S. 43. Bd II. S. 82.
[218] United Service Magazine vom April 1870.
[219] Schwäbischer Merkur vom 23. Mai 1885.
[220] Von ihr wird heute noch im Volke gesungen:
[221] Am bekanntesten ist vielleicht jene Eleonore Prohaska (geboren zu Potsdam am 11. März 1785), welche unter dem Namen August Benz als freiwilliger Lützowscher Jäger diente und in der Schlacht bei der Göhrde am 16. September 1813 tötlich verwundet mit dem Ausrufe fiel: „Herr Lieutnant, ich bin ein Mädchen!“ Zahlreiche Beispiele solcher Fälle finden sich gesammelt bei: Dr. Wilhelm Stricker. Die Amazonen in Sage und Geschichte. Berlin, 1868.
[222] wie ja auch die Vierhänder thun. Lange über die Periode der Sprachlosigkeit hinaus mochte der nur langsam von Errungenschaft zu Errungenschaft sich forttastende Urmensch ausschliesslich in den Banden gröbster Sinnlichkeit liegen, während die seelischen Prozesse, welche das höher gestiegene Menschentum bewegen, zuerst gar nicht vorhanden waren und später noch, bei ihrer sehr allmählichen Entwicklung, bloss eine höchst untergeordnete Rolle spielten. Und dies trifft selbst heute noch zu bei ganz niedrigen Rassen, welche thatsächlich in ordnungs- und zusammenhangslosen Haufen oder Horden leben, wie die südamerikanischen Pescheräh. Von einer Gliederung in Sippen oder Stämme ist auf urzeitlicher Stufe nichts zu bemerken, noch viel weniger Spuren von dem, was wir mit einem fremden Worte und im weitesten, noch unbestimmtesten Sinne die „Familie“ nennen. Ein Bedürfnis, eine[S. 122] Veranlassung zur Bildung einer Familie besteht für den einzelnen nicht, und auch die Gesellschaft hat noch keinen Anlass, auf jene hinzuleiten. Keiner hat etwas, das er den Kindern mitteilen könnte; er besitzt weder ein geistiges, noch ein materielles Eigentum, das er den Seinen vererben möchte. Alle sind gleich, alles ist gemeinsam; die Horde bildet eine in sich völlig gleichförmige Einheit, sie ist selber die Familie, die in ihrem Innern noch keine besonderen Trennungen erträgt.[223] Natürlich wäre es ein schwerer Irrtum, wollte man darunter etwas auch nur im Entferntesten den dermaligen Vorstellungen von der Familie Annäherndes verstehen. Es beruht auf einem beklagenswerten Mangel an sprachlichen Unterscheidungen, dass man genötigt ist, mit dem nämlichen Worte zwei einander nicht im mindesten denkende Begriffe zu bezeichnen.
weifellos hat von allem Anfange an der Mensch zu den geselligen Geschöpfen gehört. Sind doch gerade diese Triebe bei seinen nächsten Verwandten im Tierreiche besonders stark entwickelt. Wohl darf man daher schon den sprachlosen Urmenschen zu Herden vereinigt denken, die bei dem Mangel natürlicher Waffen in der Eintracht ihre Stärke suchten,In den Geschlechtsgenossenschaften der Urzeit, wie man nach dem Vorgange Albert Posts[224] die ältesten Menschenvereinigungen nennen kann, hat die Familie in unserem Sinne also nicht bestanden und konnte auch nicht bestehen. Auch die mosaische Überlieferung, welche in die Urzeiten zurückführt, weiss nichts von der Familie. Nirgends meldet die Bibel, dass die vorsintflutlichen Menschen Familien gebildet hätten. Gen. 4 und 5 geben allerdings Geschlechtsregister, die aber keineswegs unsere Familie zwingend voraussetzen. Ebensowenig ist darin von der „Ehe“, noch welcher Art diese gewesen, die Rede. Auch diese hat es in den Urzeiten nicht gegeben. Durchaus zutreffend sondert Lippert scharf die Paarung oder den Geschlechtsverkehr von der Ehe als Gesellschaftsform im engsten Sinne; der Geschlechtsverkehr beruht auf einem Antriebe des allerursprünglichsten Instinktes und hat daher seit jeher stattgefunden; die Ehe als Grundlage der Familienorganisation welcher Art immer ist eine Schöpfung gesellschaftlicher Fürsorge, wie sie die Urzeit noch nicht kannte. Beide, Paarung und Ehe, stehen nach Entstehung und[S. 123] Zweck weit auseinander.[225] Der folgenschweren Verwechslung dieser beiden Begriffe scheint sogar Darwin nicht entronnen zu sein, insofern er davon spricht, dass in der Urzeit „alle Erwachsenen sich verheiratet oder gepaart haben“ werden.[226] Letzteres ist sicher, ersteres aber um so weniger, als sogar im heutigen Kreise grösster Kulturarmut die Ehe fast unbekannt und nur die Paarung unter den Schutz gewisser, oft sehr wenig drückender Sitten gestellt ist. Die nämliche Verwechslung der Begriffe „Geschlechtsverkehr“ und „Ehe“ begeht auch Dr. Wilhelm Schneider, der doch „Missverständnisse“ und „Missdeutungen“ in der Völkerkunde beseitigen will. Nur indem er beides vermengt, kann er versuchen, die Ehe als eine allgemeine Einrichtung (göttlichen Ursprungs) zu verteidigen.
Mag man übrigens betreffs der lebenden Rassen sich zu dieser Frage stellen wie man wolle, für die Urzeit kommt wohl nur der Geschlechtsverkehr in Betracht. Wie hat sich dieser gestaltet, das ist die Frage. Selbstredend waren viele Verhältnisse, in denen der Urmensch lebte, verschieden von denen, welche jetzt bei Wilden anzutreffen sind. Nach Analogie mit niederen Tieren, urteilt Darwin, dürfte er damals entweder mit einem einzigen Weibe oder als Polygamist gelebt haben.[227] Der britische Forscher stützt diese seine Ansicht auf die Lebensgewohnheiten der Vierhänder, die allerdings in einem ungemein weit gespannten Rahmen sich bewegen und dabei der freiesten Auffassung Spielraum gönnen. Beachtenswert ist indes, dass gerade die menschenähnlichsten unter ihnen, die Troglodytes-Arten, welche sich auch durch den Bau eines künstlichen Obdaches uns nähern, in grösserer „Sittenreinheit“ glänzen. Dass sich auch bei anderen Tieren strenge Paarung findet, ist schon an gehöriger Stelle erwähnt. Mit Unrecht werden aber zu diesen auch Huftiere und Wiederkäuer gezählt, welche in Rudeln oder Herden leben und damit den urzeitlichen Geschlechtsgenossenschaften sozial ziemlich nahe[S. 124] stehen. Dieserhalb und aus verschiedenen andern Gründen hat eine nicht unbeträchtliche Reihe angesehener Forscher geschlossen, dass Weibergemeinschaft, allgemeine Vermischung, oder Promiskuität, die urwüchsigste Form des Geschlechtsverkehres gewesen sei. Alle Weiber einer Horde seien Gemeingut aller Männer gewesen. J. J. Bachofen, dem trotz mannigfacher Irrtümer das unbestreitbare Verdienst gebührt, die schwierige Frage der Ehe- und Familienentstehung zuerst beleuchtet zu haben,[228] hat für den „hässlichen Gedanken“,[229] wie Peschel ihn nannte, die Bezeichnung „Hetärismus“ vorgeschlagen. Trotz der gegen diesen Ausdruck vorgebrachten, nicht ungegründeten Bedenken[230] würde derselbe indes, meines Dafürhaltens, noch weitaus jenem der „Gemeinschaftsehe“ (Communal marriage) vorzuziehen sein, welchen der verdiente Erforscher der Urzeit, Sir John Lubbock, dafür gewählt hat.[231] Er scheint mir ganz besonders deshalb unzutreffend, weil er durch die Herbeiziehung des Wortes „Ehe“ die Vorstellung erweckt, als ob irgend etwas wie eine Ehe, wenn auch in schnödester Ausdehnung des Begriffes, ursprünglich existiert habe.
Obwohl Darwin zugiebt, „dass eine beinahe allgemeine Vermischung einmal äusserst verbreitet auf der ganzen Erde war,“[232] so scheint ihm doch allgemeine Vermischung der Geschlechter im Naturzustande äusserst unwahrscheinlich, ganz besonders nach dem, was wir von der Eifersucht aller männlichen Säugetiere wissen.[233] Ganz abgesehen von der grossen Schar der durch dogmatische Anschauungen mehr oder weniger beeinflussten Gelehrten, hat aber auch Karl Kautsky, dem wir ein scharfsinniges Werk über Volksvermehrung verdanken, die Weibergemeinschaft[S. 125] verworfen und als urwüchsigste Form des Geschlechtsverkehrs die Monogamie erklärt, wofür er den Grund in der ursprünglichen Gleichheit zwischen Mann und Weib sucht.[234] Dabei ist jedoch, wie er selbst sofort beifügt, an Ehen in unserem Sinne nicht zu denken. Sowie die Geschlechtsverbindungen im Urzustande formlos eingegangen wurden, so waren sie auch ohne Umstände jederzeit wieder löslich und zwar sehr leicht löslich. Solche Verbindungen nennt Kautsky hetäristische, seine Monogamie fällt also mit Hetärismus zusammen und solche Bündnisse als Monogamie zu bezeichnen, scheint mir ebenso unstatthaft als die Bezeichnung derselben als Ehen, wie seitens Kautskys geschieht. Derselbe trägt auch dem Liebemangel der Urzeit viel zu wenig Rechnung oder vielmehr er schlägt, wie ich glaube, die zarteren Regungen jener Urmenschen viel zu hoch an, wenn er ihre geschlechtlichen Vereinigungen den Freundschaftsbündnissen unserer Tage gleich erachtet. Freundschaftsbündnisse sind allerdings nicht unlöslich, aber doch ihrer Natur nach nicht leicht löslich, weil sie eben sonst keine Freundschaftsbündnisse wären. Erwägt man, dass der Eifersucht der männlichen Individuen deren unbestreitbaren und stark ausgeprägten polygamen Triebe gegenüberstehen, welche weder Darwin noch Kautsky und andere genügend berücksichtigen, so wird man weniger geneigt sein, Kautskys idealerer Auffassung des Hetärismus zuzustimmen. Für eine ursprüngliche Ungebundenheit des Geschlechtsverkehrs beim Urmenschen (Promiskuität) sprechen sich auch die Mehrzahl der mit dem Gegenstande vertrauten Forscher aus, unter andern der in Deutschland noch so gut wie unbekannt gebliebene Niederländer G. A. Wilken,[235] dessen Arbeiten ich einen grösseren Wert als allen übrigen zuerkennen muss, weil er von allen „Urstandsphilosophen“, wie Dr. Schneider sie spöttisch nennt, der einzige ist, dem ein jahrelanger Aufenthalt und genaue persönliche Be[S. 126]obachtungen inmitten barbarischer Völkerschaften zur Seite stehen. Freilich, eine schrankenlose Vermischung, wie sie etwa Sir John Lubbock und schon vor ihm Mc Lennan, Bachofen und Morgan annahmen, wonach jeder Mann physische Rechte über alle Weiber gehabt hätte, jedes Weib dem Manne unterschiedslos zu Willen gewesen wäre, eine solche Vermischung hat gewiss niemals bestanden. Dem widerspricht schon das Beispiel der Herdentiere, das Vorbild der urzeitlichen Geschlechtsgenossenschaften. Niemals findet da Verkehr zwischen den Gliedern verschiedener Herden statt, und wenn dies ausnahmsweise geschieht, so wird der abtrünnige Teil durch Ausstossen aus der Herdengemeinschaft bestraft. Der Hetärismus war also sicherlich auch beim Urmenschen zunächst auf die eigene Geschlechtsgenossenschaft beschränkt, und diese müssen wir uns anfänglich als ziemlich wenig zahlreich denken. Obendrein verhielten sich die einzelnen Herden, wie dies der Kampf ums Dasein eben mit sich bringt, meist feindlich gegen einander. Die Paarung konnte also nur innerhalb der Geschlechtsgenossenschaft und auf friedlichem Wege vor sich gehen. Darwin und Kautsky, deren Anschauung auch Mantegazza sich anschliesst, haben also unzweifelhaft Recht, die angebliche Weibergemeinschaft der Urzeit zu verwerfen, denn in einer menschlichen Gesellschaft konnte sie nie als dauernder Zustand existieren.[236] Ursprünglich, d. h. von Natur aus war das Weib sicher nicht Sklavin, sondern wenn auch der körperlich schwächere Teil, doch die freie Genossin des Mannes, der um ihre Gunst buhlen musste,[237] wie überall in der Natur. Wahr, der innere Trieb ist fast bei allen Männern der Erde polygam und fast bei allen Weibern polyandrisch;[238] immerhin lässt der urzeitliche Hetärismus nicht anders sich auffassen, als dass einfach noch keine[S. 127] Normen aufgestellt waren, welche das Paaren regeln sollten, dieses vielmehr ausschliesslich von dem Willen der betreffenden Individuen während der Herrschaft dieser Gesellschaftsform abhing. Schon vor Kautsky hat M. Kulischer in Kijew, dem wir wertvolle Untersuchungen über die geschlechtlichen Urzustände verdanken, wahrscheinlich gemacht, dass die Zeitdauer des Zusammenlebens zweier Individuen unbestimmt war, dass dasselbe nach Belieben gelöst und von denselben Personen mit andern aus der nämlichen Gemeinschaft aufgenommen werden konnte.[239]
Derart umgrenzt und eingeschränkt verliert die Ungebundenheit der Urzeit sehr viel von dem gesitteten Begriffe des Widerwärtigen, wogegen so heftig die Milch frommer Denkungsart eifert. Eine weitere Einengung erfährt dieselbe dadurch, dass das Paaren, wie Kulischers Ausführungen ungemein glaubhaft erscheinen lassen, nur zu einer gewissen Zeit im Jahre stattfand.[240] Nicht wie später erstreckte sich dasselbe auf alle Zeiten des Jahres; wenn auch der Urmensch gleich uns das menschliche Vorrecht gehabt haben mag, in jedem Klima und jeder Jahreszeit seine Lust befriedigen zu können, so stellte sich der Paarungstrieb doch vornehmlich in jener Zeit ein, als er auch in der Tierwelt erwacht, nämlich im Frühjahre und zur Erntezeit. Vielleicht klingt eine Erinnerung an jene entfernten, längst entschwundenen Zustände in der hellenischen Sage von den Amazonen nach, welche der Erhaltung ihres mythischen Staates wegen nur im Frühjahre mit den Männern der Nachbarländer Umgang pflogen. Bei einzelnen Völkern hat sich die Sitte der Paarung im Frühlinge und zur Erntezeit sogar noch bis in unsere Tage bewahrt, und auch wo sie untergegangen, weisen mitunter symbolische Handlungen auf jenen Urzustand zurück. Dies hat Kulischer sogar für vorgerücktere Zeiten bei den gesitteten Nationen unseres Erdteiles sehr schön nachgewiesen.[241] Sicher ist auch, dass wir mitten im Kulturbereiche, ebenso wie die Menschen der vormetallischen Zeit, den Stachel[S. 128] der Sinne im Frühjahre und Sommer schärfer empfinden,[242] und statistische Erhebungen lassen darüber keinen Zweifel, dass eben um diese Zeiten der Paarungstrieb am stärksten thätig ist. Um wie viel mehr erst in der Urzeit, als der Mensch der Tierwelt noch um so viel näher gerückt war! Wie in dieser war die Paarung damals kein Geheimnis, die ganze Geschlechtsgenossenschaft vollzog sie öffentlich, aber nur in den gedachten Zeiten. Man sieht, wenn auch bei noch fehlender Zügelung durch geistige Thätigkeit in den Banden grösster Sinnlichkeit gefangen, frönte der Urmensch nicht etwa heftiger oder leidenschaftlicher dem erotischen Triebe als seine fortgeschritteneren Nachkommen. Eine Verstärkung dieser Ansicht läge in meiner Vermutung, wonach dem Urmenschen bei gröber organisiertem Nervensystem auch die physischen Freuden geschlechtlicher Umarmungen in bescheidenerem Grade zugemessen waren. Giebt es doch in der Gegenwart Völker, welche, wenigstens weiblichen Teils, nur geringen Hang zu erotischen Genüssen haben, wie z. B. die im Geschlechtsakte phlegmatischen Karibinnen,[243] ja die sich sogar unendlich kalt und eisig bezeigen, wie nach Dr. Otto Finschs Mitteilungen die Frauen und Mädchen auf der Karolineninsel Ponape.[244] Dem Manne der Urzeit konnte hinwieder das Weib, körperlich wie physisch von ihm wenig differenziert, ihm ähnlicher, nicht anders begehrenswert erscheinen als in dem, was jede gewähren konnte, während auch dem Weibe, dessen Urtrieb es ohnehin im allgemeinen unwiderstehlich zum Gewöhnlichen, zum Dutzendmenschen hinzieht, ein besonderes männliches Individuum kaum beglückenswerter erscheinen mochte, als ein anderes, sofern nicht Gesundheit und Körperkraft in Frage kamen. Zu gleichem Ergebnisse gelangt wohl auch Darwin in Bezug auf die Urzeit. „Wenn,“ so sagt er, „den Frauen ebenso wie den Männern gestattet wurde, irgend welche[S. 129] Wahl auszuüben, so werden beide Geschlechter sich ihren Gatten gewählt haben, und zwar nicht um geistige Reize oder grossen Besitz oder soziale Stellung, sondern beinahe einzig und allein der äusseren Erscheinung nach.“[245] Der grosse britische Forscher, der alle seine bisherigen Gegner um Haupteslänge überragt, urteilt weiter, dass in der Urzeit alle Bedingungen für geschlechtliche Zuchtwahl viel günstiger gewesen sein dürften, wie in einer späteren Periode, als der Mensch, in seinem geistigen Vermögen vorgeschritten, aber in seinen Instinkten zurückgegangen war.[246]
Aus dem Gesagten lässt sich, denke ich, schliessen, dass es nicht gut angeht, monogame Zustände an der Wiege unseres Geschlechts vorauszusetzen, nicht einmal wenn man sie mit Kautsky zu „hetäristischen Ehen“ abschwächt, ebensowenig einfache Vielweiberei, wenn darunter die mehr oder weniger geregelte Polygamie der Gegenwart verstanden wird. Was Platz griff, war wohl ungeregelte Polygamie, welche aber ziemlich naturgemäss Polyandrie nach sich zieht und aus dieser Vermischung jenen ehelosen Geschlechtsverkehr schuf, für welchen noch die richtige Benennung fehlt. Das Wort „Hetärismus“ brandmarkt den „ausserehelichen“ Verkehr der Geschlechter. Von solchem kann man aber nicht reden, so lange es noch keine „Ehe“ giebt. Versteht man unter „Ehe“ mit Professor Friedrich Ratzel „das stillschweigende oder vertragsmässig formulierte Übereinkommen zwischen Mann und Weib, einen gemeinsamen Hausstand zu begründen und in demselben ihre Kinder aufzuziehen“,[247] so ist sogar innerhalb dieser weiten Grenzen in der Urzeit davon keine Rede. Mit Recht besteht daher Lippert darauf, dass der Name „Ehe“ in dem angedeuteten Sinne einer jüngeren gesellschaftlichen Schöpfung vorbehalten bleibe.[248] So müssen wir denn ehelose Geschlechtsgenossenschaften für die ältesten geselligen Menschenvereinigungen halten, in welchen, wie sich von selbst ergiebt, man weder von[S. 130] Blutschande noch von Keuschheit wusste. Auch diese beiden Begriffe gehören einem jüngeren Zeitalter an. Dass den Ehezeiten eine solche Periode grösserer Ungebundenheit, wenn auch keineswegs schrankenloser Vermischung, voranschritt, leuchtet wohl auch durch die Worte der Bibel hindurch, wo es heisst: „Da sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten.“[249]
Nirgends mehr in unseren Tagen trifft man eine völlige Ungebundenheit als Grundlage einer Gesellschaft oder als tägliche Gewohnheit in den geschlechtlichen Beziehungen, selbst nicht auf den niedersten Staffeln der menschlichen Stufenleiter. Dürften wir indes geschichtlichen Nachrichten trauen, so hätte es im Altertume an Völkern nicht gefehlt, welche in gänzlicher Vermischung lebten, und bei welchen die Weiber einen Gemeinbesitz des Stammes bildeten. Strabo erzählt dies von den Massageten und den afrikanischen Troglodyten, was Diodor von Sizilien bestätigt; Mela, Plinius, Solinus und Martianus Capella von den Garamanten, Xenophon endlich von den Mösinöken, welche den Kriegern des Kyros durch die Öffentlichkeit ihrer Umarmungen Ärgernis gaben. Nikolaus von Damaskus bezeugt die Weibergemeinschaft bei den Liburnern und den Galaktophagen. Sextus Empirius behauptet das Nämliche von einigen indischen Stämmen, ohne jedoch deren Namen zu nennen. Von den Mäaten berichtet Dio Cassius, dass sie ebenfalls ihre Frauen in Gemeinschaft besassen und alle Kinder gemeinschaftlich auferziehen liessen.[250] Die Agathyrsen, die südlichen Nachbarn der Skythen, lebten, alles nach Herodot, mit den Weibern insgemein, damit sie alle Brüder untereinander seien und als Verwandte keiner wider den andern Neid oder Feindschaft hegten.[251] Von den Nasamonen berichtet der nämliche Herodot: „Weiber hat jeder in grosser Zahl, aber den Umgang mit ihnen pflegen alle Männer insgemein. Wer zu einer Frau will, der stellt seinen Stab vor ihre Thüre und wohnt ihr bei, ähnlich wie bei den Massageten. Freiet ein Nasamone sein[S. 131] erstes Weib, so ist es Brauch, dass sich die junge Frau in der ersten Nacht allen Hochzeitsgästen der Reihe nach hingiebt und jeder der ihr beiwohnt, giebt ihr ein mitgebrachtes Geschenk.“[252] Und von den äthiopischen Ausern am Tritonissee sagt er gar: „Die Weiber sind alle gemein; Ehen kennen sie nicht, sondern sie kommen zusammen, wie das Vieh. Hat ein Weib ihr Kind aufgenährt, so kommen im dritten Monat hernach die Männer zusammen, und welchem Manne das Kind ähnlich sieht, der gilt für den Vater.“[253] Bei aller Ehrfurcht vor dem Vater der Geschichte möchte ich diese Angaben, so bestimmt sie auch klingen, doch durchaus nicht an sich für beweiskräftig erklären, denn Völkerkunde ist niemals die starke Seite der Alten gewesen und wenn wir uns vergegenwärtigen, welch unsinnige Fabeln noch vor wenigen Jahrhunderten über entfernte Völker bei uns in Umlauf waren, so dürfen wir dies den Alten um so weniger verargen; dafür haben wir das Recht, ihnen gegenüber misstrauisch zu sein, zumal ihre Berichte ausnahmslos solchen Völkern gelten, welche am äussersten Rande der damals bekannten Erde, abseits vom Weltgetriebe standen.
Haben wir die schrankenlose Vermischung schon für die Urzeit als unglaubwürdig zurückgewiesen, so wäre es selbstredend vergeblich, um Beispiele derselben im heutigen Kreise der kulturarmen Menschheit sich umzusehen. Immerhin kennt die letztere Verhältnisse, Zustände und Sitten, welche die urzeitliche Ehelosigkeit sehr nahe streifen. Unter dem Einflusse einer dem Glaubensbedürfnisse zugänglicheren Zeitströmung hat sich indessen in Deutschland neuerdings eine Ethnologenschule aufgethan, welche die Benutzung dieser Fingerzeige verwehren will und es als leichtsinnig und unwissenschaftlich erklärt, von den heutigen Wilden auf den Urmenschen zu schliessen. Diese Schule merkt nicht, dass sie im Grunde ganz das Nämliche thut, indem sie sich bestrebt, von den Barbaren der Jetztzeit jeden Makel möglichst zu entfernen, dort aber, wo dies unthunlich, für eine örtliche Verirrung auszugeben,[S. 132] welche eben keine Schlüsse zulässt. Auch die sogenannten „Rudimente in Brauch und Sitte“, sowie die „Nachklänge in Mythe und Sage“ sollen nichts beweisen, da sich die Entstehung derselben vielfach recht wohl auf andere Weise erklären lasse. Uns diese andere Erklärung mitzuteilen, damit befassten sich diese Völkerkundigen nicht; sie sind mit dem Reinwaschen, mit dem Emporziehen ihrer Pfleglinge, der Wilden und Halbwilden, vollauf beschäftigt. So stehen denn den älteren Angaben über Barbarei, Grausamkeit, Hartherzigkeit, Sinnenlust und Unkultur für ein und das nämliche Volk aus neuerer Zeit Zeugnisse von Milde, Liebesgefühlen, Enthaltsamkeit, Treue und Sittsamkeit, kurz einer bunten Musterkarte aller Tugenden entgegen. Die älteren und auch die ungünstig lautenden Berichte Neuerer beruhen eben auf ungenauen Beobachtungen, so sagt man, ohne für die Richtigkeit der widersprechenden Angaben die geringste Bürgschaft zu bieten. Sie bezwecken insgesamt, die Ungesitteten der Gegenwart in unserer Achtung zu heben, weil ganz unabwendbar ein günstigerer Rückschluss auf ihre vorgeschichtlichen Vorgänger damit verknüpft ist und der Abstand, welcher diese von ihren tierischen Anfängen trennt, immer mehr vergrössert wird, was schliesslich des Pudels Kern ist. Die Weisen dieser Schule verzichten damit allerdings auf jegliche vernunftgemässe Erklärung der Kulturerscheinungen, sie begnügen sich — anspruchslos wie sie überhaupt auch in der Auffassung und Deutung der physischen und geistigen Thätigkeitsäusserungen beim Wilden sind — mit der einfachen Feststellung ihrer Beobachtungen und suchen Trost dafür in der Ansicht, dass alles andere „Spekulation“, „gelehrte Dichtung“, wenn nicht gar Märchen und daher unwissenschaftlich sei. Übersehen wird dabei bloss, dass schon aus Scheffels nach den Quellen herausgearbeitetem Roman Ekkehard ein viel plastischeres Kulturbild des zehnten Jahrhunderts gewonnen wird, als aus so manchem gelehrten Geschichtswerke.
Unbeirrt durch das angedeutete Getriebe stelle ich im folgenden einige der bemerkenswertesten einschlägigen Sitten oder „Unsitten“ Kulturarmer zusammen, es dem geneigten Leser überlassend, ob und welche Schlüsse er daraus ableiten will.
Ich wende mich zunächst nach jenem Erdteile, welcher seiner Entdeckung nach der jüngste, doch in Wahrheit als einer der ältesten zu betrachten ist, denn wir haben ihn als eine versinkende Weltinsel im Gewande der Tertiärzeit uns zu denken, als einen Erdraum, dessen Geschöpfe noch die Trachten der geologischen Vorzeit nicht abgelegt haben, da die Beuteltiere Mode waren. Wo immer Australien von europäischen Wanderern betreten wurde, begegneten sie Eingebornen oder ihren Spuren. Diese Bewohner des australischen Festlandes, samt den Küsteninseln und Tasmanien, bilden nun — so wird allgemein angenommen — ihrer Körpermerkmale wegen eine scharf abgesonderte Menschengruppe, welche als Verwandte den Papuanen, nicht den afrikanischen Negern am nächsten steht,[254] wie Robert Hartmann meint. An der Rasseneinheit der Australier halten die meisten Forscher[255] fest, wiewohl sie zugeben, dass zwischen den einzelnen Stämmen grosse Unterschiede in Körperbau wie in Gesittung stattfinden und die Berührungen, welche der Nordrand des Festlandes seit geraumer Zeit mit andern Völkerstämmen hatte, nicht ohne Einfluss auf die dortigen Bewohner geblieben sind.[256] Dr. Paul Topinard hat es dagegen ungemein wahrscheinlich gemacht, dass es in Australien zwei Rassen gebe.[257] Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls darf man mit Recht die heutigen Australier für die ältesten Menschen erklären, für die Überbleibsel einer uralten und ganz besonderen Rasse, und in dieser sind wieder die westlichen Stämme den ersten Anfängen der menschlichen Gesittung am nächsten geblieben, somit die ältesten Australier.[258] Ihnen folgen dem Alter nach die Südaustralier, während die Bewohner der Nordhälfte wohl am spätesten den Boden des Kontinents betreten haben. Dort, be[S. 134]sonders im hohen Norden der Kolonie Queensland, finden sich heute die Eingeborenen noch am zahlreichsten, dann von dort gegen die Flüsse Darling und Murray hinunter, von wo sie öfters in kleinen Horden zwischen den grossen, von den Europäern bewohnten Länderstrichen umherziehen. Kulturgeschichtlich müssen indessen gerade diese jüngsten unter den Australiern nebst jenen des Westens für die altertümlichsten gelten, denn im Süden sind die Eingebornen zum grössten Teile ausgerottet, ihre spärlichen Überbleibsel aber durch die mannigfachen Berührungen mit den Weissen ihrem Urzustande entfremdet worden. Es ist demnach ganz unzulässig zu generalisieren und von „Australiern“ im allgemeinen zu sprechen, wie zumeist geschieht, denn es herrschen bei den verschiedenen Stämmen die widersprechendsten Sitten, welche die grellen Abweichungen in den Urteilen der Beobachter begreiflich machen. Dank denselben werden die Australier nicht ohne Erfolg gerade so geschildert, wie man ihrer jeweils bedarf. Wert besitzen aber bloss jene Angaben, die sich auf bestimmte Stämme oder Landstriche beziehen. Im allgemeinen befestigen auch die rohesten der australischen Stämme, welche von europäischen Einflüssen noch unberührt geblieben, uns in der Überzeugung, dass die Stufe der Urzeit schon weit hinter ihnen liegt. Immerhin ist es bezeichnend, dass die Paarung meist während der wärmeren Jahreszeit, wo die von der Natur dargebotene Nahrung in reichlicher Fülle vorhanden und der Körper zu wollüstigen Regungen gestimmt ist, zu geschehen pflegt und auch in vielen Fällen auf jene Jahreszeit beschränkt bleibt.[259] Einzelne Stämme, wie die Watschandi am Murchisonstrome in Westaustralien, feiern dann ein grosses Fest, das „Kaoro“, das in Orgien ausartet. Die Männer umtanzen höchst unflätig eine Grube, die Gebüsch umgiebt, springen mit geschwungenen Speeren[260] und wilden, leidenschaftlichen Gebärden, welche ihre erregte Sinnlichkeit verraten, umher und stossen die Speere in die Grube unter Absingung des Liedes:
Ein Seitenstück zu diesem Tanze der Watschandi besitzen die Eingebornen des St. Vincentgolfes in Südaustralien.[262] Augustus Oldfield, welcher den Stämmen Westaustraliens sein besonderes Augenmerk zugewandt hat,[263] bemerkt, dass der Geschlechtsverkehr der Watschandi z. B. sich wenig über ein tierisches Beisammensein erhebe. Nebenbei bemerkt, erinnern auch Art und Weise der Paarung an sehr niedrige Zustände,[264] doch herrscht darin grosse Verschiedenheit unter den Stämmen Australiens.[265] M’Combie beschuldigt auch die Wilden im Innern der, übrigens weit ins Land greifenden, Kolonie Neusüdwales fast völliger geschlechtlicher Ungebundenheit.[266]
Die meisten Stämme der australischen Urbewohner befinden sich heute auf einer Stufe des Geschlechtsverkehrs, welche auch sonst gar häufig wiederkehrt. Sie kennen nämlich schon den Besitz bestimmter Weiber, für deren Wahl strenge Gewohnheitsgesetze bestehen und von welchen auch Treue gefordert wird, während die Jugend völlig ungebunden ist und weder Mädchen noch Witwen Keuschheit auferlegt wird, da sie gar nicht als Tugend gilt. Wer nicht absichtlich auf jede logische Erklärung verzichtet, wird nicht umhin können, in diesen Verhältnissen Spuren einstiger[S. 136] Schrankenlosigkeit zu erblicken. Wäre jemals in der Urzeit Keuschheit als eine Tugend angesehen worden und allgemein herrschend gewesen, wie es die Anhänger der Lehre vom Sündenfalle annehmen müssen, so liesse sich platterdings nicht erklären, wie dieselbe für den einen, sehr starken Bruchteil der Gesellschaft ihren Wert verloren, für den andern, schwächeren, behalten haben sollte. So weit die Leuchte der Geschichte der Zeiten Nacht erhellt, sehen wir stets das Besondere aus dem Allgemeinen hervorgehen. Und ist es nicht eine geradezu widersinnige Annahme, dass der Mensch von allem Urbeginn her eine Tugend besessen habe, die ihm die Bändigung eines der mächtigsten aller Triebe, gerade jenes Triebes zur Pflicht macht, auf dem die Erhaltung seines Geschlechts beruht? Die nämliche Logik könnte den alten Adam mit der Kraft ausstatten, seinem Hunger zu gebieten, was doch noch niemandem beigefallen ist. Wenn das Beispiel aller Völker ausnahmslos lehrt, dass der Mensch, wie natürlich, seinen ursprünglichen Instinkten desto freier folgt, je gesittungsärmer er ist, und umgekehrt die mit der zunehmenden Kultur schritthaltende Lebensfürsorge jüngere gesellschaftliche Instinkte zeitigt, welche erstere zu zügeln bestimmt sind, so ist es doch wahrlich aller Logik bar, einen umgekehrten Verlauf der Dinge vorauszusetzen. Bis auf weiteres, d. h. so lange nicht die Wahrscheinlichkeit urzeitlicher Vollkommenheit des Menschen mit streng logischen Gründen gestützt wird, halte ich die Annahme berechtigt, dass die Keuschheit eine allmähliche Kulturerrungenschaft ist, an welcher die Wilden keinen oder nur einen sehr schwachen Anteil haben. Dort wo dieselbe, wie in Australien, nur auf einen Teil der Gesellschaft beschränkt ist, verdient sie überhaupt noch kaum diesen Namen. Man verwechselt nämlich Treue mit Keuschheit. Keuschheit (Castitas) ist eine in der Kulturwelt durch langandauernde Vererbung gehäufter Selbstbeherrschung gewonnene Eigenschaft, die infolge dessen gewissermassen reflexiv sich äussert; Treue kann aber erzwungen werden, also auch ohne Keuschheit vorhanden sein. Und so verhält es sich auch in der That sowohl in Australien als anderwärts. Obwohl willig zugestanden werden soll, dass vereinzelte Beispiele von Liebe auch in Australien vorkommen,[S. 137] so ist es doch in der Regel durchaus nicht diese, welche dem Manne das Weib gewinnt. Solches erwirbt er zumeist durch rohe Gewalt, durch Tausch oder Kauf, und die Behandlung, die er ihr angedeihen lässt, unglaubliche Roheit, gepaart mit tiefster Verachtung, ist nicht geeignet, im Weibe zärtliche Gefühle für den Gatten — dies Wort gebraucht im physischen Sinne — zu erwecken. Wenngleich dies dennoch öfter geschieht, als man vermuten sollte, so stimmen doch alle Beobachter darin überein, dass die Treue nicht unter die Tugenden der Australierinnen zählt, wenn sie auch strenge gefordert wird. Oft genug geschieht es, dass während der Gatte mit seinen Freunden beim Feuer sitzt und arglos dem Gelage sich hingiebt, auf ein Gewisper oder ein anderes Zeichen, welches aus dem Gebüsche herübertönt, das Weib unter irgend einem Vorwande sich entfernt, um dort mit einem jungen Galan dem Genusse einiger seligen Augenblicke sich hinzugeben.[267] Der Treubruch wird freilich blutig gerächt, d. h. mit dem Tode, der an den Schuldigen meist von den eigenen nächsten Verwandten vollzogen wird,[268] denn die Männer sind angeblich meist erstaunlich eifersüchtig und haben, je älter sie sind, um so mehr Grund dazu. Nur muss man sich hüten, in der Liebe den Grund zu dieser Eifersucht zu suchen, wie dies gar zu gerne geschieht. Diese Eiferfurcht, wenn man sie überhaupt mit diesem Namen bezeichnen darf, entspringt lediglich dem Gefühle des Besitzes. Tausende von Beispielen sprechen dafür, dass dem Wilden das Weib eine einfache Sache des Besitzes ist; jeder Besitz aber macht eifersüchtig auf die Erhaltung desselben. Der Treubruch ist eine offenkundige Verletzung des Eigentumsrechtes, welches der Mann am Weibe durch Gewalt oder Vertrag erworben hat, und wird als solcher geahndet. Beweis dafür, dass öfters Männer, welche mehrere Weiber besitzen, einem unbeweibten Freunde eines derselben abgeben, ja dass in Victoria die Männer ihre Weiber für eine bestimmte Zeit wechseln. Dies nennen sie Be-ama. Es giebt Fälle, in welcher diese Frist einen Monat dauert.[269] Solches Ausleihen[S. 138] und Vertauschen der Weiber kommt auch anderwärts, sogar bei den christlichen Insulanern Hawaiis[270] vor und ist wohl überall ein Beweis, dass die männliche Eifersucht nur im Besitzgefühle wurzelt, in keiner höheren Regung. Andernfalls wären Zustände wie die angedeuteten nicht möglich. Der Mann legt Wert auf die weibliche Treue nur insofern als er selbst darüber nicht anders verfügt. Wer sie gegen seinen Willen verletzt, begeht einfach einen Diebstahl. Und dass auch bei den Verführern zumeist nicht Liebe, sondern sinnliche Gründe vorwalten, geht aus mancherlei Thatsachen hervor. So hat in australischen Augen z. B. ein sehr fettes Weib einen solchen Reiz, dass dasselbe beständig in Gefahr schwebt, gestohlen zu werden, wäre es auch noch so alt und hässlich.[271]
Gewiss ist der Geschlechtsverkehr der meisten australischen Stämme, wie er sich für Victoria nach den neueren Forschungen von Brough Smyth darstellt,[272] schon weit entfernt von völliger Ungebundenheit; immerhin steht derselbe in Bezug auf die Anbahnung des Zusammenlebens auf ungemein niedriger Stufe. Noch handelt es sich dort weder um „Ehe“, noch um „Ehebruch“, sondern einfach um Besitz und Eigentumsverletzung. Das australische Besitzverhältnis mit der Benennung „Ehe“ zu schmücken, den Bruch einseitig geforderter Treue zum „Ehebruch“ zu stempeln, wie jetzt Mode wird, zeugt von einer Genügsamkeit ethischer Ansprüche, die ich anzustaunen bereit bin, aber nicht zu teilen vermag. Kulturgeschichtlich ist nach meinem Dafürhalten scharf zu unterscheiden zwischen Beweibtsein und Ehe, welch letztere sich unseren Begriffen nach an die Begründung der Dauerfamilie knüpft. Von einer solchen ist aber, wie ich später zeigen werde, noch keine Rede auf der Stufe der Australier. Erst[S. 139] unlängst sind wir über die Sitten und Zustände der Kamilaroi im Gebiete des Darlingflusses unterrichtet worden.[273] Darnach herrscht bei den Kamilaroi, sehr wahrscheinlich aber unter den meisten Stämmen Australiens, das ursprüngliche System, dass ein Mann nicht mit einem bestimmten Weibe lebt, sondern dass (in der Theorie) eine ganze Sippe Männer einer gewissen Klasse, von Geburts wegen, mit einer ganzen Sippe Weiber einer andern Klasse geschlechtlich verkehren. Heute ist dieses Verhältnis ebenfalls schon weit von eigentlicher Vermischung entfernt, denn in Wirklichkeit sind diese Verkehrsrechte schon beträchtlich eingeschränkt, und zweifelsohne bekunden die jetzigen Sitten der Kamilaroi einen entschiedenen Fortschritt gegenüber der ursprünglichen ehelosen Geschlechtsgenossenschaft. Die Verkehrsrechte haben schon sehr an Umfang verloren, aber die Nomenklatur der Urzeit hat sich im Gebrauche erhalten. Begreiflicherweise kennt die urzeitliche Geschlechtsgenossenschaft kein Individuum als solches, sondern bloss als Teil einer Sippe. Das Nämliche gilt von den Kindern. Alle Kinder einer Sippe sind untereinander Geschwister und zwar nicht bloss dem Namen nach, sondern jedes einzelne Individuum einer Sippe anerkennt seine Geschwisterpflicht gegen alle übrigen.
Beispiele eheloser Zustände oder was dem ungemein nahe kommt lassen sich noch an verschiedenen Stellen unseres Planeten nachweisen. Ziemlich gut beglaubigt ist durch Azurara eine ausgedehnte Vermischung bei den Guantschen der Kanarieninsel Gomera,[274] die nackt in Höhlen hausten, wie der Venezianer Aloisio Cadamosto berichtet, welcher 1455 den Archipel besuchte. Garcilaso de la Vega versichert desgleichen, dass bei einigen peruanischen Stämmen vor der Inkazeit kein Mann eine ihm allein gehörende Frau besessen habe. Ganz besonders gilt dies von den barbarischen, völlig nackten Passau, welche weder Götter, noch Kultus, weder Dörfer, noch Häuser hatten, sondern[S. 140] in den hohlen Bäumen der dichten Waldungen ihres Landes lebten, keine eigenen Weiber besassen, ihre eigenen Kinder nicht kannten und öffentlich Sodomie begingen.[275] Da Garcilaso selbst ein Abkömmling der Inka und ein guter Kenner seines Volkes sowie dessen Geschichte war, so ist sein Zeugnis wohl nicht ganz kurzer Hand abzuweisen. Die Engeräckmung oder Botokuden Brasiliens werden zwar stark von Eifersucht geplagt und besitzen sogar den Ausdruck Hä-rang für Schamröte,[276] dennoch ist ihre Polygamie nicht viel besser als ein wechselndes Konkubinat. Ein Fehlen der Ehe wird in Amerika ferner bemerkt bei den Guaykuru, Arawaken in der südlichen Hälfte des Kontinents, dann in Nordamerika bei den Kutschin-Indianern und den Kuskokwim, sowie bei den Haidah und manchen Kaliforniern. Von den letzteren bemerkt Baegert, sie hätten „nicht viel acht auf die Freund- und Schwägerschaft, so dass sich auch die eigene Tochter unter den Ehefrauen finden mochte.“ Das Wort für „heiraten“ (tikere undini) wurde erst seit den Missionären gebildet, das Wort „Ehemann“ dagegen „kann von einem jeden Mann, der ein Weibsbild missbrauchet, in all seiner Bedeutung und Etymologie gesagt werden“ (wie tägliches Ehebrechen vorkam, „ohne alle Furcht und ohne alle Scham“). Mitunter besuchten sich die angrenzenden Völkerschaften, um „etliche Täg in öffentlichem Luderleben unter einander zuzubringen, bei welcher Gelegenheit alles Preis war“. Sobald die Einsegnung (oder die Mission) vorbei ist, gehen Mann und Frau nach verschiedenen Seiten auseinander, „ihr Essen, eines jedes für sich zu suchen“ und sahen sich oft tagelang nicht, wie sie sich auch wenig um die Kinder kümmerten. Ein treffenderes Bild eheloser Ungebundenheit konnte Baegert gar nicht liefern! Auch bei den Cayapo, dem zahlreichsten Volke auf den centralen Tafelplatten Brasiliens, das jetzt etwa 10000 Köpfe zählt, herrscht nach Dr. Couto de Magelhaes so gut wie Weibergemeinschaft. Das[S. 141] mannbar gewordene Mädchen kann sich jedem beliebigen Manne zum Umgange hingeben. Sobald sie sich in anderen Umständen befindet und so lange sie ihr Kind an der Brust hat, bleibt sie bei dem Vater des letzteren; diesem aber ist es unverwehrt, mit andern, die auch noch in derselben Hütte wohnen, die vertraulichsten Beziehungen zu unterhalten. Die Verbindung mit dem Vater des Kindes hört auf, sobald das letztere nicht mehr die Muttermilch bekommt, kann aber wieder angeknüpft werden. Nimmt des Mädchen sich einen andern Mann, so hat dieser das Kind seines Vorgängers zu erhalten.[277] Über die Geschlechtssitten der Pescheräh wissen wir nichts Bestimmtes; Beobachtungen an den vor mehreren Jahren nach Europa gebrachten Gruppen lassen aber auf das Fehlen jeglicher ehelichen Bande schliessen.
In Afrika hat man die Saan oder Buschmänner, nach Gustav Fritsch eine Urrasse,[278] höchst ungeordneter Sitten geziehen. Sie haben aber in dem Engländer Chapman einen warmen Verteidiger gefunden, welcher ihre Sittsamkeit rühmt.[279] Seither sind die Buschmänner die Lieblinge mancher Ethnologen geworden, welche sie gegen ihre „Verleumder“ kräftig in Schutz nehmen.[280] Dem gegenüber laufen die Zeugnisse Neuerer, darunter des in Südafrika geborenen Dr. Theophilus Hahn[281], sowie des Missionärs A. Merensky,[282] welcher fünfzehn Jahre dort verweilte, darauf hinaus, dass Ehe- und Familienbande bei den Saan fast gar nicht vorhanden sind. Selbst gegen den Verkehr der Weiber mit Fremden benehmen sie sich, wie Alexander bezeugt,[283] zum Teil ganz gleichgültig. Die bei überraschender Verstandesschärfe unglaublich niedrige Gesittungsstufe des Buschmanns, dem das Weib bloss[S. 142] Lasttier ist, hat man damit entschuldigen wollen, dass man ihn als eine verkümmerte Wüstenpflanze schilderte, den Not und Entbehrung so tief herabgebracht. Gustav Fritsch, einer der gründlichsten Kenner der Verhältnisse, hat diesen Wahn zerstört und gezeigt, dass das Volk der Saan jedenfalls Jahrtausende nahezu unverändert in seiner Entwicklung geblieben sein muss.[284] Seine Sitten, zu welchen weder gewohnheitsgesetzliche Monogamie, noch die Scheu vor Blutschande[285] zählen, können deshalb wohl als Zeugen altertümlicher Zustände gelten. Jedenfalls ist es auch bei ihnen ein unverdienter Euphemismus, von einer „Ehe“ zu reden, da es sich im günstigsten Falle um den Besitz des Weibes handelt.
Fortschreitend nach Asien stossen wir bei den Keriah, Kurumbar in Indien, den Hügelstämmen Tschittagongs, dann in Hinterindien und im malayischen Archipel auf verschiedene Beispiele starker Ungebundenheit. So meldet Miklucho-Maclay von den Orang Sakai im malayischen Binnenlande: „Ein Mädchen, nachdem sie einige Tage oder einige Wochen mit einem Manne verheiratet ist, geht mit dem Einverständnisse desselben und freiwillig zu einem andern, mit welchem sie wieder kürzere oder längere Zeit zubringt. So macht sie die Runde bei sämtlichen Männern der Gesellschaft, bis sie zu ihrem ersten Gemahl kommt, bei dem sie aber wiederum nicht bleibt, und setzt fort diese durch Zufall und Wunsch regulierten Ehen zu schliessen.“ Die Lubu auf der benachbarten Insel Sumátra, in der Landschaft Mandailing, vermischen sich gar mit Müttern und Schwestern, und zwar ganz nach den Eingebungen des Augenblicks; der nämlichen Gepflogenheit huldigen ferner die Poggi- oder Pagehinsulaner, der Dayakenstamm der Olo Ot und die Bewohner der Insel Paling, östlich von Celébes.[286] Die Kalang auf Java wohnen gleichfalls ihren Müttern und Schwestern bei, und der Volksglaube erblickt Glück[S. 143] und Reichtum im Gefolge solcher Bündnisse.[287] Endlich sei noch verwiesen auf das, was Lorimer Fison von den „Manga“-Mysterien auf den Vitiinseln berichtet, mit denen wir erst jetzt bekannt werden; es herrscht dabei in jeder Beziehung der vollste Kommunismus und die unglaublichsten Szenen spielen sich auf offener Strasse ab. Die allernächste Verwandtschaft, selbst die zwischen Bruder und Schwester, scheint keine Schranke für die allgemeine Ungebundenheit zu sein, deren Ausdehnung durch den ausdrucksvollen Spruch eines alten Nandi-Häuptlings angedeutet wird. Er sagte von dem Feste: so lange es währt, sind wir grade so wie die Säue.[288]
Wenn man erwägt, dass unter den Indianern Guyanas heutzutage Ehen unter Verwandten ersten Grades nicht zu den Seltenheiten gehören, so dass die Frau häufig auch die Tochter ihres Gatten ist,[289] so genügt wohl der Hinweis auf diese Sitten, um eine gewisse Ungebundenheit des Geschlechtsverkehrs für die Anfänge der Menschen in hohem Grade wahrscheinlich zu machen. Bei vielen Stämmen fehlen die sprachlichen Ausdrücke für Ehe, die Unterscheidung für Frau und Jungfrau; doch ist daraus an sich noch nicht auf Gleichgültigkeit gegen geschlechtliche Reinheit zu schliessen, da das Nichtvorhandensein eines Wortes in einer Sprache nicht auch das Nichtvorhandensein des Begriffes beweist, den das Wort ausdrücken soll. Auch ohne solch zweifelhafte Hilfstruppen scheint die Ehelosigkeit und damit zusammenhängend die „Unkeuschheit“ der Urzeit zu hinreichender Wahrscheinlichkeit erhoben. Die rohen Stämme der Gegenwart stehen fast alle schon auf dem Standpunkte des Weiberbesitzes, der sich erst mit der Entstehung des Eigentumsbegriffes entwickeln konnte. Diese roheste Form der Beweibung trenne ich, wie bemerkt, von Ehe, in der eine höhere kulturgeschichtliche Stufe zu erkennen ist. Der Weiberbesitz kennt keine Grenze. Ein Australier gilt als in angenehmen häuslichen Verhältnissen lebend, wenn er[S. 144] drei bis vier Weiber hat; zwei Frauen sind nicht selten, und nicht wenige halten auch dafür, dass an einer Frau vollauf genug sei. Monogamie beweist in solchem Falle gar nichts. Unzweifelhaft aber leitet der Weiberbesitz zur „Ehe“ und zur Ausbildung der Keuschheit. Die am Besitze haftende Eifersucht führt zur Einprägung der weiblichen Tugend, und da diese dann geehrt wird, trägt sie auch dazu bei, sich auf noch ungefesselte Weiber und Mädchen zu verbreiten. Wie langsam es geschieht, bemerkt sehr richtig Darwin,[290] bis sie sich auch auf das männliche Geschlecht verbreitet, sehen wir bis auf den heutigen Tag. Unsere Urteile über die Sitten, sagt Beaumarchais, beziehen sich immer auf das weibliche Geschlecht; das männliche wird nicht genug geschätzt, um so viel von ihm in dieser heiklen Frage zu verlangen. Thatsächlich ist auch von allen Tugenden, welcher die gesittete Menschheit einen heuchlerischen Kult widmet, die Keuschheit im Grunde genommen jene, welche die Frauen an einem Manne am wenigsten schätzen.[291] Die Keuschheit bleibt also ein Instinkt zweiten, jüngeren Ranges, von höchstem Werte für die Gesittung, nicht aber von der Natur gegeben. Die in Australien und anderwärts zur Erhöhung der Geschlechtsfreuden üblichen Massnahmen geben einen deutlichen Fingerzeig, wie einzig und allein die Sinnlichkeit den Wilden beherrscht, lange noch nachdem er dem Urzustande entronnen und seine Verstandeskräfte genügend gestärkt hatte, um in dieser Hinsicht Verfeinerungen zu ersinnen, die wir irrtümlich für beklagenswerte Auswüchse unserer Hypergesittung zu betrachten gewohnt sind, Verfeinerungen, die selbst den Römern unbekannt waren, als Tiberius auf Capri weilte, oder den Byzantinern zur Zeit, wo Theodora, die Gemahlin des Kaisers Justinian, noch mit Schauspielerbanden umherzog.[292]
[222] Carus Sterne. Werden und Vergehen. S. 481, und Darwin. Abstammung des Menschen. Bd. II. S. 318.
[223] Frerichs. Zur Naturgeschichte des Menschen. S. 106.
[224] Dr. Alb. Herm. Post. Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit und die Entstehung der Ehe. Oldenburg, 1875. S. 3.
[225] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 70.
[226] Darwin. Die Abstammung des Menschen. Bd. II. S. 347.
[227] Darwin. A. a. O. S. 346.
[228] J. J. Bachofen. Das Mutterrecht, eine Untersuchung über die Gynaikokratrie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Stuttgart, 1861.
[229] Peschel. Völkerkunde. S. 228.
[230] Ploss. Das Weib. Bd. I. S. 234.
[231] Sir John Lubbock. Die Entstehung der Zivilisation und der Urzustand des Menschengeschlechts. Jena, 1875. S. 79.
[232] Darwin. Abstammung des Menschen. Bd. II. S. 341.
[233] A. a. O.
[234] Karl Kautsky. Die Entstehung der Ehe und Familie. (Kosmos. Bd. XII. S. 205.)
[235] G. A. Wilken. Over de primitieve vormen van het Huwelijk en den Oorsprong van het Gezin. (Indische Gids. Oktober 1880. Dezember 1880. Januar 1881.)
[236] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Studien. S. 235.
[237] Kautsky. A. a. O. (Kosmos. Bd. XII. S. 205.)
[238] „In Europa zum Beispiel ruht die Gesellschaft auf der sehr moralischen Basis der Monogamie, aber wie viele Männer giebt es, die nur eine einzige Frau besessen haben, und wie viele Frauen, die keinen anderen Mann als ihren legitimen einzigen Gatten begehrt und geliebkost haben?“ (Mantegazza. A. a. O. S. 303.)
[239] M. Kulischer. Die geschlechtliche Zuchtwahl bei den Menschen in der Urzeit. (Zeitschrift für Ethnologie. Berlin, 1876. S. 142.)
[240] A. a. O. S. 149.
[241] A. a. O. S. 152–156.
[242] Ich selbst hatte einmal Gelegenheit, aus dem Munde einer jungen, nicht ungebildeten und durchaus nicht sinnlich veranlagten Deutschen das naive Geständnis zu vernehmen, dass jedes Frühjahr ihr die Sehnsucht nach Geschlechtslust erwecke.
[243] Appun im: „Ausland“ 1871. S. 835.
[244] Zeitschrift für Ethnologie. 1880. S. 318.
[245] Darwin. Die Abstammung des Menschen. Bd. II. S. 347.
[246] A. a. O.
[247] Friedrich Ratzel. Völkerkunde. Leipzig, 1885. Grundzüge der Völkerkunde. S. 79.
[248] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 71–72.
[249] Gen. Kap. 6, v. 2.
[250] Dio Cassius. Hist. rom. lib. LXXVI §. XII T. 10.
[251] Herodot. lib. IV. 104.
[252] Herodot. lib. IV. 172.
[253] A. a. O. lib. IV. 180.
[254] Peschel. Völkerkunde. S. 318–319.
[255] So James Cowles Prichard, J. G. Wood, Theodor Waitz, Karl Emil Jung.
[256] Karl Emil Jung. Der Weltteil Australien. I. Abteilung. Leipzig, 1882. S. 83.
[257] Revue d’anthropologie 1872. S. 313, und in seiner Schrift: Etude sur les races indigènes de l’Australie. Paris, 1872.
[258] Ausland 1867. S. 1013.
[259] Müller. Allgemeine Ethnographie. S. 212–213.
[260] Vaginae formam effingit fossa, virorum hastae penum simulacra.
[261] D. h.
[262] Köler in den Monatsberichten der geographischen Gesellschaft zu Berlin. Bd. III. S. 53.
[263] Augustus Oldfield. On the aborigines of Australia in den Transactions of the Ethnological Society of London. Bd. III. S. 215–298.
[264] Propter intra conversorum positionem pedum plusculumque retrocendentis vaginae causa aborigines a tergo coitum perficiunt. Siehe Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Bd. VI. S. 774.
[265] In Australiae septentrionalis partibus Port Darwin circumjectis, exempli gratia, aborigines copulam peragunt sidentes. (Verhdl. d. Berl. Gesellschaft f. Anthrop. 1880. S. 87–88.)
[266] Thomas M’Combie. Arabin; or adventures of a colonist in New South Wales, with an essay on the aboriginals of Australia. London, 1845. S. 254.
[267] Müller. Allg. Ethnographie. S. 214.
[268] Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Bd. VI. S. 774.
[269] Revue d’anthropologie. 1882. S. 376.
[270] Diese pflegen heute noch, wenn sie unter sich sind, ihre jungen Weiber auszutauschen, was früher als ein Gebot der Gastfreundschaft allgemeine Übung war; bei feierlichen Gelegenheiten kennt man hierin auch heute noch keine Grenzen.
[271] A. a. O. S. 377.
[272] Brough Smyth. The Aborigines of Victoria with notes relating to the Habits of the Natives of other Parts of Australia and Tasmania. London, 1878. 2. Bde.
[273] Lorimer Fison & A. W. Howitt. Kamilaroi and Kurnai: Group-Marriage and relationship, and Marriage by elopement. Melbourne, 1880.
[274] Henry Richard Major. The Canarian, or book of the Conquest and Conversion of the Canarians. London, 1872. S. XXXII.
[275] Ynca Garcilaso de la Vega. The Royal Commentaries of the Yncas. Translated and edited by Clements R. Markham. London, 1871. Bd. II. S. 443.
[276] Max Prinz zu Neuwied. Reise nach Brasilien in den Jahren 1815–1817. Wien, 1825. Bd. III. S. 161.
[277] Globus. Bd. XXV. S. 298.
[278] Zeitschrift für Ethnologie. Berlin, 1880. S. 289–300.
[279] Chapman. Travels in the Interior of South Africa. London, 1868. Bd. I. S. 320.
[280] Z. B. Dr. Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 156. 434.
[281] Globus. Bd. XVIII. S. 122.
[282] A. Merensky. Beiträge zur Erkenntnis Südafrikas. Berlin, 1875. S. 68.
[283] J. G. Alexander. An expedition of discovery into the Interior of Africa. London, 1838. Bd. II. S. 23.
[284] Zeitschr. f. Ethnol. 1880. S. 300.
[285] Woher Dr. Schneider (die Naturvölker. B. II. S. 156) weiss, dass die Buschmänner aus Abscheu vor Blutschande die verschiedenen Verwandtschaftsgrade sorgfältig beobachten, habe ich nicht ermittelt.
[286] G. A. Wilken. Over de Verwandtschap en het Huwelijks-en-Erfrecht bij de volken van den indischen Archipel. S. 6–7.
[287] E. Ketjen. De Kalangers. (Tijdschrift voor Indische Taal-Landen Volkenkunde. Deel XXIV. Batavia, 1877. S. 427.)
[288] Journal of the Anthrop. Institute. Bd. XIV. S. 24, 28.
[289] Globus. Bd. XL. S. 276.
[290] Darwin. Die Abstammung des Menschen. Bd. I. S. 153.
[291] André Theuriet in der Revue des deux Mondes vom 15. Januar 1885. S. 267.
[292] Ausland. 1867. S. 867.
o wenig ein mehr oder weniger dauernder Weiberbesitz den Namen einer Ehe verdient, so wenig stellt er die erste Stufe dar, auf welche die Menschheit aus der ursprünglichen Ungebundenheit sich emporschwang. Dazwischen lagen vielmehr noch verschiedene Durchgangsstufen, die im Vorstehenden unbeachtet blieben, da es sich zunächst darum handelte, das Irrtümliche jener Ethnologenschule zu beleuchten, welche durch geradezu sinnverwirrende Dehnung der Begriffe den modernen Wilden in den Kreis unserer Gesittungsmarken einzubeziehen strebt, ein Beginnen, das um so überflüssiger ist, als die Einheit unseres Geschlechtes keinem Zweifel begegnet. Auch wird ja nicht die Befähigung selbst der rohesten Menschen zur Kultur bestritten, sondern nur, dass sie sich dieses oder jenes ihrer Elemente schon angeeignet hätten. Auf die übersprungenen Entwicklungsstadien ist nunmehr zurückzukommen.
Die urzeitlichen Geschlechtsgenossenschaften, auf welche der ungebundene Verkehr beschränkt gedacht werden muss, sind vielleicht einem Rudel Hirsche vergleichbar, die mitunter paarweise sich zusammenfinden, die Gefährten wechseln und wieder auseinander laufen. Unmöglich aber kann man sich dieselben besonders kopfreich vorstellen.[293] Weil aber noch keine zweite Gruppe[S. 146] mit der Geschlechtsgenossenschaft in irgend einer Art Organisationsverband stand, vielmehr um jede einzelne sich noch die Grenze der Fremdfeindlichkeit zog, so war jede Gruppe betreffs der geschlechtlichen Bedürfnisse auf sich selbst angewiesen; es herrschte Endogamie als der natürliche, weil einzig mögliche Zustand der Dinge bei dieser Art von Menschenrudeln, welche das Fehlen jeglicher gesellschaftlichen Gliederung, sowie des Eigentumsbegriffes zur Voraussetzung hat. Innerhalb dieser Geschlechtsgenossenschaften stand das Weib dem Manne gleich selbständig und unabhängig gegenüber. Auch war das Weib der Urzeit, wenngleich körperlich dem Manne niemals überlegen, doch keineswegs das schwache Geschöpf, zu dem es mit der steigenden Gesittung geworden. Vorgeschichtliche Knochenfunde verraten, dass der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Kraft dereinst ein verhältnismässig geringerer gewesen sein müsse als in unseren Tagen, daher denn auch das Weib für sich allein im stande war, sich und ihr Kind zu erhalten. In jener Zeit, als es noch keine Werkzeuge und Waffen gab, in deren Gebrauch er grössere Fortschritte machen konnte, war der Mann in betreff des Nahrungserwerbes dem Weibe in nichts voraus; er konnte einem vorstellbaren Haushalte nichts bieten, was die Frau nicht selbst — eine kurze Unterbrechung abgerechnet — zu sammeln vermochte; das Leben niederer Stämme zeigt heute noch, dass die Mutter durch die Bürde des Kindes von keiner Arbeit zurückgehalten wird.[294] Mutter und Kind, das waren auch, wie Lippert sehr richtig betont,[295] die einfachsten Elemente der ältesten Urorganisation. Das Verhältnis von Mutter und Kind allein ist von der Natur gegeben, das Band zwischen beiden wird durch den Zwang aller Umstände einer einfachen Lebensweise und durch die mehr oder weniger entwickelte Mutterliebe geknüpft, jenen natürlichen Instinkt, der durch die Jungenbeschützung die Art sichert, welche allen übrigen Interessen stets vorangeht. Anfänglich hat allerdings auch diese ursprüng[S. 147]lichste aller Gefühlsregungen beim Menschen wahrscheinlich in keinem wesentlich höheren Grade bestanden, als in der Tierwelt, nämlich so viel als erforderlich ist, das Aufkommen der Brut zu sichern; aber dies genügte.
Neuerdings hat man sich wieder erschrecklich viel Mühe mit dem Nachweise gegeben, dass das naturgemässeste aller Gefühle, die Mutterliebe — im Sinne des heutigen Mutterbegriffes — den niedrigeren Stämmen der Gegenwart in gleicher Stärke innewohne, wie den Gesitteten. Bei sehr vielen trifft dies auch zu, was nicht überraschen kann, wenn man erwägt, dass auch sie schon eine vieltausendjährige Vergangenheit hinter sich haben, in welcher die ursprünglichen Instinkte sich stärker und in immer schärferer Ausprägung vererben konnten. Um so mehr Gewicht gewinnen die glücklicherweise seltenen Beispiele, welche die Gegenwart von nur schwacher Ausbildung der Mutterliebe bietet. So hat der schon mehrfach erwähnte Wilfred Powell gesehen, dass bei einem Kampfe eine verfolgte Neubritannierin, welche mit einem Säugling und einem Bündel „Tabu“ belastet war, um zu entkommen, lieber ihr Kind als ihr Muschelgeld fallen liess;[296] ähnliches erwähnt auch ein neuerer Beobachter[297]. Bei den Miranha-Indianern am Japura in Brasilien giebt die Mutter eine Tochter für ein paar Ellen Kattun, ein Halsband von Glasperlen und etwas Messingtand fort, ebenso wie der Mann sein Kind gern und willig für zwei bis drei Beile verkauft.[298] Bei sehr vielen Völkern erstreckt sich die Mutterliebe nicht über die ersten Lebensjahre der Kinder hinaus; das als Instinkt vorhandene Gefühl der Fürsorge für die Jungen ist noch nicht veredelt durch Erziehung, Schrifttum und Überlieferung. So hat der italienische Seeoffizier Giacomo Bove sichergestellt, dass bei den Feuerländern, welche nach Wallis ihre Kinder doch liebkosen und mit ihnen spielen, die Mutterliebe nur etwa so lange dauert, als das Kind an der Brust liegt. Mit sieben bis acht Jahren hört der elterliche Einfluss bald ganz auf, denn sobald der Sohn im[S. 148] stande ist die Eltern zu entbehren, trennt er sich von ihnen. Das einzige Gefühl, welches sie leitet, ist Liebe zum eigenen Ich.[299] Auch die Zärtlichkeit vieler Australierinnen erstreckt sich bloss auf die erste Jugendzeit ihrer Kinder, also etwa bis in deren drittes Lebensjahr. Später hört jeder familienartige Zusammenhang auf und dies geht bei einigen Stämmen soweit, dass Eltern und Kinder ihr gegenseitiges Verhältnis entschieden vergessen, und in dieser Beziehung das Ganze sich also nicht über den Standpunkt der Tierwelt erhebt. So berichtet Richard Oberländer,[300] der nicht weniger denn vierzehn Jahre in Australien zubrachte, und neuerdings hat A. W. Stirling, ein ganz moderner Reisender, die geringe Mutterliebe der Australierinnen in Nordqueensland bestätigt.[301] Ähnlich verhält es sich bei den doch ungleich höher stehenden Kariben Südamerikas. Hat der Knabe das Alter der Mannbarkeit erreicht, dann bekümmert sich die Mutter nicht weiter um ihn und er ist für sie ein Fremdling geworden.[302]
Solche Beispiele liessen sich noch häufen. Das Gesagte genügt indes um darzuthun, dass auf sehr niedrigen Stufen der urwüchsige Instinkt der Mutterliebe das für die Erhaltung der Art notwendige Mass noch nicht überschreitet. Empfindsamkeit ist unbekannt in diesen embryonalen Gesittungskreisen und die im Menschen schlummernde Bestialität noch nicht im Zaume gehalten durch Moral, Achtung und Strenge der Satzungen. Wohl liebt und herzt auch der Naturmensch seine Kinder, wenn nicht der Hunger zu laut spricht, vor allem aber gilt ihm der Heischesatz: Primo vivere.[303] Innerhalb dieser Grenzen erscheint aber die Mutterliebe überall, und wohl zu allen Zeiten von Urbeginn an, stärker und früher, als die Neigung zum Manne, und bleibt auch für das Kind eines wenig oder gar nicht geliebten Vaters die[S. 149] gleiche, wie denn auch in unseren Kreisen eine Mutter den geliebtesten Gatten rascher vergisst, als das durch den Tod entrissene Kind. In der Urzeit vereinigte aber noch kein Band der Liebe das Weib mit dem Manne, welcher seinen und ihren erotischen Trieben Befriedigung brachte. Das Kind selbst war die blosse Frucht mütterlicher Lust, welche je nach Laune den Kindern verschiedene Väter gab. So bildete denn Mutter und Säugling von Natur aus die erste, wenn auch winzige Gesellschaftsgruppe, die freilich nicht nur keinen Vater, sondern auch keine Dauer besass, weil das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zwischen Mutter und Kind beiderseits schon frühzeitig erlosch, die Kinder gewissermassen in der Horde sich verloren oder darin aufgingen. Will man auf diese Gruppe nun die Bezeichnung „Familie“ anwenden, so ist in diesem Sinne ihr Begriff allerdings älter als der der Ehe. „Die Familie spielt ihre kulturgeschichtlich bedeutsame Rolle lange vor dem Ehebunde, und obgleich jene sekundäre Vergesellschaftung auf einem ganz anderen Prinzipe beruht, so ist es doch der Thatsache nach vorzugsweise die Familie, welche jene Gesellschaften gleichsam dem Materiale nach schafft.“[304] Freilich wäre es besser und verständlicher, diese erste Grundlage unserer späteren geschichtlichen Familienformen von dieser durch ein eigenes Wort zu unterscheiden, weshalb ich jene erste, auf Mutter und Kind beschränkte Gruppierung als Muttergruppe bezeichne. Vermöge dieser schärferen Unterscheidung ist auch leichter eine Verständigung möglich in dem übrigens ziemlich müssigen Streite, ob die Familie oder der Staat das Urspüngliche gewesen. Für die letztere Annahme, der auch Kautsky beistimmt, indem er im „Stamm“ die erste Menschenvereinigung erblickt,[305] spricht der Umstand, dass die Wahl einer zeitweiligen Gefährtin seitens des Gefährten oder, umgekehrt, einen schon irgendwie beschaffenen „Haufen“ Menschen voraussetzt, der den beiden Geschlechtern ihre gegenseitige Ergänzung bot. Schon aus dieser Annahme folgt, wie Frerichs bemerkt, dass die Familie erst in[S. 150] zweiter Linie sich bilden konnte.[306] In einer lebhaften Begeisterung für die Familie hat man, wie Frerichs meint, ihre Bedeutung gar oft überschätzt, indem man sie für die Grundlage aller geselligen und sittlichen Ordnung ausgab. Der wahre Verlauf sei aber der entgegengesetzte gewesen. Es musste sich zuerst die Gesellschaft, der Staat ausbilden, und erst nachdem dieser letztere feste Formen angenommen hatte, konnte aus ihm und durch ihn die Familie werden. Seine rechtlichen und sittlichen Anschauungen, seine geselligen Ordnungen übertrugen sich auf die Familie, nicht aber bestimmte diese umgekehrt jenen.[307] Für die geschichtliche Familie ist dies wohl zuzugestehen, aber ohne die Muttergruppe — diese Urfamilie, wie unvollkommen sie uns bedünken mag, — ist ein Zustand der Menschen auf Erden überhaupt nicht denkbar, und Lippert hat an dem Beispiele der Bienen und Wandervögel gezeigt, dass man in gleichem Sinne auch beim Menschen die Familie als die Grundlage aller gesellschaftlichen Organisation, als Ausgangspunkt aller gesellschaftlichen Fürsorge betrachten dürfe.[308] Die Muttergruppe, wie ich fortfahren will sie zu nennen, war zweifellos schon bei Bildung des Stammes vorhanden, aber die Muttergruppe deckt in keiner Weise den Begriff der vollen Familie späterer Zeit, und diese war wirklich noch nicht vorhanden, als die Stammesbildung sich vollzog. In der Muttergruppe, diesem gesellschaftlichen Erstlingszustande der Menschheit, ist die Mutterfolge, d. h. die Bedingung der Zugehörigkeit durch die Abstammung von derselben Mutter, das aufbauende Grundprinzip, und da nun das Kind ein Teil der Mutter selbst ist, so hat diese an ihm auch ein Recht, so unzweifelhaft, wie es noch kein zweites Rechtsverhältnis der Urzeit bietet.[309] Das Kind ist das unbedingte Eigentum der Mutter, ihre „Sache“.[310]
Die Muttergruppe erwuchs also inmitten des ungebundenen Geschlechtsverkehres der Horde; da diese mit der Familie in[S. 151] weiterem Sinne zusammenfiel, so bildete auch Blutsverwandtschaft noch kein Hindernis des Verkehrs; die Natur der Sache verbot noch den die Wahl beschränkenden Begriff der Blutschande. Vielmehr war die Muttergruppe auf die engere Inzucht in der Geschlechtsgenossenschaft angewiesen. Man sieht, dieser Urfamilie fehlt alles und jegliches, um sie nach unseren Begriffen zur „Familie“ zu stempeln. Nun lassen sich in der Entwicklung derselben wiederum zwei Stufen, eine ältere und eine jüngere wahrnehmen, sofern es sich wenigstens um das Mutterrecht handelt. Erst in der zweiten, jüngeren Periode erscheint dasselbe in strengerem Sinne ausgebildet. Nach dem Vorgange des niederländischen Forschers Wilken, welchem die Aufhellung der Anfänge der Familie schon so vielfache Förderungen verdankt, lege ich ihr die Benennung „Matriarchat“ bei, während ich der älteren Stufe der Mutterfolge die Bezeichnung „Muttergruppe“ bewahre. Nicht immer wird zwischen diesen beiden Stufen scharf unterschieden, und so kommt es, dass manche Gelehrte das Mutterrecht gänzlich in Abrede stellen, andere das Matriarchat für eine notwendige Durchgangsstufe aller Völker erklären. In Wahrheit lässt sich mit Bachofen und Dr. Lothar Dargun[311] behaupten: jeder Volksstamm müsse notwendig eine Zeit durchleben, wo ihm alle Verwandtschaft allein durch mütterliches Blut vermittelt ward. Diese Zeit war aber jene der Muttergruppe.
Oben ward bemerkt, dass die Urzeit, in welcher die Muttergruppe ein von Natur aus Gegebenes war, auch das Eigentum noch nicht kannte. Der Begriff des Eigentums ist in der That der Menschheit eben sowenig angeboren, als sich die Einrichtung überall und zu allen Zeiten findet. Ja, es lässt sich noch mehr behaupten und Lippert hat es erfolgreich bewiesen: die Ansammlung von Eigentum widerstrebt dem Urmenschen, und die ganze Einrichtung stösst auf so viele Hindernisse, dass sie sich nicht ohne harten Kampf gegen die mächtigsten Einflüsse endlich doch behaupten kann. Soweit von Gütern in jenen entfernten[S. 152] Epochen die Rede sein kann, herrschte naturgemäss allgemeine Gemeinschaft. Alles auf der Erde gehörte noch allen in gleicher Weise, beziehungsweise jedem, der es ergriff — nur die Werkzeuge waren ausgesondert.[312] So sehen wir den ersten Anfang zu einem persönlichen Eigentum darin, dass einzelne Gegenstände des beweglichen Vermögens, welche eine hervorragende Beziehung zu einem einzelnen Geschlechtsgenossen haben, als diesem allein angehörig betrachtet werden. Unser Wort „Leib“-Waffe bezeichnet noch recht natürlich die auserlesen enge Verbindung dieser Gegenstände mit dem Menschen; sie sind ein Teil von ihm. Persönliches Eigentum entsteht also zuerst am beweglichen Vermögen, während beim unbeweglichen Besitze noch lange die ältere Gütergemeinschaft bestehen bleibt. Noch heute ist die Gemeinsamkeit des Grundeigentums bei niedrigen Stämmen über die ganze Erde verbreitet; bei Völkerschaften, die ein Jäger- oder Nomadenleben führen, kann man von einem „Grundeigentum“ überall nicht sprechen; es finden sich an dessen Stelle nur abgegrenzte Jagd- und Wanderungsbezirke, wie solche z. B. in Brasilien und Australien vorkommen. Da alle heutigen Wilden ausnahmslos — es kann dies nicht genug oft erinnert werden — dem Urzustande schon weit entrückt sind, so ist bei ihnen „absoluter Kommunismus“ nirgends mehr zu finden, und sie gegen diesen in Schutz zu nehmen, wie Dr. W. Schneider thut, heisst offene Thüren einrennen. Mit diesem siegreichen Beweise wird aber die Thatsache nicht beseitigt, dass ein starker kommunistischer Zug noch durch diese Völkerschaften weht,[313] wie die von den verschiedensten Reisenden aufgezeichneten „Anekdoten“ — womit Dr. Schneider diese Angaben zu entwerten versucht — deutlich darthun. Wenn er den Australiern nachrühmt, die Rechte des Eigentümers an Grund und Boden würden so sehr geachtet, dass niemand daselbst ohne[S. 153] Erlaubnis einen Baum fällen oder ein Feuer anmachen dürfe,[314] so verschweigt er, dass „der Eigentümer“ kein einzelnes Individuum, sondern der ganze Stamm oder die Horde ist. Die Australier haben eben nur den Gemeinbesitz (Kollektiveigentum), die älteste Form des Eigentums, in welcher der Kommunismus wurzelt. Jagd und Fischfang werden gemeinsam betrieben, das persönliche Eigentum an beweglichen Dingen auf wenige Geräte und Gegenstände beschränkt. Jede einem Einzelnen zugedachte Gabe wird sofort unter allen Hordenmitgliedern verteilt,[315] und an diesem kommunistischen Zuge scheitert jeder Versuch, auf das divide et impera sich stützend, die Australier durch eine ungleiche Auszeichnung leichter zu beherrschen. Darwin meldet desgleichen von den Pescheräh, es werde selbst ein Stück Tuch, was dem einen gegeben wird, in Streifen zerrissen und verteilt, und kein Individuum wird reicher als das andere.[316] Mag immerhin Dr. Schneider auf Georg Forster sich berufen,[317] der den Wilden zu sehen begehrt, welcher, ohne blödsinnig zu sein, von Mein und Dein gar keine Begriffe habe, was ohnehin niemand behauptet, so viel ist unumstösslich, dass die Begriffe der Menschen über das Mein und Dein sehr verschieden sind. Die Indianer achten z. B. kein Besitzrecht eines andern an Lebensmitteln; sie brechen überall ein, wo Mais oder sonst ein Lebensmittel wächst, und „stehlen“ — nach dem Begriffe der Europäer; sie selbst haben diesen Begriff nicht. Ebenso lernten die Weissen die meisten Südseeinsulaner als die frechsten Diebe kennen; sie suchten sich alles anzueignen, was ihnen gefiel, und wenn sie ertappt wurden, ärgerten sie sich sehr. Aber dieser Ärger führte nicht zur Entwicklung eines Schamgefühls, denn sie ärgerten sich nicht über ihre That, sondern über deren Misslingen. Den arabischen Beduinen sind Geben, Betteln und Plündern wechselseitige und notwendig zusammenhängende Handlungen, die der Hauptsache nach aus dem[S. 154] vollständigen Mangel eines Begriffes von Eigentum hervorgehen.[318] Ein gewisser kommunistischer Zug kennzeichnet sogar noch solche Völker, welche das Einzeleigentum schon sehr wohl kennen. Hat der Bergkalmyk keine Kleidung oder keine Speise, so erhält er sie vom reicheren Nachbar, denn sämtliche Bewohner einer Gegend bilden gleichsam eine Familie, und der Reiche ist nur reich, um alle ihn umgebenden ärmeren Faullenzer mitzufüttern.[319]
In der eigentumslosen und jedenfalls lange hindurch eigentumsarmen Urzeit brauchen wir uns die Geschlechtsgenossenschaften auch nicht notwendig unter der Gewalt irgend eines Oberhauptes zu denken; sehr wahrscheinlich fehlte es in den meisten Fällen an einem solchen und keinesfalls kam demselben, wenn vorhanden, eine grössere Bedeutung als dem Leittiere in der Herde zu. Zweifelsohne entwickelte sich indes allmählich aus dieser Führerschaft das Häuptlingstum, welches zuerst in den allgemeinen Kommunismus Bresche legt und dadurch der Grundpfeiler aller späteren Gesittung wird. „So lange,“ sagt Charles Darwin, „nicht im Feuerland irgend ein Häuptling aufsteht, welcher Kraft genug hat, irgend einen erlangten Vorteil, wie z. B. domestizierte Tiere, zu bewahren, scheint es kaum möglich, dass der politische Zustand des Landes verbessert werden kann“.[320] In der ersten Zeit war aber der spätere Häuptling nichts weiter als ein Gleicher unter Gleichen.
Fasst man das über die älteste Urzeit Gesagte zusammen, so darf man wohl mit Moriz Wagner[321] behaupten: Der Mensch war in seiner frühesten Entwicklung während der vergangenen geologischen Perioden den gleichen Faktoren der Naturzüchtung unterworfen, wie die übrigen Organismen. Die ältesten Menschenrassen bildeten sich, analog der ihnen somatisch am nächsten verwandten Typen der Säugetiere, durch fortgesetzte Inzucht ver[S. 155]einzelter Gruppen in räumlich gesonderten Wohnbezirken oder Kolonieen. Die Fortbildung seines Sprachvermögens ermöglichte dem Menschen indes den Übergang vom Zustande der geselligen Horde, die wir auch bei anderen Tierarten sehen, der Geschlechtsgenossenschaft, in den Zustand der sich besser schützenden, organisierten und für ihre Bedürfnisse sorgenden Horde oder des Stammes.[322] Auch durch den Druck der äusseren Verhältnisse, der auf die Horde wirkt, wird diese zu einer langsamen Entwicklung getrieben. So können wir etwa annehmen, dass die eine oder die andere Geschlechtsgenossenschaft gewisse Listen oder Fertigkeiten erwirkt, die ihr vielleicht für die Erjagung des Wildes oder für die Bereitung der Waffen nützlich sind. Diese bleiben ihr Eigentum und werden als wichtige Hilfsmittel sorgfältig gewahrt. Durch dieselben aber ist die Besitzerin anderen gegenüber im Vorteil. Sie erhält sich leichter und besser und wird dadurch zahlreicher. Mit der Zahl ihrer Mitglieder aber wachsen ihre Kräfte, mit diesen wiederum ihre Fähigkeit sich zu erhalten, zu gedeihen und weiter zu wachsen. Die grössere Genossenschaft ist kräftiger als die kleine, sie unterdrückt diese oder nimmt sie in sich auf. Auf diese oder auf irgend eine andere Art der natürlichen Entwicklung bilden sich allmählich aus den vielen kleinen, wenige grössere Horden, die nun in den Stamm übergehen.[323]
Auf diesem langen Wege der Entwickelung der Horde zum Stamme musste in einer schon etwas jüngeren, aber immer noch ehelosen Zeit mit ihrer Muttergruppe, Mutter und Kind, eine erste kindliche Spekulation das Band befestigen, welches den werdenden Stamm zusammenhielt. Sie gehört ohne Zweifel zu jenen, welche der gesamten Menschheit ohne Ausnahme eigen waren, also wohl in frühester Zeit erworben sein mussten. Dem Urmenschen stellte sich nämlich fest, dass es die Gleichheit oder vielmehr die Einheit des Blutes in ganz wörtlichem Sinne ist, welches dasjenige begründet, was wir Verwandtschaft oder ge[S. 156]nauer, von der alten Auffassung selbst noch Zeugnis gebend, die Blutsverwandtschaft nennen, und dass diese Gleichheit des wesentlichsten Stoffes in der Mutter und nur in dieser ihre Quelle habe. Alle sonach, die, in welcher Generation immer, von derselben Urmutter stammten, natürlich stets nur in mütterlicher Linie gerechnet, waren im Besitze ein und desselben Blutes; sie waren alle Blutgenossen, im wirklichen Sinne „blutsverwandt“.
Lippert, welcher diese sehr richtigen Ansichten ausspricht,[324] so sehr richtig, dass selbst die eingefleischten Gegner aufsteigender Entwicklung trotz ihrer gewundenen Deutungen zu ziemlich übereinstimmenden Endergebnissen sich gedrängt sehen,[325] weist zu deren Bekräftigung mit Recht auf die dermalen noch weitverbreitete Sitte der „Blutbruderschaft“ hin. „Dass Blut die Seele und das Leben sei, darauf bauen sich noch sämtliche Kultformen des Alten Testamentes auf. Brüder sind nur deshalb Brüder, weil in ihren Adern dasselbe Blut fliesst, und echte Verwandte sind consanguinei. Nicht Redensarten drehten sich den Alten darum; sie nahmen es genau und bewiesen das durch Thaten. Wenn ein Zusatz von Blut die Verwandtschaft begründet, so können auch Wildfremde Brüder werden — durch Blutmischung. Läge dieser seltsame Gedanke nicht in so notwendiger Folgerichtigkeit, so wäre es undenkbar, dass derselbe Brauch der Blutmischung und Blutbrüderschaft in allen Teilen der Erde, deren Bevölkerung kaum je in irgend eine Art gegenseitiger Berührung kommen konnte, Verbreitung gefunden hätte.“ Nirgends aber ist diese Sitte vielleicht fester eingewurzelt als in Afrika, was, um es vorneweg zu bemerken, an sich nicht ohne Bedeutung ist. Noch in der Gegenwart wird bei den Schwarzen jenes Erdteiles die Blutbrüderschaft für ein Unterpfand des freundlichen und friedlichen Verkehres betrachtet. „Im Frieden stehen wir uns einander bei, im Kriege schonen wir uns gegenseitig,“ so lautete der Wahlspruch der Vertragschliessenden im Bezirke Nabanda-[S. 157]Juru des Niamniamlandes, wo Georg Schweinfurth zum ersten Male Zeuge dieser Sitte wurde, die er eine barbarische nennt.[326] Zu solchen Schutz- und Trutzbündnissen verhilft nur ein Blutaustausch. Auch Stanley auf seiner Kongofahrt stiess allenthalben auf den eigentümlichen Brauch, welchem sich mehrere seiner Begleiter, darunter der Europäer Pocock unterwerfen mussten. Ja Stanley selbst trank Blutbrüderschaft mit dem gefürchteten Araberfeind und Ruga-Rugaführer Mirambo, dem „Mars von Afrika“. Nachdem Manwa Sera, der eingeborene Führer der Stanleyschen Expedition beide einander gegenüber hatte niedersetzen lassen, machte er in ihre rechten Beine einen kleinen Einschnitt, aus dem er das Blut entnahm, und indem er dies unter ihnen austauschte, rief er laut aus: „Wenn einer von euch beiden diese jetzt zwischen euch geschlossene Brüderschaft bricht, so möge der Löwe ihn verschlingen, die Schlange ihn vergiften, möge Bitterkeit in seiner Nahrung sein, mögen seine Freunde ihn verlassen, möge seine Flinte in seinen Händen zerspringen und ihn verwunden und alles Böse ihm widerfahren, bis dass er stirbt.“[327] Darauf wurden zwischen den neuen Brüdern Geschenke ausgetauscht. In Rubunga, bemerkt Stanley, ist das Blutbrüderschaftschliessen eine viehisch-kannibalische Zeremonie, die aber doch sehr eifrig begehrt wird, sei es nun um den Blutdurst zu befriedigen, oder weil damit ein Austausch von Geschenken verbunden ist, bei dem die Rubungaleute notwendigerweise den grössten Vorteil hatten. Nachdem ein Einschnitt in jeden der beiden Arme gemacht war, beugten beide Brüder ihre Köpfe nieder und man konnte bemerken, wie der Eingeborne mit der grössten Gier das Blut einsog; es dürfte aber schwer zu entscheiden sein, ob ihn Blutliebe oder ein Übermass der Freundschaft dazu veranlasste.[328] Die Entscheidung kann indes nicht schwer fallen. Manche Schwarze ersetzen nämlich beim Trinken[S. 158] der Blutbruderschaft das Blut durch Milch. Es ist also nicht Blutdurst, sondern lediglich die Vorstellung des an die Zeremonie sich knüpfenden neuen Verwandtschaftsbandes Anlass der seltsamen Sitte. Es wird in solchem Falle auf die Milch die Rolle übertragen, welche ältere Vorstellungen dem Blute beimassen.[329]
An der Vorstellung festhaltend, dass Blut allein die erste Verwandtschaft der Menschen unter einander begründe, war in dieser Verwandtschaft eigentlich ihrem Grundprinzipe nach keine weitere Abstufung denkbar; jedes erste wie letzte Glied besass, in welcher Ableitung immer, dasselbe Blut; den ganzen Stamm umschloss ein und dasselbe Verwandtschaftsband, und nur die Unterschiede der Altersstufen konnten sich geltend machen. Denn wer nicht stammfremd war, der gehörte zur Geschlechtsgenossenschaft, und weil es darin nur ein Blut gab, so war auch jeder dem ersten wie dem letzten derselben in gleicher Weise verwandt oder, wenngleich mit einem Fremdworte, richtiger ausgedrückt: konsanguin, „gleichen Blutes“, „ebenblütig“ möchte ich sagen. Noch heute stehen manche Völker auf dieser Stufe der Anschauung, wie namentlich des Amerikaners Lewis H. Morgans grosse Arbeit[330] ganz unwiderleglich dargethan. Ihre Sprachen haben keinen Anlass gehabt, Lautformen zur Bezeichnung von Ebenblütigkeitsgraden d. h. von Verwandtschaftsgraden in unserem Sinne zu entwickeln. Was innerhalb derselben ebenblütigen Geschlechtsgenossenschaft unterscheidbar war, das waren bloss die Generationsstufen, und so entstand, im Gegensatze[S. 159] zu der in unserer Kulturwelt üblichen beschreibenden, die klassifikatorische Ebenblütigkeitsbezeichnung. Mit Unrecht wird dieselbe als jene eines Verwandtschaftsystemes aufgefasst. Die Wahrheit ist, dass es auf der Stufe dieser Bezeichnungen den Begriff der Verwandtschaft in unserem Sinne gar nicht giebt. Die Namen, mit denen wir jetzt vielleicht mit Recht unser Vater, Mutter, Kind u. s. f. übersetzen, hatten ursprünglich gewiss keinen solchen Sinn, sondern bezeichneten lediglich die Generationsstufen innerhalb der allgemeinen und gleichen Ebenblütigkeit.[331] So nennt der Mortlockinsulaner einen Bruder oder Schwester Pui (Puim, Puin u. s. w.) und betrachtet einen jeden Menschen für seinen Puin, wenn die Mutter des letzteren von demselben Blute war, wie seine eigene. Durch Puipui bezeichnet er das Verwandtschaftsverhältnis selbst und dann die ganze Gesamtheit seiner Verwandten von mütterlicher Seite. Die Verwandten von väterlicher Seite gehören nicht zu dem Puipui. Letzteres entspricht also dem Begriffe „Stamm“ und ist die eigentliche Basis, von welcher alle Erscheinungen des mortlockschen Lebens ihren Ursprung nehmen.[332]
Das einfachste dieser Systeme findet sich noch auf Hawaii und fast identisch auf den Kingsmill-Inseln. Beide kennen bloss fünf Abstufungen: Geschwister, Grosseltern, Eltern, Kinder und Enkel. Die Bezeichnungen Oheim, Muhme, Neffe, Nichte, Vetter, Base sind dort unbekannt. Es gelten aber die aufgezählten Verwandtschaftsgrade nicht bloss für diejenigen Verwandten, für die sie bei uns gelten, sondern für ganze Klassen von Personen. Alle Geschwister von Egos Grosseltern oder deren Vorfahren sind ebenfalls Egos Grosseltern. Alle Geschwister von Egos Eltern sind seine Eltern, also die Brüder seines Vaters und die seiner Mutter seine Väter, die Schwestern seines Vaters und die seiner Mutter seine Mütter. Alle Kinder seiner Geschwister sind Egos Kinder. Alle Kinder und weiteren Nachkommen seiner Kinder,[S. 160] ob wirklicher oder Geschwisterkinder, sind Egos Enkel. Alle Kinder von Geschwistern sind wieder Geschwister, ebenso deren Kinder in infinitum. Es sind also z. B. die Urenkel des Bruders von Egos Urgrossenkel seine Brüder. Deren Söhne sind demnach auch Egos Söhne und zugleich die Brüder seiner leiblichen Söhne.[333] Diese Eigentümlichkeiten sind nicht etwa durch Wortarmut der Kanakensprache zu erklären, denn in derselben werden genaue Unterschiede in Verwandtschaftsbezeichnungen gemacht, die sich bei uns nicht finden. So heisst z. B. auf Hawaii, wenn der Sprechende ein Mann ist, der ältere Bruder Kaikuaana, der jüngere Kaikaina, die Schwester Kaikuwahina. Spricht dagegen eine Frau, so nennt sie ihren Bruder Kaikunana, die ältere Schwester dagegen Kaikuaana, und die jüngere Kaikana.[334]
Sehr ähnlich sind die Verwandtschaftsbenennungen der Hova auf Madagaskar. Die Wörter für Vater: Ray, und Mutter: Rény haben eine sehr weite Bedeutung und werden nicht nur für die eigentlichen Eltern, sondern auch für den Stiefvater und die Stiefmutter, sowie für Oheim und Muhme und deren Gatten und Gattinnen angewendet. Es giebt demzufolge im Madagassischen keine einzelnen Wörter, die unserem „Onkel“ und „Tante“ entsprächen; man sagt Vaterbruder, Vaterschwester, Mutterbruder, Mutterschwester. Hieraus folgt dann weiter, dass Sonderbezeichnungen für „Neffe“ und „Nichte“ ebenfalls nicht vorhanden sind; diese heissen sämtlich Zánaka d. i. „Kinder“ und werden zur genaueren Bestimmung in Kinder der Brüder oder Schwestern des Vaters oder der Mutter unterschieden. Ray, Vater, scheint im Madagassischen nicht, wie in vielen semitischen Sprachen, in dem Sinne von Schöpfer, Macher oder Verfertiger einer Sache gebraucht zu werden, sondern im weiteren Sinne jeden Älteren oder Höhergestellten zu bezeichnen; wohl aber nimmt Rény, Mutter, häufig die Bedeutung „Urheberin einer Sache“ an. Ein gleichwertiger Ersatz für unser Wort „Eltern“ ist nicht vorhanden. Die Zusammensetzung Ray-aman-drény d. i. „Vater und Mutter zusammen[S. 161]“ wird für alle Höherstehenden, Älteren oder Gönner beiderlei Geschlechts gebraucht, das Wort Zánaka dient aber auch als Bezeichnung und Anredeform für jüngere Personen, gerade wie Ray und Rény für ältere. In den Bezeichnungen für „Bruder“ und „Schwester“ finden sich dagegen Unterscheidungen, die unsere Sprache nicht besitzt; Rahalaky bedeutet nämlich „Bruder eines Bruders“, Anadahy „Bruder einer Schwester“, Rahavany „Schwester eines Bruders“ und Anabavy endlich „Schwester einer Schwester“. Dieselben Wörter werden auch für Vettern und Basen gebraucht, für welche ebenfalls keine Sonderbezeichnungen vorhanden sind. Die Verwandtschaft zwischen Geschwisterkindern wird aber als so nahe und diejenige zwischen wirklichen Geschwistern so gleichstehend betrachtet, dass es auch aus diesem Grunde ohne genaue Erkundigungen meist nicht möglich ist, die Verwandtschaftsgrade zu erkennen, in denen die einzelnen Mitglieder einer Hovafamilie zu einander stehen. Für Enkel oder Grosskinder hat man die Bezeichnung Afy oder Zafy, die man auch für „Nachkommen“ im weiteren Sinne gebraucht. Die Wörter für Grossvater und Grossmutter sind den unserigen fast gleichbedeutend: Raibé (Be=gross) und Renibé. Es scheint jedoch keine besonderen Bezeichnungen für höher hinaufreichende Verwandtschaftsgrade zu geben; dieselben werden sämtlich mit dem allgemeinen Ausdrucke Razana d. i. „Vorfahren“ bezeichnet.[335]
Dieses klassifikatorische System steht in mancher Hinsicht in schroffem Gegensatze zu unserem heutigen Verwandtschaftssystem, welches einfach die Verwandtschaftsgrade als solche nach ihren Abstufungen bezeichnet und worin der Vetter ungefähr den fernsten Grad bildet, der noch bestimmt wird. Darüber hinaus fängt die Familie an sich aus den Augen zu verlieren. Das klassifikatorische System, welches die Geschlechtsfolgen gruppenweise in den Bezeichnungen zusammenfasst, strebt dagegen dahin, die vermeintliche Einheit des Geschlechts festzuhalten, die Geschlechtsgenossenschaft zusammenzuhalten und zu verengen, indem sie die nach unseren Begriffen entfernten Grade auf nähere zurückführt und unsere[S. 162] Seitenverwandten immer wieder in die direkte Linie der auf- und absteigenden Geschlechtsfolge hineinzieht. Bei den Irokesen z. B. wird der Bruder der Mutter Vater genannt, sein Sohn (der Vetter) wird dadurch zum Bruder und dessen Sohn zum eigenen Sohn, Enkel zum Enkel u. s. w. Die Muhme heisst Mutter, ob väterlicher- oder mütterlicherseits, während der Oheim, als Bruder des Vaters, die Bezeichnung Oheim bewahrt. Bei den Kingsmill-Insulanern heisst auch der väterliche Oheim Vater, die Muhme, ob mütterlicher- oder väterlicherseits, Mutter, wogegen z. B. wieder bei den Tamulen die mütterliche Muhme Mutter heisst, die väterliche aber Muhme. Es finden sich nun noch eine Menge sonstiger Variationen. Bei den Delawaren oder Leni-Lennape z. B. heisst der Vetter nicht Bruder, sondern nur Stiefbruder, sein Sohn bei den Tschiroki heisst bereits Enkel; bei den Japanern wurde der Oheim „kleiner Vater“, bei den Krih der mütterliche Oheim älterer Bruder genannt. Die Bezeichnungen älter oder jünger kommen überhaupt vielfach vor und beruhen eben auf genauer Scheidung der Verwandtschaftsgrade. Die Geschwister unter sich bezeichnen sich, wie z. B. bei den Chinesen, vielfach als ältere oder jüngere; so auch bei den Magyaren, welche sehr genau den „Batya“, den älteren Bruder, vom Öcs oder Öcse, dem jüngeren Bruder, sowie die Néne, ältere Schwester, von der Hug, der jüngeren Schwester, unterscheiden, während bei uns die Bezeichnungen oft sehr lose und wechselnd sind. Im allgemeinen sind bei den Indianern alle Nachkommen desselben Paares Consanguinei d. h. Blutsverwandte. Blut- und Heiratsverwandte werden unter besonderen Bezeichnungen begriffen; die Nebenlinien gehen in der geraden Linie auf. Die Kinder der Brüder sind Brüder und Schwestern zu einander; die Kinder der Schwestern sind ebenfalls Brüder und Schwestern zu einander; die Kinder der Schwestern und Brüder stehen aber in entfernter Verwandtschaft. Die Bezeichnung Oheim ist auf der Mutter Brüder und die Brüder der Scheinmütter beschränkt, desgleichen die Bezeichnung Schwestern auf des Vaters Schwester. Neffe und Nichte sind dem Manne Kinder der Schwester, nicht des Bruders, umgekehrt dem Weibe Kinder des Bruders, nicht der Schwester; die Bezeichnung ist[S. 163] wechselseitig. In der Linie folgen: Ururgrossvater, Ururgrossmutter, Urgrossvater, Urgrossmutter, Grossvater, Grossmutter, alle zusammen als „Ahn“. Dann Vater, Mutter, Tochter, Enkel, Enkelin, Urenkel, Urenkelin, Ururenkel, Ururenkelin, älterer Bruder von Mannesseite, ältere Schwester von Mannesseite, jüngerer Bruder, jüngere Schwester, Bruder, Schwester.
Wenn wir uns in diesem Systeme, welches übrigens nur nach der einen Richtung hin uraltertümlich ist, während es nach einer andern Richtung schon die Verwandtschaft durch den Vater angenommen hat, als „wir“ in die Mitte stellen wollen, so haben, wie Lippert sehr richtig bemerkt, die verschiedenen Benennungen einst zweifelsohne nur bedeutet: die Ältesten, die Alten, wir, die Jungen, die Jüngeren oder Kleinen, die Kleinsten. Alle auf unserer Geschlechtsstufe Stehenden, die in „wir“ Eingeschlossenen, sind die „Brüder“. Solches sind aber immer die Mitglieder derselben Geschlechtsstufe, alle Grossmütter, alle Väter untereinander, während sich die übrigen Bezeichnungen natürlich verschieben, je nach der Geschlechtsstufe, auf welcher der Sprechende steht. Damit waren zugleich die einzigen natürlichen Abhängigkeitsstufen der dem Blute nach Gleichgestellten in der Geschlechtsgenossenschaft genügend gekennzeichnet, und unter den Nordindianern ist es heute noch üblich, dass die Redenden ihre gegenseitigen Titulaturen nach diesem Altersverhältnisse wählen.[336] Lippert befindet sich in dieser seiner Auffassung des klassifikatorischen Systems durchaus in Übereinstimmung mit Karl Kautsky, welcher schon vor ihm zu dem Schlusse gelangte, dass dasselbe gar kein Verwandtschaftssystem in unserem Sinne sei, weil es nicht auf der Abstammung beruht, dass daher auf der Kulturstufe, die es hervorbrachte, eine Familie in unserem Sinne nicht existierte. Auch ihm bedeuten die Bezeichnungen jenes Systems nicht Grade der Abstammung, sondern der Generation. Es entstand zu einer Zeit, als weder der Zusammenhang zwischen Vater und Kind, noch auch der viel klarere zwischen Mutter und Kind eine Bedeutung hatte, so dass man diesen Zusammenhang nicht beachtete und ihn nicht eigens[S. 164] bezeichnete.[337] So bleibt denn kein Anhalt, rings um die Muttergruppe eine andere Beschränkung des Verkehrs der Geschlechter sich vorzustellen, als wie sie allenfalls die Natur selbst gebot. Nur insoweit diese jeweilig die jüngsten und die ältesten Geschlechtsfolger ausschloss, kann sich der Verkehr immer nur innerhalb weniger der nächstliegenden Generationsschichten bewegt haben. Innerhalb dieser Schichten und in der Geschlechtsgenossenschaft verkehrte der Mann mit mehreren Weibern, das Weib mit mehreren Männern. Ja, es haben sich sehr sprechende Rudimente bis in späte geschichtliche Zeiten erhalten, aus denen hervorgeht, dass diese Übung einst als ein Rechtszustand aufgefasst wurde.[338]
Gegen diese Deutung, die er eine „verwegene“ nennt, wendet sich der jüngste, glaubensstarke Anwalt der Naturvölker, Dr. Schneider, und es verlohnt der Mühe, den Bocksprüngen eines von vorne herein in der Entartungslehre befangenen Geistes zuzusehen. „Wir selbst,“ sagt unser Kämpe, „gebrauchen die Bezeichnungen Onkel und Tante, Vetter und Cousine, Neffe und Nichte ohne Rücksicht auf die Blutnähe, nennen Schwager sowohl den Bruder der Frau, als den Mann der Schwester der Frau, und Schwägerin die Frau des Bruders, wie die des Bruders der Frau, und dennoch verbinden wir mit diesen Worten stets ein bestimmtes Verwandtschaftsverhältnis. Aus dem Umstande, dass das leibliche Band zwischen Eltern und Kindern durch die Sprache nicht bezeichnet wird, folgt keineswegs, dass dasselbe überhaupt nicht erkannt oder anerkannt wird.“[339] Bis dahin kann man dem Autor folgen, da sich in der That aus dem Mangel sprachlicher Ausdrücke nicht mit Sicherheit auf die gänzliche Abwesenheit der entsprechenden Begriffe schliessen lässt. Kein vorurteilslos denkender Forscher vermag ihm aber zuzustimmen, wenn er sagt: „Statt der empörenden Annahme beizupflichten, welche darin einen Rückstand urzeitlicher Gemeinschaftsehe verteidigt, würden wir lieber auf jede Erklärung verzichten.“[340] Dass dieses Zurschautragen sittlicher Ent[S. 165]rüstung nicht die Sprache wissenschaftlicher Denkweise sein kann, bedarf keiner Erörterung. Die Wissenschaft kennt keine „empörenden“ Annahmen, wird durch nichts empört, durch nichts begeistert; sie sucht nach Wahrheit, gleichgültig, wo und wie sie dieselbe findet. Die Wahrheit ist aber an sich weder gut noch böse, weder schön noch hässlich, weder sittlich noch unsittlich, sondern nichts als wahr. Dr. Schneider ist indes im Besitze einer in seinen Augen sehr befriedigenden Erklärung: „Die in Rede stehenden Verwandtschaftssysteme hören auf, widersinnig oder unverständlich zu sein“ — (dies sind sie auch uns nicht) — „sobald dieselben aus ihren Grundgedanken und Zwecken erklärt und durch die gesellschaftlichen Bedürfnisse der urzeitlichen Menschheit beleuchtet werden.“ Sehr richtig; den „Grundgedanken“, den „Zweck“ und die „gesellschaftlichen Bedürfnisse“ des Urmenschen erblickt Dr. Schneider aber in folgendem: „Denselben ist offenbar die Absicht zu Grunde zu legen, das höhere Ansehen und mit ihm die Verantwortlichkeit aller Glieder der älteren Geschlechterreihen über die der jüngeren zu befestigen, die letzteren in der Ehrfurcht und im Gehorsam gegen das Alter zu erhalten und endlich die Genossenschaft vor Zersplitterung in Seitenzweige zu schützen. Dadurch, dass die Bezeichnungen Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Bruder und Schwester ohne Rücksicht auf die Blutnähe angewendet wurden, bildeten die einzelnen Familien einer Sippe in Wirklichkeit nur eine einzige, deren sämtliche Angehörige sich als nächste Blutsverwandten betrachteten.“[341] Man sieht, in seinem Eifer gelangt unser Gegner zur nämlichen Auffassung der Geschlechtsgenossenschaft wie wir, nur erscheint diese ihm, statt als Ausgangs-, als Endpunkt der klassifikatorischen Bezeichnungsweise. Wessen Phantasie fähig ist, den Urmenschen mit den ihm vom Verfasser unterschobenen Absichten und dem Begriffe von Verantwortlichkeit und Fürsorge auszustatten, bringt am Ende wohl auch die weitere Schlussfolgerung fertig. Die Verwandtschaftsbezeichnungen wurden bei den Irokesen bekanntlich auf die einzelnen Nationen ihres Bundes ausgedehnt, und dies belehrt uns[S. 166] nach Dr. Schneider deutlich, „dass das so übel missdeutete Verwandtschaftssystem innerhalb der Clanschaft zu keinem andern Zwecke diente, als innerhalb des Staatenbundes, nämlich zur Bezeichnung des Ranges, zur Sicherstellung der Autorität und zur Stärkung des Stammesbewusstseins.“ Dass man, wenn z. B. die Onondaga „die Väter“, die Cayuga „die Kinder“ hiessen, damit die Stämme nach ihrem Alter einfach als ältere und jüngere bezeichnen wollte, wie sie es in der That auch waren, — daran scheint Dr. Schneider gar nicht gedacht zu haben. Ganz Köstliches leistet er aber in folgendem: „Aus der instinktiven Bereitwilligkeit, mit welcher der einzelne Naturmensch auf alle Sonderinteressen verzichtet und in der Familie oder Sippe aufgeht“, — (also doch!) — „wird niemand folgern wollen, das individuelle Bewusstsein sei in der Urzeit vom Kollektivbewusstsein nicht“ — — „geschieden gewesen; ebenso wenig kann durch die sprachliche und thatsächliche Verschmelzung mehrerer Familien zu einer einzigen die begriffliche Abwesenheit der Einzelfamilie glaubhaft gemacht werden.“[342] Was hierunter sich zu denken sei, ist nicht recht verständlich. Unter Verschmelzung versteht man doch ein Einswerden derart, dass die einzelnen Bestandteile als solche aufhören erkennbar zu sein. Hat nun eine solche Verschmelzung thatsächlich stattgefunden, wie sollte und könnte sich in der Geschlechtsgenossenschaft die Einzelfamilie erkennen, wie könnte der Begriff einer solchen vorhanden sein? Der Leser mag nach dem Gesagten entscheiden, ob den Ausführungen Dr. Schneiders und seiner Anhänger auch nur die geringste Spur von Wahrscheinlichkeit innewohne.
Es ist also wohl ein durchaus vergebliches Bemühen, der Urzeit die Ehe, die Verwandtschaft und die Familie in unserem Sinne retten zu wollen. Ohne Begriffsvermischung kann innerhalb der urzeitlichen Geschlechtsgenossenschaft von „ehelichen“ Verhältnissen nicht die Rede sein. Wir kommen nicht über die auf Mutter und Kind beschränkte Muttergruppe hinaus, die inmitten der liebeleeren Ungebundenheit stets von der Natur gegeben war und in welcher die Mutterfolge herrschte, herrschen musste, so[S. 167] lange es zu keiner bestimmten Vaterschaft kam. Deswegen kann ich auf die Urzeit des sonst so gewiegten und vorsichtigen Edward Tylor Meinung nicht ausdehnen: „Selbst bei den rohesten Völkern, vorausgesetzt, dass sie nicht durch Laster oder Elend verkommen sind, finden wir eine Vorstellung von der sittlichen Bedeutung des Familienlebens.“[343] Diese Voraussetzung bricht zusammen, sobald man die Liebe aus dem Bereiche der niederen Kultur hinwegräumt, wie sogar noch heute lebende, unberührte Menschenstämme zu thun gestatten. Die Wahrheit ist, dass wo die Familie überhaupt noch nicht vorhanden ist, es auch keine Vorstellung von ihrer sittlichen Bedeutung geben kann.
In allen Weltteilen, bei den verschiedensten Völkern und durch alle Zeiten ist das Vorhandensein eheloser Ungebundenheit des Geschlechtsverkehrs und damit der Muttergruppe nachweislich. In diesen allerältesten Zeiten liess sich die Vaterschaft natürlich nicht feststellen, das Kind gehörte unzweifelhaft der Mutter, und zwar der Mutter ganz allein. Freilich der römische Rechtssatz: mater semper certa est, etiamsi vulgo conceperit, pater vero is tantum, quem nuptiae demonstrant, konnte damals noch keine Geltung haben, und es ist irrig, spätere Erscheinungen daraus abzuleiten, dass man den Frauen keine Treue zutrauen konnte, da ja der Begriff der Treue noch gar nicht bestand; immerhin ist anzuerkennen, dass die Unsicherheit der Vaterschaft, was freilich niemanden interessierte, thatsächlich vorhanden war. Wenn nun einige Forscher, wie Post und Wilken, meinen, dass in der ersten Urzeit selbst die dauernde Beziehung zwischen Mutter und Kind so gut wie unbekannt war, und das Kind, keiner bestimmten Person angehörend, in der Horde aufging,[344] von der es einen Teil ausmachte, daher auch seiner natürlichen Mutter nicht näher verwandt galt, als irgend einem andern Stammgenossen oder wenigstens[S. 168] einer Klasse von andern Stammgenossen,[345] so kann doch dieser Zustand begreiflicherweise nicht lange gedauert haben. Es lässt sich hören, dass bei den indischen Naïr kein Sohn seinen Vater, kein Vater seinen Sohn kennt; das von der Natur um Mutter und Kind geschlungene Band musste jedenfalls sehr bald seine Rechte geltend machen, und diese Naturwahl trug dazu bei, dasselbe immer inniger und fester zu gestalten. Alle Beispiele rascher Entfremdung zwischen Mutter und Kind, womit die moderne Völkerkunde uns versieht, betreffen auch stets nur den ohnehin überall von der Familie sich frühzeitig ablösenden Sohn, niemals die Tochter, welche bis zum mannbaren Alter fast ausnahmslos bei der Mutter bleibt, ein Verhältnis, für das man sich in der ganzen übrigen Welt der Lebewesen vergeblich nach einem Beispiele umsieht. Aber auch beim männlichen Kinde kann die Entfremdung und das Aufgehen in die Horde nicht allzurasch vor sich gehen.
Nichts in der That, bemerkt Lippert, ist hilfloser als das neugeborene Kind; nicht Wochen und Monate, sondern Jahre bedarf es seiner Mutter zur Ernährung, und somit ist schon ein dauerndes Verhältnis zwischen Kind und Mutter begründet. Auch lange nach der Entwöhnung bleibt selbst den Kindern in unseren Zivilisationskreisen die Milch der wichtigste und hauptsächlichste Teil ihrer Nahrung. Wir ersetzen diesen Mangel durch Kuhmilch; den Völkern, welche keine milchspendenden Haustiere besitzen, wie z. B. die Amerikaner und die Schwarzen Zentralafrikas, fehlt natürlich dieses Surrogat, und zur Aufbringung des Kindes kennen sie kein anderes Mittel, als das der möglichsten Erstreckung der natürlichen Ernährungsweise und ein entsprechendes Hinausschieben der Zeit des Überganges. Damit trifft zusammen, dass die Ernährung aus dem mütterlichen Busen für die Sitte und Lebensweise der Urzeit wie der Unkultur zugleich die leichteste, bequemste ist. Aus diesem Grunde erstreckt sich die Zeit des Nährens bei allen Völkern niederer Kultur auf ungewöhnlich grosse Zeiträume. Drei bis vier Jahre des Säugens und mehr sind nichts[S. 169] Seltenes,[346] und es giebt Völker, bei welchen halb herangewachsene Buben ihre Spiele unterbrechen, um nach der Mutterbrust zu verlangen, welche manche von ihnen schon mit der glimmenden Zigarre vertauschen. Lippert glaubt nun, dass alle Völker einmal durch die Schule der langen Nährfrist gegangen, weil eben die Erfindung der besten Ersatznahrung erst ein spätes Ereignis sei. Allein die Richtigkeit der letzteren Behauptung auch zugegeben, so kann dieselbe doch nicht der ausschliessliche Grund der beregten Sitte sein, denn bekanntlich beschränkt sich die Nahrung des Kindes bei jenen Völkern, welche die Säugezeit ungebührlich lange ausdehnen, durchaus nicht auf die mütterliche Milch, sondern es werden dem Säuglinge schon frühzeitig andere Stoffe zugeführt. Im nordwestlichen Amerika gewöhnen die Tlinkit und Koljuschen ihre Kinder schon nach zehn Monaten an den Genuss eines Seetieres, und die Eskimokinder, welche noch nicht sprechen können, verzehren mit ungeheurer Gefrässigkeit grosse Fett- und Fleischklumpen vom Walross,[347] während die Kinder der Chippeway-Indianer beständig mit dem Essen von Musetier- und Elenfleisch sich beschäftigen, wenn sie nicht gerade am mütterlichen Busen saugen.[348] Es ist also bei den Urvölkern, wie Dr. Ploss mit grösserer Wahrscheinlichkeit annimmt, die Bequemlichkeit, die Einfachheit und Billigkeit dieser Ernährungsweise, dann die Gewohnheit, und endlich auch die Fähigkeit, jahrelang ohne Nachteil stillen zu können, massgebend.[349]
Sei dem indes wie immer, Thatsache ist, dass die meisten Wilden ungemein lange Nährfristen beobachten, und dies musste die Folge üben, dass in der Urzeit das Kind selbst schon mit erwachenden Sinnen auch des Bandes bewusst ward, das es an die Mutter knüpfte. So zeitigte die Mutterliebe im Kinde die[S. 170] jüngere Frucht der Kindesliebe, der Liebe zur Mutter.[350] Weil weit weniger erforderlich zur Erhaltung der Art, ist dieses Gefühl auch weniger verbreitet und viel schwächer als die Liebe der Eltern zu den Kindern. Den Tieren ist es völlig unbekannt; der kulturarme Wilde empfindet es meist nur leise und selbst beim Gesitteten vermag es in der Regel an Kraft sich mit der elterlichen, besonders der mütterlichen Liebe nicht zu messen.[351] Immerhin dürfen wir erwarten, dass in den Zeiten der Muttergruppe die Kinder der nämlichen Mutter für längere Dauer eine der Art der Zusammengehörigkeit sich bewusste Gemeinschaft um die Mutter bildeten und dass die Töchter an dieser Gemeinschaft noch festhielten, wenn die Söhne der Paarungstrieb oder der Hunger davonführte. Hingegen war der Einfluss jener Grundsitte des jahrelangen Nährens auf das Verhältnis von Mann und Frau, sowie auf dessen Dauer nicht günstig. Darin muss man Lippert beistimmen, nicht aber in seiner Begründung der beobachteten Thatsachen. Ihm zufolge gebietet nämlich ein physiologisches Gesetz für die ganze Dauer der Muttersorge strenge Entsagung, wodurch der Mann sich vollständig vereinsamt sah und der Bund durch Trennung der beiden Erzeuger wieder gesprengt war. Frühzeitig soll die Erfahrung dieses Gesetz der Enthaltsamkeit gelehrt haben, welches gar bald auch zur menschlichen Satzung ward, auf deren Übertretung ein schwerer Fluch lastete. Starb gar das Kind während der üblichen langen Säugeperiode, so erweckte dies die Vermutung, dass die Frau die Gemeinschaft des Mannes den Mutterpflichten vorgezogen habe. Das Entsagungsopfer, welches für die Existenz des Kindes gebracht wurde, zerstörte aber für die ferneren Zeiten der Urgeschichte die Möglichkeit einer dauernden und einpaarigen Ehe.
So legt, anschliessend an Lubbock, der geistvolle Lippert den Sachverhalt dar.[352] Richtig ist, dass unter manchen kulturarmen Völkern der Geschlechtsgenuss dem Weibe so lange unter[S. 171]sagt ist, als sie ihr Kind säugt. Allein diese Vorschrift hat durchaus nicht allgemeine Gültigkeit. Bei den marokkanischen Arabern z. B. pflegen die Mütter ihre Kinder zwei Jahre lang zu nähren und während dieser Zeit leben sie zumeist allein; doch ist es ihrem Manne nach Ablauf von drei Perioden gestattet, sie wieder zu besuchen und mit ihnen Umgang zu pflegen.[353] Ferner ist es wohl eine durchaus irrige Voraussetzung, dass Entsagung ein physiologisches Gesetz und vollends, dass sie zur Erhaltung des Kindes notwendig sei. Vielmehr ist in der überlangen, sich nicht selten auf vier bis fünf, ja mitunter bis zu zehn und zwölf Jahren erstreckenden Nährfrist eine der Ursachen der übergrossen Kindersterblichkeit zu suchen, während sie zugleich eine frühzeitig eintretende Hinfälligkeit und Abgelebtheit der Mutter nach sich zieht. Man kann also nur so viel sagen, dass unter günstigen Verhältnissen die kräftigen Mütter wilder und halbwilder Völker ihren Kindern eine nach unseren Begriffen ungemein lange Zeit die Milch ihrer Brust als fast ausschliessliche Nahrung darreichen können, ohne dass sie selbst oder ihre Sprösslinge dadurch besondern Schaden erleiden. Allerdings beobachtet man auch vielfach, dass wilde Mütter durch ein mehrere Jahre lang dauerndes Säugen frühzeitig welken und altern.[354] Von einem „Entsagungsopfer“ ist vollends keine Rede. Es ist vielmehr die blosse Furcht vor der Geburt, welche die Weiber so lange stillen lässt, um einer frühzeitigen Wiederholung der Schwangerschaft zu entgehen, denn in der That sind sie in der Lage, während des Säugens geschlechtlich zu geniessen unter verringerter Gefahr des Empfangens. Freilich hilft das Mittel nicht immer. Bei den Serben stillt die Mutter so lange, als sie nicht von neuem schwanger wird, ein Beweis, dass sie also in der Nährzeit den Geschlechtsgenuss sich nicht versagt. Alle glauben aber, dass sie nicht schwanger werden könnten, so lange sie säugen, ein Punkt, in dem sie sich freilich oft irren.[355] Wenn die Arawakenfrauen[S. 172] die Kinder mehrere Jahre fortstillen, bis das nächste Kind da ist, so ist damit gleichfalls ausgesprochen, dass das Säugen die Empfängnis nicht hindert; auch bei den Negerinnen in Altkalabar dauert das Säugen bis zu einigen Monaten in die nächste Schwangerschaft hinein, es hat also während desselben Befruchtung stattgefunden. Im allgemeinen darf man aber wohl annehmen, dass die Gefahr einer neuen Schwangerschaft durch eine lange Säugeperiode verringert werde, ja bei einigen Frauen ist die Meinung verbreitet, dadurch gänzliche Unfruchtbarkeit herbeiführen zu können; wenn auch nicht diese, eine Verringerung der Kinderzahl hat sie jedenfalls zur Folge, denn es tritt durch lang fortgesetztes Säugen Atrophie des Uterus ein.[356] Dr. Ploss, der diesen Fragen jahrelanges Studium gewidmet hat, hält den thatsächlich unrichtigen Gedanken, dass Ausübung der Begattung der Säugenden oder dem Säuglinge schaden könne, für einen den wilden Völkern allzu ferne liegenden; ich glaube mit Recht, denn es lag sicher nicht im Wesen des gedankenarmen Urmenschen, das Wohl des kommenden Geschlechtes fürsorgend durch sein eigenes zu erkaufen. Wie der Zweck der Natur mit dem Erscheinen des Kindes erreicht ist und dieselbe sich nicht weiter um die Eltern bekümmert, welche sie oft grausam ihrem Schicksale überlässt, so lebt als wirksames Gegengewicht in jedes Menschen Brust der egoistische Erhaltungstrieb, der zuvörderst auf das eigene Wohl bedacht ist. Die lange Säugezeit auf niedrigen Gesittungsstufen bedeutet also nicht nur kein Entsagungsopfer des Weibes, sondern vielmehr das gerade Gegenteil, nämlich das Streben, den Geschlechtsgenuss sich zu sichern mit thunlichster Vermeidung seiner Folgen. Doch soll nicht geleugnet werden, dass in der That Enthaltsamkeit während der Stillungsperiode vielfach auf niederen Stufen geübt wird; nur liegen ihr nicht die von Lippert vermuteten Gefühle zu Grunde. Vielmehr darf man wohl mit Dr. Ploss annehmen, dass nach allgemeiner Volksstimmung die weibliche Person, so lange sie überhaupt in einer geschlechtlichen Verrichtung begriffen ist, als im Ausnahmezustand befindlich gilt, der[S. 173] für andere dann eine gewisse Gefahr darbietet, wenn sie sich mit der darin Befindlichen in zu nahe Berührung einlassen.[357] Die Enthaltsamkeit geht also nicht vom Weibe, sondern vom Manne aus, und was diesen zurückhält, ist gemeine Furcht. Zu Gunsten dieser Ansicht spricht, dass bei den meisten Wilden und Halbwilden das Weib während der Katamenien als „unrein“ gilt und eine unerschöpfliche Liste von Vorurteilen und darauf gegründeten Sitten diese Momente des Geschlechtslebens in den dunkelsten Zeiten umgab und noch umgiebt. Nur der hochgestiegene Europäer ächtet das Weib weder in dieser Zeit, noch wenn sie schwanger oder gar Wöchnerin ist. Mantegazza erzählt von einem seiner Bekannten, welcher seine eigene Frau so sehr liebte (?) dass er schon in der ersten Woche nach ihrer Entbindung zu ihr kam. Drei Tage nach derselben war sie von neuem in der Hoffnung und neun Monate darauf schenkte sie einem zweiten Kinde das Leben.[358]
Ich muss mich also von Lippert etwas trennen in der Deutung der urzeitlichen Entsagung und darin nicht so sehr einen Triumph der auf die Erhaltung der Nachkommenschaft bedachten Mutterliebe, als einen Ausfluss der auf Beschränkung der Brut abzielenden Eigenliebe erkennen, eine Beschränkung, die derselben andererseits freilich wieder zum unbeabsichtigten Vorteile gereicht. Für die Urzeit ist diese Deutung, däucht mir, die weitaus glaubwürdigere, und vielleicht wird auch Lippert sich ihr anschliessen, wenn er die beigebrachten Gründe auf ihre Wichtigkeit und Tragweite hin sorgsam prüft. Das Kind war für die Mutter zuerst unter allen Umständen eine Last, und war sie auch in der Lage, dasselbe selbständig aufzubringen, so erschwerte sich ihr doch sehr erheblich der Kampf ums Dasein mit der wachsenden Kinderzahl. Der allerursprünglichste Grad von Fürsorge für das Eigenwohl wies daher das Weib auf deren Beschränkung hin, und die Entsagung mochte ihr desto leichter fallen, als die Lust an Geschlechtsfreuden noch weniger ausgebildet war. Die fürsorgende Entsagung während des Stillens im Hinblick auf die Nachkommenschaft ge[S. 174]hört wohl erst einer späteren Epoche an, wie sie manche Barbaren der Gegenwart darstellen mögen. So betrachten es auf den Vitiinseln z. B. die Angehörigen der Frau als eine offenbare Beleidigung, wenn diese vor Ablauf der üblichen drei bis vier Jahre wieder ein Kind bekommt, und halten es dann für ihre Pflicht, sich in derselben offenkundigen Weise zu rächen. Berthold Seemann, welcher 1860 den Vitiarchipel besuchte, erzählt von einem Weissen, welcher auf die Frage der Eingebornen nach der Zahl seiner Geschwister, offenherzig mit: „Zehn“ antwortete. „Aber das ist ja nicht möglich,“ meinten die Insulaner, „eine Mutter kann kaum so viele Kinder erzeugen.“ Belehrt, dass diese Kinder in jährlichen Zwischenräumen zur Welt gekommen und dass dies ein in Europa häufiges Vorkommnis sei, fanden die dem Kannibalismus huldigenden Naturkinder dies ungemein anstössig und meinten, dies erkläre zur Genüge, warum so viele Weisse blosse Knirpse seien.[359] Auf diesen fortgeschritteneren Stufen ist übrigens die Beschränkung der Geburten gar nicht die Folge von Entsagung, sondern künstlich bewirkt. Von den Chewsuren im Kaukasus meldet Dr. Gustav Radde, selten werde man mehr als drei Kinder in einer Familie finden, denn „es ist bei den verheirateten Chewsuren eine grosse Schande, wenn dem jungen Paare vor Ablauf der ersten vier Jahre ein Kind geboren wird. Aber später darf erst im Verlaufe von abermals wieder drei Jahren eine zweite Geburt statthaben; die Leute meinen, dass bei der raschen Aufeinanderfolge der Kinder das jüngere dem älteren die nötige Pflege rauben würde. Die also mit dem zwanzigsten Jahre eingegangene Ehe bleibt vier Jahre lang unfruchtbar und das absichtlich“, nicht aber auf dem Wege der Enthaltung.[360] Immerhin bleibt Lipperts Folgerung zu Recht bestehen, dass die mit der langen Nährfrist in irgend einer Weise zusammenhängende Ent[S. 175]haltsamkeit den Wechsel der Frauen seitens der Männer bedinge; er hätte hinzufügen können: wie jenen der Männer seitens der Frauen. Denn spätestens nach der Geburt des Kindes schied der Mann, um seine Freuden in den Armen eines andern Weibes zu suchen, die Mutter aber blieb während der langen Nährzeit auf sich selbst angewiesen. Bei dem geringen Vorrate an Zärtlichkeit, welcher den niederen Gesittungsstufen eignet, ist kaum anzunehmen, dass die Neigung des Weibes zum nämlichen Manne die Probe der Jahre zu bestehen vermochte. So lange sich das Weib nicht in den Besitz eines einzigen Mannes gab, — und bis dahin war noch ein weiter Weg — fiel sie leicht in den verschiedenen Zeiten ihrer Freiheit Verschiedenen zu. Hatte sie doch, so lange sie frei für sich in ihrer eigenen Gewalt stand, für niemanden ihre Unberührtheit zu wahren.[361] Die wenigen Kinder, welche das Weib in langen Zeitabständen gebar, dürften also nur selten vom gleichen Vater stammen. Denn der Trieb nach Fortpflanzung verlangt eben so heftig nach Wechsel, wie der Trieb nach Erhaltung der Gattung nach Dauer in dem Verhältnis von Mann und Weib. So ist also schon in der Natur der Zwiespalt zwischen Begierde und Familie gegeben, und nicht im Manne kann von Anfang an der Antrieb gelegen sein, sich dem Weibe zuzugesellen, um der Versorger ihrer Kinder zu werden.[362]
[293] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 88.
[294] Lippert. A. a. O. S. 73.
[295] A. a. O. S. 76. — Geschichte der Familie. S. 20. — Ferner: Lippert. Die Kulturgeschichte in einzelnen Hauptstücken. Leipzig u. Prag, 1886. II. Abteilung. S. 3.
[296] Powell. Unter den Kannibalen von Neubritannien. S. 123.
[297] R. Parkinson. Im Bismarck-Archipel. Erlebnisse und Beobachtungen auf der Insel Neupommern. Leipzig, 1887. S. 105.
[298] Globus. Bd. XIII. S. 230.
[299] Globus. Bd. XLIII. S. 158.
[300] Richard Oberländer. Australien. Geschichte der Entdeckung und Kolonisation. Zweite Aufl. Leipzig, 1880. S. 307–308.
[301] A. W. Stirling. The Never, never Land. A ride in North Queensland. London, 1884. S. 87.
[302] Nach Appun.
[303] Letourneau. Sociologie. S. 138.
[304] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 76.
[305] Kautsky im Kosmos. Bd. XII. S. 194.
[306] Frerichs. Zur Naturgeschichte des Menschen. S. 106.
[307] A. a. O. S. 103–104.
[308] Lippert. A. a. O. S. 76.
[309] A. a. O.
[310] Letourneau. Sociologie. S. 138.
[311] Dr. Lothar Dargun. Mutterrecht und Raubehe und ihre Reste im germanischen Recht und Leben. Breslau. 1883. S. 3.
[312] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 281.
[313] „Es giebt kein kommunistisches Volk,“ sagt ziemlich gewagt Professor Ratzel (Völkerkunde. Bd. I. Grundzüge S. 85), setzt aber hinzu: doch ist besonders bei nomadisierenden und daher dünn wohnenden Naturvölkern der Eigentumsbegriff nicht nach allen Richtungen hin gleich entwickelt.
[314] Dr. Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 90.
[315] Ausland. 1862. S. 594.
[316] Darwin. Reise eines Naturforschers um die Welt. Stuttgart, 1875. S. 263.
[317] Schneider. Die Naturvölker. Bd. I. S. 96.
[318] Lippert. Kulturgeschichte in einzelnen Hauptstücken. Abt. II. S. 89–92.
[319] Wilhelm Radloff. Aus Sibirien. Leipzig, 1884. Bd. I. S. 287.
[320] Darwin. Reise eines Naturforschers. A. a. O.
[321] Moriz Wagner. Die Kulturzüchtung des Menschen gegenüber der Naturzüchtung im Tierreich. (Kosmos 1886. Bd. I. S. 34.)
[322] Wagner. A. a. O. S. 24.
[323] Frerichs. Zur Naturgeschichte des Menschen. S. 107.
[324] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 79–81 und Geschichte der Familie. S. 8.
[325] Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 477.
[326] Georg Schweinfurth. Im Herzen von Afrika. Bd. I. S. 574.
[327] Henry M. Stanley. Durch den dunklen Weltteil. Leipzig, 1878. Bd. I. S. 535.
[328] A. a. O. Bd. II. S. 317.
[329] Erst 1885 trank Dr. Jühlke auf solche Weise Blutbruderschaft mit dem „Sultan“ Mandara von Dschagga, indem er mit demselben zusammen von derselben Milch trank. Dr. Jühlke zuerst aus seinem Munde und der Sultan sodann aus jenem des deutschen Freundes. Und dies geschähe deshalb, so erklärte der Ostafrikaner ausdrücklich, weil Kinder, wenn sie klein seien, Milch tränken und zwei Brüder von einer Mutter eine und dieselbe. Wenn sie nun das thäten, so bedeute es, dass sie, Jühlke und der Sultan, ebenso Brüder seien, als wenn sie eine Mutter gehabt hätten. (Schwäb. Merkur vom 21. Oktober 1885 nach Dr. Jühlkes Bericht in der Kolonialpolitischen Korrespondenz.)
[330] Lewis H. Morgan. Systems of Consanguinity and affinity of the human family. Washington, 1871.
[331] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 81–83.
[332] Kubary in den Mitteil. d. Geograph. Gesellsch. zu Hamburg. 1878–1879. S. 245.
[333] Morgan. A. a. O. S. 454.
[334] A. a. O. S. 456.
[335] Sibree. Madagaskar. S. 273–279.
[336] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 83–84.
[337] Kautsky im „Kosmos“. Bd. XII. S. 196–198.
[338] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 87.
[339] Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 475–476.
[340] A. a. O. S. 477.
[341] A. a. O.
[342] A. a. O. S. 480.
[343] Dr. Edward B. Tylor. Einleitung in das Studium der Anthropologie und Zivilisation. Deutsche autorisierte Ausgabe von G. Siebert. Braunschweig, 1884. S. 488.
[344] Wilken. Primitieve vormen van het huwelijk en den oorsprong van het gezin. (Ind. Gids. 1881. S. 101.)
[345] Post. Geschlechtsgenossenschaft. S. 88.
[346] Lubbock. Die Entstehung der Zivilisation und der Urzustand des Menschengeschlechts. S. 65. — Lippert. Geschichte der Familie. S. 21.
[347] Dr. Hermann Heinrich Ploss. Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Stuttgart, 1876. Bd. II. S. 123.
[348] A. a. O. S. 114.
[349] A. a. O. S. 92.
[350] Lippert. Die Geschichte der Familie. S. 23.
[351] Letourneau. Sociologie. S. 140.
[352] Lippert. Die Geschichte der Familie. S. 24–26.
[353] Gerhard Rohlfs im: Globus, Bd. XXVII. S. 286.
[354] Ploss. Das Kind. Bd. II. S. 112–113.
[355] M. Petrowitsch, im: Globus, Bd. XXXIII. S. 348.
[356] Ploss. A. a. O. S. 92.
[357] Ploss. Das Weib. Bd. II S. 476.
[358] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Studien. S. 76.
[359] Dr. Berthold Seemann. Viti: an account of a government mission to the Vitian or Fijian Islands in the years 1860–1861. Cambridge, 1862. S. 191.
[360] Gustav Radde. Die Chewsuren und ihr Land. Cassel, 1878. S. 88: coitu non perfecto semineque ejaculato usque ad determinationem non perveniendo.
[361] Lippert. Die Familie. S. 68–69.
[362] A. a. O. S. 24.
[S. 177] galten.[363] Die durch Sprachgemeinsamkeit verbundene Geschlechtsgenossenschaft bildet aber auch die ganze Welt jener Menschen; was ausserhalb stand, galt ihr als Feind. Die wilden Völker am Orinoko und Cassiquiare, von denen Humboldt erzählt, „zerfallen in eine Unzahl von Stämmen, die sich tödlich hassen und niemals Ehen untereinander schliessen, selbst wenn ihre Mundarten demselben Sprachstamme angehören und nur ein kleiner Flussarm oder eine Hügelkette ihre Wohnsitze trennt. Je weniger zahlreich die Stämme sind, desto mehr muss sich, wenn sich jahrhundertelang dieselben Familien miteinander verbinden, eine gewisse gleichförmige Bildung, ein organischer, recht eigentlich nationaler Typus festsetzen. Dieser Typus erhält sich unter der Zucht der Missionen, die nur eine Völkerschaft unter der Obhut haben. Die Vereinzelung ist so stark wie früher; Ehen werden nur unter Angehörigen derselben Dorfschaft geschlossen. Für diese Blutsverwandtschaft, welche so ziemlich um eine ganze Völkerschaft ein Band schlingt, hat die Sprache der Indianer, die in den Missionen geboren sind oder erst nach ihrer Aufnahme in den Wäldern spanisch gelernt haben, einen naiven Ausdruck. Wenn sie von Leuten sprechen, die zum selben Stamme gehören, sagen sie mis parientes, meine Verwandten.“[364] So kennen sie heute noch bloss ihre Familie und ein Stamm erscheint ihnen nur als ein grösserer Verwandtschaftskreis. „Die Wilden verabscheuen alles, was nicht zu ihrer Familie oder ihrem Stamme gehört, und Indianer einer benachbarten Völkerschaft, mit der sie im Kriege leben, jagen sie, wie wir das Wild. Die Pflichten gegen Familie und Verwandtschaft sind ihnen wohl bekannt, keineswegs aber die Pflichten der Menschlichkeit, die auf dem Bewusstsein beruhen, dass alle Wesen, die geschaffen sind wie wir, ein Band umschlingt. Keine Regung von Mitleid hält sie ab, Weiber oder Kinder eines feindlichen Stammes ums Leben[S. 178] zu bringen.“[365] Erst die Kultur hat dem Menschen die Einheit des Menschengeschlechts zum Bewusstsein gebracht und ihm offenbart, dass auch mit Wesen, deren Sprache und Sitten ihm fremd sind, ein Band der Blutsverwandtschaft ihn verbindet.
ngezählte Menschenfolgen mochten einander abgelöst haben, ohne eine Spur ihres Daseins zu hinterlassen, ehe ein neuer Fortschritt in den Verhältnissen der Geschlechter sich anbahnte. Nichts was nur entfernt den Namen einer „Ehe“ verdiente, war vorhanden in der endogamen Muttergruppe; das Kind gehörte, so lange es unselbständig, einzig der Mutter und ging dann später in der Horde auf. Es galt allein die Mutterschaft, eine Verwandtschaft mit dem Vater war ein völlig unbekannter Begriff, da die Vaterschaft sich gar nicht feststellen liess. Die heranreifende Jugend paarte sich innerhalb der Horde untereinander und was wir heute „Geschwisterehen“ nennen würden, war ein gewöhnliches Vorkommnis. Nicht nur bildete Blutsverwandtschaft gar kein Hindernis des Geschlechtsverkehrs, sondern gab vielmehr die alleinige Berechtigung zu demselben und zwar im unbeschränktesten Masse. Die Verwandtschaftsbegriffe einer späteren Zeit waren noch nicht geboren, man unterschied bloss ältere und jüngere Generationsschichten, und keine anderen Grenzen beschränkten die Geschlechtsvermischungen als jene, welche die Natur selbst zwischen den älteren und jüngeren Hordenmitgliedern gezogen, daher denn auch Geschlechtsverbindungen innerhalb derselben Generationsschicht — zwischen „Brüdern“ und „Schwestern“ im Sinne jener Zeiten — als der normale ZustandWer möchte, wenn er die Verhältnisse der Menschen zueinander sich vergegenwärtigt, wie die beglaubigte Geschichte sie sogar von den Kulturnationen Europas im frühen Mittelalter verzeichnet, im Ernste bezweifeln, dass in Humboldts obiger Schilderung zugleich ein treffendes Gemälde urzeitlicher Zustände zu erblicken ist? Wie lange die Menschen darin verharrten, niemand wird es je ermitteln, — höchster Wahrscheinlichkeit nach aber sehr, sehr lange, denn die ersten Schritte sind es stets, welche am schwersten fallen. Allzu leicht sind wir geneigt, „Fortschritt“ für das allgemeine Gesetz der menschlichen Gesellschaft zu halten; nähere Prüfung lehrt jedoch, dass dem nur mit einer gewissen Einschränkung so sei. Nur wenige Nationen, und zwar europäischer Abkunft, schreiten wirklich fort, die meisten verhalten sich stationär; aber bei allen hat es eine Zeit gegeben, in welcher sie gewisse Fortschritte machten. Diese hielten auf verschiedenen Stufen inne oder wurden zum Stillstande gebracht; zweifellos hat aber der englische Soziologe Walter Bagehot Recht mit der Behauptung: in geschichtlicher Zeit sei der Fortschritt gering gewesen, sehr beträchtlich müsse er dagegen in den vorgeschichtlichen Epochen gewesen sein.[366] Zu diesen wesentlichsten Fortschritten rechne ich nun das Erwachen der Scheu vor Blutnähe mit der sich daran knüpfenden Sitte der Exogamie und der Ausbildung des Begriffes der Blutschande, welche dermalen bei ungemein niedrig stehenden Menschenstämmen oft am schärfsten entwickelt ist. Die Scheu vor Blutnähe ist nämlich nicht als ein blosser Brauch, sondern als ein menschlicher Charakterzug zu betrachten, welcher sich schon in unvordenklichen Zeiten bildete und befestigte.[367] Sie ist ein gesellschaft[S. 179]licher Instinkt jüngerer Ordnung, und wenn sich in der Geschichte wie auch in der Gegenwart noch manche Nichtberücksichtigung desselben wahrnehmen lässt, so sind dies aus der oben gekennzeichneten Urzeit hereinragende Überbleibsel der ursprünglich herrschenden Inzucht oder Endogamie. Die Entstehung dieses wertvollen jüngeren Instinktes hat niemand wahrscheinlicher gemacht, als Moriz Wagner, dem ich mich bis auf ein paar untergeordnete Einzelnheiten anschliesse.
Es wurde schon betont: in der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft scheint auch der nächste Verwandtschaftsgrad kein Paarungshindernis gewesen zu sein, noch weniger der zweite Grad, also der Verkehr unter Geschwistern. Wo Endogamie herrscht, wie zur Zeit der Muttergruppen, wird das Weib innerhalb derselben Geschlechtsgenossenschaft gewählt; so beweibten sich die Khoikhoin oder Hottentotten nicht ausser ihren Kraalen. Auf den Stamm beschränkt sehen wir den Geschlechtsverkehr auch bei den Aht in Nordwestamerika, bei den Kooch, Toda und Kalang in Indien. Ein Bodo darf nur mit Bodo heiraten. Die Lappen mischten sich in allen Graden, und selbst die Stoiker hielten die Ehe unter Blutsverwandten für naturgemäss. Die Keime zur später so allgemeinen Scheu der Blutnähe sind aber etwa auf die Periode der Eiszeit zurückzuführen, als nämlich ein bleibendes Zusammenwohnen der einzelnen Geschlechtsgenossen zu Schutz und Trutz gegen Feinde stattfand. Erst der diluviale Mensch bewohnte mit seinen Nächsten eine gemeinsame Hütte oder Höhle, die er sich zum Schutze gegen Kälte und Nässe mit künstlichen Werkzeugen wohnlich einrichtete und die ihn zu einem engen bleibenden Beisammensein nötigte, aus welchem das menschliche Familienleben, so verschieden von der Tierfamilie, sich allmählich entwickelte. Erst in dieser Zeit gewann der Verkehr der Geschlechtsgenossen eine gewisse Stetigkeit und verlor die Ungebundenheit früherer Tage. Es kam in der Muttergruppe zu zeitweiligen Bündnissen von verschiedener Dauer, die ich mich zwar sehr hüten werde mit dem Ehrennamen „Ehe“ zu schmücken, die aber immerhin als Vorläufer derselben gelten dürfen. Die Gewohnheit des dauernden Beisammenseins übt nun, wie die Erfahrung lehrt,[S. 180] eine abstumpfende Wirkung auf den sinnlichen Reiz: was man von frühester Kindheit an täglich und stündlich vor Augen hat, begehrt man nicht mit Leidenschaft. Diese tägliche Gewohnheit des Beisammenwohnens, wie es der eine gewisse Gemeinschaft bildenden Muttergruppe sicherlich eigen wurde, war und ist stets und überhaupt der stärkste Dämpfer der Phantasie und Sinnenlust. Dieselbe lässt eine geschlechtliche Neigung zwischen Geschwistern gar nicht aufkommen, oder wenn dennoch, so geschieht es nur da, wo jede anderweitige Gelegenheit zur Befriedigung des Geschlechtstriebes fehlt. Nur das Neue, das Fremde und Fernerliegende reizt die Phantasie und die Begierde nach dem Besitz. Deswegen pflegen jetzt selbst bei endogamen Zuständen die nächsten Grade der Blutsverwandtschaft verboten zu sein, was freilich wiederum erst das Ergebnis späterer Epochen ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach darf man nun die Entwicklung der Geschlechtsgenossenschaft zum Stamme in eine wenig spätere Zeit, als das Aufkommen des Beisammenlebens unter künstlichem Obdach versetzen: in den Anfang des Diluviums. Die durch Gewohnheit verbotenen Verwandtschaftsgrade werden nunmehr auf den ganzen Stamm ausgedehnt, denn der Stamm, innerhalb dessen Grenzen man sich nicht beweiben mag, wird eben als die Erweiterung der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft gedacht, und alle Stammesmitglieder gelten, wie die obigen Beispiele zeigen, miteinander für verwandt,[368] sind es ja auch in gewissem Grade. Es entstand daher allmählich die Sitte, einem fremden Stamme die Weiber zu entnehmen. Dies machte sich um so leichter, als mit der Stammesbildung auch jene grösseren Massenwanderungen begannen, jene Raubzüge und Eroberungen, die in der Regel von selbst zu massenhaften Vermischungen mit fremdem Blute führten. Die menschliche Neigung zu fremden Weibern und zur Vielweiberei liess den stärkeren Erobererstamm die Weiber der Besiegten verschonen und sich aneignen, wenn er die männliche Bevölkerung tötete oder zu Sklaven machte. Durch Generationen vererbt ist[S. 181] dann in der späteren morphologischen und physiologischen Fortbildung des Menschengeschlechts, gegen das Ende der Tertiärzeit, eine geschlechtliche Abneigung gegen die Blutnähe, als Exogamie, und damit eine starke Beschränkung der Inzucht in Familie und Stamm Brauch und Sitte geworden,[369] welche allmählich die Kraft eines Kultgebotes gewann und sich so fest einbürgerte, dass jeder Verstoss gegen dieselbe geradezu als Verbrechen geahndet wurde. Vermischung innerhalb des Stammes wird z. B. unter den Khond als blutschänderisch betrachtet und mit dem Tode bestraft; sie ist verabscheut bei den Tscherkessen, deren Brüderschaften oft Tausende von Personen umfassen, zwischen denen das Heiraten durch altes Gesetz gänzlich verboten ist. Dies ist auch der Fall bei den Samojeden, und ebenso hat es Manu in seinen Satzungen angeordnet, welche Heiraten unter Leuten desselben Familiennamens untersagen. So z. B. könnten in Schottland ein Fraser keine Fraser, ein Mac Intosh keine M’Intosh heiraten. Auch in China müssen Frau und Mann verschiedene Namen tragen. In Australien hindert bei einigen Stämmen, nicht bei allen, der „Kobong“, bei den Indianern Nordamerikas der „Totem“ jede Verbindung, und es bestand sogar, wie es jetzt scheint, eine ähnliche Sitte unter den alten Hochländern von Schottland.
Ist die Zahl der Thatsachen und Überlebsel erdrückend gross, welche beweisen, dass eine jüngere Form der Beweibung im Zusammenhange mit der Annäherung der bis dahin vereinzelten Stämmchen dazu geführt hat, dass der Mann nur noch das Mädchen eines fremden Stammes zum Weibe gewinnen konnte, so machen die ewigen Fehden, welche zwischen Wilden statthaben, es wahrscheinlich, dass der Mann zumeist auf dem Wege der Gewalt, des Raubes, seinen Zweck erreicht. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die Erbeutung von Weibern endlich nicht mehr bloss zufällige Folge des Krieges, sondern sehr oft dessen Veranlassung wurde, wie Kautsky bemerkt.[370] Olaus Magnus schildert z. B. die Stämme des europäischen Nordens als in beständigem Kriege mit[S. 182] einander liegend, entweder wegen geraubter oder wegen zu raubender Jungfrauen, „propter rapias virgines aut arripiendas.“ Sein Bruder Johannes bespricht dasselbe Thema und erwähnt eine Menge Fälle, in welchen die Räuber den Königshäusern von Dänemark oder Schweden angehörten. Wie es die Könige machten, so machten es auch ihre Unterthanen. Unter den Skandinaviern, ehe sie Christen wurden, kämpfte man fast beständig um die Frauen und beweibte sich auf der Spitze des Schwertes. In Schweden wurden die Weiber, selbst lange nach der Einführung des Christentums, oft noch geraubt, wenn sie schon der Schliessung der Heirat wegen auf dem Gange zur Kirche waren. Ein Heiratsgeleite bestand aus einer Abteilung Bewaffneter, und der grösseren Sicherheit halber wurden die Vermählungen gemeiniglich bei Nacht gefeiert. Noch jetzt soll in der alten Kirche von Husaby, in Gotland, ein Haufen Lanzen aufbewahrt werden, auf welche Fackeln gesteckt wurden; diese Waffen wurden von den Leuten des Bräutigams getragen und dienten zu dem doppelten Zwecke, Licht und Schutz zu verschaffen. Ein solches Vorherrschen von Gesetzlosigkeit, das nach Einführung des Christentums und vergleichsweiser Sittigung noch bestand, lässt uns auf die Gewohnheiten des Volkes in einem ursprünglicheren Zeitalter schliessen.
Die Gepflogenheit, die Beweibung durch gewaltsame, thatsächliche Entführung zu bewerkstelligen, ist eine gar nicht seltene Erscheinung als wirkliche Rechtseinrichtung, als eine sittengesetzliche Form, um in den Besitz eines Weibes zu gelangen. Nestor, der russische Chronist, sagt von den slavischen Drewiern: Ehen hatten sie gar nicht, sondern mit Gewalt entführten sie Jungfrauen und legten sie sich als Weiber bei. In seiner brutalsten Gestalt lernen wir den Frauenraub bei mehreren Australierstämmen kennen,[371] und verwandte Bräuche herrschen oder herrschten zur[S. 183] Zeit der Entdeckung bei den ausgestorbenen Tasmaniern, sowie bei den Papua Neuguineas, auf den Vitiinseln, sowie auf der Insel Bali, wo dem Raube unmittelbar Notzüchtigung folgt. Selbst in Europa muss jeder Lappe noch heutigen Tages wie in Vorzeiten die Finnen, sich mit List oder Gewalt eines Mädchens aus fremdem Stamme bemächtigen, und ebenso halten es die Ostjaken und Samojeden, ferner viele amerikanische Urvölker, unter welchen Frauenraub in solchem Masse gebräuchlich ist, dass dadurch abwechselnd Überzahl und Mangel an Weibern hervorgerufen wird. Die Stämme am Orinoko, Rio Negro und Amazonenstrome führten gleich den kannibalischen Kariben unaufhörliche Kriege mit ihren Nachbarn, um deren Weiber zu rauben, die Männer zu töten, und bei den Indianern Brasiliens fand Hr. von Martius die Sitte noch in vollem Schwange. Ähnliches übten auch die Eingebornen Nordamerikas, wo das Stehlen der Weiber Ursache und Ende der meisten Kriege und beliebtes Thema der Kriegsgesänge war, mitunter aber auch Wandervölker, welche oft dem durch die Wechselfälle ihres Schicksals eingerissenen Weibermangel im Wege des Raubes abhalfen. So die Magyaren zur Zeit ihrer Ansiedlung in der Ebene zwischen Donau und Theiss, welche, um sich Lebensgefährtinnen zur Gründung eines neuen Haushaltes zu verschaffen, Raubzüge nach deutschen und slavischen Gegenden unternahmen,[372] so endlich auch die Juden des Alten Testaments. Im Deuteronom und dem Buche der Richter sind Beweise eines der Kariben würdigen, bei ihnen gesetzmässigen Verfahrens enthalten. Mit Recht deutet Peschel auch des Livius Erzählung vom Raube der Sabinerinnen als eine verdunkelte Erinnerung einer alten Sitte der Römer, welche auch bei ihnen die Verbindungen innerhalb der Stammesgemeinde verbot. Bei manchen Völkern tritt der gewalt[S. 184]same Frauenraub nur noch aushülfsweise neben anderen, fortgeschritteneren Beweibungsformen auf. So greifen die west- und mittelasiatischen Reiternomaden, Kalmücken, Kirgisen, nogaische Tataren, Turkmenen, dann aber auch die kaukasischen Tscherkessen, Chewsuren, wenn die Hand der Auserwählten verweigert wird oder Schwierigkeiten wegen des Preises entstehen, zum Mittel gewaltsamer Entführung, eben so manche Nordamerikaner, die Neuseeländer und verschiedene Stämme der Sundainseln und Vorderindiens. Ist das Mädchen einmal in der Behausung ihres Entführers, so haben die Eltern kein Recht mehr auf sie, doch erfolgt fast regelmässig eine nachträgliche Verständigung wegen ihres Preises. Und selbst im gesitteten Europa giebt es ein Land, wo Entführung, bei der es freilich ganz ehrbar zugeht, das alltäglichste Auskunftsmittel der Liebespaare in der kleineren Bürgerschaft ist: Der Sizilianer entführt nämlich zumeist seine Braut, um sich in der nächsten Stadt mit ihr trauen zu lassen und dann die Eltern hochachtungsvollst nachträglich um ihre Einwilligung zu bitten. Der Vater schmollt einige Tage, weil es die Sitte so erheischt, doch kommt bald alles ins rechte Gleis.[373]
Im allgemeinen darf man den nackten, auf rohe Gewalt gegründeten Weiberraub unter den heutigen Wilden für eine Seltenheit erklären, und sogar bei vielen Stämmen Australiens ist er zur blossen Zeremonie herabgesunken. Diese Entwicklung des ursprünglichen Raubes wird in einem späteren Abschnitte noch zu verfolgen sein. In den ersten Stadien der menschlichen Entwicklungsgeschichte war er jedoch unzweifelhaft der Träger einer sehr bedeutenden Rolle, die indes nicht überschätzt werden darf. Enge hängt er mit der Exogamie zusammen, darf aber nicht, wie mitunter geschieht, damit verwechselt oder gar identifiziert werden, denn Exogamie kann sehr wohl ohne Frauenraub bestehen. Damit ist auch angedeutet, dass er für kein unbedingt notwendiges Durchgangsstadium in der ehelichen Entwicklung jedes Volkes zu halten ist, wenngleich, wie wir später zeigen werden,[S. 185] für ein solches, dem nur wenige Völker völlig entronnen sind. Diese sind natürlich zunächst im Kreise der Endogamen zu suchen, denn auch die Exogamie hat nicht ausnahmslose Verbreitung gefunden, und neben der grossen Mehrzahl der Exogamen gab es immer eine kleine Minderheit von Völkern, bei welchen die ursprüngliche Endogamie sich erhielt, in deren Folge, wie Moriz Wagner gezeigt, der Begriff der Blutschande entstehen und Geltung gewinnen konnte. Nicht die Exogamie und noch weniger der Frauenraub erzeugte daher diese merkwürdige Scheu, wie Kautsky im Anschlusse an die meisten Kulturhistoriker will,[374] sondern umgekehrt, ihr verdankt in erster Linie die Exogamie ihren Ursprung. Auch Lippert vermag ich nur bedingt beizustimmen, wenn er die Entstehung der Exogamie mehr auf wirtschaftliche Einflüsse, als auf physiologische Erkenntnisse zurückführt[375] und die indische Sitte, wonach Braut und Bräutigam zum Zeichen ihrer innigen Vereinigung wechselseitig mit dem Blute des andern gezeichnet werden, als Beweis dafür deutet, wie wenig die Exogamie in ihrem Ursprunge von der Scheu der Verbindung gleichen Blutes beherrscht sei.[376] Es ist ja eben nicht gleiches Blut, womit die beiden gezeichnet werden, sondern jeder erhält das Blut des andern und dies lässt sich, meines Erachtens, füglich nicht anders auslegen, als dass damit die in der Ehe sich auch thatsächlich vollziehende Vermischung zweier Individuen symbolisiert wird. Dass sie gleichen Blutes seien, wird aber damit nicht gesagt. Physiologische „Erkenntnis“ freilich lag der Exogamie gewiss nicht zu Grunde, dagegen mögen Erwerbslust und Ehrgeiz mit dazu beigetragen haben, die Bahn der Exogamie zu betreten. Ob ein Stamm in Endogamie verharrte oder zur Exogamie überging, darüber entschieden in der That, wie schon Martius[377] von den Brasilianern treffend bemerkte, seine jeweiligen Lebensverhältnisse, die Notwendigkeiten, welche diese ihm auferlegten. Wie liesse[S. 186] sich sonst der Umstand deuten, dass exogame und endogame Stämme mitunter auf verhältnismässig engem Raume nebeneinander wohnen, ohne sich in ihren Sitten zu bekehren! In den kleinen Horden Brasiliens kennt man noch keine Scheu vor Blutnähe, in den bevölkerteren Bezirken wird dagegen Exogamie zur Regel. Sir John Lubbocks und Karl Kautskys Erklärung des Gebots der Exogamie aus der Sitte des Frauenraubes und als Urheber des Begriffs der Blutschande gegenüber scheint mir die umgekehrte Deutung Wagners, wonach Frauenraub erst Folge der aufkeimenden Scheu vor Blutnähe wird, als die naturgemässere den Vorzug zu verdienen. Willig kann eingeräumt werden, dass das Einwurzeln der Sitte dann rückwirkend die schon vorhandene Scheu zum Begriffe der „Blutschande“ ausprägte.
Dabei darf man freilich diesem Worte nicht den Sinn in jener Ausdehnung unterlegen, welchen die gesittete Gegenwart daran knüpft. Die zu Exogamie und Frauenraub schreitenden Stämme hatten noch keine andere Blutsverwandtschaft als die der vorangegangenen endogamen Muttergruppe, die Blutsverwandtschaft ward immer noch von der Mutter aus gerechnet, und daran konnten die neuen Sitten vorerst nichts ändern. So gewährte denn die Exogamie in Wirklichkeit nur wenig Schutz gegen den Verkehr mit Blutsverwandten nach unseren Begriffen und wo sie systematisch geregelt war, gestattete sie denselben sogar zwischen Halbgeschwistern väterlicherseits; denn der Vater, der Räuber, war zwar der Herr, der Besitzer des Weibes, aber noch kein Familienmitglied, und eben die Exogamie bewirkte, dass der Vater immer dem Stamme seiner Kinder fremd blieb.[378] Die alten Araber übten ursprünglich Exogamie und hatten Abscheu vor Blutnähe, pflegten aber doch die Töchter ihres Oheims väterlicherseits, also ihre allernächsten Basen in modernem Sinne, zu Gattinnen zu nehmen. Übrigens erhielt sich, ehe der Frauenraub allgemeine Sitte wurde, neben diesem auch die Beweibung mit Frauen des eigenen Stammes; bei manchen Völkerschaften ist sie sogar niemals gänzlich aufgegeben worden. Nicht einzusehen[S. 187] ist dagegen, warum der Frauenraub geradezu Weibergemeinschaft herbeigeführt haben sollte. Der Verfechter dieser Ansicht,[379] Karl Kautsky, hat auch versäumt dieselbe ausreichend zu begründen. Seine Behauptung, dass die in den Stammesfehden gewonnenen Weiber ursprünglich Eigentum des ganzen Stammes gewesen, hat nur wenig für sich und findet in dermalen existierenden Verhältnissen keine Stütze. Dass bei den Australiern die geraubte Frau nicht so sehr dem Räuber, als dem ganzen Stamme gehöre, ist von niemanden beglaubigt, vielmehr muss das Volk erst gesucht werden, wo die Weiber ein Gesamteigentum des Stammes bilden. Die bei exogamen Stämmen mitunter herrschende Lockerheit im Geschlechtsverkehr beweist nichts zu Gunsten der Kautskyschen Theorie. Wer geschlechtliche Ungebundenheit an den Anfang der Urzeit versetzt, der wird einfach darin eine Fortdauer, ein Überleben ursprünglicher Zustände erkennen. Nirgends auf Erden ist eine neue Sitte mächtig genug, ältere Gepflogenheit auf einmal zu beseitigen, überall sehen wir vielmehr, wenn auch nur bruchstückweise, solche Reste, oft aus grauer Vorzeit, in spätere Epochen selbst dann noch herein ragen, wenn sie ihrem Sinn und Wesen nach sogar längst schon in geraden Widerspruch zu den neuen Anschauungen getreten sind. Auch die vielfach noch vorkommende und in unseren Augen schnöde Sitte der Überlassung von Frau und Tochter an den fremden Gast — der „gastlichen Prostitution“ — stammt gewiss nicht erst aus jener Periode, sondern erwuchs teils auf der Unterlage eines Überbleibsels aus den Tagen der älteren Ungebundenheit, teils aus dem Herrschaftsrechte, welches der Mann später über das Weib errang und worauf noch zurückzukommen sein wird. Dagegen darf man dem Wiener Soziologen sehr wohl in der Erklärung folgen, die er von der Entstehung des sogenannten Clan[380] oder Unterstammes liefert.
Das ungemein stark entwickelte Stammesgefühl der Urvölker, welches, wie wir vernahmen, einerseits den engsten Zusammenhang der Stammesangehörigen, andererseits völlige Abschliessung gegen die Stammfremden bewirkt, musste auch auf die Stellung der geraubten Frauen innerhalb des Stammes seinen Einfluss üben. Wo Frauenraub in grossem Umfange stattfand, wie bei den Kariben am Caroni und in den Wäldern des Cuyuni in Venezuela, war die Folge, dass die Weiber bei jedem Stamme zunächst Fremdlinge waren und nicht im stande, sich in derselben Sprache wie die Männer zu unterhalten. Sie redeten nämlich ihre Muttersprache fort, da ohnehin die Männer sie keiner Ansprache würdigten, — was das seelische Verhältnis der Geschlechter zur Genüge beleuchtet, nicht aber zu der Meinung verleiten darf, der Mann sei auch Herr der Familie gewesen. Nach dieser Richtung war das Weib vielmehr noch frei und selbständig, nur an Körperkraft dem Manne nachstehend. Auch ist die Sprachverschiedenheit nicht etwa so zu verstehen, dass wirklich zwei gänzlich verschiedene Sprachen nebeneinander bestanden. Der gelehrte Linguist Lucien Adam in Rennes hat gezeigt, dass der wesentlichste Unterschied darin beruhte, dass im Karibischen den Weibern ein Teil des Wortschatzes und gewisse grammatische Formen eigen waren, deren sie sich im Gespräche mit den Männern nicht bedienen durften und welche die letzteren unter sich auch niemals anwendeten. Thatsächlich beschränkt sich die gedachte Zweisprachigkeit auf etwa 400 Wörter (unter 2–3000), die doppelt vorhanden sind, auf eine doppelte Reihe von Pränominalsuffixen und ein doppeltes Verneinungszeitwort.[381] Immerhin genügt dies, um die tiefe Kluft anzudeuten, welche innerhalb des Stammes die fremden Weiber von ihren Gatten scheidet.
Wiesen ihnen die geschilderten Verhältnisse nun einerseits eine Sonderstellung an, so mussten sie andererseits aber auch erzielen, dass die Frauen als Fremde selbst sich wieder in ver[S. 189]schiedene Gruppen teilten. Nehmen wir z. B. an, der Stamm A sei von vier Stämmen B, C, D und E umgeben, aus denen er sich seine Weiber holt; da werden sich im Stamme A vier Gruppen von Frauen bilden, die Gruppen, B, C, D, E, wenn der Stamm rein exogam ist. Wenn neben dem Frauenraube auch noch der Verkehr mit den Weibern des eigenen Stammes fortbesteht, so werden sich fünf Gruppen bilden: neben den vier genannten noch eine Gruppe A.
Jede der Mütter dieser Gruppen wird nun Eigentümlichkeiten ihres eigenen Stammes auf die Kinder vererben, andere ihnen anerziehen, und auf diese Weise wird die Gleichartigkeit des Stammes A zerstört. Die gruppenweise Abschliessung erstreckt sich nicht nur auf die Frauen, sondern auch, wenn gleich weniger scharf, auf deren Kinder, so dass mit der Zeit jedes Mitglied des Stammes A einer der genannten Gruppen angehört. Jedes freie Mitglied einer dieser so gebildeten Clans gehört natürlich ebenso gut zum Stamm, wie die Mitglieder der andern Clans; aber innerhalb des Stammes machen sich die tief eingewurzelten, von den Müttern auf die Kinder übertragenen Gefühle des Stammeszusammenhalts und der Stammesabneigung in der Weise geltend, dass sie ähnliche Gefühle für den eigenen und gegen die anderen Clans erzeugen. Je länger das exogame System dauert, desto mehr häufen sich die kennzeichnenden Merkmale der einzelnen Clans, desto schärfer werden sie von einander gesondert.[382] Vielfach, aber ganz irrtümlich, wird der Clan mit der „Familie“ verwechselt, welche doch zur Zeit der Clanbildung noch gar nicht bestand. Dem Clan entspricht am ehesten noch das altgermanische „Sippe“, altsächsisch Sibbja, sansk. Sabhâ, Gemeinde. Das gotische Sibja umfasst ebenfalls einen viel weiteren Kreis als unsere Familie; die lateinischen Schriftsteller übersetzten es ganz richtig mit Gens, die griechischen mit φύλη. Die Sippenhäuptlinge heissen φυλῶν ἄρχοντες. Die Chinesen nennen sich als Volk Pih-sing, es ist aber falsch dies mit „die hundert Familien“ zu übersetzen. Welcher Art diese „Familien“ sind, ersieht man aus einer Be[S. 190]merkung Harts: „In einigen Teilen des Landes begegnet man grossen Dörfern, in deren jedem nur ein Familienname existiert. So findet man in einem Bezirke drei Dörfer, jedes von 2–3000 Einwohnern, das eine mit dem Familiennamen des Pferdes, das zweite mit dem des Schafes, das dritte mit dem des Ochsen.“ Es ist klar, dass dies nicht Familien-, sondern Clannamen sind. Lebhaft erinnern sie an die amerikanischen „Totem“, die auch meist der Tierwelt entnommen und nichts anderes als Clanbezeichnungen sind. Dieses Clanwesen ist von ungemeiner Bedeutung für die Entwicklung des Stammes sowohl wie der Familie, ein Mittelglied zwischen beiden. In mannigfachen Formen kehrt es an verschiedenen Punkten unseres Planeten wieder.
Bei den nördlichen Rothäuten zerfiel jede Völkerschaft in eine Anzahl von Sippen oder Clans, die in den verschiedenen Stämmen zwischen 3 bis 8 oder 10 schwankten und als Namen oder Symbol eines Tieres sich bedienten, dem auch eine Kultverehrung gewidmet war. Der Name für dieses Tier ist bei den Algonkin „Dodaim“, und dieses Wort ist in seiner gebräuchlicheren Form „Totem“ zu einem allgemein angenommenen Ausdruck in der Ethnologie geworden, um ähnlich gebrauchte Beinamen in der ganzen Welt zu bezeichnen. Der Ursprung der Totem, wie Biber, Krebs u. dergl., welche die Indianer dadurch zu erklären suchen, dass sie behaupten, diese Geschöpfe seien ihre Ahnen, fällt natürlich in den Bereich der Mythologie. Dagegen bilden die gesellschaftlichen Einteilungen, namentlich die auf die Geschlechtssitten bezüglichen Einrichtungen, welche damit verbunden sind, einen höchst wichtigen Abschnitt des Rechtes und der Sitten auf gewissen Kulturstufen. Er gehört nur insoweit in das Gebiet der Religion, als die Clantiere u. s. w. Gegenstände religiöser Verehrung sind oder wirklich als Schutzgottheiten behandelt werden, wie dies bei den Algonkin selbst der Fall zu sein scheint.[383] Dass[S. 191] diese Totem in exogamen Zuständen wurzeln, dafür spricht der Umstand, dass deren Mitglieder ausnahmslos durch die ganze Völkerschaft verteilt waren oder noch sind. Dr. Aurel Krause hat diese Verhältnisse erst unlängst bei den Tlinkit in Nordwestamerika genauer kennen gelernt und beschrieben.[384] Diese Tlinkit, bisher gemeiniglich unter der russischen Benennung Koljuschen bekannt, sind in dreizehn Stämme geteilt, deren jeder in mehrere Geschlechter zerfällt, welche verschiedene Tiere gleichsam im Wappen führen und sich wiederum in zwei Gruppen ordnen, von denen die eine durch das Raben- oder Jelchgeschlecht (Totem), die andere durch das Wolfsgeschlecht oder das Totem des Kanak vertreten wird. Die verschiedenen Totem geniessen nicht dasselbe Ansehen. Das wichtigste von allen ist wegen der grossen Anzahl und des Reichtumes seiner Mitglieder der Kagontan, welcher seinen Hauptsitz in Klokwan, dem grössten Dorfe des Tschilkatstammes hat. Die Einteilung in Totem ist gänzlich unabhängig von der räumlichen Verteilung der Stämme. Dasselbe „Geschlecht“ — so nennt Krause den Totem — finden wir an verschiedenen Orten, so den Kagontan bei den Tlinkitstämmen Sitka, Jakutat, Huna und Tschilkat. Jeder Ort wird also von mehreren Totem bewohnt und zwar sowohl von denen des Bären — wie von denen des Wolfszeichens, während andrerseits ein Totem auf mehrere Orte verteilt ist, was sich bloss durch den Brauch der wechselseitigen Verbindungen und durch das Gesetz der mütterlichen Erbfolge erklärt. Die unantastbaren Verordnungen, durch welche sich diese Sippen immerwährend fortsetzen und aufrecht erhielten, bestanden nämlich darin, erstlich, dass kein Mann innerhalb seines eigenen Totems sich beweiben durfte, und zweitens, dass sowohl die männlichen wie die weiblichen Kinder der Sippe ihrer Mutter beigezählt wurden. Bei den Tlinkit gelangen diese Verhältnisse dadurch zum sprachlichen Ausdrucke, dass sie alle nicht zum gleichen Totem Gehörigen[S. 192] „Kunjétkanagi“ d. h. „nicht hier“ oder „Fremde“ nennen. In ihrer Gegenwart aber reden sie dieselben mit „Achssari“ d. h. „Oheime“ oder „Achkani“ d. h. „Schwiegersöhne“ oder „Schwäger“ an, da sie stets durch Heirat mit ihnen verbunden sind. Leute desselben Totem nennen aber einander „Achcháni“ d. h. „Landsleute“ oder „Achgakáu“, d. h. „Freunde“.
Auch die Indianer Guyanas in Südamerika wurden innerhalb des Stammes in Gruppen geteilt, von denen jede einen besonderen Namen trägt, wie Siwidi, Karuafudi, Onisidi u. s. w. Auch bei ihnen pflanzt sich die Abstammung in mütterlicher Linie fort, und weder ein männliches, noch ein weibliches Stammesmitglied darf in eine geschlechtliche Verbindung mit einem andern sich einlassen, das denselben Namen trägt. So führt z. B. eine Frau aus der Siwidigruppe den gleichen Namen wie ihre Mutter, aber weder ihr Vater, noch ihr Gatte dürfen dieser Gruppe angehören. Ihre Kinder und die Kinder ihrer Töchter heissen ebenfalls Siwidi, aber weder ihren Söhnen, noch ihren Töchtern ist es gestattet, eine Verbindung mit einem Träger oder einer Trägerin gleichen Namens einzugehen, doch dürfen sie, falls es ihnen gefällt, aus der Gruppe ihres Vaters sich mit Weibern oder Männern versorgen. Bei den Indianern Südamerikas ist die Bezeichnung „Totem“ nicht mehr üblich, es ist aber sicher nicht richtig, wie Lubbock thut, die erwähnten Gruppen als „Familien“ zu bezeichnen. Auch als „Kasten“ wird man sie nicht wohl gelten lassen können, da wir mit diesem Worte einen ziemlich scharf begrenzten Begriff verbinden, von dem hier keine Spur vorhanden. Diese Gruppen gleichen Namens innerhalb des Stammes sind daher ebenso wie die Totem einfach Clans oder Sippen. Nur in der gesellschaftlichen Organisation der australischen Kamilaroi unweit von Sydney darf man vielleicht von „Kasten“ sprechen, insofern als sie, wie es scheint, in zwei Gruppen, nämlich patrizische (freie?) und plebejische (unterworfen?) zerfallen. Ob mit dem Patriziat gewisse Vorrechte verbunden sind, ist nicht recht klar. Jede Gruppe umfasst wieder zwei Abteilungen, die sich vor anderen Einrichtungen dieser Art dadurch auszeichnen, dass in jeder derselben Männer und Frauen besondere Namen führen; also: Ippai und[S. 193] Ippata; Kumbo und Buta; Murri und Mata; Kubbi und Kubbota. Jede dieser vier Sippen zerfällt nun wieder in Unterabteilungen, deren jede irgend ein Tier zum „Kobong“, zum Freunde und Beschützer hat und sich darnach benennt. Es besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem Menschen und seinem Stammtiere, von dessen Art er keines zu töten wagt, weil es sein eigener Beschützer sein könnte. Zieht der Stamm gegen den Feind, so führt jeder Kobong als Fahne das Fell seines Schutz- und Namentieres mit sich. Die Zahl dieser Gruppen schwankt je nach den Kasten. Nimmt man deren durchschnittlich vier an, so macht dies sechzehn männliche und sechzehn weibliche Kobong, da es Ippai murruwi (Känguruh), Ippai gnuri (Emu), Ippai turu (schwarze Schlange), Ippai kuraki (Opossum) giebt, und ähnlich in den andern Clans. Die Sitte verbietet nun die Verbindung eines Individuums mit einem solchen, das den nämlichen Kobong hat. Ausserdem legt die erwähnte Unterscheidung in Patrizier und Plebejer noch weitere Beschränkungen auf. So kann ein Ippai eine Ippata aus einem anderen Kobong und eine beliebige Kubbota nehmen, vorausgesetzt dass sie nicht wie er eine Murruwi oder Gnuri ist. Ein Murri darf nur eine Buta, ein Kubbi nur eine Ippata wählen, natürlich in beliebiger Zahl. Aber das Weib des fremden Kobong tritt nicht ein in die Kaste ihres Gatten, sondern bleibt Zeitlebens in dem Verbande ihrer eigenen. Die Nachkommenschaft aber folgt stets der Mutter und gehört nur ihrem Kobong an; auf die väterliche Seite wird gar keine Rücksicht genommen, doch werden die Kinder in eine andere Kaste versetzt, als jene, in welche die Mutter gehört. Dadurch werden die Sprösslinge der verschiedenen Verbindungen gleichmässig des Patriziats teilhaftig. Die Übersicht dieser Vorgänge ist folgende.
Die Kinder von: | werden | |||||
Ippai | und | Kubbota | Murri | und | Mata. | |
Murri | „ | Buta | Ippai | „ | Ippata. | |
Kubbi | „ | Ippata | Kumbo | „ | Buta. | |
Kumbo | „ | Mata | Kubbi | „ | Kubbota. |
Zudem sind die Kinder einer Ippata murruwi Kumbo und Mata murruwi, jene einer Buta gnuri Ippai und Ippata gnuri, und alle ihre Nachkommen bleiben in alle Ewigkeit Murruwi und Gnuri.[385] Wie man sieht, spielt der Kobong hier die Rolle der indianischen Totem, wenn er auch in dem beschriebenen Kastenverhältnis zunächst weniger in die Augen fällt. Es ist glaubhaft, dass derselbe von einem Gewächs oder einem Tiere hergeleitet ist, das an dem Stammsitze des Clans seinen Standort hat, und nicht umgekehrt, dass der Stamm den Namen gegeben.
Die Frage über den Ursprung des Totemismus, so weit sich dieselbe auf die mythologischen und theologischen Thatsachen der Verehrung eines bestimmten Wappen-, Schutz- und Namenstieres bezieht, was zu Betrachtungen über den Tierkult im allgemeinen führen würde, lasse ich hier unerörtert. Gegen Mac Lennan und Sir John Lubbock erhebt sich Edward B. Tylor;[386] doch zieht die Geschichte der Familie keinen Nutzen aus dem Streite, wenn man deren Wurzeln nicht, wie Dr. Wilhelm Schneider und andere, in religiösen, von vorn herein gegebenen Vorstellungen, gewissermassen in göttlichen Vorschriften sucht. Welche Gründe einen Clan zur Annahme dieses oder jenes Schutztieres bewogen, ist gleichgültig; wichtig dagegen festzuhalten, dass der Clan schon vorhanden war, als er sich die gewählte Bezeichnung beilegte, nicht etwa, dass letztere erst den Clan gewissermassen schuf, indem sie für dessen einzelne Glieder das zusammenhaltende sprachliche Band gewährte. Die Entstehung des Clans, wie Kautsky sie sehr natürlich und schwer widerlegbar darstellt, war jedenfalls vollkommen unabhängig von allen mythologischen Einflüssen.
Das Beispiel der australischen Kamilaroi, bei denen ich länger verweilt, lehrt, wie sehr man sich übrigens hüten muss, der Exogamie eine zu grosse Tiefe zuzuschreiben. In Australien, liest man zumeist, sei die Exogamie Regel, werde wirklicher oder schein[S. 195]barer Weiberraub geübt, immer aber das Weib aus einem fremden Stamme geholt. Dem ist aber, wie wir sahen, nicht so, denn nicht die Verbindungen innerhalb des Stammes, sondern nur unter Gliedern des gleichen Kobong sind untersagt. Es ist die leidige Verwechslung von Stamm, Clan und Familie, von welcher sich die wenigsten Ethnographen losmachen können, schuld an solchen Verwirrungen. Es ist also hauptsächlich die Blutnähe, wie sie innerhalb eines und desselben Kobong zwischen den einzelnen Mitgliedern wegen der Abstammung durch die Mutter existieren muss, welche die Kamilaroi und mit ihnen andere Australier meiden. Dr. Schneider, der ebenfalls den Clan mit der Familie verwechselt, thut aber Unrecht, diese Scheu als einen Beweis dafür anzuführen, wie weit die Australier schon vom Urzustande entfernt seien.[387] Abgesehen davon, dass letzteres niemand bezweifelt, hat ja Moriz Wagner gezeigt, in wie frühe Epochen die Bildung dieses Instinktes zu versetzen ist. Begründet Scheu vor Blutnähe noch nicht Exogamie, welche als unerlässliche Hauptbedingung Beweibung ausserhalb des Stammes erheischt, so soll doch nicht geleugnet werden, dass in Australien häufig genug Verbindungen zwischen Individuen verschiedener Stämme, nicht Clans, vorkommen. Das ist dann erst die wahre Exogamie, sei sie nun von Gewaltthaten begleitet oder nicht, sei sie ein Raub, eine Eroberung, ein Tausch oder einfach ein Kauf.
Man darf nun annehmen, dass nachdem die durch das Zusammenleben verursachte Scheu vor Blutnähe unter Hinzutritt wirtschaftlicher Ursachen den Weg zur Exogamie gewiesen und diese noch durch die Befehdung und Unterwerfung fremder Stämme gefördert worden, der Vorteil der Kreuzung gar bald den exogamen Sitten huldigenden Völkern ein ausgeprägtes Übergewicht verlieh. Auch aus diesem Grunde kann ihr häufiges Vorkommen bei den niederen Rassen nicht auffallend erscheinen. Hatte dieser Zustand der Dinge eine Zeitlang bestanden, so steigerte die Macht der Gewohnheit bei den betreffenden Stämmen die schon vorhandene Abneigung gegen jede Vermischung mit einem Mädchen des eigenen[S. 196] Kreises zu solcher Höhe, dass diese Abneigung zur wahren Scheu wurde und schliesslich die Kraft eines religiösen Dogmas annahm, welches unsere entwicklungsfeindlichen Ethnologen gerne als ursprüngliches Sittengesetz, als Ursache statt als Wirkung ausgeben. Aber auch wo Frauenraub üblich war, erhielt sich die Muttergruppe und mit ihr, soweit es um die rechtliche Seite sich handelt, die „Mutterfolge“. Noch aber gab es anfänglich keine „Ehe“, daher auch die von mehreren Schriftstellern gebrauchte Bezeichnung „Raubehe“, als gleichbedeutend mit Weiberraub, für jene ersten Zeiten nicht zutrifft. Erst nachdem in sehr langer Dauer der Frauenraub das Privateigentum am Weibe begründet hatte, darf man vielleicht von einer „Raubehe“ sprechen. Für den Anfang schufen weder Exogamie noch Frauenraub etwas unserem Ehebegriffe Ähnliches. Sie änderten zuerst nur wenig an den Zuständen der vaterlosen Muttergruppe, welche überall, ohne Rücksicht auf Exogamie oder Endogamie, die Grundlage bildete, aus welcher verschiedene Gesellschaftsformen sich auszuspitzen vermochten.[388]
[363] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 10.
[364] Humboldts Reise in die Äquinoctial-Gegenden. Bd. II. S. 15–16. „Gewiss sind dies Verwandte von mir, denn ich verstehe sie, wenn sie mit mir sprechen,“ sagen Indianer von einander, die sich nicht kennen und in den Missionen zusammen treffen. (A. a. O. Bd. IV. S. 17.)
[365] A. a. O.
[366] Walter Bagehot. Physics and Politics. London, 1872. S. 42.
[367] Moriz Wagner im Kosmos 1886. Bd. I. S. 21.
[368] Adolf Bastian. Über die Eheverhältnisse. Zeitschrift f. Ethnol. 1874. S. 387.
[369] Moriz Wagner im Kosmos. 1886. Bd. I. S. 24–34.
[370] Kosmos. Bd. XII. S. 262.
[371] Oldfield schildert dabei den Vorgang folgendermassen: Fällt auf solchem Raubzuge dem Australier ein unbeschütztes Weib in die Hände, so geht er nicht gerade allzu zart mit ihr um. Man betäubt sie durch einen Schlag mit dem „Duak“ oft so heftig, dass das Blut stromweise hervorquillt, schleift sie an den Haaren in das nächste Gebüsch und wartet, bis ihr die Besinnung wiederkehrt. Erwacht sie aus ihrer Ohnmacht, so muss sie ihrem Räuber folgen, der die Beute bei seiner Horde in Sicherheit bringt. Ist dies geschehen, so folgt eine Szene, so haarsträubend, dass sie sich der Schilderung entzieht. Die Verwandten des Mädchens rächen einen solchen Eingriff in ihre Rechte nicht; sie entschädigen sich nur bei nächster Gelegenheit durch eine ähnliche That (Transact. Ethnol. Soc. London. Bd. III. S. 250).
[372] Constantin Jos. Jireček. Geschichte der Bulgaren. Prag, 1876. S. 164.
[373] August Schneegans. Sicilien. Bilder aus Natur, Geschichte und Leben. Leipzig, 1887. S. 263.
[374] Kosmos. Bd. XII. S. 272.
[375] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 136.
[376] A. a. O. S. 156.
[377] C. F. Ph. von Martius. Von den Rechtszuständen unter den Ureinwohnern Brasiliens. München, 1832. S. 63.
[378] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 87.
[379] Kautsky im Kosmos. Bd. XII. S. 262.
[380] Clan, ein keltisches Wort (spr. klänn), war in Hochschottland, auf den Orkney- und Shetlandsinseln die Bezeichnung für eine Art freiwilligen, auf Familienzusammengehörigkeit begründeten Lebensverbandes zwischen einem Gutsherrn als dem mit patriarchalischer Obergewalt ausgestatteten Stammesoberhaupt eines Bezirkes, und seinen Unterthanen. Die Clanverfassung ward 1745 aufgehoben.
[381] Lucien Adam. Du parler des hommes et du parler des femmes dans la langue caraïbe. Paris, 1879. S. 2.
[382] Kautsky im Kosmos. Bd. XII. S. 266.
[383] Edward B. Tylor. Die Anfänge der Kultur-Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte. Deutsch von J. W. Spengel und Fr. Poske. Leipzig, 1873. Bd. II. S. 235–236.
[384] Dr. Aurel Krause. Die Tlinkit-Indianer. Ergebnisse einer Reise nach der Nordwestküste von Amerika und der Beringstrasse, ausgeführt im Auftrage der Bremer Geographischen Gesellschaft in den Jahren 1880–1882. Jena, 1885.
[385] Prichard. The natural history of Man. Fourth Edition. London 1885. 8o Bd. II. S. 491–492. — Friedrich Müller. Allg. Ethnographie S. 216. — Lubbock. Die Entstehung der Zivilisation. S. 110. — Bulletin de la Société d’anthropologie de Bruxelles 1855. S. 129–130.
[386] Tylor. Die Anfänge der Kultur. Bd. II. S. 237.
[387] Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 112.
[388] Lubbock. Entstehung der Zivilisation. S. 109–115.
[389] dort vermochten auch die geschlechtlichen Beziehungen bestimmtere Formen anzunehmen. Diese Formen waren verschiedener Art, je nachdem aus dem wilden Jäger sich der streitlustige Wanderhirt oder der friedliebende Ackerbauer entwickelte. Dies hing natürlich nicht von bewusstem Wollen, sondern von der Natur der Umgebung ab, in welcher die einzelnen Geschlechtsgenossenschaften sich bewegten. Schon in meiner Kulturgeschichte habe ich auf die Irrtümlichkeit der lange gehegten Vorstellung hingewiesen,[390] als ob Jagd, Hirtenleben und Ackerbau drei aufeinander folgende Stadien der Kulturentwicklung seien, welche jedes Volk durchlaufen müsse. In Übereinstimmung damit bestreitet auch Lippert, „dass überall die Sesshaftigkeit in Verbindung mit irgend einer Art Landbau erst einer notwen[S. 198]dig vorangehenden Stufe des Nomadentums nachgefolgt sei.“[391] Diese Reihenfolge ist kein natürliches Kulturgesetz: die ganze Neue Welt hat Viehzucht und Nomadentum nie gekannt, aber dennoch waren einzelne Stämme unmittelbar von der Jagd weg zum Anbau von Mais gelangt. Ja, bei den Kariben Guyanas ist der stete Anbau der mehlreichen Kassava- oder Mandiokwurzel (Manihot utilissima) die Hauptsorge. Auch den Polynesiern blieb das Nomadentum, dessen Begriff nicht im Umherschweifen — dies thut der wilde Jäger auch, — sondern im Zähmen, Züchten und Beherrschen einer bis dahin ungebändigten, wenn auch gejagten Tierwelt zu motorischen Zwecken wurzelt[392], völlig fremd; aber dennoch haben sie gelernt, die geniessbaren Pflanzen ihrer Heimat, die Brotfrucht, Kokosnuss, Yams, Taro und die Batate in ihre Hegung zu nehmen, sowie Hunde und Schweine der Fleischnahrung wegen in sesshafter Weise zu züchten.[393] Umgekehrt fehlt Ackerbau auch manchen Wanderhirten nicht gänzlich, ohne sie jedoch zur Sesshaftigkeit, zum Aufgeben ihres Nomadentums zu veranlassen. Jeder arabische Stamm Algeriens pflügt, wie Gerhard Rohlfs betont,[394] und hat seinen ganz bestimmten Weide- und Ackerbezirk, denn jede arabische Nomadentribe ackert und säet im Winter. Nichtsdestoweniger sind die Beduinen Nomaden geblieben und werden es voraussichtlich bleiben. Der Hang zu unstäter Lebensweise, der ärgsten Feindin unserer Gesittung, ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Da mit dem Nomadentume eine besondere Befähigung zur Schaffung grösserer Organisationen verbunden zu sein scheint und dasselbe in der Geschichte gerne erobernd auftrat, so blicken die ihm ergebenen Völker zumeist auf die an die Scholle gefesselten Ackerbauer als auf tiefer Stehende mit einer gewissen Verachtung herab. Das freie Hirtenwesen gilt ihnen als das Edlere, Höhere. Wie schwer der Übergang vom Nomadentume zum Ackerbau sich mitunter vollzieht, zeigt das Beispiel der tatarischen Kasaken in der sogenannten[S. 199] Kirgisensteppe. Nur der arme Kasak, jener, der seine Herde und dadurch seine gewohnte Nahrung verloren hat, ergreift aus Not den Ackerbau. Er bearbeitet sein Feld, das er immer an einem Flusse oder See anlegt, bewässert es so oft, als sein heisser Himmel es gebietet, und ernährt sich während dessen von spärlichem Fischfang. Er treibt dieses mühevolle, beschwerliche Arbeitsleben aber nur so lange, bis er wieder im stande ist, aus dem Ertrag seiner Feldfrüchte einiges Vieh zu kaufen; dann kehrt er vom Ackerbau zu seinem Hirtenleben zurück und frönt wie zuvor der geliebten Unthätigkeit des ihm natürlichen Wanderlebens. In der afrikanischen Steppe endlich hat bis zur Stunde sich in ursprünglicher Reinheit das Bild jener wandernden Hirtenvölker bewahrt, von denen schon die Bibel erzählt, in unmittelbarster Nähe einer dichten, dem Ackerbau ergebenen Bevölkerung.
inige der rohesten Menschenstämme sind über die ursprüngliche Stufe der Muttergruppe kaum oder doch nur wenig hinausgelangt. Wo aber die Gunst der Umstände den Fortschritt zur Häuptlingsschaft im Stamme und zum Privateigentume gestattete, welches sich, wie schon bemerkt, stets zuerst an einzelnen Gegenständen des beweglichen Vermögens bildet,Kulturgeschichtlich ist es demnach zweifellos richtiger, nicht Viehzucht und Ackerbau, sondern Nomadentum und Sesshaftigkeit als Merkmale zweier verschiedener Gesittungsstufen zu bezeichnen; wohl weist die Geschichte so mancher sesshaft gewordenen Völker unzweifelhaft auf eine vorangegangene Nomadenstufe hin, aber beide sind durchaus nicht unbedingt stets aufeinander folgende, sondern sehr häufig nebeneinander auftretende, also parallele Stadien menschlicher Entwicklung. Die Bedingungen, welche zur Herdenzucht oder zum Landbau reizen, sind vollkommen verschiedene und der Art, dass die einen nicht selten die anderen ausschliessen. Ein Land, das zur Viehzucht sich eignet, ist in der Regel nicht zum Ackerbau geschickt, welcher ihm dann nur durch Gewalt, nämlich durch die Geistesgewalt des Kulturmenschen, aufgedrungen ist, wie z. B. in Savoyen und Irland. Wohl sind in den Vereinigten Staaten kolossale Gebiete, die man ehedem bloss für Viehzucht passend erachtete, in die fruchtbarsten Ackerländereien umgewandelt worden, und an Stelle der baumlosen, grasreichen Prärien prangen heute schon auf Hunderten und Aberhunderten von Quadratkilometern wogende Mais- und Weizenfelder. Dies ist aber das Werk des Kulturmenschen des neunzehnten Jahrhunderts, welcher mit den reichen Hilfsmitteln, die eine mehrtausendjährige Gesittung ihm in die Hand gedrückt, die Natur zu beherrschen[S. 200] vermag. Dem rohen Natursohne wäre selbst dort, wo Boden und Klima ausnahmsweise beides erlauben, nimmer gelungen, das eine durch das andere zu verdrängen.
Von den beiden, nach verschiedenen Richtungen strebenden Auszweigungen des urzeitlichen Jägerlebens war das Nomadentum unvermögend, den Begriff des Grundeigentums zu zeitigen. Es finden sich an Stelle desselben nur abgegrenzte Wanderungsbezirke, wie solche auch bei den wilden Jägern z. B. in Brasilien und Australien vorkommen. Kehrte der Wanderhirt zu einem festen Punkte zurück, so wohnte er in den leicht beweglichen Hütten der Weiber. Ursprünglich, in der Zeit der Muttergruppe, war nämlich die Hütte in der Obhut und im Besitze der Frau allein und bildete einen Teil des beweglichen Besitzes; denn während der Mann unstät umherschweifte, sah die Mutter mit ihren Kindern sich frühzeitig auf einen festeren Wohnsitz hingewiesen. Die Hütte, in ältester Form wohl nichts anderes als der Schirm und das Dach des Herdes, wurde aber durch die Weiber ebenso rasch abgeschlagen als aufgerichtet — sehr bezeichnend ist dies noch bei den Nomaden unserer Tage das ausschliessliche Geschäft der Weiber — und so bedurfte es zu einer Hausung überhaupt noch keines Eigentums am Boden, auf welchem sie zeitweilig stand. Unleugbar führte das Nomadentum einen nicht unbeträchtlichen Fortschritt in der Geschichte des Eigentums herbei, indem sich die Zahl der Gegenstände, an denen der Mensch Besitz gewann, vergrösserte und nicht bloss auf die Herdentiere, sondern auch auf seine Mitgeschöpfe, nämlich auf Weiber und Knechte, d. h. Sklaven erstreckte. Aber zu einem Eigentume an Grund und Boden war ihm keine Veranlassung geboten. Nur im Streite um ein Weidegebiet konnte sich für den siegenden Teil, der aber stets eine Mehrheit, kein einzelner war, eine Art Besitzbegriff entwickeln, der zunächst an die Machtfrage anknüpfte. Man besass nur, was man auch mit der Hand wahren und verteidigen konnte. Dies war aber bloss einer Gesamtheit, einem ganzen Stamme oder Clane möglich, und nur in diesem Masse gestaltete sich das erste Besitzverhältnis gegenüber von Grund und Boden. Innerhalb dieses Gemeinbesitzes fehlt jedes persönliche[S. 201] Eigentumsrecht des einzelnen. Er kann zwar das Land als Gemeingut benützen, hört aber seine Nutzung auf, so tritt es wieder in das allgemeine Stammeseigentum zurück. So hat bei den Kasaken jedermann Anspruch auf so viel Grund und Boden, als er zur Erhaltung seines Herdenstandes bedarf; aber nie ist weder ein einzelner, noch ein Aul, d. h. eine Wanderdorfschaft, Besitzer des Bodens. Was sollte ihnen auch ein Eigentum daran, wenn sie kurz nach der Ernte ihres spärlichen Anbaues weiterziehen?
Unbefangene Forscher, wie Edouard de Laveleye, Letourneau und Lippert, erblicken die Vorbedingung zu der Entwicklung des Grundeigentums in der Feststauung des Nomadentums, in der Überhandnahme des Ackerbaues und in dem schliesslich errungenen Übergewicht desselben über die Viehzucht überhaupt. Aber auch bei jenen Stämmen, welche vom rohen Jägerleben zum Landbau übergingen, beruhte das Eigentum an Grundbesitz zuvörderst auf Gütergemeinschaft. Die ungeteilte Gemeinsamkeit des Grundeigentums findet sich auf niedrigen Stufen auf der ganzen Erde verbreitet und man kann mit grosser Sicherheit annehmen, dass alle späteren Rechte am Grund und Boden aus der ursprünglichen Grundeigentumsgemeinschaft entstanden sind.[395] Jene, welche sich so sehr entrüsten über den dem Urmenschen zugemuteten Mangel an allen Eigentumsbegriffen und zum mindesten die heutigen Kulturarmen in Schutz nehmen gegen die Anschuldigung eines mitunter noch deutlich erkennbaren Kommunismus, können das Vorhandensein eines solchen wenigstens in Bezug auf das Grundeigentum nicht bestreiten. Hat sich derselbe doch sogar bei hoch gestiegenen Völkern bis in unsere Tage und mitunter selbst dort erhalten, wo daneben schon das Sondereigentum am Grundbesitze aufgekommen ist, wie auf Java, in China und Russland.[396] Ur[S. 202]sprünglich erscheint alles Grundeigentum als Gemeingut auch unveräusserlich und unvererblich. Der einzelne hat nur ein Gebrauchsrecht und nur dieses kann — in einem Stadium späterer Entwicklung — vererbt, verschenkt, verkauft oder verpfändet werden. Berechtigt zur Nutzung des Stammlandes ist nur der Stammesgenosse. Die Ungeteiltheit des Gemeineigentums hat vielfach auch die gemeinsame Bearbeitung desselben zur Folge; daneben bildet sich der allgemeine Grundsatz, dass jedem, der unbebautes Land urbar macht, dasselbe gehört, aber auch, dass jeder, welcher sein Land nicht mehr bebaut, dasselbe verliert. Bei sehr vielen Völkern dauert heute noch alles Grundeigentum nur so lange, als der Boden bebaut wird.[397] So berichtet H. von Rosenberg von den Papua bei Doreh auf Neuguinea: „Grundeigentum giebt es nicht; jeder nimmt nach Willkür eine Bodenstrecke in Besitz und wird, so lange er dieselbe bepflanzt, als deren Eigentümer betrachtet.“[398]
Wie man sieht, hat die Entwicklung des beweglichen und des unbeweglichen Eigentums keineswegs gleichen Schritt gehalten. Der Mensch kannte längst ein Eigentum an Waffen, Schmuck, Geräten, kurz an fahrender Habe, zu welcher auch sein schirmendes Obdach zählte; auf einer höheren Stufe auch an Tieren und Menschen, aber noch immer keines an Grund und Boden. Es wird verstattet sein zu vermuten, dass auch die friedliche Ausgestaltung des Lebens in der Sesshaftigkeit, wozu der Feldbau reizt, nach mancher Richtung hin auf die Befestigung des Begriffes vom Sondereigentume an beweglichen Gütern fördernder wirkte, als in dem unstäten Wanderleben der kriegerischen und oft räuberischen Nomaden möglich war. Vorerst war auch im Kreise der feldbauenden Bevölkerungen die Frau als Mutter bloss der anerkannte Mittelpunkt der Familie; doch entwickelte sie sich daraus zu deren bleibender Achse, während die ungebundene Manneskraft noch frei zu- und abschwärmte. Unter solchen Umständen mochten leicht die Gegenstände des Besitzes, der über[S. 203] die Waffen des Mannes hinausreicht, sich um jenen allein festen Punkt herum anhäufen,[399] und die ursprüngliche Muttergruppe konnte bald auf jene zweite Stufe einer jüngeren Periode sich emporschwingen, jene Stufe, für welche allein ich die Bezeichnung Matriarchat in Anspruch nehme. In der That trifft man dasselbe in Vergangenheit und Gegenwart hauptsächlich bei pflugführenden Völkerschaften. Von den alten Kantabrern hebt Strabo ausdrücklich hervor, dass es die Frau sei, welche den Ackerbau betreibe, und bei den matriarchalischen Balonda Südafrikas liegt die Anordnung des Feldbaues gleichfalls ganz in den Händen der Frauen. Matriarchalische Völker thun sich daher auch durch Friedensliebe und Gerechtigkeitssinn hervor.[400] Diese Stufe der Familienentwicklung ist endlich durch einen gewissen Grad von Arbeitsteilung und eine Art Ehebündnis sowie durch Vererben der mütterlichen Habe an die Kinder, das Mutterrecht, gekennzeichnet. Schon aus letzterem Grunde ergiebt sich, dass das Matriarchat zu einer, die ganzen gesellschaftlichen Zustände und Anschauungen beherrschenden Einrichtung erst dann werden konnte, nachdem das bewegliche Sondereigentum zu einer gewissen Höhe sich ausgebildet hatte.[401] Das auf die Muttergruppe der Urzeit folgende und aus ihr hervorgegangene Matriarchat ist also ohne allen Zweifel zwar ungemein alt und führt bei vielen Völkern in deren vorgeschichtliche Vergangenheit zurück; es ist aber keine Satzung der Urzeit mehr, sondern die Frucht bereits gereifterer Gesittungszustände. In gewissem Sinne betreten wir damit geschichtlichen Boden.
Neben diesem friedlich aus der ursprünglichen endogamen Muttergruppe hervorgewachsenen Matriarchate hat freilich, wie wir sahen, die Sitte des Frauenraubes und der Exogamie eine zweite gesellschaftliche Ordnung auf mutterrechtlicher Grundlage geschaffen, welche mit dem eigentlichen Matriarchate naturgemäss mancherlei Berührungspunkte aufweist, sich aber in Gegensatz[S. 204] zu jenem bei kriegerischen Jäger- und Hirtenvölkern vorfindet. Karl Kautsky sondert scharf diese beiden Formen, indem er eine Fortentwicklung des Mutter- zum Vaterrechte bloss bei den Exogamen erblickt, während bei den friedfertigen, endogamen Völkern des Matriarchats dieses auch den Endpunkt ihrer ehelichen Entwicklung bilde, von welchem keine Brücke zum System der Agnation hinüberführe.[402] Ob dies nun in solcher Schroffheit zu behaupten, ist doch zweifelhaft. Bei verschiedenen, heute patriarchalischen Stämmen erkennt man nämlich Spuren früheren Mutterrechtes, und für die so fern hinter uns liegenden Zeiten lässt sich nicht mehr ermitteln, in welchem Umfange es in Übung gewesen. Das Auseinanderhalten beider Gattungen von Matriarchat auf Grund ihrer Entstehungsart stösst daher auf Schwierigkeit. Warum Kautsky das Matriarchat bei den Endogamen sich nur durch die Annahme erklären kann, dasselbe sei ihnen von aussen zugebracht worden,[403] ist vollends nicht recht einleuchtend. Keimten ja doch schon dessen Grundzüge in der ursprünglichen Muttergruppe, und die Ausbildung des Mutterrechtes konnte mit der Anhäufung des Privateigentums und der Vermehrung der Kulturgüter kaum ausbleiben.
Im Matriarchate, das noch jetzt und keineswegs bei den niedrigsten Völkern verbreitet ist, gehört das Kind immer noch ausschliesslich der Mutter, und in ihm setzt sich fort, was man mit weiter Dehnung des Begriffes „die Familie“ zu nennen anfangen darf. Im Kreise der matriarchalischen Verwandtschaft ist das Kind immer noch bloss vom Geblüte der Mutter, daher auch nur der Mutter allein und durch sie jenen Personen verwandt, die aus derselben Quelle des Lebens ihr Dasein schöpfen, also seinen leiblichen Geschwistern. So ist aber auch dem Weibe der nächste männliche Blutsverwandte der Bruder, d. h. der Bruder von derselben Mutter, unter den älteren Personen der Bruder der Mutter selbst, also der mütterliche Onkel, falls auch ihn und diese wieder dieselbe Mutter geboren hat. Eines der bedeutsamsten[S. 205] Merkmale in den alten Verwandtschaftsbezeichnungen ist daher die Unterscheidung zwischen dem väterlichen und dem mütterlichen Onkel, dem Oheim und dem Vetter, dem θειος und παραδελφος (πατρως). Die Wolofneger Senegambiens nennen die Brüder des Vaters „Papae“ und die Neffen väterlicherseits „Domae“ d. h. Kinder, während die Kinder der Mutterbrüder (Nidhiaye) Dhiaerbate, d. i. Neffen und Nichten heissen. Die Römer selbst unterscheiden den väterlichen Oheim als patruus (pitraya im Sanskrit) vom mütterlichen avunculus, und avunculus ist eine Verkleinerungsform von avus, Grossvater oder Ahn. In analoger Weise unterschied man im Deutschen zwischen Muoma oder Muhme, nämlich Mutterschwester oder Matertera, und Base oder Vatersschwester, eine Unterscheidung, die durch das Vorwiegen der Benennung „Tante“ verloren gegangen ist. Der Mutterbruder oder Oheim mütterlicherseits steht nun bei einer grossen Zahl von Volksstämmen in einer besonderen Beziehung zu seinem Neffen, die nicht besser ausgedrückt werden kann, als mit den von Tacitus bei den Germanen gebrauchten Worten, indem er von dem Avunculus (qui apud patrem honor) sagt: sanctiorem arctioremque hunc nexum sanguinis arbitrantur.[404] Die grössere Heiligkeit dieses Verwandtschaftsverhältnisses, die Ansicht, dass die Verwandtschaft zwischen Oheim und Neffe eine engere sei als zwischen Vater und Sohn, findet sich unter anderen bei den Batta auf Sumatra, bei den Vitiinsulanern im pazifischen Ozean, bei den Kenaivölkern Nordwestamerikas, bei den Khasia in Assam, an der Malabarküste, bei den Schwarzen am Kongo, in Loango, Senegambien und an unzähligen anderen Orten, ganz vornehmlich aber in Afrika, und zwar dort wie anderwärts zumeist in Verbindung mit der matriarchalischen Verwandtschaft, von welcher im Altertume Spuren bei den Lokrern, Etruskern und Lykiern sich zeigten. Von den letzteren, einer vorhellenischen Völkerschaft, berichtet Herodot, dass sie sich nach ihren Müttern benannten, nicht nach ihren Vätern, „und fragst du einen nach seiner Herkunft, so wird er sein Geschlecht von Mutterseite angeben und seiner Mutter Mütter aufzählen. Hat[S. 206] eine Frau des Landes einen Knecht zum Ehemann genommen, so gelten die Kinder für edelbürtig; nimmt aber ein Mann des Landes, und wäre es auch der vornehmsten einer, ein fremdes Weib oder ein Kebsweib, so werden die Kinder unehelich“.[405] Nikolaus von Damaskus bestätigt diese Nachricht und fügt hinzu: „sie vererben ihre Hinterlassenschaft auf die Töchter, nicht auf die Söhne.“
In der That, wenn die Kinder als Fortsetzer der Mutter galten, so musste auch ihr Eigentum bei ihnen sich fortsetzen. Aber auch die Brüder der Mutter konnten ihr Eigentum nur der Schwester oder deren Kindern hinterlassen, da der Zusammenhang zwischen ihnen und ihren eigenen Kindern unerkannt blieb. Sobald Ämter und Würden als Eigentum vererbt wurden, galt für sie die nämliche Erbfolgeordnung. Daher der bei so vielen Völkern der Vergangenheit wie der Gegenwart geltende Rechtsgrundsatz: Partus sequitur ventrem. Von der Mutter also hatten auf diese Weise die Kinder Reichtum und Würden zu erhalten; das Erbrecht war es, welches das Band zwischen Mutter und Kind aus einem idealen zu einem realen gestaltete.[406] Es ist auch ungemein bezeichnend, dass die der Mutter entgegengebrachte Kindesliebe nirgends stärker sich zeigt, als auf dem alten Boden des Matriarchats, bei den Negern Afrikas; für diese ist es die empfindlichste Kränkung, wenn man von ihrer Mutter unehrerbietig spricht, was sie „der Mutter fluchen“ heissen.[407] Jene, welche eine fortschreitende Entwicklung der Menschheit annehmen, bedürfen nicht des Hinweises, dass der Inhalt des Mutterrechtes nicht in allen Fällen der gleiche ist,[408] dass auch das Matriarchat nicht überall und zu allen Zeiten die nämlichen Formen zeigt. Wesentlich ist jedoch dafür überall, dass der Kreis der Verwandtschaft sich bloss auf die Spillmagen beschränkte, so dass die Familie nur durch Weiber fortgesetzt werden kann und nach Aussterben ihrer weiblichen Mitglieder dem Erlöschen anheimfällt. Dieses System wird durch die Einsetzung und Ausbildung der Ehe keineswegs verdrängt;[S. 207] man kennt dann wohl den Erzeuger des Kindes, allein er gilt noch nicht als Verwandter desselben und im Falle einer Trennung der Gatten ziehen alle Kinder mit der Mutter. Ebensowenig sind die Söhne desselben Vaters von verschiedenen Müttern verwandt. In Westaustralien gehören die Kinder zur Familie der Mutter ohne weitere Beziehung zu ihren Halbgeschwistern von anderen Müttern, daher sie nach dem Tode des Vaters geradezu verteilt werden.[409] Kommt ein Krieg zwischen dem Stamme der Mutter und dem des Vaters zum Ausbruch, so kämpfen die Söhne mit ersterem gegen die eigenen Väter. In Australien befehden sich nicht nur die Stämme, sondern auch die Clans, und zwar in der Weise, dass alle, die denselben Kobongnamen führen, welchem Stamme immer sie angehören mögen, verpflichtet sind, zusammenzustehen. Da die Australier polygam sind, so stehen nicht selten Söhne desselben Vaters, aber verschiedener Mütter, in entgegengesetzten Lagern. Die nächste Verwandtschaft ist und bleibt also die mit der Mutter, darauf folgt die unter Geschwistern derselben Mutter, endlich die zwischen Oheim und Neffen (Schwesterkinder). Der Oheim (Mutterbruder) wird regelmässig als natürlicher Gewalthaber, Beschützer und Erzieher der Kinder angesehen; er hinterlässt ihnen, sofern überhaupt ein Erbrecht ins Vermögen oder eine Erbfolge in Würden und Titel entstanden ist, gewöhnlich das Erbe; mit einem Worte: was später der Vater, das ist der Oheim zur Zeit des Mutterrechtes und des Matriarchats.[410] Ja, selbst dort, wo die Vaterschaft bereits ihr Recht erstritten hat, behält der Oheim oft durch lange Zeit eine wetteifernde Gewalt; das Neffenverhältnis wird vielfach höher angeschlagen, als das der Kinder zu ihrem Vater, wie oben von den Germanen erwähnt ist. Das Verhältnis der Mutterschwester zu ihrem Neffen ist bei diesem System naturgemäss ein ebenfalls sehr nahes, und auf den Marianen wird es merkwürdiger Weise für geheiligter gehalten, als das der Mutter zu den eigenen Kindern.[411]
[389] Post. Die Anfänge des Staats- und Rechtslebens. Oldenburg 1878. S. 278.
[390] Hellwald. Kulturgeschichte. Bd. I. S. 103.
[391] Lippert. Gesch. d. Familie. S. 30.
[392] Lippert. Kulturgesch. Bd. I. S. 180. 507.
[393] Lippert. Gesch. d. Familie. S. 31.
[394] Ausland 1881. S. 759.
[395] Post. Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit. S. 115.
[396] Den Nachrichten der Alten zufolge herrschte Gemeingut an Grund und Boden bei den keltiberischen Vaccaei, den Geten und den alten Germanen, ja selbst in Sparta und im ältesten Rom. Unter den Ackerbauern der Gegenwart findet sich das ungeteilte Grundeigentum bei den Indianern Kolumbiens, bei den Malayen und vielen Stämmen Indiens, wie die Naïr, die Tihur in Audh, die Singhalesen; auch Manus Gesetzbuch kennt noch kein Sondereigentum. Die Zahl der niedrigeren Stämme ohne persönliches Grundeigentum ist aber Legion.
[397] Post. A. a. O. S. 119–127.
[398] H. von Rosenberg. Der malayische Archipel. Leipzig 1878. S. 453.
[399] Lippert. Gesch. d. Familie. S. 17.
[400] Bachofen. Mutterrecht. S. 312.
[401] Kautsky, im Kosmos. Bd. XII. S. 339.
[402] A. a. O. S. 347.
[403] A. a. O. S. 338.
[404] Tacitus. Germ. Cap. XX.
[405] Herodot (deutsch von Heinrich Stein). Bd. I. 88.
[406] Kautsky im Kosmos. Bd. XII. S. 339.
[407] Waitz, Anthropologie der Naturvölker. Bd. II. S. 122.
[408] Dargun. Mutterrecht und Raubehe. S. 14.
[409] Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Bd. VI. S. 777.
[410] A. Giraud-Teulon. Les origines de la famille. Questions sur les antécédents des sociétés patriarcales. Genève et Paris 1874. S. 163.
[411] Dargun. A. a. O. S. 15.
[S. 209] kategorisch mit den Worten aus: „Der Schoss färbt das Kind.“ Endlich erbt der Schwestersohn nicht bloss die Privatgüter, sondern auch die öffentlichen und mitunter selbst die priesterlichen Würden.[412] Diese Einrichtungen sind zweifellos sehr alt, älter jedenfalls als die Annahme des Islâm bei den Berbern, denn seitdem sind ausnahmsweise einige Stämme, die sich deshalb Ebna-Sid d. h. „Söhne ihres Vaters“ nennen, zur Agnation übergegangen, während die der alten Sitte treu gebliebenen als Beni-Ummia d. h. „Söhne ihrer Mutter“ bezeichnet werden.[413] Verwandtschaft durch die Mutter allein findet sich ferner im Westen bei den Wolof, dem grossen, den breiten Gürtel vom unteren Senegal im Westen bis Darfur im Osten bewohnenden Volke der Fulah oder Fulbe, den Torodo, Mischlingen von Fulbe und Negern, den Serakole, Mandingo, Fanti, Aschanti und überhaupt längs der ganzen Goldküste; weiter südlich im Königreich Dahomeh und an der Guineaküste; in Kongo und Loango, in Angola, ferner bei den Kimbunda und den Bihe. Mutterrecht üben endlich die Dama und die Ova-Herero im südlichen Westafrika. Überall besteht bei diesen Völkern die rechtliche Einrichtung, dass das Kind in Rücksicht seines Standes der Mutter, nicht dem Vater zu folgen pflegt. Die Kinder sind Freie oder Sklaven, gehören dem fürstlichen Geschlechte, dem Adel oder dem gemeinen Volke an, je nachdem dies mit der Mutter der Fall ist: so bei den Mandingo und in Akkra wie in Loango und Kongo. In Sierra Leone werden die Kinder nur nach der Mutter genannt. Bei den Kimbunda, welche schon eheliche Verbindungen kennen, gehören die Kinder dem Mutterbruder. Der Vater hat gar keine Gewalt über sie, selbst so lange sie minderjährig sind und unter seiner Obhut stehen. Auch beerben die Söhne nicht ihren Vater, sondern ihren Oheim, und dieser kann mit unumschränkter Vollmacht über sie verfügen, ja sogar im Notfalle sie verkaufen.[414] Zeugnisse für die[S. 210] Mutterfolge sind ferner vorhanden für die Aschanti, Akwapim und Kommi, welch letztere nach Duchaillu den von einem Kommi mit einem fremden Weibe gezeugten Sohn nicht für einen Kommi ansehen. Die Würde des Königs ist bei den Negern meist erblich, geht aber gleichfalls auf den Bruder oder den Schwestersohn des Königs über. Nach arabischen Schriftstellern des elften Jahrhunderts ging die Regierung in Ganah, in Walata und bei den Mandingo überhaupt an den Bruder oder Mutterbruder über. Der vielgereiste Ibn Batuta erwähnt dasselbe Prinzip der Erbfolge bei den Negern, und im Lande Bedscha fand nach Makrizi ebenso die Vererbung der Regierung auf den Schwestersohn statt, wie dies in Nubien in alter Zeit der Fall war. Auch in Rhât oder Ghât, wo die Töchter Haupterben sind, die Söhne aber nichts vom Vater, sondern nur von der Mutter und durch sie erben, ist diese Nachfolge gebräuchlich. Wo die Fulah von Mandingo beherrscht werden, erbt der Thron — wie bei den Mauren am Senegal, den Serakole, den Mandingo von Bambarra, Wulli und Tenda — auf den Bruder fort, und dasselbe geschieht bei den ersteren auch mit der Würde der Dorfhäuptlinge. Bei den Wolof in Cayor erben die Brüder, dann erst die Söhne nach ihrer Reihenfolge das Reich, in Wallo das älteste Kind der ältesten Schwester des Königs oder das der verstorbenen Königin. In Bondu wird meist der Bruder des verstorbenen Königs zum Nachfolger gewählt. Bei den Serere folgt der Mutterbruder, dann der Schwestersohn; in Aschanti der Bruder, nach welchem der Schwestersohn, dann der Sohn des Verstorbenen, endlich der erste Vasall des Reiches das nächste Recht hat. In Iddah folgt häufig der Schwestersohn. In Südafrika überhaupt ist dieselbe Thronfolge gebräuchlich. In Kongo und Loango haben der älteste Bruder, der Mutterbruder des Königs und die Schwesterkinder des letzteren das erste Anrecht auf den Thron; schon vorher bekleiden sie die höchsten Ämter des Reiches und rücken allmählich in diesen auf, wenn eines der höheren erledigt wird.[415]
oraussichtlich kann die Liste der Völker, bei welchen gegenwärtig noch reines Matriarchat herrscht, nicht mehr gross sein; in den Rechtseinrichtungen, besonders in der Erbfolge, sind aber dessen Spuren noch vielfach sehr deutlich wahrnehmbar. Die meisten Spuren des Matriarchats bewahrt Afrika. Wenn man im schwarzen Erdteile, vom mittelländischen Meere und dessen Küstenbewohnern ausgehend, west- und südwärts bis zum Kap der Guten Hoffnung und von hier nordöstlich bis zum Sambesistrome umschreitet, wird man finden, dass die grosse Mehrzahl der Stämme — an der Westküste fast alle ausnahmslos — reines oder modifiziertes Mutterrecht üben. Dieser alten Familienverfassung hängt sogar ein Volk an, welches nicht bloss noch ein nomadisches geblieben ist, sondern obendrein den Islâm angenommen hat, eine Religionsform, welche strenge auf dem patriarchalischen Prinzip aufgebaut ist. Dennoch folgt bei den verschiedenen Stämmen der Berber oder Tuareq, welche sich in Tunis und Algier, über alle Oasen des nördlichen Afrika, sowie über die ungeheuren Ebenen der westlichen Sahara nördlich vom Senegal verbreiten, das Kind dem Blute der Mutter. Der Sohn eines Sklaven und einer Edlen bleibt ein Edler; jener eines Edlen und einer Sklavin ist ein Sklave. Im allgemeinen verleiht bei den Berberstämmen die Mutter dem Kinde den Rang, sei der Vater wer da wolle, und ein Volksspruch drückt dieses Verhältnis sehrSetzen wir unsere Durchmusterung afrikanischer Völkerschaften[S. 211] fort, so stehen die Negerstämme im allgemeinen unter Mutterrecht. Im Sudan folgte nach Ibn Batuta der Schwestersohn. Was Werner Munzinger von Kordofan berichtet,[416] deutet darauf hin, dass auch dort Neffenrecht nicht unbekannt ist, ebenso in Nubien, dann bei den Barea und Bazen im Süden von Ägypten. Dort erbt in
erster | Linie: | der Bruder von gleicher Mutter, |
zweiter | „ | der älteste Sohn seiner ältesten Schwester, |
dritter | „ | der zweite Sohn der ältesten Schwester, |
vierter | „ | der Sohn der jüngeren Schwester, |
fünfter | „ | die Schwester des Erblassers, |
sechster | „ | ihr Schwesterkind. |
Die Güter gehen also nur an die Geschwister und an ihre Nachkommen von weiblicher Seite. Das gleiche Prinzip ist auch für die Blutrache durchgeführt, indem nur Bruder und Schwesterkind dafür verantwortlich sind, während die eigenen Kinder das Blut ihres Vaters gar nichts angeht.[417] Auch bei den Bogos und den benachbarten Völkern spielt das Schwesterkind eine sehr bevorzugte Rolle; es hängt innig mit seiner Mutterfamilie zusammen und geniesst ihr gegenüber eine gewisse Straflosigkeit. Ein Neffenerbrecht fand Livingstone auch bei den Negern an den Kebrabasafällen des Sambesi,[418] und ein genaues Bild von Mutterfamilie und Mutterrecht bieten die gleichfalls am Sambesi inmitten von Hirten wohnenden feldbautreibenden Balonda. Matriarchalische Gewohnheiten sind endlich bei den endogamen Hova auf der grossen Insel Madagaskar erhalten.
Nicht minder war auch in Amerika zur Zeit der Entdeckung das Mutterrecht in grösster Verbreitung vorhanden. Ganz rein[S. 212] stand dasselbe in Übung bei der ganzen ungeheuren Zahl der Jägervölker von der Mündung des Mississippi bis zu den Felsengebirgen und von Kalifornien bis zur Hudsonsbai. Das Gleiche gilt von den Völkern des mittleren und in beschränkterer Weise auch von denen des südlichen Amerika. Auf durchgebildetes Mutterrecht und Matriarchat stösst man dagegen in einigen Teilen Ozeaniens und bei den Malayen des ostindischen Archipels. Ich will daher bei diesen Gruppen länger verweilen.
Auf allen Inseln der Karolinen- und der Marshall-Gruppe, mit einziger Ausnahme der Insel Yap, ist der Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Einrichtungen derselbe, nämlich ein durch die Einheit des weiblichen Blutes bedingter Stamm. Ganz die nämliche Verfassung besass einst auch Polynesien, indem die Nachkommenschaft einer Frauenlinie den Vorzug hatte und z. B. Häuptlingstitel und Würden auf den Bruder, nicht auf den Sohn des Vaters übergingen. Die mittleren Karolinen, insbesondere die Mortlock-Gruppe, scheinen nach Johann Kubarys ausführlichen Mitteilungen diese Stammesverfassung am reinsten erhalten zu haben. Zu einem Stamme gehören Individuen beiderlei Geschlechts, welche ihre Abkunft der Überlieferung zufolge von einer und derselben Frau ableiten können. Es herrscht strenge Exogamie. Die Mitglieder eines Stammes oder richtiger Clans, beiderlei Geschlechts, betrachten sich als Geschwister und dürfen sich weder geschlechtlich vermischen, noch körperlich oder moralisch schädigen. Die Bande der Bluts- oder Stammesverwandtschaft bestehen ohne Rücksicht auf Entfernung und geographische Verteilung. Diese Grundgesetze der Stammesverfassung wurden von den ersten Einwanderern aus ihrer Heimat mitgebracht. Da aber die Einwanderung keine gleichzeitige und einmalige für die verschiedenen Stämme war, so kamen auf verschiedenen Inseln einzelne Stämme mehr zur Geltung; jedoch fanden sie sich sämtlich auf beinahe jeder Insel vertreten. Sobald daher die Bewohner einer Insel einen Staat, d. h. ein nach aussen als politische Einheit wirkendes Ganzes bilden, finden sich Mitglieder eines und desselben Stammes oder Clans in verschiedenen Lagern vor und es tritt dann der Fall ein, dass zwei einander gegenüber[S. 213]stehende Krieger sich nichts zu Leide thun, ja sich im Kampfe ausweichen müssen, sobald sie sich als „Puipui“, d. h. als Verwandte, die sich nicht töten oder beschädigen dürfen, erkannt haben. Das Puipui also ist stärker als der Begriff „Staat“, als die politische Unabhängigkeit desselben. Staaten bekämpfen sich demnach nur innerhalb ihrer sich gegenseitig fremden Stämme. Wenn eine Insel die Stämme A und B hat, eine andere aber auch von denselben bevölkert ist, dann wird A der einen Insel mit B der anderen, B der ersteren mit A der letzteren kämpfen müssen. Ein Stamm nach vorstehender Art ist nicht von Dauer, weil Männer und Frauen desselben keine Verbindungen eingehen dürfen. Zu seinem Fortbestehen muss er mit einem andern Stamme in Berührung treten und so eine Nachkommenschaft zu erzielen suchen.
Je mehr Frauen zu einem Stamme gehören, desto mehr Verbindungen und Nachkommenschaft, desto grösser demnach die Wahrscheinlichkeit seines höheren Bestehens. Hieraus entspringt die bevorzugte Stellung der Frau, welche ihren Ausdruck darin findet, dass die älteste Frau des Stammes als dessen gesellschaftliches Haupt angesehen und mit besonderer Achtung behandelt wird. Einfluss und Bedeutung der Frauen im Stamme, besonders der ältesten Frau, ist auf den verschiedenen Inseln der Karolinen verschieden. Das Verhältnis scheint von den Bedingungen abzuhängen, in welcher sich die Stämme vereinigten, um Staaten zu bilden. Die älteste Frau des Stammes heisst überall, ebenso wie das männliche politische Haupt des Stammes: „Häuptling“. Auf den Palau-Inseln oder westlichen Karolinen stehen der ältesten Frau der Familie, der Königin der Frauen, eine Anzahl Frauenhäuptlinge zur Seite, welche den Rupak el Dil ausmachen und von grossem Einfluss auf die Gesellschaft sind. Ganz ebenso verhält es sich bei den Tip, den völlig dem Puipui entsprechenden Stämmen auf der Insel Ponape. Auch die Thronfolge vererbt sich auf den Palau in der weiblichen Linie, aber es sind immer nur die männlichen Kinder der Schwester des Königs, welche den Thron besteigen.[419] Ebenso besteht bei[S. 214] den Mortlockern immer neben den weiblichen ein männlicher Häuptling, nämlich der älteste Mann aus der ältesten Familie, und dieser ist das politische Haupt des Stammes.[420]
Wie ersichtlich, herrschen auf der Stufe des Matriarchats mitunter zwei Gewalten gleichbedeutend neben einander: eine soziale und eine politische. Die erstere ruht in den Händen der Frau, die „Herrin ist im Hause,“ aber nichts mehr, während der Mann sich noch nicht um die Angelegenheiten der Familie, zu der er nur in einem nebensächlichen Verhältnisse steht, bekümmert und daher hauptsächlich den auswärtigen, die Gesamtheit betreffenden Dingen — der Politik, wenn man so sagen dürfte — sich zuwendet. Es war daher sicherlich ein Fehler J. J. Bachofens, wenn dieser verdiente Forscher Matriarchat und Mutterfolge mit allgemeiner Weiberherrschaft verwechselte, was sehr zweierlei ist. Das Matriarchat begründet die Herrschaft der Frau im Hause, erhebt sie zum Familienoberhaupt, ist aber noch lange keine Gynaikokratie, worunter eine Weiberherrschaft im Staate zu verstehen wäre. Wohl ist es denkbar, dass die Herrschaft der Frau im Hause, in der Familie, unter günstigen Umständen sich weit genug entwickeln konnte, um der Frau auch im politischen Leben eine grosse Rolle anzuweisen. Wie auf den Palau besitzen bei vielen Völkern die Frauen, namentlich die bejahrteren, bedeutenden Einfluss — so ehedem bei den Germanen — und beteiligen sich an den Ratsversammlungen, in welchen sie Stimmrecht üben, wie bei vielen Indianern Nordamerikas, namentlich den Odschibwä, Navajos, Natchez und Irokesen. Nicht selten fiel ihnen sogar die wirkliche Häuptlingsschaft zu.[421] Mit dieser Würde bekleidet fand man Weiber bei den Narraganset, Sogkonate, Winipeg und Krihk; auch bei den Potowatomi wird Ähnliches erwähnt.[422] Die Nehannes, eine kriegerische und ungestüme Horde der Athapasken, sollen einst von einem Weibe geführt worden sein[S. 215] und als Oberst Langberg die Komantschen im Bolson de Mapimi besuchte, wurde dieser Stamm von einer alten Frau angeführt. Doch will dies gerade nicht viel bedeuten, da bei diesem Räubervolke sonst keine matriarchalischen Gebräuche zu bemerken sind und im übrigen die Frauen eine sehr untergeordnete Stellung einnehmen.[423] Beweiskräftiger ist, dass bei den Haidahindianern Nordwestamerikas die Häuptlingswürde, ohnehin in weiblicher Linie erblich, thatsächlich von Frauen erlangt wird.[424] Auch bei den Südkaliforniern fällt die Häuptlingsschaft in Ermangelung eines männlichen Erben an die nächste weibliche Erbin. Im australischen Queensland ist die höchste Gewalt bei dem ältesten Weibe der Horde; dieses hat, nach des Schweizers Eduard Marcet Versicherung, Macht über Leben und Tod und giebt den Kriegern, welche gegen den Feind ausziehen, Befehle.[425] Auf der von Polynesiern bewohnten Markesasinsel Nukuhiwa kennt man ebenfalls weibliche Häuptlinge, „Atapeius“ geheissen, welche sehr oft in Vielmännerei leben. In Afrika sind solche weibliche Oberhäupter keine Seltenheit, und dies ist sehr bemerkenswert, da ja gerade der dunkle Erdteil die meisten Spuren des Matriarchats erhalten hat. Dem ungemein gewissenhaften Forscher Dr. Gustav Nachtigal zufolge liegt südlich von den Njillem in Centralafrika ein Ländchen, das stets von einer Frau — Mbang-Nê — beherrscht werden soll. Der Bezirk ist unter der arabischen Bezeichnung Beled-el-Mrâ, d. h. „Land der Frau“ oder unter dem Bagirmi-Namen Bê-Mbang-Nê, d. h. „Land der Königin“ bekannt.[426] Endlich wird einer der chinesischen Urstämme von einem Weibe beherrscht, das den Titel Noi-Tak führt. Die Unterthanen bringen ihrer Regentin die denkbar grösste Ehrerbietung entgegen; sie sind als Nue-Kun, d. h. „das von einer Frau regierte Volk“ bekannt und von den Chinesen dieserhalb ganz besonders verachtet. Die[S. 216] Thronfolge ist auf die weiblichen Mitglieder einer bestimmten Dynastie beschränkt.[427]
Ob sich nun irgendwo aus dieser Teilnahme der Frauen an der politischen Thätigkeit der Männer eine Herrschaft über diese auch auf politischem Felde entwickelt hat (was erst recht „Gynaikokratie“ zu heissen verdiente), wie Bachofen annimmt, halte ich mit den meisten Forschern für überaus zweifelhaft. Die uns zugänglichen Berichte berechtigen noch lange nicht zu dieser ganz unwahrscheinlichen Annahme. Was wir über das „Amazonentum“ wissen,[428] an welchem J. J. Bachofen für Südamerika trotz der erschöpfenden Untersuchungen von Martius und Richard Schomburgk fest hält, ist zu dürftig, zu dunkel, um eine feste Grundlage für die Hypothese einer solchen Gynaikokratie abzugeben. Sieht man sich indes auch gezwungen, die Gynaikokratie, wie sie nach der hellenischen Amazonensage ebensowohl wie nach der erhitzten Phantasie spanischer Entdecker in Südamerika sich darstellt, schlankweg zu verneinen, so ist es doch interessant, dass die Indianer des Marañon die Sage von einem Stamme der Aikeam-benanos, d. h. „der Weiber, die allein leben“ besitzen, welche sie an den Rio Cuchivero versetzen, wie A. von Humboldt berichtet.[429] Sehr überraschend ist es aber, die nämliche Sage auch auf der weit entfernten Insel Neuguinea wiederzufinden, wo nach der Angabe der Eingeborenen ein Bezirk oder ein Eiland an der Südostküste Haine Anna oder „Frauenland“ heisst, welches der Reisende S. Mac Farlane zu entdecken sich vergeblich bemühte. Wie ihm die Eingeborenen der Südostküste erzählten, dürfen Männer diesen Frauenstamm zwar besuchen, aber nur zum Zwecke der Begattung, und es ist ihnen nicht gestattet, sich länger auf[S. 217]zuhalten, bei Gefahr der Ermordung. Die männlichen Kinder, welche diese Weiber gebären, werden bei der Geburt sofort getötet und nur die Mädchen bleiben am Leben.[430]
Ist in staatlicher Hinsicht die Annahme einer Gynaikokratie im Sinne eines thatsächlichen Weiberregiments kaum haltbar, so steht doch andererseits eben so fest: für die Familie — aber auch bloss innerhalb dieser — bedeutet das Matriarchat die Herrschaft der Frau, nicht im materiellen, sondern im gewohnheitsrechtlichen Sinne. Altmeister Peschel hat gewiss sehr mit Unrecht es als eine „wenig glaubwürdige“ Ansicht verdächtigt, dass in den Anfängen der menschlichen Gesellschaft die Mütter als Familienhäupter gegolten hätten, „als ob“ — so sagt er — „von den sogenannten Naturmenschen nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Recht des Schwächeren anerkannt worden wäre“.[431] Wäre diese, durchaus unzutreffende Auffassung richtig, so würde sie freilich allein genügen, um jedweden Glauben an einstige matriarchalische Zustände in der Vorzeit unseres Geschlechtes zu verscheuchen, denn keine anderen als die Naturgesetze schwangen damals wie heute ihr Szepter. Naturgesetz ist aber allein das Recht der Stärkeren, und dieses würde auch Peschel durch das Matriarchat keineswegs gefährdet erachtet haben, wenn er die Zustände und Einrichtungen bei den Karolineninsulanern und im malayischen Archipel gekannt hätte, zu welchen ich nach dieser langen aber unerlässlichen Abschweifung nunmehr zurückkehren will.
Ich sagte oben, dass unter den Mortlockinsulanern der älteste Mann aus der ältesten Familie das politische Haupt des Stammes sei. Der ganze Stamm nennt ihn seinen Häuptling: Sómol. Der Häuptling nennt jedes Mitglied seines Stammes Pui, d. h. Schwester oder Bruder, ohne Rücksicht auf das Alter. Stirbt ein Häuptling, so folgt ihm sein Bruder oder, falls dieser fehlt, der nächste männliche Verwandte. Stirbt die älteste Familie aus, so folgt die nächste, die folgende u. s. w., so dass der letzte[S. 218] Mann des Stammes Häuptling werden kann, wenn an ihn die Reihe kommt. Jedes Dorf für sich ist ein kleiner Stamm, ein Clan, aus welchem die Nachkommenschaft des männlichen Teiles ausgeschlossen und nur die des weiblichen beibehalten ist. Die durch die Bande der Clanverwandtschaft aneinander geketteten Dörfer anerkennen ein Dorf als den Sitz der Hauptfamilie, welche den Häuptling des Stammes liefert. Jedes dieser Dörfer, dessen Bedeutung im Stamme in einer stufenweise angeordneten Reihe bestimmt ist, kann das Hauptdorf werden, falls die vorgehenden wichtigeren Dörfer ausgestorben sind.
Was nun die innere Stammesverfassung betrifft, so sind die Mitglieder eines Stammes in kleinere Gemeinden geteilt, von denen jede eine eigene Niederlassung: Key, und mit den dazu gehörenden Ländereien Bey geheissen, besitzt. Jeder Bey, der etwa dem Begriffe des Clan entspricht, hat seinen männlichen Somol, den ältesten Mann der Gemeinde, welcher diese nach aussen vertritt. Die Einrichtung des Key — ein grosses Haus (Le Fel), wo der Somol mit den männlichen Bewohnern schläft, umgeben von kleinen Hütten, in welchen die Frauen und Mädchen des Clan für sich allein oder erstere mit ihren Männern, die nicht zum Stamme gehören, sich aufhalten — ist bloss ein sichtbarer Ausdruck der Stammesregel, dass die beiden Geschlechter sich als Geschwister betrachten sollen. Der Key ist kein Dorf, in dessen Häusern die Familien gemütlich zusammenleben, sondern die Frauen und Männer sind aufs strengste geschieden. Nie wird ein Geschwisterpaar in einem Hause schlafen, sondern der Sohn schläft in dem Fel, die Tochter mit ihrer Mutter im Im. Eine geschlechtliche Vermischung seitens der Angehörigen eines Clan wird als die schreiendste Blutschande betrachtet und würde bei allen Clangenossen ohne weitere Umstände Rächer finden. Da nun die Männer ihre Weiber und sonstige Frauengesellschaft ausserhalb des Key suchen müssen, sind sie fast immer von ihrer Heimat abwesend. Die älteren Männer, welche eine Frau von einem andern Stamme nehmen, müssen sich bei ihr aufhalten und das ihr zugehörige Land bearbeiten. Sie besitzen ausserdem ihr eigenes Land in ihrer Heimat, von wo sie die Erträgnisse meistenteils[S. 219] nach der Familie der Frau bringen. Die jungen Männer, welche sich erst Weiber suchen, treiben sich in fremden Dörfern umher, putzen sich, um möglichst guten Eindruck auf die Töchter des Landes zu machen und warten ungeduldig auf die Abendzeit, da dann gewöhnlich eine gesellige Unterhaltung am Strande stattfindet, an der sich die Jugend beiderlei Geschlechts unter Gesang und Tanz ganze Nächte hindurch ergötzt.[432]
Die so auffallende Sitte des getrennten Lebens der Geschlechter in besonderen Häusern kehrt auch auf den Viti wieder, wo noch Mutterfolge und Neffenerbrecht herrschen. Dort schlafen alle Männer gemeinsam in einem Bure, während die Knaben wiederum ein Bure für sich des Nachts benutzen, Frauen und Mädchen aber einzelne Hütten bewohnen.[433] Auch auf den Palau, wo doch der Mann schon Herr im Hause ist, beobachten wir deutlich umgrenzte Männer- und Weiberverbände, sogenannte Clöbbergöll, wovon die ersteren im Bai, die letzteren im Balai oder Bli wohnen. Professor Semper vermutet, dass das Bai oder Fel, das Männerhaus, eigentlich papuanischen Ursprungs sei[434] und bringt dafür einige Anhaltspunkte, woraus er schliesst, dass in ganz Melanesien früher derartige Einrichtungen bestanden. Lippert hat es wahrscheinlich zu machen versucht, dass sich an vielen Orten und zu verschiedenen Zeiten zwei Gruppen von Organisationen zeigten: die eine bestehend aus Frauen, Männern und Kindern, die andere aus Männern und Jünglingen. Die wesentliche Unterscheidung liegt ihm zufolge in der verschiedenen Art des Nahrungserwerbs und der davon abhängigen Beschäftigungsweise. Diese Männerverbände standen den Familienverbänden gegenüber, und Lippert meint, dass durch den Übergang der Männer von der Jagd zur Viehzucht diese Doppelorganisation nur noch mehr gefestigt werden konnte.[435] Allein auf den Palau- und Mortlockinseln, wo das Doppelhaus so scharf in den Vordergrund tritt, hat ein solcher Übergang zur Viehzucht niemals stattfinden können, und ebensowenig auf[S. 220] der übrigen Eilandsflur des Grossen Ozeans. Wenn also auf diesen bei ihrer Entdeckung Frauen und Männer eine vollkommen getrennte Wirtschaft führten, so scheint mir der Grund hauptsächlich in einstigen matriarchalischen Zuständen zu liegen, welche der Männerwelt noch eine weit grössere Unabhängigkeit von der „Familie“ zuwiesen. Im Grunde genommen war und ist überall, wo das Matriarchat obwaltet, immer noch keine Familie in unserem Sinne vorhanden, d. h. ein Verband, in welchem die natürlichen Beziehungen zwischen Mutter und Kind, zwischen Mann und Frau vertreten und geschützt erscheinen. Die matriarchalische „Familie“ ist immer noch ein viel weiterer Begriff als der, welchen wir heute mit diesem Worte verbinden, eigentlich den ganzen Clan oder die Sippe umfassend.
Verglichen mit der Ungebundenheit der urzeitlichen „Muttergruppe“ ist allerdings in der matriarchalisch geordneten Gesellschaft schon grössere Regelmässigkeit und Festigkeit im Verkehre der Geschlechter bemerkbar. Immerhin zeigt sie in ihren Sitten noch zahlreiche Spuren der älteren freiheitlichen Epoche. Von einer Wertschätzung jungfräulicher Keuschheit ist noch keine Rede. Nach dem, was Hugo Zöller selbst gesehen und was man ihm erzählt hat, scheint so etwas wie Keuschheit, dem Begriffe wie der Wirklichkeit nach, im Nigirdelta nicht bloss unbekannt, sondern auch den Leuten unverständlich zu sein. Es giebt dort keine Festung, die nicht jeder, der sie sah, auch besiegte, wenn er kam.[436] Heute noch sind die Ideen der Australier über die Keuschheit der Jungfrauen gleich Null;[437] in Melanesien ist der geschlechtliche Umgang den Mädchen meistens unbehindert, wie denn auch in Polynesien zur Zeit der Entdeckung die ungebundenste Zügellosigkeit herrschte. Auf der Markesasinsel Nukuhiwa konnten die Mädchen ungehindert und ohne ihre Familie zu entehren, dem Hange ihrer Sinnlichkeit nach Wohlgefallen frönen,[438] ja, es wurde erwachsenen Mädchen zur Schande angerechnet, wenn[S. 221] sie, von den Männern verachtet, keine Gunstbezeugung austeilen konnten, und ein Mädchen sah sich desto mehr geschätzt, je mehr sie Liebhaber gehabt[439] — eine Ansicht, die sehr häufig und bei den verschiedensten Völkern wiederkehrt. Auf den Palau-Inseln, wo schon patriarchalische Polygamie herrscht, leben im Männer-Bai stets zur Bedienung junge Mädchen, Armungul, welche an dem freien ungebundenen Leben, das sie dort führen, grossen Gefallen finden. Die Armungul bleiben gewöhnlich drei Monate lang in dem Bai, lernen hier den Männern dienen und ihnen gehorsam sein, und wenn sie zurückkehren, so bringen sie ihren Eltern ein hübsches Stück Geld mit. Es ist dies, so denkt das weibliche Volk auf den Palau, eine köstliche Sitte.[440] Oft entflieht ein ganzer Weiber-Clöbbergöll nächtlicherweile zu einem Männer-Clöbbergöll einer andern Insel; wenn nämlich ein junger Mädchen-Clöbbergöll in das richtige Alter kommt, treibt es ihn irgend wohin zu gehen, und keines der Mädchen dürfte dann zurück bleiben, auf die Gefahr hin, von ihren Eltern ausgescholten zu werden und keinen Mann finden, da sie in den Ruf käme, ein ungeschicktes Mädchen zu sein, das nicht zur Frau tauge. Aber die andern, wenn sie heimkehren, verheiraten sich rasch.[441] Ähnlich denken und handeln die algerischen Araber vom Stamme der Uled Naïl. Sobald die Töchter im elterlichen Hause reif geworden, schickt sie der Vater nach der nächsten grösseren Stadt, besonders nach Biskra, damit sie dort mit ihren Reizen so viel Geld als möglich verdienen. Die Töchter folgen den väterlichen Ratschlägen auch willig, und es erhält diejenige, welche mit Schätzen reich beladen heimkommt, am frühesten einen Gatten, keineswegs der Schätze wegen, die ja dem Vater gehören, sondern des Anwertes halber, den sie in der Fremde gefunden.[442] Sogar bei den gesitteten Japanern kommt es nicht selten vor, dass ein Vater aus den niedrigen Ständen seine Tochter auf eine be[S. 222]stimmte Zeit einem Yoshiwara (Freudenhause) überlässt,[443] was der Achtung des Musme (Mädchen) keinen Eintrag thut. Bei den Wotjäken ist es geradezu schimpflich für ein Mädchen, wenn sie wenig von den Burschen aufgesucht wird.[444] Die zum Christentume bekehrten Tagalen der Philippinen sehen auch heute noch nicht auf Jungfräulichkeit; die Mädchen geben sich, wie in der früheren Heidenzeit, ohne weiteres jedem Liebhaber preis.[445]
Besondere Achtung jungfräulicher Keuschheit lässt sich auch jenen Völkern nicht nachrühmen, welche zwar sonst in diesem Punkte sehr ängstlich, dennoch den Töchtern gestatten, mit dem Bewerber im Konkubinate zu leben, weil es vor allem gilt, die Fruchtbarkeit des Mädchens zu erproben. So thun z. B. die Igorroten auf Luzon. Wird das Mädchen binnen einer bestimmten Frist schwanger, so findet erst die Hochzeit statt, im entgegengesetzten Falle tritt der Bräutigam zurück.[446] Auch bei den oben genannten Wotjäken ist es für ein Mädchen ehrenvoll, Kinder zu haben; sie bekommt dann einen reicheren Mann und ihr Vater einen höheren Kalim (Brautpreis) für sie bezahlt. Sogar bis in den Kreis unserer Kulturvölker hat diese den geläuterten Begriffen der Keuschheit widersprechende Wertschätzung der vorehelichen Schwangerschaft sich geflüchtet. Thatsache ist, dass in einigen Gegenden Englands, wie Staniland Wake, ein ausgesprochener Gegner unserer Anschauungen, selbst einräumt, ein Mädchen nur dann einen Gatten findet, wenn es früher schon ein Kind geboren;[447] und in der niederländischen Provinz Seeland ist, wie Henri Havard berichtet, die Keuschheit den Mädchen eine Last, von welcher sie sich frühzeitig zu befreien wissen.[448] Als Jungfrau tritt dort ein Mädchen fast niemals in die Ehe, wohl aber meist in schon vorgerücktem Zustande[S. 223] der Schwangerschaft; dies geht soweit, dass in vielen Fällen dieselbe als unbedingte Notwendigkeit erachtet und ihr Ausbleiben zum thatsächlichen Ehehindernis wird,[449] und man merke wohl, dass dabei der Verkehr des Mädchens durchaus nicht auf einen Verehrer beschränkt ist. Ziemlich ähnlich liegen die Dinge in der bäuerlichen Bevölkerung von Oberösterreich und Oberbayern, wie in den Alpenländern überhaupt. Die Begriffe von geschlechtlicher Ehre im modernen Sinne sind dort noch fast unbekannt. An eine uneheliche Geburt knüpft sich weder für die Mutter, noch das Kind irgend welcher besonderer Makel, für das Mädchen selbst dann noch kaum, wenn es mehrere Kinder von verschiedenen Vätern zur Welt bringt.[450] Ein erst siebzehnjähriges, aber schon schwangeres Mädchen in Tölz rühmte sich mir gegenüber geradezu ihres Zustandes, „da ja damit die Welt sehe, dass sie etwas wert sei“. Das sogenannte „Fensterln“, das nächtliche Anklopfen des Burschen an den Kammerfenstern des „Dirndls“, das nur dann vergeblich bleibt, wenn der Bursch nicht „der rechte“ ist oder andere Hindernisse das Hineinschlüpfen in die Kammer des Mädchens verwehren, ist ein uralter, weit verbreiteter und durch keine Macht der Welt auszurottender Brauch in den Alpen, welchen das einsame Leben der Sennerinnen in[S. 224] den Almhütten noch unterstützt. So hat denn Professor Josef Sepp, ein Tölzer Kind und genauer Kenner seiner Heimat, den bezeichnenden Ausspruch wagen dürfen, dass fast alle Mädchen im Gebirge Maria heissen, aber von der heiligen Jungfrau nichts besässen, als eben nur den Namen und — das Kind. Auch in der Schweiz herrscht in vielen Kantonen noch die wohl aus burgundionischen Zeiten herstammende Sitte des „Kiltganges.“ Damit, oder wie es in einigen Alpengegenden heisst, „z’ Licht goh“, bezeichnet man im allgemeinen die nächtlichen Besuche junger lediger Bursche bei heiratsfähigen Mädchen. Uneheliche Kinder sind das endliche Ergebnis. Die Eltern wissen es, müssen es aber geschehen lassen, wenn sie ihre Töchter unter der Haube sehen wollen, — weil es einmal so Sitte ist; denn der Kiltgang, wo er Volksbrauch, ist so allgemein, dass arm und reich demselben huldigen. Es giebt auch in der Schweiz nicht wenig einsichtsvolle Leute, welche dem Kiltgang ernstlich das Wort reden.[451] Eine ähnliche „Freierei“ ist in Norwegen üblich.[452] Herben Sittenrichtern mag es nur zu mässigem Troste gereichen, zu erfahren, dass schon die alten Vedalieder davon erzählen, wie der Jüngling nächtlicherweile ins Elternhaus und in die Kammer seines Mädchens gelangt,[453] was Weinhold zu interessanten Vergleichen mit dem Brauche des Kiltganges veranlasst, der übrigens nach Elphinstone auch „feste Sitte bei vielen Afghanen und Stämmen des nordwestlichen Indiens“ geworden sei.
Genau betrachtet verhält es sich mit der jungfräulichen Keuschheit wie mit der Schamhaftigkeit. Auch sie ist bei den verschiedenen Völkern keineswegs gleichmässig ausgebildet, und es lassen sich in deren Wertschätzung eine Unzahl fein abgetönter Schattierungen von den rohesten bis zu den gesittetsten Völkern verfolgen. Auch sie ist ein erst spät erworbener Kulturschatz, und wenn sogar inmitten gesitteter Nationen, wie obige Beispiele[S. 225] darthun, derselbe nicht immer seinem vollen Werte nach gewürdigt wird, so hat man darin sicherlich nicht mit dem Entartungsapostel Dr. Schneider ein Unvermögen der Überlieferung und des Beispiels christlicher Zucht und Sitte, sowie der durch beide beeinflussten staatlichen Gesetzgebung und des öffentlichen Anstandes zu erkennen;[454] vielmehr sind alle die aufgezählten Faktoren bislang unfähig gewesen, die Ehe und die damit zusammenhängenden Begriffe zu jener Reinheit zu erheben, welche im Hirne der Träumer als ursprünglicher Zustand spukt, bevor „die zerstörende Macht der Sünde, welche in der fleischlichen Lust kulminiert“,[455] zu den geschlechtlichen Verhältnissen der erforschbaren Perioden geführt. Einen Beweis für dieses Paradoxon vermag natürlich niemand zu erbringen, und dasselbe gewinnt auch keinerlei Stütze durch die Frage: wie es denn glaublich sei, dass der tierische Urmensch lediglich durch die Erwägung von Nützlichkeitsgründen vom Hetärismus abgelassen und allmählich zur Einzelehe sich bequemt habe? Sicherlich war es nicht die Erwägung von Nützlichkeitsgründen, welche den Menschen auf diesen Pfad leitete, sondern der Weg war durch die Notwendigkeit und den Gang vorgezeichnet, welchen die Entwicklung jeweils bei jedem Volke nahm. Die Entartungstheoretiker geben sich alle erdenkliche Mühe, Beispiele von niedrig stehenden Stämmen zusammenzutragen, welche doch durch auffallende Sittenreinheit glänzen. Ist die Zahl solcher Beispiele auch keine übermässig grosse, so widerspricht doch die Völkerkunde diesem Beginnen nicht. Wie ist es nun glaublich, so möchte ich dagegen fragen, dass diese im paradiesischen Unschuldskleide prangenden Menschenkinder, welche vor andern so viele „Tugenden“ voraus haben, nicht mit deren Hülfe ihrer sonstigen äussersten Kulturarmut sich entwinden konnten? Oder klingt es nicht wahrscheinlicher, dass die Entwicklung der einzelnen Völker, je nach Massgabe der sie umgebenden und beherrschenden Medien und je nach Massgabe ihrer inneren Anlagen, eine verschiedene gewesen und die einen früher,[S. 226] die anderen später zur Ausbildung dieser oder jener Seite des Gesamtkulturlebens geführt habe? Kennt also die Völkerkunde, um zum Ausgangspunkte dieser Betrachtung zurückzukehren, eine Anzahl sehr roher Stämme, welche trotzdem die Tugend ihrer Mädchen auf das strengste hüten, so ist daraus doch keineswegs zu schliessen, dass die weitverbreitete Ungebundenheit der Mädchen, welche ihren Gefühlen keinen Zwang anthun und dem Bedürfnisse ihres Triebes in vollem Masse genügen, eine Folge späterer Entsittlichung und als nichts Natürliches, Ursprüngliches anzusehen sei. Zuverlässig sind auch jene Tugendsamen von der Ungebundenheit erst allmählich zur Keuschheit gelangt, denn auch sie sind, sowie wir sie heute kennen, dem Urzustande längst entrückt. Zur Ausbildung jener Tugend, d. h. zum Erlangen jenes Bruchteiles der Gesittung, mochten aber bei diesen Geschichtslosen besondere Umstände hindrängen, vielleicht die nämlichen, welche ihr Zurückbleiben auf andern Kulturgebieten verschuldeten.
[412] Henri Duveyrier. Les Touaregs du Nord. Paris 1864. Bd. I. S. 337. 397.
[413] A. a. O. S. 393.
[414] Ladislaus Magyar. Reisen in Südafrika in den Jahren 1849 bis 1857. Pest u. Leipzig 1859. Bd. I. S. 284.
[415] Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Bd. II. S. 131–132.
[416] Werner Munzinger. Ostafrikanische Studien. Schaffhausen 1864. S. 555.
[417] Munzinger. A. a. O. S. 490. Der ehrliche Schweizer, welcher wohl keine besonderen familiengeschichtlichen Studien gemacht hatte, kann sich diese Form der Familie gar nicht erklären, zumal bei den Barea, wo die Ehe streng sittlich und Ehebruch höchst selten ist.
[418] Livingstone. Narrative of an expedition to the Zambesi and its tributaries. London 1865. S. 162.
[419] Semper. Die Palau-Inseln. S. 114. Ob auch im übrigen Mutterrecht und Mutterfolge herrsche — wie es wohl wahrscheinlich ist — vermochte Semper nicht zu enträtseln.
[420] Kubary in den „Mitteil. d. Geograph. Gesellsch. von Hamburg“ 1878 bis 1879. S. 244–247.
[421] Lippert. Geschichte d. Familie. S. 35.
[422] Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Bd. III. S. 101.
[423] Ausland 1858. S. 431.
[424] Globus. Bd. III. S. 272.
[425] Hellwald. Naturgesch. d. Menschen. Bd. I. S. 175.
[426] Dr. Gustav Nachtigal. Sahara und Sudan. Ergebnisse sechsjähriger Reisen in Afrika. Berlin 1881. Bd. II. S. 675.
[427] Leopold Katscher. Bilder aus dem chinesischen Leben mit besonderer Rücksicht auf Sitten und Gebräuche. Leipzig u. Heidelberg 1881. S. 320.
[428] Vgl. Dr. Wilhelm Stricker. Ethnographische Untersuchungen über die kriegerischen Weiber (Amazonen) der alten und neuen Welt, im „Archiv f. Anthrop.“ B. V. S. 220–225.
[429] Humboldts Reise in die Äquinoktialgegenden. Bd. III. S. 399.
[430] Globus. Bd. XXXI. S. 334.
[431] Peschel. Völkerkunde. S. 233.
[432] Kubary. A. a. O. S. 250–252.
[433] Seemann. Viti. S. 110.
[434] Semper. Palau-Inseln. S. 367–368.
[435] Lippert. Kulturgesch. in einzelnen Hauptstücken. Abt. II. S. 43–48.
[436] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. I. S. 90.
[437] Nach Paul Topinard in der Revue d’Anthrop. 1872. S. 315.
[438] Langsdorff. Bemerkungen auf einer Reise um die Welt. Bd. I. S. 206.
[439] A. a. O. Bd. I. S. 128.
[440] Semper. Die Palau-Inseln. S. 48. 65.
[441] A. a. O. S. 324.
[442] Dr. Bernhard Schwarz. Algerien. Leipzig 1881. S. 229. P. de Tchihatcheff. Espagne, Algérie et Tunisie. Paris 1880. S. 290.
[443] J. J. Rein. Japan nach Reisen und Studien. Leipzig 1881. Bd. I. S. 495.
[444] Max Buch. Die Wotjäken. Eine ethnologische Studie. Stuttgart 1882. S. 45.
[445] Blumentritt. Ethnographie der Philippinen. S. 15.
[446] A. a. O. S. 27–28.
[447] Revue d’Anthropologie 1874. S. 737.
[448] Henri Havard. La Hollande pittoresque. Le coeur du pays. Paris 1878. S. 219.
[449] A. a. O. S. 221–222. Als Havard sich erkundigte, warum ein auffallend hübsches Mädchen noch keinen Mann gefunden, ward ihm die Antwort: „Was wollen Sie, Grietje ist ein schönes Mädchen, aber sie kann kein Kind bekommen. Die Liebhaber fehlen ihr sicherlich nicht, aber die Kirmessen vergehen und es kommt zu nichts; da ziehen sich die Verehrer wieder zurück.“
[450] Arthur Müller. Geschichten aus den Bergen. (Wiener „Presse“ vom 28. August 1872.) Diesem Gewährsmanne teilte ein k. bayerischer Notar, der in einem durch die Schönheit seiner Lage weit berühmten Orte des Hochgebirges amtete, mit, dass er unter anderen einen Ehevertrag abgeschlossen habe, dem zufolge die betreffenden beiden Brautleute sich verpflichteten, nicht weniger als vier verschiedene wilde Zweige von Sprösslingen, zwei dieser Zweige von der Braut mit verschiedenen Männern, zwei vom Bräutigam mit verschiedenen Mädchen, vor der Hochzeit gezeugt, in ihren neu zu begründenden Haushalt aufzunehmen, so dass also, wenn von ihrer Seite noch Kinder hinzukommen, nicht weniger als fünf verschiedene Sorten von Sprösslingen mit verschiedenen Vätern und Müttern unter einem Dache zusammen hausten.
[451] Globus. Bd. VIII. S. 64. H. A. Berlepsch. Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Jena 1871. S. 468.
[452] Hartung u. Dulk. Fahrten durch Norwegen und die Lappmark. Stuttgart 1877. S. 244–245.
[453] S. Lefmann. Geschichte des alten Indiens. Berlin 1880. S. 98.
[454] Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 424.
[455] A. a. O.
[S. 228] die rohen Beweibungen der vorhergegangenen Zeiten, so entsprachen sie doch nur sehr unvollkommen unserem Begriffe der Ehe, insoferne wir darunter die durch Liebe bedingte gesetzmässige Vereinigung eines Mannes und Weibes zu vollständiger Gemeinschaft aller Lebensverhältnisse verstehen. Die „Ehe“ der matriarchalischen Organisation entbehrte zunächst der Festigkeit und der Dauer, sie war nicht auf Lebenszeit geschlossen, wärmere Gefühle spielten bei der noch vorhandenen Stumpfheit der psychischen Regungen eine untergeordnete Rolle, und der Gatte und Vater erscheint als ein ausserhalb der Familie stehendes Anhängsel. Ein Mann konnte auch in mehreren solchen Mutterfamilien als Anhängsel dienen, — dann war die Ehe polygamisch, und umgekehrt beutete die Frau ihre Stellung in der Familie nach der geschlechtlichen Seite durch den Wechsel der Männer aus, so dass die Polyandrie oder Vielmännerei ganz naturgemäss aus dem Matriarchate herauswächst und nicht etwa, nach Lubbock, für eine Ausnahme zu erklären ist, welche in den normal fortschreitenden Entwicklungsgang sich nicht einreihen liesse.[456] Kautsky, dem wir meines Wissens zuerst diese richtige Erkenntnis verdanken, hat gezeigt, dass in der Polyandrie überall die Frauen der wählende, nicht der gewählte Teil sind.[457]
enn man das in den vorstehenden Abschnitten Dargelegte zusammenfasst, so wird im allgemeinen zu vermuten gestattet sein, dass in den Tagen der Mutterherrschaft die Mädchen — mitunter in schrankenloser Weise, — mit einer Art Vorausberechnung die Zeit benutzten und noch benutzen, welche dem Genusse gegönnt ist, denn die Mutterschaft brachte für die Frau nur Jahre der Entbehrung. Beim Menschen scheint freilich dadurch, dass sein Wachstum so lange dauert und das Weib daher, weit mehr als in der Tierwelt, des Mannes zum Heranziehen des Kindes bedarf, schon in der Natur die Bedingung, ja eine Art Zwang zu dauernder Verbindung zu liegen, und zwar, da während des Aufwachsens des einen immer neue Kinder kommen, einer Verbindung für das Leben. Auch ist leicht einzusehen, dass wenn Mutter und Vater sich in die Arbeit des Aufziehens teilen, das Kind weit mehr Aussicht hat, die Gefahren der zarten Jugend zu überstehen, als wenn die Mutter allein, des Menschenpaares schwächerer Teil, die ganze Sorge zu übernehmen hat. Daher der Satz unserer Bevölkerungsstatistik: dass nur die legitime Ehe fruchtbar sei, womit gesagt werden will, dass bloss ein sehr kleiner Teil der unehelichen Kinder das erste Jahr überlebt. Gestalteten sich unter der Herrschaft des matriarchalischen Mutterrechtes die Bündnisse zwischen Frau und Mann zweifelsohne fester und dauernder, alsGleichviel indessen, ob Vielweiberei oder Vielmännerei Platz griff, ein Zusammenleben der Gatten ist in der matriarchalischen Gesellschaftsordnung durchaus nicht erforderlich und findet auch thatsächlich an vielen Orten nicht statt, wo jetzt noch das Matriarchat erhalten ist. Bei den polygamen Vitiinsulanern wäre es der gröbste Verstoss gegen die Sitte, wenn ein Mann mit seiner Familie unter einem Dache übernachten würde. Erst am Morgen besucht der Mann Frau und Kinder. Sonstige Begegnungen aber finden immer nur verstohlen im Walde statt. So will es die alte Vitisitte, die heute, nach Einführung des Christentums, allerdings nur noch der dortige Adel beobachtet. Die oben besprochene Trennung der Geschlechter in besonderen Häusern, die auch bei[S. 229] patriarchalisch geordneten Stämmen getroffen wird, darf wohl als ein Überrest aus der voraufgehenden mutterrechtlichen Periode angesprochen werden. Die Familienverfassung der Naïr im malabarischen Indien gewährt endlich ein vollkommen klares Bild des auf Abstammung von der Mutterseite gegründeten Matriarchats, worin der Vater nichts ist, als der für eine ihm fremde Familie Kinder Zeugende. Den tiefsten Einblick in die matriarchalischen Verhältnisse hat uns aber G. A. Wilken erschlossen durch seine sorgfältigen Studien über die Sitten und Satzungen der Völker im ostindischen Archipel. Bei diesen müssen wir länger verweilen.
Die Malayenstämme jener Eilande befinden sich alle schon längst im Besitze eines nicht unbeträchtlichen Gesittungsschatzes. Es kann daher nicht Wunder nehmen, sie auf einer Übergangsstufe zu erblicken, auf welcher nebst der Stammeseinteilung auch die territoriale Einteilung besteht; beide sind in eigenartiger Weise miteinander verbunden. Ursprünglich waren alle Mitglieder des Stammes in einer einzigen Siedelung vereinigt. Später, bei wachsender Bevölkerung, bekundete die Siedelung den Hang zur Spaltung, zur Abzweigung. Auf Java sendet heute in solchem Falle die Dessa oder Dorfgemeinde einen Schwarm aus, eine Dukuh, welche eine neue Siedelung gründet, anfangs auch mit der Mutter-Dessa ein Ganzes ausmacht, später aber sich als eine selbständige Dessa loslöst. Dieselbe Erscheinung beobachtet man in den Sundalanden und auf Sumatra, hauptsächlich bei den Malayen der Padangschen Oberlande, dann bei den Battak, in den Palembangschen Oberlanden, in den Lambong-Bezirken, ferner bei den Alfuren der Minahassa auf Nordcelebes.[458] So lange die Abzweigungen mit der Muttergemeinde verbunden bleiben, bilden sie eine Gebiets-Einheit, einen Bezirk. Ursprünglich entsprach jedem[S. 230] Stamme ein solcher Bezirk, in welchem alle Siedlungen, die im Zeitenlauf darin entstanden, mit dem Stammdorfe verbunden blieben. Zwei Fälle, die zu verschiedener Entwicklung führten, konnten nun eintreten und lassen sich auch in der That deutlich wahrnehmen. Entweder hielt sich der Stamm an sein ursprüngliches Gebiet, und dann ist dasselbe, wie zu Anfang auch jetzt noch, bloss von einem Stamme bewohnt, oder es fand mit der Zeit eine Vermengung statt, es siedelten sich Mitglieder des einen Stammes auf dem Gebiete des andern an, und dann ist das Territorium nicht mehr durch einen, sondern durch zwei oder mehr Stämme bewohnt. Natürlich behielt jeder eingeborne Stamm innerhalb seines Gebietes die Oberherrschaft über die eingewanderten Fremdlinge, daher denn stets, wo mehrere Stämme in solcher Weise untereinander leben, einer von ihnen der Herrschende ist.
Bei den Battak heisst der „Stamm“, deren jeder seinen besonderen Namen führt, Marga, sein Bezirk Kuria, Saksi oder Dschandschian, und dieser besteht aus einer gewissen Anzahl Dörfer mit den dazu gehörigen Kuta und Pagaran. Ursprünglich wird jeder Kuria nur von einem Stamme bewohnt. Später ist dies nicht mehr der Fall. Typisch wird nun jeder Kuria durch zwei Marga bewohnt, den Namora-mora und den Bajo-Bajo. Die Namora-mora ist die ursprünglich im Bezirke sesshafte Marga, während die Bajo-Bajo (d. h. Gast, Fremdling) erst später eingewandert sind. Beide Marga sind nunmehr aber unverbrüchlich miteinander verbunden. Die Ursache dieses Verhältnisses ist die bei den Battak herrschende Sitte der Exogamie. Begreiflicherweise entwickelte sich dieselbe am leichtesten und bequemsten zwischen zwei Stämmen, die zuerst Grenznachbarn waren. Mitglieder des Stammes A beweibten sich im Stamme B und umgekehrt. So ist es zu erklären, dass man in jedem Kuria zwei verbundene Marga antrifft und zwar in der Weise, dass wenn von den zwei Marga C und D, C als Bajo-Bajo in einem Kuria auftritt, wo D Namora-mora ist, umgekehrt keine andere Marga als D Bajo-Bajo sein kann, wo C Namora-mora ist. Eine ganz entsprechende Stammeseinteilung befolgen die Malayen von Menangkabau, namentlich in den Padangschen Oberlanden auf Sumatra. Die Stämme heissen[S. 231] bei ihnen Suku. Ursprünglich mag es nur vier Suku (wörtlich: ein Viertel) gegeben haben, aus welchen die jetzigen Stämme, etwa vierzig an der Zahl, durch Splitterung hervorgegangen sind. Der Bezirk der Suku ist der Negari, welcher mehrere Kota und Tarataq umfasst in dem gegenwärtig regelmässig jeder der vier uranfänglichen Suku vertreten ist. Sowie bei den Battak zwei Marga zum Bestande des Kuria erforderlich sind, so gilt hier kein Negari für vollständig, wenn nicht Personen aus allen vier Suku darin wohnen. Ein Unterschied zwischen beiden Völkern besteht bloss darin, dass während bei den Battak der Häuptling der Namora-mora stets auch der Radscha des Kuria und das Oberhauptes der Bajo-Bajo, der Natobang-Bajo-Bajo ihm untergeordnet ist, eine solche hervorragende Stellung keinem der malayischen Suku eingeräumt ist. Sie stehen vielmehr alle auf dem Fusse der Gleichheit zueinander, jeder hat seine besondere Verwaltung, unabhängig von den andern. Die Gesamtheit der Panghulu, der Sukuhäupter, bilden die Regierung des Negari.[459]
Wilken führt uns noch zu einer ganzen Reihe anderer Völker, bei denen sich ähnliche Einrichtungen wiederfinden. Ich muss mich hier mit der weiteren Erwähnung begnügen, dass die Pasemaher ungeteilt geblieben sind, während die Lamponger sich in der oben beschriebenen Art vermischt haben. Auch die ganze Insel Nias ist in etwa 15–25 Bezirke, beziehungsweise das Volk in ebenso viele Stämme eingeteilt. Desgleichen zerfallen die Alfuren der Insel Buru in eine Anzahl Stämme, die sich unvermengt erhielten, während bei jenen der Nordküste von Ceram die Stamm- und Gebietseinteilung wieder ineinander greifen. Bei diesen, sowie bei den Timoresen, behauptet ein Stamm stets den Vorrang. Man sieht also, dass bei den Völkern des ostindischen Archipels gegenwärtig teils jeder Stamm sein eigenes Gebiet bewohnt, teils eine Vermengung der Stämme in der Art stattgefunden hat, dass in jedem Bezirke die Mitglieder verschiedener Stämme leben. Wo letzteres der Fall, herrscht in der Regel auch Exogamie, so bei den Battak, den[S. 232] Padangschen Malayen, den Alfuren von Ceram, den Niasern, den Alfuren von Buru und den Timoresen. Allen diesen Völkern gilt die Beweibung innerhalb der Stammesgenossenschaft als Blutschande, doch wird das Verbot heute nicht mehr mit grosser Strenge gehandhabt. Nur bei den Battak steht noch Todesstrafe auf dessen Übertretung. Auf die Stammesbildung übt nun die Exogamie, wie ich schon früher ausgeführt, einen bedeutenden Einfluss. Wo Mutter und Vater zwei verschiedenen Stämmen angehören, ist nämlich nur zweierlei möglich: die Kinder folgen entweder dem Stamme des Vaters oder jenem der Mutter, und in letzterem Falle entsteht Matriarchat mit Mutterrecht. Von diesen zwei Richtungen ist die letztere, wie schon des breiteren dargethan, die ältere, ursprünglichere und hat sich bei einigen Völkerschaften, durch die Macht der Gewohnheit, bis auf unsere Tage erhalten. Andere hingegen, und wohl die Mehrzahl, haben im Laufe der Zeit die Mutterfolge durch die Vaterfolge, das Matriarchat durch das Patriarchat ersetzt, doch weist auch bei ihnen, wie z. B. bei den Battak, noch mancherlei auf das matriarchale Verhältnis zurück.
Von allen malayischen Völkern sind die Bewohner der Padangschen Oberlande, in Menangkabau, die einzigen, welche die matriarchale Stammesordnung bewahrt haben. Der Stamm oder Suku umfasst bei ihnen nur Glieder mütterlicher Abstammung. Der Stammesbezirk, Negari, enthält mehrere Dörfer, Kota, und Negari wie Kota sind nicht von einem einzelnen, sondern stets von mehreren Suku besetzt. Aber die Mitglieder dieser verschiedenen Suku wohnen nicht durcheinander; es schliessen sich vielmehr in jedem Kota die zusammengehörenden Sukugenossen stets aneinander und bewohnen ein eigenes Viertel, ein Kumpulan Rumah; von diesem aber sagen die Malayen: „Die Bewohner eines Kumpulan Rumah seien Familiengenossen; sie haben einen Scheitel und eine Wurzel; Schuld und Schuldforderung haben sie gemeinsam; Schande und Ehre teilen sie miteinander.“ Damit ist deutlich ausgedrückt, dass die Insassen eines Kumpulan Rumah nichts anderes als eine grosse Familie, richtiger einen Clan, bilden. Jeder im Kota anwesende Clan ist ein für sich abgeschlossenes[S. 233] Ganzes, räumlich geschieden von den aus anderen Suku gebildeten Clans. Der Clan setzt sich immer nur in der weiblichen Linie fort, und die notwendige Folge davon ist, dass das Mädchen, wenn es in die Ehe tritt, in ihrem Suku, in ihrem Kumpulan Rumah bleibt. Thatsächlich verlässt sie auch nicht das Haus, worin sie zur Welt kam und aufwuchs. Aber auch der Gatte verbleibt in seinem Kumpulan Rumah, in seinem Geburtshaus. Obwohl in dem nämlichen Kota wohnend, hat also die Ehe doch kein Zusammenleben der Gatten zur Folge. Das Geschlechtsbündnis offenbart sich lediglich in der Form von Besuchen, die der Gatte der Gattin abstattet. Tagsüber kommt nämlich der Mann zu der Frau, hilft ihr bei der Arbeit und nimmt mit ihr das Mittagsmahl ein. Später werden die Tagesbesuche seltener, der Mann kommt des Abends in die Wohnung des Weibes und verweilt bei ihr, wenn er anders ein treuer Gatte ist, bis zum folgenden Morgen. Dieses Bündnis, welches unseren Ehebegriffen noch wenig entspricht, heisst Sumandô. Mann und Frau bilden dabei noch keine Familie. Der Mann bleibt bei seinem Clan, die Frau mit ihren Kindern bei dem ihrigen. Die Familie umfasst demnach noch nicht Mann, Frau und Kind, sondern immer nur Mutter und Kind. Samandei, d. h. „jene die eine Mutter haben“, so nennt sich deshalb im Malayischen die Familie. An ihrer Spitze steht in der Regel der älteste Mutterbruder, und er, der mütterliche Oheim, der Mamaq, ist seinen Rechten und Pflichten nach der eigentliche Vater seiner Schwesterkinder, seiner Kamanakan. Der wahre Vater hat, als gar nicht zur Familie gehörig, über seine Kinder auch nicht die leiseste Gewalt. Er darf sie nicht schelten, viel weniger züchtigen, weil der Mamaq dies gewöhnlich übel vermerkt. Dagegen nimmt er, falls er der älteste Bruder seiner Schwester ist, in deren Hause die nämliche hervorragende Stellung ein, welche ihm in jenem seiner Gattin versagt bleibt.
Unter solchen Umständen und weil die Frau ihr Geburtshaus nicht verlässt, kann es nicht befremden, in einem malayischen Hause stets eine sehr grosse Anzahl von Hausgenossen zu finden. Man trifft da unter einem Dache beisammen Mütter mit ihren[S. 234] Kindern, Oheime, Muhmen, Grossmütter, Grossoheime und Grossmuhmen, natürlich alle mütterlicherseits. Diese Gruppe von Verwandten bezeichnet der Malaye sehr treffend als Sabuah Paruï, wörtlich: jene, die von einem Bauch sind. Das Oberhaupt der Sabuah Paruï ist gemeiniglich der Älteste unter den Häuptern der Samandei, also der älteste Mamaq. Er trägt den Namen Tungganei, Panghulu Rumah oder Tuwo Rumah. Mit jeder Heirat eines weiblichen Gliedes der Sabuah Paruï vermehrt sich natürlich die Anzahl der Hausgenossen, und der gemeinschaftlichen Wohnung wird dann ein neuer Anbau hinzugefügt. Wird die Familie zu kopfreich, so spaltet sie sich, zumeist derart, dass die untereinander am nächsten Verwandten beisammen bleiben, in zwei Gruppen und zwei Wohnhäuser. Diese bilden dann ein Kampong, dessen Häuptling oder Panghulu Kampueng der älteste Tungganei des ursprünglichen Hauses ist.
Völlig übereinstimmend gestaltet sich das Erbrecht. Natürlich erbt der nächste Verwandte mütterlicherseits. Stirbt die Frau, so erben zuerst ihre Kinder, sind solche aber nicht vorhanden, ihre Brüder, Schwestern, Schwesterkinder u. s. f. Stirbt der Mann, so geht sein Erbe in erster Reihe an seine Brüder und Schwestern, dann an seine Schwesterkinder über. Die Kinder erben also nur von der Mutter, nicht vom Vater. Auch Titel pflanzen sich in gleicher Weise fort. Dem Panghulu folgt also nicht sein eigener Sohn, sondern der älteste Sohn seiner Schwester bei Ermanglung von Brüdern. Der Vermögens- oder Besitzstand zerfällt in die Harta pusaka, d. h. den Teil, den man selbst ererbt, und in die Harta Pentscharian, d. h. jenen, den man durch eigenen Fleiss erworben hat. Dieser ist persönliches Eigentum, jener aber Gemeinbesitz einer Familie und kann nicht verteilt werden, sondern geht insgesamt in den Besitz der Erben über. Erbschaftsteilung ist erst an die Erben vierten Grades gestattet. Die Harta pusaka steht unter der Verwaltung des Tungganei und alle Familienglieder haben daran die nämlichen Rechte. Die Männer erhalten davon erst dann einen Teil zur Nutzniessung, wenn die weiblichen Miteigentümer genügende Ersparnisse gemacht haben für den eigenen und ihrer Samandei Unterhalt. Der Hauptzweck[S. 235] der Harta pusaka ist nämlich die Frauen mit ihren Kindern stets vor Verarmung zu schützen. Wie man sieht, ist in der malayischen Sumando nicht nur kein Zusammenleben, sondern auch keine Gütergemeinschaft der Gatten möglich. Nur was beide Gatten durch gemeinschaftliche Arbeit erworben, ist auch ihr gemeinschaftliches Eigentum und dieses wird bei einem Todesfalle derart geteilt, dass die eine Hälfte an die Verwandten des oder der Verstorbenen fällt, die andere Hälfte aber dem überlebenden Teile verbleibt. Die Kinder können vom Vater nie erben, sondern bloss Geschenke zu Lebzeiten erhalten. Damit eine solche Schenkung (Hibah) gültig sei, muss sie aber dem Adat, d. h. dem Herkommen, dem Gewohnheitsrechte gemäss, nämlich in Gegenwart der Brüder und Schwestern, der Dorfhäuptlinge und noch einiger weiterer Zeugen erfolgen.
Die ersten Sumando oder Ehebündnisse, welche gewöhnlich die Eltern, ohne die Neigung der künftigen Gatten zu befragen, zu schliessen pflegen, werden gewöhnlich sehr bald, oft schon nach wenigen Monaten aufgelöst. Die späteren dagegen, wo der Mann eine Frau und das Mädchen einen Mann eigener Wahl nehmen kann, sind natürlich dauerhafter. Bei der Scheidung verbleiben die Kinder bei der Mutter, und in Bezug auf das Vermögen gelten die nämlichen Bestimmungen wie im Erbschaftsfalle. Dieses durchgebildete matriarchalische System haben die Malayen von Menangkabau so ziemlich überall bewahrt, wo sie sich verbreiteten, also über einen grossen Teil von Mittel-Sumatra, selbst über die Ostküste und die Halbinsel Malakka, auf welch letzterer allerdings das alte Erbrecht unter dem Einflusse des Islâm mancherlei Einbusse erlitten hat.[460]
Die meisten Völker des ostindischen Archipels sind indessen, wie bemerkt, schon zur Vaterfolge oder Agnation übergegangen; viele haben aber doch neben den patriarchalischen Einrichtungen solche der früheren matriarchalischen Zeit beibehalten. So kommt bei mehreren neben der Ehe nach Vaterrecht auch die Ehe nach Mutterrecht vor. Im Gesetzbuche der Redschang auf Sumatra[S. 236] vom Jahre 1779 werden drei Ehearten erwähnt, nämlich die Ehe mit Ambel-anak (d. h. Kind annehmen), mit Dschudschur und mit Semando, welche der Richter Post mit Recht als drei grosse universalgeschichtliche Entwicklungsstufen im Eherechte auffasst.[461] Die Ambel-anak-Ehe, welche in diesem Gesetzbuch als veraltet abgeschafft wird, gehört der matriarchalischen Familie an, die Dschudschurehe der patriarchalischen Stufe, die Semandoehe der Periode der Staatenbildung. Bei der Ambel-anak-Ehe heiratet der Bräutigam in die Familie der Braut, bei der Dschudschurehe heiratet die Braut in die Familie des Bräutigams, die Semandoehe wird auf dem Fusse völliger Gleichberechtigung der Ehegatten eingegangen. Bei der Ambel-anak-Ehe ersieht man, wie der Gatte vollständig in die Familie der Frau übergeht, man könnte sagen: in ihr untergeht; sie bietet das klarste Beispiel für den Zustand des geschlechtlichen Lebens zur Zeit der matriarchalischen Familienorganisation. Wird eine Ehe durch den Ambel-anak geschlossen, sagt Marsden,[462] so wählt der Vater seiner Tochter aus einigen jungen Männern einen Gatten aus. Gewöhnlich stammt derselbe aus einer weniger vornehmen Familie und diese muss allen ferneren Rechten oder Ansprüchen auf ihn entsagen. Er wird in das Haus seines Schwiegervaters geführt, der bei dieser Gelegenheit einen Büffel schlachtet und von den Verwandten seines Eidams zwanzig Dollars erhält. Von dieser Zeit an trifft das Buruk baik nia (das Gute und Schlechte das er thut) die Angehörigen seiner Frau. Mordet oder stiehlt er, so zahlen sie das Bañgun oder Strafgeld; wird er ermordet, so erhalten sie das Bañgun. Sie sind verantwortlich für alle Schulden, die er als Ehemann macht; für die früheren haften seine Eltern. Er nimmt in der Familie eine Mittelstellung zwischen einem Kinde und einem Schuldner ein. Er hat als Sohn an allem Teil, was der Haushalt liefert, besitzt aber selbst kein Eigentum. Die Reispflanzungen, der Ertrag seines Pfeffergartens, kurz alles was er gewinnt oder erntet,[S. 237] gehört der Familie seiner Frau. Dieselbe darf ihn nach Belieben fortjagen, und in solchem Falle muss er sogar seine Kinder verlassen und nackt, wie er gekommen, zurückkehren. Genau ebenso findet sich die Ambel-anak-Ehe auf Java[463] und bei den Lampongern.[464]
Die hier angeführten Beispiele dürften einen genügenden Einblick in die matriarchalisch geordnete Gesellschaft gewähren. Sie liessen sich auch noch beträchtlich vermehren. Die Garo in Assam sind heute noch in kleine Clane geteilt, welche Mahari, nämlich „Mutterschaften“ heissen. Ehedem stand auch eine Frau an deren Spitze und übte die oberste Gewalt aus; jetzt versieht diesen Posten ein Häuptling, Laskar, welcher gewöhnlich aus den reichsten Sklavenhaltern, aber stets mit Zustimmung der Weiber, gewählt wird und mehr oder weniger ihren Ratschlägen unterworfen bleibt. Bei den Garo ist es auch das Mädchen, welches den Gatten wählt, und nicht selten erfolgt ein Scheinraub des Verlobten durch die Leute der Mahari, welcher die Braut angehört. Die Söhne erben bloss nach der Vatersschwester und deren Kindern. Scheidungen sind häufig und die Kinder verbleiben dann bei der Mutter; sehr oft kennen sie gar nicht ihren Vater oder leben zwar ganz in seiner Nähe, betrachten ihn aber als einen völlig Fremden.[465] Weitere Beispiele bietet sogar der Kreis der Völker mittelländischen Stammes. Bei den altiberischen Kantabrern besassen die Frauen das Erbe und dieses ging von der Mutter auf die Töchter über. Diese gaben ihre Brüder zur Ehe hinaus, und so brachte der Mann seiner Frau, als Abfindung für seinen Nutzgenuss am Erbe, eine Aussteuer, eine Dos, ins Haus. Die Araber übten ursprünglich Exogamie, welche sie aber bald mit der Endogamie vertauschten, nachdem das Patriarchat dem Matriarchate gefolgt war, welches Wilken für die vorislamitische Zeit[S. 238] ungemein wahrscheinlich gemacht hat.[466] Nach Robertson Smith waren die alten Araberstämme, mit ihren so häufigen Tiernamen, ursprünglich Totemstämme, und das tiefere Studium der Quellen zeigt ihre geschlechtlichen Sitten auf einer dem Matriarchate sogar noch vorangehenden niedrigeren Stufe. Es herrschte grosse Ungebundenheit, und nicht selten war eine Art von Ehe, die diesen Namen kaum verdient und der sie den Namen Nikâh al-motá, Genussehe, gaben. Diese Verbindung ward auf bestimmte Zeit, gegen einen vorher verabredeten, der Frau auszufolgenden Mietlohn abgeschlossen. Muhammed erst schaffte diese Sitte ab. Für mutterrechtliche Zustände spricht schon der arabische Name für Stamm, Familie, nämlich Bain, d. i. so viel als Bauch. Ibn Batuta bezeugt, dass es namentlich die Mütter seien, welche für die Kinder sorgten. Endlich wurzelt sicherlich in ehemaligen matriarchalischen Zuständen der seltsame Glaube der Araber, die Art eines Mannes gehe auf den Schwestersohn über. Sehr enge Beziehungen verknüpfen daher den Neffen mit seinem Oheim mütterlicherseits, seinem Châl. Auch von den indogermanischen Völkern, den Kelten und den asiatischen Ariern sind mancherlei analoge Nachrichten überliefert; sogar in den römischen Gesetzen und Sitten sind deutliche Spuren eines alten Mutterrechtes zu erkennen, und was die Germanen anbelangt, so bildet des Tacitus bekannter Ausspruch[467] für sich allein einen Wahrscheinlichkeitsbeweis für die Herrschaft des Mutterrechts in vorhistorischer Zeit bei den germanischen Völkern. Dr. Lothar Darguns gründliche rechtsgeschichtliche Forschungen ergeben, dass die gemeinsamen Vorfahren der Hindu, Griechen, Römer, Kelten und Germanen, die alten Arier, zur Zeit ihrer Trennung die Verwandtschaft durch Mütter als einzige oder hauptsächliche Grundlage der Blutsverwandtschaft ansahen und ihr gesamtes Familienrecht[S. 239] diesem Grundsatze unterordneten. Die Arier haben, der gewöhnlichen Annahme der Sprachforscher entgegen, nicht in patriarchalischer, agnatischer Familienordnung gelebt, sondern unter der Herrschaft des Mutterrechts. Dieses musste also den Ausgangspunkt für die Entwicklung des Familienrechts der einzelnen arischen Völker, folglich auch des germanischen Familienrechts bilden.[468] Den Spuren des vorgeschichtlichen Matriarchates werden wir im Verfolge der weiteren Entwicklung in diesen Blättern noch vielfach begegnen.
So darf man es wohl als ein gesichertes Forschungsergebnis betrachten, dass das Matriarchat eine Erscheinung gewesen, welche bei sehr vielen Völkern dem agnatischen Verwandtschaftssysteme vorausgegangen ist. Jene, welche nicht, wie ich, die ältere, urzeitliche Muttergruppe von dem späteren vorgeschichtlichen Matriarchate trennen, weil allerdings in beiden die Mutterfolge waltete, nahmen dafür unbedingte Allgemeinheit in Anspruch. Die Gründe, warum ich das schon ein bestimmtes festeres Gefüge zeigende Matriarchat von der in Ungebundenheit sich bewegenden Muttergruppe absondere, habe ich früher auseinandergesetzt. Desgleichen, dass ich letztere gleichfalls für eine allgemeine Durchgangsphase unseres Geschlechtes halte, während das Matriarchat sich nicht notwendig bei jedem Volke entwickeln musste und je nach den bedingenden Umständen auch ein direkter Übergang zum Patriarchate mir nicht ausgeschlossen erscheint. Hierin berühre ich mich mit Karl Kautsky, welcher im Gegensatze zu den meisten Kulturgeschichtsforschern Frauenraub und Kaufehe gleichfalls nicht als notwendige Durchgangsstadien für die eheliche Entwicklung jedes Volkes gelten, das Mutterrecht sich aber selbständig neben diesen aus der Geschlechtsfreiheit der Urzeit entwickeln lässt.[469] Inwiefern Mutterrecht und Frauenraub zusammenhängen, wird noch zu untersuchen sein. Trennen muss ich mich dagegen von Kautsky, wenn er im Matriarchate, das ihm zufolge in Polyandrie und Weiberherrschaft ausläuft, den Endpunkt einer bestimmten Ent[S. 240]wicklungsrichtung erblickt, von welchem keine Brücke zu dem andern Systeme hinüberführe.[470] Vielmehr zeigt das Mutterrecht allerwärts die Neigung, in die Verwandtschaft durch die Väter überzugehen und nirgends ist es umgekehrt.[471] Auch besitzen wir einen nennenswerten Schatz von Erfahrungen über schon vollzogenen oder sich gegenwärtig noch vollziehenden Übergang vom Matriarchat zu Agnation oder Patriarchat.
[456] Lubbock. Entstehung der Zivilisation. S. 83.
[457] Kautsky im Kosmos. Bd. XII. S. 346.
[458] G. A. Wilken. Over de verwantschap en het Huwelijks- en Erfrecht bij de volken van het maleische Ras. Amsterdam 1883. S. 7. Die Namen dieser Siedlungen sind bei den angeführten Stämmen verschiedene. So heisst bei den Sundanesen die Muttersiedlung Kotâ, die Tochtersiedlung Tarataq, bei den Battak Kuta und Pagaran, in Palembang Dusun und Talang, in Lampong Tidschuh und Umbul, in Minahassa Wanua oder Roöng und Tumani.
[459] Wilken. A. a. O. S. 8–13.
[460] A. a. O. S. 13–31.
[461] Post. Anfänge des Staats- und Rechtslebens. S. 26.
[462] Marsden. Natürliche und bürgerliche Beschreibung der Insel Sumatra in Ostindien. Aus dem Englischen. Leipzig 1785. S. 285–286.
[463] Olivier. Land- und Seereisen im niederländischen Indien in den Jahren 1817–1826. Aus dem Holländischen. Weimar 1829. Bd. I. S. 93.
[464] Wilken. Verwantschap en het Huwelijk- en Erfrecht. S. 63.
[465] Dr. Gustave Le Bon. Les civilisations de l’Inde. Paris 1887. S. 101–102.
[466] G. A. Wilken. Hat Matriarcheat by de oude Arabieren. Amsterdam 1884.
[467] Tacitus. Germ. cap. 20: Sororum filiis idem apud avunculum quam apud patrem honor. Quidam sanctiorem, arctiorem qua hunc nexum sanguinis arbitrantur et in accipiendis obsidibus magis exigunt, tanquam ii et animum firmius et domum latius teneant.
[468] Dargun. Mutterrecht und Raubehe. S. 13. 76.
[469] Kautsky im Kosmos. Bd. XII. S. 338.
[470] A. a. O. S. 347.
[471] Dargun. A. a. O. S. 17.
[S. 242] Meeres und bei einigen Völkerschaften des alten Britannien. Allerdings unterscheiden die alten Schriftsteller nicht scharf zwischen freier Vermischung und geregelter Vielmännerei, so dass die von ihnen beigebrachten Beispiele mitunter wohl auch, wenngleich gewiss mit weniger Recht, für allgemeine Weibergemeinschaft beansprucht werden konnten. Ganz besonders gilt dies von den Agathyrsen, den Mäaten des Dio Cassius und anderen. Seylax von Caryanda berichtet von den Liburnern, dass die freien Männer sich von ihren Frauen beherrschen liessen, welche sich mit ihren Sklaven und den Männern der Nachbarschaft zu paaren pflegten. Tacitus erwähnt Spuren der Polyandrie bei den alten Germanen. Nach Caesar war dieselbe den alten Britanniern eigen; bei ihnen gehörten die Weiber zehn bis zwölf Männern, meistens Brüdern, aber auch Vätern und Söhnen gemeinschaftlich an. Die aus diesen Verbindungen entsprossenen Kinder wurden demjenigen, welchen die Mutter zuerst besessen, zuerkannt.[472] Dio Cassius lässt eine britische Frau in Verteidigung ihrer Landsmänninnen einer Römerin erwidern, dass sie offen mit ihresgleichen das thäten, was die Römerinnen im geheimen mit unter ihnen Stehenden. Auch waren die alten Britannier äusserst empfindlich für den Schimpf, welchen ihnen die Römer angethan, und Tacitus erzählt in seinen Annalen, dass Boadicea, die Gattin eines Häuptlings der Icenen, als sie ihre Landsleute zur Abschüttelung des römischen Joches aufforderte, dieselben daran erinnerte, dass sie selbst mit Rutenhieben geschlagen und ihre Töchter geschändet worden seien.[473] Daraus liesse sich auf geregelte Polyandrie schliessen, die eben weit entfernt von Unzucht ist. Unleugbare[S. 243] Zeugnisse für das Vorhandensein der Vielmännerei unter den Pikten lassen sich beibringen. Und während in einigen Teilen Mediens, nach Strabo, Polygamie durch bestimmte Gesetze geboten war, da jeder Mann mindestens sieben Frauen halten musste, hatten in anderen Provinzen des Reiches die Weiber mehrere Männer und blickten mit Stolz auf diejenigen herab, welche deren weniger hatten als sie. Ehe der Islâm dort Eingang fand, schätzten desgleichen die Weiber Azerbeidschans die Höhe ihrer sozialen Stellung nach der Zahl der Männer, deren sie sich rühmen durften. Auch die Goten in Transoxiana übten Polyandrie und die Hindutraditionen weisen ebenfalls darauf hin. Sie wird sogar zum Teile noch gut geheissen im Gesetzbuche des Manu, welches den Bruder ermächtigt, die Schwägerin zu befruchten, und ohne irgend welchen Vorwurf spricht davon das Epos Mahabharata, dessen Heldin Draupadi die Gattin von fünf Pandavabrüdern war. Als der König Drupada, Draupadis Vater, seine Unzufriedenheit darüber aussprach, hielt ihm der älteste der Brüder entgegen, dass Dschatita, aus der Familie Gautamas, eine vortreffliche Frau, mit sieben Heiligen zusammengelebt habe, und dass Wrakschi, die Tochter eines „Muni“ (heiligen Gelehrten) mit zehn Männern verheiratet gewesen sei, sämtlich „Pradscheta“, d. i. Männern, deren Seelen durch Büssungen geläutert worden. Hier war also die Vielmännerei eine von der Sitte durchaus gebilligte Satzung.
icht als eine notwendige Fortbildungsstufe des Matriarchats, sagte ich im vorigen Kapitel, sei die Polyandrie zu betrachten, wohl aber erhebt sie sich stets auf der Basis des Mutterrechtes und kann als dessen schärfste Ausprägung angesehen werden. Es verlohnt sich einen Blick auf die Verbreitung dieser in unseren Augen so widerlichen Sitte zu werfen. Natürlich kann dabei nur von geregelter Vielmännerei die Sprache sein, denn ungeregelt fällt sie mit schrankenloser Vermischung zusammen und liegt auch dem Wesen dessen zu Grunde, was bei sonst irgendwie geordnetem Geschlechtsverkehr in Ermanglung eines anständig klingenden Ausdrucks mit dem Fremdworte Prostitution bezeichnet wird. Von schrankenloser Ungebundenheit unterscheidet sich die Polyandrie dadurch, dass in letzterer die Frau ausschliesslich mit mehreren bestimmten Männern verbunden ist, und das Weib den Vater ihrer Kinder, oder die Sitte den ältesten oder ersten ihrer Gatten bezeichnet. Innerhalb dieses geregelten Verhältnisses hat man nun wieder eine rohere und eine höhere Form zu unterscheiden, welche beide schon aus dem Altertume überliefert werden. Schon damals hat nämlich die Sitte der Polyandrie bei verschiedenen Völkern bestanden, besonders bei den Agathyrsen, den südlichen Nachbarn der Skythen, bei den Liburnern an den Küsten des AdriatischenIn uns beträchtlich näher gerückten Epochen wird Polyandrie auch von den Guanchen auf den kanarischen Inseln gemeldet. Bei der Ankunft der Spanier auf Lanzarote hatte daselbst eine Frau mehrere Männer, welche in der Ausübung der Rechte des Familienhauptes wechselten. Der eine Ehemann ward als solcher nur während eines Mondumlaufes anerkannt; sofort übernahm ein anderer das Amt und jener trat in das Hausgesinde zurück.[474] Diese eigentümliche Sitte herrscht übrigens noch in der Gegenwart in verschiedenen Gegenden Amerikas und sogar in Afrika, sowie auf einigen Inseln der Südsee, und im Süden Australiens giebt es[S. 244] Stämme, unter denen nicht nur die Brüder fast völlige Weibergemeinschaft pflegen, sondern die Frau ihren Schwager sogar regelrecht als ihren Mitgatten bezeichnet.[475] Für den Australkontinent ist Polyandrie für die Eingeborenen am unteren Murray von Angas, für die an der Moretonbai von Lang, für jene bei Port Lincoln von Wilhelmi nachgewiesen worden. Karl Emil Jung hat sie aber während eines mehrjährigen Aufenthalts in Inneraustralien weder am Murray, Murrumbidschi oder Darling, noch am Cooper und im Seendistrikte mit Sicherheit finden können.[476] Auch auf einigen Eilanden Polynesiens tritt die Polyandrie neben der Polygamie auf, in der Weise, dass in den höheren Klassen die Sitte dem Manne gestattete, so viele Frauen zu nehmen als er wollte, während den Frauen das nämliche Recht in Bezug auf die Zahl ihrer Männer zustand. Ist die Frau von höherem Adel und reicher als der Mann, so hat sie das Recht polyandrisch zu leben, während sich der Mann den Luxus der Polygamie nicht gestatten darf.[477] So giebt es auf der Markesasinsel Nukuhiwa die schon einmal erwähnten weiblichen Häuptlinge „Atapeius“, welche zwei Männer hatten, deren einem sie schon in früher Jugend vermählt wurden; beide nahm dann ein reiferer Liebhaber ins Haus. Die Männer lebten ohne Eifersucht in voller Eintracht nebeneinander.[478] Desgleichen gedenkt Ellis der Vielmännerei gewisser Häuptlingsfrauen auf Tahiti, und eine Art beginnender Polyandrie bestand auf Hawaii durch Zuführung eines Cicisbeo, Punula genannt, zum Manne. Neuseeland wird von Lafitau, Mac Lennan und anderen gleichfalls in den Kreis polyandrischer Sitten einbezogen, doch gelingt es mir, abgesehen von einer Legende, welche Sir George Grey mitteilt, nicht, glaubhafte Anhaltspunkte dafür aufzufinden. Im allgemeinen darf man die Vielmännerei in Polynesien wohl nur als eine ausnahmsweise Erscheinung betrachten, weniger in Melanesien.[479] So ist es auf den[S. 245] Neuen Hebriden bei der Witwenschaft eine Art Übereinkommen, dass zwei Witwer mit einer Witwe leben; sie gehört beiden, ebenso die Kinder.
Zweifelhaft ist auch die Vielmännerei der Aleuten und Korjäken. Von ersteren berichtet allerdings Langsdorff, man finde zuweilen, dass eine und dieselbe Frau mit zwei Männern lebe, die sich nach willkürlichen Bedingungen in die gemeinschaftliche Gefährtin ihres Lebens teilen;[480] doch scheint hier von keiner allgemeinen Gepflogenheit die Rede zu sein, und heute sind überdies auch solche Spuren völlig verschwunden. Von den Korjäken weiss man vollends nur, dass sie, wie andere Nordasiaten auch, dem Gastfreunde Frau und Tochter zur freien Verfügung stellen, welche merkwürdige Sitte keineswegs auf Polyandrie hinweist, sondern der Periode der schon stark ausgebildeten Mannesrechte angehört. Ebensowenig sind die gesellschaftlichen Zustände der Nordwestamerikaner und Inuitvölker oder Eskimo geregelte Polyandrie. Unter den Konjagen halten die Frauen allerdings Nebenmänner, gewissermassen gesetzliche Liebhaber, und die Eskimo brechen, nach David Crantz, ohne Scheu von beiden Seiten die Ehe, wo sie können;[481] in manchen Gegenden kommen auch wirklich vereinzelte Fälle von Vielmännerei vor; doch gehören sie nicht zum guten Tone, daher die Eskimo nicht zu den eigentlichen Polyandristen zu rechnen sind. In Nordamerika war Vielmännerei bei einigen Irokesenstämmen gestattet;[482] Humboldt traf sie in Südamerika bei den Avanos und Maypures am Orinoko, wo oft mehrere Brüder nur eine Frau besitzen.[483] Im allgemeinen trifft man Polyandrie in der Neuen Welt bloss vereinzelt. In Afrika begegnet man ihr bisweilen bei den Herero, nach Gustav Fritsch aus Armut,[484] wogegen nach Büttner eine gewisse Ge[S. 246]meinsamkeit der Frauen herrscht, nicht zwischen allen Stammesgliedern, sondern nur zwischen Angehörigen gewisser durch einen Bund geschlossenen Gemeinschaften, der Oma-Pange.[485] In Westafrika tritt die Vielmännerei in anderer, loserer Form bei reichen und vornehmen Frauen auf. So leben in Akra reiche Mädchen mit wem sie wollen, ohne dass ihre Unbeständigkeit Anstoss erregt. Dagegen ist das willkürliche Verstossen und Ersetzen des Gatten durch einen andern, wie bei den Fürstinnen in Kongo und Loango üblich, entschieden nicht als Vielmännerei aufzufassen, welche den geregelten Verkehr gleichzeitig — nicht nacheinander — mit mehreren Männern voraussetzt.
Nirgends hat die Polyandrie so weite Verbreitung gefunden als in Asien, insbesondere in Ostindien und bei den Nachbargebieten, allerdings weniger bei den Hindu, in deren Adern noch ein schwacher Bruchteil arischen Blutes fliesst, sondern bei den stammfremden Urvölkern, sowohl im Dekkan als im Himalaya. Insbesondere sind es die Bewohner der Nilgherry-Gebirge und unter diesen wiederum der Stamm der Toda, Tuda oder Tuduvar, in der Umgebung von Ottakamund, welche strenge Polyandrie üben und seit Generationen eng untereinander sich verbinden oder heiraten, wenn man dieses Wortes sich bedienen darf. Es bestehen aber unter ihnen fünf Kasten, und diese heiraten niemals untereinander. Die Gatten müssen stets derselben Kaste oder Klasse angehören. Sonst entscheidet aber nur die Neigung, wie Frau Janssen berichtet. Das junge Mädchen bittet ihre Mutter, sie in die erwählte Familie zu führen; ist dies geschehen, so bezahlt der Bräutigam seinem Schwiegervater 20–30 Rupien (40–60 Mark), und damit ist die Ehe geschlossen. Dem Gebrauche gemäss wird die junge Frau zugleich die Gattin aller Brüder ihres Mannes; ihr erstes Kind gilt als das des ältesten Bruders, das zweite als das des zweiten und so fort. Diese Verbindung ist auch keineswegs unlöslich; wenn es der Frau in der Familie ihres Mannes nicht gefällt, so kann sie dieselbe verlassen, sich eine andere suchen und dieses Ver[S. 247]fahren mehrmals wiederholen. Der Mann geniesst dasselbe Recht.[486] In dieser Darstellung der Frau Janssen fällt sicherlich auf, dass der Anstoss zur Heirat vom Mädchen ausgeht, was auf matriarchalische Sitten hindeutet. Etwas anders allerdings schildert den Vorgang Oberst William E. Marshall, dem wir ein anziehendes Buch[487] über jenes Hirtenvolk verdanken. Darnach erlangt der Jüngling die Einwilligung seines künftigen Schwiegervaters und vereinbart mit ihm den in wenigen Monaten zu entrichtenden Kaufpreis. Die Heirat ist nunmehr geschlossen, bis auf die Zustimmung des Mädchens, welches diese von der üblichen Probe abhängig macht. Die beiden jungen Leute werden nämlich allein in eine Hütte gesperrt, in welche die Mutter des Mädchens Nahrungsmittel reicht, und nach vierundzwanzig Stunden giebt das Mädchen, je nach seiner Zufriedenheit, die Entscheidung kund. Es erscheint also auch in dieser Fassung immerhin das Mädchen als der wählende, sogar als der prüfende Teil. Ist in sechs bis zwölf Monaten der vereinbarte Preis nicht erlegt, so gilt die Heirat als aufgelöst und der Vater nimmt seine Tochter samt ihrem Kinde zurück, wenn sie eines hat.[488] Weiteren Angaben des Major W. Ross King zufolge lebt die Todafrau mit jedem ihrer Männer einen Monat lang. Aus naheliegenden Gründen herrscht wenig Sympathie zwischen Vater und Kind, was Marshall indes in Abrede stellt. Von den Mädchen, die geboren werden, lässt man nur eines am Leben und beseitigt die übrigen durch Erdrosselung, was Marshall als ein Liebeswerk, das ohne unnütze Härte ausgeübt wird, entschuldigt. Es giebt also in jeder Todafamilie höchstens eine Tochter und es erzeugt dies natürlich einen so beträchtlichen Weibermangel, dass sehr häufig ein junger Mann zu keiner Frau kommen kann. Nach W. Ross King, der drei Jahre unter diesem Volke gelebt und es aufmerksam beobachtet hat, gestatten dann in solchen Fällen die Brüder-Männer oder[S. 248] Männer-Brüder, dass auch ein solcher zeitweilig seinen Anteil an ihrer gemeinschaftlichen Frau erhalte. Der nämliche Gewährsmann fügt hinzu, dass die Verlobung mit dem ersten Gatten schon in früher Jugend stattfindet; alle andern Brüder dieses Bräutigams sind von ihrer Geburt ab an dessen zukünftige Frau gebunden. Nach Marshall muss dagegen jeder zweite Gatte von beiden Teilen genehmigt werden und den Kaufpreis des ersten Gatten teilen oder ihm die Hälfte zurückerstatten. Doch kann der Mann noch mit einem andern Weibe, verheiratet oder nicht, eine Ehe eingehen. Scheidung ist zu allen Zeiten mit Zustimmung beider Teile zulässig.[489] Seitdem die Engländer den Kindermord streng untersagt haben, bekennen sich die Toda, wie Mantegazza berichtet, allmählich zur Monogamie; auch kannte der italienische Gelehrte einige unter ihnen, die der Polygamie huldigten.[490]
Ausser bei den Toda herrscht Polyandrie unter den Kurg oder Kudagu von Maissur, bei welchen indes die Sitte, dass die Weiber mehrerer Brüder diesen allen gemeinschaftlich angehören, immer mehr in Verfall gerät, dann unter den Völkern der Malabarküste, von wo der tüchtige französische Reisende und Beobachter L. Rousselet berichtet: Nachdem ein Mädchen einen Mann geheiratet, der ihr Beschützer und Ernährer wird, steht es ihr frei, sich noch eine beliebige Anzahl von andern Männern zu Gatten zu nehmen, welche es in der That auch sind, während der erste nur den Namen führt. Polyandrie üben an der Malabarküste auch die der Brahmanenkaste der Hindu angehörenden Naïr, welche ursprünglich Soldaten zu sein behaupten. Deshalb will Peschel die Frauengemeinschaft dieser Kriegerkaste, welcher wie den saporogischen Kosaken Ehelosigkeit als Ordensgelübde vorgeschrieben war, nicht mit eigentlicher Vielmännerei verwechselt wissen.[491] Wahr ist, dass die Polyandrie der Naïr sehr hart an rein matriarchale Zustände streift. Sie „heiraten“ nämlich, bevor die Braut zehn Jahre alt ist, aber nach der ersten Nacht[S. 249] wohnt der Mann nie wieder seinem Weibe bei. Diese lebt in ihrer Mutter Hause oder, nach dem Tode ihrer Eltern, bei ihren Geschwistern und begattet sich mit irgend einem Liebhaber oder mit so viel Liebhabern als sie wählt, von gleichem oder höherem Rang. Die sehr hübschen Naïrweiber sind stolz darauf, Brahmanen, Radscha und andere hochstehende Personen unter ihren Verehrern zu zählen. Nach anderen Angaben ist der Verkehr mit einer unbeschränkten Anzahl von Männern indes nicht immer gestattet, vielmehr auf zehn bis zwölf beschränkt. In solchem Falle hat die Frau ihr eigenes Haus und ihre Männer bringen abwechselnd je zehn Tage bei ihr zu. Jeder Mann kann seinerseits Mitglied mehrerer solcher Bündnisse sein. Natürlich bedingt die Vielmännerei Verwandtschaft durch das weibliche Geschlecht. Kein Naïr kennt seinen Vater, und jeder Mann betrachtet die Kinder seiner Schwester als seine letzten Erben. Er benimmt sich gegen sie mit derselben Zärtlichkeit, welche Väter in anderen Teilen der Welt ihren eigenen Kindern zeigen. Eines Mannes Mutter steht an der Spitze der Familie und nach ihrem Tode übernimmt seine älteste Schwester die Leitung. Brüder leben fast stets unter einem und demselben Dach, aber wenn einer sich von den übrigen trennt, so wird ihn stets seine Lieblingsschwester begleiten. Das bewegliche Eigentum eines Mannes wird nach seinem Tode unter die Kinder seiner Schwester geteilt; wenn aber Ländereien vorhanden sind, so fallen diese an den überlebenden Bruder. Dieses Erbrecht in der weiblichen Linie heisst „Aliga Santâna“ oder „Marumakkatâyam“. Die Naïr stehen im Rufe grosser Zügellosigkeit und Unsittlichkeit; übrigens hat der Mangel an Zurückhaltung bei den Frauen durchaus keinen nachteiligen Einfluss auf die Bevölkerung, ja es fehlt hier sogar die spärliche Fruchtbarkeit, wie sie anderen Hindu eigen ist.
Auch die Telugu oder Telinga sind Polyandristen, wie ihre Verwandten, die Reddi, die Tottiyar und die Mopla oder Mapilla. Bei allen diesen wird die Jungfrau im Alter von 16–20 Jahren einem Knaben von fünf bis zehn Jahren angeheiratet und giebt sich sofort den erwachsenen Verwandten ihres knabenhaften Gatten, den Schwiegervater mit inbegriffen, hin. Für alle Kinder[S. 250] gilt der angetraute Mann als Vater, der, wenn er erwachsen, eine gealterte und hässliche Frau sich gegenüber hat[492] und nun, wie bei den Reddi, zur Entschädigung wiederum mit der dem unmündigen Sohne gekauften Frau leben mag.[493] Untrügliche Zeichen, dass Polyandrie noch vor kurzem bestand, finden sich in Garwhal, einer Landschaft der Nordwestprovinzen, in Sylhet und Kaschar in Bengalen; sie kommt noch, wie man sagt, vor in den Siwalikbergen, im Süden von Garwhal, und bei den Khassia in Assam, am Brahmaputra. Doch sind wir über die Sitten dieser Völker nicht genügend unterrichtet. Von den Khassia berichtet Oberst Dalton z. B. bloss: „Sie schliessen ihre Ehen ohne besondere Zeremonieen und lösen sie eben so leicht.“[494] Der Mann zieht dabei nicht die Frau zu sich hinüber, sondern tritt als neues Mitglied in Familie und Besitz der Gattin ein. Bei der sehr einfachen Trennung bleiben die Kinder bei der Mutter. Ist der Thron erledigt, so geht die Herrschaft auf den Sohn der Schwester des verstorbenen oder abgesetzten Königs über. Allein alles dies sind wohl Merkmale oder Überreste matriarchalischer Zustände, deuten aber nicht notwendig auf Vielmännerei. Auf solche allerdings bezeichnende Spuren des ehemaligen Mutterrechtes stösst man vielfach bei den Bergstämmen des Brahmaputrathales. So üben bei den Garo die Mädchen das matriarchalische Recht, sich ihre Ehemänner zu wählen. Hat ein Mädchen Gefallen an einem Burschen gefunden, so teilt sie ihm mit, dass sie an einem versteckten Orte im Walde auf ihn warten würde. Sie selbst begiebt sich dorthin und nimmt für einige Tage Nahrung mit. Dort bringt das Paar eine Zeit lang zu, worauf sie in das Dorf zurückkehren und ihre Vereinigung verkünden. Sollte ein Jüngling aber sich von seinen Gefühlen hinreissen lassen und einem Mädchen seine Liebe erklären, so wird das als eine Beleidigung der ganzen Familie angesehen, welche nur durch Schweins[S. 251]blut und grosse Mengen Reisbier ausgetilgt werden kann.[495] Bei den Kotsch oder Koctsch, welche zweifelsohne zu den ältesten Völkern Indiens gehören, spielen die Frauen ebenfalls eine grosse Rolle. Sie sind es, welche die Sorge für die Erhaltung des Eigentums zu übernehmen haben. Nach dem Tode einer Frau fällt das Eigentum den Töchtern zu und wenn ein Mann heiratet, so lebt er bei seiner Schwiegermutter und muss den Befehlen derselben, sowie jenen seiner Frau gehorchen. Heiraten werden von den Müttern eingeleitet, welche für den Bräutigam zehn Rupien zahlen, während der letztere nur fünf für die Braut giebt. Wenn der Gatte stirbt, so nimmt die Frau einen andern. Begeht er Ehebruch, so muss er sechzig Rupien Busse zahlen und wenn seine Angehörigen dies nicht aufbringen können, so wird er als Sklave verkauft.[496] Bei den Dafla oder Dophla endlich ist Vielweiberei und Vielmännerei gleichmässig erlaubt.[497] Stark und ausgeprägt geht Polyandrie im Schwange in Kaschmir, unter den Kulu, in Ladakh, in Kistewar und Sirmor, überhaupt in den Gegenden am Himalaya, welche an Tibet grenzen und vor allem in Tibet selbst.
Zu den Polyandristen des Himalayagebietes zählen vornehmlich mongolenähnliche, wenn auch in schwachem Masse hinduisierte Stämme, wie die Bhutia, welche als Hirten in Bhutan an der nördlichen Grenze von Assam umherziehen. Bei ihnen ist Polyandrie eine gesellschaftliche Einrichtung, artet aber, wozu sie[S. 252] überhaupt neigt, nach Mantegazza in „freie Liebe“ aus.[498] Auch Dalton versichert: Die Einrichtung der Ehe scheint bei den Bhutia entweder gar nicht vorhanden oder von geringem Wert zu sein, denn die Männer kümmern sich um das sittliche Verhalten ihrer Frauen gar nicht.[499] Weiterhin gegen Westen fortschreitend, begegnet man der Vielmännerei in Nepal, im Quellgebiete der Dschamna, im Bezirke von Dschaunsar (Jounsar), bei den Pahari, den Kulu und den meisten Stämmen tibetischer Rasse, soweit sie dem Buddhismus anhängen. In Dschaunsar ist, wenn der älteste Bruder heiratet, die Frau, wie auch meist anderwärts, zugleich die Gattin seiner jüngeren Brüder, obgleich die Sprösslinge höflichkeitshalber die Kinder des ältesten Bruders genannt werden. Wenn eine so grosse Altersverschiedenheit unter den Brüdern einer Familie besteht, dass z. B. bei sechs Brüdern der älteste schon herangewachsen, die jüngsten aber noch Kinder sind, so heiraten, wie Dunlop berichtet, die älteren drei Brüder dann eine Frau, und haben die jüngeren das heiratsfähige Alter erreicht, so heiraten sie eine andere, beide Frauen aber werden in gleicher Weise als die Frauen aller sechs Brüder betrachtet.[500] Zu Frasers Zeiten kostete eine Frau zehn bis zwölf Rupien, für den Bauer ein Betrag, den er nur schmerzlich erlegte. Mehrere Brüder kauften sich eine Frau, welche sie übrigens ohne Schwierigkeiten an Fremde vermieteten. Bei den Pahari herrscht Vielweiberei, daneben jedoch, beim ärmeren Volke, Polyandrie. Der älteste Bruder heiratet und alle seine anderen Brüder haben teil an dem Weibe; die Kinder werden gemeinschaftlich geliebt und gepflegt.[501] Von den Kindern wird bei den meisten Polyandristen am Himalaya, wie Hermann von Schlagintweit mitteilt, der älteste Gatte der Mutter als Vater, die jüngeren werden als Onkel angeredet. Von den verheirateten Frauen sagt der genannte Gewährsmann, dass sie, auch wenn sie[S. 253] nur einen Mann haben, sich nicht zur Untreue verleiten lassen; die Mädchen dagegen geben sich einem ausschweifenden Lebenswandel hin.[502] Von den polyandrisch lebenden Frauen in Kulu bemerkt J. Calvert, dass sie mehr durch ihre Schönheit, als durch ihre Tugend sich auszeichnen,[503] und bestätigend sagt Karl Eugen von Ujfalvy, dass die Reisenden von Kulu die merkwürdigsten Geschichten zu berichten wissen. Man erzählte ihm sogar, dass der englische Assistent-Commissioner strengste Vorschriften hatte treffen müssen, um dem freien Leben der Kuluweiber zu steuern.[504] Die Ehegenossenschaften im Kululande, wo der Kindermord an Mädchen Sitte ist, leben übrigens in der besten Eintracht, die Kinder sprechen von einem älteren und einem jüngeren Vater, und sobald ein Gatte die Schuhe eines seiner Brüder vor dem Ehegemache erblickt, weiss er, dass er dasselbe nicht zu betreten hat. Man nennt dieses Vorhandensein der Schuhe auf der Schwelle Dschutika tabu.[505] Wer fühlt sich da nicht auf das lebhafteste gemahnt an das, was Herodot von den alten Nasamonen berichtet! Übrigens kommen in Kulu in einem und dem nämlichen Dorfe Fälle von Polyandrie und Polygamie vor. So ist es auch in Ladakh oder Klein-Tibet, wo die Frau das Vorrecht geniesst, ausser der Brüdergenossenschaft, der sie als Eigentum verfällt, noch einen fünften oder sechsten Gatten nach ihrem Geschmack wählen zu können. Auch hier sprechen die Kinder von einem „älteren“ und von „jüngeren Vätern“, doch bleiben letztere in einer untergeordneten Stellung; die Sorge für die Kinder fällt allein dem ältesten zu. Ladakhs Frauen haben im Verhältnis zu denen Indiens grosse Freiheiten; sie gehen stets unverschleiert. In Lahul herrscht Vielmännerei, ob auch in Spiti ist wahrscheinlich, aber nicht erwiesen.
Am verbreitetsten vielleicht ist die Vielmännerei im buddhistischen Tibet, aber nur in den niederen Volksschichten. Die Frau darf jedoch mit den Männern, die ebenfalls stets Brüder sind, nicht blutsverwandt sein. Bei Staatsbeamten, sowie solchen, die nach dergleichen Ehrenstellen streben, scheint dort das Heiraten etwas Verhasstes zu sein, als eine schwere Last betrachtet und daher vermieden zu werden. Samuel Turner, den die Ostindische Kompanie 1783 nach Tibet sandte, meldet nämlich: „Die Häupter der Regierung, die Staatsbeamten und alle, die es zu werden streben, halten es unter ihrer Würde und nicht für ihre Pflicht, Kinder zu haben; sie glauben sich dessen überhoben und überlassen diese Mühe den Männern des Volks. Die Tibeter betrachten die Heirat als eine verdriessliche Sache und als eine störende und beschämende Last, welche die Männer einer Familie sich zu erleichtern trachten müssen, indem sie dieselbe untereinander teilen.“ Im Grunde genommen war diese Ansicht der Ehe beiläufig auch jene des Apostel Paulus.
Seltsamerweise ist in Tibet, diesem Kernlande des Buddhismus, die Eheschliessung ein rein bürgerlicher Akt, an welchem die tibetischen Priester, die die Gesellschaft der Weiber meiden, keinen Teil haben; Scheidung ist bei Zustimmung beider Teile statthaft. Der älteste Gatte ist auch hier für die Kinder der Vater, die jüngeren sind Onkel. Vor der Ehe kann das Mädchen beliebig über sich verfügen, ohne ihren Ruf zu gefährden. Mitunter geht die Polyandrie mit Geschwister-Polygamie Hand in Hand; ein junger Mann, welcher eine ältere Frau nimmt, erhält nämlich zugleich die jüngere Schwester.
Eine Heimstätte der Vielmännerei ist auch die herrliche Insel Ceylon, das alte Taprobane, dessen buddhistische Bewohner dieser Sitte früher in ausgedehntem Masse ergeben waren. Gegenwärtig kommt sie nur noch bei den singhalesischen Kandhyan vor, einer kräftigen Rasse, welche im gebirgigen Innern der Insel wohnt und bis in die jüngste Zeit sich nie mit der Bevölkerung der Ebenen vermischt hat. Sir James Emerson Tennent, dem wir ein umfangreiches und erschöpfendes Werk über Ceylon verdanken, zweifelt nicht, dass die Vielmännerei dort dereinst[S. 255] ganz allgemein gewesen und in ein ungemein hohes Alter hinaufreicht.[506] Die englische Regierung ist seit langem eifrig bemüht sie zu unterdrücken, ausgetilgt hat sie die Sitte noch nicht.[507] In der Regel sind die Gatten Verwandte, sehr häufig Brüder. Nicht selten haben ihrer zwei oder drei eine Frau gemeinschaftlich; es soll jedoch, wie Häckel berichtet, auch Damen geben, die sich des Besitzes von acht bis zwölf anerkannten Männern erfreuen. Wenn nun schon die Vielmännerei im allgemeinen auf ein bedeutendes moralisches Übergewicht der Frauen hindeutet, so ist die auf Ceylon übliche doppelte Art der Heirat dafür ein weiterer Beweis: Diese beiden Heiratsmethoden sind die Diga und die Bina. Nur bei der ersteren Form verlässt die Frau das elterliche Haus, um bei ihrem Gatten zu wohnen; die Frau kann, wenn sie will, die Trennung verlangen, aber der Mann muss einwilligen, und dann werden nur die Hochzeitsgeschenke zurückgegeben. Bei der Bina-Heirat, die auch bei den indischen Kotsch üblich, wohnt dagegen der Mann im Hause seiner Schwiegereltern und kann jeden Augenblick fortgeschickt werden, wird überhaupt mit sehr wenig Rücksicht behandelt. Die Singhalesen sagen, um die Stellung eines solchen Mannes zu bezeichnen: „Der Bina braucht in die Wohnung seiner Frau nur vier Dinge mitzunehmen: ein Paar Sandalen, um seine Füsse zu schützen, ein Talipotblatt, um sich gegen die Sonnenstrahlen zu verwahren, einen Stab, um sich daran zu halten, wenn er krank ist, und eine Laterne um sich zu leuchten. Mit diesen Vorsichtsmitteln kann er jede Stunde des Tages oder der Nacht abreisen“.[508] Der matriarchale Charakter dieser Bina-Ehe ist unverkennbar. Nicht unmöglich, dass dieselbe einst auch den Chinesen bekannt gewesen, denn der Strafkodex des Himmlischen Reiches spricht von „den durch ihre Schwiegerväter aus dem Hause vertriebenen Schwiegersöhnen“, und bedroht sowohl den Schwiegervater, wie die etwa[S. 256] an der Austreibung sich beteiligende Frau mit hundert Rutenstreichen.[509]
Sehr wenig bekannt dürfte es sein, dass polyandrische Gepflogenheiten im Herzen Europas noch im Schwange gehen. Das Karpatenvölkchen der Bojken ist trotz Christentum und moderner Gesetzgebung heute noch der Vielmännerei ergeben. In dem Bewusstsein dieser Stammesangehörigen ist noch nicht das Gebot unserer Moral erstanden, eine Frau solle bloss einem Manne angehören. Im Gegenteil, die Vielmännerei herrscht dort in der Volkssitte so sehr, dass der Ehemann selbst von der Richtigkeit dieser Moral überzeugt ist und er — verachtet das Weib seiner Liebe, wenn sie nur seine Frau allein ist. „Schäme dich, dass du nur einen Mann hast“ — diese Äusserung eines Bojken aus der Nähe von Sambor ist kennzeichnend für die Anschauungsweise des Völkchens.
Über den Einfluss der Polyandrie auf die Sitten des Volks herrschen sehr abweichende, ja geradezu widersprechende Meinungen. Nach Turner wäre derselbe kein ungünstiger. In Vergleichung mit den südlichen Nachbarvölkern geniessen die Weiber in der Gesellschaft einen hohen Rang. Mit den Vorrechten einer unbeschränkten Freiheit verbinden sie den Charakter der Hausfrau und der Gefährtin der Ehemänner. Nach Aussage der meisten Reisenden leben die Ehegenossen sehr friedlich nebeneinander, in keiner Weise von Eifersucht geplagt. Georg Bogle sagt, sie neigten überhaupt wenig zur Eifersucht. Hie und da allerdings entstehe ein Streit über die Kinder, aber er werde bald beigelegt durch die Vergleichung der Gesichtszüge mit jenen der Väter — wiederum eine Erinnerung an Herodots Mitteilungen über die äthiopischen Auser — oder indem man der Mutter die Entscheidung überlässt.[510] Viel weniger günstig lautet das Urteil anderer Beobachter. Herr von Ujfalvy sagt, die Polyandrie[S. 257] übe jedenfalls unter den Weibern einen üblen Einfluss auf Sitte und Geist aus, denn weder in Ladakh noch in Sultanpur sind sie Muster von ehelicher Treue, und ohne positiv lasterhaft oder geldgierig zu sein, sind die Frauen dieser Länder doch sehr gefallsüchtig und flatterhaft.[511] In Südindien ist die Vielmännerei, nach der Ansicht Emil von Schlagintweits, sogar ein grosses gesellschaftliches Übel, das zu tiefem Herzeleid, Misstrauen, Eifersucht, Streit und zu Hass bis in den Tod führt, aber von den Behörden und Missionären vergeblich bekämpft wird, da die geringe Meinung, welche der Hindu der unteren Stände vom Weibe hegt, und der Eigennutz der Priester dieser Unsitte Vorschub leistet.[512] — Ich weiss nicht ob in diesem Gemälde die Farben nicht etwas allzu grell aufgetragen sind, zumal bei aller Würdigung der mit Vielmännerei verknüpften Nachteile gerade die Eintracht in den polyandrischen Haushaltungen, das Fehlen jeglicher Eifersucht das unverhohlene Erstaunen der europäischen Reisenden zu erregen pflegt. Ja, die Polyandrie hat in Mantegazza sogar in gewissem Sinne einen Anwalt gefunden, der sich eben auf südindische Verhältnisse beruft: „Ich habe die Polyandrie bei den Toda im südlichen Indien beobachtet und habe die Frauen bei ihnen viel glücklicher gefunden als bei polygamen Völkern. Alles was selten ist, wird gesucht und geschätzt, und wenn die Gewohnheit die Schneide der Eifersucht abgestumpft hat, so trinken mehrere Männer ohne Widerwillen und Groll aus einer einzigen Schale der Liebe, während die immer begehrte Frau, die es immer versteht, den glücklich zu machen, welcher sie sucht, Liebkosungen und Liebesbeweise mit weisem Masse austeilt. Die Monogamie,“ fährt der italienische Gelehrte fort, „ist die einzige moralische Form der menschlichen Gesellschaft, aber wo sie wegen des niedrigen Niveaus einer Rasse nicht möglich ist, da hundertmal lieber eine polyandrische, als eine polygame Rasse, so sehr dies auch unsern Stolz als Männer demütigen mag“.[513]
Aus der in diesem Kapitel versuchten Schilderung der verschiedenen polyandrischen Zustände lassen sich, wie ich eingangs erwähnte, zwei Formen der Vielmännerei herausschälen: eine rohere und eine höhere. Kennzeichnend für letztere ist das verwandtschaftliche, in der Regel das Bruderverhältnis der Gatten; man kann sagen, nicht der einzelne, sondern die Familie beweibt sich, nimmt eine Frau. Hat ein Mann keine Brüder, so muss er sich mit andern Männern vergesellschaften und nur dann kann er heiraten; andernfalls bleibt er Junggeselle sein Leben lang.[514] Roher ist jedenfalls die Form, wo das Weib sich beliebige Gatten wählt. Beide Arten Vielmännerei treten aber sowohl neben endogamen, als exogamen Gewohnheiten auf, wie ja auch das die Grundlage bildende Matriarchat sich gleichfalls schon der ursprünglichen Endogamie entwunden hat und auch im Bereiche der Exogamie erscheint. Überall nun, wo die Polyandrie zur zweiten, höheren Stufe aufgestiegen, ist auch schon zumeist die agnatische Erbfolge üblich, ohne dass das Kind seinen wirklichen Vater zu bezeichnen im stande wäre. Wo dagegen die Gatten untereinander durch keine Verwandtschaftsbande verknüpft sind, wie bei den Naïr, dauert die mütterliche Erbfolge fort.[515]
In Indien will man die interessante Erfahrung gemacht haben, dass, wo Polyandrie herrscht, die männlichen, wo Polygamie dagegen, die weiblichen Geburten an Zahl grösser seien, so dass sich gewissermassen die Natur den menschlichen Satzungen anzubequemen scheine.[516] Auf Ceylon z. B. sollen auf je zehn Knaben bloss acht bis neun Mädchen zur Welt kommen. Da aber in den Haremen Siams nach Campbell Knaben und Mädchen in den gleichen Zahlenverhältnissen geboren werden, wie bei monogamen Verbindungen, so hält Peschel den obigen Satz für widerlegt, zumal auch die Erfahrungen der Tierzüchter dieser Vermutung nicht günstig sind.[517] Desgleichen hat Dr. Dusing eine Menge Thatsachen zusammen[S. 259]getragen, welche seiner Aufstellung viel Wahrscheinlichkeit verleihen, dass bei anormalen Sexualverhältnissen stets mehr Wesen jenes Geschlechtes geboren werden, an denen es mangelt, so dass mit Hilfe dieser Eigenschaft das Verhältnis der Geschlechter sich von selbst regelt.[518] Dies schliesst nicht aus, dass ein Missverhältnis künstlich hervorgerufen werden kann, wie dies z. B. durch systematischen Mädchenmord bei einzelnen Rassen oder Stämmen thatsächlich geschieht. Unzweifelhaft leistet aber Weibermangel der Vielmännerei Vorschub. Die aus der Koromandelküste nach Malakka, Singapur, Java u. s. w. auswandernden tamulischen Kling z. B. bringen nur wenig Frauen mit und deshalb ist auch Polyandrie bei ihnen allgemein.[519] Auf Mallicollo, einer der Neuhebriden, ist ein solcher Mangel an Weibern, dass zuweilen je zwei Männer nur eine Frau besitzen.[520]
Im übrigen wird der Ursprung der für den Europäer so befremdenden und widerwärtigen Sitte der Polyandrie von den meisten auf Sparsamkeitsrücksichten zurückgeführt. In Tibet, in Kulu u. s. w. sind die bebaubaren Bodenstrecken von sehr geringer Ausdehnung; der Besitz ist demnach ein sehr beschränkter und würde, infolge einer fortgesetzten Teilung, sich so vermindern, dass er in kürzester Zeit nicht mehr im stande wäre, den Besitzer zu ernähren. So ist also nach Harcourt und Rousselet die Polyandrie eine rein nationalökonomische Einrichtung. Dieser Meinung pflichten auch Frederick Drew, Hermann von Schlagintweit, Karl von Ujfalvy, Dr. H. W. Bellew zu, welch letzterer die Vielmännerei in Kaschmir ebenfalls aus der geringen Ausdehnung des bewohnbaren Bodens erklärt,[521] und auch Mantegazza sieht in ihr fast immer eine Folge von Armut; sie ist ihm zufolge dem ganz malthusischen Bedürfnisse entsprungen,[S. 260] die starke Vermehrung der Bevölkerung zu beschränken.[522] In vielen Fällen mag man diese Begründung gelten lassen, zu einer allgemeinen, befriedigenden Erklärung der Sitte reicht dieselbe meines Erachtens nicht aus. Ich befinde mich hier in Übereinstimmung mit Herbert Spencer, welcher die Vielmännerei ebenfalls nicht auf Armut zurückführen will, obgleich letztere, wie er einräumt, in gewissen Fällen Ursache ihrer Fortdauer und ihrer Ausbreitung gewesen sein mag.[523] Ceylon ist zwar auch ein armes Land und ein schlechter Ackerboden,[524] aber es sind vornehmlich die reicheren Stände, welche dort Vielmännerei üben,[525] und die Balti in Tibet haben als Muhammedaner die Polyandrie mit der Polygamie vertauscht, obschon sie dieselben ökonomischen Gründe für die erstere hätten, wie die Tibeter und Ladakhi, denn der anbaufähige Boden ist sehr beschränkt.[526] Sir John Lubbock erblickt in der Polyandrie eine ausnahmsweise Einrichtung, die gewöhnlich die Beseitigung der Übelstände bezweckt, welche da entspringen, wo bei ursprünglich herrschender Monogamie ein grosser Mangel an Frauen ist.[527] Gewiss ist dies ebenfalls ein ins Gewicht fallender Gesichtspunkt, und Mantegazza erkennt denselben an, wenn er sagt: Die Polyandrie kann nur in einem Lande als normale und beständige Form der menschlichen Familie herrschen, wenn sie durch den Mord der neugeborenen Mädchen unterstützt wird.[528] Diese Einschränkung schiesst allerdings über das Ziel hinaus, insofern Mädchenmord durchaus kein regelmässiger Begleiter polyandrischer Zustände sein muss. Mantegazza selbst weiss nichts davon bei den polyandrischen Bhutia; in Ladakh hat Drew trotz aller Nachforschungen nichts über allenfalsige Mädchenmorde erfahren können. Andrerseits wütet diese Sitte unter den Radschputen,[S. 261] und diese sind keine Polyandristen. Mag nun auch Armut des Boden einerseits, natürlicher Mangel an Frauen andererseits immerhin das seinige zur Entwicklung der Vielmännerei beigetragen haben, ihre wahre Grundlage ist eine tiefere; sie wurzelt in älteren Verhältnissen. Lipperts Verdienst ist es, als kulturgeschichtlich unrichtig aufgedeckt zu haben, dass auch innerhalb endogamischer Zustände das Prinzip der Blutsverwandtschaft ursprünglich auch dasjenige der Konnubialgrenzen begründet habe. Im Gegenteile beruhte auf der Idee der Blutsverwandtschaft diejenige der Berechtigung zum Geschlechtsverkehre in unbeschränktestem Masse. „Es sind vielmehr wiederum nur die Generationsschichten über und untereinander, deren Scheidemarken sich, wie nach vielen anderen Richtungen hin, so auch in den konnubialen Verhältnissen allmählich geltend machen, wohingegen Geschlechtsverbindungen innerhalb derselben Generationsschicht, zwischen Brüdern und Schwestern, nicht nur keine Beschränkung erleiden, sondern vielmehr als der absolut normale Zustand gelten.“[529] Und auf diesen Untergrund weist die Mehrzahl der Fälle bis heute noch als Volkseinrichtung erhaltener Polyandrie zurück. Im Grunde sagt nichts anderes auch Herbert Spencer, wenn er „die Polyandrie als eine der Formen von ehelichen Beziehungen betrachtet, welche sich aus den ursprünglichen ungeregelten Zuständen hervorarbeiten, und zugleich als eine Form, die sich noch da erhalten hat, wo andere mit ihr wetteifernde Formen von den Umständen nicht begünstigt wurden und sie daher noch nicht zu beseitigen vermochten.“[530]
[472] Uxores habent deni duodenique inter se communes et maxime fratres cum fratribus parentesque cum liberis; sed si qui sunt ex his nati, eorum habentur liberi, quo primum virgo quoque deducta est. (Caesar, de bello gall. lib. V. cap. 14.)
[473] Iam primum uxor ejus (des Häuptlings) Boudicca verberibus adfecta ed filio stupro violatae sunt, schreibt Tacitus. Annales lib. XIV. cap. 31 und weiterhin, cap. 35, will Boadicea „confectum verberibus corpus, contrectatam filiarum pudicitiam ulcisci. Eo provectas Romanorum cupidines, ut non corpora, ne senectam quidem aut virginitatem inpollutam relinquant.“
[474] Humboldts Reise in die Äquinoktialgegenden. Bd. I. S. 56.
[475] Peschel. Völkerkunde. S. 228.
[476] Globus. Bd. LII. S. 91.
[477] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Studien. S. 319.
[478] Waitz-Gerland. Anthropologie d. Naturvölker. Bd. VI. S. 128.
[479] Ratzel. Völkerkunde. Bd. II. S. 276.
[480] Langsdorff. Bemerkungen auf einer Reise um die Welt. Bd. II. S. 63.
[481] David Crantz. Historie von Grönland. Barby und Leipzig 1765. Bd. I. S. 207–212.
[482] Lubbock. Entstehung der Zivilisation. S. 115.
[483] Humboldts Reise in die Äquinoktialgegenden. Bd. IV. S. 103.
[484] G. Fritsch. Die Eingeborenen Südafrikas ethnographisch und anatomisch. Breslau 1873. S. 227.
[485] Ratzel. Völkerkunde. Bd. I. S. 343.
[486] Globus. Bd. XLIII. S. 371.
[487] William E. Marshall. A Phrenologist amongst the Todas; or the Study of a primitive tribe in South India: History, Character, Customs, Religion, Infanticide, Polyandry, Language. London 1873.
[488] Revue d’Anthropologie 1874. S. 127.
[489] Revue d’Anthrop. A. a. O.
[490] Mantegazza. Indien. Jena 1885. S. 120.
[491] Peschel. Völkerkunde. S. 222.
[492] Emil von Schlagintweit. Indien in Wort and Bild. Leipzig 1880. Bd. I. S. 100.
[493] Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1874. S. 388.
[494] Dalton. Beschreibende Ethnologie Bengalens. Deutsch bearbeitet von Oskar Flex. Berlin 1875. S. 37.
[495] Dalton. A. a. O. S. 41.
[496] A. a. O. S. 50.
[497] A. a. O. S. 22. Oberst Dalton erzählt diesbezüglich folgende bezeichnende Anekdote: Ein hübsch aussehendes Daflamädchen kam eines Tages nach Lackinpur, warf sich ihm zu Füssen und flehte in höchst poetischen Ausdrücken um seinen Schutz. Sie war die Tochter eines Häuptlings und sollte die Frau eines Freundes ihres Vaters werden, der schon mehrere Frauen hatte. Sie wollte aber nicht eine von vielen sein. Ausserdem gestand sie Dalton, dass sie liebe und wieder geliebt werde und mit ihrem Anbeter geflohen sei. Dalton beruhigte das Mädchen und schickte nach ihrem Begleiter. Wie erstaunte er aber, als der Bote nicht einen, sondern zwei Geliebte brachte. Das Mädchen hatte sich von zwei jungen Burschen entführen lassen.
[498] Mantegazza. Indien. S. 193.
[499] Dalton. A. a. O. S. 52.
[500] Ausland 1860. S. 840.
[501] C. F. Gordon-Cumming. In the Himalayas and on the Indian Plains. London 1884. S. 406.
[502] Hermann von Schlagintweit. Reisen in Indien und Hochasien. Jena 1871. Bd. II. S. 47–48.
[503] J. Calvert. Kulu and the Silver Country of the Vazeers. London 1873. S. 32.
[504] Karl Eugen von Ujfalvy. Aus dem westlichen Himalaya. Erlebnisse und Forschungen. Leipzig 1884. S. 37.
[505] A. a. O. S. 36.
[506] Sir James Emerson Tennent. Ceylon; an account of the island, physical, historical and topographical. London 1859. Bd. II. S. 428. 429.
[507] Ernst Häckel. Indische Reisebriefe. Berlin 1884. S. 240.
[508] Ausland 1851. S. 657.
[509] A. Giraud-Teulon. Les origines de la famille. Genève u. Paris 1874. S. 157.
[510] Narrative of the Mission of George Bogle to Tibet, and of the journey of Thomas Manning to Lhasa. Edited by Clements R. Markham. London 1876. S. 122.
[511] Ujfalvy. Aus dem westlichen Himalaya. S. 37.
[512] Schlagintweit. Indien in Wort und Bild. Bd. I. S. 100.
[513] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistor. Studien. S. 320.
[514] Abel de Rémusat. Naw. Mélanges asiatiques. Paris 1829. S. 245.
[515] Giraud-Teulon. A. a. O. S. 148.
[516] Ausland 1865. S. 285.
[517] Peschel. Völkerkunde. S. 221.
[518] Dr. Karl Dusing. Die Faktoren, welche die Sexualität entscheiden. Jena 1883. S. 18. 33.
[519] Globus Bd. XXV. S. 379.
[520] M. Eckardt. Der Archipel der Neuhebriden (Verhdl. d. Ver. f. naturwiss. Unterhaltung in Hamburg. Bd. IV. Oktob. 1879. S. 21).
[521] H. W. Bellew. Kashmir and Kashgar. A Narrative of the journey of the embassy to Kashgar in 1873–74. London 1885. S. 118.
[522] Mantegazza. A. a. O. S. 318.
[523] Herbert Spencer. Die Prinzipien der Soziologie. Deutsch von B. Vetter. Stuttgart 1887. Bd. II. S. 246.
[524] S. W. Baker. Eight years’ Wanderings in Ceylon. London 1855. S. 61.
[525] Tennent. Ceylon. Bd. II. S. 428.
[526] Dr. Konrad Ganzenmüller im Globus. Bd. XXXVIII. S. 77.
[527] Lubbock. Entstehung der Zivilisation. S. 118.
[528] Mantegazza. A. a. O. S. 319.
[529] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 10.
[530] Herbert Spencer. A. a. O.
[531] Wohl aber entsendet sie noch als Ausläufer, so zu sagen, gewisse Erscheinungen in den Bereich solcher Völker, aus deren Sitten Matriarchat und Polyandrie längst verschwunden sind. Ich rechne dazu die sogenannte Leviratsehe und die Dreiviertelheiraten. Ihnen muss hier eine kurze Betrachtung gewidmet werden.
st Vielmännerei, nach dem im vorhergehenden Abschnitte Gesagten, keineswegs als eine notwendige Übergangsform anzusehen, welche jedes Volk einmal durchlaufen haben muss, so erhebt sie sich doch stets auf dem Untergrunde des Matriarchats und kann in gewissem Sinne als dessen schärfste Ausprägung gelten. Unter Vaterrecht, wie wir es später kennen lernen werden, hört die Polyandrie auf, wird sie einfach unmöglich. „So wenig die Leibwaffe mehreren Menschen gehören kann, so wenig kann, wenigstens dem Prinzip dieses Rechtes nach, die Frau ein Gegenstand geteilten Besitzes sein.“Unter Leviratsehe versteht man bekanntlich die Gepflogenheit, wonach der Schwager (latein. levir, griech. δαήρ, sanskr. devar) seine Schwägerin, d. h. die Gattin seines verstorbenen Bruders zum Weibe nimmt, ein Gebrauch, der sehr vielen, selbst hochgestiegenen Völkern eigen ist. Im Kreise unserer eigenen Gesittung, in Deutschland, kommen, freilich nicht als ein Gebot der[S. 263] Sitte, sondern nach jeweiliger Willkür, derartige Ehen häufig vor, nachdem das aus Missverständnis einer Bibelstelle[532] entstandene kirchliche und staatliche Verbot der aufeinander folgenden Ehe eines Mannes mit zwei Schwestern beseitigt ist, an welchem die konservativen Engländer mit einer, einer besseren Sache würdigen Zähigkeit noch heute festhalten. In der Auffassung des Leviratsverhältnisses herrscht noch ziemlich viel Verwirrung. Meistens will man dasselbe — und eine gewisse Schule hält daran mit Eifer fest — als einen blossen Ausdruck des vollen Eigentumsrechtes des Mannes auf die Hinterlassenschaft seines Bruders betrachten, zu welcher auch dessen Frau oder Frauen gehörten. Dass das Levirat ursprünglich in der Vielmännerei wurzelt, widerstrebt allerdings jenen, welche für das geschichtlich Gewordene weder Sinn noch Verständnis besitzen. Nur solche mögen Dr. W. Schneider beistimmen, wenn er bemerkt: „Bis zu welchem Grade die darwinistische Tendenz den Blick zu trüben vermag, zeigen die allerdings unfruchtbaren Bemühungen, die verbreitete Leviratsehe als Rückstand polyandrischer Verhältnisse zu erklären; wird doch durch diese Satzung, nach welcher die Witwe gleich der übrigen Hinterlassenschaft vererbt, das volle Eigentumsrecht des Mannes auf sein Weib deutlich genug anerkannt.“[533] Das ist es aber gerade, worin der dogmatische Streiter sich gründlich irrt, denn die Bemühungen, das Levirat aus der Polyandrie abzuleiten, sind durchaus nicht unfruchtbar zu nennen. Wo nämlich beim Tode eines Mannes dessen Gattin oder Gattinnen auf seinen Bruder übergehen, ist noch lange nicht ausgemacht, dass dieselben ein Erbstück seien, worauf der überlebende Schwager ein Anrecht habe, in das die Frauen sich unbedingt fügen müssten. Es ist Kautskys Verdienst, nachgewiesen zu haben, dass bei der Leviratsehe ursprünglich das Recht auf Seite der Frau, die Pflicht auf Seite des Mannes liege, und dieser begeht geradezu eine Sünde, wenn er seiner Pflicht nicht nachkommt. Von einem „Eigentumsrecht“ auf die Witwe ist da keine Rede. Das Missverständnis ist sofort[S. 264] gelöst, wenn man statt des Fremdwortes „Levirat“ seine Verdeutschung „Schwagerpflicht“ setzt, womit sein Sinn vollständig gedeckt ist. „Schwagerrecht“ wäre da ein Unding.
Diese Schwagerpflicht gilt noch in der Gegenwart bei den Papua in Neukaledonien, den Tupinamba in Brasilien,[534] bei den Ostjaken[535] im nordwestlichen Sibirien, bei dem Tungusenstamme der Mangun oder Oltsche in Ostsibirien, den Tscherkessen, Drusen und syrischen Arabern, den Afghanen, den Koljuschen Nordamerikas, den Ama Sulu in Südafrika und den Negern der Goldküste. Plan Carpin, der Botschafter Ludwigs des Heiligen, traf sie im 13. Jahrhundert bei den Mongolen. Die polygamen Neukaledonier — bis unlängst dem Menschenfrasse ergeben — meiden bei ihren Verbindungen die Blutnähe väterlicherseits, heiraten dagegen ungescheut alle mütterlichen Verwandtschaftsgrade.[536] Jeden Mann, obschon beweibt oder nicht, zwingt nun, wie Rochas berichtet, die Sitte, die Bruderswitwe zu heiraten,[537] möge er nun selbst schon Weiber haben oder nicht.[538] Meinicke, weniger scharf im Ausdrucke, meldet: „Die Witwe darf den Bruder ihres Mannes heiraten,“[539] und Dr. Georg Gerland, der fleissige Fortsetzer von Waitz’ grossem Werke über die Naturvölker, sagt, gestützt auf Dillon und Turner, von den Papua im allgemeinen: „Die Witwe muss der Bruder des Verstorbenen zu sich nehmen, wie sie auch als die Haupterbin des Mannes gilt.“[540] Auf den Marschallinseln ist des Königs Nachfolger sein jüngerer Bruder, und diesem erwächst zugleich die Verpflichtung, sämtliche Frauen des Verstorbenen zu[S. 265] heiraten.[541] Den Malgaschen gilt es für eine der traurigsten Schicksale, ohne Nachkommen aus dem Leben zu scheiden; stirbt ein älterer Bruder, ohne Kinder zu hinterlassen, so muss der nächstfolgende Bruder die Witwe heiraten, um das Andenken des älteren zu bewahren; die Kinder aus einer solchen Ehe werden als Nachkommen und Erben des älteren Bruders betrachtet.[542] Die Schwagerpflicht der Ostjaken, welche heute alle Christen sind und sich demnach mit einer Frau begnügen, hatte schon Castrén gemeldet; neuerdings ward sie durch Fürst N. Kostrow bestätigt, welcher ausdrücklich sagt: „Der jüngere Bruder muss die Witwe des älteren ehelichen.“[543] Bei den Mar in Indien nimmt, nach Dalton, ein Mann — einer Sagai genannten Sitte zufolge — stets die Witwe seines ältesten Bruders zur Frau. Die Afghanen erachten es gleichfalls als eine Pflicht des Mannes, die kinderlose Bruderswitwe zu heiraten, und jede Abweichung davon wird als das grösste Ärgernis angesehen.[544] Bei den Ama Sulu darf der Bruder sich nicht weigern, die Frau seines verstorbenen Bruders zu heiraten; er muss sie annehmen.[545] Eine Art Leviratsehe ist auch bei den Koljuschen üblich, nur ist dort der Verpflichtete nicht immer der Bruder, sondern der Schwestersohn des Verstorbenen.[546] Dieser ist gezwungen, die Witwe seines Oheims zu heiraten, mag das Alter auch noch so verschieden sein. Endlich ist das Levirat sogar den europäischen Albanesen nicht fremd, und zwar selbst den Katholiken unter ihnen nicht. Wie man das Levirat dort auffasst, beweist folgendes Erlebnis des trefflichen Reisenden Wilhelm Lejean. Letzterer sah in einem Hause einen etwa zwanzigjährigen, fast bartlosen Burschen, dem seine Mutter, eine stämmige, vier[S. 266]schrötige Albanesin, eine derbe Strafpredigt hielt. Der Knabe war nämlich bereits verheiratet, und jüngst waren bald hintereinander seine beiden Brüder gestorben, die auch verheiratet gewesen. Nun hatte nach landesüblichem Brauche der Bursche die Witwe des zuerst gestorbenen Bruders geheiratet. Das war schon Bigamie; aber die Witwe des zweiten Bruders zu heiraten, weigerte er sich. Darüber war die Mutter höchst ungehalten, der Sohn sei kein rechtschaffener Mann, und wenn er fünf, wenn er zehn verstorbene Brüder gehabt hätte, so sei es seine Schuldigkeit, die Witwen aller zu heiraten.[547]
In allen diesen Fassungen erscheint der Mann, wie man sieht, als der Verpflichtete, nicht als der Berechtete. Nirgends in allen diesen Fällen ist ein Eigentumsrecht des Mannes auf die Bruderswitwe vorhanden, vielmehr handelt es sich seinerseits um eine Pflicht, deren Erfüllung die Witwe beanspruchen, fordern kann. Dies ist aber ein ganz verschiedener Gesichtspunkt. Eine wesentliche Stütze erhält die vorgetragene Ansicht durch die gründlichen Untersuchungen G. A. Wilkens über die Eheverhältnisse im ostindischen Archipel. Überall treten nämlich bei den dortigen Völkerschaften, gleichviel ob Exogamen oder Endogamen, die greifbaren Spuren einer älteren Familienordnung, auf Mutterrecht gegründet, zu Tage. Fast überall findet sich noch neben der patriarchalen Heiratsform eine zweite, matriarchale, wobei die Frau weder ihren Stamm, noch ihre Familie verlässt, der Gatte vielmehr in diese eintritt und die Kinder dem Stamme der Mutter folgen, ganz wie wir auf Ceylon in der Bina sahen. Bei den Battak erscheint diese Heiratsform, ein Überbleibsel älterer Epochen, unter dem Namen Mandingding und natürlich ist dabei auch von keinem Brautschatz die Rede; sie kehrt wieder bei den Timoresen und mehr noch bei den Belunesen, bei welch letzteren es geradezu der Bräutigam, nicht die Braut, ist, welcher gekauft wird,[548] bei den Alfuren von Buru, in Rawas und Redschang, wo sie Semando oder Sumando[S. 267] heisst und die schon einmal besprochene Fortbildung in die Ambil Anak-Ehe erfahren hat, bei den Lampongern auf den Eilanden Roti und Saru, auf den Alor- und Solor-Gruppen. Bei den Makassaren und Buginesen, welche bloss Verbindungen zwischen Geschwisterkindern untersagen, weisen mancherlei Umstände auf ein früheres Bestehen von Exogamie gepaart mit Matriarchat hin. Einige Völker des ostindischen Archipels sind jetzt reine Endogamen, d. h. sie sind anfänglich ebenfalls sehr wahrscheinlich Exogamen gewesen und später zur Endogamie übergegangen. Hierher zählen die Dayak auf Borneo, dann die Alfuren der Minehassa auf Celébes. Diese Stämme ordnen ihre Familien sei es nach Mutterrecht sei es nach Vaterrecht, doch sind beide in einen gewissen Einklang gebracht, so dass man ihr Familiensystem mit Recht das „kognatische“ nennen darf. Beide Geschlechter stehen auf dem Fusse der Gleichheit zueinander und der Familienbesitz ist ein den Gatten gemeinschaftlicher. Auch hier, besonders in den Landschaften Dusun, Murung und Sijang, herrscht eine Art Schwagerpflicht; die Witwe soll ihres Gatten Bruder und in Ermanglung dessen seinen nächsten Verwandten zum Manne nehmen, so dass das Vermögen ungeteilt in der Familie bleibe. Aber gezwungen ist sie dazu nicht; sie kann, gegen Rückerstattung des ganzen Mannsgutes an dessen Verwandte der Ehe, sich entschlagen. Es ist also ein etwas verschiedenes Verhältnis von dem Levirate der vorgeschichtlichen Zeit, gewissermassen eine Mittelstufe zwischen dem Levirate der älteren matriarchalen Sitte, wobei der Mann die Schwägerin ehelichen muss, und dem gleich zu erörternden der jüngeren patriarchalen Ordnung, wonach die Witwe als Erbstück dem Schwager zufällt und diesen heiraten muss. Von einem Levirate in diesem Sinne kann da keine Rede sein. Wenn bei den Dayak die Schwagerheirat eine Verpflichtung genannt wird, so ist es eine solche, welche völlig von dem Willen der Witwe abhängt.
Erst auf der Stufe des Vaterrechts kann das Levirat seinen Charakter einer Verpflichtung des Mannes nicht mehr bewahren, sondern verwandelt sich vielfach in ein thatsächliches Recht des Mannes, welcher nunmehr Herr und Gebieter in der Familie geworden. Das Patriarchat hat überall das Weib zur Sache, zum ver[S. 268]erbbaren Gute herabgedrückt, auf welches dann allerdings der Mann ein Eigentumsrecht besitzt, so dass er die in Erbschaft zugefallene Witwe selbst ehelichen oder nach Belieben an einen anderen verheiraten kann. Dieser Zustand ist aber nicht der ursprüngliche und es beruht auf Missverständnis, wenn derselbe als der für das Levirat charakteristische ausgegeben wird. Auf dieser seiner jüngsten Stufe der Entwicklung treffen wir das Levirat bei manchen Völkern: so bei den Wapokomo am Tanaflusse in Ostafrika,[549] bei manchen Kaffernstämmen,[550] auch bei den Wolof Senegambiens,[551] den Maler in Bengalen[552] endlich bei vielen Völkern des ostindischen Archipels. Dort werden die Witwen in der That lediglich als Sachen vererbt, so bei den Battak an der Westküste von Sumatra, bei den Karo-Karo der Oberlande von Deli an der sumatranischen Ostküste, bei den Nias-Insulanern, den Alfuren von Buru und Ceram, den Timoresen, den Malayen von Menangkabau, den Redschang und Pasemahers in den Oberlanden von Palembang, in den Lampongschen Bezirken, sowie auf den von Papua bewohnten Aru- und Key-Inseln.[553] Die Battak nennen das Levirat Mangalija, doch verfällt die Witwe stets dem jüngeren Bruder, wohl auch mitunter einem Neffen oder Oheim, ja sogar einem Stiefsohne, aber die Ehe mit einem älteren Bruder gilt als Blutschande, welche mit dem Tode bestraft wird,[554] und die unter diesem Volke vorkommenden Fälle von Polygamie sind großenteils Folgen des Levirates. Bei den Karo-Karo macht es keinen Unterschied, ob die Witwe kinderlos ist oder nicht. Die Battak, Karo-Karo, Niaser und Timoresen sind heute Exogamen und ihre Familie beruht auf patriarchalischer Grundlage; die Frau hat bei ihnen nie Eigentum und befindet sich gleichsam ausser allem Rechte, sie ist nicht[S. 269] viel mehr als eine Sklavin und als kennzeichnendes Merkmal dieser Zustände tritt in der Ehe, Mangoli genannt, die Frau gegen Entrichtung eines „Brautschatzes“ (Boli, Tuhor oder Dschurdschuran) aus ihrer Marga, aus ihrer Familie in jene des Gatten, dessen Marga dann auch ihre Kinder angehören.[555] Bei solcher Unselbständigkeit des Weibes kann dessen Vererbung auf den Bruder oder nächsten Verwandten nicht Wunder nehmen. Die Malayen von Menangkabau, die Lamponger und die Papua auf Aru und Key halten zwar nicht auf Exogamie, erkennen aber gewisse Grenzen an, innerhalb welcher eine Verbindung unstatthaft ist, und besitzen ebenfalls eine Familienordnung, worin der Brautschatz zur einfachen Kaufsumme wird. Dass unter solchen Umständen das Levirat sich an den Begriff des Eigentums heftet, ist begreiflich. Ein Anklang auf diese Auffassung herrscht sogar bei den Afghanen, jedoch nur insofern, als, wenn ein Mann sich weigert, seiner Schwagerschaft nachzukommen, doch niemand ohne seine Zustimmung die Witwe heiraten darf.[556]
In dem Levirate der patriarchalischen Zeit darf man also wohl eine durch das Vaterrecht und durch die damit verbundene Knechtschaft des Weibes hervorgerufene Entartung der alten Einrichtung erblicken, deren Ursprung in den weit älteren matriarchalischen Sitten wurzelt. Deutlich und beredt spricht dafür der Umstand, dass erkennbare Spuren der letzteren auch das Levirat der patriarchalischen Völker begleiten. Es ward geübt bei den alten Hindu, welchen es Manus Gesetzbuch vorschrieb; denn die spätere Sitte der Sati (Suttee) oder Witwenverbrennung war den ältesten Zeiten noch fremd; die Veden kennen sie noch nicht. Nicht fremd war den Hindu aber, wie wir sahen, die matriarchalische Vielmännerei. Das Levirat übten ferner auch die alten Hebräer, welche in geschichtlicher Zeit nach strengem Vaterrechte lebten und uns den falschen Begriff des Levirates am geläufigsten gemacht haben. Falsch nämlich insoferne, als wir dasselbe bei ihnen erst auf seiner höchsten Ausbildung, gewissermassen am[S. 270] Schlusssteine seiner Entwicklung, als eine festumschriebene Einrichtung inmitten der durchaus patriarchalisch oder, was dasselbe ist, agnatisch geordneten Gesellschaft erblicken, welche, wie später gezeigt werden soll, zugleich als eine Kultgenossenschaft sich darstellt, zusammengehalten durch das Einigungsband des Kultes der Ahnen der Familie, welchem Kulte die Rechtsanschauungen jener Stufe entspringen. Die Verehrung der Vorfahren erzeugt naturgemäss die Furcht vor Kinderlosigkeit und diese führt wieder zur Vertretung des kinderlosen Mannes in der Ehe, wobei, wie Lippert treffend bemerkt, die Vorstellung der ausschliesslichen Mutterverwandtschaft logischerweise noch vorgewaltet haben muss. Nur so konnte auch dem Verstorbenen ein Sohn als Kultpfleger geschenkt werden; dass aber die Pflicht gerade wieder dem Bruder desselben aufgetragen wird, deutet doch wieder auf die Beimischung des Begriffes der Vaterverwandtschaft.[557] Es zeigt dies deutlich, dass das Levirat schon in den allerältesten Zeiten des Patriarchates vorhanden gewesen sein muss, als die ältesten matriarchalen Anschauungen noch nicht überwunden waren. Es kann also auch nicht erst ein Erzeugnis des Patriarchates sein. Zwar betrachtete die mosaische Satzung nicht bloss den Grundbesitz, sondern auch die Witwe des kinderlos Verstorbenen als ein nicht zu entfremdendes Familiengut; beide sollten zugleich in die Hände des nächsten Agnaten übergehen, damit auch in einem solchen Falle das Haus des Verstorbenen aufrecht erhalten werde.[558] Aber sogar in diesem scharf ausgeprägten Verhältnisse ist doch von einem „Eigentumsrechte“ auf die Witwe nicht die Rede, sondern es zeigen sich gerade beim Levirate und auch sonst verblasste Spuren einer älteren Familienverfassung, wonach die Abstammung von derselben Mutter besonders verknüpft. So scheint in vorgeschichtlicher Zeit die Ehe unter Halbgeschwistern üblich gewesen zu sein, wie sie matriarchalischen Zuständen eigen ist, und die in der Sklaverei geborenen israelitischen Sklaven scheinen stets Söhne einer nicht-[S. 271]israelitischen Sklavin gewesen zu sein, welche nach Mutterrecht dem Busen folgten.[559] So handelt es sich auch beim Levirate der Juden, wie bei jenem der Hindu, um eine Pflicht, deren Erfüllung die Witwe beanspruchen kann. Indem aber in späterer Zeit der Ahnenkult zu Gunsten der hierarchischen Kulteinheit unterdrückt wurde, musste auch das urspüngliche Motiv, die Sorge für einen Kultpfleger, aus den Urkunden verschwinden. So wurde aus der Leviratspflicht eine Leviratsehe.[560] Die Verpflichtung dazu traf in erster Reihe die Brüder des Verstorbenen und in deren Ermangelung die nächsten Verwandten. So lange eine derartige Witwe noch in der Erwartung stand, von irgend einem Verwandten ihres verstorbenen Mannes heimgeführt zu werden, wurde sie allerdings nicht nur als ein Familienerbgut, sondern vielmehr als die Verlobte des Agnaten angesehen, und alle jene Umstände, welche die hebräische Ehe überhaupt unmöglich oder die bereits eingegangene ungültig oder auflösbar machten, fanden auch hier ihre Anwendung und konnten die Verpflichtung der Agnaten aufheben.[561] Klar und deutlich spricht das Gesetz diese Verpflichtung aus: „Wenn Brüder bei einander wohnen, und einer stirbt ohne Kinder, so soll des Verstorbenen Weib nicht einen fremden Mann draussen nehmen, sondern ihr Schwager soll sie beschlafen und zum Weibe nehmen und sie ehelichen.“[562] Nur wenn die nächsten Verwandten aus einleuchtenden Gründen die Ehe mit der Witwe nicht eingehen konnten, ging sie an entfernte Verwandte über. Wollte aber der nächste Agnat, ohne seine Pflicht auf einen andern übertragen zu können, in die Leviratsehe durchaus nicht eingehen, so wurde er vor das Ortsgericht geladen, wo die Witwe mit den Worten: „Also soll man thun einem jedem Manne, der seines Bruders Haus nicht erbauen will“, eine Sandale von seinem Fusse ablöste und vor ihm ausspuckte.[563] Ein solcher Mann behielt auch dann den Schimpfnamen eines „Barfüsslers“. Die Vorschriften[S. 272] beseitigen jede Zweideutigkeit in der ursprünglichen Auffassung des Levirats als Schwagerpflicht.
Man kann also, wie gezeigt, in der Entwicklungsgeschichte des Levirats drei ganz bestimmte Stufen unterscheiden, von welchen die gewöhnlich allein für massgebend erachtete mosaische Satzung der jüngeren Epoche des Patriarchats angehört. Deshalb ist die daraus entwickelte Auffassung des Levirates auf das lebhafteste anzufechten, wenn sie sich als die alleinige Erklärung dieser Einrichtung aufspielt, wenn sie dieselbe in allen Fällen an die Ausbildung des Eigentumsbegriffes knüpfen will. In diesen Irrtum verfällt auch Herbert Spencer, welcher von einer Schwagerpflicht nichts weiss, wenn er nicht zugestehen will, dass die Sitte, des verstorbenen Bruders Witwe zu heiraten, auf das frühere Vorhandensein von Polyandrie schliessen lasse.[564] In diesen Irrtum verfällt ferner Sir John Lubbock, wenn er sich zu der Meinung bekennt, wonach das System des Levirates in engerer Verbindung mit den Eigentumsrechten als mit der Vielmännerei stehe.[565] Zutreffend für die eine, ist dieses Urteil ganz irrig für die andere Form dieser „mosaischen Satzung“, für jene Form, welche unbedingt als die ältere zu erklären ist, weil sie eben an die zum Teil schon ganz verschwundenen oder doch im Verschwinden begriffenen matriarchalen Sitten anknüpft. Kautsky schliesst daher, dass überall, wo die Leviratsehe sich findet, einstens Polyandrie und mithin Matriarchat geherrscht habe.[566] Aber wer sie auch nicht gerade als einen Rückstand polyandrischer Zustände gelten lassen will, wird darin zum mindesten einen Hinweis auf eine ehemalige matriarchale Familienordnung erblicken müssen. Letourneau führt daher die Entstehung des Levirates mit Recht auf fern liegende Gesittungsphasen zurück, als Verlassenheit des Weibes gleichbedeutend mit Untergang, dasselbe also männlichen Schutzes bedürftig war. Das Sittengesetz, meint Letourneau sehr treffend, geht notwendig aus dem Nützlichen, dem Zweckmässigen hervor. Da zudem bei den Wilden die Fruchtbarkeit[S. 273] der Frauen meist von kurzer Dauer und sehr beschränkt ist, so hat die Einrichtung des Levirates den ursprünglichen Menschengruppen im Kampfe ums Dasein nur dienlich sein können.[567]
Kein Streit ist möglich über die Stellung, welche den sogenannten Dreiviertelheiraten, die im nubischen Afrika unter den Hassanieh-Arabern vorkommen, anzuweisen ist, und ich kann mich daher kurz fassen. Wie unter Vielmännerei, nach meiner bisherigen Feststellung, lediglich der gleichzeitige und von Sitte oder Gesetz anerkannte Besitz mehrerer Männer durch eine Frau, mit Ausschluss aller daran streifenden Verhältnisse, wie z. B. Probe- und Zeitehen, verstanden wird, so kann kein Zweifel walten, dass die Dreiviertelehen polyandrisch sind. Die Gattin des Hassanieh-Arabers darf nämlich für sich drei Tage in der Woche in Anspruch nehmen und alsdann ihre Gunst einem Beliebigen, z. B. einem durchreisenden Fremden, gewähren. Die Töchter werden stets, wie John Petherick berichtet, an den Meistbietenden losgeschlagen, wie dies bisweilen auch in Christenlanden geschieht, nur mit dem Unterschiede, dass bei den Muhammedanern infolge der erleichterten Ehescheidung Fehlgriffe sich mühelos wieder gut machen lassen. Ist bei den Hassanieh eine Heirat im Werke, so versammeln sich die Familien beider Parteien, und des Bräutigams Vater richtet an die Mutter der Braut die grosse Frage, wie viele Tage in der Woche das eheliche Band streng beobachtet werden müsse. Die Mutter wird nun den Wert der Mariatheresienthaler, der Milchkuh und der paar Stiere, welche angeboten worden sind, in keinem Verhältnis finden zur Jugend und Schönheit der Tochter, sowie ihrer Familienverbindungen, worauf sie ihre Rede damit schliesst, dass man billigerweise ihr die eheliche Treue nicht länger auferlegen könne, als zwei Tage in der Woche. Die Partei des Bräutigams gerät darüber in Aufruhr und stellt sich empört, so dass der Uneingeweihte befürchten muss, es werde blutige Händel geben. Nun treten aber grauhäuptige Friedensstifter hervor, besänftigen beide Parteien und bringen Forderung und Angebot in ein vernünftiges Gleichgewicht; die[S. 274] Familie des Bräutigams erhöht den bedungenen Kaufschilling und die Mutter der Braut spricht endlich „ein grosses Wort gelassen aus“: dass nämlich die junge Frau Montags, Dienstags, Mittwochs und Donnerstags, also vier volle Tage an ihren Mann gebunden bleiben, den Rest der Woche aber Freiheit haben solle, worauf sich beide Teile zu dieser „glücklichen“ Beilegung des Zwistes beglückwünschen und weidlich dem aufgetragenen Merissabiere zusprechen.[568]
Unwillkürlich drängt sich wohl dem Leser der Zusammenhang solcher Ehesitten mit der Prostitution im allgemeinen auf, d. i. der gewerbsmässigen Polyandrie, welche auch bei den höchstgestiegenen Völkern eine unausrottbare Heimstätte besitzt. Die Unterscheidung zwischen beiden hängt in der That oft an einem Haar, wenn das rechtmässige Eheweib für die Gewährung ihrer Gunst vom Fremden auch Entlohnung nimmt oder fordert, wie es bei so manchen Stämmen geschieht. Mantegazza erblickt mit Recht in dem Verkaufe dessen, was nur dem Gefühl gewährt werden sollte, „eine der grössten Infamien der Liebe“,[569] erklärt indes bei andern, gleich civilisierten Völkern, die jedoch im Strom der Zeit weit hinter uns liegen, sowie bei zeitgenössischen, aber wilden Menschen die Prostitution weder für eine Schande, noch für ein Vergehen, sondern für eine der süssen Notwendigkeiten des Lebens, eine gesellschaftliche Einrichtung, die der Ehe, dem Konkubinate und anderen Liebesbündnissen nahe stehe. In der That entwickelt sich die Prostitution neben der Familie und hält mit ihr gleichen Schritt: je höher die Begriffe von der Strenge der ehelichen Bande, desto entwickelter im allgemeinen das Gewerbe der Prostitution, denn sie ist nichts anderes als die Folge der durch die zunehmende Gesittung erheischten grösseren Einschränkung eines Naturtriebes, dessen Befriedigung ein ewiges Bedürfnis des menschlichen Tieres bleibt.[570]
[531] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 87.
[532] Lev. 18, 18 verbietet dem Mann zwei Frauen gleichzeitig zu ehelichen.
[533] Schneider. Die Naturvölker. Bd. II. S. 461.
[534] Martius. Beiträge zur Ethnographie und Sprachenkunde Amerikas, zumal Brasiliens. Leipzig 1867. Bd. I. S. 153.
[535] Castrén. Ethnologische Vorlesungen über die altaischen Völker. Petersburg 1857. S. 119.
[536] Victor de Rochas. La Nouvelle Calédonie et ses habitants. Paris 1862. S. 232.
[537] A. a. O.
[538] Globus. Bd. XLIV. S. 107.
[539] Dr. Carl Meinicke. Die Inseln des Stillen Ozeans. Leipzig 1875 Bd. I. S. 231.
[540] Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Bd. VI. S. 634.
[541] Franz Hernsheim. Beitrag zur Sprache der Marshallinseln. Leipzig 1880. S. 36.
[542] Sibree. Madagaskar. S. 275–276.
[543] Globus. Bd. XXXVI. S. 302.
[544] H. W. Bellew. Journal of a political mission to Afghanistan in 1857. London 1862. S. 27.
[545] M. Kranz. Natur- und Kulturleben der Zulus. Wiesbaden 1880. S. 105.
[546] Waitz. A. a. O. Bd. III. S. 328.
[547] Globus. Bd. XXV. S. 275.
[548] Wilken. Over de Verwantschap en het Huwelijks- en Erfrecht by de volken van het maleische Ras. S. 55.
[549] G. A. Fischer in den Mitteil. der Geograph. Gesellsch. in Hamburg. 1879. S. 28.
[550] Livingstone. Missionary Travels and researches in South-Africa. London 1857. S. 185.
[551] Berenger-Feraud. Les peuplades de la Sénégambie. S. 43.
[552] Dalton. Ethnologie Bengalens. S. 105.
[553] G. A. Wilken. A. a. O. S. 39. 46. 54. 59. 66. 96.
[554] A. a. O. S. 39.
[555] A. a. O. S. 44.
[556] Dr. Jos. Chavanne. Afghanistan. Land u. Leute. Wien 1879. S. 60.
[557] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 508.
[558] Dr. Joseph Bergel. Die Eheverhältnisse der alten Juden im Vergleiche mit den griechischen und römischen. Leipzig 1881. S. 32.
[559] Bernhard Stade. Geschichte des Volkes Israel. Bd. I. S. 379.
[560] Lippert. A. a. O.
[561] Bergel. A. a. O. S. 33.
[562] Mos. V. 25. 5.
[563] Mos. V. 25. 6–10.
[564] H. Spencer. Grundzüge der Soziologie. Bd. II. S. 253.
[565] Lubbock. Entstehung der Zivilisation. S. 118.
[566] Kautsky im Kosmos. Bd. XII. S. 347.
[567] Letourneau. Sociologie. S. 327.
[568] John Peterick. Egypt, the Soudan and Central-Africa. London 1861. S. 142–144.
[569] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Studien. S. 321.
[570] Hellwald. Kulturgeschichte. Dritte Aufl. Bd. I. S. 142.
ie Erscheinungen, welche uns zum Schlusse des vorigen Abschnittes beschäftigten, ragen zum Teile als Überlebsel in eine neue Gesellschaftsordnung hinein, in welcher nicht mehr die Mutter, das Weib, sondern der Vater, der Mann, an die Spitze der Familie tritt. Es gilt also nunmehr den Gründen dieses Umschwunges nachzuspüren. Zu diesem Behufe müssen wir auf die Muttergruppe der Urzeit zurückgehen.
An sich — dies bedarf wohl keines besonderen Nachweises — besass die auf Mutter und Kinder beschränkte Familie nicht die Fähigkeit, sich über den natürlichen Zuwachs hinaus zu erstrecken. Niemals vermochte selbst eine Vereinigung solcher Gruppen kriegerisch oder gar fremde Gemeinwesen unterjochend aufzutreten. Dies konnte bloss das Werk der starken Männerarme sein, welche in der mutterrechtlich geordneten Geschlechtsgenossenschaft vorhanden waren. Ihrer Hilfe konnte diese um so weniger entbehren, als, wie schon bemerkt, die ursprünglichen Gruppen der Menschen zumeist in feindlichen Beziehungen zueinander standen, wobei Reibungen und Kämpfe an der Tagesordnung waren. Der fechtende Teil waren aber naturgemäss die physisch stärkeren Männer, welche, jagdgewohnt, im Gebrauche der Waffe Übung erlangt hatten. Sie waren es, welche einen feindlichen Überfall von der ganzen Geschlechtsgenossenschaft abwehrten, und im Augenblicke der Gefahr sahen die Mütter mit ihren unerwachsenen Kindern sich zu ihrem[S. 276] Schutze auf den kräftigen Mannesarm angewiesen. Man begreift, dass damit, besonders je mehr die Geschlechtsgenossenschaft anwuchs, allmählich und ganz unmerklich in dem Verhältnisse der beiden Geschlechter zueinander eine gewisse Veränderung sich vollzog, welche die herrschende mutterrechtliche Familienorganisation zunächst allerdings noch unangetastet liess. Aus dem angedeuteten Verhältnisse des Schutzes entwickelte sich nämlich ein politisches Übergewicht des Mannes, insoferne mehrere oder auch nur einer, etwa ein glücklicher Anführer, an die Spitze der Geschlechtsgenossenschaft als deren Häuptling trat und deren Interessen gegen die Aussenwelt schützte. Zuerst war dieser wenig mehr als ein blosser „Feldherr“, der nur im Kriegsfalle wirkliche Bedeutung besass; in die inneren Angelegenheiten der Geschlechtsgenossenschaft, der Horde oder des Stammes redete er nicht drein und hatte dazu auch keine Veranlassung. Beschränkten sich dieselben doch vorerst auf die geringfügigen Dinge, welche die Muttergruppen bewegten, und in diesen war es ja die Mutter selbst, welcher die Sitte die erste und entscheidende Stelle anwies. Nach aussen hin besass die ihrer innersten Natur nach friedfertige mutterrechtliche Organisation keine Kraft und so konnte es wohl kommen, dass sich aus dem ursprünglichen einfachen Anführer im Kriege ganz allmählich ein ständiger Stammeshäuptling herausbildete, der dann weit später, nachdem der blosse Stammesverband endlich zu den Anfängen eines Staatswesens gelangt, wohl auch in die wichtigsten inneren Angelegenheiten eingriff. So sehen wir in einigen Staaten Indiens einen Mann an der Spitze des Staatswesens, hinter ihm nimmt aber, als Mahnung an einstige Zustände, eine fürstliche Mutter den Ehrenplatz ein. Bei den Marutse in Südafrika geniesst die erste Königin die grösste Achtung im Volke und führt den Ehrennamen „Mutter des Reiches“,[571] und im Reiche des Muata Jamwo ist die oberste Würdenträgerin die jedesmalige Lukokescha, eine unverheiratete Dame, oft recht lockeren Lebenswandels, welche, so lange das Lundareich schon besteht, unum[S. 277]schränkt und tributfrei neben dem Muata Jamwo regiert. Sie gilt als Mutter aller Muata Jamwo und deren Familien, und hat bei der Neuwahl eines solchen zu entscheiden.[572] Deutlich erkennt man darin einen Nachklang jener ferneren Tage, als der Mann gewissermassen nur der bestellte Verteidiger des mütterrechtlich aufgebauten Gemeinwesens war.
Die Heranbildung der Horde, des Stammes zu staatlicher Gliederung, möge man sich dieselbe so ursprünglich als möglich denken, fand ihre nächste Ursache in dem Anschwellen der Kopfzahl, welches seinerseits das Zerfallen der Geschlechtsgenossenschaft in besondere Familiengruppen oder Clans zur Folge haben musste. Damit waren die Bedingungen für ein, selbstredend denkbar einfachstes, Staatswesen gegeben. So lange die Muttergruppen sich der schwachen Kopfzahl wegen nicht sonderten, fiel die Geschlechtsgenossenschaft mit der Horde, dem Stämmchen zusammen, und es gab ausser den alle im gleichen Masse berührenden Interessen keine anderen. Die wachsende Kopfzahl und dadurch bedingte Verdichtung der Stammesgenossen gab aber zugleich zu vermehrten Bedürfnissen, d. h. zur Erhöhung der Gesittung Anlass. Diese bekundete sich in den Fortschritten auf dem Gebiete der Gerätschaften und Waffen, welche den Kampf ums Dasein mit der Aussenwelt siegreicher aufzunehmen gestatteten. Aber diese Fortschritte kamen in erster Linie dem Manne zu gute, der sich indes eben dadurch auch zu einer veränderten Lebens- und Ernährungsweise gedrängt sah. Auf solche Pfade vermochte das Weib ihm nicht zu folgen, und sehr mit Recht erblickt Julius Lippert in dieser vor ihm gar nicht beachteten Differenzierung der Geschlechter nach ihrer Ernährungsweise einen wichtigen Markstein in der Kulturentwicklung. Des Weibes Nahrung blieb im Boden wurzeln, der Mann schleppte aus der Ferne die erlegte Jagdbeute herbei, deren Bereitung am Feuer der mütterlichen Hütte naturgemäss dem Weibe anheimfiel. Denn sie war die Gründerin, die Besitzerin des wohnlichen Obdachs, die Hüterin und Bewahrerin der unentbehrlichen Flamme, an welcher der Mann als Sohn oder[S. 278] Gatte sich nur zu Gaste setzte. Heute noch ist bei den meisten Völkern das Aufrichten der Hütte, das Abschlagen und Fortschaffen der Zelte, sowie das Anmachen des Feuers fast ausschliesslich Sache der Frau, — die Beispiele dafür sind Legion — und sogar unsere eigene höchstgestiegene Gesittung überlässt noch vorzugsweise der Hausfrau die innere Ausstattung der Wohnung. Diese Verrichtungen, so natürlich sie auch aus den mutterrechtlichen Anschauungen hervorwuchsen, schlossen indes ganz von selbst auch ein Dienen in sich, ein Dienen, welches die lange Dauer der Sitte schliesslich in Dienstbarkeit verwandelte. Als es zur Bildung besonderer Familiengruppen oder Clans innerhalb des Stammes kam, war es nur natürlich, dass, wie der ganze Stamm nach aussen im Häuptlinge Vertretung fand, so auch jede einzelne Gruppe einem ihrer männlichen Blutsverwandten sich zum Schutze anvertraute und dass auch hier aus dem ursprünglichen Beschützer allmählich ein Oberhaupt ward. Es ist nicht notwendig, dass dieses Oberhaupt der Gatte der Mutter, der erzeugende Vater gewesen sei, weit öfter fiel die Rolle wohl dem Mutterbruder, dem Oheim zu, welcher die Dienstbarkeit des Weibes endlich in Abhängigkeit verwandelte. Die Herrschaft, welche dieses männliche Oberhaupt nunmehr übte, war aber eine wesentlich verschiedene von der Thätigkeit des Stammeshäuptlings. Dieser war ausschliesslich Kriegsführer, dessen Gewalt im Frieden erlosch. Das Oberhaupt des Clans dagegen ist der Friedensfürst des Geschlechts, dem er durch Blutsverwandtschaft angehören muss,[573] der Sachem der Indianer Nordamerikas. An der Spitze des Clans ist dieser Friedensfürst der Vorgänger des späteren „Königs“, an der Spitze der Familie jener des späteren „Vaters“. Seine Herrschaft über das Weib wird um so fühlbarer als dieses sich mehr auf ihn angewiesen sieht, ohne entsprechende Gegenleistungen in die Wagschale werfen zu können. So gestaltete sich das Mutterrecht, ohne deswegen aufzuhören der Grund- und Eckstein der gesellschaftlichen Ordnung zu sein, in ein eigentliches Pflichtverhältnis des Weibes um, wonach die Begriffe einer angeblichen Gynaiko[S. 279]kratie oder Frauenherrschaft entsprechend zu berichtigen sind. Nur wo die Frau zum Landbau fortschritt und den Ertrag der Felder der männlichen Jagdbeute gegenüberstellen konnte, da ist sie auch länger Herrin im Hause geblieben, da entwickelte sich das Mutterrecht zum Matriarchate, welches deshalb vorwiegend bodenbebauenden Stämmen eigen ist.
So ging auf ganz natürlichem Wege und noch völlig auf dem Boden des Mutterrechtes der grössere Teil der ursprünglichen mütterlichen Herrschaft auf den Mann über, und zwar vollzog sich dieser Vorgang, wenn auch vielleicht weniger rasch und vollständig, eben so innerhalb der Stufe des Matriarchats als ausserhalb derselben. Denn auch in der matriarchalischen Familie liegt immerhin eine grosse Machtfülle beim Manne, wenngleich er kein eigentliches Familienglied ist und neben ihm das Weib vieles an Freiheit und Rechten aus der mutterrechtlichen Urzeit gerettet hat. Bei Stämmen, welche niemals zum Matriarchate gelangten, fand die Ausbildung der Männerherrschaft natürlich noch viel weniger Hindernisse. Am frühesten und vollständigsten wird sie sich dort vollzogen haben, wo der Erwerb des Weibes völlig gegen jenen des Mannes zurücktrat, wie bei solchen Völkern, denen die Bändigung nahrungspendender Tiere geglückt war und welche damit viehzüchtende Nomaden wurden. Nicht mehr wie in der Urzeit sah der Mann eine Nötigung als beitragendes Mitglied in das Hauswesen der Frau einzutreten, um an dessen Vorzügen einen Anteil zu gewinnen, sondern umgekehrt suchte der Mann das Weib für den Eintritt in sein Haus zu gewinnen.[574]
Ein passendes Mittel dazu bot ihm unter andern der Frauenraub, dessen schon in einem früheren Abschnitte gedacht wurde. Auf dem Wege des Raubes mochte der Mann so viele Weiber überwältigen und bei sich behalten, als er wollte oder konnte. Nächst seinem Belieben, waren es nur seine physische Stärke und sein Ansehen im Stamme, was die Anzahl seiner Weiber bestimmte. So darf man im Frauenraub die erste Grundlage einer geregelten Vielweiberei erblicken, weshalb er eine genauere Erörterung verdient.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Sitte, fremde Weiber sich gewaltsam anzueignen, zu rauben, in Urzeiten eine stark verbreitete gewesen. Je genauer ein Volk bekannt wird, desto mehr Spuren dieses Gebrauches pflegen an den Tag zu kommen, so dass Lothar Dargun den Frauenraub für eine normale Stufe des Familienrechtes erklärt, welche überall vorausgesetzt werden dürfe, wo nicht besondere Gründe dagegen streiten.[575] Dennoch war der Frauenraub in seiner rohesten Form, ohne Rücksicht auf den Willen des Weibes und ihrer Stammesangehörigen — ich habe dies schon einmal betont — keine allgemeine Gepflogenheit. Sie blieb zunächst jenen Geschlechtsgenossenschaften fremd, bei welchen die Scheu vor Blutnähe nicht oder wenigstens nicht genügend sich entwickelte, welche daher in der ursprünglichen Inzucht (Endogamie) verharrten. Auch die friedfertigeren, vielleicht richtiger gesagt, die schwächeren Stämme, welche keine oder nur geringe Aussicht auf Beute hatten, blieben notgedrungen Endogamen. Es ist sicher ein Irrtum, wenn man mit Mc Lennan und seinen Anhängern meint, dass Exogamie und Frauenraub auf einer gewissen Stufe bei jeder Rasse des Menschengeschlechts üblich gewesen. Diese Annahme hat Herbert Spencer sehr richtig in ihrer Unhaltbarkeit aufgezeigt,[576] wenngleich er andererseits Bedeutung und Ausbreitung der Sitte zu unterschätzen geneigt scheint. Denn jene Stämme, welche infolge der Scheu vor Blutnähe exogame Gewohnheiten angenommen, besassen bei dem herrschenden Zustande allgemeiner Feindseligkeit zwischen den Geschlechtsgenossenschaften im Anfange gar kein anderes Mittel, stammfremde Weiber zu erwerben, als die Gewalt, den Raub.
Im Gegensatze zu jenen Forschern, welche die Exogamie ursächlich aus dem Frauenraube herleiten, wie Mc Lennan und Sir John Lubbock,[577] habe ich dieselbe mit Moritz Wagner aus dem Erwachen eines jüngeren Instinktes, der Scheu vor Blutnähe erklärt. Frauenraub, in diesem Lichte betrachtet, erscheint somit als eine Folge, nicht als Veranlassung der Exogamie. Dass[S. 281] er indes lediglich durch jene Scheu hervorgerufen worden, soll durchaus nicht behauptet werden. Mancherlei Umstände werden wohl ganz von selbst zum Frauenraube geführt haben. Auf der Nomadenstufe war es, wie Lippert sehr glaubhaft gemacht hat, Erwerbsbegier, welche geradezu Frauenraub bei fremden Stämmen veranlasste. Hatte doch auch der Nomadenstamm von Haus aus seine eigenen Weiber mit ihren mutterrechtlich geordneten Gruppen, in welchen es nichts zu erwerben gab, da alles schon seinen Herrn hatte. Erwerb konnte also nur von aussen kommen, d. h. auf dem Wege gewaltsamer Aneignung, des Raubes stammfremder Menschen, sei es Mann oder Weib. Dazu bot die Feindschaft der Stämme und Geschlechtsverbände die erwünschte Handhabe. Zu allen Zeiten und überall hat der Sieg eine Plünderung und Beraubung zur Folge. Das Mitnehmen der Weiber, darin ist Spencer beizupflichten, war also zunächst nur ein Teil dieser allgemein üblichen Ausplünderung des Besiegten,[578] und wo exogame Neigungen im Entstehen oder in der Entwicklung begriffen waren, — was jedenfalls ungemessene Zeiträume beanspruchte — konnte der Erwerb solcher stammfremder Weiber nur befestigend auf jene Regungen wirken. Offenbar war Frauenraub lange Zeiten hindurch eine Nebenerscheinung des siegreichen Krieges. Da nun, wie gezeigt, das Weib auch auf dem Boden der mutterrechtlichen Einrichtungen thatsächlich schon in der Gewalt des Mannes sich befand und dieser sich nach aussen zu dessen „Mundwalt“ aufwarf, so hatte, wer einem fremden Stamme ein Mädchen oder eine Frau raubte, die Rache ihrer männlichen Stammesgenossen, zunächst des Oberhauptes ihrer Muttergruppe, zu befürchten. Für den Stamm, dem das geraubte Weib angehörte, namentlich aber für dessen Blutsverwandte, bedeutete nämlich die Entführung nicht bloss einen frevelhaften Eingriff in ihre Rechte, da ja bloss die Stammes- oder Hordenglieder Anspruch auf den Genuss der zur Geschlechtsgenossenschaft gehörenden Weiber hatten, sondern obendrein — wie der scharfsinnige G. A. Wilken bemerkt und wie ich für eine etwas fortgeschrittenere Gesittungsstufe gelten lassen[S. 282] will — eine schwere Beleidigung, eine Beschimpfung der Stammesehre. Eine jede solche Gewaltthat rief also wieder einen Rachekrieg hervor. Noch bis vor kurzem gab zu Gross-Bassam an der Guineaküste Weiberraub in der That dann und wann Veranlassung zu einem Kriege, wie der spätere Admiral Fleuriot de Langle in seinen Tagebüchern verzeichnet,[579] und General Campbell sagt ganz ausdrücklich von den indischen Khond, einem noch recht rohen Stamme, dass sie die Wegnahme, den Raub eines ihrer Weiber als eine Beleidigung ansahen, welche, wenn dafür nicht Genugthuung geleistet wurde, die Bekriegung des raubenden Stammes zur Folge hatte.[580] Die vornehmste Beute in einem solchen Kampfe waren natürlich wieder Weiber.
In der geschilderten rohen Gestalt konnte der Frauenraub wohl nur den ersten Perioden der aufkommenden Exogamie angehören; er reicht in eine äusserst altertümliche Stufe menschlicher Entwicklung zurück, worauf der Umstand hinweist, dass er bei noch sehr rohen Völkern mit rein erhaltenem Mutterrecht nur mehr als Rudiment auftritt. Im wesentlichen zur selben rohen Art der Beweibung gehören die Ringkämpfe um Weiber, welche ebenfalls die Nichtachtung des Willens des Mundwalts der Frau in sich schliessen. Jedenfalls waren beide, Ringkampf wie Frauenraub, bloss Nebenerscheinungen der ältesten Exogamie, nur eines der Mittel, wodurch sie ihre Zwecke zu erreichen suchte. Dasselbe führte indes nur sehr langsam zum Ziele. Denn eine kurze Überlegung lehrt, dass in diesen Urfehden der Stämme nicht jedermann sich ein Weib erbeuten konnte. Eine gegenteilige Annahme würde zu der von Spencer mit Recht gegeisselten Voraussetzung leiten, dass innerhalb einer Gruppe von Stämmen jeder derselben sich der Aufgabe widmete, seine Weiber aufzuziehen, damit die benachbarten Stämme sie stehlen können.[581] Wer nun kein Weib erbeutete, dem blieben doch nur die Frauen der eigenen Geschlechtsgenossenschaft übrig. Damit ergiebt sich aber eine[S. 283] von der üblichen wesentlich verschiedene Auffassung der Exogamie. Wir ersehen, dass dieselbe vorerst auf einzelne in der Geschlechtsgenossenschaft, auf die Tapfersten, auf die vom Glücke Begünstigsten, beschränkt blieb und dass endogame Beweibungen lange neben dem Frauenraube einhergehen mussten. Je häufiger der Weiberraub wurde, desto seltener mussten freilich die seinetwegen geführten Fehden werden; denn obgleich der Raub einer Frau nicht aufhörte in der öffentlichen Meinung für einen Schimpf zu gelten, so gelangte man doch endlich auf die Bahn eines stillschweigend geschlossenen Vertrages, und es entspinnt sich unter den beibehaltenen Formen des Gewaltsamen ein „Konnubium“ zwischen benachbarten Stämmen.[582] Die Entführung des Weibes zog nicht mehr Krieg nach sich, sondern die Rache der Verwandten äusserte sich darin, dass sie sich gegebenenfalls in ganz gleicher Weise bei dem Räuberstamme entschädigten. Der Weiberdiebstahl wurde eben gegenseitig. Erst wenn auf diese Weise, welche allerdings der Frauenraub eingeleitet hat, so viel fremde Weiber dem Stamme zugeführt waren, dass es zur Bildung des Clans kommen konnte, vermochte auch die Exogamie im Stamme allgemein und so fest sich einzubürgern, dass sie die Kraft eines Kultgebotes gewann. In diesem ihrem späteren Stadium bedarf sie jedoch des Frauenraubes nicht mehr oder doch nicht mehr als Regel. Folge des herrschenden Mutterrechtes ist es ja, dass die Kinder der fremden Weiber dem Stamme der Mutter angehören, also innerhalb des Stammes doch stammfremd bleiben. Sind nun einmal derart viele Mädchen fremden Blutes im Stamme, so hört dieser auf, eine Geschlechtsgenossenschaft zu sein, und es kann aus diesen jedermann, ohne die exogamischen Gesetze zu verletzen, ohne jeglichen Raub, eine oder mehrere Genossinnen sich zugesellen.
Im Wesen aller menschlichen Dinge liegt es nun, dass sie sich wandeln, dass sie alle gewissermassen nur eine Durchgangsphase sind und schliesslich zu etwas ganz anderem werden, als in der Zeit ihrer Entstehung, ja oft gerade dem umgekehrten[S. 284] Zwecke dienen. So ging es auch mit dem Frauenraube und den damit verknüpften Einrichtungen; nicht gleich zu Anfang, sondern erst in späterer Folge. Indem der Clan ihm sein Entstehen verdankt, diente er anfänglich zur Befestigung der exogamischen Einrichtungen und zur Verbreitung des Mutterrechtes, allmählich aber vernichtete er die Selbständigkeit des Weibes und untergrub das Mutterrecht. Wo gegenwärtig der Frauenraub üblich ist, erscheint er gewöhnlich mit Vielweiberei verbunden[583] und diese Neigung hat er, wie erwähnt, von allem Anbeginne besessen. In der ursprünglichen, auf Blutverwandtschaft beruhenden, mutterrechtlichen Geschlechtsgenossenschaft fehlte es nicht an polygynischen Verbindungen, welchen indes, bei der Ungebundenheit der beiden Geschlechter, wohl kaum weniger polyandrische gegenüberstanden. Auch an monogynen Verhältnissen mag es vorübergehend nicht gefehlt haben; sie alle aber trugen den Charakter der Flüchtigkeit, der Unbeständigkeit. Wenn daher Herbert Spencer sich an dem Nachweise abmüht, dass Einweiberei „so weit zurückreiche wie jedes andere eheliche Verhältnis“,[584] so ist dagegen nichts einzuwenden, falls man diese Bündnisse des Augenblicks oder einer kurzen Weile als „eheliche“ Verhältnisse und als Polyandrie, Polygynie und Monogynie oder gar wie er als Monogamie bezeichnet. Allein eine geschichtlich berechtigte Auffassung ist dies nicht. Wir wenden die gedachten Benennungen mit Recht zur Kennzeichnung bloss solcher Zustände an, in welchen eines dieser Verhältnisse das herrschende und zugleich dauernde, wenn auch nicht buchstäblich allgemeine geworden. Solches ist für die urzeitliche Geschlechtsgenossenschaft durchaus nicht erweislich, auch völlig unwahrscheinlich. Das Herrschendwerden eines dieser Verhältnisse in diesem Falle der Vielweiberei, innerhalb der Geschlechtsgenossenschaft, musste demnach von einschneidenden Folgen sein. Geriet infolge des benötigten Schutzes das Weib in die Dienstbarkeit des Mannes, so übte dieser doch in der Familie noch keine eigentliche Herrschaft über die Geschlechtsgenossin[S. 285] aus. Ganz anders gestaltete sich die Sache mit den durch Raub oder Konnubium zugeführten stammfremden Weibern. Eine Kriegsgefangene, wie die Fremden anfänglich alle waren, nahm eine Ausnahmestellung ein, denn der Stamm, die Geschlechtsgenossenschaft hatte keinen Anspruch an sie. Sie fiel nicht in die Gemeinschaft des betreffenden Stammes, sondern blieb ihrem Räuber, welcher über alle derart erworbenen Frauen eine wahre Herrschaft ausübte. Ein Herrschaftsverhältnis ist daher mit Kautsky[585] in der geregelten Vielweiberei zu erkennen. Beim Nomaden ging es sogar noch über jenes blosser Herrschaft hinaus. In sehr durchdachter Weise hat Lippert gezeigt, wie der am lebenden Tiere sich festhakende Eigentumsbegriff den Wanderhirten auf die Bahn des Erwerbs, d. h. der Vermehrung seines Eigentums, leitet und wie ihm auch der Mensch zum Gegenstande des Besitzes wird. Der Kriegsgefangene fällt nicht mehr grausamer Vernichtung anheim, sondern wird als „Sklave“ dienstbares Eigentum seines Überwältigers. Ganz ähnlich erging es dem erbeuteten Weibe, welches — weil es zunächst in kein Verhältnis zum Stamme des Räubers treten konnte und von der Blutverwandtschaft ausgeschlossen blieb — dem Manne als persönliches Sondereigentum zufiel und selbst ein Gegenstand des Besitzes ward. Auch bei den Nichtnomaden, soferne sie nur Frauenraub übten, erwuchs dadurch nach einer Entwicklung von unberechenbarer Dauer das Eigentum am Weibe, indem die allmähliche Entwicklung des Privateigentums die Herrschaft über das Weib in ein Eigentumsverhältnis verwandelte, d. h. in ein vom Gemeinwesen geschütztes und gewährleistetes Herrschaftsverhältnis. Erst diese Gewähr des Privatbesitzes macht ihn zum Privateigentum, und erst diese letzte Stufe des Privateigentums am Weibe stellt einen Begriff dar, der jenem unserer „Ehe“ einigermassen entspricht.[586] Eine „Ehe“ wurde aus diesem Besitzverhältnisse allerdings nur dadurch, dass endlich die Stellung der Mutter vom Boden des Mutterrechtes aus auf die erworbene stammfremde Frau übertragen wurde; im andern[S. 286] Falle sonderte sich von der Frau die „Kebsin“ und die „Sklavin“. Weil nun der Mann im Besitze des Weibes ist, darum gehören auch deren Kinder als ihre Frucht in sein Eigen. So entsteht ein neuer Begriff, jener des „Vaters“ als desjenigen Mannes, der die Herrschaft über eine Gruppe ihm eigentümlich zugehörender Menschen übt. Der Vater in diesem Sinne ist der „Herr“, der „Patriarch“.[587] Die Vorstellung des „Erzeugers“ ist damit aber noch nicht verknüpft.
[571] E. Holub. Kulturskizze des Marutse-Mambundareiches (Mitteil. der k. k. geographischen Gesellsch. in Wien. S. 40.)
[572] Dr. Paul Pogge. Im Reiche des Muata Jamwo. Berlin 1880. S. 227.
[573] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 79.
[574] A. a. O. S. 82.
[575] Dargun. Mutterrecht und Raubehe. S. 111.
[576] H. Spencer. Die Prinzipien der Soziologie. Bd. II. S. 210–215.
[577] Lubbock. Entstehung der Civilisation. S. 83.
[578] Spencer. Die Prinzipien der Soziologie. Bd. II. S. 217.
[579] Globus. Bd. XXV. S. 197.
[580] John Campbell. A Personal Narrative of thirteen years service among the wild tribes of Khondistan. London 1864. S. 43.
[581] H. Spencer. A. a. O. Bd. II. S. 227–228.
[582] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 92.
[583] H. Spencer. A. a. O. Bd. II. S. 213.
[584] A. a. O. S. 271.
[585] Kautsky, im Kosmos. Bd. XII. S. 264.
[586] A. a. O.
[587] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 82–86.
uf dem langen Entwicklungsgange vom Mutterrecht zum Vaterrechte oder, was dasselbe ist, von der Freiheit zur Knechtung des Weibes, begleiten uns zahlreiche Überreste des alten Frauenraubs, welchen eine weit grössere Zähigkeit innewohnt, als denen des Mutterrechtes selbst. Denn es haben sich bei einer Unzahl von Völkern Symbole des Frauenraubs, wie aus Darguns umfassenden Untersuchungen hervorgeht, in aller Klarheit bis tief in die Periode der Agnation erhalten und sind, nachdem vom Mutterrecht fast keine Spur mehr erkennbar geblieben, zum Teil durch Jahrhunderte hoher Gesittung bis auf die Gegenwart überliefert. In der Geschichte dieser „Raubsitte“, wenn man so sagen darf, lassen sich nun wieder deutlich verschiedene Stufen einer Entwicklung verfolgen, in welcher die Bedeutung derselben sich immer mehr abschwächt und schliesslich völlig verliert.
Die erste, ursprünglichste Stufe, den einfachen brutalen Raub, bei welchem der Wille weder des entführten Weibes, noch seines männlichen Stammes-, Clan- oder Familienoberhauptes irgendwie in Frage kommt, wurde im vorhergehenden Kapitel besprochen. Als nun diese gewaltsame Entführung fremder Weiber wegen ihres hinlänglichen Anwachsens innerhalb der Niederlassungen nicht mehr so notwendig ward, änderte sich die Natur des Raubes. Noch blieb er ein wesentlicher Teil der Beweibung, nur wurde er[S. 288] bloss noch zum Scheine ausgeführt, d. h. nachdem man über die Verbindung schon übereingekommen, folgte dem Gebrauche nach der Raub oder die Entführung als eine blosse Formsache, gewissermassen um „das Geschäft perfekt zu machen“. Der Raub ist bloss noch ein Symbol, aber nicht in dem Sinne Lubbocks, um die Rechte des Mannes zu beschränken, dem das Mädchen fortan angehören sollte.[588] Wo das Geschlechtsleben noch nicht über die ursprünglichen Muttergruppen fortgeschritten war, konnte kein Mann, darin hat Lubbock Recht, ein Mädchen der Geschlechtsgenossenschaft für sich allein in Anspruch nehmen, ohne die Rechte des ganzen Stammes zu verletzen, besser gesagt ohne allgemeine Eifersucht zu erwecken. Lubbock übersieht aber, dass das stammfremde (allophyle) Weib, wie schon entwickelt wurde, nicht in die Gemeinschaft des betreffenden Stammes, sondern in das Sondereigentum ihres Räubers fiel, es also nicht erst eines eigenen Symbols bedurfte, um seine ausschliesslichen Rechte auf ihre Person seinen Stammesgenossen gegenüber an den Tag zu legen. Aus diesem Grunde muss Lubbocks Deutung des zeremoniell gewordenen Frauenraubes als ungenügend beiseite geschoben werden. Die Gründe, warum der Raub als Zeremonie sich erhielt, sind anderswo zu suchen.
Es wurde schon erwähnt, dass stillschweigend zwischen benachbarten Stämmen allmählich auf die Rachefehden wegen erfolgten wirklichen Frauenraubes verzichtet wurde; die alte Auffassung desselben als Beschimpfung erhielt sich aber auch dann noch, als die Beziehungen zwischen den einzelnen Stämmen sich allmählich freundlicher gestalteten, als die gegenseitige Entführung von Weibern eine stillschweigend anerkannte und gebilligte Beweibungsform geworden war. Allerdings gelangte man auf diesem Wege zum Systeme der Beilegung (Composition) des verübten Raubes durch bestimmte Gegengaben und von diesen war nur noch ein kleiner Schritt bis zu einer solchen Abmachung vor dem Raube.[589] Allein es ging nicht an, selbst bei allseitigem Einvernehmen, von der Genugthuungs[S. 289]forderung abzustehen; dies musste wenigstens zum Scheine geschehen. Ihren Stammesgenossen gegenüber mussten die Eltern des Mädchens den Anschein wahren, als ob nicht freiwilliger Verzicht, sondern bloss List oder Gewalt ihre Tochter in den Besitz des fremden Mannes gebracht hätte. So entstand die Scheinentführung und der dabei durch die Anverwandten an den Tag gelegte heftige Widerstand, so die Gewohnheit dieser letzteren, über die Heirat, als über eine ihnen zugefügte Beleidigung, sich aufgebracht und entrüstet zu geberden. Einmal aufgekommen, erhielten sich sodann beide Gebräuche bei vielen Völkern im Wege der Überlebung. Aber nicht bloss bei der Heirat, sondern noch nachher gab man sich den Anschein, die erlittene Beleidigung nicht gleichgültig hinzunehmen. Anstatt den Schwiegersohn freundlich zu behandeln, begegnete man ihm mit der ganzen unwirschen Kälte, welche einer Person gegenüber am Platze ist, von der wir einmal einen Schimpf erfahren haben. Das Verhältnis zwischen beiden Teilen nahm zuweilen dadurch in Wirklichkeit einen wenig freundlichen Charakter an, besonders jenes des Schwiegersohnes zur Schwiegermutter, wozu für letztere ein ganz besonderer Grund vorlag.
Die Männer waren es zweifelsohne, welche das System der Beilegung begünstigten, weil dieses ihren eigenen Interessen zu gute kam. Aber dass sie, um irgend einen Vorteil sich verständigend, ihre Schutzpflicht versäumten und Frieden machten, also den Raub gewähren liessen, das war ein erstes Durchbrechen der mutterrechtlichen Familien- und Gesellschaftsordnung. Den gebotenen Vorteil verwendeten sie in ihr persönliches Eigentum, und indem sie so die Blutrache aufgaben, blieb diese auf der im Stiche gelassenen und unversöhnten Mutter allein noch lasten, doch unvollstreckt. Drum wurde die Mutter als „Schwiegermutter“ ein lebender Protest der neuen Ordnung, und zwischen ihr und dem Schwiegersohne, dem Räuber ihrer Tochter, dauerte die unversöhnte Feindschaft fort.[590] Dies Lipperts Erklärung, welcher man sich wohl durchaus anschliessen darf. Eine Erinnerung an diese Zustände lebt offenbar in den Sprichwörtern fast aller[S. 290] Völker fort, worin die Schwiegermutter in ein nichts weniger als günstiges Licht gestellt wird. Gesittete und ungesittete Völker haben an der Schwiegermutter etwas auszusetzen, ja bei einigen sind beide Teile völlig voneinander geschieden und geraten niemals in Berührung miteinander, ein Brauch, der fast identisch in Amerika, Afrika und Australien sich nachweisen lässt.[591] Begegnen sie in Australien einander, so versteckt sich die Schwiegermutter im Busch oder Grase, während der Schwiegersohn den Schild vor das Gesicht hält. Karl Emil Jung versichert, selbst auf Missionsanstalten, wo die schwarzen Zöglinge eine Stufe erreicht haben, welche sie über die niedrigste Klasse der Weissen stellt, sei diese Sitte noch nicht völlig verschwunden.[592] Auf den Banksinseln wird desgleichen die Schwiegermutter möglichst gemieden, wie sie auch selber es meidet, den Schwiegersohn anzusehen; gegenseitige Unterhaltung aus einiger Entfernung bei abgewandten Gesichtern bleibt jedoch erlaubt. Begegnet man sich zufällig im Walde, so geht derjenige, dem es am bequemsten ist, aus dem Wege. In Vanua Lava vermeidet man es sogar in die Fusstapfen der Schwiegermutter, bezw. seitens dieser in die des Schwiegersohnes, zu treten. So berichtet M. Eckardt.[593] Auch am Gabun in Afrika darf kein Mann seine Schwiegermutter ansehen oder mit ihr reden, bei Strafe einer sehr schweren Geldbusse, und die Somal in Ostafrika rechnen es der Schwiegermutter zur grossen Schande an, wenn sie sich sehen lässt, eine Vorschrift, welche den Neid nicht weniger Europäer zu erregen geeignet sein dürfte.
Auf der Stufe des Scheinkampfs finden wir den Frauenraub, die Entführung der „Braut“ durch den „Bräutigam“, wenn man diese Benennungen anwenden darf, bei mehreren der fortgeschritteneren Australierstämme, den Bewohnern der Westküste Neuguineas, den Torres- und Vitiinsulanern und einigen grösseren[S. 291] Stämmen Afrikas, am häufigsten bei jenen, welche vorwaltend Viehzucht treiben, unter andern bei den Kaffern und den Negern Senegambiens; ferner in Südamerika nebst andern bei den Araukanern und Pescheräh. Jede andere Heiratszeremonie vertritt sie bei manchen Lappenstämmen, bei den Völkern des Kaukasus, den Korjäken und Kamtschadalen, Tungusen und Samojeden, bei den Batta auf Sumatra. Innerasien, die alte Heimat des Nomadentums, hat bei Kalmücken und Mongolen ebenfalls die Formen der Raubsitte treu bewahrt. Eine solche „Raubform“ ist ferner bei den Metsch und Katschari in den östlichen Duar Bengalens üblich. Der Bräutigam begiebt sich mit einer Schar seiner Freunde nach dem Hause der Braut, deren Freunde auch versammelt sind. Ein Scheinkampf entbrennt nun, in welchem die letzteren die Braut zu verteidigen suchen. Die Partei des Bräutigams siegt aber und entführt das Mädchen. Eine Mahlzeit und ein Geldgeschenk versöhnen nachher die scheinbar erzürnten Gefährten sowie den aufgebrachten Vater der Braut.[594]
In Ostafrika kommt die Raubform, wie Jos. Thomson meldet, bei den Wateita vor. „Wenn ein Mteita heiraten will, so bringt er die Verhandlungen mit dem Vater nach Negerbrauch in Ordnung, d. h. er kauft sich die Braut für drei Schafe oder vier Kühe. Nachdem diese wichtige Sache abgemacht ist, läuft das Mädchen weg und verbirgt sich bei entfernten Verwandten, bis ihr Bräutigam das Versteck findet und sie einfängt. Er sucht sich dann einige Freunde, welche sie zu ihrer künftigen Wohnung zurücktragen, indem zwei Mann sie bei den Beinen, zwei bei den Armen in Höhe ihrer Schultern tragen, wobei viel gesungen und getanzt wird. Die vier Mann, welche das Mädchen tragen, sollen auf ganz eigene Art belohnt werden.“[595] Diese diskrete Angabe ergänzt H. H. Johnston dahin, dass jeder der vier Häscher berechtigt ist, das besondere Vorrecht des Ehemannes auszuüben.[596][S. 292] Bei den Adighe im Kaukasus tragen sich nach Fr. von Bodenstedt die Dinge folgendermassen zu: „Sind alle vorgeschriebenen Bedingungen erfüllt, so hat der Bräutigam seine Auserkorene heimlich aus dem Elternhause zu entführen. Durch Einverständnis mit der Dienerschaft sucht er sich Eingang in das geweihte Gemach zu verschaffen, wo die Braut, in kostbare Gewänder gehüllt und von Kopf bis zu Fuss mit der blendend weissen Tschadra umschlungen, ihrer Erlösung entgegen harrt. Je mehr sie bei der Entführung sich sträubt, jammert und spröde thut, für desto reiner und jungfräulicher wird sie gehalten. Gewöhnlich schreit sie beim Eintritt des Geliebten laut auf und ringt so lange mit ihm, bis ihre Brüder oder ihre Verwandten auf den Lärm herbeieilen; es entspinnt sich dann ein kurzes Scheingefecht, wobei der Bräutigam von seinen vor der Thür lauernden Freunden unterstützt wird, bis es ihm gelingt, sich der kostbaren Beute zu bemächtigen und auf mutigem Rosse mit ihr davon zu jagen.“
Schilderungen dieser Art mögen Herbert Spencer verleitet haben, den Widerstand des Weibes als einen Grund für das Entstehen des Scheinraubes zu erklären.[597] Er wäre dann nichts weiter als ein von den Frauen selbst gerne ergriffenes Mittel, um aus einem Gefühl sittlicher Scham oder Verlegenheit sich den Anschein zu geben, als ob sie nicht aus freier Wahl, sondern bloss durch Gewalt dem Manne folgten. Ich kann in dieser Auffassung dem britischen Soziologen nicht beistimmen. Die Sitte der Scheinentführung ist augenscheinlich um vieles älter, als das Erwachen der erwähnten sittlichen Regungen. Für diese frühen Perioden hiesse es aber das Mass von Keuschheit stark überschätzen, welches gemeiniglich bei ungesitteten Völkern herrscht und die weibliche Sittsamkeit so gut wie ausschliesst. Beispiele anzuführen, ist wohl überflüssig. Das Kapitel über das Schamgefühl und dessen Äusserungen stellt ihrer zur Genüge zusammen. In einer Gesellschaft, wo die Kinder gleichsam unter fortwährenden Szenen des Geschlechtslebens aufwachsen, wo jungfräuliche Keuschheit selbst nicht dem Namen nach bekannt ist, darf man füglich von den Frauen nicht ein so[S. 293] hoch entwickeltes Feingefühl erwarten, dass sie Scham darüber empfinden oder auch nur heucheln sollten, mit dem Manne den Geschlechtsbund einzugehen. Erzählt doch Schweinfurth von den Monbuttu, dass es da Weiber gab, „welche vor aller Welt und selbst in voller öffentlicher Versammlung sich nicht entblödeten, vermittelst einer obscönen Fingersprache und unter Geberden von mehr als plastischer Natur die schamlosesten Anträge an die Fremden zu richten.“[598] Aber auch bei nicht wilden Völkern wäre es voreilig, das Vorhandensein jener zarten Schüchternheit vorauszusetzen, während wir doch nicht nur alle übrigen Äusserungen des Sittlichkeitsgefühles des Weibes bei ihnen vermissen, sondern vielmehr beim letzteren das Verlangen nach dem Manne auf eine jene Eigenschaft geradezu ausschliessende Weise zu Tage treten sehen.[599] Das Recht, den jungfräulichen mit dem Frauenstande[S. 294] zu vertauschen wird sogar bei solchen Völkern, welche schon den Mädchen Keuschheit auferlegen, von diesen mit Ungeduld erwartet, das Verlangen darnach unverholen geäussert. Und beherrscht, bei Lichte betrachtet, nicht auch die nämliche Ungeduld, das gleiche Verlangen die weiblichen Kreise der höchstgestiegenen Kulturvölker, nur dass sie sich in veredelter Gestalt, in der erst[S. 295] auf höheren Stufen geborenen Auflassung kundgeben, dass Heiraten und Kinderzeugen die Bestimmung des Menschen auf Erden sei und dass, wer dies unterlässt, seinen Lebenszweck vollkommen verfehle? Die Form also hat sich verändert, das Wesen ist geblieben, musste bleiben einem unwiderstehlichen Naturgesetze zufolge. Rohere Zeiten, rohere Völker fanden noch in geschicht[S. 296]lichen Epochen kein Arg an dem weitverbreiteten Phallusdienste, dessen Spuren seit den Tagen des Fetischismus vereinzelt bis in unsere Gegenwart sich herübergerettet haben.[600] In Indien ward Siwa sogar durch den berühmten „Lingam“ dargestellt, d. h. durch die im Zeugungsakte vereinten Geschlechtswerkzeuge, und fromme Hindufrauen hoher Kaste tragen im Norden des Landes ein solches Symbol am Halse, wie unsere Damen etwa ein Kreuz. Überall aber genoss der Phallus die grösste Verehrung seitens der Frauen und Mädchen, — von ersteren, um eine recht zahlreiche Nachkommenschaft, von letzteren, um bald einen Gatten zu bekommen. In Frankreich stehen heute noch einzelne Phallussteine in hohem Ansehen.
Weit entfernt also, sich gegen die Zumutung einer Heirat zu sträuben, sehen wir vielmehr bei den Mädchen das Verlangen nach möglichst rascher Abschüttelung der Jungfräulichkeit sich in einer Form kundgeben, die mit unseren jetzigen bescheidensten Begriffen von Wohlanständigkeit im Widerspruch steht, indes als unverhohlener Ausdruck eines natürlichen Verlangens keinen Anstoss erregen kann. Gewiss ist aber, dass in solcher Umgebung von einem thatsächlichen Widerstreben des Weibes gegen die Person ihres zukünftigen Gatten als Ausfluss eines sittlichen Schamgefühls nimmer die Rede sein kann, und hiemit zerfällt die Spencersche Erklärung von selbst. Weit wahrscheinlicher klingt Wilkens Deutung, wonach die Entführung, wie durch die Verwandten, so auch vom Mädchen als eine ihm zugefügte Schmach aufgefasst werden musste, und zwar selbst dann, wenn jene Entführung ihren eigenen Wünschen völlig entsprach und etwa gar von dem Manne ihres Herzens ausging. Vor der Welt durfte der Bräutigam nicht das erkorene Wesen, sondern musste eine verhasste, verabscheute Person sein, und auf diese Weise erklären sich gewisse seltsame Gebräuche der Eskimo, Buschmänner, Kaffern, Beduinen, Kalmücken u. a.
Auch den Ariern der Urzeit mag Weiberraub nicht unbekannt gewesen sein. Wenigstens zählt das einer weit späteren Periode,[S. 297] der brahmanischen Zeit, angehörende Gesetzbuch des Manu noch acht Arten der Ehe auf. Eine derselben ist die Rakschasa-Ehe: „Die Entführung eines Mädchens mit Gewalt aus ihrem Hause, während sie weint und schreit, nachdem ihre Freunde und Verwandten in der Schlacht erschlagen oder verwundet und deren Häuser erbrochen worden, ist die Ehe, welche Rakschasa heisst.“ Für die Kschatrya oder Krieger blieb sie die herkömmliche und richtige Eheform auch noch zur Zeit des brahmanischen Manu-Gesetzes und stand höher als zwei andere Formen, die Gandharva und die Paiçâca. Auf ehemaligen Weiberraub deutet ferner die römische Sage vom Raube der Sabinerinnen. Nach dem Gemälde, welches Dr. Dargun auf Grund seiner eingehenden Untersuchungen von Sage und Recht sowie der alten Sitten der Germanen und deren Fortbildung entrollt, war auch bei ihnen Frauenraub einmal eine normale Art der Beweibung. Sie verschafften sich ihre Frauen im Wege der Gewalt, mit Hilfe bewaffneter Freunde, wobei sie mitunter, wenngleich nicht immer, den Willen des Mädchens zu Rate zogen, die Zustimmung seines Gewalthabers aber nicht in Betracht kam. Ein Freier — sobald das Freien überhaupt üblich geworden, — wurde daher noch durch lange Zeit später, mindestens zum Scheine, als Feind der Familie angesehen und behandelt. Häufig genug sah man den Überfall voraus, ohne ihn abwehren zu können; dann suchte man das Mädchen im Hause zu verbergen oder liess es flüchten. Wenn es dem Bewerber nicht gelang, sie zu finden, beziehungsweise einzuholen, so war hiemit die beabsichtigte Ehe vereitelt. Spätere Förmlichkeiten, Scherze und Benennungen der Hochzeit können nur dadurch, und nicht anders, am füglichsten erklärt werden. Dem innigen Verband der damaligen Familie, sowie dem kriegerischen Geiste der Zeit entsprach es, dass sowohl die Verwandten des Weibes, als die übrigen Dorfbewohner dem Angriffe heftigen Widerstand entgegensetzten, ja, dass sie es mitunter — soferne man Sagen und Gedichten als Spiegel der Zeit trauen darf — mit Fleiss auf blutige Kämpfe ankommen liessen, um die Braut nur dem Tapfersten zu teil werden zu lassen. Auch suchten sie die Entführte den Händen des Räubers zu entreissen, jedenfalls aber[S. 298] diesen aufzuhalten und ihm mindestens eine Busszahlung abzuzwingen, bevor sie ihn ziehen liessen. Daher das so weit verbreitete „Hemmen“ und das damit überall verbundene Lösegeld. Da der Hochzeitszug auch sonstigen Gefahren und Belästigungen, die Braut — vielleicht von abgewiesenen Freiern — sogar Beleidigungen ausgesetzt war, trug der erstere vielfach einen kriegerischen Anstrich; man rüstete dazu wie zum Kampfe und liess ihn durch Bewaffnete decken, oder rasch und heimlich vor sich gehen.
Diese Stufe des Scheinraubs wird also hauptsächlich dadurch gekennzeichnet, dass man von der zu übenden Rache Abstand zu nehmen begann und zur Umwandlung des Vergeltungs- oder Racherechts in eine Bussgabe geneigt wurde. Der Räuber verständigte sich hintennach mit dem Gewalthaber der Geraubten und erlegte eine Busse, den „Brautschatz“ oder die „Morgengabe“, welche Lubbock und auch Post irrtümlich mit einer Kaufsumme verwechselt haben. Sie war aber, wie Wilken sehr glaubhaft gemacht, anfänglich nichts anderes als eine Sühngabe, womit der Beleidiger, d. h. der Scheinräuber, seine That gleichsam wieder gut machen wollte. Auch Lothar Dargun gelangt zu dem Schlusse, dass der vom Entführer zu erlegende Wertbetrag, welcher zwar mehrfach als Brautpreis bezeichnet wird, seinem Wesen nach, da er an Stelle der Fehde tritt, Sühngeld ist.[601] Und was zuerst freier Wille gewesen, bloss vom Gutheissen des beleidigten Teiles abhängig, wurde allmählich als Sitte in den völkerrechtlichen Verkehr der Stämme aufgenommen. Die Entwicklung des Strafrechtes bei den meisten Völkern bietet in ihrer Kindheit ähnliche Beispiele dar. Man denke nur an das „Wergeld“ der Germanen. Aber ebenso wenig als man aus dem Wergeld Anlass nehmen konnte, jemanden zu töten, ebenso wenig konnte man aus dem Brautschatze das Recht ableiten, ein Weib zu entführen. Gleich dem Wergelde war der Brautschatz nicht eine Vorbedingung, sondern vielmehr eine Folge der verübten That.[602]
In noch späterer, bequemerer Zeit, welche eine dritte Stufe in der Entwicklungsgeschichte der Raubsitte darstellt, wurde die Entführung nur noch als Hochzeitsposse beibehalten. General John Campbell sah eines Abends in Khondistân einen Burschen auf der Schulter eine Last, in Scharlachtuch gehüllt, davon tragen, verfolgt von einem Haufen Frauen und Dirnen, die ihm Steine, Bambustücke und andere Geschosse nachschleuderten. Es ergab sich dann, dass der Dulder, auf der Hochzeitsreise begriffen, in dem Scharlachzeuge sein junges Weib trug, und das Ganze als Schaustück die Verfolgung eines Frauenräubers bedeutete.[603] Bei den Wadschagga am Kilima-Ndscharo besteht die Hochzeitsfeierlichkeit gleichfalls darin, dass, nachdem der Kauf der Braut vorher abgemacht ist, der Ehemann seine Frau huckepack entführt, während die Verwandten und Freunde ihn schreiend und lachend verfolgen, als ob sie das kreischende Mädchen ihm wieder abnehmen wollten; aber das Ganze ist natürlich nur Schein und ein Überbleibsel alter Gebräuche, denn heutzutage bekommt ein Mann seine Braut nur dann, wenn er den Kauf vorher mit seinem künftigen Schwiegervater geregelt hat.[604] An vielen Orten ist auch in Erinnerung an den ehemaligen thatsächlichen Raub das Hochzeitsfest noch mit viel Geschrei und wildem Waffenlärm verbunden. Bei den Südslaven war es früher allgemein üblich, Mädchen, bei deren Eltern der Bewerber abgewiesen zu werden befürchtete, gewaltsam zu entführen, eine Sitte, welche, wie Freiherr von Reinsberg-Düringsfeld bestätigte, infolge der strengen, gegen den Mädchenraub erlassenen Verbote nur noch selten vorkommt.[605] So hielten es die jetzt im Verschwinden begriffenen Uskoken im südöstlichen Teile von Unterkrain. Der abgewiesene Freier sammelte fünf, zehn, auch mehr seiner Jugendgenossen, stürmte das Haus seiner Erkorenen, die er raubte und ritt mit seiner Braut zum nächsten Popen (Colugar), der das Brautpaar einsegnete.[606] Solcher Mädchenraub blüht heute noch lustig in Kleinasien, doch endigt[S. 300] die Entführung junger Mädchen gegen den Willen der Eltern mit gesetzmässiger Heirat; die Sitte ist dort albanesischen Ursprungs und hauptsächlich bei der griechischen Bevölkerung eingebürgert. Nicht selten kommt es jedoch dabei zu Blutvergiessen.[607] Vielfach wird auch noch in Europa als Hochzeitsfeier ein dramatischer Überfall ausgeführt; bei Fiume zogen sogar vollständig bewaffnete Scharen, wie Feind gegen Feind, einander entgegen, während der Eingang zum Hause der Braut verschlossen war.[608] So meldet mein verstorbener Freund, Hofrat Vincenz Klun von seinen Landsleuten, den Slovenen, und da die Braut der Preis des Sieges war und sie vom Erfolge des Kampfes oder vielmehr des Raubes abhing, heisst sie noch heutigen Tages sehr bezeichnend „die Ungewisse“ — Nevesta.[609] Zuletzt wird aus dem Raube nur ein Fangspiel zwischen Braut und Bräutigam, dessen Ausgang stets im voraus verabredet wird; doch soll bei den Maori Neuseelands ein Mädchen, das bei einer solchen Gelegenheit zu entschlüpfen den ernsten Willen hat, einem unwillkommenen Bewerber sich entziehen dürfen. Kennan, der einem ähnlichen Hochzeitsspiele bei den Korjäken beiwohnte, überzeugte uns, dass die Braut immer in ihre Besiegung im Stillen einwilligen muss.[610] Selbst in Altbayern lebt die Sitte der Entführung noch in einem Hochzeitsspiele fort, welches „Brautlauf“ heisst; doch ist nach den Analogieen, welche die vergleichende Völkerkunde bietet, nicht mit Grimm anzunehmen, dass um die Braut gelaufen wurde, sondern dass die Braut vor dem Bräutigam weglief, wie denn auch im Altnordischen für Brautlauf „Quânfang“ d. h. Frauenfang gesagt wurde. Im Norwegischen heisst heute noch die Hochzeit Brautlauf (Bryllup).
Es umfasst demnach eine dritte Stufe der Raubform die an[S. 301]sehnliche Liste jener Völker, bei denen der Bräutigam seine Braut zu rauben hat, während der Mundwalt des Weibes im voraus zugestimmt hat, der Raub sonach zwar notwendige Eheschliessungsform ist, aber den Charakter wirklicher Gewalt nicht mehr an sich trägt. Auf dieser dritten Stufe ist es, dass neue, meist religiöse Formen zu Bestandteilen der Eheschliessung sich zu erheben beginnen, die Entführung in den Hintergrund drängend, so dass sie alsbald zum Spiel verblasst und eine Zeitlang zwischen Ernst und Scherz die Mitte hält. Deshalb ist die zweite Klasse der Völker im Verhältnis zur dritten Stufe ebenso schwankend, wie diese im Verhältnis zur zweiten. Die Grenzen dieser Stufen, sowie der beiden Klassen untereinander, sind eben fliessend, daher kann die Einteilung keine mit mathematischer Genauigkeit zutreffende sein. Sogar im nämlichen Volke laufen oft mehrere dieser Stadien nebeneinander her. So blieb z. B. die Raubform im alten Rom bei jenen plebejischen Heiraten üblich, die nicht durch Confarreatio oder Coemtio geschlossen wurden. Und nach Plutarch ward die nämliche Form auch im alten Sparta beobachtet, wo der Bräutigam die Braut mit verstellter Gewalt entführte. Die historische Entwicklung aber schreitet in der angegebenen Reihenfolge vor; die Umwandlung ist zwar überaus langsam, verschieden schnell bei verschiedenen Völkern, in den Grundlagen aber trotzdem immer die gleiche. In Europa war es die geistliche wie die weltliche Gesetzgebung, welche den Frauenraub und die aus dessen Abwehr entstandenen Übergriffe Jahrhunderte lang bekämpfte und endlich unterdrückte, nicht ohne dramatisch bewegte Spiele als lebendige Zeugen ihres Bestandes zurückgelassen zu haben.[611] In dieses letzte Stadium ist die Raubform in den höchsten Kulturländern angelangt, ohne es jedoch gänzlich zu überschreiten: Hochzeitsspiele als Überreste eines ehemaligen Weiberraubes scheinen in keinem Kulturlande vollständig zu fehlen.[612]
Mit dieser Entwicklung hielt augenscheinlich die Umwandlung der Morgengabe aus einem Sühnepreis in eine wahre Kaufsumme[S. 302] gleichen Schritt. War es einmal üblich geworden, sich über den Erwerb des Mädchens mit ihren Gewalthabern von vorne herein zu verständigen, um Feindseligkeiten zu vermeiden, so führte die Annahme eines ausgleichenden Geschenkes, einer Sühngabe, ganz von selbst zu der Erwerbsform des Tausches oder des Kaufes hinüber, sei es, dass die Stämme die gegenseitige Entnahme der Weiber gestatteten, sei es dass andere Güter für die Überlassung des Weibes drangegeben werden mussten. In beiden Fällen trägt die angebotene Entschädigung den Charakter eines Kaufes, und der Gegenstand desselben, das Weib, sinkt zur Ware herab. Wo aber in solcher Weise über dasselbe verhandelt werden konnte, dort musste überall der Übergang zur patriarchalischen Gewalt sich vorbereiten. Denn die Männer sind es, welchen auch in der mutterrechtlich geordneten Gesellschaft die Rachepflicht für die Entwendung der Tochter obliegt. Ihnen fällt daher auch die Sühnegabe zu, und so erscheinen allmählich die Männer der Familie ohne Rücksicht auf die Rechte der in ihre Abhängigkeit geratenen Mütter als diejenigen, welche über die weiblichen Mitglieder verfügen, Schwestern und Nichten „verkaufen“. Niemals ist es die Mutter, welche den Kaufpreis in Empfang nimmt, wohl aber zuerst der Bruder oder der Oheim und später das patriarchalische Oberhaupt der Familie, der Vater. Darum erscheint in vielen Sittenüberbleibseln der Ausgleich mit den männlichen Blutsverwandten des Mädchens als vollzogen und anerkannt, während die Mutter in ungesühnter Feindschaft zum Schwiegersohne verharrt. So verwandelt sich die auf Mutterrecht gegründete Familie in eine Gruppe, worin die blutsverwandten Männer, ohne dass fremde Elemente mehr zuheiraten, thatsächlich in den Besitz der verwandten Frauen und in ein Verfügungsrecht über dieselbe gelangen, durch welches sie wieder ihrerseits Frauen aus einem andern Geschlechte erwerben und sich unterthänig machen.[613] Damit stehen wir auf dem Boden der Kaufes der Frau, auf welchen dann der Raub nur noch als hergebrachtes Rechtssymbol nachfolgt — ein Fortschritt, der sich auf Kosten der Mutter[S. 303] vollzog, aber ebensowohl jenem des Verkehrs von Stamm zu Stamm überhaupt entsprach, als er im Interesse beider Parteien lag. Bei diesem Frauenkaufe sind sehr viele Völker bis zur Gegenwart stehen geblieben. Sie handeln nach dem Grundsatze do ut des. Wo Frauenkauf sich vorfindet, ist er aber überall von dem männlichen Verwandtschaftssysteme begleitet, welches das alte Mutterrecht allgemach verdrängt und nur stellenweise einige schwache Überbleibsel in Brauch und Sage neben sich geduldet hat. Dieser Übergang zum „Vaterrecht“ vollzog sich natürlich nicht jäh und plötzlich, sondern war das Ergebnis langwieriger gesellschaftlicher Wandlungen und Kämpfe, welche die verblassende Erinnerung der klassischen Völker in das bewegte „Heroenzeitalter“ verlegt. Bei ihrem Eintritt in die Geschichte zeigen sich die Völker des Altertums schon im Vollbesitze der jüngeren Organisation, nur ist dieselbe noch lange nicht das, was spätere Zeiten und unsere Gegenwart als Ausfluss des „Vaterrechtes“ erkennen. Der Vater der Jetztzeit und der Vater in den Anfängen des klassischen Altertums sind zwei voneinander durchaus verschiedene Begriffe, welche bloss die Armut unserer Sprache nicht gebührend auseinander zu halten gestattet. Dieser „Altvater“, wie Lippert in Ermanglung einer besseren Bezeichnung ihn nennt,[614] steht an der Spitze jener Organisation, welche man die patriarchalische nennt und bei den viehzüchtenden Wanderhirten am schärfsten ausgeprägt sich erhalten hat.
Dass dieses patriarchalische Familiensystem aber nirgends das ursprüngliche ist, geht deutlich daraus hervor, dass überall sich anfänglich neben demselben Verbindungen erhielten, welche augenscheinlich aus der älteren mutterrechtlichen Epoche stammen, in der das Weib über sich noch zu verfügen vermochte. In der vedischen Zeit der Hindu war das Mädchen noch frei in der Wahl des Gatten, und wenn mehrere Bewerber, wie manchmal geschah, um sie kämpften, bedurfte es dazu nicht bloss ihrer Einwilligung, sondern des Siegers Mühe blieb vergeblich, wenn sie ihn zu krönen sich weigerte.[615] Aber auch das weitaus spätere[S. 304] Gesetzbuch des Manu, obwohl schon mitten im vollen Vaterrechte stehend, kennt noch ein freies Bündnis, aus der früheren endogamischen Zeit der Mutterherrschaft: „Die Vereinigung nach dem Wunsche des Mädchens und des Mannes heisst Gandharva; Lust und Liebe ist ihr Ziel.“[616] Ganz so stellt sich auch die im alten Rom weit verbreitete Form der sogenannten Usus-Ehe dar, welche dadurch zustande kam, dass die Frau ein volles Jahr lang ohne Unterbrechung in dem Hause des Mannes blieb; es stand ihr aber frei, in jedem Jahre drei Nächte hintereinander wegzubleiben, und durch dieses Trinoctium behielt sie ihre Freiheit, erlangte der Mann keinen Besitz an ihr. In der Deutung dieser römischen Usus-Ehe muss ich mich enge an Lippert anschliessen, der in ihrer Bestätigung durch das Zwölftafelgesetz einen Beweis dafür erblickt, dass sie aus der ältesten Zeit herüberragt.[617] Der gelehrte Fustel de Coulanges betont nun allerdings, dass das Zwölftafelgesetz (um 450 v. Chr.) sich schon beträchtlich von den ältesten Rechtsanschauungen der Römer entfernt und will die Usus-Ehe gar nicht als Eheform, sondern bloss als Mittel, eheliche und väterliche Gewalt zu erwerben, gelten lassen.[618] Der verdiente französische Forscher geht von der durchaus irrigen Voraussetzung aus, dass die Religion, der Kult, ursprünglich das bildende Prinzip der antiken Familie gewesen;[619] auf die Bedeutung des Kultes wird später noch zurückzukommen sein; allein Fustel kennt eben bloss die patriarchalische Familie der Römer, Griechen und Indier; er weiss nichts von einer mutterrechtlichen Ordnung anderer Völker und setzt daher die ältesten griechischen und römischen Anschauungen fälschlich an den Anfang aller Dinge, während sie vielmehr am Ende einer sehr langen älteren Entwicklung stehen. So gelangt er natürlich dahin, die bloss auf gegenseitiger Ver[S. 305]ständigung (mutuus consensus) beruhende Ususehe, der alle religiöse und bürgerliche Weihe fehlte, für eine jüngere Abweichung von den Nuptiae sacrae zu halten. Der Verlauf der Dinge widerspricht durchaus dieser Auffassung. Die Form des Usus, während der Republik allgemein, ist verhältnismässig frühzeitig in den eigentlichen Bürgerfamilien ausser Anwendung gekommen; zur Zeit des Gajus, also im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, gehörte sie eigentlich nur noch zu den juristischen Antiquitäten.[620] Auf germanischem Boden sind die Spuren der ältesten Gandharva-Ehe, wie begreiflich, in dem Masse spärlicher zu finden, als die väterliche Gewalt erstarkt. Bei den Slaven aber lebt die alte Verbindung freier Wahl, die indische Gandharva-Ehe zu „Lust und Liebe“ aus der Zeit des Mutterrechts neben anderen Eheformen heute noch fort. Als ursprünglich kann man in allen diesen Ehen, wie im römischen Usus, mit Lippert nichts erkennen, als eine in die Paarungsehe übergegangene Verbindung alter Art, die mehr oder weniger den jüngeren Formen der Ehe mit väterlicher Gewalt sich anschmiegen musste. Der Unterschied besteht darin, dass die geschlossene Verbindung zur wirklichen Ehe werden kann, d. h. dass auch dadurch dem Manne eine Besitzgewalt über das sich ihm ergebende Weib zuwächst,[621] wie das patriarchalische System es verlangt.
[588] Lubbock. Entstehung der Zivilisation. S. 83.
[589] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 104.
[590] Lippert. A. a. O. Bd. II. S. 93.
[591] Richard Andree. Ethnographische Parallelen und Vergleiche. Stuttgart 1878. S. 159–164, auch Globus Bd. XXIX, S. 126–127.
[592] Karl Emil Jung. Der Weltteil Australien. Leipzig 1882. Abteilung I. S. 97.
[593] Globus. Bd. XL. S. 367.
[594] Dalton. Ethnologie Bengalens. S. 48.
[595] Thomson. Durch Massailand. S. 82.
[596] H. H. Johnston. Der Kilima-Ndscharo. Forschungsreise im östlichen Äquatorialafrika. Autorisierte deutsche Ausgabe. Leipzig 1886. S. 406.
[597] H. Spencer. Prinzipien der Soziologie. Bd. II. S. 221.
[598] Schweinfurth. Im Herzen von Afrika. Bd. II. S. 96.
[599] Dafür, dass dieses Verlangen nicht etwa auf die Freuden der Mutterschaft, sondern lediglich auf den Geschlechtsgenuss gerichtet ist, sprechen unter andern die mancherlei Massregeln, welche zur Verhütung der Schwangerschaft oft sogar dort ergriffen werden, wo den Mädchen freier Geschlechtsumgang noch unverwehrt ist. Die rohen Massai z. B., welche ihren Töchtern vor der Ehe ein ungebundenes Leben im Kriegerkraal gestatten, bestrafen jede Schwangerschaft mit dem Tode. Damit dies nicht geschehe, wird Vorkehrung getroffen. (Quod ne accidat, dum bellatores juvenes innuptaeque puellae amori venereo inter se indulgent, viris hoc curae est in coitu, ut ante semen emissum penem extrahant. Siehe Thomson. Durch Massailand. S. 522.) Die Australierinnen haben eine besondere Art, mit einer schlängelnden Bewegung des Mittelkörpers und einem kräftigen Ruck sich des Sperma zu entledigen, welche sogar eine bestimmte Benennung in der Mundart der Eingeborenen haben soll, und nach der Begattung gewöhnlich geübt wird, mit der Absicht, keine weiteren folgen des Zusammenseins mit einem Weissen durchzumachen. (Verhdlgn. d. Berl. Gesellsch. f. Anthropologie 1880. S. 88.) Hierher gehört auch die weit verbreitete Sitte der Fruchtabtreibung (künstlicher Abortus, Ekbole), welche sich aus ganz gleichen Gründen auch auf Frauen erstreckt. Sie alle wollen den Schmerzen des Geburtsaktes entgehen und die eigene Schönheit bewahren, ohne auf den Geschlechtsgenuss zu verzichten. Die Kamtschadalen suchen daher häufig sogar durch Beschwörungen und Kräuter der Empfängnis überhaupt zuvorzukommen, wie dieses auch die Munda in Ostindien durch Verschiebung und Verdrückung der Gebärmutter zu thun versuchen; bei diesen geht überhaupt die Abtreibung der Frucht mit Hilfe erfahrener alter Frauen, ebenso wie auch bei den niedrigen Hindukasten stark im Schwange. (Th. Jellinghaus in der Berl. Zeitschr. f. Ethnol. Bd. III. S. 365.) In dieser Übung haben auch die Bewohnerinnen der Landschaft Bruni auf Borneo die höchste Meisterschaft. (Klöden. Handbuch der Erdkunde. Bd. IV. S. 592.) Auf Samoa ist die Abneigung gegen das Säugen häufiger Grund für die Entfernung des Leibessegens, auf den Sandwichinseln die Furcht vor den Schwangerschaftsbeschwerden; desgleichen auf den Vitiinseln (Ausland 1859. S. 113). Dem nämlichen Gebrauche huldigen auf Tahiti, den Marschallinseln und auf Neukaledonien nicht bloss Mädchen, sondern auch Frauen, um ihre Körperreize länger zu bewahren; ja die ganz rohen Bewohnerinnen Neukaledoniens bestreben sich noch dabei, ihre Brüste möglichst lange straff zu erhalten. (Ausland. 1860. S. 970.) Der Abortus dringt auch in die Kreise höherer Gesittung; er ist gang und gäbe bei den Türkinnen Kleinasiens, nicht bloss in den niederen Volksschichten, sondern in den besten Häusern (Globus. Bd. XXXVIII. S. 223), er ist häufig in Persien und war bekanntlich in der Zeit des römischen Kaisertums, freilich nur bei reichen Frauen, an der Tagesordnung. In den Neuenglandstaaten Nordamerikas ward schon seit dreissig Jahren die Aufmerksamkeit der Ärzte auf die Thatsache gelenkt, dass die Praxis der Fruchtabtreibung unter verheirateten amerikanischen Frauen in unglaublichem Grade um sich greife (Ausland 1866. S. 959.). Nachrichten aus der Gegenwart melden von keiner Veränderung in dieser Sachlage; die Amerikanerinnen wollen nicht Mutter werden und durch Vermeiden des Gebärens ihre Reize länger frisch erhalten. In den Kreisen unserer Gesittung, mit ihren geläuterten Begriffen, ist natürlich eine solche vorzeitige Vernichtung des Lebens als sittliche Verirrung gebrandmarkt. An rohe, kulturarme Menschen lässt sich aber dieser Massstab nicht anwenden. Sie sehen kein Unrecht darin, den Folgen des Genusses zu wehren, um den es ihnen allein zu thun ist. In sehr naiver Weise drückt sich dies in den seltsamen Mitteln aus, wodurch manche Völker jenen Genuss zu erhöhen streben. Dahin gehört z. B. die bei den Dayak auf Borneo übliche künstliche Perforatio glandis Penis, worüber N. v. Miklucho-Maclay dankenswerte Mitteilungen gemacht. Es werden in den künstlich hergestellten Kanal, um die Geschlechtslust der Frauen zu erhöhen, verschiedene Körper eingebracht, kleine Stäbchen aus Messing, Elfenbein, Silber, ja aus Bambu u. dgl. Ein eigenes Instrument ist der Ampallang, ein metallenes Stäbchen von 4 cm Länge, an dessen einem Ende eine Kugel oder Birne von Achat oder Metall festsitzt, während die andere Kugel nach dem Durchstecken des Ampallangs durch die Glans am andern Ende befestigt wird. Eine ähnliche Vorrichtung meldete schon Carletti von den Bisayern auf den Philippinen und ist, nur scheinbar noch verwickelter, auch auf Nord-Celebes unter dem Namen Kambiong oder Kambi in Gebrauch. Auch pflegt man dort den Lidrand mit den daran stehenden Augenlidern eines Bockes, als einer Art von borstigem Kragen, beim Geschlechtsakte vor das Praeputium um die Glans zu binden, und eine entsprechende Gepflogenheit herrscht auf Java, besonders in der Preanger Regentschaft. (Verhdlg. der Berl. Gesellsch. für Anthropologie. 1876. S. 22–26.) Von den kannibalischen Batta auf Sumatra berichtet F. Hagen, dass sie Einschnitte in die Haut der Glans penis machen, um in diese Einschnitte ein kleines, meist etwa 1 cm grosses, oft aber auch doppelt so grosses weisses Steinchen von prismatischer Gestalt mit abgerundeten Kanten zu legen. Nachdem die Wunde geheilt ist, stellt die Glans eine höckerige Oberfläche dar. (Korrespondenzblatt d. deutsch. Gesellsch. f. Anthrop. 1880. S. 41–42.) Alle diese Vorkehrungen bewirken eine starke Reibung der Wandungen der Vagina, um dadurch die Geschlechtslust des Weibes zu steigern. Alle Berichterstatter betonen, dass die Sitte samt allen Vorrichtungen von den Weibern selbst oder nur für sie erfunden ist; jedenfalls wird der Gebrauch durch die nicht nachlassenden Forderungen des andern Geschlechts erhalten, indem die Männer ohne diese Anbequemung zum Festhalten der Reizapparate von den Weibern zurückgewiesen werden. Jene, die sich aber mehrere Perforationen gefallen lassen, werden dagegen besonders gesucht und geschätzt. Die Dayakinnen haben gar das Recht, den Ampallang, dessen Länge sie selbst bestimmen, zu verlangen; will der Mann es nicht, so kann die Frau sich von ihm scheiden. (Verhdlg. d. Berl. Gesellsch. A. a. O. S. 25), und Hagen erzählt, dass die Battaweiber „wie närrisch sind auf einen Mann mit eingelegten Steinchen“. Ob die eigentümliche Mika-Operation der Australier (Verhdlg. d. Berl. Gesellsch. f. Anthrop. 1880. S. 85–87) dem nämlichen Zwecke dient, ist nicht ausgemacht, wohl aber soll bei den Eingeborenen des Nordwestküstenstriches Australiens eine Erweiterung des Orificium urethrae ausgeführt werden, um das wollüstige Gefühl zu steigern. (A. a. O.) Diese bisher wenig bekannten und beachteten Sitten zeigen wohl deutlich, wie geringe Anforderungen an die weibliche Zurückhaltung bei rohen Völkerstämmen zu stellen sind.
[600] Über den Zusammenhang des Phallusdienstes mit dem Fetischismus s. Girard de Rialle. La mythologie comparée. Paris 1878. Bd. I. S. 170–175.
[601] Dargun. Mutterrecht und Raubehe. S. 146.
[602] G. A. Wilken. Over de primitieve vormen van het Huwelijk. (Ind. Gids. Oktob. 1880. S. 59–64).
[603] John Campbell. A personal narrative. S. 44.
[604] Johnston. Der Kilima-Ndscharo. S. 412.
[605] Globus. Bd. V. S. 99.
[606] Ausland 1872. S. 333.
[607] So versuchte im Mai 1885 ein Haufen junger Männer in Smyrna das vom Vater zurückgehaltene junge Mädchen mit Gewalt zu befreien, wobei „aus Versehen“ das Mädchen selbst erstochen wurde. (Schwäb. Merk. 16. Juni 1885).
[608] Ausland 1872. S. 545.
[609] A. a. O. S. 544.
[610] Peschel. Völkerkunde. S. 226.
[611] Dargun. Mutterrecht und Raubehe. S. 139–140.
[612] A. a. O. S. 87.
[613] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 86–87.
[614] Lippert. Gesch. d. Familie. S. 220.
[615] Dr. Gustave Le Bon. Les Civilisations de l’Inde. Paris 1887. S. 257.
[616] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 95 und S. Lefmann, Geschichte des alten Indiens. Berlin 1880. S. 363.
[617] A. a. O. S. 101.
[618] Fustel de Coulanges. La cité antique. Etude sur le culte, le droit, les institutions de la Grèce et de Rome. Paris 1874. S. 376.
[619] A. a. O. S. 38–41.
[620] Victor Duruy. Geschichte des römischen Kaiserreiches; übersetzt von Prof. Gustav Hertzberg. Leipzig 1887. Bd. III. S. 32.
[621] Lippert. A. a. O. S. 101. 100.
[622] doch änderte sich allgemach, wie schon bemerkt,[623] dieses Verhältnis. Schon in jenem Oheim, Bruder oder sonstigen männlichen Blutsverwandten, welcher auch bei Nichtnomaden als Schirmherr an die Spitze mutterrechtlicher Familienverbände trat, darf man wohl den späteren „Vater“ des Patriarchates erkennen. Er war es nun, und niemals die Mutter, welcher, selbst so lange sich noch Reste des Mutterrechts erhielten, für seine schutzbefohlenen Blutsverwandten den Kaufpreis forderte und empfing, wodurch sich das Schutzverhältnis allmählich in ein Besitzverhältnis umwandelte, so sehr, dass es beim echten Weiberkauf auf eine Neigung des[S. 307] Mädchens gar nicht ankommt. Dasselbe wird von seinen Gewalthabern einfach verhandelt, nicht selten schon in seiner Kindheit, ja sogar vor seiner Geburt einem bestimmten Bewerber — vielleicht sollte man richtiger sagen: Abnehmer — zugesagt. Mit wenigen Ausnahmen üben heute noch die sogenannten Naturvölker den Frauenkauf, der sich überall dem Weiberraube gegenüber als jüngere, höhere Form darstellt, da er dort in kräftigster Entwicklung blüht, wo Raub nur mehr in Rudimenten erhalten ist. Ein Versuch, das Verbreitungsgebiet des Frauenkaufes im einzelnen zu bestimmen, scheitert an der Massenhaftigkeit des zuströmenden Stoffes;[624] doch habe ich eine Reihe von Beispielen gesammelt, welche von der Ausdehnung der Sitte einen Begriff geben mögen.
icherlich war der Weg vom Weiberraube zum Frauenkaufe ein langer und weiter. Seine einzelnen Stationen begleiteten überall der Verfall des Mutterrechtes und die Ausbildung der männlichen Gewalt in der Familie Hand in Hand mit der Entwicklung des Eigentumsbegriffes. Ursprünglich, in der Zeit, als der Frauenraub allmählich durch eine Sühngabe ersetzt wurde, fiel diese der ganzen Sippschaft des Weibes anheim. Wohl auch später noch, als aus der Sühngabe immer mehr ein Kauf sich entwickelte, verteilte sich der Brautpreis auf die Sippschaft,In nacktester Gestalt zeigt den Frauenkauf wohl der schwarze Erdteil, und zwar besonders im Bereiche seiner Nomadenvölker. Fast überall ist es da das Rind, welches als Einheitswert gilt. Um Ochsen kauft der Kaffer seine Weiber, um Ochsen verkauft er seine Töchter. Der Wert des Mädchens schwankt, je nachdem es mehr oder weniger hübsch ist und auch nach dem Range des Vaters, zwischen 6–30 Stück Rind. Der Preis ist im vorhinein zu erlegen, indes kommt es auch wohl vor, dass der Vater das Mädchen verabfolgt, nachdem er eine Abschlagsumme und für den Rest Bürgschaft erhalten hat. Im allgemeinen wird ein Heiratsvertrag aber erst dadurch gültig, dass einerseits das Vieh, andererseits das Mädchen abgeliefert wird.[625] Darin besteht das, was wir bei uns als Wechseln des Trauringes bezeichnen würden; die — übrigens nicht sehr bindende — Ehe wird dadurch sozusagen erst rechtskräftig. Die Beweibung durch Kauf wird von den Frauen durchaus nicht als Entwürdigung empfunden, das Mädchen ist im Gegenteile stolz darauf, und je mehr Ochsen oder Kühe sie gekostet hat, um so mehr hält sie sich wert.[626] Billiger als die[S. 308] Kaffern thun es die Hottentotten, welche ihre Töchter für bloss einen Ochsen oder eine Kuh hingeben. Bei den rohen Massai und Wakuafi ist Heiraten, wie Johnston berichtet, ebenfalls wenig mehr als eine Frage des Handels, und die Menge der zu erlegenden Kühe wechselt nach dem verhältnismässigen Reichtume des Bräutigams und des Vaters der Braut.[627] Weiter reicht dieser Kaufgebrauch durch die Somalstämme nordwärts bis ins obere Nilgebiet, wo bei den Latuka eine Frau durchschnittlich zehn Kühe gilt.
Anderwärts sind es andere Dinge, welche als Wertmesser dienen. Die Bongo kaufen ihre Weiber für Eisenplatten, in der Regel zehn kiloschwere Platten und zwanzig Lanzenspitzen, von deren Vater. Für Geringeres giebt es nur alte Frauen.[628] Wenn bei den Wanyamuesi im centralen Ostafrika ein junger Mann ein paar eiserne Hacken, einige Perlen oder Stücke Baumwollstoffe besitzt, so kann er sich beweiben, indem er diese seine Güter den Eltern des Mädchens anbietet, welches er zur Frau zu haben wünscht.[629] Ebenso reicht die Sitte in das Innerste Afrikas, bis Baghirmi und die sogenannten Heidenländer hinein. „Man entrichtet dem Vater der erwählten Frau nach vorhergegangener Über[S. 309]einkunft ein Pferd, einige Sklaven, eine gewisse Anzahl fetter Hunde.“[630] Auch der muhammedanische Budduma giebt je nach seinen Vermögensverhältnissen 10, 20 bis 30 Stück Rindvieh seinem Schwiegervater, der freilich die Tochter nicht selten mit einer reichlichen Mitgift ausstattet.[631] Am Gabun in Westafrika „ist die Heirat ein reines Handelsgeschäft; man kauft ein Weib wie ein Boot, einen Sklaven oder einen Elfenbeinzahn“.[632] In der deutschen Kolonie Kamerun werden auch die vornehmsten Gattinnen gekauft, wobei schmählich geschachert wird.[633] Blosse Ware ist auch das Weib bei den Mbondemonegern des äquatorialen Westafrika,[634] sowie bei den Stämmen der Guineaküste und Sierra Leones. Die Kru kaufen ihre Weiber für drei Kühe und ein Schaf. Im deutsch gewordenen Togolande werden die Frauen von ihren Eltern verkauft. Europäer, welche ihre schwarzen Frauen nicht wie die Neger für sich arbeiten lassen, erhalten dieselben als junge Mädchen schon zu dem landläufigen Preise von 16 Dollars bar und 6 Dollars in Waren.[635] Frauenkauf herrscht desgleichen in Dahome. Bei den Timani besteht der Kaufpreis in gewissen Mengen von Palmwein, Zeugen u. dergl., und ähnlich verhält es sich mit den Mandingo, welche Spuren einstigen Weiberraubes bewahren. Bei den Gallina ist der durchschnittliche Preis einer Jungfrau 2–3 Pfund Sterling, also 40–60 Reichsmark, wofür sie dann ihre ganze Lebenszeit Eigentum des Mannes wird, vorausgesetzt, dass dieser sie nicht früher fortjagt.[636] Wer unter den Schwarzen zwischen den Bissagosinseln und Sierra Leone ein Weib nehmen will, muss eine Hütte gebaut haben und das Geld aufweisen, für welches er sie kauft.[637] Um Akem zahlt der Bräutigam dem Vater[S. 310] des Mädchens einen Betrag von 2½-5 kg in Goldstaub, Zugaben an Zeug und Rum ungerechnet.[638]
Auch in Asien geht der Weiberkauf im Schwange und greift dort sogar in die Kreise des Islâm herein, welcher im übrigen doch schon eine „Ehe“ kennt. Wir finden den Frauenkauf auch hier wieder hauptsächlich unter den Nomaden, den Mongolen, Kalmücken, Kirgisen, Oesbeken, Tataren und Turkmenen. Der Mongole muss für seine Braut einen Kaufpreis zahlen, welcher im ganzen Bereiche der osttürkischen Sprachen Kalym heisst, in Vieh und Kleidern, häufig auch in Geld besteht und oft recht beträchtlich ist;[639] z. B. neunzig Stück vierjährige Pferde, neunzig Stück vierjährige Schafe und ebenso viel vierjährige Kamele. Die Anzahl der Ochsen, Kühe und des zu erlegenden Bargeldes überlässt der Brautvater dem Ermessen des andern, welch letzterer, wenn er vermögend ist, 500 Lanige (gleich 1000 Silberrubel) anbietet.[640] Bei den Kirgis-Kasaken hat das Mädchen betreffs seiner Verheiratung gar nichts zu sagen. Der Vater verlangt für seine Tochter einen Kalym von so und so viel, und wer diesen Preis bezahlt, mag sie holen. Auch hier besteht er aus einer vereinbarten Anzahl von Kamelen, Pferden, Rindern und Schafen. Alles Vieh muss dem Vater oder dem über das Mädchen verfügenden nächsten Anverwandten übergeben werden; es geht aber in das Eigentum seiner Tochter über, falls diese etwa von ihrem Manne wieder fortgeschickt wird, was manchmal vorkommt. Bei Abschluss des Ehevertrags erlegt der Vater des Bräutigams gewöhnlich die Hälfte des Kalyms, und von nun an darf der Bräutigam wohl seine Braut besuchen und sogar mit ihr allein sein, aber in keinem Falle heiraten, ehe der Kalym vollständig bezahlt ist.[641] Natürlich ist der Kalym auch bei den Ehegeschäften der Turkmenen die Hauptsache, ja er spielt eine ansehnliche Rolle sogar noch bei den sibirischen Jakuten, einem Nomadenstamme, welcher dem Namen nach das Christentum angenommen hat, ferner[S. 311] bei den Tungusen und Ostjaken, sowie bei den Wogulen am mittleren Ural. Der Frauenkauf herrscht endlich noch in Südostasien bei den Alfuren auf Buru, bei den Eingeborenen der Philippinen, auf Java und in Siam; in Indien bei den Toda, in Vorderasien bei den Afghanen und mehreren Völkern des Kaukasus wie Osseten, Suanen und Tscherkessen. Ausserhalb Asiens stossen wir auf die gleiche Sitte bei den Dakota Nordamerikas, bei den Koroado und Jumana Brasiliens, den Goajiro, Pehuenchen und Abiponern, ehemals auch bei den Chibcha in Neugranada. Die Papua Neuguineas kaufen ihre Weiber und an den Kauf mahnende Sitten findet man auf den Karolinen und in Polynesien. Selbst bei den christlichen Abessiniern zahlt der Mann den Eltern des Mädchens, das ernstlich niemals befragt wird, einen Preis, welcher ihrem Range, Vermögen und der Schönheit entspricht.[642] Schon De Lobo hatte die abessinischen Ehen als einen einfachen Kauf bezeichnet. Damit soll die Liste der dem Weiberkauf ergebenen Völker nicht erschöpft sein.
Wie der ihm vorangehende Weiberraub hat auch der Frauenkauf in der Urzeit der heutigen Kulturvölker bestanden, ja für einige lässt er sich sogar für die geschichtliche Epoche aus ihren Gesetzvorschriften nachweisen, und seine Spuren sind bis in die Gegenwart deutlich erkennbar. In China, wo die Familie streng patriarchalisch geordnet ist, kommt die Ehe ausschliesslich durch Kauf zu stande und Missionär Lörcher sagt[643] geradezu, die Braut werde den Eltern abgekauft. Nach Gabriel Huc machen die Eltern des Bräutigams den Eltern der Braut bloss Geschenke an Seidenzeugen, Reis, Früchten, Wein u. dgl. Nehmen die letzteren Handgeld und Geschenke an, so ist der Vertrag bindend.[644] General Tscheng-ki-Tong, dem wir ein höchst lehrreiches Buch über seine Landsleute verdanken, in welchem er sich auch[S. 312] über die chinesischen Familieneinrichtungen umständlich verbreitet, berührt aber die Frage des Frauenkaufs mit keiner Silbe; aus einigen seiner Äusserungen möchte man eher das Gegenteil herauslesen.[645] Wohl aber kannte das Indien der alten Brahmanen den Frauenkauf. Manus Gesetzbuch (zweites oder drittes Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) empfiehlt zwar dem Vater für seine Tochter Geld weder zu geben noch zu nehmen,[646] verzeichnet aber unter anderen auch die alte Form der Rshi- oder Arscha-Ehe. Den Kaufpreis bildet hier ein Ochsenpaar oder zwei. Verjüngt erscheint diese Form in der weitverbreiteten Asura-Ehe. An Stelle der alten Rinderwährung sind hier Schätze jeder Art getreten, an Stelle der symbolischen Einheit ein beliebiges Ausmass nach dem Vermögen des Freiers, und das Mädchen nimmt Teil an der Beschenkung.[647] Diese Form war offenbar früher allgemein üblich, wurde aber später den höheren Ständen, den Brahmanen und Kriegern, schliesslich auch den Vaiçya und Sudra untersagt und überhaupt als eine verwerfliche Art der Eheschliessung bezeichnet. Der ursprünglich an den Mundwalt des Mädchens zu entrichtende Kaufpreis hiess Çulka und erst später hat sich dieser zu einer Aussteuer für die Braut entwickelt. Mehrere indische Stämme, wie z. B. die Kurumbar, üben heute noch Frauenkauf, selbst unter Hindu ist es nicht selten, dass ein Mädchen um schnöden Mammons willen mit zwei Bräutigamen verlobt wird, von welchen der habgierige Vater die Silberlinge einstreicht.
In aller Schroffheit herrschte der Frauenkauf bei den alten Juden. Nicht etwa mit Geschenken warb der Freier um seine Auserwählte, wie mitunter behauptet wird,[648] sondern das Verhältnis von Mann und Frau ward dadurch bestimmt, dass die Frau ein Eigentum oder ein Besitz des Mannes war, und zwar nicht etwa ein Eigentum, welches sich aus freier Entschliessung übergeben, sondern ein solches, welches er für Geld oder Geldeswert[S. 313] gekauft hat.[649] Der Prophet Hosea meldet, dass er seine eigene Frau um fünfzig Seckel halb in barem Gelde, halb in Gerste erstanden habe. Schon in der biblischen Zeit, sagt Dr. Joseph Bergel,[650] musste die Einwilligung des Vaters erkauft werden und zwar durch Geld[651] oder durch irgend eine Dienstleistung,[652] wie jetzt noch bei anderen Völkern üblich,[653] oder durch irgend eine Kriegsthat.[654] Dass die beiden letzteren Fälle Ausnahmen bilden, liegt auf der Hand. Doch wird man mit Post das Erdienen des Weibes wahrscheinlich als eine ältere Form des Kaufes ansehen dürfen.[655] In den Besitz des Mannes trat die Frau in dem Augenblicke, wo derselbe den Kaufpreis (Môhar)[656] erlegt hatte; daher ist ’êrés, den Kaufpreis zahlen, so viel wie sich ein Weib verloben und me ’ôrâsâ, die Verlobte, bedeutet eigentlich diejenige, für welche der Kaufpreis erlegt wurde.[657] Der im Morgenlande noch herrschende Gebrauch, sich die Tochter vom Vater zu erkaufen, blieb bei den Juden auch zur späteren Zeit der Talmudisten gang und gäbe.[658]
Die alten Hellenen haben bei ihrem ersten Auftauchen in der Geschichte den Kauf als eine veraltete Form schon abzustreifen begonnen, noch aber zeigen die Sagen den Frauenkauf als die einzig richtige Art der Eheschliessung in der heroischen Urzeit, womit auch des Aristoteles’ Bericht übereinstimmt, dass[S. 314] die Voreltern die Frauen von einander gekauft hätten. Die griechischen ἕδνα, die Hochzeitsgeschenke einer späteren Zeit, sind ursprünglich der Brautpreis, welchen der Freier dem Vater der Braut zu geben hat; daher heissen die Jungfrauen ἀλφεσίβοιαι oder „Rinder einbringend“, d. h. den Eltern durch den Brautpreis. In Homers Ilias sehen wir an zahlreichen Stellen, wie das Weib, d. h. die Gattin, von dem Bräutigam förmlich gekauft wird, und die Höhe des angebotenen Kaufpreises entscheidet in der Regel den Erfolg des Freiers.[659] Wie in Indien sind Rinder der eigentliche Zahlwert der Griechen der Iliade. Homer singt: „Doch dem Besiegeten stellt er ein blühendes Weib in den Kampfpreis, klug in mancherlei Kunst und geschätzt vier Rinder am Werte.“[660] Nur in ungewöhnlichem Überbieten giebt deren hundert Iphidamas für seine Braut. Wie in Indien verliert sich aber auch hier allmählich der Charakter des Kaufes, und schon in der Odyssee tritt ein Werber „mit Geschenken“ an dessen Stelle, während mit fortschreitender Gesittung sich immer mehr Umstände ergaben, welche den alten Kaufpreis vor neuem gleichwertigen Ersatz zurücktreten liessen.[661]
Spuren des Frauenkaufs haben die Römer bis in das dritte christliche Jahrhundert bewahrt; nur handelte es sich nicht mehr um einen wirklichen Kauf, sondern um einen Scheinkauf, ganz so wie seinerzeit der Scheinraub dem wirklichen Frauenraube gefolgt war. Einen solchen Scheinkauf stellte die römische Ehe durch Coëmptio dar, welche erst zur Zeit des Boethius und Isidor veraltete. Wie die noch ältere Usus-Ehe, welche sie überlebte, herrschte sie besonders in den plebejischen Kreisen vor, gewann aber allmählich so sehr die Oberhand, dass zur Zeit des Gajus die Ehen durchgängig durch Coëmptio geschlossen wurden,[662] wobei die Frau unter den üblichen Formen der Mancipatio in die Gewalt — manus — des Gatten überging. Der Römer brachte[S. 315] einen gewöhnlichen Besitzgegenstand in sein „quiritarisches“ Eigentum, indem er ihn der Formel des Kaufes unterwarf, vor fünf Zeugen und einem „Wagehalter“ (Libripens, d. h. dem mit dem Vorsitz bei dem Abschlusse aller Kaufverträge betrauten öffentlichen Beamten), ein As an die Wage schlug, die bestimmten Worte des Kaufes sprach und den gegenwärtigen Gegenstand des Kaufes mit der Hand erfasste. So ging es auch bei der Coëmptio zu, nur dass die ursprünglich wirklich geleistete Zahlung später eine blosse Form und symbolisch durch Zahlung von einem As abgelöst wird. Aber dieser Scheinkauf begründete bloss die Manus, nicht auch zugleich die Ehe, daher denn die Frau ihn auch mit einem andern als ihrem Gatten, z. B. mit ihrem Vormunde eingehen konnte.[663] Es macht sich also noch die alte Stellung der Frau im Hause geltend und durch die Beibehaltung dieser Stellung entsteht der grosse Riss innerhalb der patriarchalischen Familie der Völker über der Nomadenstufe. So bemerkt sehr treffend auch Lippert, welcher das ganze Verhältnis in folgender Weise erläutert: „Als Mater familias, zu deren Stellung sie gekauft wird, gewinnt sie (die Frau) Kinder, welche zum Unterschiede von den Kindern aller anderen Frauen desselben Herrn mit dem Vater die Fähigkeit teilen, selbst in Herrschaft und Besitz einzutreten oder zu erben und Legate anzunehmen. So unterscheiden sich Liberi und Servi. Die durch Coëmptio gekaufte Hausfrau aber tritt sofort in die Kategorie jener; sie erhält das Recht einer freien Tochter im Hause (ist filia loco). Diese Zweckeinschränkung allein ist es, welche die Coëmptio der Ehe von einem anderen Kaufe unterscheidet.“[664]
War der Kauf bei den Römern nur mehr eine rechtliche Formel, so erscheint er noch als thatsächliche Grundlage der Ehe bei den alten Germanen. Bei diesen hatte das Eherecht dem Eigentumsrecht sich untergeordnet; Verlobung und Trauung waren in die Formen des Eigentumserwerbes durch Kauf gekleidet; die deutsche Ehe war Frauenkauf,[665] wobei die Zahlung aber[S. 316] nur den Erwerb aller Rechte bedeutete, welche mit der Übernahme der Mundschaft über die Braut verbunden waren. Nach der Lex Aethelbvith wird die Frau wie eine reine Ware gekauft. Das burgundische Wittemon, das langobardische Meta, das angelsächsische Scat, die fränkische und alemannische Dos sind sämtlich — ganz so wie das wallisische Angobr, die spanische Arra und das französische Douaere — ursprünglich nichts anderes, als der vom Bräutigam dem Mundwalte gezahlte Kaufpreis. Bei den Dänen bezahlte der Mann dem Vater der Frau für dieselbe ursprünglich eine bestimmte Summe (Mundr). Nach der Lex Saxonum wird bei der Verlobung ein pretium emptionis an den Vormund entrichtet und dies Gesetz gebraucht für „heiraten“ den Ausdruck uxorem emere, für verloben: uxorem vendere. Der Ausdruck „sich eine Frau kaufen“ erhielt sich in Deutschland bis ins fünfzehnte Jahrhundert und bis zum Ende desselben lebte sogar der alte Brautkauf bei den Dithmarsen in Holstein in aller Reinheit fort.[666] Auf diesem Standpunkte standen die Gesetze der Goten, Skandinavier, Sachsen und Angelsachsen, Franken, Burgunder und Langobarden, von welchen einige sogar einen Tarif für den Kaufpreis feststellten, dessen Höhe bezeugt, dass es sich hier noch um keinen symbolischen Preis handelt.[667] Der Kaufpreis fiel in alter Zeit ohne Zweifel dem Vater oder den Verwandten der Braut als Entgelt für deren Hingabe zu; später erst ward die Bedeutung desselben in der Weise umgewandelt, dass er ganz oder teilweise der Braut als Mitgift zufiel. Es war nur folgerichtig, dass nach dem Tode des Mannes die Witwe das Schicksal seines übrigen Vermögens teilte, daher auch sein eigentumsähnliches Recht an ihr auf seine Erben überging. So entstand jenes „Levirat“ jüngster Stufe, von welchem schon in einem früheren Abschnitte die Rede war. Aber auch um das Kaufgeld einer Frau zu sparen, kam es mitunter vor, dass der Erbe, welchem mit der Erbschaft das Mundium der Witwe zufiel, namentlich der Bruder des verstorbenen Ehemannes, ja sogar der eigene Stiefsohn der Witwe,[S. 317] sich dieselbe, gleichsam als Bestandteil der Erbschaft, als Ehefrau beilegte. Die Ehe mit der Stiefmutter erwähnt schon Prokop als Sitte bei den Werinen, und bei den Angelsachsen war sie gewöhnlich, vielleicht sogar vorgeschrieben. Auch bei Langobarden und Bayern waren Ehen mit der Bruderswitwe nicht selten, so dass die Kirche sich bewogen fand, gegen diese Nuptiae sceleratae einzuschreiten.[668] Allmählich vollzog sich naturgemäss auch bei den Germanen der Übergang vom echten Kaufe zum Symbol und schliesslich zum Rudiment. Dabei kommt es ab und zu heute noch vor, dass ein Ehegatte seine Frau geradezu um bares Geld oder sonstwie an einen Dritten verkauft. In England zumal scheint es eine alte, für einen Ehemann ganz gesetzlich gewordene Gewohnheit gewesen zu sein, „seine eigene Rippe zu verkaufen“. Derartige Vorkommnisse sind noch aus jüngerer Zeit mit genauer Angabe aller begleitenden Umstände bekannt und gut beglaubigt.[669] Das Bemerkenswerte an diesen Verkäufen ist,[S. 318] dass die verkauften Weiber sich mehr über den Wechsel freuten, als ihre, in unseren Augen damit verbundene, Entwürdigung beklagten. Natürlich gehörten die Beteiligten stets den niedrigen Volksklassen an, aber gerade dies ist das Bezeichnende, weil in diesen alte Überlieferungen am kräftigsten fortleben. Unstreitig hat man es hierbei mit einem im Volke haften gebliebenen Reste früher allgemein gültiger Rechtsanschauungen zu thun.
Ich will nicht versäumen, hier einzuschalten, dass Beispiele solch modernen Frauenkaufs- und Verkaufs auch ausserhalb Englands, wiewohl weniger häufig, vorkommen. So erzählt ein Reisender, der sich eine Zeitlang in der Maina, dem südlichsten Teil der griechischen Halbinsel Morea aufhielt, er habe dort einen Bauern kennen gelernt, der seine Frau für den Preis von drei Thalern und zwanzig Pfund Schweinefleisch verhandelt habe. Für seine noch unverheiratete Schwester wurden als Kaufpreis drei Böcke verlangt.[670] Aus allerneuester Zeit, aus dem Jahre 1887,[S. 319] wird endlich ein Fall beabsichtigten Weiberverkaufs aus Temesvár in Ungarn gemeldet.[671]
Was die slavischen Völker anbelangt, so scheint sich bei ihnen der Frauenkauf nicht zu so allgemeiner Geltung emporgerungen zu haben. Doch soll diese Form der Ehe in Polen im zehnten Jahrhundert vorherrschend gewesen sein. Auch die alten Russen erwarben die Frau durch Kauf. Grossfürst Wladimir gab den Brüdern seiner Gemahlin, der griechischen Prinzessin Anna, als Brautpreis für diese die Stadt Cherson zurück, die er erobert hatte. Bei den Grossrussen wird in einigen Gegenden noch heute ein Kaufpreis für die Braut bezahlt.[672] Desgleichen gedenken des Brautkaufs die Lieder der Tschechen. Bei diesen und bei den Pommern gab der Bräutigam entweder der Braut oder deren Eltern vor der Hochzeit ein Geschenk, welches offenbar auch nichts ist, als der alte Mundschatz.[673] Dass bei den Südslaven vor Zeiten der Mann das Weib, um das er warb, ihren Eltern abkaufen musste, unterliegt keinem Zweifel, angesichts der zahllosen Belege, wodurch dieser Brauch bestätigt wird. Jetzt ist er allerdings im Schwinden begriffen und es ist dem Volke auch nicht mehr ganz[S. 320] klar, dass bei den Heiraten ein Kauf und Verkauf stattfindet. In der That kommt dies aber vor und es wird ja auch ganz deutlich und unverkennbar in den Volksliedern besungen. Ja, zum Anfang dieses Jahrhunderts hatten in Serbien die Mädchenpreise eine solche Höhe erreicht, dass es einem armen Menschen gar nicht möglich war, eine Ehe einzugehen. Dieser Umstand bewog den Schwarzen Georg (Kara Gjorgje) ein Gesetz zu erlassen, dass man für ein Mädchen nicht mehr als einen Dukaten annehmen dürfe. Dieser Preis wird vor der Hochzeit erlegt. In der Črnagora, wo man gleichfalls für ein Mädchen zahlt, erlegt man das Kaufgeld am Hochzeitstage. Das Erlegen eines Kaufpreises hat sich nur mehr bei den Altkatholiken im allgemeinen, in der Herzegowina, in der Katunska Nahija der Črnogora, in Bosnien und zum grossen Teil in Slavonien erhalten, ebenso bei den Bulgaren. In der Požegaer-Umgegend (Slavonien) muss der Werber noch heutigen Tages gegen bares Geld sich eine Lebensgefährtin von ihren Angehörigen erkaufen. Dem Meistbietenden gehört die Braut. In Tatar Pazardžik (Bulgarien) wird genau über den Kaufpreis verhandelt; derselbe schwankt zwischen 100–500 Groschen und ist ausschliessliches Eigentum der Eltern der Braut. Für Lovreć in Dalmatien wird bloss noch eine symbolische Erinnerung an diesen Brauch bezeugt.[674] Im übrigen ist das noch weit verbreitete „Werben durch Geschenke“ nichts anderes als das Rudiment des alten Frauenkaufs.[675] Wie in England giebt es übrigens einen thatsächlichen modernen Weiberkauf bei den Russen in Sibirien, doch ist ihnen die Sitte von den besiegten eingebornen Völkerschaften zugekommen. Albin Kohn, ein guter Kenner der Verhältnisse, erzählt, der Heiratslustige müsse, wenn er sich mit einem Mädchen verständigt hat, dass sie ihn heiraten will, den Eltern einen ihren Vermögensverhältnissen entsprechenden Kalym — auch das Wort haben die Russen aus den mongolischen Sprachen übernommen — geben, der in verschiedenen Ge[S. 321]schenken besteht und sich auf 50–60 Rubel bewertet.[676] Bei den ostfinnischen Völkern, bei den Tschuwaschen, den Wogulen, Ostjaken, Mordwinen und Wotjaken findet der Brautkauf noch gegenwärtig statt. Die Mordwinen zeigen dabei die Eigentümlichkeit, dass während bei dem Stamme der Ersa die ältere Form des Brautkaufes sich erhalten hat, bei dem andern Stamme, den Mokscha, die Zahlung sich bereits zu einer Art Morgengabe oder Mitgift umgewandelt hat, ganz ähnlich wie dies bei Griechen und Germanen schon ziemlich früh eingetreten ist. Bei den Esten und Finnen kommt der Brautkauf gegenwärtig allerdings nicht mehr vor, aber aus den Liedern dieser Völker lässt sich mit Sicherheit schliessen, dass die betreffende Sitte auch bei ihnen früher im Schwange war.[677]
Überblickt man die Gesamterscheinungen des Frauenkaufs, so lassen sich dieselben also zusammenfassen: Sehr häufig sind die „Verlobungen“ — um einen freilich erst für spätere Zeiten berechtigten Ausdruck zu gebrauchen — ganz Sache der Eltern oder der Familien, und die Kinder werden gar nicht gefragt, ja oft im zartesten Alter und selbst noch vor der Geburt versprochen. Nicht selten ist die Höhe des Kaufpreises durch Herkommen oder Gesetz beschränkt. Seine Höhe wechselt von Volk zu Volk ganz ausserordentlich, dann aber auch bei den einzelnen Völkern selbst, je nach den verschiedenen Zeiten, nach dem Wohlstande oder aus anderen Ursachen. Nicht selten ist körperliche Wohlgestalt, Schönheit für die Höhe des Kaufpreises von Bedeutung; auch Standesverhältnisse nehmen darauf Einfluss. Witwen stehen meist niedriger im Preise als Jungfrauen. Der Kaufpreis wird entweder in Geld oder in entsprechenden Wertmessern, mit Vorliebe in Vieh gegeben. Die Zahlung geschieht nicht immer sofort, sondern verteilt sich bisweilen auf verschiedene Jahre. Bis zur vollen Auszahlung des Brautpreises bleibt die Ehe häufig in der[S. 322] Schwebe, doch hat der Bräutigam das Recht, die Braut in der Zwischenzeit zu besuchen, „ihr an den Busen zu gehen“, wie die Tataren sagen. Während bei diesem Busenrechte der Bräutigam die ehelichen Rechte schon vor der Hochzeit ausübt, obwohl er den ganzen Handel noch aufkündigen und einen Teil des erlegten Kaufpreises zurücknehmen kann, bleiben manchmal diese Rechte auch noch nach der Hochzeit eine Zeitlang aufgehoben, so dass in der ersten Zeit der Ehe das Verhältnis der Gatten noch als ein halbwegs unerlaubtes erscheint. Wenn die Eltern die versprochene, d. h. verhandelte Tochter einem andern zur Ehe geben, so begehen sie einen Rechtsbruch; desgleichen jeder dritte, welcher die mundschaftlichen Rechte des Bräutigams verletzt. Beide Fälle werden meist durch Bussen geahndet; aber auch den Bräutigam, welcher seinerseits den Brautkauf nicht ausführt, treffen Nachteile.[678]
Will man durch „Ehe“ die durch Liebe bedingte gesetzmässige Vereinigung eines Mannes und Weibes zur vollständigen Gemeinschaft aller Lebensverhältnisse verstehen, so erfüllt der Frauenkauf an sich augenscheinlich nur einen schwachen Teil dieser Bedingungen. Von einer Ehe im gedachten Sinne kann also zuerst noch keine Rede sein, denn das durch den Kauf angebahnte Verhältnis zwischen Mann und Weib ist bloss ein Eigentums- und Herrschaftsverhältnis. Aber — und das ist das Wesentliche — es trägt die Keime dessen in sich, was später sich uns zum Ehebegriff gestaltete, so dass man im Frauenkaufe die erste Stufe eines sich entwickelnden Eheverhältnisses erblicken darf. Mit dieser Einschränkung ist auch der Name „Kaufehe“ gelten zu lassen. Unlöslich mit der allmählichen Aufrichtung des Patriarchats, der Vaterherrschaft, verknüpft, nicht aber mit diesem als gleichbedeutend zu nehmen, bildet also mit ihm der Frauenkauf einen gewaltigen Markstein in der Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung, einen Markstein, von welchem aller späterer Gesittungsfortschritt ausgeht.
[622] Post. Anfänge des Staats- und Rechtslebens. S. 47.
[623] Siehe oben S. 302.
[624] Dargun. A. a. O. S. 145.
[625] Globus. Bd. XIX. S. 99.
[626] Ernst von Weber frug eines Tages Yanniki, ein hübsches kräftiges Amakosamädchen, warum sie denn nicht den Umfuli, einen jungen Kaffern, der ihr sehr den Hof machte, heirate, da sie ihn doch zu lieben schiene. Sie antwortete, sie habe ihn zwar gerne, dürfe ihn aber nicht heiraten, da er nur zehn Kühe für sie zu bezahlen im stande sei, während ihr Vater fünfzehn fordere. Herr von Weber meinte nun, es sei doch recht hart von ihrem Vater, wegen fünf Kühen mehr oder weniger dem Glücke seiner Tochter in den Weg treten zu wollen. Herr von Weber glaubte mit diesen Worten eine ihr wohlgefällige Äusserung gethan zu haben. Yanniki aber nahm es ganz anders auf. „Was!“ sagte sie erregt, „mein Vater sollte mich also wirklich für zehn Kühe hergeben, nicht wahr? Das fehlte gerade noch! Bin ich denn nicht mehr wert als Cilli, für die in voriger Woche der Tambukichief zwölf Kühe bezahlt hat? Ich bin hübsch, ich kann kochen, nähen, sticken, englisch reden, und bei allen diesen Vorzügen sollte mich mein Vater für lumpige zehn Kühe weggeben? O Herr, wie klein denken Sie von meinem Werte! Nein, nein, mein Vater hat ganz recht, wenn er in diesem Punkte nicht nachgeben will; ja, ich finde, er dürfte dreist zwanzig Kühe für mich fordern, denn ich bin es wert!“ (Ernst von Weber. Vier Jahre in Afrika. Leipzig 1878. Bd. II. S. 215–216.)
[627] Johnston. Der Kilima-Ndscharo. S. 392.
[628] Schweinfurth. Im Herzen von Afrika. Bd. I. S. 330.
[629] Globus. Bd. XXXIII. S. 56.
[630] Nachtigal. Sahara und Sudan. Bd. II. S. 685.
[631] A. a. O. S. 370.
[632] Mis de Compiègne. Gabonais, Pahouins, Gallois. Paris 1876. S. 191.
[633] Max Büchner. Kamerun. S. 31.
[634] Ausland 1861. S. 963.
[635] H. Zöller. Das Togoland und die Sklavenküste. Berlin und Stuttgart 1885. S. 179–180.
[636] Globus. Bd. XLVII. S. 248.
[637] A. a. O. Bd. XXV. S. 323.
[638] A. a. O. Bd. XXX. S. 159.
[639] A. a. O. Bd. XXVIII. S. 362.
[640] Hermann Vámbéry. A. a. O. S. 221.
[641] Hellwald. Centralasien. Leipzig 1880. S. 29, 138.
[642] Ed. Combes et M. Tamisier. Voyage en Abyssinie 1835–1837. Paris 1838. Bd. II. S. 106.
[643] In einem Vortrag, gehalten zu Calw am 27. Februar 1880 (Schwäb. Merkur vom 3. März 1880).
[644] Huc und Gabet. Wanderungen durch das chinesische Reich in deutscher Bearbeitung von Karl Andree. Leipzig 1867. S. 271.
[645] Tscheng-ki-Tong. China u. die Chinesen. Leipzig 1885. S. 60. 61.
[646] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 322.
[647] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 109.
[648] So z. B. von Dr. Otto Henne Am Rhyn. Kulturgeschichte des Judentums von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Jena 1880. S. 79.
[649] Bernhard Stade. Geschichte des Volkes Israel. Bd. I. S. 381.
[650] J. Bergel. Die Eheverhältnisse der alten Juden. S. 12.
[651] Deuter. 22, 29.
[652] Genes. 29. — Exod. 3.
[653] Bei manchen Indianerstämmen Nordamerikas und Brasiliens, bei den alten Quiché, sowie bei den Pehuenchen, ferner bei den Bangai in Afrika, den Kamtschadalen und in Tonkin.
[654] Richter 1, 13. — Sam. I. 18, 27.
[655] Post. Anfänge des Staats- und Rechtslebens. S. 30.
[656] Die Versuche älterer und neuerer Theologen, den Môhar zu einer Morgengabe d. h. einem Geschenke an die Braut umzudeuten (so hat Luther übersetzt), verdienen — wie B. Stade bemerkt — angesichts von Stellen wie Sam. I. 18, 25 kein Wort der Widerlegung.
[657] Stade. A. a. O. S. 382.
[658] Bergel. A. a. O.
[659] Ludwig Blume. Das Ideal des Helden und des Weibes bei Homer. Wien 1874. S. 48.
[660] Ilias. 23. V. 704–705.
[661] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 110.
[662] Duruy. A. a. O.
[663] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 376.
[664] Lippert. A. a. O. S. 111.
[665] Dargun. Mutterrecht und Raubehe. S. 151.
[666] Post. Geschlechtsgenossenschaft. S. 72.
[667] Lippert. A. a. O. S. 113.
[668] Dargun. A. a. O. S. 151–152.
[669] Fünf solcher Fälle sind erzählt im: Ausland 1861, S. 2018–2020: Im März 1766 verkaufte der Zimmermann Higginson aus Southwark seine Gattin an einen Zunftgenossen. Im Sommer 1767 ward eine Frau für fünf Schilling drei Pence und eine Gallone Bier verkauft; im August 1773 eine in Birmingham für gar bloss einen Schilling (50 Pf. Reichswährung). Am 8. Juli 1805 verkaufte ein Bursche in Tuxford seine Frau und ihr Kind für fünf Schillinge auf offenem Marktplatz, die Frau mit einem Strick um den Hals; 1807 wollte ein gewisser John Lupton aus Linton in der Nähe von Cambridge die Frau Richard Waddiloves, Wirtes in Grassington, kaufen und erbot sich bis auf 100 Guineen zu gehen. Man weiss aber noch von weiteren Fällen. Im Jahre 1815 verkaufte ein Mann sein Weib auf offenem Markt zu Pontrefact an den Meistbietenden gegen das Gebot von einem halben Pfund Sterling (zehn Mark). Im Jahre 1820 brachte ein „anständig aussehender“ Mann seine Frau auf den Rindermarkt zu Canterbury, und da der Marktmeister sich weigerte, sie an einen Pfahl zu binden, mietete er einen Verschlag und verkaufte sie kurz darauf an einen Städter für fünf Schillinge. 1822 verkaufte ein Thomas Jones seine Frau nach dreiwöchentlicher Ehe für drei Pfennige mit dem Vorbehalte, dass der Käufer sie nach drei Wochen zurückgeben könne, wenn ihn der Handel reue; 1832 liess ein Kleinpächter, Joseph Thompson, bei Carlisle einen Ausscheller verkünden, dass ein Mann seine Frau am 7. April um zwölf Uhr Mittags auf dem Markte verkaufen wolle. Die Frau stellte sich auf einen hohen eichenen Stuhl, mit einem Strohstricke um den Hals, und von einem grossen Kreise ihrer Freunde und Verwandten umgeben. Sie wurde für ein Pferd und einen Neufundländer losgeschlagen. Im Jahre 1834 kam auf gleiche Weise ein Verkauf in Birmingham zu stande. Im Jahre 1858 bediente sich ein Bierwirt zu Little Horton bei Bradford dieses billigen Scheidungsmittels und liess, um sicher zu gehen, den Verkauf gleichfalls mit der Schelle bekannt machen. Ja, 1877 wurde ein Weib für 40 Pfund Sterling verkauft und dieser Kauf unter Zahlung der Summe vor Notar und Zeugen bekräftigt. Am 31. Mai 1881 endlich beschäftigte sich sogar das britische Unterhaus mit einem Prozesse in Sheffield, woraus es sich ergeben, dass ein Mann seine Frau einem andern verheirateten Manne für ein Quart Bier verkauft habe. In den Hüttenbezirken Englands sind in der Zeit von 1877–1881 fünf derartige Fälle bekannt geworden und man darf annehmen, dass sie sich noch öfter zu ereignen pflegen. Kenner der Verhältnisse jener Gegenden behaupten, dass der Preis eines Weibes bei solch öffentlichen Verkäufen oft 50 Pfennige und ein Abendbrot betrage, und es wird ferner erzählt, dass der Verkauf oft öffentlich und mit dem vollen Einverständnis der nächstbeteiligten Personen stattfinde, ja, dass in solchen Fällen, um dem Vertrage Ansehen zu geben, ein Halfter um das Genick der Frau gelegt werde, den ihr der Meistbietende später abnimmt. Wiederholt hat dieser naive Rechtsirrtum die Vertragschliessenden vor den Richter gebracht.
[670] Ausland 1867. S. 89.
[671] In der Kanzlei eines dortigen Notars erschienen nämlich zwei rumänische Landleute aus einer benachbarten Ortschaft in Begleitung einer jungen hübschen Bäuerin. Sie war die Gattin eines der Bauern, welcher sie an seinen Freund verkauft hatte. Letzterer hatte auch bereits eine namhafte Angabe auf sie gegeben. Sie waren alle drei einverstanden und beanspruchten nichts mehr und nichts weniger, als dass der Herr Notar einen regelrechten Kaufvertrag ausfertigen solle. (Echo vom 3. Febr. 1887. Bd. X. S. 149.)
[672] Im Jaroslavischen Gouvernement soll der Brautpreis früher 40 Rubel betragen haben. Und in einem Hochzeitsliede singt das Mädchen:
(M. Kulischer in der Berl. Zeitschr. f. Ethnologie. 1878. Bd. X. S. 225.) Bei Nerechta soll der Brautpreis bis 500 Rubel gehen, und die Bauern daselbst halten es für entehrend, eine Tochter umsonst wegzugeben. (Dr. Leopold von Schroeder. Die Hochzeitsgebräuche der Esten. Berlin 1888. S. 26.)
[673] Post. A. a. O. S. 71.
[674] Friedrich S. Krauss. Sitte und Brauch der Südslaven. Wien 1885. S. 273–279.
[675] Lippert. A. a. O. S. 114.
[676] Globus. Bd. XXVI. S. 188. Die Sitte beginnt indes doch den jungen Sibiriern lästig zu werden, zumal sie ihnen durchaus keine Gewähr für die jungfräuliche Reinheit des gekauften Gegenstandes bietet.
[677] Leopold von Schroeder. Die Hochzeitsgebräuche der Esten. S. 27–29.
[678] Post. Anfänge des Staats- und Rechtslebens. S. 32–50.
[S. 324]lung erreichte, ward die Frau meistens eine Sklavin des Mannes, dessen Familie auch ihre Kinder zufielen.[679] Bis zu welchem Grade die Gewalt des Mannes über das Weib sich rechtlich auszuprägen vermochte, wird ein späterer Abschnitt lehren. Hier handelt es sich zuvörderst um die allgemeinen Wirkungen.
in jeder Kulturgewinn wird nur um den Preis schwerer Opfer erkauft. Deutlich springt diese bittere Wahrheit in die Augen, wenn man die gesellschaftlichen Wirkungen des Frauenkaufs und der Kaufehe genauer betrachtet. Ihre vornehmlichste Folgeerscheinung war nämlich die oft bis zur Knechtung gehende Erniedrigung des Weibes. Früher frei und der Angelpunkt der mutterrechtlichen Familiengruppe, sinkt nunmehr das Weib zur Ware herab und büsst jegliche Selbständigkeit ein. Ihre für die Familienordnung massgebende Stellung ist vernichtet. Als Gattin und Mutter steht sie dem Manne nicht mehr ebenbürtig zur Seite, sie ist vielmehr ein Werkzeug seiner Willkür geworden. Natürlich vollzog auch diese Wandlung sich nur langsam und ganz allmählich. Der Frauenkauf nahm seinen Anfang lange ehe das Patriarchat seine Ausbildung erlangte und während die alte mutterrechtliche Familienverfassung ihre Wirksamkeit noch nicht völlig verloren hatte. In dieser, das Patriarchat gewissermassen vorbereitenden Epoche, in welcher die männliche Gewalt in der Familie allerdings immer mehr hervortrat, übte auch der Frauenkauf die erwähnte Wirkung noch nicht in vollem Umfange. Der Käufer erwarb damit nicht immer ein volles Recht an der Frau, sondern es blieben noch Rechte ihrer Familie an dieselbe bestehen. Erst als die Kaufehe die Höhe ihrer EntwickDie nächste derselben ist die Ausbildung der schon vom Weiberraube eingeleiteten Vielweiberei und damit der strenge Ausschluss aller Polyandrie. Beim Frauenkaufe kommt die Neigung des Mädchens gar nicht in Betracht, noch viel weniger hat es Einfluss auf die Wahl seines Gatten, der ja nur sein Käufer ist. Es fällt jenem zu, der den Kaufpreis zu erlegen vermag, zumal es ihm häufig schon als Kind zugesagt worden ist. Von dem mehr oder weniger grossen Wohlstande des Käufers hängt es dann lediglich ab, wie viele Mädchen er sich kaufen kann oder will. Der Reiche gönnt sich deren so viel er mag, der Arme bescheidet sich oft nur mit einem Weibe. Dies ist die Monogamie der Armut, welche, wie später noch wiederholt sich zeigen wird, überall inmitten der ausgebreitetsten Vielweiberei zu treffen ist. Sie reicht so weit zurück, wie jedes andere eheliche Verhältnis,[680] nur darf man daraus nicht schliessen, dass sie etwas Ursprüngliches oder Natürlicheres sei. Alles weist vielmehr auf das Gegenteil hin; bei rohen Völkern, ja selbst bei höher gestiegenen, neigt der Mann eben so sehr zur Polygamie, wie das Weib zur Polyandrie.[681] Spencers Bemerkung, stets müsse dem Zustande, dass einer zwei Frauen hat, als Vorläufer derjenige vorausgegangen sein, wo er nur eine hatte,[682] ist eine spitzfindige Tiftelei ohne Beweiskraft. Die Regel ist überall, dass der Mann möglichst viel Weiber zu besitzen strebt, in welcher Weise, ist im Anfange gleichgültig. Galt es aber dabei zuerst bloss der Befriedigung sinnlicher Triebe, so gesellt sich auf höheren Stufen noch ein weiterer Beweggrund dazu. Die Vielweiberei wird zu einer wirtschaftlichen Frage, und zwar in doppelter Hinsicht. Denn[S. 325] nicht bloss ist der Erwerb einer Mehrzahl von Weibern auf der Stufe des Kaufes, wie bemerkt, vom Vermögensstande des Mannes abhängig, sondern er wird auch der rein geschlechtlichen Sphäre durch die Erfahrung entrückt, dass eine Vermehrung der Weiber einer Vermehrung der Arbeitskräfte gleichkomme. Wo das Weib zur Sache, „zum weiblichen Gegenstande“ herabgesunken ist, dort verfehlt der Mann niemals, aus der gekauften Ware herauszuschlagen, was er herausschlagen kann. Alle Lasten und Arbeiten in Haus, Feld und Flur bürdet er dem Weibe auf, und es ist klar, dass er desto mehr Vieh aufziehen, desto mehr Boden in Anbau nehmen kann, je mehr dienende Arme ihm zur Verfügung stehen. Daher denn mit vollem Rechte an vielen Orten der Reichtum und darnach das Ansehen eines Mannes nach der Anzahl seiner Weiber beurteilt wird.[683] Diese rohe Ausnützung der weiblichen Arbeitskraft, die in aller Schärfe besonders bei vielen Stämmen des schwarzen Erdteils beobachtet wird, kennzeichnet wohl die tiefste Stufe des Kaufverhältnisses.
Wachsende Gesittung entlastet allmählich das Weib. Dieser Fortschritt vollzieht sich aber äusserst langsam und ändert auch noch nichts an dem Begriffe vom Eigentum am Weibe, befestigt nicht das „eheliche“ Verhältnis. Lange, bis in hochentwickelte Gesittungsstadien hinein, fährt dies fort, ein Besitzverhältnis zu bleiben. Der Mann, welcher die Frau gekauft, kann sie natürlich nach Belieben wieder an einen dritten verkaufen. Die ehelichen Bande können auch nur locker sein, da für sie die Willkür des Gatten entscheidet. Diesem Umstande entspringen die an[S. 326]scheinend widersprechendsten Erscheinungen: einerseits die völlige Abschliessung des Weibes, andererseits die Preisgebung desselben, etwa an den Gastfreund. Von dem gekauften Weibe heischt der Mann Pflichterfüllung; was aber dem Weibe „Pflicht“ sei, das bestimmt eben der Mann. Seine eigene Anschauung darüber wird wieder von dem Nutzen geleitet, welchen er sich von seinem Eigentum verspricht. Auf jenen Stufen, welche das Eintreten eines Fremdlings in die Wohnung als segenbringendes Ereignis betrachten, bildet sich leicht die sogenannte gastliche Prostitution der Frauen und Töchter. Dieser in unseren Augen schnöde Gebrauch ist nun allerdings nicht immer ein Ausfluss des Frauenkaufs und Vaterrechts, sondern häufig ein Rückstand älterer, musterrechtlicher Sitten, denn wir finden ihn nicht selten gerade bei solchen Völkern, welche heute noch in der grössten geschlechtlichen Ungebundenheit leben. Doch fehlt es nicht an unzweifelhaften Beispielen aus dem Bereiche der Mannesherrschaft, wo er keine andere Deutung als die angegebene zulässt. Der Übersichtlichkeit halber stelle ich die wichtigsten mir bekannt gewordenen Fälle im Nachfolgenden zusammen.
Schon der Venezianer Marco Polo gedenkt der Sitte aus Tibet,[684] wie wir wissen, einem Hauptherde der Polyandrie. Bestätigung erhält seine Angabe durch Biddulph, der von den Bewohnern Hunsas im westlichen Himalaya angiebt, dass ein Mann seine Frau zur Verfügung des Gastes zu stellen hat.[685] Sonst treffen wir die Sitte hauptsächlich bei den Völkern Nordasiens, aber auch anderwärts. Chamisso nannte das „reine unverderbte“ Sitten,[686] und so nahm es denn auch Adolf Erman auf,[S. 327] als ihm ein kamtschadalischer Häuptling nachts das Weib mitleidig ins Bett schickte, um ihm die Einsamkeit zu kürzen. Krascheninnikow bestätigt Ermans Angaben mit dem Hinzufügen, es gelte für die grösste Beleidigung, wenn der Gast die Frau ausschlage. Noch als von Middendorff in Sibirien reiste, gehörte es bei den Samojeden zu den Pflichten der Gastfreundschaft, den Gast durch freie Verfügung über Frau und Tochter zu ehren.[687] Der nämliche Brauch war bei den Aleuten im Schwange[688], und von den Eskimo wissen wir ähnliches, wie dieses Hall nach eigenen Erfahrungen erzählt.[689] Hearne, der vor hundert Jahren die nördlichen Tinné-Indianer im arktischen Nordamerika besuchte, sagt, dass es ein ganz gewöhnlicher Brauch bei ihnen sei, die Nacht bei der Frau des Gastfreundes zuzubringen und dass dies eines der festesten Freundschaftsbande bilde. Bei den Knistenaux wurden Weiber und Kinder dem Gaste angeboten und das Anerbieten des Weibes gehört bei den Komantschen heute noch zu den Höflichkeiten der Gastfreundschaft. Die nämlichen Sitten meldet man nicht bloss von Neuseeland und der Osterinsel, sowie aus Madagaskar und einigen Teilen Afrikas, z. B. vom Grünen Vorgebirge, sondern auch von den senegambischen Berbern, die doch schon Moslemin sind.[690] Auch in Chaldäa herrscht unter den wilden und kriegerischen Bergvölkern gastliche Prostitution, und von den El Merekede, einem Zweige des grossen Asyrstammes auf der Grenze von Hedschas und Yemen in Arabien, nahe der Seeküste, erfuhr Burckhardt von der nämlichen Sitte der Männer, ihrem Gaste für die Nacht ihre eigenen Frauen zu überlassen, doch nie die Jungfrauen. Hatte der Gast bei der Hausfrau sich beliebt zu machen gewusst, so wurde er am folgenden Morgen für seine weitere Wanderschaft reichlich versehen: im Gegenteile schnitt man einen Zipfel seines Mantels als Zeichen der[S. 328] Verachtung ab und er wurde von Weibern und Kindern mit Schimpf davon gejagt. Den Wahabiten machte es grosse Not, diese Sitte bei sich abzustellen, und als zwei Jahre hintereinander Dürre und Misswachs eintraten, sah man dies als Strafe des abgeschafften und doch so viele Jahrhunderte zuvor gebräuchlichen Gastrechtes an.[691] Die christlichen Abessinier sehen heute noch mit gleichgültiger Miene ihre Gattinnen und Töchter den Fremden um Lohn sich preisgeben. In Cantiba entfernte sich der gefällige Hausherr, als er die Reisenden Combes und Tamisier in seiner Hütte fand, wo sie Unterkunft gesucht hatten, und bat sie, seiner jungen Frau zu gestatten, die Nacht bei ihnen zuzubringen.[692] Ähnliches erlebten sie wiederholt auf ihrer Reise.[693]
Kein Zweifel über die Bedeutung der Preisgebung von Frauen und Mädchen kann dort bestehen, wo sie nicht in Verbindung mit der Gastfreundschaft, sondern lediglich aus Habsucht auftritt. Dass bei Festen die Weiber andern überlassen wurden, um deren Gunst zu gewinnen, war an manchen Orten sehr gewöhnlich. Bei den Mpongwe am Gabun, wie fast überall im äquatorialen Afrika, betrachtet man das Weib als einen lohnenden Besitz, dessen Reize noch mehr eintragen sollen, als die Arbeit der Sklaven. Daher die Ehemänner stets bereit sind, ihre Frauen dem ersten Besten zu überlassen, ja sie ihm anzubieten, denn ist er, der Fremde, reich, so muss er zahlen, ist er aber arm, so wird er der Sklave des Gemahls. Sprödigkeit gegen einen freigebigen Liebhaber würde der Mpongwe seiner Gattin mit dem Kassingo in der Hand bald austreiben.[694] Ehe die Engländer das Küstengebiet von Sierra Leone in Besitz nahmen, hatten sich die dort lebenden Weissen den Gesetzen der Gallinaneger zu unterwerfen, welche den Ehebruch mit einer Geldbusse bestraften. Es sandte daher mancher schwarze Ehrenmann seine hübschesten Frauen in die Faktoreien, damit sie durch ihre Reize den Weissen[S. 329] bestrickten und zum unbewussten Ehebruche verleiteten.[695] Im westlichen Südafrika pflegen die Männer ihre Frauen während der Nacht in das Lager der Reisenden zu senden, um mit den Trägern zu tändeln und ihnen „alte Geschichten“ zu erzählen. Am nächsten Morgen kommen dann die Männer, denen die Frauen alles wieder erzählt haben, und verlangen kitusch (Busse), wobei dann oft ganz übertriebene Forderungen gestellt werden, die auch meistenteils bezahlt werden müssen. Ein Mädchen oder eine Frau, die sich nicht mit den Trägern einlässt, gilt als ein „unnützes, schlechtes Ding“ und muss Hohn und Verachtung erdulden.[696] Auch mehrere kleine indianische Völkerschaften am Amazonas und Yupurá überlassen, wie Martius meldet, Fremden ihre Weiber gegen Lohn. Den rohen Massai leitet eine andere Art von Eigennutz. Des Verheirateten einziges Bestreben ist nämlich eine Brut junger Rinderdiebe aufzuziehen und um sie zu bekommen, ist er niemals eigen in der richtigen Wahl der Mittel. Er ist nicht eifersüchtig, stellt keine verlegen machenden Fragen und bedient sich keiner Aufpasser. Wenn ein Freund ihn besucht, so ist er gastfrei bis zur äussersten Grenze.[697]
Der nämliche Mensch, welcher den Körper seines Weibes an den erstbesten schnöde verschachert, sieht aber vielleicht mit grösster Strenge darauf, dass die Frucht nicht ohne seinen Willen genossen werde. Das Weib, welches hinter dem Rücken ihres Gatten und Besitzers einem dritten sich hingiebt, begeht Ehebruch, welcher der Strafe verfällt. Der Begriff des Ehebruchs entsteht erst auf der Stufe des Frauenkaufes. Im Bereiche des Mutterrechts gab es innerhalb der Geschlechtsgenossenschaft keinen Ehebruch; nur ein Eindringling aus fremdem Stamme konnte einen solchen begehen, allein er versündigte sich dadurch an keinem einzelnen, sondern an der ganzen Geschlechtsgenossenschaft, welche an ihm Blutrache übte. Ein solcher Rechtsbruch ward[S. 330] masslos gerächt und es findet sich, dass der Verführer vom Häuptling oder den Blutsfreunden des Weibes busslos erschlagen wird.[698] Auch macht es da keinen Unterschied, ob es sich um eine Frau oder ein Mädchen handelt. Ganz anders da, wo ein Mann der Besitzer des Weibes ist. Hier erfolgt ein Eingriff in das Besitzrecht eines einzelnen, des Käufers oder Inhabers des Weibes, und dieser, nicht mehr die Geschlechtsgenossenschaft, ist der Geschädigte. Er ahndet also die Antastung seines Eigentums, des gekauften Weibes, ganz so und mit dem nämlichen Rechte, wie die unerlaubte Benutzung irgend eines ihm gehörigen Gegenstandes. War es früher die Rache, in welcher die Bestrafung des am Stamme begangenen Rechtsbruches wurzelte, so fussen alle Ahndungen des „Ehebruchs“ ursprünglich auf der Vorstellung des Besitzrechtes des Mannes.[699] Nur die Verletzung des Eigentums, nicht des Mannes Ehre oder Eifersucht, beides verfeinerte Begriffe einer späteren Zeit, kam zunächst in Frage. Deshalb strafen die Indianer den Ehebruch nur dann, wenn er ohne Erlaubnis geschehen ist. So ist es eine notwendige Folge des Umstandes, dass die Frau unter dem Gesichtspunkte eines Besitzes des Mannes steht, dass man unter ehelicher Treue des Weibes etwas ganz anderes versteht als unter der des Mannes. Der Mann kann nur fremde Ehe brechen, das Weib nur die eigene. Das Ausmass der bei den verschiedenen Völkern über Ehebruch verhängten Strafen bewegt sich innerhalb sehr weiter Grenzen, je nachdem neben dem sich ausbildenden Eigentumsbegriffe am Weibe ältere mutterrechtliche Anschauungen mehr oder weniger lebhaft fortlebten. Häufig wird der Ehebruch mit entsetzlichen Strafen belegt, im allgemeinen jedoch milder als in der Urzeit behandelt. Die rohesten Zeiten kennen überhaupt kaum eine andere Sühne, als die Verwirkung des Lebens. Dann zunächst das Jus Talionis.[700] Aber schon auf vorgerückteren Stufen der mutterrecht[S. 331]lichen Perioden ward der Rechtsbruch des Buhlen — Ehebrechers kann man noch nicht sagen — sühnbar; zunächst falls die Blutsfreunde die Busse annahmen, alsdann allgemein. Man hatte kein Interesse an der rohen Vernichtung; vorteilhafter schien es, aus dem Vorgefallenen durch eine Busse Nutzen zu ziehen. Umsomehr erst auf der Stufe des ausgebildeten Besitzrechtes am Weibe. Allerdings behält der Gatte vielfach noch das Recht der Blutrache und kann den Ehebrecher töten, auch die schuldige Frau umbringen, besonders dann, wenn er sie auf der That ertappt;[701] viel häufiger zieht er es aber vor, den Ehebrecher in Busse und, falls dieser sie nicht bezahlen kann, in Schuldknechtschaft zu nehmen.[702] Nicht geringen Einfluss auf die Höhe der Strafe nimmt dabei der jeweilige Kapitalwert des Weibes. So wird z. B. bei den Dualla Ehebruch auf das strengste bestraft, nirgends aber in ganz Westafrika steht auch das Weib so hoch im Preise.[703] In Sierra Leone ist er dagegen etwas Alltägliches und wird von dem schuldigen Liebhaber durch eine mehr oder weniger grosse Geldstrafe gebüsst.[704] Auch die Standesunterschiede sind auf die Höhe der Bussen von Einfluss. Reiche und hochgestellte Sünder müssen mehr zahlen als der gemeine Mann. Ähnliche, mitunter örtliche Ursachen schaffen eine ganze Stufenleiter in der Abschätzung der Strafbarkeit des Ehebruchs, wobei seltsamerweise eine Verschärfung der über den Ehebruch verhängten Strafen eine fortge[S. 332]schrittenere Gesittungsstufe bekundet. Wo z. B. der Gatte das auf frischer That ertappte Weib tötet, müssen schon seelische Regungen im Spiele sein, welche dasselbe zwar immer noch als Ding des Besitzes, dessen Vernichtung dem Eigentümer freisteht, nicht mehr aber als Gegenstand kühler Berechnung betrachten. Von noch höherer Auffassung zeugt es, wenn die Schuldigen schimpfliche Strafen[705] treffen, woran sich unmittelbar, häufig auch mit solchen vereint, Verstümmelungsstrafen[706] anschliessen, welche wesentlich den Charakter von Brandmarkungen tragen. Sie fallen stets auf das treulose Weib und zeigen bei aller Roheit damit deutlich, dass der Ehebruch nicht mehr als eine blosse Verletzung des Eigentumsrechts allein empfunden wird, sondern eine edlere Saite des Gefühlslebens berührt hat. Alle derartigen Satzungen gehören Entwicklungsstufen an, welche den Frauenkauf in seiner gröbsten Gestalt schon wieder mehr oder weniger überwunden haben. So kommt es, dass mit steigender Gesittung, in deren Gefolge stets eine Verfeinerung der Ehebegriffe einherzieht, die Strafe für den Ehebruch allmählich zur Härte, zur Tötung des Verbrechers zurückkehrt, wie sie aus anderen Gründen in mutterrechtlicher Urzeit üblich gewesen. Bei den Gurkha in Nepal z. B. gilt ein Mann, dessen Frau während seiner Abwesenheit Untreue begangen, für entehrt und er ist aus seiner Kaste ausgestossen, bis der[S. 333] Flecken an seiner Ehre getilgt ist; er kann mit seinen Freunden und Verwandten weder essen noch rauchen, noch auch nur sie besuchen, bis dies geschehen. Der Verführer verbirgt sich oft jahrelang, bis ihn der Beleidigte endlich erreicht und mit einem Hieb seines Schwertes das schuldige Haupt vom Rumpfe trennt. Jetzt ist Gerechtigkeit geübt, seine Ehre gerächt, er hat seine Kaste wieder erlangt; doch eine Kleinigkeit bleibt ihm noch zu thun: er hat seinem Weibe die Nase abzuschneiden, damit niemand künftig sich in sie wieder verliebe.[707]
Die Sühnbarkeit des Ehebruchs mittelst Busse[708] an Geld oder Wertgegenständen ist es also, welche den Höhepunkt der Kaufehe kennzeichnet. Auch ein zweites bleibt für dieselbe noch massgebend: den Begriff des Verbrechens bildet immer noch das verletzte eheliche Besitzrecht des Mannes; der Gedanke, dass auch der Gatte seiner Frau die Ehe brechen könne, hat noch keine Aufnahme gefunden; das heute geltende Verhältnis gegenseitiger Treue war also noch keine Bedingung des Ehebündnisses.[709] Lose, wie in derselben natürlich die Gefühlsbande sind, welche die Gatten miteinander verknüpfen, herrscht dabei ein unaustilgbares, sehr gerechtfertigtes Misstrauen von Seiten des Mannes, der auf jegliche Weise bemüht ist, sein gekauftes Eigentum gegen fremde Eingriffe zu behüten. Von ehelicher Treue ist im Prinzip keine Rede. Die Frau wird eben nur so lange der Treue für fähig gehalten, als sie keine Gelegenheit zum Gegenteile findet. Bietet sich eine solche Gelegenheit und widersteht sie selbst der[S. 334] Versuchung, so glaubt es doch kein Mensch. So bezeugt es Freiherr von Maltzan unter anderen von den südarabischen Agareb.[710] Die Frau wird eben für willenlos angesehen, und an eine moralische Würde derselben glaubt niemand. Eine solche ist in unserem Sinne bei der reinen Kaufehe thatsächlich weder vorhanden, noch auch kaum möglich.
Die Massregeln, wodurch der Mann der Verletzung seines Eigentums vorzubeugen sucht, sind nun sehr mannigfacher Art und haben Rudimente bis in die Gegenwart sogar bei den höchstgestiegenen Kulturvölkern hinterlassen. Gleichsam die ursprünglichste und roheste Form der Vorbeugung ist die Einschliessung der Frau, bei welcher die Völker der muhammedanischen Kultur stehen geblieben sind, die ihnen aber keineswegs allein gehört. Der „Harem“ (el Harím, d. h. das Verbotene)[711] ist keine Erfindung der Moslemin. Es kannten ihn schon, wie es scheint, die alten Ägypter, wenn auch nicht als Regel, so doch bei den Königen, ferner die Assyrier und unter den Achämeniden die Perser, bei welchen er eine grosse Rolle spielte, wenigstens im Leben der Könige und Grossen, von dem allein wir einige Kunde besitzen. In den späteren Zeiten des Perserreiches waren über 300 Damen zugleich zur Verfügung im Harem und begleiteten den Grossherrn sogar in den Krieg und auf die Jagd. Das „Weiberhaus“ in Susa war ein eigenes Gebäude, durch einen Hof vom Palaste des Königs geschieden, und hatte drei Stockwerke, eines für die noch nicht verwendeten Mädchen, eines für die in Ausübung ihres „Amtes“ begriffenen, das oberste für die Königin, die übrigen wirklichen „Frauen“ und ihre Bedienung.[712] Ausser von Sklavinnen wurde der Harem auch von Verschnittenen (Eunuchen), bedient, wie dies bereits in Assyrien der Fall war.[713] Sie werden in der Bibel manchmal als Kämmerer der Offiziere bezeichnet und standen unter einem Oberkämmerer. Der Ursprung dieser schmählichen Sitte wird[S. 335] der Semiramis, von andern den Persern zugeschrieben, ist aber zweifellos so alt wie die misstrauische Abschliessung der Frauen selbst. Verschnittene sind dem ganzen Morgenlande, wo die Ehe auf sei es wirklichem, sei es scheinbarem Kauf beruht und das patriarchalische System ausgebildet ist, eigentümlich.[714] Auch die Griechen haben manchmal mit solchen Hämlingen Handel getrieben, die sie nach Ephesus und Sardis den Persern für hohe Preise verkauften. Die alten Hellenen waren ihren Gesetzen nach Monogamen und hatten daher keinen Harem in dem Sinne, welchen man gewöhnlich damit verbindet; dennoch hielten sie die Ehefrau mit ihren Dienerinnen in häuslicher Abgeschiedenheit, in welcher auch das junge Mädchen aufwuchs. Das griechische Weib der geschichtlichen Zeit war — namentlich in Athen — durch die Sitte auf das Haus beschränkt und bewohnte in diesem den abgesonderten Hinterteil (Γυναικωνῖτις), Gemächer, die von denen der Männer sowie von der Aussicht auf die Strasse getrennt waren.[715] Sie empfingen darin keine Besuche von Männern, ausser in Gegenwart ihres Gatten und hatten nicht einmal an ihrem eigenen Tische einen Platz, wenn männliche Gäste zugegen waren. Nur bei seltenen Gelegenheiten, bei Götterfesten und bei kultlichen Aufführungen im Theater, zeigten sie sich in der Öffentlichkeit. Noch unter Demetrius Phalereus wachten aber eigene „Frauenaufseher“ (Γυναικοκόμοι) darüber, dass die gesetzlichen Vorschriften über Kleidertracht, Schmuck und Betragen gebührend beobachtet wurden. Nie ging die verheiratete Griechin ohne Schleier und ohne Begleitung einer Sklavin aus. Noch strenger gestaltete sich die Absperrung der Frau unter den christlichen Byzantinern, und der muhammedanische Harem selbst ist grossen[S. 336]teils nach dem Vorbilde des byzantinischen „Gynäkaions“ eingerichtet. Unter den Modernen ist die Frau des brahmanischen Hindu immer in ihrem besonderen Gemache (Zenana) eingeschlossen und sieht die Welt nur durch ihren Parda. Sie geht nur mit herabgelassenem Schleier oder in einer Sänfte aus. In den Eisenbahnzügen sind auch in der dritten Klasse Abteilungen für Damen, und diese gehen von der Sänfte bis zum Waggon durch einen mittelst zweier Stücke Stoff rasch hergestellten Gang.[716] Die christlichen Armenier halten ihre Frauen fast ebenso strenge hinter Schloss und Riegel als die Muhammedaner, und ebenso thun die meisten christlichen Bewohner des Morgenlandes. Ja, es ist sonderbar, aber wahr, dass gerade die Christen in Asien die Sache noch schlimmer treiben, als die Moslemin und dass sie um so strenger werden, je mehr Europas Bildung vordrängt, während manche Türken z. B. ihre starre Abgeschlossenheit fahren lassen.
Von dem nämlichen Misstrauen, welches die Einschliessung des Weibes, den Harem, ins Leben gerufen, zeugen noch viele andere Vorbeugungsmassregeln, welche dahin abzielen, teils die Sonderung der Geschlechter aufrecht zu erhalten, teils das Weib dem fremden Manne wenig begehrenswert erscheinen zu lassen. Dem ersteren Zwecke zu genügen, mussten die Ägypterinnen in alten Zeiten barfuss gehen, damit sie lieber zu Hause blieben. Ihm dient auch die ängstliche Verhüllung der Gesichter der orientalischen Frauen, wobei zum Teil in Beziehung auf den übrigen Körper weniger Vorsicht für nötig gehalten wird. Zu den Massregeln der zweiten Art gehört es, dass in Tibet die Weiber, wenn sie das Haus verlassen, ihr Gesicht mit einem schwarzen klebrigen Sirup anpinseln. Jede rechtschaffene Frau muss in der Öffentlichkeit recht hässlich erscheinen und jene Salbe kreuz und quer über das Gesicht schmieren. Diese Sitte kam zuerst im nördlichen Tibet vor; in Westtibet kleben sich die Weiber zu gleichem Zwecke gespaltene Fruchtkörner längs des Nasenbeines und um die Augenbrauen.[717] In Japan rasieren sich verheiratete Frauen[S. 337] die Augenbrauen ab und färben sich die Zähne durch eine Art Tinte schwarz.[718] Ob auch das bei vielen Stämmen übliche Ausschlagen gewisser Zähne hierher zu rechnen sei, muss fraglich bleiben, da die Operation auch an Männern vollzogen wird und zum Teil einem uns freilich unverständlichen Schönheitsbegriffe zu entsprechen scheint, ebenso wie der künstlich verkrüppelte Fuss der Chinesinnen. Dagegen ist die Ablegung oder Verbergung des Haarschmucks bei Eintritt in die Ehe entschieden eine abschreckende Vorbeugungsmassregel. Wer Gelegenheit gehabt, die braun- oder schwarzseidenen Haarbinden der polnischen oder russischen Jüdinnen zu sehen, welche die Stelle des natürlichen Haares vertreten, wird auch zugeben, dass selbst bei hübschen Gesichtern der Zweck trefflich erreicht wird. Auf den nämlichen Grundgedanken ist endlich die Sitte zurückzuführen, welche bei uns das Haar der verheirateten Frau unter der Haube verhüllt. Daran ändert der Umstand nichts, dass im Laufe der Zeit die Haube zum Symbol der Frauenwürde aufgerückt und die Redensart: „unter die Haube kommen“ gleichbedeutend „mit in die Ehe treten“ geworden ist.
Es hat begreiflich lange, unendlich lange gedauert, ehe das Besitzrecht des Mannes an der Frau einen andern Schutz fand als die Kraft des eigenen Arms. Erst als und wo es zur Bildung von Staaten kam, vermochte die Sitte „Gesetz“ zu werden, welches die hergebrachten Rechte des Einzelnen unter den Schutz der Allgemeinheit stellte. Noch vor dieser bedeutsamen Staffel, welche ja nicht alle Völker erklommen haben, äusserte der Frauenkauf seine Wirkung nach zwei verschiedenen Richtungen. Ich habe betont, wie derselbe zunächst eine fühlbare Erniedrigung, ja die Sklaverei des Weibes nach sich zog. Aber gerade dadurch, dass das Weib zur Ware herabsank, stieg andererseits dessen wirtschaftliche Wertschätzung, und dies war der Ausgangspunkt eines unbestreitbaren Fortschrittes. Der Kulturgewinn liegt aber gewiss nur zu sehr geringem Teile darin, dass, wie H. Spencer meint, die Kaufehe die Monogamie unterstütze.[719] „Wenn der Mann“, sagt[S. 338] er, „ihrem Vater einen bestimmten Preis gezahlt oder eine bestimmte Zeit gedient hat, so wird er sicherlich mit grösserer Entschiedenheit der Wegnahme seiner Frau sich widersetzen, als wenn er sie ohne dieses Opfer erlangt hätte“. Sicherlich! Ist doch das Weib durch den Kaufpreis sein Besitz, seine Sache geworden! Weniger zutreffend ist die Voraussetzung, dass, wenn ein Weib gekauft oder durch lange Arbeit erworben worden und ein zweites nur vermöge eines gleichen Aufwandes zu haben ist, dies eine wichtige Schranke gegen jedes Gelüste sei, die Ehe leichtsinnig wieder aufzulösen. Die Erfahrung bestätigt diese Ansicht nur in bedingter Weise. Gerade unter der Herrschaft des Frauenkaufs sind die ehelichen Bande noch sehr lose und die leichte Trennung vom Weibe ist auf dem einfachen Wege des Verkaufes ermöglicht. Was den Mann davon zurückhält, ist weniger die Schwierigkeit, eine andere Frau zu erwerben, als die erwachende stärkere Neigung für die schon erworbene. Überall erweckt der Besitz Liebe zum Besitz, und wie gering auch die zarteren Regungen der Kulturarmen geachtet werden mögen, es kann nicht fehlen, dass dieselben mit der Dauer zunehmen und erstarken, so dass sie allmählich einen sittlichen Kulturgewinn darstellen. Der Fortschritt, welchen Frauenkauf und Kaufehe anbahnen, liegt aber auch nach einer anderen Seite.
Wo das Weib ein Besitzgegenstand des Mannes wird, da fallen diesem auch die Kinder als Eigentum zu. Kinder vermehren aber seinen Wohlstand, männliche als spätere Arbeitskräfte, weibliche als spätere Verkaufsgegenstände. Max Buchner hat dies betreffs der Dualla in Kamerun ganz treffend mit den Worten ausgedrückt: „Die Weiber sind das Kapital des Mannes, und die Kinder, die er aus ihnen zu erzielen hofft, sind seine Zinsen.“[720] Weit entfernt die Monogamie zu fördern, legt die Sitte des Frauenkaufs dem Manne es vielmehr nahe, so viel Weiber als möglich zu erwerben, um auch möglichst viel Kinder zu erzielen. Während also in mutterrechtlicher Zeit die Geschlechtsbündnisse bloss des Genusses halber geschlossen wurden,[S. 339] liegt ihnen nunmehr kühle Berechnung zu Grunde. Die Gewinnung von Kindern wird der Hauptzweck der Kaufehe, und zwar so sehr, dass sich nach diesem Erfolge vielfach die Dauer des Verhältnisses richtet.[721] Unfruchtbare werden daher ihrem früheren Eigentümer, sei dies der Vater oder ein ehelicher Vorgänger, gegen Erstattung des Kaufpreises zurückgegeben. So ist es nicht bloss bei den genannten Dualla, sondern allgemeiner Brauch im ganzen Bereiche des Frauenkaufs. Allerwärts ist Unfruchtbarkeit der Frau ein Grund zur Auflösung des Ehebundes und bleibt dies manchmal sogar noch auf höheren Stufen der Entwicklung, wo edlere Begriffe die materielle Auffassung längst verdrängt haben, wo es, wie in China, Zweck der Ehe ist, der Familie Kinder zuzuführen, um die Eltern zu ehren und den Ahnendienst fortzusetzen.[722] Bei den christlichen Abessiniern ist die Beschuldigung der Unfruchtbarkeit der grösste Schimpf, den man einem Weibe anthun kann, und um nur Mutter zu werden, giebt sie sich ohne Scheu jedem Manne hin, dem sie begegnet.[723] Wie sehr aber ursprünglich, d. h. in den noch in die Perioden der unausgebildeten Mannesgewalt zurückreichenden Anfängen des Frauenkaufs, der berechnende Gedanke vorwaltete, beweist der Umstand, dass das durch den Kauf noch nicht völlig versklavte Weib durch eine gewisse Anzahl Kinder ihre Freiheit und damit ihre Rückkehr in ihr elterliches Haus erkauft. So meldet Nachtigal, dass bei einigen Stämmen Innerafrikas die Frau, wenn sie ihrem Gatten fünf Kinder geboren hat, „auf ihren Wunsch in das elterliche Haus zurückkehren zu dürfen scheine“.[724] Die Frau der Sonrhay ist schon mit drei Kindern ausgelöst. Stets aber wird vorsorglich bedungen, dass die Zahl der Kinder den Wert des Kaufpreises der Frau über einen gewissen Grad hinaus übersteige, dass mit andern Worten der Käufer Zinsen von seinem Kapitale geniesse. Und doch liegt schon in diesem groben Verhältnisse[S. 340] unverkennbar ein sittlicher Fortschritt! Die Wertschätzung des Weibes zieht die Wertschätzung der Kinder nach sich. Wo diese ihren Einzug hält, verschwindet die gewohnheitsgemässe Beseitigung des Nachwuchses, der Kindermord, wie ihn die mutterrechtliche Urzeit mit aller Liebe zu den am Leben Gelassenen zu vereinen wusste. Die Kinder sind eben nichts Überflüssiges mehr und selbst die Mädchen, welche ehedem den eigenen Müttern als Ballast galten und der Notdurft der Zeit zuerst zum Opfer fielen, wurden nunmehr ein Gegenstand hoher Wertschätzung. Anderen Ursachen blieb es später vorbehalten, selbst bei hochentwickelten Völkern einen Rückschritt in dieser Hinsicht herbeizuführen. Was aber das Wichtigste ist: in seinen Zinsen lernte der Mann auch seine Kinder lieben. Ist die Mutterliebe ein natürlicher Instinkt, so ward die Liebe des Vaters dagegen erst spät errungen. Lange, lange währte es, ehe die harte Rinde schmolz, welche das rauhe Mannesherz umpanzerte. Wiederum war es der Besitz, welcher, wie die Neigung zum Weibe, so auch die Liebe zur Nachkommenschaft im Vater keimen liess. Bescheiden zwar wie das Mass dieser Liebe ist, Liebe bleibt es doch, wenngleich „Liebe“ hier in einem dem Naturzustande näher liegenden Sinne aufzufassen ist.
Wo nun einmal durch den Zauber des Besitzes von diesem unabhängige, höhere Regungen Wurzel fassen, dort wird bald die Neigung erkennbar, den Begriff des Ehebundes dahin zu erweitern, dass die Verlobte in Bezug auf das Recht des Mannes der Angetrauten gleichgesetzt wird.[725] Unter der „Verlobten“ ist das Mädchen zu verstehen, welches von ihren Eltern oder Mundwalte dem kaufenden Manne seit mehr oder weniger langer Zeit zugesagt worden ist. Es besteht noch keine „Verlobung“ in unserem Sinne, wobei Mann und Weib sich gegenseitig die Ehe versprechen; es ist nichts als die völlig zeremonieenlose Vereinbarung eines später abzuschliessenden Kaufgeschäfts. Immerhin darf man diese Vereinbarung als den Vorläufer der späteren Verlobung betrachten, welche allmählich zur Bedeutung eines festlichen Familienereignisses aufstieg. Es bezeichnet nun einen sehr wesent[S. 341]lichen Fortschritt in sittlicher Hinsicht, dass der Käufer von dem ihm für später zugesagten Mädchen die nämliche Treue, die nämliche Unberührtheit zu fordern begann, wie von der wirklichen Gattin. In mutterrechtlicher Zeit waren, wie in früheren Abschnitten gezeigt, dem Weibe vor dem Eintritt in einen Geschlechtsbund mit einem Manne keine Schranken gezogen. Auch unter dem Frauenkauf blieb dies noch lange so, und viele Völkerschaften haben dieses Stadium noch nicht überwunden. Wir treffen bei ihnen die strengsten Ehen, d. h. die schwersten Ahndungen für den Ehebruch, dabei aber das leichtfertigste Leben ausser derselben. Es herrscht noch völlige Gleichgültigkeit in Bezug auf den sittlichen Ruf der zu kaufenden oder sonstwie zu erwerbenden Weiber. Das strenge Vater-, richtiger Mannesrecht gilt vorerst nur in der Ehe; die unverheirateten Töchter leben nach altem Mutterrecht[726] und führen einen nach unseren Begriffen zügellosen Wandel. So war es bei den ausgerotteten Urbewohnern der westindischen Antillen, so ist es noch heutigen Tages bei vielen Völkerschaften. Ich habe schon an früherer Stelle[727] Beispiele dafür zusammengetragen und erwähne hier daher bloss, dass auch auf Neuseeland das Ansehen der Unverheirateten steigt mit der Zahl ihrer Liebhaber. Auf den Andamanen werden die Mädchen vor ihrer Verheiratung als Gemeingut sowohl der verheirateten, als der ledigen Männerwelt betrachtet. Ebenso allgemein ist die Unkeuschheit der Mädchen vor der Ehe, ohne Anstoss zu erregen, bei den Malgaschen, bei mehreren indianischen Völkerschaften Amerikas, in Bhutan im nördlichen Indien, bei den Annamiten in Cochinchina, auf Borneo, auf vielen australischen Inseln, bei vielen Negerstämmen. In Unyamuezi, wo schon Vaterrecht herrscht, vereinigen sich die Wahárá, d. h. die erwachsenen Mädchen, nach Burtons Mitteilung zu je sieben bis zwölf und bauen etwas abseits von ihrem Dorfe ein Haus, wo sie ohne elterliche Einsprache Männerbesuche empfangen dürfen.[728] Bei vielen Negerstämmen werden[S. 342] aussereheliche Mutterschaften durchaus nicht anstössig gefunden. Nach Ladislaus Magyar, der im westafrikanischen Negerreiche Bihé eine Prinzessin heiraten musste, wird in Bengueta die Jungferschaft auch wohl an den Meistbietenden versteigert, damit der Erlös die Aussteuer der Braut bilde. Bevor eine mannbare Jungfrau der Bafiote in Loango sich versprochen hat, wird sie in lange Gewänder gehüllt, unter eigentümlichen Tänzen und Gesängen von Dorf zu Dorf geführt, und, unbeschadet ihrer künftigen Verehelichung, ihre Jungferschaft zum Verkauf ausgeboten,[729] und A. E. Lux berichtet von den Dondo-Negern, gleichfalls in Loanda, dass es einem anderen Manne als dem Bräutigam immer noch frei stehe, die Jungferschaft der Braut um einen höheren Preis von den Brauteltern zu erstehen.[730] Bei den mongolischen Völkerschaften scheint geradezu ein Abscheu vor der Jungfrauschaft zu bestehen, was teilweise wenigstens mit seltsamen religiösen Ansichten von periodischer, den Göttern verhasster Unreinheit des weiblichen Geschlechtes zusammenzuhängen scheint. Bei manchen scheint auch die Gewissheit der Fruchtbarkeit vor der Ehe erwünscht gewesen zu sein, ganz so wie aus unserem Erdteile schon gemeldet wurde.[731] Die Kamtschadalen heirateten früher nicht einmal eine Witwe, ohne dass ein anderer, den man dafür bezahlte, ihr vorher beigewohnt und ihr gleichsam die Unreinigkeit genommen hatte. Sonst, meinte man, würde auch der zweite Ehemann sterben müssen. Bei der ersten Eroberung des Landes boten sich die Kosaken dienstwillig zu dieser Reinigung an.
Nach den angeführten Beispielen unterliegt es wohl keinem Zweifel, dass eheliche Treue früher ein ethisches Prinzip ward[S. 343] als jungfräuliche Keuschheit.[732] Sie ist, wie ich schon einmal sagte, ein erst spät erworbener Kulturschatz. Auch scheint nach den Zeugnissen von manchen Volksgebräuchen, in denen er zuerst auftritt, der Begriff der Jungfräulichkeit, noch gar nicht den Inhalt gehabt zu haben, der sich erst allmählich einfand; man beachtete weniger den Verkehr, als den Erfolg. Jungfrau blieb das Weib, das nicht geboren. Gewiss bezeichnete es einen sittlichen Fortschritt, als der Käufer des Mädchens auch dessen Unberührtheit zu heischen begann. Bei der aus den älteren mutterrechtlichen Zeiten herrührenden Lockerheit der geschlechtlichen Sitten ging freilich und geht noch jetzt bei vielen Völkern das Begehr nach jungfräulicher Keuschheit mit dem nämlichen tiefen Misstrauen gepaart, welches auch die Ehefrau begleitet. Deutlich bekundet sich dieses Misstrauen in der scheusslichen Operation des „Vernähens“ (Infibulation) der Mädchen,[733] ein blutiger Eingriff, der keineswegs, wie man lange wähnte, mit Nadel und Zwirn vollzogen wird.[734] Das Verfahren ist wahrscheinlich von Osten her, vielleicht durch die Araber, nach Afrika eingeführt, wo er heute von Nubien aus bis zum Roten Meere so wie nach Kordofan und Darfur verbreitet ist. Nach Dr. Peney war der Unfug indes schon in Schwung, ehe die Araber den Sudan betraten. Jedenfalls aber kannte diese Sitte bereits der altarabische Arzt Rhazes, der davon spricht, wie die üppigen Araber vom weiblichen Ge[S. 344]schlecht sich Genuss zu verschaffen suchten. Und vielleicht von Arabien aus trug sich die Gepflogenheit auch nach Asien hinein und über den malayischen Archipel. Denn bei den Völkern in Hinterindien fand sie Linschoten, und von hier aus scheint sie zu manchen muhammedanischen Malayen gewandert zu sein, bei welchen Epp sie antraf. In Europa konnte die barbarische Sitte nicht Fuss fassen, obgleich von französischer Seite her im vorigen Jahrhundert Vorschläge zur Einführung derselben gemacht wurden.[735] Bei der Verheiratung muss natürlich die entgegengesetzte Operation stattfinden, und mancher Ehemann lässt sie auch an der Gattin wiederholen, so oft es ihm nötig dünkt. Dennoch wird versichert, dass der beabsichtigte Zweck bisweilen unerreicht bleibt.
Roh wie diese Sitten sind, steckt doch in ihnen schon der Keim zu weiterem sittlichen Fortschritt. Natürlich knüpft auch dieser zunächst an die materielle Seite an. Wer sich in seinen Voraussetzungen betrogen fand, forderte von den Eltern der Braut seinen Kaufpreis zurück. Damit wurden die Eltern im eigenen Interesse Tugendhüter ihrer Töchter. Diese bilden ja bei der Kaufehe einen Reichtum des Vaters, nunmehr aber bloss unter der Bedingung ihrer Unberührtheit. Wo diese nicht vorhanden ist, wird die Ehe unmöglich oder rückgängig. Ein Mädchen, das nicht mehr unversehrt, findet nur schwer oder auch gar nicht mehr einen Mann. Dadurch steigt die Jungfräulichkeit in der allgemeinen Achtung, die Unkeuschheit der älteren Periode fällt dagegen der Schande anheim. Bei den Somal pflegt der Bräutigam nach der Hochzeit an seiner Hütte durch Zeichen aller Welt bekannt zu geben, dass er sich betrogen glaube, und wälzt dadurch Verachtung auf die Familie der Braut. Einen Ausfluss der Anschauungen müssen wir in dem unzarten Zurschaustellen der Zeichen der Jungfräulichkeit erkennen, wie dergleichen nach vollzogener Ehe bei Israeliten und Drusen vorkam und bei den Hedschâz-Beduinen, besonders in und um Mekka, üblich ist.[736][S. 345] Auch in Europa war diese schnöde Sitte gebräuchlich und wurde sogar noch beobachtet, als Kaiser Karl V. 1524 sein Beilager mit der portugiesischen Prinzessin Isabella im Kasr Sevillas feierte.[737] Selbst heute noch bilden bei den Kleinrussen widerliche, unser Gefühl verletzende Gebräuche zur Feststellung der Jungfräulichkeit der Braut einen besonderen, selbständigen Zweig der Hochzeitsfeier, an dessen Ausführung die Haupthandelnden teilnehmen und für dessen Ausgang sich alle Hochzeitsgäste interessieren. Mit Hinsicht darauf, wie diese Nachforschung ausfällt, erhält die Hochzeitsfeier diese oder jene Richtung oder Fortsetzung, welche bei ungünstigem Befunde zu sofortiger grausamer Züchtigung der jungen Frau führt.[738] Ähnlich geht es in Bulgarien zu.[739] So abstossend diese Sitten unseren verfeinerten Empfindungen bedünken mögen, so gehören sie doch schon vorgerückteren Gesittungsstufen an und gingen aus der allmählichen Entwicklung jenes Begriffes hervor, den wir sehr unzutreffend als weibliche „Ehre“ bezeichnen.[740] Erst als dieser Körper und Leben gewann, ward[S. 346] die jungfräuliche Keuschheit zur Tugend erhoben, ward der Verkehr des Mannes mit der Jungfrau zur Verführung, zur „Schändung“. Zuvor hatten diese Worte keinen Sinn. Nunmehr aber wachte der beleidigte Mann nicht bloss als Gatte über der Gattin, sondern auch als Vater über der Tochter. Der Mädchenverführer fiel seiner Rache anheim so gut wie der Ehebrecher und musste die Missethat zuerst durch eine Busse sühnen, bis wiederum ein höherer Gesichtspunkt ihm die Pflicht auferlegte, die Verführte zur wirklichen Ehegattin zu nehmen. Auf noch vorgerückteren Stufen der Gesittung, nach der Periode der Staatenbildung, als die Reinheit der Mädchen ebenso zum sittlichen Ergebnis geworden, wie die Treue des Weibes, ward endlich die Unberührtheit der Unverheirateten unter die Hut des Gesetzes gestellt, ging die Wahrung des als sittlich Erkannten von dem Einzelnen über auf den Staat, welcher seinen Arm strafend über dem Frevler an der geheiligten Sitte erhob.
[679] Post. Anfänge des Staats- und Rechtslebens. S. 52–53.
[680] Spencer. Prinzipien der Soziologie. Bd. II. S. 271.
[681] Vergl. S. 126.
[682] Spencer. A. a. O. S. 272.
[683] So ist es unter anderen bei den Dualla in Kamerun (Max Buchner, Kamerun. S. 31), bei den Gabunesen, wo nur der un grand monde ist, welcher viel Weiber, viel Rum, einen Cylinderhut und Kredit bei einem weissen Kaufmanne besitzt (Compiègne. L’Afrique équatoriale. Gabonais. S. 188), und in Sierra Leone; je grösser die Zahl der Weiber, desto reicher und angesehener ist der Mann; 25–50 Frauen sind daher keine so grosse Seltenheit bei den Fürsten dieses Landes. Als ein Weisser seinen Diener, den Sohn eines solchen Fürsten, fragte, wie viel Frauen sein Vater besitze, antwortete er in niedergeschlagenem Tone: twelf, that’s all (zwölf, das ist alles), dadurch gleichsam eingestehend, dass sein Vater nur geringes Ansehen geniesse (Globus. Bd. XLVII. S. 249).
[684] Le livre de Marco Polo, par M. G. Gauthier. Paris 1865. Bd. II. S. 384. Kamen Fremde an, so bemühte sich jeder Hausherr, einen von ihnen mit nach Hause zu nehmen und ihm alle Frauen seiner Familie zu übergeben, während er selbst auszog. Die Frauen hingen ein Zeichen über ihre Thüre, welches nicht eher abgenommen ward, als bis der Fremde abreiste, worauf der Hausherr zurückkehren konnte.
[685] K. E. von Ujfalvy. Aus dem westlichen Himalaya. Erlebnisse und Forschungen. Leipzig 1884. S. 294.
[686] A. v. Chamissos Werke. Leipzig 1836. Bd. I. S. 217.
[687] A. von Middendorff. Sibirische Reise. St. Petersburg 1875. Bd. IV. S. 1407.
[688] Waitz. Anthropologie der Naturvölker. Bd. III. S. 314.
[689] Hall. Narrative of the second arctic Expedition. Washington 1879. S. 102.
[690] Bérenger-Féraud. Les peuplades de la Sénégambie. S. 98.
[691] Ausland 1867. S. 88.
[692] Combes et Tamisier. Voyage en Abyssinie. Bd. II. S. 16.
[693] A. a. O. S. 129.
[694] Compiègne. L’Afrique équatoriale. Gabonais. S. 192.
[695] Globus. Bd. XLVII. S. 249.
[696] Otto H. Schütz. Reisen im südwestlichen Becken des Kongo. Berlin 1881. S. 91.
[697] Thomson. Durch Massailand. S. 395.
[698] Post. Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit. S. 82.
[699] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 121.
[700] Diesem zufolge ist es z. B. bei einigen Stämmen Guyanas dem beleidigten Manne erlaubt, die Frau des Beleidigers so oft zu beschlafen, als dies mit der seinigen geschehen ist.
[701] Post. Anfänge des Staats- und Rechtlebens. S. 201. Das Töten eines oder beider schuldigen Teile steht im Belieben des Mannes bei den Kaffern, Araukanern, Redschang auf Sumátra, Tonkinesen, Kirgisen und Belutschen; ebenso bei den Chinesen und den Črnagorzen. Der alte Athener und Römer erschlug den ertappten Buhlen seines Weibes, Kebsweibes oder sonstigen weiblichen Mitgliedes seiner Familie; in Siam konnte früher der Gatte nach Belieben einen oder beide Teile umbringen. Nach den Gesetzen der Beduinen, der Graugans, den Gesetzen Knuts, dem Gutalagh, kann der Ehebrecher busslos erschlagen werden, desgleichen nach dänischem und ostgotischem Rechte.
[702] Post. Geschlechtsgenossenschaft. S. 85.
[703] Zöller. Forschungsreisen in der deutschen Kolonie Kamerun. Bd. II. S. 59.
[704] Globus. Bd. XLVII. S. 249.
[705] Sehr oft wird dem treulosen Weibe zum Zeichen der Schmach das Haar abgeschnitten, so bei den Malediven, Battak, Pogghiinsulanern, Redschang und den alten Chibcha. Nach Tacitus wurde die germanische Ehebrecherin mit abgeschnittenem Haar nackt aus dem Hause gejagt und mit Geisselhieben durch die Ortschaft getrieben; nach westgotländischem Recht ward ihr der Mantel von der Schulter gerissen und der hintere Teil des Hemdes abgeschnitten. Schimpfliche Aufzüge veranstalten die Kalmücken und Indier; in Korea erstrecken sich dieselben auch auf den Ehebrecher. (Post. Anfänge des Staats- und Rechtslebens. S. 207–208.)
[706] So bei den Kabardinern, mehreren Indianern Brasiliens, den Miami in Nordamerika, den Zigeunern und einigen Germanen. Nach den Gesetzen Knuts verliert die untreue Ehefrau Nase und Ohren; nach dem Uplandsgesetze soll sie mit ihren Haaren, ihren Ohren und ihrer Nase zahlen, wenn sie nicht eine Busse von 40 Mark entrichten kann. Nasen- und Ohrenabschneiden sind die beliebtesten Verstümmelungen.
[707] Ausland 1857. S. 978.
[708] Üblich bei den Redschang, den Dayak, in Siam, bei den Pahari in Indien, bei den Kalmücken, Mongolen, Tscherkessen, Kaffern, Mandingo u. s. w. Die Busse, welche der Verführer zu entrichten hat, ist nicht selten der Kauf- oder Brautpreis, wofür alsdann die Frau wohl an den Ehebrecher übergeht; ein Beweis, wie wenig auf dieser Stufe das Weib an sich geschätzt wird. Nach den Gesetzen Aethelbirths sollte der Ehebrecher die Missethat mit seinem Wergelde büssen und für das Geld ein anderes Weib sich verschaffen und dem Manne, dessen Weib er belegt, dasselbe zuführen. Auch nach der Lex Bajuvariorum ist die Strafe der Unzucht mit der Ehefrau eines andern eine Busse an den Mann.
[709] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 122.
[710] Globus. Bd. XX. S. 158.
[711] Daher richtiger: das Harem als der Harem zu sagen wäre.
[712] Otto Henne Am Rhyn. Allgemeine Kulturgeschichte. Leipzig 1877. Bd. I. S. 549.
[713] Ferdinand Justi. Geschichte des alten Persiens. Berlin 1876. S. 125.
[714] Sogar in China dürfen heute noch gewisse Mitglieder der kaiserlichen Familie und die Familien der höchsten erblichen Fürsten eine gewisse Anzahl Eunuchen (Lao-kung d. h. „alter Hahn“) in ihre Dienste nehmen. Siehe: G. Carter Stent. Chinesische Eunuchen. Leipzig o. J. S. 12. Dies spricht deutlich dafür, dass in früheren Zeiten auch dort die Abschliessung des Weibes eine strengere gewesen als jetzt.
[715] Albert Forbiger. Hellas und Rom. Leipzig 1876. Zweite Abteil. Bd. I. S. 65.
[716] Paul Mantegazza. Indien. S. 276.
[717] Herm. von Schlagintweit. Reisen in Indien und Hochasien. Jena 1871. Bd. II. S. 48.
[718] Dr. J. J. Rein. Japan. Bd. I. S. 475.
[719] H. Spencer. Prinzipien der Soziologie. Bd. II. S. 273–274.
[720] Buchner. Kamerun. S. 31.
[721] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 106.
[722] Tscheng-ki-Tong. China und die Chinesen. S. 57.
[723] Ed. Combes et M. Tamisier. Voyage en Abyssinie 1835–1837. Paris 1838. Bd. II. S. 17.
[724] Nachtigal. Sahara und Sudan. Bd. II. S. 685.
[725] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 122.
[726] A. a. O. S. 127.
[727] Siehe S. 220 ff.
[728] Richard F. Burton. The Lake Regions of central Afrika. London 1860. Bd. II. S. 24.
[729] Herm. Soyaux. Aus Westafrika. Erlebnisse und Beobachtungen. Leipzig 1879. S. 161. Der Verfasser und andere bedienen sich hier des Ausdrucks Jus primæ noctis, welcher gemeiniglich das sogenannte „Herrenrecht“ des Mittelalters bezeichnen soll. Es sind aber zwei völlig verschiedene Erscheinungen. In Afrika handelt es sich um ein Recht nur insofern, als es durch Kauf erworben ist; das sogen. Jus primæ noctis Europas entstammte dagegen der Machtfülle des Herrn. Ich komme auf diese Frage bald zurück.
[730] A. E. Lux. Von Loanda nach Kimbundu. Wien 1880. S. 37.
[731] Siehe oben S. 223.
[732] Lippert. A. a. O. — Peschel warnt mit Recht, auf eine Gleichgültigkeit gegen geschlechtliche Reinheit aus dem Mangel eines sprachlichen Ausdruckes zu schliessen, durch welchen Jungfrau und Frau unterschieden werden (Peschel. Völkerkunde. S. 219). Solche Unterscheidungen fehlen den sittenstrengen Abiponen, wie auch den Buschmännern. Betreffs der letzteren scheint indes Peschel dem Zeugnisse Chapmans, wonach sie nur Neigungsehen schliessen, zu viel Gewicht beizulegen, denn es stehen diesem zahlreiche Gewährsmänner entgegen, die durchaus keine so günstige Deutung zulassen.
[733] Labiis minoribus abscissis labiae majores inde a Veneris monte usque ad vaginam sanando ita copulantur, ut fistula sola ad urinam fundendam pateat.
[734] Beschrieben von Dr. Peney im Bulletin de la Société de géographie von Paris, 1859. Bd. I. S. 341–388 und „Ausland“ 1859. S. 822.
[735] Dr. H. H. Ploss. Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Stuttgart 1876. Bd. I. S. 314–324.
[736] Torale, sicut est mos judaicus et persicus, non inspiciunt. Novae nuptae tamen maritus mappam manu capit: mane autem puellae mater virginitatis signa viris muliebribusque domi ostendit eosque jubilare jubet, quod „calamitas domestica“, sc. filia, intacta abiit. Si non ostendeant mappam, maeret domus, „Prima enim Venus“ in Arabia „debet esse cruenta“. Maritus autem humanior, etsiamsi absit sanguis, cruore palumbino mappam tingit et gaudium fingens cognatis parentibusque ostendit; paululum postea puellae nonnulla causa dat divortium. Hic urbis et ruris mos idem est. (Burton. Personal Narrative of a pilgrimage to El-Medinah. Bd. III. S. 82).
[737] Et quella medesima notte sposó la Imperatrice in presentia del Cardinal Salviati. Am folgenden Tage aber wurde die „Mappa“ für die Granden feierlich ausgestellt. So versichert ein Augenzeuge, der damalige venezianische Gesandte. (Viaggio fatto in Spagna del Magnif. Mssr. Andrea Navigiero. Vinegia 1563. S. 13.)
[738] Eine ausführliche Schilderung des ganzen Verlaufes gab nach russischen Quellen Dr. O. Asboth im Archiv f. Anthropologie. Bd. XIII. S. 317–321. Zeigt sich aus irgend einem Grund der Mann unfähig, den entscheidenden Akt zu verrichten, so vollführt entweder die Freiwerberin die Zerreissung des Hymen mit den Fingern, oder man beauftragt den ältesten Freiwerber oder einen Ehrengast, einen Mann von soliden Sitten und Benehmen, die Zerreissung mittelst der Beiwohnung zu vollziehen.
[739] Krauss. Sitte und Brauch der Südslaven. S. 461–462.
[740] Louise von François schreibt sehr richtig: Eine Frau hat keine Ehre.... Was Ehre ist, wissen nur Männer, denn sie allein wissen für dieselbe einzustehen. Bei den Weibern heisst das Ding anders... nämlich Keuschheit und Treue. (L. v. François. Der Posten der Frau. Stuttgart o. J. Kollektion Spemann. Bd. XCIV. S. 104.)
[S. 348] je verhältnismässig früher ein Volk diese verschiedenen Phasen der Familienorganisation bei friedlichem Ausgleiche der Parteien durcheilte, desto eher erreichte es die Stufe, die wir einmal gewöhnt sind, als diejenige der Kultur im engeren Sinne zu bezeichnen. Solche Völker sind es, die uns zuerst als Völker „der Geschichte“ entgegentreten.[741]
ie lange es gedauert, ehe das Vaterrecht in der Familie den vollen Sieg errang, lässt sich nicht aussprechen. Die Menschen der urzeitlichen Muttergruppe und des strengen Mutterrechtes haben eben keine Geschichte. Allem Anscheine nach erwuchs, wie schon einmal betont, die patriarchalische Familie zuerst auf dem Boden des fortgeschrittensten, viehzüchtenden Nomadentums, das unter den hellhäutigen Völkern Asiens die höchste Ausbildung erfuhr, daher man jenen Weltteil als die eigentliche Heimat des Patriarchats und seiner Schöpfungen zu betrachten hat. Aber auch dort wogte lange der Kampf zwischen beiden Parteien, und der „Kriegszustand“ — wenn man sich dieses Ausdruckes bedienen darf — zwischen Mann und Weib, wie ihn die emporstrebende Männergewalt geschaffen, hörte wenigstens so lange nicht auf, als die Völker dem Mutterrechte noch verhältnismässig nahe standen. Noch erkennt der weibliche Teil, Mutter wie Tochter, das neue Verhältnis nicht oder nur widerstrebend an, fügt sich nur allmählich dem Zwange; aber auch das Vaterrecht lässt sich anfänglich noch auf einen billigen Vergleich mit dem Mutterrechte ein. Die Spuren dieser einstigen Zustände sind überall im Kreise der Vaterherrschaft an zahlreichen Gebräuchen und Einrichtungen noch deutlich wahrnehmbar. Im allgemeinen aber bemerkt Lippert mit vollem Rechte,Die alte Patriarchalfamilie, welche auf der Herrschaft des Vaters, richtiger des Mannes, sich aufbaut, entspricht nun keineswegs noch unserer heutigen Sonderfamilie, sondern vereinigt vielmehr eine grössere Anzahl solcher unter einer väterlichen Gewalt. Diese wurzelt hinwieder in dem Besitzrechte an den Menschen, welches der älteren Periode, jener der Mutterfolge, völlig fremd gewesen. Und aus dieser trüben Quelle flossen, ausser den im vorigen Abschnitte erörterten, noch weitere wichtige Erscheinungen. Zunächst ist es klar, dass, so lange die Zentralgewalt der Patriarchen unbeschränkt wirkte, in strenger Folgerichtigkeit jede in die Familie heiratende Frau im Grunde auch ein Besitzgegenstand eben dieses Patriarchen werden musste. Der Familienhäuptling, in weiterer Ausdehnung der Stammeshäuptling, gewann damit also das Recht, über sämtliche weibliche Mitglieder nach Belieben zu verfügen. Carlo Piaggia erzählt von den Niamniam in Mittelafrika, der Häuptling habe ein Anrecht auf alle Weiber des Stammes und betrachte auch die eigenen Töchter als seine Frauen.[742] Der König von Dahomeh vergiebt allein die Töchter seiner Unterthanen zur Ehe und lässt den Kaufpreis für dieselben in den königlichen Schatz fliessen. Wer also heiraten will, kauft sich eine Frau vom Könige, dem als Patriarch der Patriarchen Leben und Gut jedes Unterthanen zur Verfügung steht. Von den Balanten in Westafrika meldet Alfred Marche, dass der König nicht bloss das Recht über Leben und Tod der Unterthanen, sondern auch das „Recht der ersten Nacht“ (Jus primae noctis) im ganzen Stamme habe. Es ist dies aber weniger ein Recht, als vielmehr eine Verpflich[S. 349]tung seinerseits, denn ohne diese Förmlichkeit würde kein Mädchen heiraten können.[743] So ist es überall, wo in geschichtlicher Zeit die gleiche Sitte des Deflorationsrechtes herrscht, eine Sitte, deren Thatsächlichkeit trotz der jüngster Zeit dagegen erhobenen Zweifel auf sehr verbreitetem ethnologischem Gebiete aufrecht zu erhalten ist.[744] Dieses sogenannte Häuptlings- oder „Herrenrecht“ ist ursprünglich zweifellos aus den Sklavenverhältnissen hervorgegangen.[745] Es war ja ganz natürlich, dass die Sklavin, welche dem Herrn gänzlich angehört, diesem auch die Erstlinge ihrer Liebe geben muss. Aber in geschichtlicher Zeit ist dieses Herrenrecht längst nichts gewaltsam Erzwungenes mehr und nirgends in der Völkerkunde ergiebt sich, dass dasselbe wider den Willen der Beteiligten ausgeübt werde. Richtiger wäre es daher von einem Officium als von einem Jus primae noctis zu sprechen. Was anfangs im beschränkten Kreise der Patriarchalfamilie ein Recht gewesen, gestaltete sich im Laufe der Zeit mit dem Einleben der Gepflogenheit allmählich zu einer Forderung der Unterthanen und zu einer Pflicht des Oberhauptes.[746] Die wachsende Er[S. 350]weiterung des ursprünglichen Kreises zum Stamme machte aber diese Verpflichtung immer drückender, so dass sie schliesslich sogar um schweren Preis erkauft werden musste. Als in vorgerückteren Epochen Häuptlingsschaft und Priestertum, ursprünglich in einer Person vereint, sich spalteten, ging an manchen Orten die gedachte Pflicht auf das letztere über, zumal als mit den bemerkenswertesten Vorgängen im Leben bestimmte Kultvorstellungen sich zu verknüpfen begonnen hatten. Noch später trat an Stelle der Handlung selbst ein blosses Symbol. So stossen wir zur Zeit des Mittelalters in Europa selbst auf eigentümliche Hochzeitsgebräuche, welche zwar für diese Zeit als symbolische sich herausstellen, aber in früheren Epochen nicht solche haben sein können. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass einst das thatsächlich geübt wurde, was später nur noch sinnbildlich seinen Ausdruck fand und in altertümlicher Redeweise fixiert wurde.[747] Also zuerst Recht, dann allmählich Pflicht und Brauch, endlich Symbol — das ist der Entwicklungsgang des „Herrenrechts“.[748]
Auf dem Boden des patriarchalischen Nomadentums erwachsen zwei weitere gesellschaftliche Elemente, die hier bloss gestreift werden können: der Adel und die Sklaverei. Der Patriarch, der unumschränkte Herr und Gebieter in der grossen, gliederreichen, ursprünglich stets polygynischen „Familie“, ist an sich der „Häuptling“, dem alle Übrigen willig das höchste Ansehen zollen. Das Königtum, bemerkt sehr treffend Julius Lippert, steht nun in der innigsten genetischen Verbindung mit der Vaterschaft in der echten Patriarchalfamilie und unterscheidet sich von dieser nur durch den Umfang seines Machtbereiches.[749] Unter ihm werden die Familienhäuptlinge, die Scheiche, von selbst zu den hervorragendsten Spitzen der Gesellschaft, zum Adel. Wie aber dieser nur aus dem Patriarchate hervorwachsen konnte, so auch die Sklaverei, die Knechtschaft. Das demokratisch veranlagte Mutterrecht vermochte weder die eine, noch die andere Gesellschaftsklasse zu erzeugen. Schon einmal[750] habe ich erwähnt, wie der Kriegsgefangene als Sklave dienstbares Eigentum seines Überwältigers wird, sobald der Begriff des Besitzes an Menschen sich ausgebildet hat. Natürlich aber sind Weiber und Kinder der erste Gegenstand der Knechtschaft gewesen, welche mit dem ersten exogamischen Frauenraube begann und sich ausser auf das Weib auch auf dessen Kind als ihr Zubehör erstreckte.[751][S. 352] Deutlich spricht das Verhältnis der Knechtschaft unter anderem sich in der Sitte aus, welche beim Hinscheiden des Hausvaters seine Weiber so gut wie seine Knechte demselben in die Grube nachsandte. Der Gedanke des Besitzes, freilich im Zusammenhange mit den aufgetauchten Vorstellungen vom künftigen Leben und dessen Erfordernissen, steht auch diesem Brauche zu Gevatter. Der Tote bedarf dort des Umgangs und der Pflege wie im Diesseits. Seine Seele, so dachte man weiter, hänge an seinem Eigentume, das man ihm daher auch nach dem Absterben des Körpers belassen müsse. Eigentum waren aber nicht bloss die unbelebten Dinge, sondern auch die Weiber und Knechte; einen Unterschied in der Natur des Besitzes gab es noch nicht. Daher die weite Verbreitung der Grabfolge von Witwen und Knechten, welche allen Völkern fehlt, die dem Mutterrechte näher stehen oder aus diesem ihre Familienorganisation entwickelt haben.[752] Solche geben dem Toten bloss seine Leibgeräte „auf die lange Reise“ mit, wie Schiller in seiner „Nadowessischen Totenklage“ singt:
Höchstens wird den unbelebten Dingen noch das Leibross hinzugefügt. So ist es heute noch bei den kriegerischen und grausamen Dakota oder Sioux. Wenn ein Indianer dieses Stammes stirbt, so werden ihm, bezeugt Oberst Brackett, Waffen, Kleider, Pfeifen u. s. w. ins Grab mitgegeben und ein gutes Pferd getötet und mitbegraben,[753] nicht aber seine Squaws. Dagegen war es vor Einführung des Christentums, also noch vor ganz kurzer Zeit, auf den Vitiinseln üblich, die Witwe auf dem Grabe ihres Gatten zu erdrosseln.[754] Ihre Leichen wurden die „Streu“ für sein Grab genannt. Auch bei Germanen und Slaven war die Witwengrabfolge heimisch, und wie es scheint war es auch bei[S. 353] den Frankenkönigen üblich, ihre Weiber zu verbrennen; doch erreichte die Sitte ihre höchste Entwicklung bei den nordischen Nomaden der Alten Welt.
Die Grabfolge der Witwen bezeichnet indes die Blüte des Patriarchats auch dort, wo sich dasselbe aus dem Kreise des Nomadentums entfernt hat. Sattsam bekannt ist die Sati,[755] die Witwenverbrennung bei den Hindu, deren Familie sich auf strengem Vaterrecht aufbaut. Die religiösen Vorstellungen, welche unter demselben und zu seinen Gunsten sich ausgebildet haben, gereichten dieser Sitte, auf die ich noch an späterer Stelle zurückkommen werde, zur kräftigsten Stütze. Übrigens ist die Stellung der Witwe nicht bloss bei den Hindu, sondern sogar bei den europäischen Südslaven eine bedauernswerte. Zwar wehrt ihr die Sitte die Wiederverheiratung nicht, sieht sie aber nur ungerne; man betrachtet nämlich die zweite Heirat als einen Schimpf, den die Witwe ihrem verstorbenen Manne anthut.[756] Auch in vielen andern Gegenden Europas haftet immer noch ein gewisser Makel an der Wiedervermählung einer Witwe und begleitet das Volk die neue Hochzeit mit störenden Gebräuchen, die erst sehr spät eine fröhlichere Gestalt angenommen haben. In den französischen Landschaften Bresse und Dombes (Ain-Departement) herrscht z. B. heute noch in Stadt und Land die uralte Sitte des Charivari,[757] welche auch die Revolution überdauert hat. So haben wir eine absteigende Folge der Anforderungen, die mit der Verpflichtung der Witwe beginnt, sich auf dem Grabe oder dem[S. 354] Scheiterhaufen des verlorenen Gatten zu töten und mit einer einfachen Trauerzeit von einigen Monaten endet.[758] Ein gewisses Mass von Zurückgezogenheit blieb schliesslich überall als Rest der Sitte unter einer neuen Deutungsweise.
Einen weiteren, bedeutsamen Umschwung bewirkt die Vaterherrschaft, das Patriarchat, in dem Lose der Kinder; aber wieder ist es nicht die Liebe, sondern das Besitzverhältnis, welches zuerst hier eingreift. Unter der älteren Organisation der Mutterfolge war das Kind ein ausschliessliches Eigentum des Weibes. Seine Erhaltung fand es lediglich in dem Instinkte der Mutterliebe. Zahllos sind indes die Beispiele, dass dieser uns so natürlich, dem Weibe angeboren dünkende Instinkt in vielen Fällen der Eigenliebe unterliegt, im harten Ringen um das eigene Dasein zum Schweigen gebracht wird. Die Geschichte des Kindermordes als Volkssitte ist dafür ein sprechender Beweis. Meistens, wenn auch nicht immer, ist es die Mutter selbst, welche aus mancherlei Gründen das Neugeborene, gewöhnlich ihr erstes Kind, beseitigt, ja nicht selten unter dem Einflusse jener physiologischen Vorstellungen, welche zum Teile auch der Anthropophagie zu Grunde lagen, selbst verspeiste. Später vergesellschafteten sich damit auch noch religiöse Ideen, welche den blossen, aus Nützlichkeitsursachen vollbrachten Kindermord zum Kindesopfer umgestalteten. Diese Anschauungen überwand auch das Patriarchat zu Anfang nicht. Als Kulthandlung findet sich das Kinderopfer unter demselben bei vielen Völkern. In ausgedehntem Masse verlangte es der Molochsdienst der Kanaanäer, sowie jener der „Syrischen Göttin“ zu Hierapolis. Zum geheimen Dienste der Sabier zu Harran in Mesopotamien gehörte das Opfer eines neugebornen Kindes; auch bei den Karthagern waren Kinderopfer üblich. Die Israeliten dagegen waren bei ihrer Einwanderung nach Palästina von der Sitte frei und scheinen sie auch dann von den benachbarten Kanaanäern nicht angenommen zu haben. So sagt wenigstens Prof. Bernhard Stade,[759] während andere[S. 355] freilich dieser Ansicht nicht sind.[760] Bei der Mehrzahl dieser Völker hat aber das Vaterrecht noch nicht den völligen Sieg errungen oder wenigstens nicht alle Spuren der mutterrechtlichen Vorzeit ausgelöscht. Diese treten in ihren Glaubenssystemen zu Tage, in welchen die Mutter des Lebens, die Göttin der weiblichen Fruchtbarkeit, neben einem gebietenden Sonnengotte noch eine hervorragende Stelle behauptet.
Der Geschichte der Familienorganisation entsprechend erscheinen nämlich unter der Mutterfolge überall auch weibliche Gottheiten, und diese sind stets als die älteren zu betrachten. Vielfach lässt sie der Mythos als die verdrängten, zurückgedrängten erkennen. Aber diese Verdrängung erfolgte nicht urplötzlich, sondern ganz allmählich, sowie die alten Sitten sich veränderten, dahinschwanden. Die weiblichen Gottheiten der Mutterfolge gingen unter in dem langen Ringen zwischen der alten Familienorganisation und dem emporstrebenden Vaterrecht. Hesiods Gesänge führen uns in jene dunklen Perioden zurück. Stumm in[S. 356] Bezug auf die männlichen Götter, welche die erobernden Stämme des Patriarchats als Vorstandschaft ihrer Dynastieen und Staaten aufbrachten, erzählen sie nur von den Triumphen der weiblichen Gottheiten. In den „Eumeniden“ des Aeschylos erkennen die Erynnien das Recht des Vaters und Mannes noch nicht, sondern lediglich das Recht der Mutter an, und die ganze Handlung beruht auf dem Kampfe zwischen Vater- und Mutterrecht.[761] Bezeichnend ist geradezu die Klage des Halbchors der Erynnien, als Orest durch den calculus Minervae freigesprochen wird im Blutgericht:
Nach dem Siege der männlichen Gottheiten blieben die weiblichen in der Regel nur noch als Kultgegenstände der unterworfenen Menge und des Hauses zurück. In manchen Fällen aber rettete sich der ältere Kult auch in die neue Zeit hinüber, besonders da, wo aus der Vereinigung neben einander wohnender Stämme jüngere Organisationen hervorgingen.[762] So konnte neben den jüngeren Göttergestalten der wollüstige Dienst der Astarte, Anaïtis und Mylitta über weite Strecken als Rückstand früherer Anschauungen sich erhalten. Und so wie die Sitten ihrer Ursprungszeit noch ungebundene waren, so haftete auch an den weiblichen Gottheiten die Vorstellung, dass ihnen nichts Wohlgefälligeres erwiesen werden könne, als ein Dienst dessen, was vom Standpunkte unserer heutigen Moral als „Unzucht“ gebrandmarkt wird. „Wo die Gottheit selbst geschlechtlich aufgefasst wurde, wo zwei Hauptgottheiten, eine männliche und eine weibliche, einander gegenüber standen, da erschien das geschlechtliche Verhältnis als etwas im Wesen der Gottheit selbst Gegründetes, der Trieb und dessen Befriedigung als das, was auch am Menschen der Gottheit am meisten entspreche. So wurde die Wollust selbst zum Gottesdienste; und da der Grundgedanke des Opfers der der[S. 357] Hingebung des Menschen an die Gottheit mittelbar oder durch Substitution ist, so konnte das Weib der Göttin nicht besser dienen, als durch Prostitution. Daher war auch der Gebrauch, dass Jungfrauen vor ihrer Vermählung einmal im Tempel der Göttin sich preisgeben mussten, so verbreitet; es war dies in seiner Art dasselbe, was das Opfer der Erstlinge von den Feldfrüchten war.“[763] So entsteht also in den ersten Zeiten des Patriarchats, so lange die weiblichen Gottheiten des älteren Mutterrechts den männlichen ebenbürtig blieben, die sogenannte kultliche Prostitution. Auf dem Boden des reinen Mutterrechtes, als das Weib frei war, seinen sinnlichen Neigungen zu folgen, gab es natürlich keine Prostitution; der Begriff konnte erst unter der aufkommenden Mannesherrschaft entstehen, welche dem Weibe die freie Verfügung über sich selbst entzog. Zweifelsohne ist die kultliche Prostitution die älteste Form der Prostitution überhaupt, diejenige, in welche die Ideen der Vorzeit noch am meisten hineinspielen. Jüngeren Ursprungs ist gewiss die schon erörterte Prostitution der Gastfreundschaft, welche einer Periode gefesteteren Mannesrechtes entspricht.
Man sieht, wir gewinnen kein Verständnis, wenn die weitverbreitete kultliche Prostitution kurzweg als sittliche „Gesunkenheit“ bezeichnet wird, während sie aus den Sitten und Anschauungen der Vorzeit naturgemäss herauswächst und gewissermassen eine Etappe auf dem Kulturwege der Völker darstellt. Sie verschwindet ebenso notwendig mit dem Fortschreiten der Gesittung, d. h. mit der Befestigung des Patriarchats, mit der Zurücksetzung der weiblichen Gottheiten. Diese völlig abzustreifen gelang aber nicht einmal den klassischen Völkern des Altertums, den sonst auf strengem Patriarchate fussenden Griechen und Römern, daher denn auch neben strengen Ehesatzungen Lockerheit der Sitten, besonders bei den Hellenen, sich behauptet. Allerdings ist bei letzteren frühzeitig schon die pflichtmässige Preisgebung der Mädchen, wie sie in Vorderasien üblich war, auf eine eigene Körperschaft, jene der „Hierodulen“, beschränkt, welche diesen sowie den Italikern[S. 358] durch semitische Einflüsse zugekommen ist. Denn auch in Israel zeigt sich die Hierodulie, d. h. die Erscheinung, dass ein Mensch, ohne Priester zu sein, dem Heiligtume dient. Die im Dienste der Gottheit Unzucht ausübenden Männer und Frauen heissen „Kedeschen“, und die Sage von Juda und Tamar setzt diese Weise, der Gottheit mit der eigenen Person zu dienen, als allgemein verbreitet voraus.[764] Wohl mag aber die hohe Achtung, womit das gesittete Griechenland in seiner Blütezeit die dritte Form der Prostitution, das käufliche Hetärentum behandelte, zum Teile ein Nachklang jener älteren Anschauungen sein. Ich füge hinzu, dass auch im brahmanischen Indien die Dienerinnen der Lust zum Teil vom Strahlenkranze der Heiligkeit umflossen sind. Gilt dies strenge genommen bloss von den zwei obersten Klassen der Dewadaschi (Dienerinnen der Götter), wie die „Bayaderen“ eigentlich heissen, welche den Schutz des Publikums und viele Vorrechte, ja selbst den Titel Begum („edle Damen“) geniessen, so geht doch ein Teil davon auf die unteren Grade der Nautsch- oder Tanzmädchen über, welche an allen religiösen und bürgerlichen Festlichkeiten sich zu beteiligen haben.[765] Aus Sandrakas bemerkenswertem Drama „Das Thonwägelchen“, welches sicherlich vor dem zehnten christlichen Jahrhundert entstand, ersieht man, dass schon damals die Lustdirnen in Indien eine ebenso wichtige Rolle spielten, wie in Hellas zur perikleischen Zeit.[766] Ausführlich beschreibt der Dichter die glanzvolle Behausung Vasantasenas, einer grossen Hetäre und zugleich einer der bedeutendsten Persönlichkeiten von Udschein, der Hauptstadt des Königreiches Malwa. Eine Bestätigung für die Meinung, dass diese Hoch[S. 359]haltung der Töchter der Freude ein Niederschlag älterer Anschauungen ist, finde ich in den Verhältnissen Abessiniens, wo zwar Vaterrecht herrscht, daneben aber vielleicht mehr denn irgendwo im Bereiche des Christentums Spuren aus der Zeit der Mutterfolge sich erhalten haben.[767] So geniesst dort unter anderem das Weib noch vielfach die nämlichen Vorrechte wie der Mann und sein Geschlecht schliesst es nicht von amtlichen Stellungen aus. Auch dort stehen nun die Buhlerinnen in hoher Achtung; ja man darf ohne Übertreibung versichern, dass ihre Rolle glänzender ist, denn jemals im Altertume, im Zeitalter Ludwigs XIV. oder in unseren Tagen. Sie bilden das glänzende Gefolge der Könige, welche ihnen mit den Grossen des Hofes huldigen, verherrlichen alle Feste und lassen sich ihre Gunst teuer bezahlen. Zumeist streben sie darnach, die Verwaltung eines Dorfes oder Bezirkes zu erhalten, und Vergangenheit wie Gegenwart dieser Frauen beweist, dass sie dazu nicht unbefähigt sind. Die gesetzlichen Gemahlinnen der Könige fühlen sich stolz, sie in ihrem Hofstaate zahlreich vertreten zu sehen und leben mit ihnen sogar öffentlich auf dem Fusse grösster Vertraulichkeit. Einen Ausdruck, die Prostituierte zu brandmarken, besitzt die amharische Sprache nicht.[768] Wiederum empfangen wir die Lehre, dass die Keuschheit eine Pflicht werden musste, ehe sie eine Tugend wurde.
Weniger als in Griechenland lebten Kult und Sitte der mutterrechtlichen Epoche fort im ältesten Rom, wo beim Eintritt in die Geschichte das Patriarchat schon auf einer hohen Stufe der Ausbildung stand. Was etwa an eine ältere Familienorganisation noch mahnen konnte, soll in einem späteren Abschnitte erörtert werden. Hier sei bloss daran erinnert, dass wie in Griechenland der Rest des Alten im Kulte der Demeter in sehr volkstümlicher Weise sich erhalten hat, so auf römischem, zum teil ehedem etruskischem Gebiete, die altertümlichsten Kulte — Dea Dia, Acca Larentia, Mater Matuta, Ceres, Tellus mater — jener früheren Stufe angehören. Ja selbst in spätester Zeit muss der römischen Volksmasse, während der Staat in dem Jupiter- und den beiden Marskulten seine Vertretung hatte, der Begriff einer Mutter der Götter noch sehr geläufig gewesen sein, da Augustinus gerade an diesen seine Haupteinwendungen knüpfen konnte. Ebenso erhielt der Staatskult der Vesta das Andenken der älteren Zeit, während in Juno nur die Frau neben dem Manne hervortritt.[769] Bloss Perser, Araber und Juden überwanden die weiblichen Kulte vollständig; ihnen näherten sich auch die Hindu zur Zeit des entstehenden Buddhismus.[770] Ich will die beiläufige Bemerkung nicht unterdrücken, dass auch lediglich von Völkern dieser Art, wo das Patriarchat und damit die männlichen Kulte völlig obsiegten, die weltbewegenden Erlösungsreligionen, Buddhismus, Christentum und Islâm, ausgegangen sind. Aber auch die Religionen des Mose wie des Zarathustra konnten bloss im Boden des Patriarchats Wurzel fassen.
Die Wandlung der religiösen Vorstellungen vollzog sich begreiflicherweise Hand in Hand mit der Ausbildung der neuen Familienordnung und der darauf sich aufbauenden Gesittung. Und es ist sehr merkwürdig dabei, dass im Grunde genommen viel härtere, ja ich möchte sagen, rohere Begriffe, wie es jene vom unbedingten Eigentum am Menschen im Vergleiche zu den freiheitlichen Satzungen der Mutterzeit waren, die Verhältnisse schliess[S. 361]lich auf den Pfad der Menschlichkeit (Humanität) leiteten. Den ersten Gewinn trugen wieder die Kinder davon. Zur Zeit unbeschränkter Mutterfolge muss das Erstlingsopfer der Kinder allgemein im Schwange gewesen sein. Zu Anfang aus teils physiologischen, teils ökonomischen Ursachen hervorgegangen, war es allgemach ein Kultgebot geworden und wie sehr es noch neben dem emporkommenden Vaterrecht sich behauptete, ist oben gezeigt worden. Die Erinnerung daran hat sich bei vielen Völkern lebhaft erhalten und bei den Nordgermanen fand es noch die Geschichte vor. Allein wo der Mann Herr und Eigentümer des Weibes und deren Kinder ist, musste es alsbald sein Interesse werden, diese Kinder auch zu erhalten. Die Folge davon musste das Aufhören der Kinderopfer sein. Weil aber dieselben längst in den Glaubensvorschriften begründet waren, so währte es natürlich lange Zeit, ehe man sich zu Zugeständnissen an die jüngeren Bedürfnisse bequemte, welche eine Ablösung des wirklichen Opfergegenstandes durch einen andern erheischten. Die Geschichte dieser Ablösung steht aber in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Fortschritte der materiellen Kultur.[771] Auf mancherlei Art konnte diese Ablösung stattfinden. Allem Anscheine nach bestanden die ersten Versuche in Fasten und Blutlassen, dem sich der Besitzer des Kindes unterzog, und Völker, welche die Stufe der Tierzucht nicht erreichten, mussten füglich dabei stehen bleiben. Es ist Lipperts unbestreitbares Verdienst, auf diesem Wege zuerst befriedigend eine weitverbreitete Sitte gedeutet zu haben, die man bisher mitunter auf die seltsamste Weise zu erklären sich bemüht hat. Sie wird noch jetzt in Amerika, besonders bei den wilden Stämmen Südamerikas, vielfach beobachtet und war ehedem auch bei den vornomadischen Bewohnern Europas verbreitet,[772] zum Beweise,[S. 362] dass auch diese dereinst unter dem Banne des Kindesopfers gestanden hatten. „Sie besteht bald aus einem, bald aus beiden Ablösungsmomenten zugleich: der Vater enthält sich, von der Geburt des Kindes an, durch eine Zeitlang der Jagd auf gewisse Tiere und gewisser oder selbst aller Speisen — er feiert und fastet — oder er lässt sich durch irgend welche Verwundungen eine beträchtliche Menge Blut abzapfen, die so als Opferblut vergossen wird, oder es findet beides zugleich statt.“[773] Ein naheliegender Vergleich, die Ähnlichkeit dieses Verhaltens mit dem der Wöchnerin, hat die Völkerkundigen dazu verleitet, diese Sitte, bei der sich der Mann mitunter in die Hängematte legt, das „Männerkindbett“ zu nennen, ja sogar schon die Indianer dazu verführt, sie für etwas ähnliches zu halten.[774] Die Bezeichnung ist aber ebenso unpassend, als die bisher gehegte Meinung falsch, dass der Mann statt der Frau das Wochenbett abhalte, und zwar samt allen daran sich knüpfenden Folgerungen. Eine der beliebtesten unter den letzteren, von Liebrecht vertreten, ist die, dass darin die Anschauung der Naturvölker zum Ausdruck gelange, wonach das Kind noch unmittelbarer vom Vater, als von der Mutter abhänge. Southey will als Ursprung des merkwürdigen Brauches den Glauben an eine leibliche Verbindung zwischen Vater und Kind nachweisen. D. N. Starcke will mit Edw. B. Tylor darin den Ausdruck des Glaubens an eine geheimnisvolle, mystische Verbindung des Vaters und des Kindes gewahren. Allen diesen gewaltsamen, schwer zu erhärtenden Deutungen gegenüber bedarf die Ungezwungenheit der Lippertschen Erklärung keiner Befürwortung. Es ist zu hoffen, dass dieselbe allgemeinen Anklang und in der Völkerkunde fernerhin alleinige Geltung finden werde. War die Sitte — welcher nach dem Vorgange der Basken, bei denen sie noch im Schwange geht, auch die Benennung „Couvade“ beigelegt wird — ursprünglich ein in religiösen Vorstellungen wurzelndes Ablösungsopfer, so hört der Brauch auf „merkwürdig“ zu sein, und es erklärt sich auch sehr einfach, wie er in späterer Zeit, als seine anfängliche Bedeutung eines[S. 363] Ablösungsopfers in Vergessenheit geraten war, von den Eltern lediglich zum Wohle und zum guten Gedeihen des Kindes befolgt wird, ähnlich wie ja auch im Kreise der Kulturnationen Kulthandlungen zum leiblichen Wohle eines Einzelnen vorgenommen werden.
Tierzüchtende Völker hatten als Ablösung für das ehemalige Kindesopfer Besseres zu bieten, als Fasten und Blutabzapfungen am eigenen Körper: sie gaben das wertvolle Leben ihrer Tiere für jenes der Menschen. Die Juden behielten diese Sitte ihrer früheren Nomadenzeit auch in der Sesshaftigkeit bei und ein guter Teil des nachmaligen Kultes zu Jerusalem beruhte auf der Thatsache der Ablösungsvorstellung. Auch die „Beschneidung“[775] führt Lippert wohl nicht mit Unrecht darauf zurück. Es ist das Opfer eines Teiles, womit der ganze Körper des Neugebornen abgelöst werden sollte. Daran, sowie an verwandte Vorgänge bei anderen Völkern, z. B. die blutige Operation El Salkh (d. h. Skarifikation),[776] welcher sich die Beduinen des Hedschâs unterziehen, knüpfte sich alsbald und ganz von selbst eine weitere wichtige Bedeutung. Das Patriarchat mit seinen exogamischen Eheformen zerstörte nämlich die Blutverbindung, welche in der mutterrechtlichen Gruppe alle Männer derselben umschlang. Zwar gehörten jetzt alle Kinder einer Familie in den Besitz des Vaters; aber dem Blute nach waren sie nun durch ihre Mütter, sowohl zu einander wie dem eigenen Vater gegenüber, stammfremd, so lange nicht eine jüngere physiologische Auffassung die Verwandtschaft durch den Erzeuger an Stelle der Blutseinheit zum Gesetze erhob. Für das der neuen Familie unter Vatergewalt fehlende natürliche Band drängte es darnach, einen künstlichen Ersatz zu schaffen, indem man zumeist an das ablösende Blutopfer des Kindes anknüpfte und diesem die Kraft und Folgen eines Opferbundes beilegte. Der junge Mensch,[S. 364] welcher durch das Opfer seines Blutes sein Leben erkauft, tritt damit auch in eine Blutsgemeinschaft mit der Gottheit, die sein Blut aufnimmt, und wird dadurch mittelbar allen Stammesgenossen blutverwandt, eben weil alle diese in die nämliche Blutsgemeinschaft zu derselben Gottheit getreten sind. Dieses Blutopfer ersetzte also fortan die natürliche Blutverwandtschaft, das davon zurückbleibende Zeichen ward aber zugleich die Stammesmarke, welche über die Zusammengehörigkeit der einzelnen Mitglieder entschied. Eine solche Stammesmarke ist nicht bloss die Beschneidung, welche bei zahlreichen Völkern üblich ist,[777] sondern auch die Anordnung bestimmter Hauteinschnitte, das Ohrendurchstechen, Ausschlagen gewisser Zähne u. s. w., wie viele niedrige Stämme sie im Gebrauche haben. So war auch die Beschneidung in der vorexilischen Zeit Israels lediglich Stammeszeichen, erst im Exile gewann sie die Bedeutung eines religiösen Symbols[778] (’ot). Der alte Israelit wurde beschnitten, wie der Nubier bestimmte Einschnitte ins Gesicht erhält, wie Angehörigen von Negerstämmen einzelne Zähne ausgeschlagen oder in bestimmter Form gefeilt werden, wie Asiaten und Australier eine bestimmte Tättowierung bekommen. Je nachdem man nun dieselbe Handlung mehr als Opfer zur Erhaltung des Kindeslebens oder als Bund zur Einführung in die Verwandtschaft der Männer, als Stammeszeichen auffasste, verlegte man sie entweder in die Nähe der Geburt oder in die Zeit des Eintritts des Kindes in die Jünglingsjahre; es ist letzteres die weitverbreitete Sitte der „feierlichen Wehrhaftmachung“, womit der Knabe aus der Mutterpflege in die Gesellschaft der Männer eintritt. Nicht mit Unrecht hat man darum an vielen Orten diese Handlung eine „zweite Geburt“ genannt; die erste, wirkliche, teilt das Kind dem Stamme der Mutter zu, die zweite, künstliche, schenkt es der Organisation der Männer, dem Stamme derselben oder dem Staate. Weil jene Zeit des beginnenden Jünglingsalters im Süden wenigstens zusammenfällt mit dem Eintritte der Mannbarkeit, so hat man sich vielfach verleiten lassen, in jenen Kult[S. 365]handlungen gleichsam eine Feier der letzteren zu erkennen; aber die Beziehung ist nur eine äusserliche.[779]
Noch zweier bedeutender Entwickelungsmomente ist hier zu gedenken, die innerhalb der Patriarchalfamilie sich vollzogen; doch beschränke ich mich hier auf eine blosse Andeutung, da späterhin ausführlicher darauf zurückzukommen sein wird. Es ist dies der Übergang zur Einzelehe (Monogamie), dann der Sieg der Vorstellung von der unmittelbaren Verwandtschaft des Kindes mit dem Erzeuger, d. i. eines jüngeren Begriffes der Vaterschaft. Wie dieser Umschwung der physiologischen Anschauung über den Anteil der Eltern an dem Leben des Kindes angebahnt und durchgeführt wurde, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Bloss die Ergebnisse der Veränderung lassen sich feststellen. Sie schlagen zunächst ins Gegenteil von der älteren und allgemeinen Anschauung der Mutterfolge um; man hielt daran fest, dass die Natur der Frauen derjenigen der Männer untergeordnet sei, und suchte die Behauptung durch die sonderbare physiologische Vorstellung zu erläutern und zu verteidigen, dass die Fortpflanzung des Geschlechts ausschliesslich Sache der Männer sei, da die Frauen dabei bloss eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Erst allmählich gelangte man zu einem billigen Ausgleiche.
[741] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 162–163.
[742] Globus. Bd. XXI. S. 131.
[743] Alfred Marche. Trois voyages dans l’Afrique occidentale. Paris 1879. S. 70.
[744] Prof. Dr. Kohler. Ethnologische Jurisprudenz. (Zeitschr. f. vergleich. Rechtswissenschaft 1883. Bd. IV. S. 287.)
[745] So übten es mit Vorliebe die Moslemin, so lange sie noch Herren in Bosnien waren, unter der unterworfenen christlichen Rajah. (F. Krauss. Sitte und Brauch der Südslaven. S. 244.)
[746] Dr. Karl Schmidt (Jus primae noctis. Eine geschichtliche Untersuchung. Freiberg 1881), welcher ein „Herrenrecht“ überall leugnet, fertigt die zahlreichen, recht unbequemen Abweichungen der Kulturarmen von unseren geläuterten Ehebegriffen kurzweg als „geschlechtliche Unsitten“ ab, verwirft auch die Annahme einer ehemaligen Ungebundenheit, beweist aber damit bloss, dass die Geschichte der Familie ihm völlig fremd ist. Wie unglücklich er daher argumentiert, zeigt folgende Stelle: „Durch Fortschritt der Zivilisation ist es erklärlich, dass ein Volk die Unsitte der Weibergemeinschaft ablegt und dafür gesittete Gewohnheiten annimmt. Dagegen ist es unglaublich, dass ein Volk, welches in Weibergemeinschaft lebt, diese Unsitte mit dem ausschliesslichen Rechte des Häuptlings auf alle Weiber des Stammes vertauscht. Ständen aber gleichwohl alle Weiber vor allem zur Disposition des patriarchalischen Häuptlings und hätte der Herrscher das alleinige Privileg, Frauen zu haben, so wäre es höchst unwahrscheinlich, dass er eine Beschränkung seines vermeintlichen Rechtes freiwillig ausspräche, indem er sich ein für allemal mit dem Herrenrecht der ersten Nacht begnügte, oder dass ihn die Bevölkerung zu einer solchen Beschränkung seiner Willkür zwingen würde. Soweit es möglich, sich in die Anschauungen eines wilden Volkes zu versetzen, dürfte anzunehmen sein, dass die Wilden entweder roh genug sind, um jederzeit ihre Frauen dem Belieben des Häuptlings zu überlassen, oder genug Gesittung haben, um sich den Eingriff in ihre ehelichen Rechte überhaupt und insbesondere auch für die Hochzeitsnacht zu verbitten“ (S. 41–42). Indem hier der „patriarchalische“ Häuptling mit der Weibergemeinschaft verquickt wird, zeigt sich, dass der Verfasser keine Ahnung von der langen Entwicklungsperiode besitzt, welche zwischen diesen beiden Kulturstufen liegt.
[747] Dr. Pfannenschmidt. Jus primae noctis im: Ausland 1883. S. 150.
[748] Karl Schmidt in seinem erwähnten Buche versucht freilich darzulegen, dass der Glaube an ein Recht der ersten Nacht seitens der Herren, geistlichen wie weltlichen, in der Feudalzeit des Mittelalters, nur ein „gelehrter Aberglaube“ sei. (Jus primae noctis. S. 379.) Ein genaueres Studium des sehr gelehrten Werkes lehrt indes, dass es sich dort zum grossen Teile um blosse Wortklauberei handelt. Dasselbe will beweisen, dass im geschriebenen Rechte nirgends ein jus primae noctis Erwähnung finde, ein solches „Recht“ mithin auch nicht vorhanden gewesen sei. „Aber,“ so urteilt P. Mantegazza sehr treffend, „trotz der ungeheuren, von ihm aufgewendeten Gelehrsamkeit, um seine eigene These zu unterstützen, ist es ihm meiner Meinung nach nicht gelungen, der Ansicht so vieler angesehener Schriftsteller gegenüber und dem universellen Glauben daran, Sieger zu bleiben“ (Anthropologisch-kulturhistor. Studien. S. 255). Schmidt selbst erzählt viele Einzelheiten, welche die Thatsache bestätigen und obgleich er sie die „Schandthaten der Tyrannen“ nennt, so häuft er doch, ohne es zu wollen, ein sehr beträchtliches Material gegen seine eigene These zusammen. Aller Widerspruch und alle Dialektik Schmidts vermögen auch nicht das Gegenteil zu beweisen. In den geschriebenen Gesetzen findet man viele Dinge nicht, die zuerst durch Gewalt erreicht und später zur Gewohnheit wurden, die stärker ist, als alle geschriebenen Gesetze (A. a. O. S. 256–267). Zu ähnlichen Schlüssen gelangten auch Dr. Pfannenschmidt und Prof. Kohler.
[749] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 525.
[750] Siehe oben S. 285.
[751] Lippert. A. a. O. S. 535.
[752] A. a. O. S. 275.
[753] Annual Report of the Smithsonian Institution. Washington 1876. S. 470.
[754] Seemann. A mission to Viti. S. 192. Giovanni Branchi. Tre mesi alle isole dei Cannibali nell’ arcipelago delle Figi. Firenze 1878. S. 155.
[755] Sati ist weiblicher Eigenname der Tochter des Dakscha, eines Sohnes von Brahma, und der Gattin von Siva, des mit Brahma um den Vorrang streitenden Gottes. Nach dem Kasi Khanda, einem Werke der neueren Hindutheologie, verübte Sati Selbstmord; sie stürzte sich beim Opfer ihres Vaters in das heilige Feuer, aus Bekümmernis, dass ihr Gatte von Vater Brahma nicht zum Opfer eingeladen war. Seither heisst jede Ehefrau, die mit ihrem verstorbenen Ehemann den Holzstoss besteigt, Sati, und der Gebrauch selbst Sahagamana, d. h. das Mitgehen mit dem verstorbenen Gatten (Schlagintweit. Indien. Bd. II. S. 150).
[756] Krauss. Sitte und Brauch der Südslaven. S. 578.
[757] Hellwald. Frankreich. Das Land und seine Leute. Leipzig (1888). S. 245.
[758] Mantegazza. Anthropol.-kulturhistor. Studien. S. 228.
[759] Stade. Geschichte des Volkes Israel. Bd. I. S. 497.
[760] Z. B. Henne-Am Rhyn, Kulturgeschichte des Judentums. S. 69–70 meint: Die dem Mose zugeschriebenen Gesetze gebieten unter ihren ersten und wichtigsten Vorschriften: alles Erstgeborne von Menschen und Vieh solle Jahve gegeben werden. In den älteren Formen dieses Gebotes ist demselben auch gar keine Milderung oder Ausnahme beigefügt. Aus den Worten, mit denen Ezechiel dies bestätigte (20, 25, 26), geht deutlich hervor, dass wenigstens lange Zeit hindurch Jahve alle Erstgeburt ohne Gnade dargebracht werden musste. Das Wort, welches Ezechiel dabei anwendet („hindurchgehen“ d. h. verbrennen), ist dasselbe, welches die Bibel regelmässig von den Molochsopfern gebraucht. Zu einer uns unbekannten Zeit nun scheint dieses „Hindurchgehen“ der Erstgeburt (durch das Feuer), soweit es sich nicht um den Moloch handelte, durch eine später in das Gesetz eingeschaltete Klausel gemildert, d. h. die Lösung der Erstgeburt gestattet worden zu sein. Aber sogar zur Zeit der Propheten im Reiche Juda, nach Israels Untergang, da bereits die „Lösung“ gestattet war, galt es immer noch als besonders verdienstlich, die Erstgeburt dennoch zu opfern (Micha. 6, 7). Dass vollends bis zur Wegführung nach Babylonien Kinder fortwährend geopfert wurden, zwar dem Namen nach dem Moloch, aber auf der nationaljüdischen Opferstätte im Thale Ben Hinnom, geht aus zahlreichen Stellen der Propheten Jeremia und Ezechiel klar genug hervor. Auch Lippert spricht sich dahin aus und alle Versuche, die Semiten von dem Makel des Kindesopfers freizusprechen, können vor einer vorurteilslosen Kritik nicht bestehen.
[761] Ganz unzulänglich däucht mir die Widerlegung dieser Auffassung bei Dr. C. N. Starcke: Die primitive Familie in ihrer Entstehung und Entwicklung. Leipzig 1888. S. 125.
[762] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 258.
[763] J. J. J. Döllinger. Heidentum und Judentum. Vorhalle zur Geschichte des Christentums. Regensburg 1857. S. 398–399.
[764] Stade. Gesch. d. Volkes Israel. Bd. I. S. 479–480.
[765] Die Dewadaschi der ersten Klasse heiraten nicht und sind auf einen Geliebten aus den zwei ersten Hindukasten beschränkt; jene der zweiten Klasse dürfen sich aber jedem, der zur gleichen oder zu einer höheren Kaste gehört, preisgeben. Man unterscheidet unter diesen Nautsch-Mädchen: Thassi, oder Tanzmädchen, das einer Pagode zugeteilt ist, und: Waschi oder Buhldirne schlechtweg (Ausland 1880. S. 582). Die, welche Tänze und Liebe verkaufen (und fast alle thun es), haben sehr verschiedene Tarife für die beiden verschiedenen Dinge (Mantegazza. Indien. S. 287).
[766] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 399.
[767] Es waltet in Abessinien noch eine unglaubliche Lockerheit der geschlechtlichen Sitten, und dies von Alters her. In den Gebieten westlich vom Takazze, in den Provinzen Wogara und Begemeder giebt es fast noch keine „Familie“. Man begattet sich nach Gefallen und trennt sich nach Gutdünken. Das Weib geniesst grosse Freiheit. Zwar wird die Jungfrau zur Ehe gekauft, dann aber steht es ihr frei, den Gatten zu verlassen und die Vorrechte der Witwen oder Geschiedenen zu beanspruchen, welche über sich frei verfügen. Unser Schambegriff ist auch noch nicht vorhanden. Zehn- bis zwölfjährige Mädchen bieten, ohne Anstoss zu erregen, selbst in Gegenwart ihrer Mütter ihre Gunst an, aber niemals umsonst. In Abessinien ist jedermann bereit, dem andern Weiber zu verschaffen; die Mutter führt ihm die Tochter, der Bruder die Schwester zu; Fürsten und Fürstinnen bieten ihm ihre Dienerinnen und Hofdamen an, alles als selbstverständlich. Niemand erblickt darin ein Arges. Priester sind darin nicht strenger als Laien. (Vgl. Combes et Tamisier. Voyage en Abyssinie. Bd. II. S. 108–120.)
[768] Combes et Tamisier. A. a. O. S. 116–119.
[769] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 259.
[770] A. a. O. S. 258.
[771] A. a. O. S. 312.
[772] Edw. B. Tylor. Researches into the early history of mankind and the development of civilisation. London 1865. S. 288; Peschel. Völkerkunde. S. 26; Ploss. Das Kind. Bd. I. S. 125–138 teilen das Verzeichnis jener Völkerschaften mit, bei welchen die Sitte des sogenannten Männerkindbettes herrscht. Ich finde dieselbe auch noch für die Molukkeninsel Buru erwähnt (Globus. Bd. XLIV. S. 46).
[773] Lippert. Kulturgesch. Bd. II.
[774] Lippert. Allgem. Geschichte des Priestertums. Berlin 1881. S. 41.
[775] H. Ploss (Das Kind. Bd. I. S. 298) hat dargethan, dass es falsch ist zu glauben, den Völkern habe bei Einführung des Brauchs die Absicht vorgeschwebt, gesundheitliche Vorkehrungen damit zu treffen.
[776] Capit pugionem tonsor et praeputio abscisso detrahit pellem των ἀιθοίων και τὼν κοιλίων, ab umbilico aut parum infra incipiens, ventrem usque ad femora nudat. (Burton. Personal Narrative of a pilgrimage to El-Medinah. Bd. III. S. 81.)
[777] Ploss. Geschichtliches und Ethnologisches über Knabenbeschneidung. Leipzig 1885.
[778] Stade. Geschichte des Volkes Israel. Bd. I. S. 423.
[779] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 339–341.
[S. 367] herrschenden thatsächlichen Zustände zu betrachten, um auf solche Weise das Gemeinsame und Abweichende in ihnen zu veranschaulichen.
s bedarf wohl kaum des Hinweises, dass nicht überall das Patriarchat die gleiche Stufe der Ausbildung erlangte. Ursachen, die unserer Kenntnis sich entziehen, zum Teil im Wesen des Volkscharakters begründet, mögen bald den einen, bald den anderen der das Patriarchat kennzeichnenden Züge schärfer ausgeprägt, wieder andere dafür geringer entwickelt haben. Ein Patriarchat, wie es schematisch sich uns darstellt, d. h. eine auf Mannesherrschaft gegründete Familienordnung mit gleichmässiger Übung aller daraus entspringenden Folgen, hat schon deshalb niemals in Wirklichkeit bestehen können, weil seine Charakterzüge eben erst allmählich erworben und die mannigfaltigen Äusserungen älterer Denkweise, Sitte und Einrichtung nicht alle gleichzeitig überwunden wurden. Minder bedeutende verblassten zuerst, andere hinwieder erhielten sich mit mehr oder weniger Zähigkeit im Bewusstsein und Leben des Volkes, dessen psychische und physische Anlagen ein entscheidendes Wort dabei mitreden mochten. Deshalb gestaltet sich z. B. das Patriarchat bei manchen Völkern polygynisch, neigt bei anderen zur Monogamie, stets aber trägt dasselbe eine gewisse Summe von Zügen, welche es bei allem Hereinragen älterer Formen von diesen deutlich unterscheiden und zu einer besonderen Gestaltung der Familie stempeln. Es wird sich daher empfehlen, glaube ich, die bei den wichtigsten VölkernDas Hirtenleben war, wie gezeigt, der Ausbildung des patriarchalischen Familientypus am allergünstigsten. Nur unter den Umständen des Hirtenlebens konnte in einer kleinen, abgesonderten Gruppe älterer und jüngerer Menschen, die durch eine gewisse Blutverwandtschaft zusammengehalten wurden, eine Feststellung der väterlichen Abkunft, eine Zunahme des Zusammenhanges, der Unterordnung und des Zusammenwirkens für Erwerbs- und Verteidigungszwecke erfolgen, und die Ausbildung dieses inneren Aufbaues wurde verhältnismässig um so leichter, weil hier häusliche und gesellschaftliche Herrschaft zusammenfielen.[780] Der Wanderhirte ist, wie erwähnt, auch gern ein Räuber, zum mindesten kriegerischen Sinnes; wo aber dieser vorherrscht, dort besteht auch Neigung zur Vielweiberei, welche in der That allen, auch den einfachsten Nomadenstämmen eigen ist. Sie dauert auch in jenen Gebilden derselben fort, welche im Kriege zu kleinen, unter fest eingesetzten Herrschern stehenden Nationen verschmolzen wurden, und erringt in diesen dann sehr oft eine bedeutende Ausdehnung. Dabei ist der Zusammenhang zwischen dem aus dem kriegerischen Wesen hervorgewachsenen Despotismus und der Vielweiberei unverkennbar; die häusliche Willkürherrschaft (Despotismus), welche geradezu eine Voraussetzung der Vielweiberei ist, deckt sich, wie H. Spencer sehr richtig betont, so ziemlich mit der staatlichen.[781]
Deshalb kann es nicht überraschen, fast bei allen staatenbildenden Völkern der Geschichte in der einen oder anderen Gestalt der Vielweiberei zu begegnen. Ich sage: in der einen oder der anderen Gestalt, denn in der That kommt die Vielweiberei in verschiedener Weise zum Ausdruck, worauf im allgemeinen nicht genug Gewicht gelegt wird. Gemeiniglich pflegt man das griechische Wort „Polygamie“ durch Vielweiberei zu verdeutschen und jene Völker, deren Gesetze oder Sitten Polygamie[S. 368] nicht dulden, als Monogamen zu bezeichnen. Dies ist jedoch nicht richtig. Polygamie ist nicht „Vielweiberei“, sondern „Vielehe“. Darin liegt ein tiefer Unterschied. Viele Völker des Altertums wie der Gegenwart gestatten allerdings bloss ein einziges Eheweib, sind also Monogamen, dennoch herrscht bei ihnen Vielweiberei oder Polygynie. Denn Gesetz und Sitte erlauben dem Manne, neben der einen gesetzmässigen Gattin Sklavinnen als Kebsinnen (Konkubinen) nach Belieben, je nach Reichtum und Stellung zu halten. Die Vielehe, die Polygamie konnte erst mit der Ausbildung des Ehebegriffes aus der Polygynie hervorwachsen; sie ist eine gesetzliche Einrichtung und kann auch verschwinden, ohne die Vielweiberei zu beseitigen. In der That ist letztere auch im Kreise der Monogamen nirgends völlig unterdrückt und lebt unter den mannigfachsten Gestalten fort. Wir lernen somit zwei verschiedene Gattungen der Beweibung kennen, beide auf dem Boden des Patriarchates erwachsen: die „Ehe“ als ein strenge geregeltes Verhältnis, dann das „Kebstum“ oder „Konkubinat“, welches noch lange, nachdem das jüngere Vaterrecht an Stelle des älteren Patriarchates getreten, die ehelichen, gesetzmässigen Verbindungen begleitet. Das Kebstum hängt mit dem Sklavenwesen, mit dem Verhältnisse zwischen Herrschaft und Gesinde zusammen, wie es der starre Eigentumsbegriff erzeugt hatte. Bei aller Knechtung des Weibes spielt, wie sich überall deutlich verfolgen lässt, in die Stellung der Ehefrau noch manches Mutterrechtliche hinein. Die Ehefrau ist stets eine Freie, die, wenn auch durch Kauf, nicht ohne Zustimmung ihrer Eltern oder Mundwalte erworben werden kann. Die Sklavin war dagegen, wie der Sklave, ursprünglich die gewaltsam angeeignete Beute; sie blieben die Unfreien, das willenlose Besitztum ihrer Herren auch dann, als sie später gleichfalls im Wege des Kaufes in deren Eigentum gelangten. Heute noch ist in den sklavenhaltenden Ländern die Mehrzahl der Sklaven, so weit sie nicht schon in der Sklaverei geboren sind, gewaltsam erbeutetes Gut. Ihre Verkäufer, die sie zu Markte bringen, sind mittel- oder unmittelbar ihre Räuber. Das Gesetz untersagt nun die „Ehe“ mit der Unfreien, der Sklavin; den Geschlechtsumgang mit ihr wehrt es aber nicht, denn der[S. 369] Herr kann sein Gut beliebig benutzen. Das ist sein Recht. Für unser Gefühl hat es etwas unwürdiges, dass der Herr auch Herr des Leibes seiner Sklavin ist, aber nicht für das Altertum oder die Völker des Patriarchats, da dort auch das freie Mädchen kein Recht hat, sich den Gatten zu wählen.
Überall wo neben der oder den gesetzmässigen Gattinnen noch Kebsinnen, Nebenfrauen geduldet sind, glänzt die eheliche Gemeinschaft nicht so wie bei uns im Lichte eines von der Natur vorgezeichneten Veredlungsweges für den Menschen, was ihr auch thatsächlich nicht „durch die Natur vorgezeichnet“ ist, sondern wozu unsere Gesittung sie zu gestalten strebt. Sie erscheint vielmehr als ein letzter Naturzweck, um Kinder zu bekommen und die Familie fortzupflanzen, woran dann sehr häufig Ahnendienst sich schliesst. So fassten die Ehe auf nicht bloss die Juden, Hindu, Griechen und Römer des Altertums, sondern heute noch die Chinesen und die Völker des Islâms. Bleibt der Zweck der Ehe unerfüllt, d. h. bleibt die Ehefrau kinderlos, so müssen Kebsweiber aus Kriegsgefangenen oder Haussklavinnen den unerlässlichen Familiennachwuchs liefern, besonders bei solchen Völkern, welche das patriarchalische Geschlechterwesen in Verehrung halten. Daher darf man sich durch vorgebliche Monogamie nicht in die Irre führen lassen.
Über die Stellung des weiblichen Geschlechtes im alten Ägypten liegen leider widersprechende Nachrichten der alten Schriftsteller vor. Herodot sagt, in Ägypten habe jeder nur eine Frau gehabt, Diodor dagegen, den Ägyptern sei mit Ausnahme der Priester erlaubt gewesen, so viel Frauen zu nehmen, als ihnen beliebte. In den Grabgewölben der vierten und fünften Dynastie tritt uns die Frau zum erstenmale leibhaftig in der Weltgeschichte entgegen. Sie genoss dort eine bevorzugte Stellung, welche im ganzen Altertum ihresgleichen nicht aufweist und wohl noch als ein Erbstück aus der älteren mutterrechtlichen Zeit zu betrachten ist, worauf ja auch die religiös empfohlenen Geschwisterehen sowie die wichtige Rolle hindeuten, welche der Schwester der Pharaonen zukam. Die Frau hatte nicht nur die unbedingte Herrschaft im Hause — „Herrin des Hauses“ ist der offizielle Titel der Ehe[S. 370]gattin — sondern sie bewegte sich auch mit voller Freiheit im öffentlichen Leben. Ihre volle Berechtigung mit den Männern wird hinlänglich daraus ersichtlich, dass sie zur höchsten Würde auf Erden, zum Königtume gelangen konnte. Freilich sind es bloss solche Frauen der Grossen, auf die sich unser Wissen von jener Zeit bezieht; wie es um die grosse Menge stand, ist weniger klar. Nach mancherlei Fingerzeigen, welche die Denkmäler enthalten, wird man indes sich nicht weit von der Wahrheit entfernen, wenn man schon im alten Pharaonenreiche ähnliche Verhältnisse voraussetzt, wie das Mannesrecht sie in den morgenländischen Despotien und Familien von heute ausgebildet hat. Dass die Ägypterinnen sich dabei besonders unglücklich gefühlt hätten, wird nirgends gesagt und deshalb auch schwerlich der Fall gewesen sein. Hatten die Ägypter, wie wenigstens die Denkmäler lehren, eine rechtmässige und bevorzugte Gattin, welche demselben Stande und derselben Kaste entsprossen war, so gab es doch Nebenfrauen, wenn auch stets die Denkmäler sie als „Sklavinnen“ bezeichnen. In der Glanzepoche der achtzehnten und neunzehnten Dynastie, also in der Zeit vom siebzehnten bis zwölften Jahrhundert, bekamen die hohen Herren vollends Geschmack und Vorliebe für die schmucken und wohlgestalteten syrischen und sonstigen Sklavinnen, die zu Markte gebracht wurden, und kauften sie, während sie ihre eigenen Frauen vernachlässigten oder gar darben liessen. Ein Papyrus im Museum zu Leyden schildert solche Zustände mit den Worten: „Gold, Silber und allerlei Geschmeide wird verschwendet an den Hals von Sklavinnen, und die einheimischen Ehefrauen klagen und sagen: o, hätten wir doch nur zu essen für uns!“ Und an einer anderen Stelle sagt er: „In schwellenden Sänften, in denen man die Glieder angenehm hinstrecken kann, lassen sich die Zuhälterinnen herumtragen; ihr Herz ist gehobener Stimmung und Jubelruf ertönt auf ihren Wegen.“ Das erinnert stark an die hellenische Hetärenwirtschaft, von der noch die Rede sein wird. Aus weitaus jüngerer Zeit sind zahllose Urkunden erhalten, die teils griechisch, teils demotisch geschrieben sind. Es ist aber zweifellos, dass die Bestimmungen, welche Heiratsverträge aus der Ptolemäerzeit enthalten, bei dem konser[S. 371]vativen Charakter von Land und Volk in Ägypten ohne wesentliche Unterschiede auch in früheren Zeiten Geltung hatten. Aus ihnen geht hervor, dass die Ehe keinerlei religiöse Bedeutung besass, womit auch ihre Unauflöslichkeit fällt. So lautet die stehende Formel eines Ehepaktes: „Ich habe Dich zur Gemahlin gemacht und Dir so und so viel Shekel als Hochzeitsgeschenk gegeben. Ein Jahr hindurch wirst Du so und so viel Getreide und Öl zu Deiner Ernährung erhalten. Dein und mein ältester Sohn wird der Herr der Gesamtheit meiner Güter sein. Ich werde Dich als Frau einsetzen. Wenn ich Dich aber verstossen und ein anderes Weib nehmen sollte, so werde ich Dir so und so viel Shekel geben und dazu noch Dein Hochzeitsgeschenk.“ Hierauf wird die Ausstattung, welche die Frau mitbekommen hat, genau verzeichnet und zum Schlusse heisst es: „Ich habe diese Güter von Dir erhalten, mein Herz ist damit zufrieden; wenn Du bleibst, so bleibst Du mit ihnen; gehst Du weg, so nimmst Du sie mit.“ Wie aus dem Wortlaute der Urkunde zu entnehmen ist, hat es also in Ägypten in der That ein Probejahr vor der Heirat gegeben, der älteste Sohn allemal erbte das Eigentum des Vaters, wogegen alles, was die Mutter ins Haus brachte, unter die übrigen Kinder verteilt wurde; dadurch war eine seltene Beständigkeit der Verhältnisse gesichert.[782]
Im Patriarchate ist für die Romantik der Liebe noch kein Platz, das Praktische allein, daneben die sinnliche Veranlagung der Völker waltet vor und entscheidet auch über Einzel- oder Vielehe. Von einer theoretisch-ethischen Auffassung ist noch keine Spur. Dies zeigt sich unter andern in den Familienverhältnissen der Hebräer. Bei ihrem Eintritte in die Geschichte war das Patriarchat schon ausgebildet, nur wenige Spuren weisen auf die mutterrechtliche Vergangenheit. Das Weib ist des Mannes gekauftes Eigentum. Daher leben die Reichen und Mächtigen in Polygamie; für diese ist dieselbe mit ein Mittel, sich Reichtum und Ansehen zu verschaffen und zu erhalten, indem sie sich mit[S. 372] möglichst vielen einflussreichen Familien verschwägern, während der gemeine Mann sich gewöhnlich mit einer Frau begnügt oder etwa daneben ein Kebsweib hat. Die israelitische, meist volksfremde Sklavin, welche immer die Kebsin des Hausherrn oder eines seiner Söhne ist, wird ’ama genannt. Es ist dies ein Wort uralter Bildung, welches in anderen semitischen Sprachen wiederkehrt, woraus zu schliessen ist, dass diese Sitte schon vor der Trennung der semitischen Völker bestand.[783] Der alternden kinderlosen Frau wurde es zum Lobe angerechnet, wenn sie dem Gatten eine Sklavin als Beischläferin zuführte. Doch hat sich aus uralter Zeit beim israelitischen Viehzüchter wie Bauer die Sitte erhalten, zwei Gattinnen zu nehmen[784] und bei den in Persien lebenden Juden ist die Polygamie heute noch zulässig.[785] In der Genesis ist zwar der Grundsatz der Monogamie ganz bestimmt ausgesprochen, so dass man das Verbot der Vielweiberei auch im mosaischen Gesetze zu finden erwarten sollte. Dieses aber schweigt darüber, und so war denn Polygamie geduldet und als erlaubt im Gesetze vorausgesetzt.[786] Es erklärt sich dies wohl daraus, dass die Genesis in ihrer heutigen Gestalt erst sehr spät, zu einer Zeit, als die monogamen Ideen schon die Oberhand gewannen, ihre endgültige Abfassung erhalten hat. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Israeliten in ihren heiligen Büchern als ein zur Fleischeslust geneigtes Volk geschildert werden, welches derselben keine Schranken zog. In ältester Zeit waren die Ehen mit Fremden noch sehr allgemein. Von den Patriarchen der Sagenzeit und von Mose wird erzählt, dass sie Ausländerinnen zu Weibern nahmen; in der Richterzeit war die Vermengung zwischen Hebräern und Kanaaniten die herrschende Regel; ja man verteilte sogar Mädchen der Besiegten als Beute.[787] Die Aufnahme des Verbots fremder Ehen in das Gesetz stammt wohl erst aus der Zeit des zweiten[S. 373] Tempels.[788] Jüngerer Zeit gehört auch das Verbot der Ehe zwischen nahen Verwandten. In vorgeschichtlicher Zeit scheint die Ehe zwischen Halbgeschwistern üblich gewesen zu sein, und auch später noch suchte sich der junge Israelit seine Braut unter den Töchtern seiner Agnaten, wie bei den Arabern war der Vetter der gewiesene Bräutigam seiner Base.[789] Durch das Gesetz verboten waren nicht nur die Ehen zwischen Verwandten ersten Grades, sondern auch mit der Stiefmutter, der Schwiegermutter, der Muhme, der Witwe des Vatersbruders, der Schwiegertochter und der Schwägerin, sowie mit angeheirateten Töchtern und Schwestern. Wie überall im Patriarchate war das Verhältnis zwischen Mann und Weib im ethischen Sinne ein sehr loses. Das Gewohnheitsrecht erheischte, dass der Mann die Frau zu kleiden, zu ernähren und ihr die eheliche Pflicht zu gewähren habe. Darin besteht die eheliche Treue des Mannes. Thut er dies, so mag er im übrigen Weiber nehmen und ausserehelichen Umgang mit Frauen pflegen, so viel ihm gefällt, die Ehefrau hat kein Recht, sich hierdurch beschwert zu fühlen. Aus dem Umstande, dass die Frau ein Besitz des Mannes ist, erklären sich die israelitischen Vorstellungen vom Ehebruch, wie die Rechtsanschauungen über Deflorierung einer Jungfrau und vor allem, dass das Weib vom Manne nach freiem Belieben entlassen werden kann. Ehebruch scheint bei beiden Schuldigen durch die altsemitische Todesstrafe der Steinigung geahndet worden zu sein, vorausgesetzt, dass der beschädigte Ehemann klagte und nicht selbst Rache nahm oder schwieg oder sich für das erlittene Unrecht entschädigen liess. Deflorierung einer Jungfrau, für welche von einem andern der Mohâr bereits erlegt worden, ist Ehebruch; ist sie unverlobt, so bedeutet dieselbe eine Schädigung ihres Vaters, beziehungsweise ihrer Familie. Verzichtet diese darauf den Schimpf zu rächen, so hat sie sich zufrieden zu geben, wenn der Schuldige den Mohâr zahlt, welchen er im Falle einer Heimführung des betreffenden Mädchens hätte zahlen müssen. Durch die Entlassung aus der Ehe aber geschieht dem Weibe[S. 374] kein Unrecht, denn dieselbe bedeutet nur einen Verzicht des Mannes auf ein durch Zahlung des Mohâr erworbenes Recht. Die Frau tritt durch die Entlassung in ihre Familie zurück, und diese erhält das Recht, sie von neuem zu verheiraten.[790] Die altisraelitische Familie war eine auf Ahnenverehrung beruhende Kultgenossenschaft, wie sie unter dem Patriarchate sich zu entwickeln pflegt. Das Erbrecht ist deshalb ein solches der Agnaten und hat diesen Charakter niemals völlig verloren. Erbe ist im alten Israel nur der Sohn, nicht die Tochter. Im gleichen Verhältnisse steht natürlich der Bruder zur verheirateten Schwester, der Oheim und Neffe zur verheirateten Nichte und Muhme, auch die Witwe vermag den Ehegatten nicht zu beerben. Übrigens verrät auch die hebräische Sprache deutlich, dass das israelitische Erbrecht ein solches der Agnation gewesen sei und dass nur Agnaten als Verwandte im eigentlichen Sinne gegolten haben. Nur für die Agnaten als Verwandte eines Mannes hat die Sprache einen zusammenfassenden Ausdruck; sie sind seine „Brüder“ (ʾahîm) oder „Oheime“ (ʿammîm). Ferner hat die Sprache zwar einen Ausdruck für Vaters Bruder und Schwester gebildet — sie sind des Mannes „Freund“ (Dôd) und „Freundin“, und der erstere Ausdruck wird neben Ben dôd auch für den Vatersbrudersohn angewendet —, aber während so Ausdrücke für Patruus, Patruelis, Amita vorhanden sind, müssen die Begriffe Avunculus und Matertera durch Umschreibungen ausgedrückt werden.[791]
Der Gelehrte, dem die vorstehenden Ausführungen entlehnt sind, Professor Stade, ist der Meinung, dass die Formen des altisraelitischen oder eigentlich des altsemitischen Familienlebens von denselben Gedanken erzeugt worden sind, wie die des altitalischen, altgriechischen und indischen, von welchen Fustel de Coulanges dargethan hat, dass sie eine Kultgenossenschaft gewesen, zusammengehalten durch das Einigungsband des Kultes des Ahnen der Familie, dessen Stätte der Hausaltar, dessen Priester der Vater und Hausherr ist, und dass aus diesem Kulte sich das älteste Recht[S. 375] dieser Völker erklärt. Nur in dem einen Punkte weicht, und mit Recht, der deutsche von dem französischen Forscher ab, dass er nicht wie dieser meint, die Verehrung eines Ahnen müsse auch die wirkliche gemeinsame Abstammung von demselben verbürgen. Beide irren aber sicherlich darin, dass der Ahnenkult bei der Bildung der Familie treibender Faktor gewesen sei. Die patriarchalische Familie stellt sich allerdings als eine Kultgenossenschaft dar, die in Altisrael wie in Altrom ihren sichtbaren Ausdruck in einer gemeinsamen Grabstätte besitzt; von der Bestattung in diesem Grabe ist dann die Zulassung der entschlafenen Seele unter die in der Unterwelt weilenden Familienmitglieder abhängig. In diese Kultgenossenschaft treten die Frauen durch die Heirat ein; sie entsagen dem häuslichen Kulte ihrer eigenen Familie, um an jenem des Gatten nunmehr teilzunehmen; nur ihre Kinder sind gesetzlich anerkannte (legitim), nicht auch jene der Kebsin, welche nicht durch das Band der Ehe Anteil am Kulte des Mannes gewonnen hat. Allein der auf Ahnendienst beruhende Kult kann unmöglich bei der Bildung der Familie schon ein treibender Faktor gewesen sein. Der Natur der Dinge gemäss kann er erst im Schosse der patriarchalisch geordneten Familie entstanden sein. Verehrung der Abgeschiedenen lebt zwar heute noch bei den meisten Naturvölkern fort, Julius Lippert hat aber sehr wohlgethan, diese in systemloser Geisterfurcht wurzelnden Regungen als „Seelenkult“ vom „Ahnendienst“ scharf zu unterscheiden. Auch die aus slavischen Mythologieen im slavischen Märchenschatze erhaltene „Ahnenmutter“ hat mit dem Ahnenkulte nichts gemein, so wenig wie die deutschen Ahnenmütter Holda, Berchta und Frau Gode, welche alle aus älterer, mutterrechtlicher Zeit herüberragen. Es sind durchaus mythologische Wesen, die mit der Familie als solcher in keinerlei Zusammenhang stehen, Gestalten, welche durch die männliche Götterwelt des Patriarchats in den Hintergrund geschoben wurden. Ahnendienst d. h. ein Kult der Vorfahren konnte nur dort sich entwickeln, wo die Erinnerung an diese Vorfahren lebendig blieb, und dies konnte wiederum erst dann geschehen, als die Familie ein festes Gefüge erhalten hatte. Dies bewirkte aber die Stammesherrschaft, das Patriarchat. In der losen Ge[S. 376]schlechtsgenossenschaft des Mutterrechts hätte ein Ahnendienst niemals aufkommen können. Dagegen stellt dieser sich stets ein, wo strenge Vaterherrschaft die Grundlage der Familie geworden. Nicht bloss Juden, Hindu, Griechen und Römer, auch die weizengelben Söhne des himmlischen Reiches huldigen dem Ahnenkulte, und bei ihnen allen stellt sich die Familie als eine Kultgenossenschaft dar. Gewiss hat dieser Kult, nachdem er einmal Wurzel gefasst, seine Wechselwirkung auf die Gestaltung des Familienlebens nicht verfehlt. Wesentlich hat er den Wunsch nach dem Bestande, nach der Fortdauer der Familie befestigt, und ihm entquellen zumeist die dahin abzielenden Einrichtungen: insbesondere das Verlangen nach Söhnen, welche den Kult des Vaters fortsetzen möchten. Wenn in Altisrael dies Pflicht des nächsten männlichen Verwandten ist, wenn in Ermangelung von Söhnen der Sklave den Hausherrn beerbt, weil er der letzte Träger des Familienkultes ist, so darf man darin zwar eine Zugehörigkeit zum Kulte, wohl aber auch eine direkte Wirkung des Patriarchats erblicken, welches die weibliche Nachfolge ausschliesst. Dem Kult ist stets nur die Aufgabe zugefallen, zu heiligen, was sich längst in die allgemeinen Anschauungen eingelebt hatte und daher unvermerkt zum Sittengesetz geworden war. Nur so darf man es verstehen, wenn das Übergewicht des Hausvaters über alle Glieder der Familie aus seiner Würde als Herr und Bewahrer des ererbten Kultes hergeleitet wird, wenn von dessen richtiger Fortsetzung Gedeihen und Wachstum der ganzen Familie abhängen, während dessen Vernachlässigung den Zorn der Gottheit auf sie herabzieht.[792] Nicht der Ahnendienst hat, wie Fustel de Coulanges will, die Familie geschaffen; er ist vielmehr selbst ein Erzeugnis des Patriarchats.
Der nämliche Geist wie in Altisrael durchweht heute noch, — ich erwähnte es schon — das Familienleben der Chinesen. Aus ihrer nomadischen, altersgrauen Vorzeit haben sie Patriarchat und Ahnendienst bewahrt und bewiesen, dass sie mit einer sehr verfeinerten Gesittung vereinbar seien. Die Scheu vor Ehen[S. 377] zwischen Blutsverwandten geht bei ihnen so weit, dass sie nur Frauen nehmen, die einen anderen Familiennamen führen. Diese Familiennamen reichen hinauf in ein ehrwürdiges Altertum. Während in Europa selbst Dynastien ihre Ahnherren urkundlich höchstens ein Jahrtausend zurückverfolgen können, leben in China noch Nachkommen des Kung-fu-tse, die nicht bloss ihren Stammbaum auf diesen Moralphilosophen zurückführen, sondern auch beweisen können, dass ihr Ahnherr selbst wieder seinen Familiennamen schon 1121 v. Chr. nachweisen konnte. So erklärt sich der Sinn der spöttischen Frage, welche Chinesen an europäische Fremdlinge richten: „Habt ihr auch Familiennamen?“, nämlich so altbeglaubigte wie wir. Ganz im Sinne des Patriarchates ist der Zweck der Ehe, der Familie Kinder zuzuführen, um die Eltern zu ehren und den Ahnenkultus fortzusetzen. Die Ehe ist daher ausschliesslich eine Familieneinrichtung, und nur dann wird eine solche als blühend und glücklich betrachtet, wenn sie recht zahlreich ist. Deshalb verheiratet man sich sehr jung, meist schon vor dem zwanzigsten Jahre, in allen Provinzen des Reiches. Die Heiraten werden durch Ehevermittler — Böswillige nennen sie „Kuppler“ — geschäftsmässig zu Stande gebracht, und die Braut sieht ihren zukünftigen Gatten in der Regel erst am Tage der Vermählung zum erstenmale. Dass „Hofmachen“ eine den Chinesen unbekannte Pflicht sei, giebt General Tscheng-ki-Tong selbst zu,[793] und die Heirat besiegelt keine Herzensneigung. Aber die Heirat selbst gilt als das vornehmste, gewichtigste Ereignis im menschlichen Leben, da erst durch sie der Jüngling gewissermassen zum Manne gesprochen und als solcher im gesellschaftlichen Leben gültig wird. Den alten Junggesellen und die alte Jungfer kennt China nicht. In der Regel werden, ganz im patriarchalischen Geiste, die Verbindungen zwischen Familien von gleicher gesellschaftlicher Stellung geschlossen. Ungleiche Ehen bilden die Ausnahme. Bei der Unterzeichnung der Eheverträge vertreten die Familienhäupter die Stelle der europäischen Standesbeamten und Notare. Eine „Trauung“ in unserem Sinne giebt es nicht. Die[S. 378] Ehe gilt als reine Privathandlung, an der sich weder Standesamt noch Priester beteiligen. Die einfachen, dabei beobachteten Zeremonieen tragen weder einen religiösen, noch einen zivilen Charakter. Es findet weder eine kirchliche Weihe, noch ein sonstiger religiöser Akt statt. Die einzigen Zeugen des Ehebündnisses sind die Familie und die Freunde.
Die chinesische Familie ist nach Tscheng-ki-Tong eine Art Teilhabergenossenschaft, in welcher die Güter gewöhnlich in gemeinsamem Besitz sind und deren Mitglieder, solidarisch für einander haftbar, sich gegenseitig zu unterstützen haben. An dem gemeinsamen Vermögen haben alle männlichen Mitglieder das gleiche Anrecht, die weiblichen sind aber davon durchaus ausgeschlossen. Die Gewalt ruht bei dem Ältesten, dem Hausvater, dem die Verrichtungen eines Regierungsoberhauptes zukommen. Jedermann trägt das Seinige bei, alle Eingänge fliessen in eine gemeinschaftliche Kasse, und feste Satzungen bestimmen Rechte und Pflichten eines Jeden. Der Unterhalt der Greise, die Erziehung der Kinder, die Unterstützung der Hilfsbedürftigen, die den Jünglingen nach ihren Prüfungen zu gewährenden Preise, die Aussteuer der in die Ehe tretenden Mädchen — alles ist vorhergesehen, alles im vorhinein geregelt. In diesem so geordneten Familienwesen ist die väterliche Gewalt, die patria potestas, wie im alten Rom, Rechtsregel. Es giebt kein Gesetz, welches die Machtvollkommenheit der elterlichen Gewalt über ihre Kinder einschränken möchte. Die Eltern dürfen ihre Kinder sogar verkaufen, oder an Gläubiger verpfänden. Missratene, unverbesserliche Kinder werden, wie Missionär Lörcher versichert, getötet oder durch Verstümmelung unschädlich gemacht. Wie die alten Israeliten haben die Chinesen über ihre Töchter ein noch ausgedehnteres Verfügungsrecht als über ihre Söhne. Allerdings beruht die Annahme, dass ein grosser Teil der neugebornen Mädchen der weitverbreiteten Gepflogenheit des Kindermordes zum Opfer falle, auf starker Übertreibung, wie Giles und Gray übereinstimmend bezeugen. In Anbetracht der enormen Bevölkerungszahl, sagt letzterer, sind die Fälle von Mädchenmord gar nicht so schrecklich zahlreich, als es nach gewissen Autoren den Anschein[S. 379] hat.[794] In Wirklichkeit lieben chinesische Eltern alle ihre Kinder ebenso sehr, wie die Menschen in anderen gesitteten Ländern, in denen man Knaben ebenso sehnsüchtig herbeiwünscht, um die Familie vor dem Aussterben zu bewahren. Allerdings ist der grössere Wert des Knaben vor dem Mädchen bei den Chinesen vielleicht stärker ausgeprägt,[795] und dazu trägt nicht wenig die Ansicht bei, dass die Manen der Abgeschiedenen durch Huldigungen seitens ihrer männlichen Nachkommen glücklich werden. Nur die Söhne erweisen den toten Eltern alle vorgeschriebenen Ehren und wenden sich im Gebete an die „Ahnentafeln“; den Töchtern kommt derlei nicht zu. Ist dies auch in der Lehre des Kung-fu-tse über kindliche Pietät begründet, so geht daraus doch nur hervor, dass der chinesische Moralist selbst schon inmitten des ausgebildeten Vaterrechts stand und lehrte, welches letztere, wie wir wissen, überall Wert und Würde des Weibes herabdrückte.
Daran ändert auch nichts der Umstand, dass die gemeiniglich recht falsch beurteilte Stellung der Frau in China eine gesellschaftliche Geltung besitzt, wie kaum irgendwo im Morgenlande. General Tscheng-ki-Tong versichert in allem Ernste, die Frau sei in China ebenso glücklich, wie in Europa.[796] Sie geht aus, lässt sich spazieren tragen in ihrer Sänfte und hat nicht einmal einen Schleier, um sich gegen unbescheidene Blicke zu schützen, ja die Ehe verleiht ihr sämtliche Vorrechte ihres Gatten und sie darf sogar die Uniform seines Ranges tragen. Überschreitet man die Schwelle des Hauses, so betritt man ihr Reich, in welchem sie ein so massgebendes Ansehen geniesst, wie sich dessen die europäischen Frauen kaum rühmen dürfen.[797] Und der Engländer Giles findet, dass die Frauen der ärmeren Klassen in China zwar hart arbeiten müssen, aber nicht mehr als eine Frau gleichen Standes in anderen Ländern.[798] Auch sei Misshandlung der Frauen unbekannt, obwohl die Macht über Leben und Tod unter gewissen[S. 380] Umständen in der Hand des Gatten liegt, und eine Frau mit hundert Schlägen bestraft werden kann, wenn sie die Hand gegen ihren Mann erhebt. Im allgemeinen werden die Weiber sehr gut von ihren Männern behandelt, die sie nicht selten mit ebenso scharfer Zunge zu beherrschen wissen, wie nur eine Xantippe des Westens.[799] Die Ehe ist unauflöslich, nicht vom gesetzlichen Standpunkte, sondern von dem Gesichtspunkte der Achtung, welche man der Familie und besonders den Eltern schuldig ist. Allerdings giebt es zwei Fälle von Ehescheidung, welche wiederum enge mit den patriarchalischen Anschauungen verflochten sind. Sie bestehen in dem bis zur Beschimpfung getriebenen Ungehorsam gegen die Eltern des einen oder des anderen Gatten, dann in der, bei einem durch das Gesetz bestimmten Alter, festgestellten Unfruchtbarkeit.[800] Letztere, versichert Tscheng-ki-Tong, bilde den einzigen ernsthaften Scheidungsfall, allein selbst dann mache der Gatte keinen Gebrauch von seinem gesetzlichen Rechte, weil die Ehescheidung zwar durch das Gesetz gestattet, durch das Herkommen aber verurteilt, ganz besonders aber in den Kreisen der Aristokratie verachtet werde. Es scheint, dass der chinesische General bei seinen Schilderungen hauptsächlich die Sitten der höheren Kreise im Auge hat, denn wenn er sagt, dass die Ehescheidung in den arbeitenden Klassen nur selten vorkomme, so steht dem John Henry Grays Zeugniss gegenüber, wonach die seit undenklichen Zeiten zu Recht bestehenden Ehescheidungsgesetze dem Manne Handhaben bieten, sich seiner Frau auf leichte Art zu entledigen, während es — wie in Altisrael und überhaupt im ganzen Bereiche des Patriarchats — den Frauen nicht oder nur sehr schwer möglich ist, die Männer, und seien dieselben noch so strafwürdig, behufs Erlangung einer Scheidung vor Gericht zu bringen. Die Scheidungsgründe, die der Gatte geltend machen kann, sind: Unverträglichkeit, Dieberei, Flucht, Ungehorsam, Unzucht, Trunksucht, wozu in neuerer Zeit auch Opiumrauchen gezählt zu werden scheint, Ehebruch, Beflecktheit[S. 381] des Vorlebens, Pflichtvergessenheit gegenüber dem Gatten und den Schwiegereltern. Und die Leichtigkeit, mit der die Chinesen ihre Weiber auf Grund dieser zahlreichen und elastischen Ehetrennungsursachen loswerden können, wird nicht vermindert durch das sehr einfache Verfahren, durch das die Scheidung herbeigeführt wird.[801] Der schwerstwiegende aller Scheidungsgründe ist natürlich der Ehebruch. Schon auf den blossen Verdacht einer Untreue hin — und wäre derselbe in Wirklichkeit noch so unbegründet — behandeln chinesische Gatten ihre Weiber oft recht grausam. Das Gesetz gestattet dem Manne, der sein ehebrecherisches Weib auf frischer That ertappt, die beiden Schuldigen zu töten; er muss aber beide umbringen, wenn er sich nicht gerichtlichen Verfolgungen aussetzen will. Viel häufiger begnügt sich aber der beleidigte Gatte damit, das schuldige Paar eingesperrt zu halten, bis der Ehestörer ein mehr oder minder hohes Lösegeld erlegt.[802] Überall in der Zeiten Lauf ist des Gesetzes ursprüngliche Schärfe milderer Übung gewichen; doch bleibt jene massgebend für das eigentliche Verhältnis der Geschlechter im Patriarchate. Ganz im Einklange mit den diese Familienordnung beherrschenden Anschauungen gehört es in China keineswegs zum guten Tone, dass Witwen sich wieder verheiraten, und in den besseren Kreisen tritt dieser Fall vielleicht niemals ein. Eine Dame von Rang würde sich durch das Eingehen einer zweiten Ehe einer Strafe von achtzig Stockhieben aussetzen. In den niederen Schichten der Gesellschaft allerdings heiraten viele Witwen aus Armut und Not ein zweites Mal.[803] Mehr als alles andere vielleicht kennzeichnet die Stellung der chinesischen Frau, dass nach dem Tode des Vaters der älteste Sohn bei seinen Geschwistern Vaterstelle vertritt.
General Tscheng-ki-Tong, der warme Anwalt seiner heimatlichen Einrichtungen, belehrt uns, dass Monogamie die Grundlage der chinesischen Ehe sei. Das Gesetz bestraft sehr streng eine zweite Heirat, so lange die erste noch gültig ist.[804] Die Thatsache[S. 382] ist richtig; der Chinese hat gesetzlich bloss eine Ehegattin (Tsi); von jeher aber war ihm das Halten von Nebenfrauen (Tsie) in unbestimmter Anzahl gestattet. So herrscht eigentliche Einweiberei nur in einem Teile Nordchinas, namentlich bei der grossen Mehrheit der Bevölkerung der Provinz Schantung. Aber in den meisten übrigen Provinzen waltet die Vielweiberei vor, und Missionär Lörcher sagt: „Vielweiberei ist allgemein verbreitet, nur durch Armut beschränkt.“ Also auch hier das nämliche Verhältnis, wie wir es allerwärts im Bereiche des Patriarchates gefunden. Es ist kaum zu bezweifeln, dass im Altertume die Vielweiberei noch viel mehr im Schwange gewesen. Das Konkubinat, sagt Tscheng-ki-Tong, ward eingesetzt, damit es dem Manne erspart werde, ausser dem Hause Abenteuer aufzusuchen. Dies ist aber sicher nicht die Ursache dieser Einrichtung gewesen. Der chinesische Schriftsteller verwechselt die Wirkung mit der Ursache. Dass das Konkubinat nach der angedeuteten Richtung, wenn auch nicht mit vollkommenem Erfolge wirke, ist gewiss; sein Entstehen ist aber ursprünglich auch in China auf die im Patriarchate gezeitigten Eigentumsbegriffe zurückzuführen. Der lebhafte Wunsch, recht viele Kinder zu erhalten, war überall eine Hauptursache der Polygynie. Die Kinder der Nebenfrauen vermehrten eben den Besitzstand des Hausvaters. Sehr wahrscheinlich sind die Nebenfrauen auch in China Sklavinnen gewesen; jetzt gehen sie zumeist aus den niedrigeren Schichten der Gesellschaft hervor; sehr häufig sind sie Freudenmädchen, die mit ihren späteren Herren in öffentlichen Häusern bekannt wurden, woraus zugleich hervorgeht, dass die chinesischen Männer trotz Konkubinat Abenteuer ausser Hause aufsuchen. Selbst in den höchsten Kreisen finden sich, wie Gray berichtet, viele dieser Sphäre entnommene Tsie, zumal manche Freudenmädchen die Töchter geachteter Eltern sind. Die erste Frau, die Ehegattin, übt eine gewisse Herrschaft über die Nebenfrauen aus, denen sie die zu verrichtenden Arbeiten anweist. Im übrigen ist der Unterschied zwischen der chinesischen Konkubine und der europäischen „Maitresse“ der, dass erstere anerkannt wird. Sie ist eine Art gesetzliche Geliebte. Manchmal wählt man auch heute noch wirkliche Sklavinnen (Pi) zu Nebenfrauen.[S. 383] Denn China kennt nicht nur die lebenslängliche, sondern auch die erbliche Sklaverei. Es bezeichnet das patriarchalische Verhältnis, dass die Sklaven, wie im alten Rom, als Familienmitglieder betrachtet werden, ja in früherer Zeit sogar die Familiennamen ihrer Herren annahmen. Aber sie haben keine Bürgerrechte, sie sind ein blosser Besitzgegenstand ihrer Herren. Diese können ihre Sklavinnen an andere als Beischläferinnen oder an die Eigentümer öffentlicher Häuser verkaufen oder sie zur Befriedigung ihrer eigenen Gelüste verwenden. Heiratet ein Herr eine seiner Sklavinnen, so verständigt er zuvor seine Freunde und Nachbarn, damit diese ihn am Hochzeitstage besuchen. Die Ehe, sagt Gray, wird der Sklavin in solchen Fällen nicht von ihrem Herrn, sondern von dessen Gattin angetragen, und es ist nichts Seltenes, dass eine unfruchtbare Frau, wenn sie eine hübsche oder angenehme Sklavin besitzt, ihren Mann auffordert, dieselbe zur zweiten Frau zu nehmen.[805] Tscheng-ki-Tong, aus dessen Darstellung nicht viel Klarheit zu gewinnen ist, bemerkt, die Konkubine könne nur unter bestimmten Voraussetzungen und mit Zustimmung der gesetzmässigen Gattin in die Familie eintreten, und fügt hinzu: „Die Kinder derselben werden als Kinder der rechtmässigen Frau betrachtet, wenn diese kinderlos ist. Dagegen gelten sie als legitimiert, d. h. sie haben dasselbe Recht wie die ehelichen Kinder, wenn die rechtmässige Frau selbst mit solchen gesegnet ist.“[806] So sieht die „Monogamie“ im chinesischen Patriarchate aus!
Sehr ähnlich liegen die Verhältnisse in Japan. Auch dort strenges Patriarchat, auch dort Monogamie und daneben — ausgedehnte Vielweiberei. Der Japaner besitzt bloss eine rechtmässige Ehegattin (O’ Kamisa), aber Vielweiberei war im alten Japan eine weitverbreitete Sitte. Jyeyasu spricht in seinen Gesetzen dem Mikado das Recht zu, sich ein Dutzend Nebenfrauen zu nehmen, den Daimio und Hatamoto gewährte er acht und den gewöhnlichen Samurai zwei Kebsinnen. Professor Rein bemerkt, dass diese nur in seltenen Fällen davon Gebrauch machten, und dann[S. 384] geschah es wohl, dass die früh alternde Frau selbst dem Manne eine Nebenfrau zugeführt habe.[807] Bei Bousquet und Dalmas[808] liest man aber, dass die Sitte Konkubinen (Mekake) zu halten, allgemein sei. Je nach den Vermögensumständen führt die Frau dem Gatten nach einander eine oder zwei Mekake zu.[809] Auch ein Leitartikel des japanischen Blattes „Mai Nitschi Schimbun“ vom Jahre 1879 behandelt das Konkubinat als eine ganz allgemeine Einrichtung. Die Nebenweiber waren seit alten Zeiten gesetzlich als Verwandte zweiter Klasse anerkannt, und im Jahre 1879 war dieses Gesetz noch in Geltung. Ungeachtet der Unterscheidung von „Gattin“ und „Konkubine“ — sagt das erwähnte Blatt, welches die Aufhebung des Konkubinats befürwortet — sind beide doch wesentlich gleich, und derjenige, welcher ausser seiner Frau noch ein Nebenweib hat, ist nichts mehr und nichts weniger als ein Anhänger und Ausüber der Vielweiberei. Bousquet bestätigt, dass die Stellung der Mekake jener der Ehegattin, mit der sie gewöhnlich im besten Einvernehmen leben, völlig gleich sei. Sie nehmen Anteil an allen Festlichkeiten, sind bei allen Besuchen[810] und ihre Kinder geniessen gleiche Rechte, wie solche aus der gesetzlichen Ehe. Diese war bis 1870, wie in China, lediglich ein bürgerlicher Akt, welchem eine feierliche, bindende Verlobung gewöhnlich voranging. Sie ward und wird durch einen Heiratsvermittler (Nakôdo) von beiden Eltern und häufig schon über die kleinen Kinder beschlossen. Die Mädchen heiraten frühestens mit zwölf, die Jünglinge mit fünfzehn Jahren,[811] obgleich das Gesetz dreizehn und sechzehn Jahre verlangte.[812] Niemand durfte ausser seinem Stande heiraten. Der Mann hatte das Recht über die Person und das Eigentum seiner Gattin, ihm ist das besprochene Konkubinat gestattet, während er den Ehebruch seiner Frau mit[S. 385] dem Tode bestrafen durfte. In sieben Fällen stand ihm das Recht der Scheidung zu, das er einfach durch Zurücksendung der Frau zu ihren Eltern ausübte. Das Weib muss als Mädchen dem Vater, als Gattin dem Manne, als Witwe dem ältesten Sohne sklavisch gehorchen. Die japanische Frau ist die erste Dienerin des Hauses. Mann und Frau nehmen keine gemeinsamen Mahlzeiten, noch bewegen sie sich zusammen im öffentlichen Leben, wenigstens nicht solche aus den höheren Ständen. Im Hause aber ist sie die Herrin des Innern, geniesst das allgemeine Ansehen und steht auch über den Mekake und deren Kindern. Was diese anbelangt, so hat der japanische Hausvater, wie der Pater familias im alten Rom, unbeschränkte Macht über deren Person und Eigentum. Er kann den ältesten Sohn enterben; Mädchen erben ohnehin nicht. Ihre Jungfrauschaft ist aber ein Schatz, welcher vor der Ehe dem Vater, nach derselben dem Gatten gehört; es heisst den Besitzer bestehlen, wenn man dieselbe ohne seine Einwilligung raubt. Mit seiner Einwilligung wird das Nämliche dagegen eine lobenswerte Handlung. Japanische Eltern verhandeln daher in der Not ihre Töchter, ohne dass die Gesetze Einsprache erheben.[813] Auf diesem Wege gelangen die meisten Insassinnen der Yoshiwara (Freudenfelder) an diese Orte; nach dem Willen ihrer Eltern oder nächsten Verwandten werden sie meist schon in zarter Jugend an die Besitzer dieser öffentlichen Häuser verhandelt,[814] und vergeblich hat man versucht, solche Verträge ungültig zu erklären; die Sitte hat sich bisher als die stärkere behauptet.[815] Die Bewohnerinnen der Yoshiwara werden auch nicht verachtet, finden vielmehr nicht selten leichte Gelegenheit sich zu verheiraten.[816] Graf Dalmas bringt diesen Schacher mit der weitverbreiteten und ungemein leichten Kindesannahme (Adoption, japanisch: Moraikko oder Yoshi-ni naru) in Zusammenhang. Arme Eltern überlassen ihre Kinder, um sich ihrer zu entledigen, einem Freunde oder auch einem Fremden. Angenommene Kinder sind unzählig in Japan;[S. 386] man zieht sie auf und lässt sie arbeiten bis zur Zeit der Reife, um sie dann zu verkaufen oder auf andere gewinnbringende Weise auszubeuten.[817] Wo kein Sohn in der Familie ist, wird gleichfalls ein solcher angenommen. Diese Sitte der Kindesannahme ist eine sehr alte und hatte zwei Zwecke: einen materiellen und einen religiösen. Ersterer bestand darin, der Familie die erblichen Rechte zu sichern, welche an Kriegsdienste oder wenigstens die Möglichkeit, solche leisten zu können, gebunden waren, der andere aber darin, die Fortdauer der den Vorfahren bestimmten Opfer zu sichern. Wie in China, gab und giebt es deshalb wegen des Ahnendienstes kaum ein grösseres Unglück für den Familienvater, als keinen Sohn zu haben.[818]
Aus dieser skizzenhaften Überschau der im Rahmen des Patriarchats bei einigen der hervorragendsten Kulturvölker in Vergangenheit und Gegenwart auftretenden Erscheinungen erhellt wohl zur Genüge dessen eigentliches Wesen. Ist es da zu verwundern, dass strenge Einweiberei (Monogynie), d. h. der Verkehr des Mannes mit einem einzigen Weibe, überhaupt als sittliches Gebot noch nirgends zu finden, dass Einzelehe (Monogamie), d. h. die Beschränkung auf eine einzige „Gattin“, selbst dort, wo dies die Regel, lediglich die Wirkung ökonomischer Verhältnisse, nicht aber der Ausfluss einer geläuterten sittlichen Anschauung ist? Absichtlich habe ich aus den vorstehenden Betrachtungen den Kreis der eigentlichen Monogamen ausgeschieden: die alten Arier, Hellenen, Römer und Germanen, aus welchen die höchstgestiegenen Nationen unserer Tage hervorgewachsen sind. An späterer Stelle wird der Leser auch diese kennen lernen. Hier ist zunächst noch der grossen Gruppe jener Völker zu gedenken, Völker zwar verschiedener Abstammung, um welche jedoch ein gemeinsamer religiöser Glaube, der Islâm, das vereinigende Band geschlungen, ihnen allen, gleichviel ob semitischer, indogermanischer oder turktatarischer Zunge, einen gemeinsamen Stempel aufprägend. Weitaus der grösste Teil der hierher gehörigen Völker stammen von[S. 387] Wanderhirten, ja stehen heute noch auf der Nomadenstufe. Bei allen aber herrscht die patriarchalische Familienform und fusst auf der Grundlage der Vielweiberei. Wie diese Familienform sich bei ihnen gestaltet hat, soll der nächste Abschnitt zur Darstellung bringen. Vorweg sei bloss darauf hingewiesen, wie die kulturgeschichtlich bedeutendste Wirkung des Islâm unzweifelhaft darin bestand, dass er die Vielweiberei und darin wieder die Vielehe, die Polygamie, zu einer eigentlichen, staatsrechtlich ausgebildeten Satzung erhob. Es wird am Platze sein, an die Thatsache und deren Folgen einige erläuternde Bemerkungen zu knüpfen.
Zur Zeit als der Islâm unter den Beduinen Arabiens ins Leben trat, war Vielweiberei eine dem damaligen Zustande des Volkslebens und der Gesellschaft durchaus angemessene Einrichtung. Es ist nämlich leicht zu erkennen, dass in jener Periode des Volkslebens, als noch die Stammesbildung vorherrschte, als jeder Stamm, jede Familie sich im Zustande der Notwehr gegen alle übrigen befinden musste, alles davon abhing, dass der Stamm möglichst stark sei und eine zureichende Anzahl von kampftüchtigen Männern stellen könne. Es lag also ein dringender Grund für jeden Stamm, für jede Familie vor, sich nach Möglichkeit zu bestreben, eine zahlreiche Nachkommenschaft zu erlangen, denn davon hing die Macht, das Ansehen, die Sicherheit der Familie und des ganzen Stammes ab. Deshalb heisst es in der Bibel in der Vision des Patriarchen, dass seine Nachkommen zahlreich werden sollten, wie der Sand am Meeresgestade, eine Aussicht, die in unseren Zeiten einen angehenden Familienvater in gelinde Verzweiflung setzen würde. Diesen Verhältnissen entsprach die Polygynie nicht nur deshalb, weil sie schnell den Familienstand vermehrte und also das Bedürfnis nach Nachkommenschaft befriedigte, sondern ganz besonders aus dem Grunde, weil auch hierdurch wertvolle verwandtschaftliche Verbindungen mit anderen Stämmen und Familien angeknüpft wurden. Zur Zeit als der Islâm sich ausbreitete, war die allgemeine soziale und politische Lage aber eine solche, dass die Polygynie noch in weit höherem Masse als im Altertume berechtigt erscheinen musste. Sollten die über[S. 388] weite Länder erobernd sich verbreitenden Araber nicht baldigst unter den sie umgebenden, weit zahlreicheren fremden Stämmen untergehen, so konnte dies nur durch eine sehr rasche Zunahme der arabischen Bevölkerung verhindert werden. Die Polygynie ward zu diesem Endziele in der ausgiebigsten Weise benutzt. Freilich kamen hierbei viele Verbindungen echter Araber mit Weibern fremder Nationalität vor und hierdurch ging allmählich die Reinheit der Rasse verloren; immer aber gingen aus solchen Verbindungen Kinder hervor, welche die Zahl der herrschenden Nation verstärkten.[819] Mit anderen Worten: ohne Vielweiberei hätten die Araber ihre weitläufigen Eroberungen gar nicht behaupten können, und damit wäre auch das Abendland der Segnungen, welche die „arabische“ Gesittung ihm brachte, verlustig gegangen.
Die landläufigen Urteile über Vielweiberei, von den christlich-sittlichen Anschauungen unserer Zeit beeinflusst, sind überhaupt nicht selten herzlich schief. Vielfach verwechselt man nämlich in ihren Wirkungen Polygynie und Patriarchat, macht erstere für Missstände verantwortlich, welche letzterem zur Last fallen. Vielweiberei ist, wie ich schon bemerkte, eine Folge der entwickelten Mannesherrschaft, und diese, nicht die Vielweiberei an sich, führt zur Erniedrigung des Weibes, weil sie sich mit der Vorstellung verknüpft, dass die Weiber blosses Eigentum seien. Selbst Herbert Spencer, so sehr er sich bemüht, der Vielweiberei gerecht zu werden und sie als einen Fortschritt anzuerkennen, verwechselt doch beständig die Ursache mit der Wirkung. Des strengen Patriarchats gedenkt er kaum, während er der Vielweiberei alle jene Missstände zur Last legt, welche eine höhere Auffassung als solche erkennt. Diese Missstände und Vielweiberei scheinen allerdings unzertrennlich, aber sie sind Parallelerscheinungen, die in einem abhängigen Verhältnisse nicht untereinander, sondern vom Patriarchate stehen. Wenn er sagt, der Geschlechtstrieb der Männer habe die Polygynie zuerst ins Leben gerufen, welche ganz die etwaige Neigung[S. 389] der Frauen missachtet,[820] so ist dies nicht richtig, denn ihrem Geschlechtstriebe konnten die Männer unter den früheren gesellschaftlichen Zuständen erst recht Genüge leisten. Letzteren gegenüber kommt die geregelte Vielweiberei immerhin einer, wenn auch schwachen Eindämmung des Geschlechtstriebes gleich. Ebenso unfruchtbar ist das Bemühen, im Gegensatze zur Polygynie die Einweiberei als „eigentlich die natürliche Form des Verhältnisses der Geschlechter für die Menschheit“[821] nachzuweisen. Die „vernünftigste“ Form wohl, die „natürliche“ Form gewiss nicht! Zwar fährt man gerne als gewichtigstes Argument ins Treffen, dass schon die Natur die Geschlechter in nahezu gleicher Kopfzahl erzeuge; doch ist dieser Umstand nur wenig beweiskräftig. Ist doch ein Gleiches häufig im Tierreiche der Fall, und doch bildet dort Monogynie die Ausnahme; Polyandrie und Polygynie sind die Regel, müssen also „natürliche“ Formen sein. In der Menschheit, welcher ebenfalls das Recht des Stärkeren Naturgesetz ist, erhebt die weite Verbreitung der Vielweiberei unter den mannigfachsten Gestalten bis in die Kreise der höchsten Gesittung lauteste Einsprache gegen Spencers Satz. „Der selbstsüchtige, sinnliche Antrieb regiert die Menschen, all ihr Thun und Dichten läuft auf die Notdurft der Natur hinaus“, bemerkt sehr treffend Karl Frenzel.[822] Die Vielweiberei ist vom Gesichtspunkte des gesitteten Europäers „gewiss nicht die moralischste, aber die menschlichste Form der Liebe“,[823] und es wäre an der Zeit, mahnt M. G. de Lapouge, den Vorurteilen wider sie zu entsagen.[824] Man darf mit Ch. von Vincenti daran erinnern, dass bei uns selbst die Vielweiberei in gewissem Sinne auf leichteren Füssen einhergeht, als im moslemitischen Oriente, wo dieselbe heute in jedem Sinne beiweitem als Ausnahmszustand erscheint, man könnte boshaft sagen, fast gerade so wie bei uns die Einweiberei. Unser Ehe[S. 390]gesetz ist allerdings streng, aber unsere Sitte umgeht die unbequeme Festung, während im Islâm das religiöse Gesetz eine gewisse Duldsamkeit zeigt, deren Genuss jedoch durch den allmächtigen Gebrauch — den Adat — auf das nachdrücklichste erschwert wird.[825] Der Charakter der morgenländischen Vielweiberei, schrieb vor Jahren sehr wahr Dr. Karl Th. Richter in der Wiener „Presse“, liegt einfach bei der grossen Masse des Volkes in der gesetzlichen Anerkennung dessen, was man ohne gesetzliche, aber mit gesellschaftlicher Anerkennung die abendländische Vielweiberei nennen könnte. Es ist die Häuslichkeit mit einer Frau und mehreren Geliebten. Wer es vermag, lebt so; wer es nicht kann, nicht. Wie bei uns, bedingt der auftretende Luxus der Frauen die Einschränkung der Häuslichkeit. Der Unterschied liegt bloss darin, dass diese Einschränkung bei den Moslemin noch einen sittlichen, bei uns aber schon einen unsittlichen Charakter hat. Bei den Morgenländern führt sie vorläufig von der Vielweiberei zur Monogamie, bei uns aber zur Vermeidung der Ehe und erzeugt das Konkubinat.
[780] H. Spencer. Die Prinzipien der Soziologie. Bd. II. S. 324.
[781] A. a. O. S. 283. 285.
[782] Dr. Adolf Bauer. Die Frauen im alten Ägypten (Litterar. Beilage der „Montags-Revue“. Wien, 4. Sept. 1882).
[783] B. Stade. Gesch. des Volkes Israel. Bd. I. S. 380.
[784] A. a. O. S. 384.
[785] Dr. Jak. Ed. Polak. Persien. Das Land und seine Bewohner. Leipzig 1865. Bd. I. S. 209.
[786] Döllinger. Heidentum und Judentum. S. 781.
[787] Richter 5, 30.
[788] Henne Am Rhyn. Kulturgesch. des Judentums. S. 80.
[789] Stade. A. a. O. S. 383.
[790] Stade. A. a. O. S. 386.
[791] A. a. O. S. 391–393.
[792] Stade. A. a. O. S. 395.
[793] Tscheng-ki-Tong. China und die Chinesen. S. 42.
[794] Katscher. Bilder aus dem chines. Leben; nach Gray. S. 56.
[795] Herbert A. Giles. Chinese Sketches. London 1876. S. 158.
[796] Tscheng-ki-Tong. A. a. O. S. 63.
[797] A. a. O. S. 73.
[798] Giles. A. a. O. S. 11.
[799] A. a. O. S. 12–13.
[800] Tscheng-ki-Tong. A. a. O. S. 55.
[801] Katscher-Gray. A. a. O. S. 90.
[802] A. a. O. S. 93–94.
[803] A. a. O. S. 64.
[804] Tscheng-ki-Tong. A. a. O. S. 77.
[805] Katscher-Gray. A. a. O. S. 97.
[806] Tscheng-ki-Tong. A. a. O. S. 79.
[807] J. J. Rein. Japan. Bd. I. S. 493.
[808] Raymond de Dalmas. Les Japonais, leur pays et leurs moeurs. Paris 1885. S. 159.
[809] Georges Bousquet. Le Japon de nos jours. Bd. I. S. 88.
[810] A. a. O.
[811] Ausland 1878. S. 487.
[812] Rein. A. a. O. S. 492.
[813] Bousquet. A. a. O. S. 87.
[814] Rein. A. a. O. S. 501.
[815] Bousquet. A. a. O.
[816] Dalmas. Les Japonais. S. 157.
[817] A. a. O. S. 156.
[818] Rein. A. a. O. S. 490.
[819] Alfred von Kremer. Kulturgeschichte des Orients unter den Chalifen. Wien 1875. Bd. II. S. 112–115.
[820] Spencer. Prinzipien der Soziologie. Bd. II. S. 267.
[821] A. a. O. S. 278.
[822] Karl Frenzel. Frau Venus. Bd. II. S. 91.
[823] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistor. Studien. S. 310.
[824] M. G. de Lapouge.. L’Hérédité dans la science politique, in der Revue d’anthropologie 1888. S. 187.
[825] Ch. von Vincenti. Die Ehe im Islâm. Wien 1876. S. 6.
egen der vom Religions- und Sittengesetze, das zugleich auch Staatsgesetz ist, anerkannten Ehe mit mehreren Frauen trägt die Familie der dem Islâm ergebenen Morgenländer, obwohl gleichfalls auf patriarchalischer Grundlage aufgebaut, ein wesentlich anderes Gepräge als jene der Völker des Abendlandes, welche Vielweiberei zwar mehr oder weniger duldeten, daneben jedoch zur Einzelehe gelangt waren. Ihre Geschichte reicht beträchtlich weiter zurück als jene der Islamiten; die Familienorganisation der letzteren ist aber deshalb von ganz besonderem Interesse, weil man das Patriarchat aus einer, zeitlich nahe liegenden matriarchalen Vorzeit herauswachsen sieht, von welcher ihm noch viele unüberwundene Züge anhaften. Begreiflicherweise sind diese an jenem Volke zu studieren, in welchem des Islâms Wiege stand, bei den Beduinen Arabiens. Mit deren früheren Zuständen sich vertraut zu machen, ist zum Verständnisse des allmählich Gewordenen unerlässlich.
Die alten, d. h. die vorislamitischen Araber des Nedschd (Hochlandes) und Nordens der Halbinsel lebten in zahlreiche kleine Stämme, ebenso viele auf Blutsverwandtschaft gegründete Geschlechtsgenossenschaften, zersplittert, welche sich ganz so wie die Indianer Nordamerikas nach Tieren benannten. Ob ursprünglich diese Tiere Gegenstände der Verehrung gewesen, ob also[S. 392] Totemismus geherrscht habe, wie Robertson Smith[826] annimmt, ist strittig, doch wahrscheinlich. Die Verehrung des Totem entspricht der Verehrung des Heros eponymos, welche wir bei Griechen und Römern kennen lernen werden, und von der Professor B. Stade vermutet, dass sie bei den Israeliten, nahen Verwandten der Araber, desgleichen einst vorhanden gewesen sei.[827] Sicher ist, dass jeder Stamm seinen eigenen Götzen, aber daneben auch wohl noch einen Fetisch oder eine geheiligte Stätte besass, die allmählich selbst zum Gegenstande der Verehrung geworden ist.[828] Ausserdem besass jede einzelne Familie ihre besonderen Hausgötzen,[829] ihre „Penaten“ in der Sprache der Römer. Die Familienbande selbst waren aber sehr lose geschürzt. Sogar der Prophet fand bei seinem Volke noch geschlechtsgemeinschaftliche Zustände vor, in welchen Vielweiberei und Vielmännerei neben einander herrschten, und bei manchen Beduinenstämmen sind anklingende Sitten noch nicht ausgestorben. William Gifford Palgrave möchte heute noch deren Polygynie eher Weibergemeinschaft nennen und meint, sehr schlau müsse das Kind sein, welches seinen Vater kennt.[830] Ich erinnere auch an die schon besprochenen „Dreiviertelheiraten“ der Hassanieharaber. Nach allem, was wir aus der Dschâhilija, d. i. der „Zeit der Unwissenheit“ erfahren, geschah die Eheschliessung auf die allereinfachste Art. Der Freier hielt um das Mädchen bei deren Vater oder anderem nächsten Verwandten an und sobald dieser die Einwilligung erteilt hatte, galt die Heirat für abgeschlossen.[831] Der Werber sagte: khith, d. h. ich bin Freier, und der Mundwalt ant[S. 393]wortete: nikh, d. h. ich bin Ehegewährer.[832] Das war alles, worauf ein Hochzeitsschmaus abgehalten wurde. Immer scheint es gebräuchlich gewesen zu sein, dass die Braut ein Heiratsgut, einen Brautschatz (mahr)[833] erhielt, nicht aber etwa gekauft wurde,[834] wenngleich zweifelsohne die Einwilligung des Vaters nicht selten mit Geschenken erkauft wurde. Diese Geschenke gehörten jedoch der Frau zum Eigentume. Man sieht, dieser Zustand entspricht noch völlig jenem, welcher das erst beginnende Vaterrecht kennzeichnet. Der so einfach geknüpfte Bund konnte natürlich ebenso leicht und rasch wieder gelöst werden. Scheidungen waren ungemein häufig. Nicht selten war ausserdem noch eine Art von Ehe, welche indessen diesen Namen kaum verdient und der die Araber den Namen „Genussehe“ (Nikâh almot’ah) gaben. Eine solche Verbindung ward auf bestimmte Zeit gegen einen vorher verabredeten, der Frau auszufolgenden Mietlohn abgeschlossen.[835] Wilken gedenkt ferner auf Grund der von Bochârî gesammelten Überlieferungen noch vier anderer „Ehe“-formen, deren einige hart an Vielmännerei und Hetärismus streifen.[836] Man wird nicht fehlgehen, wenn man in diesen wie in der Genussehe noch deutliche Überbleibsel aus matriarchaler Zeit erblickt. Dafür spricht auch die hohe Stellung, die Freiheit, deren das Weib im arabischen Altertume und auch noch im ersten Jahrhundert des Islâm sich erfreute.
In jenen Tagen empfand die Tochter die väterliche Gewalt kaum nachdrücklicher als der Sohn, war auch dem Weibe die freieste Selbstbestimmung in der Wahl ihrer Gatten gestattet;[S. 394] wenigstens konnte sie jeden zurückweisen, der ihr nicht gefiel und manche bedang sich sogar ihre volle Freiheit aus. Die Rechtsgelehrten erkannten ausdrücklich der Frau das Recht zu, vor der Heirat die Bedingung zu stellen, dass ihr Gatte keine zweite Frau ehelichen und keine Beischläferin halten dürfe. Mehrmalige Wiederverheiratungen kamen nicht selten vor, ohne dass man daran den geringsten Anstoss nahm;[837] ja die Frauen eilten mittels der Scheidung in kaum beschränktem Wechsel von Flitterwochen zu Flitterwochen. Ihre Scheidungsform war höchst einfach und vollzog sich bei den Wanderstämmen sozusagen stillschweigend, indem die scheidelustige Frau dem Manne „das Zelt umdrehte“, nämlich den Zelteingang verlegte, woraus der Mann, welcher den Eingang nicht an der gewohnten Stelle vorfand, sofort seine Verstossung erkannte.[838] Besonders aber Witwen von einigem Vermögen konnten sich ziemlich zwanglos bewegen.[839] Der Verkehr der Frauen mit den Männern war durchaus unbehindert; die Frauen empfingen ohne Bedenken männliche Besucher, nicht bloss Anverwandte, sondern auch Fremde. Sie gingen nach Belieben aus und durften auch anfangs noch die Moscheen besuchen, was allerdings schon im dritten Jahrhundert der Hedschra ausser Brauch kam.[840] Von einer beständigen Verschleierung der Frauen wusste man nichts, und noch weniger von ihrer Abschliessung im Harem. Ihre Keuschheit soll indes, was mit der geschilderten Freiheit der Sitten und noch weiter zu meldenden Zügen sich nur schwer in Einklang bringen lässt, die Araberin jener Zeit besser gehütet haben, als die Eunuchen, welche heutzutage die Freundlichkeit haben, dieses Amt zu übernehmen. Jedenfalls finden wir das arabische Weib vor dem Islâm dem Manne an Geist und gesellschaftlichem Einflusse sozusagen ebenbürtig, nicht selten sogar überlegen; daher einige Zeit hindurch eine ritterliche Verehrung des schönen Geschlechtes bestand. Man besang die Frauen in liebeglühenden[S. 395] Gedichten und verklärte ihr Bild mit dem ganzen Zauber der Poesie.[841] Auch die Litteratur anderer morgenländischer Völker, der Perser und selbst der Türken, ist voll von den zartesten Blüten jener Empfindung, welche im Weibe ein hochbegehrenswertes, edles Gut erblickt. Wenn nun auch die Liebeslieder und Liebesgeschichten der Araber, Perser und Türken sich vielfach von warmer Frauenverehrung erfüllt zeigen, so erhebt sich doch, bei Lichte besehen, die Erotik dieser Lieder selten über die Schilderung sinnlicher Wahrnehmungen.[842] Der Begriff der Liebe, sagt Dr. Polak, der genaue Kenner Persiens, wie er bei uns aufgefasst wird, existiert kaum bei den Morgenländern; die Liebe, welche die persischen Dichter in ihren Poesieen besingen, hat entweder einen symbolischen oder einen höchst profanen Sinn; auf das Wort Ischk (Liebe) folgt immer der Begriff Was’l d. i. fleischliche Vermischung.[843] So werden auch bei den alten Arabern die körperlichen Reize der Geliebten, ihr Auge, ihr Busen, ihr Wuchs in kühnen Metaphern gepriesen.[844] Doch galt in den Erzählungen aus dem alten Sagenkreise der nordarabischen Stämme[S. 396] nichts für edler, ruhmvoller und nachahmungswerter, als wenn ein Ritter mit Verachtung jeder Gefahr, selbst mit Aufopferung des eigenen Lebens, die Frauen vor Schmach und Entführung schützte; denn Mädchenraub war an der Tagesordnung.[845] Hier sehen wir den Mann in seiner Rolle eines Beschirmers, wie wir ihn als solchen schon in mutterrechtlicher Zeit kennen lernten. Ein Weib zu verletzen oder gar zu töten, galt als die schmachvollste, ehrloseste That,[846] eine Anschauung, die ebenfalls auf vor dem Vaterrechte liegende Zustände zurückweist. Wie in der mutterrechtlich geordneten Gesellschaft folgte endlich das Kind der Sklavin, nach dem harten Gesetze des alten Arabiens, der schlechteren Hand, wenn der Vater es nicht ausdrücklich freisprach[847]: parius sequitur ventrem. Über die Zahl der Frauen, über die verbotenen Verwandtschaftsgrade u. s. w. gab es in ältester Zeit wohl keine besonderen gesetzlichen Vorschriften. Ehebündnisse kamen zwischen Geschwistern vor, wenn sie nicht von der nämlichen Mutter stammten,[848] gleichwie auch die Sage der Hebräer von solchen berichtet. Sehr alt war die noch gegenwärtig bei den Beduinen beliebte Gewohnheit, die Tochter des Vatersbruders, also nach unseren jetzigen Begriffen die leibliche Base, zum Weibe zu nehmen, so dass der Name für diese, Bint-ʿamm, zugleich eine höfliche Bezeichnung für Gatten geblieben ist,[849] und bei den Persern bilden Familienheiraten, besonders zwischen Vetter und Base, heute noch die Regel.[850] Der Ohm mütterlicherseits (Châl) genoss hohe Achtung und die Beziehungen zwischen ihm und seinen Neffen sind jetzt noch als sehr innige anerkannt. Nimmt man doch an, dass des Letzteren Veranlagung des Oheims Erbschaft sei, dass der Neffe seinem mütterlichen Ohm nach gerate.[851] Die ebenfalls in mutterrecht[S. 397]lichen Anschauungen wurzelnde Gepflogenheit, die neugebornen Töchter lebendig zu begraben, war in vorislamitischer Zeit allgemein.[852]
Augenscheinlich gehören die einzelnen Züge, aus welchen dieses Gemälde sich zusammensetzt, nicht alle der nämlichen, sondern wohl verschiedenen Epochen an, welche auseinander zu halten und chronologisch zu bestimmen die Mittel fehlen. Gewiss ist bloss, dass schon in der Dschâhilîja zu den erwähnten noch andere Züge hinzutreten, welche die aufkommende Mannesherrschaft in der Familie bezeichnen. So hatten schon vor Muhammed Sitte und Gewohnheit in Betreff der verbotenen Verwandtschaftsgrade gewisse Schranken gezogen; es galt für verboten, eine Frau und deren Tochter zugleich zu ehelichen; ebenso wenig sollte man zwei Schwestern zu Frauen haben; man tadelte auch den, der die Frau seines verstorbenen Vaters (Stiefmutter) heiratete, obwohl dies nicht verboten war.[853] Wilken ist der Ansicht, dass die alten Araber in mutterrechtlicher Zeit Exogamie übten, diese aber sehr bald nach der Aufrichtung des Patriarchats aufgaben und zur Endogamie übergingen,[854] eigentlich zurückkehrten. Nur in dieser vermag sich in der That eine Aristokratie der Geschlechter herauszubilden, wie sie bei den alten Arabern in Blüte stand. Jener Stolz auf die Reinheit der eigenen Herkunft, den wir heute noch bei allen Beduinen[855] finden, beseelte schon in der alten Zeit den Einzelnen, den Stamm, das Volk. Dieser Stolz ist aber bloss unter der Vaterherrschaft möglich; zu ihr mussten also, ehe er sich entwickelte, die Araber schon vorgeschritten sein; der Umschwung mag sich schon in den ersten christlichen Jahrhunderten vollzogen[S. 398] haben; wenigstens finden wir bei den Phylarchen wie bei den Königen von Hîra schon regelmässigen Übergang der Herrschaft vom Vater auf den Sohn oder Bruder. Doch legte man der adeligen Abstammung nicht bloss von väterlicher, sondern auch von der mütterlichen Seite noch den höchsten Wert bei[856] und kannte genau seinen Stammbaum.[857] Vom Vaterrechte zeugt dagegen, dass das weibliche Geschlecht von der Teilnahme an der Nachlassenschaft des Familienvaters ausgeschlossen und die Witwen als Erbstücke an die Verwandten übergingen.[858] Auch bekämpften schon Zayd ibn Amr und Saçaah die Sitte der Mädchentötung,[859] und endlich vernehmen wir von Versuchen einzelner Gewaltiger, wie des Tasmidenkönigs Imlyk, welcher bei den dschadisidischen Frauen das Recht der ersten Nacht sich anmasste, dabei aber seinen Tod fand.[860]
Trotz der zahlreichen Erinnerungen an die Zustände einer älteren Gesittungsperiode darf man wohl sagen, dass im sechsten Jahrhundert unserer Zeitrechnung das Patriarchat unter den Arabern schon aufgerichtet und damit die im Morgenlande sonst von Alters her herrschende Vorstellung vom Weibe als eines durchaus untergeordneten Wesens eingebürgert war. In diesen Anschauungen war auch Muhammed, der Prophet, aufgewachsen, von dem Poole sagt, dass er den Araber zum Teil zerstört und den Moslim geschaffen habe.[861] Seine Gedanken über die Weiber waren jene seiner Zeitgenossen.[862] Kein Religionsstifter, bemerkt sehr richtig Fr. Dieterici, fällt vom Himmel, wie gern solches auch die Orthodoxie anzunehmen geneigt ist. Auch ein Religionsstifter kann nur die im Volke flutenden geistigen Elemente in sich verklären und einer neuen Religionsentwicklung zu Grunde legen.[863] Nicht anders[S. 399] ergeht es dem Reformator der Sitten, als welcher der Stifter einer neuen Lehre notwendig auftritt. Gerne knüpfen wir den grossen Umschwung in der Lage des Weibes im Morgenlande an Muhammed und den Islâm; indes bloss mit teilweisem Recht. Wohl ist diese Lage in der Lehre des Propheten begründet, sie ward aber nicht mit einem Schlage bewirkt. Da der Prophet selbst nicht lesen oder schreiben konnte, wurden seine Offenbarungen erst nach und nach aufgezeichnet. Nöldekes „Geschichte des Koran“ giebt Aufschluss über die Entstehung des Buches und die Zusammenfügung der Suren. Alfred von Kremer hat endlich gezeigt, wie die Übung der früheren Sitte bis ins dritte Jahrhundert der Hedschra sich erhielt und wie viel der Islâm gerade in Bezug auf das uns beschäftigende Gebiet von anderen, weit älteren Kulturvölkern, insbesondere Persern und Byzantinern, in sich aufnahm. Strenge genommen hat der Islâm bloss das arabische Weib seiner früheren freieren Stellung beraubt, aber auch da hat er die schon hereingebrochene Mannesherrschaft, das Patriarchat, nur befestigt, ausgebildet, nicht geschaffen. Er gehorchte lediglich der Strömung der Zeit.
Es bekundet daher ein kulturgeschichtlich wenig geschärftes Auge, wenn Muhammed und damit der Islâm einer Lockerung der ehelichen Bande beschuldigt werden, wie mitunter geschieht.[864] Gerade das Gegenteil ist wahr, wie die Schilderung der älteren Zustände zur Genüge ergiebt. Locker, wie die ehelichen Bande im Bereiche des Islâms uns bedünken mögen, sind sie doch zweifelsohne weit fester als in früherer Zeit geschürzt, und auch die Unbegrenztheit der Polygynie, die Muhammed in seinem Volke vorfand, suchte er einzuschränken, indem er dem Manne höchstens vier gesetzliche Gattinnen gestattete. Er hat aber die Vielweiberei nicht einmal befohlen, sondern nur in gewissen weitgestreckten Grenzen erlaubt, so dass für den Mann die islamitische Ehe nie zur Fessel werden kann.[865] Im übrigen gilt von der moslim[S. 400]schen Vielehe so ziemlich das, was der englische Humorist James Payn bemerkt hat: dass es sich damit geradezu wie mit den europäischen Ehen verhält; manchmal ist es ein häusliches Unglück, manchmal nicht.[866] Auch darf man die älteste Polygynie keineswegs mit der späteren orientalischen Haremswirtschaft verwechseln. In dem Hause oder Zelte des arabischen Stammeshäuptlings herrschten nicht zugleich mehrere gleichberechtigte Frauen: eine war die Gebieterin des Haushaltes, nämlich die Edelgeborne, die Vollblutgattin, die anderen waren Nebenweiber, die eine Stelle einnahmen, welche zwischen ersterer und dem übrigen Hausgesinde die Mitte hielt.[867] So erhielt sich das Verhältnis noch in den ersten Jahrhunderten des Islâm, ja bei den Türken im allgemeinen trotz der Einführung des Harem bis auf die Gegenwart. Die Sitte der Frauenverschleierung mag allerdings schon längst vor Muhammed, unter den ansässigen Arabern wenigstens, im Schwange gewesen sein, denn die beiläufige, obgleich nachdrückliche Erinnerung daran, dass die Weiber, wenn sie ausgehen, sich in ihr Übergewand hüllen sollen,[868] klingt so, als wenn eine bestandene Sitte nur aufs neue eingeschärft würde. Der Harem selbst ward aber grossenteils erst nach dem Vorbilde des byzantinischen Gynäceums eingerichtet,[869] und erst mit den Omajjaden-[S. 401]Kalifen kam die Mode der Verwendung von Verschnittenen zur Haremswache auf, und zwar wiederum als eine Nachahmung des byzantinischen Hofes oder der Üppigkeit der persischen Könige.[870] Ich werde den Harem und seine Wirkungen im nächsten Kapitel besprechen. Hier müssen wir uns zunächst mit den Grundzügen der islamitischen Vielweiberei bekannt machen.
Der Stifter des Islâms hatte, wie gesagt, vor allem die Vermehrung seiner Völker im Auge. Daher übte er Nachsicht für die folgenreichen Fehltritte unverheirateter Frauen; andererseits aber erhob er die Ehe zum religiös-politischen Dogma, was so ziemlich einer Zwangsehe gleichkommt. Es ist Pflicht des Weibes, in den Ehestand zu treten; jene, welche ein einsames oder Witwenleben führt, ehe sie alt geworden, übertritt wissentlich ein göttliches Gesetz.[871] Das Gleiche gilt auch vom Manne, und nichts steht heute noch bei den Bekennern des Islâm in schlechterem Rufe als das „Cölibat“. Ehelosigkeit kommt daher im Bereiche des Islâm fast gar nicht vor. Man heiratet vielmehr ungemein frühe, und die moslemitischen Mütter, die einen Sohn von 15 und eine Tochter von 9–10 Jahren besitzen, haben weder Tag noch Nacht Ruhe, bis sie dieses wichtigste Lebensgeschäft ins Reine gebracht haben. Mütter von 12 und Grossmütter von 25 Jahren sind deshalb im Morgenlande nicht so selten, und bisweilen wird der Jüngling Vater, ehe noch seine Erziehung vollendet ist.[872] Während aber vor der ehelichen Begegnung eine gewisse Heiligung der Gatten verlangt wird — ohne ein Inschallah oder Bismillah findet keine Annäherung statt — ist die Eheschliessung selbst[S. 402] bloss ein bürgerlicher Vertrag, der unter Anrufung Allahs vor dem Kadi, der weltlichen Behörde, und vor Zeugen einfach durch die meist sogar nur durch Stellvertreter (Wekil) abgegebene Erklärung der Brautleute geschlossen wird, dass sie sich heiraten wollen. Eine Eheschliessung findet niemals in der Moschee statt. Der Kadi schliesst die Ehe im Hause eines der Brautleute. Auch in Persien ist der Akd oder Heiratsvertrag eine einfache gesetzliche, aber bindende Förmlichkeit: Trauung, nicht bloss Verlobung.[873] Zur Gültigkeit der Ehe sind erforderlich: eben die obige Erklärung und freie Einwilligung der Gatten, Absicht derselben, den Zweck der Ehe zu erfüllen, Abhaltung der Hochzeitsfeier, geistige Gesundheit und Grossjährigkeit. Letztere tritt gesetzlich beim männlichen Geschlechte im zwölften, beim weiblichen bereits im neunten Jahre ein, wenn beide den Zustand ihrer Reife durch Eid bekräftigen; sonst ist das vollendete fünfzehnte Jahr für die Grossjährigkeit beider Geschlechter festgesetzt. Der Begriff der Blutschande erfuhr durch den Korân eine bedeutende Verschärfung; dieser bestimmt genau, zwischen welchen Personen die Ehe untersagt ist und unter keinerlei Umständen gestattet werden kann. Es sind dies sowohl die nächsten Verwandten in auf- und absteigender Linie, als auch die Kognaten. Verboten sind also als blutschänderisch alle Heiraten mit den Müttern, Töchtern, Schwestern, Muhmen, Basen, Schwiegertöchtern, dann mit Schwiegermüttern, Stieftöchtern, Stiefmüttern. Sodann verbietet das Gesetz einem Manne, zwei Schwestern und zwei Basen neben einander als Frauen zu haben. Ja sogar die Milchverwandtschaft (Ridhâ’ at oder Radhâ’) gilt als vollgültige Verwandtschaft, wobei es genügt, dass ein Kind nur einen Tropfen von der Brust eines Weibes getrunken, um sofort mit diesem Weibe und dessen Familie in ein Verwandtschaftsverhältnis zu treten, welches fast der Blutverwandtschaft gleichkommt. Doch erstreckt sich die Milchverwandtschaft bloss auf den Säugling und seine späteren Nachkommen, nicht auch auf seine Blutsverwandten in aufsteigender oder einer Seiten[S. 403]linie.[874] Auch mit einer Tochter oder einem sonstigen weiblichen Nachkommen, welche man in Zinâ[875] erzeugt hat, kann keine Ehe geschlossen werden. Dem Moslim ist endlich die Ehe verwehrt mit einer Sklavin, bevor er sie freigelassen, mit einer Witwe oder geschiedenen Frau vor Ablauf ihrer Trauer- oder beziehungsweise Wartezeit und endlich einer Heidin (Kafir harbî), während die Ehe mit Christinnen (Naçrâni), Jüdinnen (Jahudî) und Sabierinnen (Çâbî) zulässig erscheint. Eine moslemitische Frau darf dagegen keinen Andersgläubigen heiraten.
Die Hochzeiten, in Persien Arusi genannt, die im Islâm wie bei uns einem stillen Übereinkommen zufolge als „fröhliche Ereignisse“ gefeiert werden, weiht man unter Gebeten des Imam der Pfarre, in welcher das Brautpaar wohnt, ein; sie dauern gewöhnlich eine Woche, bei vornehmen Personen auch doppelt so lang.[876] Örtliche Sitten reden hierbei natürlich ein entscheidendes Wort. Die Hochzeit ist nicht mit dem vorangehenden Verlobungs- und zugleich Trauungsakte zu verwechseln, von welchem schon oben gesagt wurde, dass er rein bürgerlicher Natur sei und welcher in vielen Gegenden sogar nie in Gegenwart der Brautleute stattfindet. Vor der Hochzeit hat der Mann sein Weib gewöhnlich gar nicht gesehen; es wird ihm von Andern bestimmt oder ausgewählt. Zumeist ist es die Mutter, welche zur Brautschau für[S. 404] ihren Sohn eine vertraute Matrone, die „Prüferin“ genannt, in die Hareme und öffentlichen Bäder aussendet. Die Gepflogenheit, sich durch Dritte über die körperlichen Vorzüge seiner Braut belehren zu lassen, reicht schon in die arabische Heidenzeit zurück, aus welcher die Dichter solche für unser heutiges Anstandsgefühl unmögliche Schilderungen[877] bewahrt haben. Der Mann erwirbt das Weib durch Zahlung eines Brautpreises; wenigstens ist dies in den niederen und mittleren Ständen die Regel, und oft muss er zu diesem Zwecke ein für seine Verhältnisse beträchtliches Opfer bringen. Dieser Mahr (auch Çadâq oder Cadaqat, in der Türkei Mu-etschèl genannt) wird sogleich beim Abschluss der Ehepakten erlegt und heisst dann Mahr mosammá d. i. „festgestellter Brautschatz“, kann aber auch später, sogar nach Vollzug der Ehe entrichtet werden. Ein solcher Mahr al-mithl, d. h. verhältnismässiger Brautschatz wird dann von den nächsten weiblichen Blutsverwandten der Braut väterlicherseits empfangen. Brautschatz oder Morgengabe ist gewöhnlich für eine Jungfrau (Bikr) höher als für ein schon einmal verheiratet gewesenes Weib. In vielen islamitischen Landen ist, besonders bei den niedrigen Standen, der Mahr zu einem so geringfügigen Betrage herabgesunken, dass er gewissermassen bloss noch ein Symbol geworden. Es ist dort das Bewusstsein, dass man die Frau von ihren Blutsverwandten kauft, in der Masse der Bevölkerung auch nicht mehr lebendig, zumal der Brautpreis, obwohl von dem Mundwalt (Wali) des Mädchens bedungen, nicht mehr ihm, sondern der Braut selbst ins Eigentum fällt.[878] Dieses Heiratsgut muss der Frau vom Manne in allen Fällen ausbezahlt werden, und sollte selbst der Mann vor Vollziehung der Ehe zurücktreten, so bleibt er dennoch für die Hälfte verpflichtet. Die Frau selbst erhält von den Ihrigen weder Mitgift noch Aussteuer, indem auch diese letztere, sowie der Brautkorb, dem Manne zur Last fällt, ausgenommen, wenn er eine Sklavin heiratet, welche dann meistens ausgestattet wird.[879]
Eine Gütergemeinschaft zwischen Ehegatten im Sinne der römischen oder christlichen Satzungen kennt der Islâm nicht, so dass die Frau auch nach ihrer Verheiratung noch im vollen Genusse und Besitze ihres Vermögens bleibt. Sie kann nicht einmal angehalten werden, die Einkünfte desselben dem gemeinsamen Haushalte zuzuwenden.[880] Stirbt die Frau eines Mannes, welcher mehrere Gattinnen hat, so wird sie bei den Türken nicht von ihrem Manne oder den Kindern der Familie, sondern nur von ihren eigenen Kindern beerbt; stirbt hingegen der Mann, dann teilen sich die Witwen und deren Kinder zu gleichen Teilen in den Nachlass. Hinsichtlich des Erbrechtes sind übrigens die Bestimmungen des Korân vielfach unzusammenhängend und unlogisch, scheinen auch in einzelnen Punkten das strenge Vaterrecht noch nicht durchgeführt zu haben, wie auch aus dem soeben über Gütergemeinschaft Bemerkten hervorgeht. Die vierte Sure, „Die Weiber“, — so überschrieben, weil vorzugsweise von weiblichen Angelegenheiten handelnd, — bestimmt: „Männliche Erben sollen so viel haben als zwei weibliche. Sind nur weibliche Erben da, und zwar über zwei, so erhalten sie zwei Drittel der Verlassenschaft. Ist aber nur eine da, so erhält sie die Hälfte. Die Eltern des Verstorbenen erhalten jeder, wenn der Erblasser ein Kind hinterlässt, den sechsten Teil des Nachlasses. Stirbt er aber ohne Kinder und die Eltern sind Erbe, so erhält die Mutter den dritten Teil. Hat er Brüder, so erhält die Mutter nach Abzug der gemachten Legate und Schulden den sechsten Teil..... Die Hälfte von dem, was euere Frauen hinterlassen, gehöret euch, wenn sie kinderlos sterben. Hinterlassen sie aber Kinder, so gehöret euch nach Abzug der gemachten Legate und Schulden der vierte Teil des Nachlasses. Auch den Frauen gehöret der vierte Teil von dem, was ihr hinterlasset, wenn ihr kinderlos sterbet; hinterlasset ihr aber Kinder, so bekommen sie nach Abzug der gemachten Legate und Schulden nur den achten Teil eueres Nachlasses. Wenn ein[S. 406] Mann oder eine Frau einen entfernten Anverwandten zum Erben einsetzet, und der Erblasser hat einen Bruder oder eine Schwester, so erhält jeder dieser beiden den sechsten Teil des Nachlasses. Hat er aber mehrere Brüder oder Schwestern, so erhalten sie nach Abzug der gemachten Legate und Schulden den dritten Teil des Nachlasses, zu gleichen Teilen. Diese Verordnung ist von Gott, dem Allwissenden und Allgütigen.“[881]
Das moslemitische Weib tritt in die Ehe nicht zufolge einer inneren Neigung oder einer wirklichen Wahl, weder von ihrer noch von des Mannes Seite. Der Ehe geht kein Roman voraus; das Herz hat bei der Heiratsangelegenheit keine Stimme, weder bei Osmanen noch bei Persern. Zwar kann keine gültige Ehe geschlossen werden ohne Einwilligung der Braut und Beistimmung ihres Rechtsvertreters, welcher eine mündige Jungfrau nicht zur Heirat gegen ihren Willen zwingen darf; aber nach der Rechtsschule des Imâm Shâfi’y, welche als dritte orthodoxe allgemeine Anerkennung gefunden, können der Vater oder Grossvater ihre Tochter oder Enkelin, sofern sie noch Jungfrau ist, ausheiraten, ohne sie zu befragen, ja selbst gegen ihren Willen.[882] Indes behandelt der Mann seine Frauen mit Rücksicht, was ihm der Korân zur Pflicht macht. Er nennt sie „Herrin“ und überlässt ihnen unumschränkt die Leitung des Hauswesens, sowie die Erziehung der kleineren Kinder. Der Stifter des Islâm hat auch sein Möglichstes gethan, um die eheliche Zärtlichkeit und damit die Dauerhaftigkeit der Ehe zu sichern. Die zweite und die dreissigste Sure des Korâns befassen sich damit, und auf die verschiedenen Äusserungen ehelicher Zärtlichkeit sind noch ganz besondere, im Paradiese fällige Gnadenprämien ausgesetzt.[883] Auch gehört der Vor[S. 407]schrift nach der Mann von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang ins Frauengemach, in den Harem. Vernachlässigt er hier seine Pflichten,[884] so machen die Weiber ihm, falls er kein Tyrann ist, das Leben sehr schwer und können ihn sogar gesetzlich verklagen. Die von der Polygamie gepeinigten Moslemin sind wirklich die blutigsten Märtyrer in der Geschichte der Völker. Zärtliche Parteilichkeit ist dem Manne strengstens untersagt. Geht er auf Reisen und kann er nicht alle seine Gemahlinnen mitnehmen, so giebt ihm das Los eine Begleiterin. Rechtgläubige, welche einer Frau mehr Aufmerksamkeit zuwenden als ihren Gefährtinnen, werden am jüngsten Tage einer ganz besonderen Strafe unterliegen. Doch nimmt die „erste“ oder die „Gross-Frau“, die Frau der Jugendzeit, welche auch den Ehrentitel Chatûn oder Kadine führt, über die Nebenfrauen ihres Gatten eine bevorrechtete Stellung ein, welche wohl noch aus mutterrechtlicher Zeit in die neuen Verhältnisse hereinragt. Die zweite Frau nennen die Araber Durrah, d. h. Papagei. Als eine sittlich getragene Gestalt steht die Frau als Mutter da, vom heiligen Gesetze beschirmt, vom allmächtigen Brauche hochgehalten. Die Mutter bewahrt im Islâm zumeist das Recht, ihr Kind bei sich zu behalten und zu erziehen, und kann dieses Recht nur durch eine zweite, infolge von Verstossung geschlossene Heirat verscherzen. Die mütterlichen Verwandten besitzen vor den väterlichen das Vormundschaftsrecht über das Kind. Dem Gatten Kinder zu gebären, ist daher die Hauptsehnsucht jeder muhammedanischen Frau. Dies vor allem verleiht ihr Macht und Sicherheit.
Die Frau im Islâm ist nicht so recht- und schutzlos, nicht so sehr der Willkür des Mannes preisgegeben, als gemeiniglich dargestellt wird. Wohl hat der Mann das Recht, die Frau körperlich zu züchtigen; er darf sie schlagen, aber nicht misshandeln; Untreue von ihrer Seite straft das Gesetz entweder mit dem Tode oder den entehrendsten Züchtigungen. Die Praxis ist aber eine andere als die Vorschrift des Gesetzes. Selbst dieses giebt übrigens dem Weibe manche Waffe in die Hand. Da ist zunächst der Ehevertrag. In neuerer Zeit enthält er bei den besseren Ständen sehr oft eine verdriessliche Klausel, welche den Gatten trotz dem Korân zur Monogamie verurteilt, nicht mehr und nicht weniger, als ob er ein gewöhnlicher Ungläubiger wäre. Wird er wortbrüchig, so tritt für die Frau das Recht der Ehescheidung ein. Man darf wohl annehmen, dass die sich mehrende Anwendung besagter Klausel auf den Einfluss der in jüngerer Zeit eindringenden abendländischen Anschauungen zurückzuführen ist und wohl auch hauptsächlich bloss bei jenen moslemitischen Völkern vorkommt, welche diesem Einflusse ausgesetzt sind. Aber auch sonst sorgt der Korân für das Weib in materieller Hinsicht. Der Mann ist seiner Frau nach dem Gesetze Unterhalt, abgesonderte Wohnung und alle sechs Monate einen neuen Anzug schuldig. Die Muhammedanerin kann ihren Mann gesetzlich zu ihrem Unterhalt zwingen, ja nötigenfalls zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse Schulden auf ihres Mannes Namen machen.
Der Punkt, in welchem das Mannesrecht am schärfsten zur Geltung kommt, ist zweifellos die Ehescheidung. Voltaire hat gesagt: „Die Ehescheidung ist beinahe ebenso alt, wie die Ehe. Ich glaube, dass die letztere um einige Wochen älter ist.“ Da im Islâm das Weib als Eigentum des Mannes gilt, so darf er sich jeden Augenblick ihrer entledigen, während das gleiche Recht dem Weibe nur in den wenigen bestimmten Fällen zugesprochen wird,[885] wenn der Mann sie ohne Unterhalt lässt, sie[S. 409] fälschlich der Untreue anklagt und das Kind, das sie ihm geboren, nicht anerkennen will oder vom Glauben abfällt. Doch kann die Frau ihre Scheidung auch gegen eine Entschädigung (’Iwadh) abkaufen, in welchem Falle eine Herstellung des Ehebundes späterhin nicht mehr möglich ist. Ausser dieser, Chol’ genannten, unterscheidet man noch drei andere Arten der Scheidung: durch Fasch, d. h. durch richterlichen Ausspruch auf Ansuchen der Frau in den obenerwähnten Fällen, zu welchen noch Nichterfüllung der ehelichen Pflichten seitens des Mannes sich gesellt; durch Talâq oder Verstossung, endlich durch Li’an oder Fluch. Vom Fasch wird thatsächlich wenig Gebrauch gemacht, die Frauen erklären sich beim Richter lieber als im Zustande ehelicher Empörung (Nâsjizat) befindlich, wodurch sie den Gatten gewöhnlich zur Verstossung nötigen. Li’an tritt ein, wenn der Gatte überzeugt ist, ohne es indes beweisen zu können, dass die Schwangerschaft seiner Frau eine Folge von unerlaubtem Umgang (Zinâ) sei, welche Überzeugung er durch einen feierlichen Eid vor dem Kadi beschwören muss. Doch muss dies unbedingt noch vor der Entbindung geschehen; nachher ist es nicht mehr gestattet. Der Frau steht es übrigens frei, durch einen gleichen Eid die Unwahrheit der Überzeugung ihres Gatten zu bezeugen. Weitaus die häufigste Art der Ehescheidung ist aber die Verstossung durch den Mann,[886] der dies ohne jeden Grund thun kann. Er sagt bloss: Mutállaka, d. h. du bist verstossen, und dies genügt. Er bedarf übrigens auch dieser sakramentalen Formel nicht; er kann einfach sagen: „Bedecke dich mit deinem Schleier“, oder Dachlak! d. i. „Deinen Rücken“ (will ich sehen), was bedeutet: mache, dass du fortkommst! oder: „du bist mir fortan, was mir der Rücken meiner Mutter ist,“ oder „suche dir einen andern Mann“, oder er schwört, ihr Ehelager zu meiden, und die Frau ist damit verstossen. Es sind überdies alle diese Äusserungen auch dann rechtsgültig, wenn der Mann[S. 410] dieselben in trunkenem Zustande thut; nur wenn er krank darniederliegt, sind sie ungültig. Die Verstossene bleibt nun auf des Mannes Kosten während drei Monaten in ihrem Harem, während welcher Frist der Mann sie nicht sehen darf, denn eine Liebkosung, ein Kuss, ja, wie die Schafitischen Schriftgelehrten meinen, nur ein einziger zärtlicher Blick genügt, um die Ehe wieder herzustellen. Spricht der Mann während dieser Zeit: „ich kehre zurück zu dir“, dann sind sie wieder verheiratet; lässt er die Frist verstreichen, sind sie geschieden, und der Mann kann die Frau nur dann zurücknehmen, wenn sie inzwischen nicht geheiratet und er ihr zum zweiten Mal den ganzen Betrag der im Ehevertrage ausbedungenen Morgengabe verabfolgt. Dasselbe wiederholt sich dann auch bei einer zweiten Scheidung, bis die dritte die eheliche Gemeinschaft gänzlich auflöst.[887] Man nennt daher die beiden ersten Scheidungen auch „widerrufliche“ (Talâq radj’i), die dritte aber „unwiderrufliche“ Verstossung (Talâq bãin). In diesem letzteren Falle giebt es dann nur ein Mittel, die Ehegatten wieder zusammen zu bringen. Es muss nämlich die Frau zuvor in aller Form Rechtens einen Dritten geheiratet haben und dieser gestorben sein oder sie wieder verstossen haben. Dieser „Mittelsgatte“ heisst Mohallil oder Mustahüll, was so viel als „Erlaubtmacher“ bedeutet. Nicht selten schrumpft er zu einem Strohmann zusammen, welcher sich der hinkenden Reue des ersten Ehemannes für Geld und gute Worte zur Verfügung stellt, obschon solch frommer Betrug durch den Korân strengstens verboten und der zweite Mann, welcher zu Gunsten des ersten verstösst, mit diesem verflucht wird. In früheren Zeiten gab es besondere Greise, welche als Ehemänner auf Miete dienten. Sie gingen solche Ehen gegen Entgelt ein, um nach erfüllter gesetzlicher Förmlichkeit und ohne ihre Gattinnen für eine Stunde erblickt zu haben, auf dem Platze selbst die Scheidung auszusprechen.[888] Natürlich sucht man auch jetzt den Mustahüll mit Vorliebe unter solchen Individuen, die an sich wenig geartet sind, die Neigung der Frau zu gewinnen.[S. 411] Dennoch ist es schon vorgekommen, dass die Scheinvermählten an einander Gefallen fanden and der noch so reumütige erste Gatte dann das Nachsehen hatte.
Die leichte Lösbarkeit der Ehe bildet zweifellos, so sehr sie auch durch andere Bestimmungen, sowie den Gebrauch beschränkt erscheinen mag, den eigentlich wunden Fleck des islamitischen Eherechtes. Unter den besseren Ständen ist die Scheidung nicht so gewöhnlich, in den unteren Klassen aber tägliches Vorkommnis. In manchen Gegenden, wie in Ägypten, ist die Morgengabe meist so gering, dass der Mann auf ständigen Freiersfüssen, aus der Arbeit der einen Frau die Schuld an die andere herausschlägt.[889] Dieses Nacheinander häufiger Eheschliessungen mit verschiedenen Frauen wirkt weit verderblicher als das Nebeneinander. Überall im Islâm — Persien ausgenommen, wo die Ehescheidung (Telâk) nicht bloss fast ebenso schwierig als in Europa zu erlangen und verhältnismässig selten ist, sondern auch das Ansehen beeinträchtigt, so dass Geschiedene nicht leicht mehr Gelegenheit zu einer neuen anständigen Ehe finden[890] — ist es nichts Besonderes, Männer anzutreffen, die fünfzehn bis zwanzig Weiber hintereinander besessen haben, Frauen in mittlerem Lebensalter, die einem halben Dutzend Männern angehörten.[891] In Stambul sprach man, nach Pischon, von Männern, die sich nacheinander fünfundzwanzigmal, und von Frauen, die sich siebzehnmal verheiratet hatten.[892] Diese häufigen Scheidungen sind besonders bei jenen beliebt, denen Armut das Halten mehrerer Weiber verbietet. Es begreift sich, dass bei einem so lockeren, leicht löslichen Ehebande bei so kurzer Zeit des Zusammenlebens Ehebruch im allgemeinen selten ist. Der Korân nennt denselben eine vorzugsweise „infame Handlung“ und verhängt darüber die Strafe der Einsperrung, bis der Tod die Schuldigen befreie oder Gott ihnen ein Mittel des Heiles verschaffe. Es erinnert dies an die vorislamitische Ehe[S. 412]bruchsstrafe der Einmauerung. In der 24. Sure, welche das „Licht“ heisst, kommen die Schuldigen mit hundert Stockstreichen davon, während die viel grausamere Überlieferung wieder die Steinigung, eine schon bei den Hebräern übliche Todesart, verlangt, welche bei den Wahabiten noch bis in unsere Tage im Gebrauche war. Indes erschwert das Gesetz die Feststellung der Schuld, die Beweisführung fast bis zur Unmöglichkeit. Verlangt es dazu doch nicht weniger als vier Zeugen! Und für die Schiiten gilt gar Alis Forderung: Necesse est videre stylum in pixide![893] Daher denn die Verurteilung von Ehebrecherinnen so selten war, dass die paar Fälle, wo sie doch erfolgt ist, in die Annalen der Geschichte aufgenommen wurden.[894] Doch sei nicht verschwiegen, dass in der Türkei eine Türkin, welche mit einem aus der Rajah, d. h. einem christlichen Unterthan der Pforte, Verkehr hatte, ohne Gnade ersäuft, der Rajah aber gehenkt wurde. Graf Moltke war noch 1836 Zeuge einer solchen Exekution.[895] In Persien verfallen der Untreue überwiesene Frauen gesetzlich dem sogenannten „Todesbrunnen“, aber auch dort wendet man diese Strafe heute nur selten mehr an. Die Männer ziehen es vor, von dem untreuen Weibe sich zu scheiden, oder räumen dasselbe geräuschlos durch Gift hinweg, wobei sie der Mithilfe der eigenen Schwiegermutter sicher sein dürfen.[896]
Das Verhältnis der Eltern zu den Kindern ist im Bereiche des Islam im allgemeinen ein zärtliches. Der Orientale ist überhaupt ein Kinderfreund, und die Liebe zum Kinde ist das mächtigste Register im Gefühlsleben der Muhammedaner. Knaben werden, wie überall, wo das Patriarchat herrscht, vor den Mädchen bevorzugt und das Weib, das dem Herrn des Hauses den ersten Knaben geboren, den Stammhalter des Geschlechts, bleibt in der Regel die erste Kadine des Mannes. Eine Ummweled, d. h. eine Knabengebärerin, darf auch nicht ohne angemessene Versorgung[S. 413] verstossen werden. Pischon behauptet, nur ausnahmsweise wende sich die Zärtlichkeit der Väter den Töchtern zu, eine zärtliche Fürsorge der Mütter für diese sei aber fast unerhört.[897] Dagegen bemerkt Vincenti, ohne des Geschlechtsunterschiedes zu gedenken, die Liebe und Sorgfalt, welche die moslemitischen Mütter auf ihre Kinder verwenden, sei ganz ausserordentlich. Der Korân schreibt ihnen das Stillen derselben bis in das zweite Lebensjahr als Pflicht vor und jede Muhammedanerin, von der höchsten bis zur niedrigsten, hält es für ein grosses Unglück, wenn sie dieser heiligen Pflicht nicht genügen kann. Wenn trotz aller Sorgfalt die Moslemin in der Aufziehung ihrer Kinder nicht glücklich sind, wenn die meisten Kinder sterben, so rührt dies nach übereinstimmenden Zeugnissen nicht von etwa infolge der Vielweiberei verkommenem Blute her, sondern davon, dass die morgenländischen Weiber von einer vernünftigen Kinderpflege keine Ahnung besitzen; die zarten Geschöpfe werden irrationell ernährt und widersinnig diätetisch behandelt. Grosses Unheil bewirkt endlich das geschäftsmässige Quacksalbern junger und alter Frauen.
Alles bisher Gesagte bezieht sich auf die höchstens vier gesetzmäßigen Gattinnen (Hanum), welche der Korân dem Gläubigen gestattet. Die Verpflichtungen, welche ihm jeder gegenüber auferlegt sind, machen indes das Halten mehrerer Gattinnen zu einem kostspieligen Vergnügen, das sich nur der Bemittelte gönnen kann. Die grosse Menge des islamitischen Volkes sieht sich daher auch dort, wo der Islâm nicht bloss äusserlich über Christentum und Judentum gesiegt hat, auf ein einziges Eheweib angewiesen. Das Mehrfrauensystem bleibt also auch im Islâm immer nur die grosse Ausnahme; die weitaus meisten Gläubigen beschieden und bescheiden sich, falls nicht ganz besondere Umstände vorliegen, mit einer Frau und haben damit vollauf zu thun. Dies ist nicht erst so seit neuerer Zeit, sondern von jeher und überall im Bereiche der Vielweiberei gewesen, besonders beim Bauernstande. Natürlich hat in unseren Tagen der Zug zur Einzelehe bedeutende Kräftigung erfahren. Mit dem Auftreten neuer Bedürfnisse und[S. 414] der zunehmenden Verarmung begann die Einschränkung der Mehrfrauenwirtschaft. Die Frauen sind es ja immer zuerst, welche Befriedigung für neu auftretende Bedürfnisse erheischen. Sie fühlen eben zuerst. Wie bei uns bedingt der auftretende Luxus der Frauen die Einschränkung der Häuslichkeit, und leitet den Orientalen zur Monogamie. Selbst in den gebildeten Kreisen der osmanischen Gesellschaft kommt die Vielehe gegenwärtig fast gar nicht mehr vor.[898] Auch bei den schiitischen Persern ist Monogamie die Regel,[899] Vielehe die Ausnahme.[900] Dennoch ist das ganze nationale Dasein der Rechtgläubigen vom Gedanken der Vielweiberei durchtränkt, und man ist vollauf berechtigt, die morgenländische Gesellschaft eine polygynische zu nennen, wenngleich die Anzahl der dort in Vielehe lebenden Männer bloss auf 30–35 von tausend geschätzt werden, wovon wieder nur der dritte Teil, also etwa ein Mann auf hundert, sich im Besitze von mehr als zwei Ehefrauen befinden soll.[901] Allerdings treten zu dem obenerwähnten raschen und häufigen Wechsel der Gattin, womit gerade die unteren Volksschichten die Eintönigkeit der Einzelehe zu würzen pflegen, noch Sklavinnen als Nebenfrauen oder Kebsinnen in beliebiger Anzahl hinzu.
Die fortgeschrittenere Gesittungsstufe, auf welcher die meisten Völker des Islâms sich dermalen bewegen, hat den Unterschied zwischen Freien und Unfreien zwar noch nicht aufgehoben, und es ist auch keine Aussicht dazu, so lange die ganze wirtschaftliche Existenz des Orients auf Sklaventum und Sklavenarbeit gegründet ist. Aber der starre, dem Eigentumsbegriffe entquellende Standpunkt ist längst verlassen, der Sklave nicht mehr völliger Willkür preisgegeben. Und nicht bloss der islamitische Sklavenkodex, die Hedaja, beschützt den Sklaven, sondern noch weit mehr der Gebrauch, die Sitte, dieser gewaltigste Sultan im morgenländischen Leben. So ist denn heute nicht jede Sklavin auch Kebsin; wohl aber kann die Nebenfrau nur aus der Reihe der[S. 415] Sklavinnen genommen werden. Die Türken nennen sie dann Odalik (von Oda, Stube und lik, eine Kollektivendung, hier etwa im Sinne des deutschen „Zimmer“ in „Frauenzimmer“), woraus wir „Odaliske“ gemacht haben. Sind nun diese „Zimmergefährtinnen“ auch mit den rechtmässigen Frauen gesetzlich und rechtlich nicht in gleicher Stellung, so ist diese letztere in Wirklichkeit doch im ganzen die einer angetrauten Gattin. Eine solche Sklavin, die Mutter geworden, kann nicht mehr verkauft werden und ist im Todesfalle des Herrn frei. So spricht das Gesetz. Dem Brauche gemäss wird sie aber vielfach schon bei der Geburt ihres Kindes frei und dann oft rechtmässige Gattin ihres früheren Herrn. Das Kind der Sklavin, wenn vom Herrn als das seinige anerkannt, ist rechtmässig und erbfähig, denn der Islâm an sich weiss ebensowenig etwas von „Missheiraten“, als von jenen Kindern in Familienacht, jenen lebensentwurzelten Geschöpfen, welche um der Eltern Sünde willen „Bastarde“ heissen und bei uns ein Zehntel der Bevölkerung bilden. Sind doch die osmanischen Sultane und die kaiserlichen Prinzen Söhne von Sklavinnen! Und sowie die Kinder von Sklavinnen, gesellschaftlich wie zivilrechtlich, genau dieselbe Stellung, wie die ehelichen besitzen, ebenso ist das Verhältnis der Odalisken zu den rechtmässigen Gattinnen des Hausherrn ein zumeist erträgliches, sogar freundschaftliches. Sie bleiben zwar nach wie vor die Untergebenen und Dienerinnen der letzteren, doch suchen jene für die Dienstleistungen Vergeltung zu üben, indem sie sich liebevoll ihrer Kinder annehmen und sie wie ihre eigenen pflegen und erziehen. Es ist sogar etwas allgemein Gebräuchliches, dass im Verblühen begriffene Hanum höchst prosaische Liebesidyllen zwischen Gemahl und Sklavinnen begünstigen, um dadurch den Einzug einer zweiten rechtmässigen Gattin ins Haus zu verhindern. Dass die eine gesetzliche Frau von der grösseren oder geringeren Anzahl von Nebenfrauen nichts wisse, weil alle mögliche Vorsicht angewandt wird, dass sie vom Dasein derselben keine Kunde erhalten, wie Millingen andeutet,[902] ist nach allen übrigen Zeugnissen durchaus unwahrscheinlich.
Überblickt man das Gesamtgebiet der hier besprochenen Erscheinungen, so kann es nicht bestritten werden, dass die Befriedigung des Geschlechtstriebes von den Moslemin im Hause zur Hauptsache des ganzen ehelichen Zusammenseins gemacht wird, geistige Beziehungen zwischen Mann und Weib wenig Pflege finden. Der Korân empfiehlt, so es möglich ist, nur Jungfrauen zu heiraten. Den Männern mutet er dagegen Enthaltsamkeit vor der Ehe nicht zu. Er scheint den geschlechtlichen Sinnengenuss für eine der höchsten Freuden des Daseins zu halten, weshalb ja auch der phantastisch-reizend geschilderte Umgang der Gläubigen im andern Leben mit den ewig-jungfräulichen Huri[903] eine so grosse Rolle unter den Genüssen des islamitischen Paradieses spielt.[904] Gelangt aber auch in der islamitischen Familie der sittliche Wert des Weibes weniger zur Erscheinung und Geltung, als des Weibes Geschlechtsbestimmung, so zeigt es doch von entschiedener Unkenntnis, will man ihr jede ethische Bedeutung absprechen. Ch. von Vincenti, dieser treffliche Kenner des Morgenlandes, betont, dass die moslemitische Sitte in der Frau entschieden mehr als das Geschlecht schätze; wenn auch im Verkehre nach aussen gewissen Beschränkungen unterworfen, bleibt sie im Innern doch weit mehr als ein Hausmöbel oder eine dekorative Existenz.[905]
[826] Robertson Smith. Animal worship and animal tribes among the Arabs and in the Old Testament; im: Journal of philology. Bd. IX. S. 75–100.
[827] Stade. Geschichte des Volkes Israel. Bd. I. S. 408.
[828] August Müller. Der Islâm im Morgen- und Abendlande. Berlin 1885. Bd. I. S. 49.
[829] Edward William Lane. Selections from the Kur-án. With an introduction by Stanley Lane Poole. London 1879. S. XXXIII.
[830] W. G. Palgrave. Narrative of a year’s jurney through central and eastern Arabia. London 1865. Bd. I. S. 10.
[831] Alfred von Kremer. Kulturgeschichte des Orients. Bd. I. S. 537.
[832] Lane. A. a. O. S. XXVII.
[833] Das arabische Mahr ist identisch mit dem hebräischen Mohár. Dass wir dieses bei den Juden als thatsächlichen Kaufpreis, als „Kalym“ fanden, entspricht der bei ihnen weit ausgeprägteren Stufe des Vaterrechts. Der ehemalige Brautschatz hatte sich bei ihnen schon in einen wirklichen Kaufschilling verwandelt.
[834] Dieser Ansicht Kremers pflichtet auch G. A. Wilken bei: Het Matriarchaat bij de oude Arabieren. S. 43–44.
[835] Kremer. A. a. O. Bd. I. S. 538. — G. A. Wilken. A. a. O. S. 9–14.
[836] Wilken. Het matriarchaat. S. 19–20.
[837] Kremer. A. a. O. Bd. II. S. 100–102.
[838] C. von Vincenti. Die Ehe im Islâm. S. 5. — Perron. Femmes arabes avant et depuis l’islamisme. Paris u. Alger 1858. S. 127.
[839] A. Müller. Der Islâm. Bd. I. S. 47.
[840] Kremer. A. a. O.
[841] Kremer. A. a. O. S. 102.
[842] Desgleichen bei den Türken. Man vergleiche z. B. folgende wirklich reizende Anrufung der Geliebten:
(Mitgeteilt von L. Grünfeld im „Neuen Wiener Tagblatt“ vom 2. Juni 1887.)
[843] Jakob Eduard Polak. Persien. Das Land und seine Bewohner. Leipzig 1865. Bd. I. S. 206.
[844] Karl Nathaniel Pischon. Der Einfluss des Islâm auf das häusliche, soziale und politische Leben seiner Bekenner. Leipzig 1881. S. 5.
[845] Dr. Perron. Femmes arabes. S. 88.
[846] Kremer. A. a. O. S. 103.
[847] Müller. Der Islam. Bd. I. S. 41.
[848] Wilken. Het Matriarchaat. S. 29.
[849] Richard F. Burton. Personal Narrative of a pilgrimage to El-Medinah and Meccah. London 1856. Bd. III. S. 41.
[850] Polak. Persien. Bd. I. S. 200.
[851] Wetzstein erörtert ausführlich die Rolle des arabischen Châl in den: Verhdlgn. d. Berl. Gesellsch. für Anthropologie. Bd. XII. S. 244–250.
[852] Müller. A. a. O. Bd. I. S. 64. Poole behauptet jedoch, dass der Kindermord bei den Wüstenarabern, den Beduinen, „ausserordentlich selten“ gewesen sei. (Lane. Selections from the Kur-ân. S. XXIX.)
[853] Kremer. A. a. O. Bd. I. S. 538.
[854] Wilken. A. a. O. S. 39. 41.
[855] Im Hedschas heiraten die Sheriffamilien nur unter einander, und zwar nimmt ein Sherif eher eine Sklavin, als eine Araberin aus einem andern Stamme zur Frau. Er hält sie nicht für ebenbürtig. Töchter von Sheriffamilien bleiben Jungfrauen, wenn sie kein Sherif freit. (Burton. Personal Narrative of a pilgrimage to El-Medinah. Bd. III. S. 33.)
[856] Kremer. A. a. O. Bd. II. S. 106.
[857] Lane. Selections from the Kur-ân. S. XVIII.
[858] Wilken. Het Matriarchaat. S. 43–45.
[859] Dr. Perron. Femmes arabes. S. 167–170.
[860] A. a. O. S. 52–62.
[861] Lane. Selections from the Kur-ân. S. XXXV.
[862] A. a. O. S. XC.
[863] Dr. Fr. Dieterici. Die Philosophie der Araber im X. Jahrhundert n. Chr. Leipzig 1876. S. 45.
[864] Z. B. bei John Mühleisen-Arnold. Der Islâm nach Geschichte, Charakter und Beziehung zum Christentum. Aus dem Englischen. Gütersloh 1878. S. 156.
[865] Pischon. Einfluss des Islâm. S. 10.
[866] In seiner köstlichen humoristischen Skizze: „Simpson von Bassora“. Ich habe sie seinerzeit ins Deutsche übertragen und veröffentlicht im: Ausland 1880. S. 648–657.
[867] A. v. Kremer. Kulturgesch. des Orients. Bd. II. S. 114.
[868] Sure 33 des Koran sagt: „Wenn ihr etwas Notwendiges von den Frauen des Propheten zu fordern habt, so fordert es hinter einem Vorhange“, was wohl so viel heisst als: die Frau sei verschleiert; denn wenige Zeilen später kommt: „Doch haben die Frauen des Propheten keine Sünde davon, wenn sie unverhüllt sprechen mit ihren Vätern, Söhnen, Brüdern oder mit den Söhnen ihrer Brüder und Schwestern, oder mit ihren Frauen, oder mit ihren Sklaven.“ Endlich: „Sage, o Prophet, deinen Frauen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, dass sie ihr Übergewand umwerfen sollen, wenn sie ausgehen; so ist’s schicklich, damit man sie als ehrbare Frauen erkenne und sie nicht beleidige.“ (Dr. L. Ullmann. Der Koran. Aus dem Arabischen wortgetreu neu übersetzt und mit erläuternden Anmerkungen versehen. Siebente Auflage. Bielefeld und Leipzig 1877. S. 364.)
[869] Murad Efendi. Türkische Skizzen. Leipzig 1877. Bd. II. S. 2. (Der mir persönlich bekannt gewesene Murad Efendi war ein Österreicher Namens Werner, welcher als Gesandter der hohen Pforte zu Stockholm starb.)
[870] Kremer. A. a. O. S. 108.
[871] Arnold urteilt ganz schief, wenn er meint, diese Vorschrift entspringe der Ansicht, dass das Weib der Selbstbestimmung unfähig sei, während sie vielmehr einfach dafür sorgen wollte, dass es sich dem Vermehrungsgeschäfte nicht entziehe.
[872] Vincenti. Die Ehe im Islâm. S. 9. — H. H. Jessup (The Women of the Arabs. London 1874) führt aus dem arabischen Beyruter Blatte „Jenneh“ eine Notiz an, welche triumphierend als Beispiel der ungeheuren Fruchtbarkeit in Syrien meldet, dass ein junges Mädchen, welches mit 9½ Jahren geheiratet hatte, nun schon mit 20 Jahren Grossmutter geworden sei.
[873] C. J. Wills. Persia as it is, being sketches of modern persian life and character. London 1887. S. 52.
[874] L. W. C. van den Berg. De Beginselen van het mohammedaansche Recht. Batavia u. Haag 1878. S. 131.
[875] Als Zinâ (Hurerei) betrachtet der Korân den Geschlechtsumgang eines Mannes mit einem Weibe, das für ihn verboten (haram) ist, d. h. mit einem Weibe, das er nicht geehelicht hat oder das ihm nicht als Sklavin oder als Om-Walad angehörte. Öffentliche Mädchen sind im Islâm verboten. Im Korân, Sure 24, genannt „das Licht“, heisst es wörtlich: „Eine Hure und einen Hurer sollt ihr mit hundert Schlägen geisseln. Lasst euch nicht, diesem Urteile Gottes zuwider, von Mitleid gegen sie einnehmen, so ihr glaubt an Gott und den jüngsten Tag. Einige Gläubige mögen ihre Bestrafung bezeugen. Der Hurer soll keine andere Frau als nur eine Hure oder eine Götzendienerin heiraten, und eine Hure soll nur einen Hurer oder einen Götzendiener zum Manne nehmen. Eine derartige Heirat ist aber den Gläubigen verboten.“ (Ullmann. Korân. S. 293.)
[876] Vincenti. Ehe im Islâm. S. 12.
[877] Siehe eine solche bei Dr. Perron. Les femmes arabes. S. 531–533.
[878] Van den Berg. A. a. O. S. 133–134.
[879] Vincenti. A. a. O. S. 11–12.
[880] Beim Tode des vor wenigen Jahren verstorbenen ehemaligen türkischen Justizministers Server Pascha hiess es, seine über ein fürstliches Vermögen verfügende Frau habe ihrem Manne des Öfteren Geld auf Zinsen geliehen.
[881] Ullmann. Korân. S. 55–56. Über das Erbrecht vgl. Van den Berg. A. a. O. S. 117–127 und A. von Kremer. Kulturgeschichte des Orients. Bd. I. S. 527–532.
[882] Van den Berg. A. a. O. S. 132.
[883] Der Gatte, welcher seine Frau durch eine Liebkosung mit der Hand erfreut, wird von Gott zehn Gnaden erhalten, wenn er seine Gattin an die Brust zieht, mit zwanzig, und wenn er sie küsst, gar mit dreissig Gnaden beteilt werden.
[884] Der Korân erteilt sehr eingehende Vorschriften über die Weise, wie der Mann seine Gunstbezeugungen unter seinen Frauen zu verteilen hat, so dass keine Eifersucht zwischen ihnen entstehe und Ruhe und Frieden im Hause walte. Er verbietet z. B. die Begattung (Dochul) in Gegenwart der anderen Frauen, der Mann möge jede seiner Frauen regelmässig besuchen und er soll auch wo möglich den Tag bei jener zubringen, welcher er in der Nacht beigewohnt. Der Besuch einer Frau schliesst indes nicht die Verpflichtung zur Begattung in sich, worauf jede Frau bloss einmal im Monat Anspruch hat. (Van den Berg. De Beginselen van het mohammedaansche Recht. S. 136–137.)
[885] Eine ungenannte Dame meint dagegen in ihrem Bericht über türkische Frauen: „Konveniert die Gemahlin nicht, so hat der Mann das Recht, die Frau ins Elternhaus zurückzuschicken, und auch der Frau steht es frei, dahin zurückzukehren, wenn ihr der Ehestand nicht behagt, und häufig machen die türkischen Frauen von dieser Freiheit Gebrauch“ (Über Land und Meer. 1887, Nr. 14, S. 113).
[886] Van den Berg. A. a. O. S. 140–141.
[887] Vincenti. Ehe im Islâm. S. 22.
[888] Murad Efendi. Türkische Skizzen. Bd. II. S. 15.
[889] A. a. O. S. 23.
[890] Wills. Persia as it is. S. 64.
[891] Van den Berg. A. a. O. S. 139.
[892] Pischon. Einfluss des Islâm. S. 13.
[893] Polak. Persien. Bd. I. S. 215.
[894] Murad Efendi. A. a. O. S. 7.
[895] Helmuth von Moltke. Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei. S. 37.
[896] Wills. Persia as it is. S. 69–70.
[897] Pischon. A. a. O. S. 17.
[898] Murad Efendi. A. a. O. Bd. II. S. 2.
[899] Aus Persien. Aufzeichnungen eines Österreichers. Wien 1882. S. 91.
[900] C. J. Wills. Persia as it is. S. 63.
[901] Vincenti. Ehe im Islam. S. 7.
[902] Globus. Bd. XIX. S. 15.
[903] Das arabische Wort ist El-Hûr, Vielzahl von El Haurá, „die Grossäugige“ (A. Müller. Der Islâm. Bd. I. S. 65).
[904] Pischon. Einfluss des Islâms. S. 8.
[905] Vincenti. Ehe im Islâm. S. 7.
[906] In die Frauenabteilung des Hauses gelangt kein Fremder, auch kein Moslim, der nicht zur engsten Familie gehört. Eine ausgeführte Schilderung des Harems liegt nicht im Plane dieses Buches, welches auf die Richtigstellung einiger darüber umlaufenden Vorstellungen sich beschränken zu sollen meint; wohl aber eine Würdigung dieser Einrichtung in kulturgeschichtlicher Hinsicht.
er Morgenländer versteht unter Harem (bei den Persern Enderun, in Indien Zenana) im Gegensatze zum Selamlik (persisch: Birun), dem Aufenthaltsorte der Männer, nicht bloss die abgeschlossenen Frauengemächer des Hauses, sondern auch alle deren Insassen, Frauen, Kebsinnen, Kinder, Sklaven und Verschnittene. Aber auch wo bloss eine Frau vorhanden wäre, besteht der Harem. Er ist des Morgenländers unantastbares Heiligtum, in welchem er durchaus ungestört bleiben will und bleibt. In Persien genügt es, einem Besucher zu sagen: Der Herr befindet sich in seinem Enderun.Ein falscher Begriff, dem in Europa aber noch viele huldigen, ist zunächst der sogenannte „orientalische Luxus“, den man immer mit dem Haremswesen in Verbindung bringt. Das Haremsdunkel, mit seinen schwellenden Seidenkissen und verschwiegenen Teppichen,[S. 418] von Rosenwasser durchduftet, mit Ambra geräuchert, wird zwar nicht mehr unbedingt als ein Eldorado aller irdischen Genüsse angesehen, das verschleierte Rätsel, „Odaliske“ genannt, gilt zwar nicht mehr als ausschliesslich geweihte Priesterin der ausgesuchtesten Sinnesschwelgerei, für manchen bleibt aber dennoch das morgenländische Gynäceum die letzte und ausschliesslich bevorrechtete Freistatt der „blauen Blume“. Schilderungen der Hareme morgenländischer Grosser, insbesondere des türkischen Padischah, in welchen Wahres mit Falschem[907] gemengt ist, tragen an derartigen Vorstellungen Schuld. Doch sind dies schlecht gewählte Muster, aus welchen sich durchaus kein Schluss auf die Allgemeinheit ziehen lässt. Wahr ist von dem ganzen Luxus bloss, dass mitunter unglaubliche Massen von Schmuck bei den „Verbotenen“ angehäuft liegen, natürlich bloss bei Wohlhabenden oder Reichen. Nicht selten hat der Ehegatte sein halbes Vermögen auf dem Leibe seiner Gattinnen und Sklavinnen auf „Zärtlichkeitszinsen“ angelegt. Freilich stellt die Zärtlichkeit auch die einzigen Zinsen des aufgewendeten Kapitals dar, welches sonst tot bleibt. Aber wenn auch, so ist der Schmuck der Orientalinnen doch durchaus kein Luxus, sondern immerhin die sicherste Kapitalanlage. Da nur der Schmuck keine Steuern zahlt und bei ihm nichts auf Machart gegeben wird, sondern er fast immer seinen vollen Ankaufspreis in Metallwert darstellt, so erklärt sich die Verschwendung desselben in den Haremen. Das ist aber ziemlich auch alles. Heinrich von Maltzan betont, dass selbst in den Haremen der Grossen, der reichsten Familien neben Goldbrokat und Perlen reichlich Lumpen und Schmutz zu finden sind.[908] Der[S. 419] Unterschied der Verhältnisse liegt bloss in der Verschiedenheit der Stoffe, womit die Diwane überzogen und die Reize der Frauen mehr oder weniger nicht bedeckt sind. Der Harem des Armen, der nur eine Frau besitzt, wie er vielleicht auch nur ein Kamel und ein Zelt sein eigen nennt, beschränkt sich nicht selten auf einen höchst notdürftig ausgestatteten Verschlag oder eine Wohnstube. Maltzan erblickt in den Haremen ferner wahre Pest- und Choleraherde, in welchen das Rätsel zu suchen, warum im Morgenlande von jeher alle ansteckenden Krankheiten so plötzlich grosse Verbreitung fanden und mit solcher Wut auftraten. Nicht bloss die gastronomischen Ausschreitungen, welche dort an der Tagesordnung sind, sondern, und zum Teil in Verbindung mit ihnen die grosse Unreinlichkeit bewirken dieses Ergebnis. Wie schaudererregend diese sein kann, davon hat Maltzan sich mit eigenen Augen überzeugt, und versichert auf Grund verlässlicher Gewährsleute, dass es auch in den Haremen der höheren Schichten nicht besser aussehe.[909] In Einzelheiten einzugehen, würde die Grenzen des Ästhetischen notgedrungen überschreiten.[910]
Die Haremsitten wechseln natürlich von Volk zu Volk; richtiger: jedes Volk folgt darin je nach seiner Anlage bestimmten Gepflogenheiten, wenngleich die Vorschriften des Gesetzes, des Korâns, für alle die gleichen sind. So schreibt der Korân die strenge Beobachtung des Setr-Awret vor, d. h. des Gesetzes, welches die Weiber nötigt, ihr Gesicht mit Ausnahme der Augen zu verhüllen; es gestattet keine Ausnahme, weder für Reiche noch für Arme. Wo in der Türkei freie Mägde im Harem bedienstet sind — was freilich nicht häufig ist — schreit ein Herr, der in[S. 420] seinen Harem geht, so laut er kann: „Aufgepasst“, oder: „Euer Gesicht! Bedecket Euch!“ damit sich alles rasch verstecken könne. Doch ist die Verhüllung bei den sunnitischen Osmanen noch lange nicht so strenge als bei den schiitischen Persern. In Stambul wird der Jaschmack, der Gesichtsschleier, aus weissem und sogar sehr durchsichtigem Stoffe getragen, ja man sieht mitunter auf öffentlichen Promenaden freie Mädchen selbst ohne Schleier, obwohl bei den Türken im allgemeinen die Ansicht herrscht, die Türkin, die einem Manne ihr Angesicht absichtlich entschleiert, ergibt sich ihm.[911] Bei den Muhammedanern Bosniens und der Herzegowina, die freilich zumeist Slaven und erst seit der Eroberung zum Islâm bekehrt sind, verschleiern sich nur Frauen auf der Strasse, Mädchen gar nicht. Und am mittleren Laufe der Narenta ist der Schleier stellenweise nicht einmal für Frauen vorhanden, während diese sonst in ganz Bosnien ärger vermummt sind als irgendwo im Orient.[912] Dagegen trägt das persische Weib von ihrem neunten Lebensjahre an, wenn sie ausgeht, eine weite indigoblaue Hülle (Tschader), welche den ganzen Körper von Kopf bis Fuss dominoartig vermummt. Vor den Augen hängt ein langes, schmales, weisses Tuch (Rubaend), das in der Gegend der Augen einen gitterförmigen, ovalen Ausschnitt zum Sehen hat.[913] Freilich hat Professor Brugsch beobachtet, wie auf den Promenaden die Schönen zuweilen wie zufällig den Schleier lüften, um sich aus der Ferne für einen Augenblick bewundern zu lassen. Unter den ärmeren Volksschichten tragen aber in einzelnen Teilen des sonst so strengen Landes die Frauen den Schleier nicht einmal im Freien, sondern begnügen sich beim Nahen eines Mannes sich einfach umzudrehen.[914] Die Weiber der in Persien zahlreichen Nomadenstämme sind ebenfalls unverhüllt.[915] Zu Hause, im Enderun ist endlich selbst die vornehmste Perserin nichts weniger als wohlverhüllt; ein grösserer[S. 421] Gegensatz in der Tracht lässt sich vielmehr kaum denken.[916] Bei den muhammedanischen Kosaken in Russisch-Turkestan verschleiern sich bloss die Frauen mit einem weissen, sackartigen Jaschmack, auch dies aber nur in den Städten, während sie in der Steppe das Antlitz höchstens in Gegenwart einer sehr hohen Persönlichkeit verhüllen.[917] Auch die Verschleierung der Turkmeninnen ist eine sehr geringe. Von einer runden Kappe fällt ein lang herabhängender Schleier von Seide oder Baumwolle herab, von welchem ein Zipfel unter dem Kinn hinweggezogen und an der anderen Seite des Kopfes mittelst einer Spange befestigt wird; zuweilen rückt man ihn, wie es auch die Armenierinnen thun, bis an den Mund hinauf.[918] In Ostturkestan endlich gehen die Frauen aus den niederen Ständen, worüber sich schon Mir Isset Ullah wunderte, der 1812 Yarkand besuchte, in vollkommener Freiheit unverschleiert umher; ja auch vornehmere Frauen, welche einige Stunden des Tages in ihren Gärten ausserhalb der Mauern zubringen, nahmen, wie der neuere Reisende Hayward berichtet, keinen Anstand, die Fremden mit neugierigen Augen zu betrachten.
Wie mit dem Schleier, so verhält es sich auch mit der Einschränkung der weiblichen Freiheit durch den Harem. In der Blütezeit der arabischen Zivilisation war die Bewachung weit weniger streng, als dies jetzt im Morgenlande der Fall ist; es herrschte damals eine freiere Bewegung als in späteren Zeiten, wo bei dem Verfalle der Gesittung der Haremszwang zu einer förmlichen Klausur ausartete.[919] Die fast bei allen orientalischen Völkern herrschende Sonderung der Geschlechter fand sich übrigens, wenngleich sehr gemildert, auch in den südlichen Ländern Europas in Übung, und die portugiesischen Kreolen Brasiliens sperren ihre Frauen ebenso ängstlich ein wie die Muhammedaner.[920] In ihrem Harem verkehrt die Frau nur mit ihren nächsten männ[S. 422]lichen Blutsverwandten; mit den männlichen Dienern bespricht sie das Nötige durch den Thürvorhang. Im Bazar, in den Läden, auf der Strasse verkehrt sie mit Männern nur insoweit es die Notwendigkeit mit sich bringt. Die Strenge dieser Vorschriften lässt aber an vielen Orten sichtbar nach. Die türkische Frau z. B. ist keineswegs eine Gefangene, eine Eingekerkerte; sie verkehrt mit der Aussenwelt ungefähr im Masse der christlichen Klosterfrauen von den milderen Orden. Auf dem Lande und in den kleineren Ortschaften, namentlich in Asien, stellt sich das Verhältnis noch ganz anders. Die Abgeschiedenheit der Geschlechter besteht dort mehr im Prinzip, und die Zurückhaltung im Verkehr vertritt die thatsächlich unausführbare Absperrung. Letztere wird naturgemäss undurchführbar, wo das Mädchen unter den Augen aller heranwächst, wo bei den gemeinschaftlichen Feldarbeiten der Schleier oft unerträglich wird, wo Männer und Weiber unausweichlich in fortgesetzter Berührung bleiben.[921] In Persien ist die Überwachung der Frauen in den höheren Kreisen sehr strenge, dennoch erfreuen sie sich keines besonders guten Rufes als treue Gattinnen und geniessen eine verhältnismässig grosse Freiheit. Nach Landessitte ist es ihnen gestattet, fünf bis sechs Stunden lang in den öffentlichen Bädern zu verweilen und bis auf mehrere Tage hinaus ihre Besuche bei den Eltern und sonstigen Anverwandten auszudehnen. Sie sollen sich auch sonst allerlei unerlaubter Mittel bedienen, um ihre Spaziergänge zu entschuldigen, die sie, mit Ausnahme der Strassen der Hofburg, im Innern der Stadt Teherân unternehmen.[922]
Innerhalb des Harems herrschen Gebräuche, welche dem Abendländer tyrannisch erscheinen, deren Joch der Orientalin indes sanft und leicht bedünkt. Strenge Trennung der Frauengemächer von den Männergelassen bildet natürlich einen Hauptgrundsatz der moslemitischen Hausanlage. Von seiner Frau wird der Moslim niemals in seinen Gemächern besucht; immer ist er[S. 423] bei ihr zu Gast, wenn er vorspricht. Die Frauen verbringen den Tag ohne den Mann, haben jedoch während dieser Zeit volle Freiheit des Besuchens und des Besuch-Empfangens, aber es darf eben nur weiblicher Besuch sein. Von diesem Frauentreiben ist der Mann unerbittlich ausgeschlossen. Ein zehnfaches Verbot heiligt die Schwelle des Harems, wenn fremdes Schuhwerk draussen steht, denn der weibliche Besuch kann sich nicht der Gefahr aussetzen, vom Hausherrn unverschleiert überrascht zu werden. In guten Häusern, so versichert Vincenti, bedeutet übrigens der „Pantoffel auf der Haremsschwelle“ die unbedingte Unüberschreitbarkeit derselben für alles Männliche, insbesondere den Ehegatten selbst. Wünscht die Frau den Besuch ihres Gatten nicht, dann wird dies durch den hinausgestellten Pantoffel angedeutet, und kein wohlerzogener Prophetenbekenner missachtet diese Pantoffelsprache; ja thäte er es trotzdem, so würden die verschnittenen Haremswächter, die allerdings bald der grossen Plunderkammer des Islâm angehören werden, das Recht haben, sich sogar thatsächlich zu widersetzen.[923] Der Pantoffel spielt überhaupt im moslemitischen Haushalt eine Rolle. „Pantoffelgeld“ nennt man das rechtgläubige Nadelgeld, mit dem Pantoffel züchtigt man das unfolgsame Gesinde, mit dem Pantoffel hält man sich den Mann vom Leibe und knechtet man ihn, wie überall. Lebt des Mannes Mutter noch, dann ist er wohl des Hauses Mehrer, nicht aber auch dessen Regierer; Regiererin ist seine Mutter, für die Schnüre die Schwiegermutter oft mit all ihren Schrecken. Sie erforscht deren Herz und Nieren, hält Zucht und überwacht den Nachwuchs. Sie hat ihren eigenen Haushalt, der ein wahrer Regierungssitz ist. Die Schwiegertöchter ertragen knirschend das Joch; aber alles buhlt um die Gunst der Mutter, Muhmen wie Bäschen, die Sippe von aussen, wie der Harem des Mannes. Eine besonders bevorzugte Stellung nimmt die Schwiegermutter in Persien ein, denn man ehrt sie als die natürliche Wächterin der Braut und jungen Frau. Letztere ist vor allem die Mutter der Kinder und behauptet ihrerseits, sobald sie das Matronenalter erreicht, die wichtigste Stelle[S. 424] im Haushalt. Aber auch sonst wird die persische Frau von ihrem Eheherrn in allen Dingen befragt; sie ist seine vornehmlichste Ratgeberin und Vertraute. An glücklichen Ehen ist auch in Persien, wie Dr. Wills und Benjamin übereinstimmend bezeugen,[924] durchaus kein Mangel. Nicht bloss in Persien, sondern so ziemlich überall im Bereiche des Islâm ist das Los der Frau ein glückliches, sobald sie Kinder geboren. Ihr fällt deren Aufziehung sowie die Aufgabe zu, Frauen für ihre Söhne auszusuchen. Unglücklich ist nur das kinderlose Weib. Unfruchtbarkeit ist auch in Persien, wo es doch immer zur Schande gereicht, eine Frau aus der Familie auszustossen, ein Scheidungsgrund.[925] Kommt es aber nicht zur Scheidung, so muss sie doch ihrem Herrn und Meister eine andere Gattin besorgen.[926] Das ist ihr grösster Schmerz. Wird eine Frau gewahr, dass ihr Gemahl mit Heiratsgedanken umgeht, so versucht sie durch Drohungen, Weinen und Bitten ihn davon abzubringen; gelingt ihr dies nicht, dann beginnt sie die Auserwählte zu verunglimpfen und zu verdächtigen; endlich aber ergiebt sie sich in ihr Schicksal und schliesst mit ihrer Nebenbuhlerin (Haveh) Frieden. Es tritt eine Art Ausgleich, selbst Freundschaft zwischen ihnen ein, und beide rächen sich durch Untreue an dem Manne.[927] Ja Dr. Wills versichert, dass in der Regel die Weiber nicht eifersüchtige Nebenbuhlerinnen, sondern die besten Freundinnen sind.[928] Sind mehrere Frauen im Hause, so bewohnt jede eine besondere Abteilung, in den Häusern der Reichen mit eigenem Hof, eigener Bedienung und Küche, eigenen Sklaven und Eunuchen. Aber wo auch nur eine Frau vorhanden ist, bevölkert doch den Harem oder Enderun noch ein Trupp weiblicher Dienerinnen, die alle die unbedingt ergebenen Sklavinnen des Hausherrn sind. Was von den Persern gilt, kann man im allgemeinen auch von den übrigen Orientalen aussagen: Der Harem ist kein Tummelplatz ungezügelter Sinnlichkeit; der sittliche[S. 425] Anstand herrscht im patriarchalischen Hausinnern als Grundgesetz. Das Familienleben wird insgemein als ein recht anständiges geschildert. Der Mann von Bildung behandelt seine rechtmässige Frau sehr gut und liebt seine Kinder ausserordentlich; er bringt für deren, nach morgenländischen Begriffen, gute Erhaltung, Pflege und Erziehung die grössten Opfer. Wollen wir aufrichtig sein, meint Rev. Jessup betreffs eines so tief stehenden Volkes wie die syrischen Beduinen, so müssen wir gestehen, dass die Stellung der Frauen in den unteren Gesellschaftsschichten bei uns im Thatsächlichen auch nicht so sehr abweicht, nur mit dem Unterschiede, dass, während im Osten das Prügeln des Weibes eine Art Gebot des Korâns ist, unsere Gesetzgebung sich dagegen auflehnt. Allerdings kommen Gattinnenmorde etwas häufiger vor als etwa in England, und sind, sobald sie bloss die Form der Strafe annehmen, nur selten von unangenehmen Folgen begleitet; allein, wie Rev. Jessup versichert, ist diese Gepflogenheit bei den griechischen Christen jener Gegenden nicht minder im Schwange als bei ihren muhammedanischen Nachbarn. Auch die oft gehörte Behauptung, Hass, Missgunst und Rachsucht fänden in den Haremen eine bleibende Stätte, und die Ikbal, d. h. Lieblingsfrau (Favoritin) pflege auf die wohlwollenden Absichten des Hausherrn einen verderblichen Einfluss auszuüben,[929] bedarf gar mancher Einschränkung, wie die oben angeführten Aussagen anderer Beobachter beweisen. Gewiss geht unter den Haremsinsassen eines reichen mächtigen Hauses mancherlei vor, was unbedingt vertuscht werden muss. Sicher aber wird auch der Harem von pikant sein wollenden Wanderschreibern als Fundgrube unerhörter Dinge oft genug mit lächerlicher Dreistigkeit ausgebeutet.
In den Augen des Abendländers ist das Los des orientalischen Weibes im Harem ein ebenso entwürdigendes als bedauernswertes. Leben und Treiben im Innern des Harems sind zweifelsohne von untergeordneter Beschaffenheit, nach mancher Richtung hin auch von verderblichem Einfluss. Die Dame der höheren Stände beschäftigt sich mit ihren Kindern und ihrem Haushalte kaum mehr[S. 426] als die meisten ihrer Schwestern im abendländischen High-life, mit dem Tages- und Haremsklatsch kaum weniger als diese, und ist häufig zu Hause — nicht anzutreffen, sei es, dass sie zur Durchmusterung der Mode- und Juwelierladen oder aber zu Spazierfahrten auswärts weilt. Doch nicht immer ist sie bloss zu müssigem Treiben ausser Haus. Oft besorgt sie die Angelegenheiten ihres Gatten und hilft an den unsichtbaren Fäden knüpfen, die z. B. in der Türkei aus und durch die Hareme bis zu den Spitzen der Regierung laufen. Der Einfluss der Frauen scheint durch ihre öffentliche Ausschliessung vom Markt des Lebens durchaus nicht gemindert, sondern auf Umwegen einzuholen, was ihm auf geradem Wege versagt wird.[930] Auch in Persien macht der Einfluss des Weibes in Sachen der Diplomatie und der Regierungsgeschäfte sich deutlich fühlbar. Die Orientalin ist in keiner Weise ein geistig beschränktes Wesen; oft stösst man auf Frauen von grossem Talent, begabt in Musik, Dichtkunst und Malerei, wohl bewandert in diplomatischen Künsten.[931] Fast alle sind geschickte Stickerinnen. Im allgemeinen erfahren aber die natürlichen Gaben keine oder nur geringe Ausbildung durch Erziehung und Unterricht. Bei etwa vorhandenem natürlichen Sinne für Thätigkeit füllen manche Frauen einen Teil ihrer Zeit mit weiblichen Handarbeiten aus; ihr eigener Putz ist aber immer die grosse Hauptsache für sie, und dabei scheuen sie weder Zeit noch Geld. Jener Hang zum Äusserlichen und Flachen, den die schönere Hälfte des Menschengeschlechts überhaupt angeboren hat und der sich bei der zivilisierten Abendländerin in hunderterlei Tand und Gepränge äussert, ist hier eben aufs höchste gesteigert. Durch die äusseren Schranken, welche ihren Horizont einengen und ihr den schmalspurigen Lebenspfad knapp abstecken, ist die Morgenländerin jeder angespannteren Seelenthätigkeit, jedes inneren Kampfes enthoben. Immer hat man sich mit der Frage gequält: wie denn die Frauen im Harem nicht der Langeweile erliegen. An Ort und Stelle hört das Rätsel auf Rätsel zu sein. Den ganzen Tag wird an Zuckerwerk genascht; dazu[S. 427] gesellt sich der Kaffee und zum Kaffee die Pfeife mit oder ohne Opium, bisweilen sogar mit Haschisch; ausserdem spielt man leidenschaftlich Domino und mitunter sogar Karten. Dann giebt es Besuche in anderen Haremen abzustatten oder im eigenen zu empfangen. Endlich liefert der häusliche und der städtische Klatsch, meist unflätiger Art, ergiebigen Stoff zum Ausfüllen der Zeit, und wenn er ausgeht, ersetzen mündliche Erzählungen das Romanlesen der abendländischen Damen. Auch fehlt es keineswegs an häuslichen Geschäften, und endlich bringen die Feste, der Bairam vor allen, Abwechslung in das Einerlei.[932] Im ganzen ist das Haremsleben voll Anziehungskraft und zugleich voll geistiger Leere. Ist es Leben, — ist es Träumen? Das ist schwer zu sagen, denn diese ganze Glückseligkeit liesse sich im Grunde genommen in die drei Worte: Essen, Trinken, Schlafen zusammenfassen. Freilich geschieht das nach morgenländischer Art, d. h. so bequem und prächtig als nur möglich. Der den Orientalen angeborne Hang zum Nichtsthun passt ganz gut in dieses eintönige bequeme Leben, welches nicht einmal die Mühe, einen Wunsch zu ersinnen, übrig lässt, inmitten einer Frauenherde, deren ganze Intelligenz schliesslich gerade dazu reicht, eine Perle zu bewundern und ein paar Babuschen auszuwählen. Ideen von Fatalismus scheinen in der Haremsluft zu gedeihen, als ob die Sklaverei, unter deren Joch man lebt, sie mit sich führe. Grober und lächerlicher Aberglaube erfüllen weiter den Dunstkreis des Harems.
Liest man solche Berichte, so wundert man sich, wie es eine Europäerin in einem orientalischen Harem aushalten könne. Und dennoch kommt es öfter vor, als man glaubt, dass Hareme europäische Bewohnerinnen haben. Nicht gezwungen, nicht heimlich entführt, sondern freiwillig, ja auf ihren dringenden Herzenswunsch hörend, sind diese Schönen dahin gekommen. So gross ist der Zauber, welchen der Harem selbst auf gebildete Abendländerinnen auszuüben vermag! Ihr Los ist allemal ein ungemein trauriges. Nichts besorgt die Orientalin mehr als das Erscheinen weisser,[S. 428] besonders europäischer Haremsgenossinnen, gegen niemanden kehrt ihr Hass sich in bedrohlicherer Form. Und doch hat die Morgenländerin ebenso sehr Unrecht, den Einfluss der Europäerin zu befürchten, als diese sich einzubilden, dass ihre höhere Bildung, ihre Gaben des Gemütes und Geistes geeignet seien, den Orientalinnen in der Gunst des Mannes den Rang abzulaufen. Diesen Wahn hat Maltzan längst widerlegt, denn gerade diese Vorzüge sind dem Morgenländer auf die Dauer lästig; er findet sie unbequem, denn sie nötigen ihn gewissermassen, immer im Sonntagsstaat des Kulturmenschen zu erscheinen. Eine Orientalin vermag viel eher eine dauernde Gunst zu erringen, die dann im Range einer Gattin gipfelt, einmal weil sie ihre Eifersucht meist, wenigstens ihrem Gebieter, dem solche immer lästig ist, geschickt zu verbergen weiss, und dann weil sie ihm schon von vornherein, als von gleicher Sitte, Erziehung und Anschauungsweise bequemer zum Umgange ist; er braucht sich bei ihr keinen Zwang anzuthun, er kann ungezwungen mit ihr verkehren, alles sagen, was ihm in den Kopf kommt, und findet doch nur Beifall.[933] Aber auch die Orientalin fühlt sich im Harem weit weniger unglücklich, als der Abendländer annimmt, gewiss nicht unglücklicher, als ein gutes Teil unter den Abendländerinnen ob ihrer Stellen als Frauen sind; sie verhält sich zu diesen, wie jemand, der in ein Viertel gebannt wäre, ohne sich seiner Gefangenschaft bewusst zu werden, zu solchen, denen eine Stadt zum Gefängnis angewiesen ist und welche die Sehnsucht hinaus in die weite Welt verzehrt.[934] Nur die ganz geringe Anzahl derjenigen, welche gegenwärtig europäische Bildung genossen, beginnen zu fühlen, dass, wenn auch ihr Käfig vergoldet ist, ihn doch Eisenstäbe abgrenzen. „So lange wir nicht wissen, wie es draussen zugeht, sind wir glücklich, wenn wir aber zu vergleichen anfangen —“ und solche unglücklichen Geschöpfe beklagen es dann laut, diese Bildung erhalten zu haben, welche ihnen die morgenländischen Verhältnisse unerträglich mache.[935] Das sind[S. 429] aber seltene Ausnahmen, und selbst diese beneiden die Europäerin nur teilweise, denn im ganzen und grossen flösst ihnen die unverstandene Lebensweise derselben als etwas unheimlich Fremdes mehr Scheu als Sehnsucht ein. Das Angewöhnte, Anerzogene hält sie fest.[936] Noch mehr, natürlich, ist dies bei der grossen Menge der Fall. Weit entfernt, die abendländische Gesittung und ihre Sitten zu beneiden, haben sie dafür nur komisches Entsetzen. „Wie,“ ist die Orientalin geneigt auszurufen, „ihr geht allein aus, unverschleiert! Ihr sprecht mit Männern, habt an euch zu denken, über euch zu wachen, und über euer Schicksal selbst zu entscheiden! Wie mühsam, wie sorgenvoll, wie schwierig muss das sein!“ Sie staunt, dass Allah Frauen, die einer solchen Arbeit gewachsen seien, geschaffen habe. Die ungeheure Mehrzahl der Morgenländerinnen schwärmen geradezu für ihre Einrichtungen, ihren Harem, und sprechen zu Gunsten der Polygamie,[937] eine Erscheinung, die fast überall wiederkehrt, wo Vielweiberei Volkssitte ist. Sie bedauern den monogamen Europäer, er müsse sich ja grenzenlos langweilen. Dass die einzige Frau nicht bloss das zweite Ich des Mannes, sondern auch des Hauses Führerin, die Erzieherin der Kinder, wenn nötig die Leiterin des Geschäftes sei, will nicht in ihren Sinn. Da sei ja die abendländische Frau ein Lasttier, eine Sklavin, die sie in der That eher bedauern als beneiden möchten.[938] Ähnliche Äusserungen kann man allgemein vernehmen; sie kennzeichnen die herrschenden Meinungen; sie machen es erklärlich, dass so mancherlei Veränderungen auch das Leben und die Anschauungen des näheren muhammedanischen Orients durch den immer mächtiger andringenden Einfluss Europas schon erfahren haben, der Harem und der ganze Bereich der von ihm beherrschten Lebensgebiete davon durchaus unberührt geblieben ist und wohl auch bleiben wird. Im Harem, bestätigt Hermann Vámbéry, ist alles beim Alten geblieben; an Möbel,[S. 430] Sitte und Hausordnung, an Tracht, Redensart und Denkungsweise ist nicht das mindeste geändert worden; denn das weibliche Geschlecht, das jeder Berührung mit der Aussenwelt fernsteht, hat die streng konservative Richtung der Orientalen noch viel besser bewahrt als die Männerwelt, ja ersteres hat bisher die grösste Hartnäckigkeit gegenüber allen Reformen an den Tag gelegt, und das Wenige, was die türkischen und persischen Damen von dem Abendlande entlehnten, hat viel mehr Nach- als Vorteil bezweckt.[939] Darum ist der Harem eines der festesten Bollwerke für die orientalisch-moslimische Sitte und Lebensordnung nach fast allen Richtungen hin. Hier herrschen noch immer die gleichen Gewohnheiten, Regeln, Meinungen, Begriffe und Vorurteile, kurzum derselbe Geist wie vor Jahrhunderten, und behalten die Oberhand über alle etwa von aussen kommenden Einwirkungen.[940]
Es wäre indes ein schwerer Fehler, das vom Harem eben entworfene Bild für ein allgemein gültiges zu halten. Zutreffend ist dasselbe bloss für die höheren, begüterten Stände, insbesondere für die fürstlichen Haushaltungen in den Hauptstädten, wie Kairo und Stambul, und die Paläste der Grossen. Nur auf diesem Boden sind die abendländischen Ansichten vom Harem und Haremleben erwachsen. Die Wirtschaft der wenig vermöglichen Mittelklassen ist aber natürlich viel bescheidener. Da versorgt das Weib mit rührigen Händen den ganzen Hausstand allein oder höchstens von einer Verwandten unterstützt, und wenn eine zweite Frau vorhanden, mit ihr oft genug in enger Freundschaft verbunden, wenngleich die eine der anderen häufig durch ihr Dasein Nahrungssorgen macht; der Harem selbst aber ist vielfach zu Weberwerkstätten und Färbereien geworden. Das Weib des Landmannes endlich hilft die Feldarbeit bestellen, arbeitet unaufhörlich Tag und Nacht, ohne je Ruhe zu haben, als in wenigen Stunden des Schlummers. Folglich erwirbt er so viele Gehülfinnen, als er[S. 431] Frauen hat, ein Umstand, welcher die Vielweiberei ebenso fördert, wie der Grundsatz, dass alle Mädchen an den Mann gebracht werden sollen. In den ärmeren Gegenden freilich finden sich zwei Frauen bei keinem Bauern, da er keinen Raum und keine Nahrung für sie besitzt und froh ist, ein Weib mit den Kindern erhalten zu können.
Bei der wichtigen Rolle, welche dem Harem in der Geschichte des Familienlebens so vieler Völker zufällt, dürfen — so sehr das Anstandsgefühl sich dagegen sträubt — jene Punkte nicht gänzlich unberührt bleiben, welche unseren Augen wohl als die schwärzesten dieser Einrichtung erscheinen. Unter diesen sind die durch das Sonderleben der Geschlechter hervorgerufenen Wirkungen in gesellschaftlicher Hinsicht noch nicht die allerschlimmsten. Bekanntlich ist unter Morgenländern von den Frauen niemals die Rede; ihrer zu erwähnen gilt für unschicklich, und nicht einmal nach ihrem Befinden darf man sich beim Eheherrn erkundigen; wo man nicht umhin kann davon zu reden, geschieht es mit einer entschuldigenden Wendung, wie etwa: „mit Verlaub“, meine Frau. Bei der völligen Ausschliessung des weiblichen Geschlechts vom Kreise der Männer fehlt natürlich auch der gute Ton, ja der notdürftigste Anstand; man ist rücksichtslos in der Wahl der Gesprächsgegenstände, wie in der Wahl der Ausdrücke und in seinem gesamten Verhalten; die schlüpfrigsten und zweideutigsten Dinge werden mit Vorliebe in den Bereich der Unterhaltung gezogen, und man lässt sich dabei so sehr gehen, dass man, ebenso wie es die Frauen in ihren Haremkreisen machen, auch auf etwa mitanwesende junge Leute oder Knaben nicht die mindeste Rücksicht nimmt.[941] Nicht anders handeln die Frauen; auch bei ihnen begegnet man dem Mangel an Zartgefühl, dem rohen, unverhüllten Berühren der geschlechtlichen Beziehungen, welches in den orientalischen Frauengemächern vorherrscht. In dieser geistigen Atmosphäre wächst die Kinderwelt heran, für welche somit das Geschlechtsleben weder in Wort noch That einen Schleier hat. Die dunkelsten Schattenseiten des Haremslebens liegen aber nach einer[S. 432] tieferen Richtung: in der Begünstigung unnatürlicher Laster. Ich sage: Begünstigung, denn irrig ist es doch, für dieselben den Harem allein verantwortlich zu machen. Ihr Entstehen ist nicht im Harem zu suchen, sie sind viel älter als dieser; wohl aber liefert er einen Boden, auf welchem die Giftpflanze üppig ins Kraut schiessen kann.
So hat unter den Frauen der Osmanen die Gepflogenheit, den Leibessegen zu entfernen, eine so gewaltige Ausdehnung gewonnen, dass die Regierung, aufgeschreckt über die verheerenden Folgen des Übels, sich vergebens bemüht, eine wirksame Abhilfe zu finden.[942] Da der Korân darüber schweigt, so konnten sich auch die islamitischen Gesetzgeber zu einer strengen Bestrafung dieser Handlung nicht verstehen. Auch in Persien, wo dem unverheirateten Mädchen, der Witwe oder Geschiedenen, welche etwa gebären würde, der Tod gewiss wäre, enden alle unehelichen Schwangerschaften mit Ekbolen; und die Sache wird ziemlich öffentlich betrieben, ihr auch kein Hindernis in den Weg gelegt. Dagegen kommt es niemals vor, dass, wie in den höheren Ständen der Türkei, die Frau, nachdem sie zwei Kinder geboren, mit Wissen ihres Mannes von nun an Abortus hervorruft, teils um ihre Körperschönheit zu erhalten, teils um die Nachkommenschaft zu verringern.[943] Da aber die Sitte der Fruchtentfernung nicht bloss im Harem auftritt, sondern auch bei vielen anderen, nicht einmal polygynischen, ja selbst hochgesitteten Völkern in weit grösserer Übung ist, als man meint, so ist deren Veranlassung mit weit mehr Recht zunächst in wirtschaftlichen Ursachen zu suchen, dieselbe also ein Ergebnis weder der Vielweiberei noch selbst des Harems, so sehr sie auch letzterer begünstigen mag. In weit grösserem Masse ist er jedoch verantwortlich für das, was man als „widernatürliche Laster“ bezeichnet, welche nicht wenig zur Entvölkerung des Orients beitragen. In den vielen müssigen Stunden und den langen Fasten des Harems oder der Zenana lernen die Frauen sehr leicht die Verirrungen der Masturbation,[S. 433] der sogenannten lesbischen Liebe (Cunnilingua) und des Tribadismus, jenes physischen Verkehrs zwischen zwei Frauen, welche die Römer mit den Wörtern Frictrices oder Subigatrices tauften. Allein schon der Umstand, dass die geschichtliche Überlieferung den Ursprung dieser Ausschweifung nach Lesbos[944] verlegt, also ausserhalb des Haremgebietes, deutet darauf hin, dass beide Erscheinungen nicht notwendig miteinander zusammenhängen. Thatsache ist allerdings, dass der Tribadismus unter den morgenländischen Mädchen ungemein verbreitet ist,[945] bekannt aber auch, dass er ferne vom Oriente und vom Harem, inmitten der zivilisierten Gesellschaft, im Schwange geht.[946]
Neben dem Tribadismus tritt die Liebe zwischen Männern auf die Bühne; aber auch sie war und ist zu allen Zeiten und in allen Ländern, nicht bloss im Gebiete des Harems, viel verbreiteter als man denkt. Der Korân bestraft die Unzucht von Männern miteinander, bis sie Besserung versprechen, und in den ersten Zeiten des Islâms war man in dieser Hinsicht ziemlich strenge. Erst durch die näheren Beziehungen zu den Persern und besonders seitdem mit Beginn der Herrschaft der Abbassiden persische Sitten und Unsitten in den höheren Klassen der arabischen Gesellschaft mehr und mehr sich verbreiteten, griffen auch die widernatürlichen Laster mehr und mehr um sich, denn schon im Altertum erfreuten sich die Perser und Meder einer [S. 434]schmachvollen Berühmtheit in diesem Punkte. Die Knabenliebe (Päderastia) lernten die Perser, nach Herodots Bemerkung, von den Griechen, im Vendidad wird aber bereits Hyrkanien als das Land erwähnt, in welchem dieselbe betrieben werde.[947] Für den Islâm steht so viel fest, dass am Hofe von Bagdad schon zur Zeit Harun-al-Raschids diese Sitte eine ganz verbreitete war, deren man sich weder schämte, noch sie als etwas Übles ansah. Ja, die Sufi machten sie fast zum Dogma.[948] Der von Hafis und anderen Dichtern des Orients besungene Antinous war ehedem auch bei den sinnlichen Osmanen eine offen anerkannte Erscheinung. Man sprach von Machboub als etwas Selbstverständliches, wie unsere Jeunesse dorée von ihren Maitressen spricht. Der Page gehörte beinahe zum Hausstand des Grossen, der Mosaïb (Günstling) bekleidete eine öffentliche Stellung bei Hofe.[949] Die Nachkommen jener Horden, welche unter Dschingis-Chan und Timur Mittel- und Nordasien erobert, die ösbekischen Chane, hatten es später darin so weit gebracht, dass es bei ihnen für ein schlimmes Zeichen und für eine Schwäche galt, wenn einer von dem allgemeinen Gebrauche sich frei erhielt. Heute noch erreicht derselbe, welcher, geographisch gesprochen, an den Ufern des Bosporus anfängt und auf dem Wege nach Osten allmählich merklicher wird, seinen Gipfelpunkt in Bochârâ. Über Dinge, die unser europäisches Gefühl aufs höchste empören würden, wird hier wie über einen erlaubten Scherz verhandelt, und selbst die Religion, die einen leichten Fehltritt im Waschen oder anderen Vorschriften mit dem Tode bestraft, drückt hier ein Auge zu.[950] Dr. Polak[S. 435] bezeugt, dass auch in Persien widernatürliche Gepflogenheiten in den Städten sehr verbreitet seien und „dass sie nicht so allgemeine Entrüstung hervorrufen, wie es im Interesse der ganzen Menschheit zu wünschen wäre.“[951] Wie in den meisten orientalischen Ländern, so ist die Knabenliebe auch im westlichen Nordafrika, in Marokko, allgemein verbreitet; jeder der höheren Beamten hält eine mehr oder weniger grosse Zahl von verschnittenen Negerburschen.[952] Man darf wohl annehmen, dass die Sitte mit dem Islâm und dem Harem dahin gebracht worden ist. Und dennoch sind weder der eine, noch der andere ihre Geburtsstätte.
Die mythologische Überlieferung führt den Ursprung der Knabenliebe auf Orpheus und die Thraker zurück. Jedenfalls war sie im Altertume längst in Übung. Karthago war darob berüchtigt und die Karthager rühmten sich ihrer Kraft in deren Ausübung. Aristoteles erzählt, dass dieselbe auf der Insel Kreta gesetzlich erlaubt war, um einer zu starken Volksvermehrung entgegenzuwirken. Von deren Ausdehnung im alten Hellas und in Rom wird noch an späterer Stelle die Rede sein. Bedeutsam ist, dass es in Europa ein Land gibt, wo die dorische Knabenliebe in der verklärten Gestalt genau so, wie die Alten sie uns darstellen, noch heutzutage blüht und auf das Innigste mit der Sitte und Lebensweise seiner Bewohner verwachsen ist. Dieses Land ist nach den Mitteilungen G. v. Hahns, derjenige Teil Albaniens, den die Gegen[953] bewohnen, der Zweig eines Volkes, das man als die reinsten Nachkommen der alten Illyrier betrachten darf, von welchen auch die Vorväter der Hellenen abstammten. In hoher Form ward Päderastie bei der Entdeckung Amerikas fast überall unter den Eingeborenen angetroffen, wenngleich bei den höher stehenden Völkern als Laster gebrandmarkt und bestraft. An vielen Stellen,[S. 436] besonders der Nordwestküste, ist sie jetzt noch gang und gäbe. Von Aljaschka bis hinab nach Darien sieht man als Frauen erzogene und gekleidete Jünglinge, die mit den Grossen, den Häuptlingen und Herren, im Konkubinat leben.[954] Ähnliche Gepflogenheiten herrschen bei den Aleuten und den Inuit oder Eskimo. Dass sie bis in manche Kreise der höchstgesitteten Nationen hineinragen, will ich nicht weiter berühren.[955] Diese Beispiele beweisen zur Genüge, dass jene beklagenswerten Verirrungen nicht an den Harem, noch weniger an die Vielweiberei gebunden sind. Sicher ist dagegen, dass sie im Bereiche des Harems und der Sonderung der Geschlechter den günstigsten Boden finden. In der Türkei ist indessen, so versichert Murad Efendi, die erwähnte Unsitte durch die neuen gesellschaftlichen Anschauungen nicht allein in der „Gesellschaft“ bedeutend gemindert, sondern gänzlich in den Schatten verbannt worden. Wo sie allenfalls noch ihr Unwesen treibt, darf sie doch nicht mehr eingestanden werden, sondern gehört, wie im Abendlande, zu den heimlichen Lastern. „Man zieht ihr die Mütze über die Ohren.“[956]
Diese kurze Erörterung der hier zuletzt erwähnten Thatsachen, welche gewöhnlich, weil dem Gefühle des Kulturmenschen zuwider, mit Stillschweigen übergangen werden, hielt ich nicht für unstatthaft, denn in der Völkerkunde gibt es nach des vortrefflichen Post Bemerkung die Frage gar nicht, ob irgend etwas gut oder böse, recht oder unrecht, wahr oder unwahr, schön oder unschön sei; sondern es gibt nur die Frage, ob irgend eine Anschauung im Völkerleben existiert, und weshalb sie existiert oder weshalb nicht, ohne dass der individuellen Wertschätzung einer solchen Sitte oder einer solchen Anschauung irgend ein Ge[S. 437]wicht beigelegt wird. Rückhaltlos unterschreibe ich die Worte des Bremer Rechtsgelehrten, dem die Aufhellung der Geschichte der Familie schon so viel verdankt, und der da spricht: „Die individuelle Wertschätzung ist ein ganz schwankender Faktor, welcher jede streng wissenschaftliche Behandlung des ethnologischen Gebiets unmöglich macht. Sittliche Entrüstung des Ethnologen, dass ein Volk ehelos lebt, dass es dem Kannibalismus huldigt, dass es Menschenopfer bringt, dass es seine Verbrecher spiesst oder rädert oder seine Hexen und Zauberer verbrennt, trägt gar nichts zur Lösung ethnologischer Probleme bei; sie verwirrt nur den Kausalzusammenhang der ethnologischen Erscheinungen, dem der Ethnologe mit dem kalten Auge eines Anatomen nachzuspüren berufen ist. Wer imstande ist, von unsinnigen Sitten und unsinnigen Volksanschauungen zu sprechen, der ist für die ethnologische Forschung noch nicht reif.“[957]
[906] S. G. W. Benjamin. Persia and the Persians. Lond. 1887. S. 104.
[907] Dahin gehört unter anderen die von Lady Montague erfundene Fabel vom sogenannten „Schnupftuchwerfen“. Wenn der Sultan oder Pascha einer Odaliske seine Gunst erweisen will, so wirft er angeblich, nachdem die Damen des Harems ihn in reizender Vereinigung guitarreklimpernd umgaukelt haben, der Erwählten sein Schnupftuch zu. Kommt nie vor. In früheren Zeiten würde die Holde wahrscheinlich nicht recht gewusst haben, wozu sie das Geschenk gebrauchen sollte; und jetzt wurde sie es für ein gar zu bescheidenes Zeichen der Anerkennung halten.
[908] Globus. Bd. XVI. S. 167.
[909] Maltzan. Orientalische Haremsstudien, in der „Neuen Freien Presse“ vom 27. August 1873.
[910] So herrschte z. B. im Harem des Chidiv Ismail Pascha, also des Krösus unter allen Haremsbesitzern, dessen jährliche Haremsausgaben auf etwa sechs Millionen Mark veranschlagt wurden, ein gänzlicher Mangel an jenem Gefässe, welches die Franzosen (euphemistisch) un vase nennen. So berichtet Emmeline Lott. Harem Life in Egypt and Constantinople. London 1865. Bd. II. S. 80. Die Feder bleibt stille stehen, wenn man sich die Folgen dieser Vasenlosigkeit denkt.
[911] Murad Efendi. A. a. O. S. 6.
[912] Dr. Moritz Hoernes. Dinarische Wanderungen. Kultur- und Landschaftsbilder aus Bosnien und der Herzegowina. Wien 1888. S. 70.
[913] Polak. A. a. O. Bd. I. S. 161.
[914] Benjamin. Persia and the Persians. S. 31.
[915] Aus Persien. Aufzeichnungen eines Österreichers. Wien 1882. S. 95.
[916] Siehe die hübsche Abbildung: A. a. O. S. 171.
[917] Hellwald. Zentralasien. Leipzig 1880. S. 28.
[918] A. a. O. S. 317.
[919] Kremer. Kulturgesch. des Orients. Bd. II. S. 125.
[920] Ausland 1863. S. 703.
[921] Murad Efendi. Türkische Skizzen. Bd. II. S. 5
[922] Heinrich Brugsch. Im Lande der Sonne. Wanderungen in Persien. Berlin 1886. S. 245.
[923] Vincenti. Ehe im Islam. S. 18
[924] Wills. A. a. O. & 66. — Benjamin. A. a. O. S. 453.
[925] Polak. Persien. Bd. I. S. 215.
[926] Wills. A. a. O. S. 67.
[927] Polak. A. a. O. S. 226.
[928] Wills. A. a. O. S. 63.
[929] Brugsch. Im Lande der Sonne. S. 245.
[930] Murad Efendi. A. a. O. S. 24–25.
[931] Benjamin. Persia and the Persians. S. 105.
[932] Emmeline Lott. Harem Life. Bd. I. S. 225–241.
[933] Maltzan in der Neuen Freien Presse vom 27. August 1873.
[934] Murad Efendi. A. a. O. S. 18.
[935] Über Land und Meer 1877. Bd. I. S. 114.
[936] Murad Efendi. A. a. O. S. 42.
[937] Über Land und Meer. A. a. O.
[938] Bericht einer ungenannten Dame: „Eine Stunde im Harem“ (Neues Wiener Tagblatt vom 15. September 1881).
[939] Hermann Vámbéry. Der Islâm im neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1875. S. 158–159.
[940] Moritz Lütke. Der Islâm und seine Völker. Gütersloh 1878. S. 128–129.
[941] A. a. O. S. 128.
[942] Stambul und das moderne Türkentum. Politische, soziale und biographische Bilder, von einem Osmanen. Leipzig 1877. Bd. I. S. 191.
[943] Polak. Persien. Bd. I. S. 217–218.
[944] Die durch attische Komiker der lesbischen Liebe beschuldigte griechische Dichterin Sappho hat bekanntlich Welcker reingewaschen. S. Welcker. Sappho von einem herrschenden Vorurteil befreit. Göttingen 1816.
[945] Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistor. Studien. S. 98.
[946] Diderot, ein freilich in diesem Falle nicht massgebender Gewährsmann, stellt in seinem zum Teil von empörendem Naturalismus strotzenden Roman La religieuse die Klöster als Brutstätten des Tribadismus hin. Wahrer ist, dass jenes widernatürliche Laster in geheimen Gesellschaften gewisser Grossstädte und in vielen Privatkreisen ausgeübt wird. Am bekanntesten sind die „alexandrinischen Gesellschaften“ in der Hauptstadt des prüden England und die Vestalinnen in Paris. Adolphe Belot hat endlich diesen Stoff zum Vorwurfe seines berüchtigten Romanes: Mademoiselle Girard, ma femme gemacht. Man vergl. auch über Tribadismus die Bemerkungen Mantegazzas. A. a. O. S. 99–100.
[947] Döllinger. Heidentum und Judentum. S. 376.
[948] Kremer. Kulturgesch. des Orients. Bd. II. S. 129–131.
[949] Murad Efendi. Türkische Skizzen. Bd. II. S. 4.
[950] „Oft sah ich“ — so berichtet der ungarische Reisende Vámbéry — „in Tschahrbag Abdullah-Chan, der ausserhalb der Stadt gelegen ist, Männer jedes Standes und Alters, die mit dem Kopf gegen die Wand stiessen, sich im Staube wälzten, die Kleider zerrissen, um den Grad ihrer Neigung dem Wesen kundzugeben, das in der Ferne unter einem Baume dem Anscheine nach mit einem Buche beschäftigt war. Ich hielt diesen Ort für verborgen und wunderte mich nicht darüber; wie gross war daher mein Erstaunen, als ich auf dem Rigistân in jeder Theebude ein solches Opfer sah, das der Spekulationsgeist, oft des eigenen Vaters, zum Magneten der Vorübergehenden hingesetzt hatte.“ (Hermann Vámbéry. Reise in Mittelasien. Leipzig 1873. S. 165.)
[951] Polak. Persien. Bd. I. S. 237.
[952] Oskar Lenz. Timbuktu. Reise durch Marokko, die Sahara und den Sudan. Leipzig 1884. Bd. I. S. 248.
[953] Ausland 1855. S. 356–358.
[954] Revue d’anthropologie 1878. S. 302.
[955] Näheres bei Mantegazza. Anthropologisch-kulturhistorische Studien. S. 106–113, welcher im kurzen Laufe seiner eigenen Erfahrungen unter den skandalösesten Anhängern dieser Verirrung einen französischen Journalisten, einen deutschen Dichter, einen italienischen Politiker und einen spanischen Rechtsgelehrten kennen gelernt hat, alles Männer von ausgezeichnetem Geschmack und hoher Bildung!
[956] Murad Efendi. Türkische Skizzen. Bd. II. S 4.
[957] Alb. Herm. Post. Einleitung in das Studium der ethnologischen Jurisprudenz. Oldenburg 1886. S. 53.
er zum Schlusse des vorigen Abschnittes bezeichnete ganz objektive Standpunkt ist auch festzuhalten bei der Besprechung der gesellschaftlichen Erscheinungen, welche den Inhalt dieses Kapitels ausmachen sollen. Es ist dafür hier die schicklichste Stelle, da sie, zwar keineswegs auf die moslimsche Welt beschränkt, doch an dort herrschende Einrichtungen sich anschliessen.
Auf einem kleinen Gebiete des Islâm, im Kreise der der Schiâh nachlebenden Völker, zu welchen vornehmlich die Perser gehören, kennt man ausser der rechtmässigen Ehe und dem gesetzlichen Konkubinate mit Sklavinnen noch eine dritte Eheform: die Ehe auf Zeit, und zwar auf eine vertragsmässige Zeit. Während die Akdi ganz unserer Ehefrau, der Gattin entspricht, heisst Sighe ein Weib, welches durch Vertrag auf bestimmte Zeit, die von einer Stunde bis zu neunundneunzig Jahren schwanken kann, gegen ein gewisses Entgelt und gegen festgesetzte Entschädigung bei eintretender Schwangerschaft, geheiratet wird. Während dieser ausgemachten Zeit geniesst sie die vollen Rechte einer Akdi, einer rechtmässigen Ehefrau. Nach Ablauf des Vertragstermins aber ist sie, wenn derselbe nicht verlängert oder erneuert wird, dem Manne gesetzlich verpönt. Für die mit ihr gezeugten Kinder ist der Mann zu sorgen verpflichtet, weshalb[S. 439] sich die Sighe nicht eher als vier Monate nach der Trennung an einen andern verheiraten soll; doch wird dieser Punkt häufig umgangen.[958] Es ist Sitte, dass der Perser auf Reisen, Expeditionen oder Bedienstungen in der Provinz nie seine Frau oder Frauen mitnimmt, sondern fast an jeder Station, wo er länger verweilt, eine Sighe heiratet. In der Stadt Kirman pflegen die Mollah jedem Ankömmlinge, der nur einige Tage sich dort aufhält, ein Weib zur Sighe anzubieten. Die Ehen auf eine Stunde sind besonders auf dem Lande gebräuchlich. Bei der Ankunft hervorragender oder gar fürstlicher Personen geben die Landleute ohne jegliche Skrupel ihre Töchter oder Schwestern gern zu derartigen Verbindungen her, welche ihnen stets ein schönes Geschenk einbringen, und wenn die Mädchen sich klug und gewandt benehmen, so können sie auf diese Art zu hohen und höchsten Stellen gelangen.[959] Der Vertrag auf die Dauer von neunundneunzig Jahren, wodurch die Sighe dem Akdiweibe thatsächlich gleichgestellt ist, wird aber gewöhnlich nur da abgeschlossen, wo bereits vier rechtmässige Frauen vorhanden sind; auf diese Weise umgeht man das Gesetz, denn das fünfte Weib ist nun den übrigen ebenbürtig, so dass also der Perser Weiber in unbeschränkter Zahl nehmen kann, was auch von einigen Grossen wirklich geschieht. Die Kinder aller drei Klassen, der Akdi, der Sklavinnen oder Kebsinnen und der Sighe sind nach dem Gesetz bei der Erbschaft gleichberechtigt; doch finden hierin auch willkürliche Ausnahmen statt.[960]
Vier Dinge sind erforderlich, um eine solche Zeitehe gesetzlich zu machen: der Vertrag, die persönlichen Bedingungen, von[S. 440] welchen gleich die Rede sein wird, die Morgengabe oder der Brautschatz, endlich die Feststellung der Zeitdauer. Fehlt eines dieser vier Erfordernisse, so sinkt die Verbindung zu einfachem Konkubinat, wenn nicht gar zur Prostitution herab. Der wichtigste Punkt ist natürlich der in gesetzlicher Form vor dem Mollah und mit Zustimmung beider Teile vereinbarte Vertrag. Die persönlichen Bedingungen sind sehr zahlreich; die wichtigste darunter ist, dass das Weib einer der vier Religionen: Islâm, Judentum, Christentum oder Magiertum angehöre. Hat ein Moslim irrtümlich eine Zeitehe mit einem Weibe eingegangen, welches keinem dieser Bekenntnisse angehört, so muss er darauf dringen, dass sie während der Dauer der Ehe des Weines und der unreinen Speisen sich enthalte. Auch wird ihm empfohlen, stets nur ein frommes, keusches Weib in zeitliche Ehe zu nehmen; wird sie aber mit einem Weibe von lockeren Sitten geschlossen, so hat dieses sich solcher während der Ehedauer gleichfalls zu enthalten. Die vom Manne zu entrichtende Morgengabe soll wäg- und messbar, sowie im Vertrage genau beschrieben sein, doch kann deren Höhe beliebig gross oder klein ausgemacht werden. Der Mann muss die Hälfte der vereinbarten Summe oder Güter erlegen, wenn er die Frau vor dem Vollzuge der Ehe entlässt; nach Vollzug hat sie auf das Ganze Anspruch, das ihr nicht vorenthalten werden darf; die vertragsmässig ausbedungene Dauer der Ehe bewegt sich in den oben angegebenen Grenzen. Eine wichtige Ergänzung des Vertrages liegt in dem Umstande, dass eine auf solche Weise geehelichte Frau nicht verstossen werden kann.[961]
Aus dem Mitgeteilten erhellt die Natur dieser eigentümlichen Bündnisse. Moriz Lüttke nennt sie kurzweg „legalisierte Prostitution“,[962] trifft aber damit schwerlich das Richtige, wenngleich die schiitische Zeitehe von den übrigen Moslemin allerdings verabscheut wird. Noch unzutreffender behauptet Arnold, Muhammed habe nach der Eroberung von Mekka zeitweilige Eheverbindungen „eingeführt.“[963] Nun herrschte aber, wie wir wissen, schon[S. 441] bei den vorislamitischen Arabern die sogenannte „Genussehe“ (Nikah-al-mota), und diese, welche mit der persischen Zeitehe die grösste Ähnlichkeit aufweist, war es, welche der Prophet zu wiederholten Malen genehmigte. Von einer „Einführung“ derselben kann keine Rede sein. Die Sunniten haben die Einrichtung verworfen, die Schiiten aber beibehalten mit der Begründung, dass Muhammed sie nicht verboten habe; was aber nicht verboten, sei erlaubt. Die Ehe auf Zeit ist also sehr alt und bei den Beduinen Arabiens, welche freilich, wie Palgrave gezeigt hat,[964] vom Islâm sehr wenig berührt wurden und noch tief im Heidentum stecken, hat sie sich auch bis in die Gegenwart erhalten. Im Dschebel Schammar gibt man, so berichtet der Reisende Guarmani, eine Tochter gerne dem ersten besten Fremden zur Frau und nimmt sie wieder zurück, wenn jener wegreist. Falls er in einer anberaumten Zeit nicht wiedergekommen ist, gilt die Ehe für geschieden.[965] Ja, selbst im heiligen Mekka kommen zwischen den Pilgern, aber auch mit Einheimischen zeitweilige Verbindungen zustande, welche als völlig regelmässig abgeschlossene Ehen angesehen werden und keineswegs für unmoralisch gelten.[966] In Persien ist die Zeitehe wahrscheinlich weit älter als die Einführung des Islâms und, wie Benjamin vermutet, ein Erbstück der alten Feueranbeter. Für das alte Bestehen einer solchen zeitweiligen Genussehe spricht die vorgeschichtliche Sage von der Zeitehe Rustems mit der Tochter des Königs von Semengân während eines Jagdausfluges. Die Frucht dieser Verbindung war die Geburt Sohrabs. Bezeichnend ist auch die Bedingung, dass eine der vier Religionen, welchen die Frau angehören soll, das zarathustrische Magiertum sein darf.[967] Elemente davon mögen noch in den heutigen Nestorianern stecken, welche sich für Nachkommen der alten Chaldäer ausgeben, in Wahrheit aber von den Aramäern abstammen. Die Nestorianer sind eine christliche Sekte, beson[S. 442]ders zahlreich in Aserbeidschan, und auch sie finden nicht die mindesten Bedenken, weder aus nationalen oder religiösen, noch aus sittlichen Rücksichten, ihre Töchter vertragsmässig für eine bestimmte Zahl Jahre oder Monate und gegen eine festgesetzte Summe an dort weilende Europäer zu überlassen. Dieses Geschäft wird gewöhnlich mit aller Regelmässigkeit und Förmlichkeit stets in Gegenwart der Eltern oder nächsten Verwandten des Mädchens, öfters sogar in Beisein eines nestorianischen Priesters, der vielleicht die Stelle des europäischen Notars vertritt, abgemacht. Man wetteifert sogar, jedem neuen Ankömmling aus Europa, von dem man einen längeren Aufenthalt voraussetzt, ein solches Mädchen aufzudringen. Sobald man über die Dauer dieser Matrimonio alla carta, wie sie dort nach fremdem Sprachgebrauch zuweilen genannt werden, und über den vom Manne zu leistenden Preis sich geeinigt hat, wird das Mädchen dem Europäer von den Verwandten in aller Förmlichkeit zugeführt. In den meisten Fällen zieht sogar die ganze elterliche Familie der Braut mit in das Haus des zeitweiligen Gemahls, der sie natürlich auf seine Kosten ernähren muss. Öfters wird dies zur ausdrücklichen Bedingung bei Abschluss des zeitweiligen Ehebündnisses gemacht. Diese Sitte ist bei den Europäern in Persien und besonders in Aserbeidschan bereits so alt und allgemein, dass das sittliche Gefühl dort nicht den geringsten Anstoss daran nimmt. Man fragt sich gegenseitig ganz unbefangen, wie sich die Frau Gemahlin befinde und was die Kinder machen. Eheliche Treue und zärtliche Pflege der Kinder kann man an diesen nestorianischen Frauen wohl rühmen. Sobald nach Ablauf der festgesetzten Zeit der Ehevertrag gelöst ist, wird ein neuer Vertrag geschlossen, wenn der Europäer nicht inzwischen seiner zeitweiligen Gemahlin müde geworden ist und ein ähnliches Verhältnis mit einer anderen anknüpfen will. Die entlassene Frau findet um so schneller einen neuen Freier unter ihren Landsleuten und Glaubensgenossen, als sie demselben eine hübsche Barschaft mitbringt, während sonst der heiratslustige Nestorianer seine Frau ihren Eltern abkaufen muss. Die aus dem zeitlichen Ehebunde hervorgegangenen Kinder gehen fast immer in den Besitz der Mutter über, welche ihnen eine fast zärtlichere[S. 443] Liebe bewahren soll, als für die später im neuen Ehebündnisse Geborenen. Auch der nestorianische Stiefvater soll seine Pflichten gegen diese mit der Heirat an ihn übergehende Kinder keineswegs vernachlässigen. Dagegen lassen die europäischen Väter, sobald ihre Bestimmung sie in die Heimat zurückruft, ihre Kinder, wie es scheint, ganz ohne Gewissensskrupel zurück und geben sie der ungewissesten Zukunft preis, ohne sich weiter um sie zu bekümmern.[968]
Zeitehen zwischen Europäern und Eingebornen, wie die hier geschilderten, sind nun durchaus keine vereinzelte, vielmehr eine ganz regelmässige Erscheinung in allen aussereuropäischen Gebieten, wo Weisse zu längerem Aufenthalte genötigt sind. Gustav Kreitner berichtet, in Shanghai sei ein Teil der Europäer wohl mit Japanerinnen vermählt, doch gelten solche Bündnisse nur auf eine vertragsmässig bestimmte Zeit.[969] Hugo Zöller, der Vielgewanderte, welcher für die Äusserungen des gesellschaftlichen Lebens stets ein offenes Auge hat, meldet das Nämliche von den Küsten Westafrikas. Die weissen Kaufleute, welche dort leben, sind fast alle nach Landesbrauch auf Zeit, d. h. für die Dauer ihres Aufenthaltes an einem bestimmten Punkte, mit einem schwarzen Weibe verehlicht. Diese Sitte entspricht so vollständig den eigenen Gebräuchen und den altüberlieferten Anschauungen der Neger, dass niemand etwas Arges daran findet.[970] Das Verhältnis der weissen Kaufleute zu ihren schwarzen Frauen ist in den Augen des Volkes ein vollkommen rechtmässiges, ohne jeden entehrenden Beigeschmack. Diese Frauen sind keine bezahlten Dirnen, sondern gehören durchweg den ersten Familien des Landes an. Ausser dem geringen an die Eltern bezahlten Kaufpreise braucht der weisse Mann bloss in mässiger Weise für den Unterhalt seiner schwarzen Frau zu sorgen.[971] Und anhänglich, wenn auch nicht immer treu sind diese Frauen, welche, wenn der weisse Mann nach Europa abdampft, zu den Sitten und der Lebensweise[S. 444] ihrer schwarzen Verwandten zurückkehren. Die durch ihre gelbe Hautfarbe leicht zu erkennenden Kinder von Europäern teilen, ausgenommen in einigen Kleinigkeiten, in aller und jeder Beziehung das Los ihrer Mutter.[972] Erst an sehr wenigen Orten ist durch den Einfluss der Mission bei einem verschwindend kleinen Teile der weiblichen Bevölkerung die ursprüngliche Naivetät durchbrochen und die Ansicht, dass kirchliche Verehelichung etwas besseres sei, zur Geltung gebracht worden. Ob die Mission damit besonders viel erreicht hat, lässt Zöller dahingestellt; soviel ist ihm zufolge sicher, dass sich ihre Schülerinnen nicht weniger gern als alle übrigen Töchter des Landes auf Zeit verheiraten.[973] Es geht nicht an, diese Verhältnisse, wie gar mancher vielleicht zu thun geneigt wäre, kurzweg als sittliche Verderbtheit zu brandmarken: kaum beim Weissen, der sich in einer Zwangslage[974] befindet, am allerwenigsten bei den Eingeborenen, deren Anschauungen hinsichtlich des Bundes der Geschlechter noch in viel älteren, weniger gereiften Begriffen wurzeln.
Darf die Ehe auf Zeit in keiner Weise etwa mit Prostitution verwechselt werden, so ist andererseits schwer die Grenze zu ziehen, wo sie sich vom Konkubinate scheidet, das nicht unpassend als „wilde Ehe“ bezeichnet worden ist. Bei Lichte besehen, ist jede wilde Ehe eigentlich eine Ehe auf Zeit, bloss mit dem Unterschiede, dass die Dauer des Verhältnisses nicht im vorhinein festgesetzt ist. Solche wilde Ehen — in denen unverkennbar die alte Gandharva oder die Mota-Ehe fortlebt — kommen fast überall auf Erden, bei den Völkern der verschiedensten Gesittung vor, im Süden wie im Norden. Sie sind ziemlich häufig in Sibirien und Albin Kohn gesteht, sie weit „zahmer“ gefunden[S. 445] zu haben, als die von der Kirche eingesegneten. In den verschiedenen Gegenden des weiten Landes, in welchen er gelebt, traf er wilde Ehen, in denen sich Mann und Frau herzlich geneigt waren und welche schon dreissig bis vierzig, ja nahezu fünfzig Jahre dauerten.[975] Bei dem Mangel irgend welcher Formen lassen sich in diesen losen Bündnissen natürlich vielerlei Abstufungen unterscheiden. Ein letzter Ausläufer derselben ist das Maitressenwesen, dessen Luxus sich die Grossen und Vornehmen der europäischen Kulturnationen gönnten und zum Teile noch heute gönnen. Im Kreise unserer geläuterten Moral, welche, dem Grundsatze nach, beiderseitige Beständigkeit in der Einehe und für diese im Interesse der staatlichen Bedürfnisse, welchen die Kirche ihre Stütze leiht, fest umschriebene Formen erheischt, ist Maitressentum als unsittlich, als Sittenverderbnis zu betrachten. Verhehlen darf man sich aber nicht, dass hier durchaus kein Erzeugnis einer bestimmten Gesittungsperiode, keine irgendwie neugeborene Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens vorliegt, sondern dass eine uralte Form des Geschlechtsumganges ihre früher allgemeine Anerkennung eingebüsst hat und dadurch zu einer verfemten herabgesunken ist. So ist — auf einem anderen Gebiete — im Lichte der Gegenwart Aberglaube geworden, was dereinst das Wesen des Glaubens überhaupt ausmachte.
Wie sehr die wilde Ehe den Menschen im Blute liegt, beweist der Umstand, dass selbst der hochgestiegene Europäer, wie die oben erwähnten Angaben über Zeitehe darthun, sich derselben gerne und willig überall bedient, wo die Verhältnisse es gestatten. Im ostindischen Archipel erlaubt die niederländische Regierung sogar dem Soldaten eine dunkle Eingeborne, ein Malayenmädchen, bei sich in der Kaserne zu behalten. Sie isst, trinkt, wohnt und schläft mit ihm und wird sogar von der Regierung aus täglich mit etwas Reis unterstützt. Auf Expeditionen begleitet sie den Krieger und teilt alle dessen Leiden und Freuden.[976] Aber[S. 446] auch für einen unverheirateten Herrn überhaupt ist es auf Java nicht anstössig, eine Verbindung mit einer Eingebornen zu haben, die gewöhnlich unter dem Namen einer „Haushälterin“ geht. Ja die braune Njaai gehört fast selbstverständlich zu jedem Haushalt, und bescheidenere, anspruchslosere Geschöpfe kann man sich in der That nicht vorstellen. Ruhig und lautlos arbeiten diese Mädchen,[977] helfen in der Regel dem Manne sparen und sind ihm treu, weil sie ein gutes Leben führen; Kindersegen wird durch Wasser vermieden, da man sie andernfalls, bei Schwangerschaft, in ihr Dorf zurückzusenden pflegt.[978] Und doch gilt dieses Verhältnis als eine Art von ungebundener Ehe, über deren Zeitdauer nicht das Geringste festgesetzt ist. Einzelnstehende Männer haben oft mehrere solcher Haushälterinnen für alles, und kein ehrsames Mädchen europäischer Abkunft wenn in Ostindien geboren und erzogen, stösst sich im geringsten an solche Vergangenheit ihres zukünftigen Gemahls. Damen besuchen nach wie vor mit ihren Männern und Brüdern das Haus, sie kichern und scherzen auch wohl einmal, wenn diese oder jene Kleinigkeit die Anwesenheit eines weiblichen Wesens — das natürlich nicht offiziell zum Vorscheine kommen darf — verrät; im ganzen aber finden sie die Sache durchaus in der Ordnung. Ganz anders jedoch, sobald die braune Haushälterin sich in eine weisse verwandelt. Im Punkte europäischer Maitressen denkt man sehr streng und schliesst ohne weiteres alle diejenigen aus, die sich über solche Bedenken hinwegsetzen.[979] Dem Erforscher der Sittengeschichte muss es zu denken geben, wenn er damit vergleicht, dass bei den Türken, welchen doch Sklavinnen als Nebenfrauen beliebig gestattet sind, aussereheliche Verhältnisse mit freien Frauen nicht nur auf das strengste ver[S. 447]boten sind, sondern dass derartige, allerdings seltene Vorkommnisse von der Gesellschaft, als der guten Sitte widersprechend, sogar viel schärfer gebrandmarkt werden als bei uns. Liegt darin nicht ein Fingerzeig, dass auf gewissen Gesittungsstufen der freie Geschlechtsverkehr nicht an sich, sondern bloss unter Ebenbürtigen als unmoralisch gilt? Und steckt nicht in der Missbilligung, welche im Abendlande eine „Missheirat“ (Mesalliance genannt) — dem Stande oder der Geistesbildung nach — noch heute trifft, ein Rest dieser Anschauung?
Es darf darnach wohl nicht Wunder nehmen, bei geringerem Kulturschatze einer noch weit weniger strengen Beurteilung der wilden Ehe zu begegnen. In Guatemala ist zunächst bei den Geistlichen das System der Queridas (Maitressen) allgemein und da deren häufig mehrere gleichzeitig sind, so besteht vielfach thatsächliche Vielweiberei, die jedoch nicht bloss auf den Klerus beschränkt bleibt, sondern an der sich auch ein guter Teil der übrigen einheimischen Bevölkerung in der Weise beteiligt, dass z. B. ein Pflanzer in der Stadt eine rechtmässige Ehefrau hat, daneben aber auf seiner entlegenen Pflanzung, wo er monatelang von seiner Familie entfernt leben muss oder leben will, eine oder mehrere Maitressen, meist Ladinomädchen, hält. Es giebt ganz gute Häuser im Lande, in denen nicht nur die ehelichen Kinder eines Mannes, sondern auch gelegentlich uneheliche zusammenleben; letztere sind natürlich von den Rechten der legitimen Kinder ausgeschlossen und nehmen eine mehr dienende Stellung ein.[980] Wie wenig derartige Verhältnisse Anstoss erregen, zeigt Folgendes: Einer der vielen natürlichen Söhne des Präsidenten der Republik, Barrios, studierte in der Hauptstadt. Als der Ehrentag seiner Prüfung herangekommen war, hielt der junge Mann seinen öffentlichen Vortrag, worin er mit warmen Worten schilderte, dass er sein Leben nicht den Fesseln einer herkömmlichen kaltherzigen Heirat, sondern dem Instinkt der freien Natur verdanke, welcher das Herz seines ausgezeichneten Vaters unwiderstehlich zu einem[S. 448] anderen Herzen gezogen habe. Die rechtmässige Gattin des Präsidenten war anwesend und hörte dem Vortrag ruhig zu.[981] Solche „Duldsamkeit“, wenn dieser uneigentliche Ausdruck hier gestattet ist, herrscht fast allenthalben im romanischen Amerika, dessen Bevölkerung, stark mit Indianerblut gemischt, trotz Christentum sich noch auf ziemlich niedriger Gesittungsstufe bewegt. In den venezuelanischen Llanos haben die Frauen buchstäblich keine andere Beschäftigung, als eine Kinderschar aufzuziehen, welche sie auch alle besitzen, gleichviel ob verheiratet oder nicht.[982] In Ecuador, wo doch sonst eine asketische Richtung sich kundgiebt, lebt nicht bloss ein Teil der männlichen Bevölkerung in wilder Ehe (Emancebarse), sondern auch die Halbindianerinnen halten sich ihre Liebhaber, wobei besonders Weisse der Gegenstand ihres erotischen Ehrgeizes sind. Auch in Brasilien verheiraten die Mulattinnen sich selten; es entspricht ihrer Neigung weit mehr in wilder Ehe zu leben, um dadurch freier mit Männern wechseln zu können.[983] Im Pampasgebiete sind wilde Ehen ganz allgemein; nach Dr. Otto Woysch in Uruguay allerdings hauptsächlich deshalb, weil der in weiter Entfernung wohnende Priester für die Einsegnung der Ehe so hohe Forderungen zu stellen pflegt, dass man seine Gegenwart häufig nicht erkaufen kann.[984] Allein der wahre Grund liegt tiefer. Es hat nämlich bei allen diesen halbschlächtigen Völkern der Begriff der Heiligkeit der Ehe noch keine rechte Wurzel gefasst. Er ist ein blosses Kirchengebot und noch nicht aus dem Volksgeiste selbst hervorgewachsen; daher die Erscheinung, dass auch dort, wo eine straffe Kirchenzucht diesen Begriff zu entwickeln suchte, das Volk beim Aufhören derselben sogleich zu den alten Gepflogenheiten zurückkehrte. Es ist dies keine Verwilderung, sondern das Volk war einfach für die höhere Auffassung noch nicht reif. So sind z. B. in Paraguay unter der Herrschaft der sehr stark auf eine Vermehrung des Volkes be[S. 449]dachten Jesuiten Massenverheiratungen die Regel gewesen. Nach der Aufhebung des Ordens aber wurde die Ehe mit grösster Gleichgültigkeit betrachtet;[985] schon unter Diktator Francia und Präsident Lopez war die Ehe — bis dahin offenbar ein Zwangsinstitut — nicht mehr sonderlich beliebt und wurde auch von oben herab keineswegs begünstigt; heute aber ist sie in den mittleren und niederen Volksschichten geradezu eine Ausnahme.[986] Selbst wohlerzogene Leute findet man häufig nicht verheiratet.[987] Hugo Zöller belauschte auf einem Balle der Quiguáberás, d. h. der „Mädchen vom goldenen Kamme“, welche den Bürgerstand darstellen, folgendes kennzeichnende Zwiegespräch: „Doña Luz“, flüsterte einer seiner Reisebegleiter, dem das, was er sagte, gewiss nicht ernst gemeint war, „willst du mich heiraten?“ — „Das kennt man bei uns zu Lande nicht.“ — „So, so! Und was kennt man denn?“ — „Man liebt!“[988] Es kann jeder in Paraguay nach seiner Art selig werden, sowohl in der Religion, wie in der Liebe. Das Individuum geniesst auf beiden Gebieten unbedingte Freiheit. Zwar besteht die kirchliche Ehe, wie auch für die Ausländer die Zivilehe zu vollem Rechte, zumeist aber begnügt man sich mit sogenannten „Kontrakten“, die nach kurz oder lang wieder aufgelöst werden können, je nachdem die Vertragschliessenden es für gut befinden. Für die Kinder einer solchen wechselreichen Verbindung wird in dem Frauenstaate Paraguay ebenso gut gesorgt, wie für die Sprösslinge der seltenen kirchlichen Ehen, sowohl durch die Sitte, wie durch das Gesetz.[989] Es sind also jene Bündnisse wahre „Zeitehen“, welche durch den natürlichen Zwang der Umstände infolge des Missverhältnisses der Geschlechter neuerdings sogar einen polygamischen Charakter angenommen haben. Die aus einer Mischung von Spaniern und Guaraniindianern hervor[S. 450]gegangene Bevölkerung Paraguays ist nämlich von etwa 1300000 Köpfen, welche sie noch vor dem grossen siebenjährigen Kriege 1864–1870 gegen den Dreibund besass, auf dermalen bloss 300000 herabgesunken; darunter sind aber nur etwa 100000 männlichen Geschlechts, und von diesen entfällt wieder der bei weitem überwiegende Teil auf die ganz kleinen Kinder, so dass es noch immer jener Orte in Menge giebt, in denen bloss auf zwanzig oder selbst auf dreissig Frauen ein Mann entfällt.[990]
Die geschilderten Sitten inmitten von Völkern, welche dem Christentum, wenn auch nur seiner Peripherie, angehören, erklären sich leicht und ungezwungen Jedem, welcher die Wirkung der Berührung zweier verschiedener Gesittungskreise kennt. Diese ist um so grösser, wo die Berührung nicht bloss auf das äusserliche Nebeneinanderleben beschränkt bleibt, sondern auch Blutmischungen stattfinden. In dem dadurch erzeugten Mischlingsschlage leben die Sitten und Anschauungen der unteren Stufen noch lange und zähe fort. Mit verschwindenden Ausnahmen haben aber alle Südamerikaner mehr oder weniger Indianerblut in den Adern. Von ehelichen Verhältnissen in unserem Sinne besitzt nun der rote Mann, trotz der Taufe, keine Vorstellung. In Ecuador haben sich die Indianer das unserem Ehebegriff durchaus widerstreitende Vorrecht bewahrt, auf Probe zu heiraten. Der Mann darf sich nach Verlauf eines Jahres von seiner Auserwählten scheiden, wenn diese ihm dann noch keine Nachkommenschaft beschert hat oder solche in gewisse Aussicht stellt; beide Teile können dann nach Belieben neue Verbindungen eingehen.[991] So ist es nicht Gesunkenheit, sondern der naive Ausklang anderwärts längst überwundener Sitten, wenn Francis Head auf den Pampas des Laplata, wo er einst eine junge Frau, die ein allerliebstes Kind an der Brust hatte, fragte, wer wohl der Vater der Criatura (Säuglings) sei, darauf die gelassene Antwort erhielt: Quien sabe? (Wer kann das wissen?)[992][S. 451] Desgleichen erzählt Frau Agassiz, dass sie im Amazonasgebiete in der Hütte freundlicher Menschen indianischer Abkunft mit der Tochter ins Gespräch kam und unter andern an sie die Frage richtete, was ihr Vater mache? Lächelnd fiel ihr die Mutter in die Rede und sagte, als ob sich die Sache von selbst verstehe: „Sie hat gar keinen Vater, sie ist ein Kind des Zufalls.“ (Não tem pai; é filha de fortuna). Die Tochter ihrerseits zeigte Frau Agassiz zwei Kinder, die ihr gehörten und weit hellfarbiger waren als sie selber. Auf die Frage, ob der Vater der Kleinen auch mit in den Krieg gezogen sei, gab sie mit der grössten Gemütsruhe zur Antwort: „Sie haben gar keinen Vater.“ Auf solche Weise drücken sich überhaupt die Indianerinnen und Mestizinnen inbezug auf ihre nicht einer Ehe entsprossenen Kinder aus und finden das ganz natürlich. Für sie liegt darin nichts Beschämendes. Das Verhältnis ist ja so ganz allgemein, dass das Gegenteil für eine Ausnahme gelten kann.[993] Unter den Schwarzen Brasiliens, d. h. unter den Sklaven, sind vollends regelrechte Ehen niemals geschlossen oder auch nur von ihren weissen und christlichen Besitzern gewünscht worden.[994] Es wäre kulturgeschichtlich ein schwerer Missgriff, wollte man solche Zustände in jenen Kreisen etwa mit dem gleichen Massstabe messen, der in der Sphäre unserer Gesittung[995] auf sie Anwendung[S. 452] finden müsste. Dies hat eine unparteiische, kritische Beurteilung stets im Auge zu behalten.
[958] Der französische Reisende Marcel Dieulafoy, welcher in jüngster Zeit so Ausserordentliches für die Erforschung Persiens geleistet hat, sagt, dass diejenigen Frauen, welche „Ehe auf Zeit“ eingehen, das Recht besitzen, sich alle 25 Tage wieder zu verheiraten. (Globus. Bd. XLIV. S. 357.)
[959] Dergleichen Ehen werden namentlich durch die Mollah befördert, welche fette Sporteln daraus lösen. (Ausland 1862. S. 410.) Nach Dieulafoy geben sie aber schon gegen ein geringes Entgelt von 1–1¼ M solchen Verbindungen eine religiöse Weihe. Ihr Wahlspruch ist: Grosser Umsatz bei geringem Nutzen.
[960] Polak. Persien. Bd. I. S. 207–208.
[961] Benjamin. Persia and the Persians. S. 451–452.
[962] Lüttke. Der Islam und seine Völker. S. 121.
[963] Arnold. Der Islâm. S. 156.
[964] Palgrave. Narrative of a year’s journey through Central and Eastern Arabia. Bd. I. S. 9.
[965] Globus. Bd. IX. S. 249, und Ausland 1866. S. 499.
[966] Nach Heinrich von Maltzan, in: Globus. Bd. XVI. S. 166.
[967] Benjamin. A. a. O. S. 451.
[968] Ausland 1851. S. 822–823.
[969] Kreitner. Im fernen Osten. S. 125.
[970] Zöller. Forschungsreisen in Kamerun. Bd. II. S. 67.
[971] Zöller. Das Togoland und die Sklavenküste. S. 245.
[972] Zöller. Kamerun. Bd. II. S. 77.
[973] A. a. O. S. 67.
[974] Die Erfahrung hat gelehrt, dass Europäerinnen, falls ihnen nicht ein ganz ausserordentlicher Komfort zur Verfügung steht, das Klima der Tropen sehr viel schlechter als ihre Männer ertragen, dass sie nach jeder Geburt leicht dahinsiechen und vor allem bestürzend schnell altern. Alle wirklichen Verheiratungen weisser Männer mit schwarzen Frauen haben aber stets früher oder später zu einem schlimmen Ende geführt.
[975] Albin Kohn. Sibirien und das Amurgebiet. Leipzig 1876. Bd. I. S. 292.
[976] Dr. Jos. Bechtinger. Der hinkende Teufel im ostindischen Archipel. Wien 1873. S. 159. Bei solchen Expeditionen, sowie auf Schiffen soll unter den Soldaten auch manchmal Polyandrie vorkommen, und zwar unter geregelten Formen: zwei oder drei Soldaten machen gewissermassen Verträge wegen einer Frau. So berichtet: Dr. Otto Kuntze. Um die Erde. S. 258.
[977] Zöller. Rund um die Erde. Bd. II. S. 405.
[978] Kuntze. A. a. O.
[979] Zöller. A. a. O.
[980] Dr. Otto Stoll. Guatemala. Reisen und Schilderungen aus den Jahren 1878–1883. Leipzig 1876. S. 125.
[981] A. a. O. S. 143.
[982] Ausland. 1863. S. 938.
[983] Ausland. 1866. S. 710.
[984] Ausland. 1864. S. 310.
[985] Dr. E. Gothein. Der christlich-soziale Staat der Jesuiten in Paraguay. Leipzig 1883. S. 45.
[986] H. Zöller. Pampas und Anden. S. 94.
[987] Ausland 1871. S. 8.
[988] Zöller. A. a. O. S. 97.
[989] Ernst Mevert. Ein Jahr zu Pferde. Reisen in Paraguay. Wandsbeck 1883. S. 96–97.
[990] Zöller. A. a. O. S. 94.
[991] Globus. Bd. XII. S. 357.
[992] Ausland 1863. S. 938.
[993] Globus. Bd. XIII. S. 36.
[994] H. Zöller. Die Deutschen im brasilianischen Urwalde. Berlin und Stuttgart 1883. Bd. I. S. 142.
[995] Dass Ähnliches, wenn auch hoffentlich nur ausnahmsweise, unter den Kulturnationen möglich ist, beweist folgende, im September 1886 aus Marseille gemeldete Begebenheit: die Kunstreiterin Melita Estrelles hatte im Jahre 1875 ein neugeborenes Kind zu Bauersleuten in die Bretagne zur Pflege gegeben. Das Kostgeld war pünktlich gezahlt, allein Berufspflichten hinderten die Mutter die ganze Zeit über, auch nur ein einziges Mal ihr Kind zu besuchen. Der kleine Paul hat jetzt erlernt, was in der Dorfschule zu lernen möglich, und nun bringt ihn seine Pflegemutter der schönen Melita ins Haus. Bei seinem Anblicke war Melita einer Ohnmacht nahe. „Dieses Ungetüm“, rief sie aus, „ist nicht mein Kind! Ihr habt es mir vertauscht und wollt mir nun einen Bauerntölpel aufbürden.“ Sie eilt zum Gericht und sagt: „Herr Richter, sehen Sie meine Haare, meine Augen, meinen Mund und meine Nase an und vergleichen Sie dieses Monstrum mit mir.“ Der Richter, ein galanter Mann, nickte zustimmend, dann aber wagte er die Frage: „Mademoiselle, wie hat denn der Vater des kleinen Paul ausgesehen?“ Melita versinkt in Nachdenken. „Der Vater! der Vater! warten Sie ein wenig.“ Endlich schüttelt sie verlegen die Locken: „Es ist Alles umsonst, nach elf Jahren, wer kann sich an solche Einzelheiten erinnern.“ Sie wendet sich an ihr Kind. „Nun meinetwegen, küsse mich, vielleicht komme ich später darauf, wem du gleichst.“ Sie wirft dem verblüfften Richter ein Kusshändchen zu und hüpft hinaus.
ie Patriarchalfamilie im Kreise des Islâms mit ihren verwandten Erscheinungen hat den Stoff zu den vorhergehenden Abschnitten geliefert. Es liegt uns nunmehr ob, dieselbe in ihrer geschichtlichen Entwicklung in einem anderen Gesittungsbereiche zu verfolgen, welches um so höheres Interesse beansprucht, als mit dessen Trägern gemeiniglich eine Stammverwandtschaft der fortgeschrittensten Völker unseres Erdteiles angenommen wird. Ich spreche von Indien. Doch ehe ich fortfahre, ist ein kurze ethnologische Abschweifung unerlässlich.
Die ältesten Ureinwohner der mit dichten Waldungen bedeckten Halbinsel Vorderindiens waren Schwarze, unter welchen sich wohl von jeher zwei Gruppen unterscheiden liessen: kleine, negritoähnliche Menschen mit Wollhaar und platten Gesichtszügen im Osten und im Zentrum; grössere, glatthaarige, intelligentere, den Australiern ähnliche im Süden und Westen. Auf zwei Wegen gelangten fremde Eindringlinge zu diesen Ureinwohnern, mit welchen sie im Laufe der Zeit mancherlei Blutmischungen eingingen. Das Thor des Brahmaputra gestattete in vorgeschichtlicher Zeit zuerst Leuten gelber Hautfarbe Einlass, aus deren Vermengung mit den Schwarzen das protodravidische und später, durch Verbindung mit diesem das dravidische Volkstum hervorging. In weit späteren Jahren drangen dann durch die Pforte von Kâbûl im Westen[S. 454] turktatarische Einwanderer nach Indien; sie befestigten ihre Herrschaft zuvörderst im ganzen Stromgebiete des Indus und einem Teile des Gangeslandes, rückten aber später in das Innere der Halbinsel vor und drangen zuletzt in Dekkan ein. Diese Turktataren hatten unter den dunkleren Ureinwohnern mächtige, gut eingerichtete Staaten gegründet, als etwa fünfzehn Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung durch die Pforte von Kâbûl abermals Fremdlinge nahten. Es waren dies hellfarbige Menschen. Sie redeten eine längst verlorene Sprache, aus welcher das Sanskrit sich entwickelte. In Ermanglung eines besseren Namens bezeichnet man sie als Arier, von Sanskrit ârya, d. h. der Angehörige des eigenen Stammes, als Beiwort „der Ehrenwerte“. Es ist ein gesichertes Forschungsergebnis, dass die meisten Völker Europas Sprachen reden, welche mit den aus dem verlorenen Idiom dieser Arier entsprossenen in enger Beziehung stehen, dass somit sie alle in der arischen Ursprache ihre Wurzel haben. Nach ihren äussersten Gliedern nennt man diese Sprachengruppe die indogermanische. Aus der Verwandtschaft der Sprachen darf man jedoch keineswegs auf die leibliche Verwandtschaft der Menschen schliessen, welche diese Sprache reden. Verleitet durch den Befund der vergleichenden Sprachwissenschaft hat man allerdings auch eine Rasse arischer Völker aufgestellt, allein mit Recht hat Mantegazza die landläufige Annahme, dass die Völker indogermanischer Zunge ursprünglich von einem einzigen Urvolke, eben den Ariern, auch in leiblicher Hinsicht, also dem Blute nach, abstammten, als ein „naives ethnologisches Märchen“ bezeichnet. Zu gleichem Ergebnisse gelangt Dr. Gustave Le Bon. Anthropologisch haben die Europäer mit den asiatischen Indogermanen nichts zu schaffen, wie schon die völlige Verschiedenheit ihres Typus hinlänglich beweist. Aber auch in Indien war der Einfluss der arischen Ankömmlinge auf das Blut der sehr allmählich unterworfenen Eingeborenen, allem Anscheine nach, äusserst schwach. Den Typus ihrer körperlichen Beschaffenheit und Gesichtszüge erhielten die Hindu der Geschichte von den Turktataren, während sie den Ariern ihre Sprache, ihre Charakterbildung, ihre Religion und Sitten verdanken, wenigstens zum[S. 455] grossen Teile.[996] Schon seit lange giebt es in Indien keine Arier mehr.[997] Wohl sind die heutigen Sprachen Indiens in der Mehrzahl indogermanisch, aber das Volk ist physisch nicht arisch. Theodor Pösche sagt: nicht mehr arisch.[998] Es ist aber der Masse nach überhaupt niemals arisch gewesen. Dennoch sind für uns bloss die Arier wichtig, weil auf sie allein unsere spärliche Kunde der indischen Vorzeit sich beschränkt.
Die noch nicht ausgetragene Streitfrage nach den arischen Ursitzen möge hier unerörtert bleiben. Gleichviel ob die Heimat der Arier in Asien oder in Europa gesucht werde, es ändert dies nichts an der Thatsache, dass es nur ein an Kopfzahl geringer Volkshaufe war, welcher an Indiens Thoren pochte, gering im Verhältnis zu der in dem fruchtbaren Lande schon vorhandenen eingeborenen Bevölkerung. Einiges Licht auf die Zustände dieser Menschen vor ihrer Einwanderung nach Indien wirft bloss die vergleichende Sprachforschung. Wenn wir ihren Ergebnissen trauen dürften, so hätten die Urarier das Leben von tüchtigen Hirtenvölkern geführt, welche jedoch bereits zu sesshaften Niederlassungen gekommen waren und auch soviel Ackerbau trieben, als es Nomaden eben thun; jedenfalls war ihnen an der Viehzucht alles gelegen. Sie hatten Häuser, vornehmlich aus Holz und Balken gezimmert, wie denn schon Zimmerhandwerk und Metall bekannt gewesen, hatten abgeschlossene Höfe und Hürden für ihr Vieh.[999] Deutlich lässt dieses Bild erkennen, dass jenes arische Urvolk den eigentlichen menschlichen Urzuständen schon weit entrückt war, dass es schon eine beträchtliche Gesittung erworben, welche jene der Ureuropäer, wie die Höhlenfunde sie enthüllen, hoch überragte. Es überrascht daher nicht, zu vernehmen, dass in Haus und Hof der[S. 456] Vater herrschte, der Schirm- und Schutzherr der Familie, ihm zur Seite als Herrin die Frau und Mutter der Kinder, während die Namen der Ehegatten, von Vater und Mutter, die von Sohn und Tochter, Bruder und Schwester und von Verwandten auf ein sittlich edles Familienwesen deuten. Diese alten Arier standen also schon bei ihrem ersten geschichtlichen Auftauchen in vollem Patriarchate. Eben dieses vorgerückten Kulturstandes halber geht es jedoch nicht an, die damaligen Verhältnisse für die ursprünglichen zu erklären. Vernünftigerweise muss man annehmen, dass mit der übrigen Gesittung auch die arische Familie mannigfache Entwicklungsphasen durchlebt habe, ehe sie auf der geschilderten Höhe uns entgegenzutreten vermochte. In der That habe ich bereits wiederholt auf einzelne Umstände hingewiesen, welche auf eine dereinst grössere Lockerheit der Familienbande deuten, wie sie den Zeiten der Muttergruppe eigen gewesen. Neuestens hat freilich Dr. C. N. Starcke versucht, für die Arier, sowie für die Menschheit überhaupt, die Muttergruppe oder, wie er sich ausdrückt, die Weiberlinie als ältere Entwicklungsperiode in Abrede zu ziehen; wo er ihre Spuren oder gar ihr Vorhandensein nicht zu leugnen vermag, dort fasst er sie als eine spätere Bildung auf, als einen Endpunkt, nicht als einen Ausgangspunkt der Familienentwicklung. Er bekämpft, was er den „Irrtum der kommunistischen Hypothese“ nennt, die Annahme einer urzeitlichen Ungebundenheit (Promiskuität), die er vielmehr stets für später entwickelt und als einen Beweis freundschaftlicher Gesinnungen erklärt.[1000] Der dänische Forscher stellt die, wie mir däucht, durch die Völkerkunde in keiner Weise gestützte Behauptung auf, ursprünglich sei der Mensch gewiss nicht, weder aus Neigung noch aus Pflichtgefühl, der Promiskuität zugethan gewesen[1001], weil der Mensch immer und überall das Geregelte höher schätzte als das Ungeregelte.[1002] Ich wüsste, wie gesagt, aus der vergleichenden Völkerkunde keine Beweise beizubringen, welche diesen Sätzen[S. 457] unbedingte Gültigkeit verleihen könnten. Aus allem, sagt Starcke, was wir über das Leben und Treiben primitiver Menschen erfahren, leuchte mit Bestimmtheit hervor, dass fleischliche Rücksichten nicht den Eckstein der Entwicklung der Familie bildeten. Den „Eckstein“ allerdings nicht, wohl aber den Anstoss.[1003] Er räumt ein, die fleischlichen Genüsse nähmen gewiss im primitiven Leben den grössten Platz ein, meint aber, sie seien auch unter allen die am leichtesten zugänglichen, und es bildeten sich daher die Gewohnheiten nicht unter dem Einfluss des Ersinnens von Mitteln zu ihrer Erreichung.[1004] Wie sehr aber gerade im Gegenteil der sinnliche Genuss das Denken des Naturmenschen beschäftigt, dafür sind im Laufe dieses Buches genügende Beispiele verzeichnet worden. Gewiss unterscheiden manche der heutigen rohen Völker schon scharf zwischen Ehe und Liebesverhältnissen; wer aber der Psychologie in den Familie und Ehe betreffenden Untersuchungen nicht jeglichen Platz verweigert, wird nicht umhin können, in der primitiven Eheverbindung — wenn diese Beziehung überhaupt zulässig — nichts als ein geschlechtliches Verhältnis zu erblicken. Starckes Auffassung der Ehe als einer „rechtlichen Institution“, wobei der geschlechtliche Verkehr zwischen Gatten nichts wird, als eins von den Dingen, mit denen die Eheordnung zu schaffen hat — keineswegs sei er der Mittelpunkt der Ehe, die ratio existendi derselben, — entspricht wohl den Anschauungen vorgerückterer Zeitalter, ist aber auf die[S. 458] Urzustände augenscheinlich durchaus unanwendbar. Der Bund der Geschlechter schuf allmählich, bei längerer Dauer, zuerst gesellschaftliche (soziale) Beziehungen, die später gewohnheitsrechtliche Kraft gewinnen; nimmermehr wird er eingegangen, um rechtliche Verfügungen zu treffen. Dazu hätte der Urmensch mit aprioristischen Ideen, Rechtsbegriffen ausgestattet sein müssen, eine Voraussetzung, gegen welche alle in der Naturwissenschaft wurzelnde Philosophie sich sträuben muss. Weil eben die Ehe mit ihren unzweifelhaft rechtlichen Wirkungen von Haus aus keine rechtliche Einrichtung gewesen sein kann, sondern erst dazu geworden ist, hervorgewachsen aus der natürlichen, geschlechtlichen Verbindung, ist auch nicht mit Dr. Starcke reine Einmännerei (Monandrie) und Einweiberei (Monogynie), geschweige denn Monogamie (Einehe) an die Spitze der Entwicklung zu stellen. Dafür ist kein Beispiel zu nennen.
Auch die alten Arier bieten ein solches nicht, obwohl sie, wie betont, schon auf der sehr fortgeschrittenen Stufe sich bewegten, wo man von „Ehe“ reden darf. In der vedischen Zeit, etwa ein Jahrtausend vor unserer Ära, herrscht durchgängig Monogamie, ein edles, inniges Verhältnis zwischen dem Gatten und der Gattin; allein Spuren älterer, weniger geregelter Zustände sind noch deutlich erkennbar. Nur geringes Gewicht lege ich auf die schon einmal berührte[1005] Erzählung von der Heldin Draupadi, der Gattin der fünf Pandavabrüder, im Mahabharata, welche auf Vielmännerei bei den alten Ariern schliessen lässt. Wie aber Geschwisterehe und anderes, was später als Blutschande verpönt war, früher wohl bestand, so ist auch der allgemeinen Monogamie erst allmählich die Vielweiberei gewichen, welche in altvedischer Zeit wohl noch bei Fürsten und Grossen, wenn auch nur als Kebsentum angetroffen ward. Was die Polygamie in vielen Fällen erhielt, war die gebieterische Notwendigkeit, Söhne zu haben. Wem die Gattin bloss Töchter gebar, der sah sich bemüssigt, ein zweites Weib zu nehmen. Wie allerwärts übt natürlich auch bei den Ariern das gemeine Volk die Monogamie der Armut; dass[S. 459] bei aller Heiligkeit der Ehe und des Familienlebens es sich dafür anderweitig entschädigen wollte, geht aus den älteren Vedaliedern zur Genüge hervor; heimliche Geburt und heimliches Hinwegschaffen der Frucht verbotenen Umganges wird darin gefunden. Aber auch die Stellung des Weibes in der patriarchalischen Ehe ist in der altvedischen Zeit eine solche, welche bloss in vorhergehenden mutterrechtlichen Zuständen befriedigende Erklärung findet. Wäre die unbedingte Mannes- und Vaterherrschaft in der Familie das Ursprüngliche gewesen, wie liesse es sich begreifen, dass das Weib jener entfernten Tage eines Ansehens, einer Freiheit der Bewegung genoss, welche es später völlig verlor? Über dem Weibe und damit über dem ganzen Familien- oder kleinen Staatswesen stand allein der Gatte und Hausherr. Ihm allein nur stand über die Gattin ein Recht zu, und gehorsam und willig war diese ihrem Gatten ergeben, im Übrigen erscheint sie als seinesgleichen. Noch sind in altvedischer Zeit die Namen von Mutter (mâtar) und Schwester (Svasar) und die sie anders als Gattin und Herrin (Patnî) und als Tochter (Dŭhitar) bezeichnen, in vollgiltiger Bedeutung. Die Mutter als die Erzieherin seiner Kinder ist „Frau im Hause des Vaters“, dem Gatten und Hausherrn zur Seite des Hauses Herrin und Gebieterin (Grḥapatnî). Ihr untergeben ist des Hauses Zueigene oder Hörige, die unter der Botmässigkeit des Vaters oder Bruders sich befindet und darum vielleicht mit Namen Schwester heisst; „Melkerin“ ist des Hirten Tochter.[1006] Diese genoss die freie Wahl des Gatten, und selbst wenn mehrere Freier um sie kämpften, wie manchmal geschah, war ihre Einwilligung zum Kampfe erforderlich, und in ihrem Belieben lag es, den Sieger zu krönen.[1007] Das erste Geschäft zur Stiftung eines Ehebundes war die Werbung des Mannes um das Mädchen. Die unauflösliche eheliche Verbindung war durch dreimaliges Herumführen um das hoch aufflackernde Feuer des häuslichen Herds geschlossen. Glück und Beglücken in diesem ehelichen Leben war aber, so zeigt sich’s schon aus[S. 460] dem Hochzeitshymnus, die Erfüllung des Zwecks nach altem Sinne, nämlich Kinder, Söhne zu haben. Kindersegen war Reichtum, Kindermangel oder gar Kinderlosigkeit Armut, Unglück, ja Schande. Bei diesem arischen Hirtenvolke war der Hausvater zugleich der Oberpriester der Familie, und die ganze Religion gipfelte in dem Kultus der Familie und des Volkes. Einen eigentlichen Manendienst glaubt Lefmann dem altvedischen Volke absprechen zu sollen[1008], nicht aber den Ahnenkult; denn gewiss, wie kein anderes ehrte das altvedische Volk die Überlieferung und das Andenken seiner Vorfahren. Der denselben gewidmete Opferdienst war die wichtigste Kulthandlung in jeder Familie. Daran nahm auch die Hausfrau teil, welche zur Witwe geworden, sich wieder verheiraten konnte. Im Rigveda findet man eine Andeutung, dass man von einer Witwe verlangte, dem Hauswesen auch nach dem Tode ihres Gatten mit Eifer vorzustehen. Wir dürfen wohl in allen diesen Zügen eines sonst ganz patriarchalischen Eheverhältnisses das Wesen einer Zeit erkennen, in welcher das Vaterrecht die ältere mutterrechtliche Familieneinrichtung mit ihrer freieren Stellung des Weibes noch nicht völlig überwunden hatte.
Sicherlich hat bei den alten Ariern als einem Hirtenvolke das Patriarchat sehr frühzeitig Eingang gefunden. Wie verfehlt es jedoch wäre, die im obigen den Vedagesängen nachgezeichnete patriarchalische und monogame Familienverfassung als die ursprüngliche zu erklären, ergiebt sich aus Erscheinungen, welche die altvedische Epoche noch lange überdauerten, in dieser also bestanden haben müssen, wenngleich wir zum Teil erst aus späteren Quellen von ihnen erfahren. Sehen wir näher zu. Anfangs, d. h. so weit unser geschichtlicher Blick reicht, war der arische Hausvater in patriarchalischer Weise Landmann, vornehmlich Hirte, Opferer oder Hauspriester und, als Verteidiger seines häuslichen Herdes, zugleich Krieger, alles in einer Person. Eine Scheidung dieser Stände oder gar der strenge Kastenunterschied späterer Tage, wie er aus dem Familienwesen hervorging, war der Vedazeit, auch nach dem epischen Zeitalter, unbekannt; die Keime[S. 461] dazu waren freilich, wie in jeder menschlichen Gesellschaft, auch damals schon vorhanden. Die nach Indien erobernd vordringenden Arier, schwach an Kopfzahl, waren naturgemäss vorwiegend Krieger, d. h. das Kriegshandwerk nahm sie von allen ihren Beschäftigungen am meisten in Anspruch. Dies führte ganz von selbst allmählich zur Trennung des Krieger- vom Priesterstande, welch letzterer zuerst eine sehr untergeordnete Stellung einnahm und hinter dem der die Ereignisse schaffenden, also tonangebenden Krieger beträchtlich zurückstand. Auf dem Boden jenseits der fünf Ströme vollzog sich erst die Bildung der Kasten, als zu den Kschatrya (Xatriya), den Kriegern, und Brahmanen, den Priestern, vielleicht aus der Klasse der den Ariern vorangegangenen turktatarischen Eindringlinge die Vaiçya oder Landleute, Ackerbauer, hinzukamen. Bis dahin aber wogte der Kampf zwischen dem streitbaren Krieger- oder Königtume und dem Priestertume; in diesem Kampfe zwischen Brahma und Xatram, wie die technische Bezeichnung lautet, blieb der Sieg und letzte Triumph den Brahmanen, den Begründern eines neuen Königstums, das im Dienste eines nicht mehr bloss auf seine höhere Kenntnis, sondern auf sein heiliges Recht pochenden Priestertumes stand. Es beginnt das brahmanische Zeitalter, wie man die Epoche bis zum Umsichgreifen des Buddhismus füglich nennen kann. In ihr vollzog sich die Ausbildung des Kastenwesens, bestimmt, die Reinheit des arischen Blutes zu bewahren. Trotz aller künstlichen Schranken nahm indes die natürliche Notwendigkeit ihren siegreichen Gang; es entstanden Kreuzungen mit den Eingebornen und der arische Typus verschwand immer mehr; am längsten haftete er an den Brahmanen. So gingen die eingewanderten, erobernden Arier allmählich in der Masse der Eingebornen auf, welchen sie dafür ihre Sprache und einen Teil ihrer Gesittung hinterliessen. Wir haben es fürderhin nicht mehr mit den Ariern, sondern mit den Hindu zu thun.
Für die Kenntnis des brahmanischen Lebens sind die Sûtra, die dritte Stufe altbrahmanischer Entwicklung, von grösster Bedeutung, insbesondere das Grihya-Sûtra, welche in die geheiligte Sitte des Volkes und des Hauses, sowie in der Familie Brauch[S. 462] und Gewohnheit Einblick gewähren. Ein solches Sûtrawerk liegt auch unzweifelhaft dem ältesten Gesetzbuche der Hindu zu Grunde, welches nach dem gefeierten Namen des Manu genannt wird, aber das Werk einer Entwicklung, einer Bearbeitung und Zusammenstellung ist, die erst in späterer Zeit, etwa zwei oder drei Jahrhunderte vor unserer Ära, ihren Abschluss erhalten. Die Verfasser der Sûtra wie von Manus Gesetzbuch waren Brahmanen, also solche Hindu, bei welchen das arische Blut am reinsten geblieben, welche die Überlieferungen der Vorzeit am getreuesten gepflegt. In der That verdient auch, seines altertümlichen Inhaltes wegen, Manus Gesetzbuch an die Spitze aller übrigen alten Gesetzbücher Indiens gestellt zu werden. Da ist es nun in hohem Grade bemerkenswert, dass während die Familie im allgemeinen, wie später gezeigt werden soll, immer strenger im Sinne des Patriarchats sich entwickelte, die alten Satzungen daneben doch verschiedene Arten von Eheschliessungen kennen, wenn auch nicht gutheissen, welche augenscheinlich in älteren Zuständen wurzeln und ganz deutlich die Aufeinanderfolge der verschiedenen Beweibungsformen, wie wir sie im Laufe dieses Buches schilderten, darstellen. Da ist zunächst die bloss den Kschatrya, also der zweiten Arierkaste verstattete, schon mehrfach erwähnte Gandharva-Ehe, d. h. solche Verbindungen zwischen Mann und Weib, die flugs ohne alle Form eingegangen und ebenso leichtfertig wieder abgebrochen werden. Das hohe Alter der Gandharva-Ehe bezeugt der Umstand, dass sie nach jenen Genien des Duftes, des Wasser-, Wolken-, Blütenduftes oder Dampfes benannt sind, welche das indische Epos im wesentlichen von gleicher Natur und gleichem Ursprung mit den weiblichen Apsaras sein lässt.[1009] Diese Gandharva-Ehen finden also schon im altindischen Epos, im Rigveda, Erwähnung; um aber erzählt zu werden, müssen sie schon zur Zeit der Dichtung auch möglich und vorhanden gewesen sein, wie immer auch die betreffenden Personen dem Mythos angehören.[1010] Es geht daher nicht an, die Gandharva-Ehen, etwa mit Dr. Starcke, als eine[S. 463] spätere Entwicklungsform zu deuten. Neben der Gandharva-Ehe erscheint die Prajâpati-Ehe, gleichfalls eine formlose Vereinigung, welche deshalb „unbeschränkt“ heisst. In der ebenfalls bloss den Kschatrya gestatteten Rakschasa-Ehe, welche durch gewaltsame Hinwegführung des Weibes nach Kampf und Sieg bewirkt wird, ist unschwer die Beweibung durch Frauenraub zu erkennen. Ihr kommt die Piçaca-Ehe infolge heimlicher Entführung am nächsten. Den Vaiçya allein soll die sogenannte Asura-Ehe zukommen, eine Heirat, wozu der Mann das Weib durch Geld bewogen, während er in der Rîshi-Ehe die Gattin um ein paar Rinder ersteht; beide Formen reine Vertreter des Frauenkaufs. Überlieferung und Übung liessen solche ältere und immer noch gepflogene Arten von Eheschliessung nicht für ungültig erklären, wenn auch für recht und heilig bloss die „brahmanische“ Ehe mit priesterlicher Handlung galt und dem Brahmanen allein geziemte.[1011] Aber auch dieser kaufte ehedem sein Weib, doch verschwand allmählich diese Form bis auf den Rest, welchen die Arscha-Ehe bewahrte, worin der einstige Kaufpreis nur noch als ein Geschenk für das Mädchen gilt. Trotzdem wird jedoch in jüngerer Zeit auch diese Eheform für den Brahmanen minder passend erachtet, als die drei Formen der Brahma-, Daiva- und Prajapâti-Ehe; bei allen diesen, die sich nur durch althergebrachte Formen der Übergabe des Mädchens unterscheiden, findet keine Art von Kauf mehr statt; aber diese Gegenseitigkeit beschränkt sich auch nur auf die Brahmanen untereinander; die anderen Kasten haben keinen Anteil daran.[1012]
Werfen die erwähnten Eheformen schon einiges Licht auf die dem strengen Patriarchate vorangegangenen Familienverhältnisse der Hindu, so geschieht dies noch viel mehr durch die erst jüngst von Dr. Heinrich von Wlisłocki erkundeten Stamm- und Familienverhältnisse der Zelt-Zigeuner Siebenbürgens. Dass die Zigeuner Hindu sind, ist heute keine Frage mehr, besonders seitdem durch die Bemühungen der britischen Regierung[S. 464] unter den Wanderstämmen des Pendschâb wahre Zigeuner aufgefunden worden sind.[1013] Wenn man dem gewiegten Paul Bataillard, wohl einem der gründlichsten Kenner des Zigeunertums und seiner Geschichte, trauen darf, so wären Zweige dieses Volkstums in Europa seit den ältesten Zeiten vorhanden, ja vielleicht an der Verbreitung der vorgeschichtlichen Erzgeräte beteiligt gewesen.[1014] Jedenfalls herrscht kein Zweifel, dass die Zigeuner, besonders in Osteuropa, eine Gesellschaft darstellen, in welcher bei dem konservativen Zuge ihres Charakters uralte Sitten und Gebräuche fortleben, deren Ursprung sich nicht selten bis in die indische Vorzeit zurückverfolgen lässt. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen Dr. von Wlisłockis Forschungen hervorragende Bedeutung. Ich entlehne diesem Gewährsmanne die nachstehenden Angaben.
Man unterscheidet in Siebenbürgen ansässige (Gletecore, d. i. Spracharme) und Wander- oder Zeltzigeuner (Kortorár), denen Sprache und vererbter Glaube zwar gemeinsam, deren Lebensweise aber verschieden ist. Zwischen beiden Gruppen herrscht gegenseitige Abneigung, die ihren Keim wohl im alten indischen Kastenwesen hat. Nie fällt es einem Kortorár ein, ein Gletecore-Mädchen zu freien, und umgekehrt geschieht es nie, dass ein ansässiger Zigeuner eine Kortorárin heimführe, es sei denn, dass sie von ihren Stammesgenossen für „ehrlos“ erklärt und ausgewiesen worden ist. Gegenwärtig leben in Siebenbürgen nur mehr vier Stämme (Namipe) der Kortorár, welche wenig oder keinen Verkehr miteinander haben. Die einzelnen Stämme erscheinen nur insoferne als gesellschaftliche Einheiten, als jeder derselben unter einem Wojwoden steht; denn in der That zerfallen sie in mehrere, von einander unabhängige kleine Gemeinwesen und Genossenschaften oder Clane (Máhliyá, von Mahlo, d. i. Freund), die wieder unter einem Vorstande stehen. Letzterer wird nicht eigentlich gewählt. Wer sich im Laufe der Zeit am meisten bewährt, und[S. 465] die Neigung und Achtung oder auch die Furcht aller sich zu erwerben verstand, der wird stillschweigend als Vorstand anerkannt und von Seiten der Máhliyá sowohl, als auch des Stammes-Wojwoden als solcher betrachtet. Während nun die Teilung in kleinere oder grössere Sippen (Gákkiyá) innerhalb des Stammes jedenfalls von jeher üblich gewesen sein mag, scheint die Zerklüftung in einzelne Banden (Máhliyá), welche mehrere Sippen vereinigen, erst aus neuerer Zeit zu stammen. Beachtenswert ist, dass bei diesen Máhliyá die gesamte gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage verwandtschaftlicher Beziehungen beruht.[1015] Mit anderen Worten: die Mitglieder jeder Máhliyá sind Blutsverwandte, die Máhliyá bildet eine Geschlechtsgenossenschaft, wie wir sie für die Urzeit kennen lernten. Ich betone diesen Umstand, weil Dr. Starcke, der alles bloss aus rechtlichen Erwägungen ableitet, unter anderem auch die Bedeutung des Blutsbandes rundweg leugnet.[1016] Dass das Blutsverhältnis für die rechtliche Ordnung zwischen Vater und Sohn zuerst belanglos bleibt, ist auch unsere Behauptung; nimmermehr aber zwischen Mutter und Kind. Dr. Starcke leugnet aber auch dies: „Wäre jemals“, so sagt er, „die Weiberlinie, d. h. die mütterliche Rechtsordnung, aus der alleinigen Anerkennung des mütterlichen Blutbandes entsprungen, dann würde hierdurch der Satz ausgesprochen sein, dass die Rechtsordnung dem Zeugungsverhältnisse nachgebildet werde. Aber dann müsste auch das Vatertum schon während seines Werdens dieselbe Bestrebung zeigen und eben nicht sich den Sieg erringen als eine nur rechtliche und dem Blutsverhältnisse gegenüber durchaus gleichgültige Ordnung.“[1017] Ich gestehe, das Zwingende dieser Folgerung durchaus nicht zu begreifen; vielmehr scheint sie mir jeglicher psychologischen Begründung zu entbehren. Warum soll das Vatertum schon während seines Werdens das nämliche Bestreben, die Rechtsordnung dem Zeugungsverhältnisse nachzubilden, zeigen, da für ersteres durchaus kein zwingender Grund dazu vorhanden ist? Ist doch der Mann, namentlich unter[S. 466] Wilden, unsäglich arm an Momenten, welche das Zeugungsverhältnis ihm nahe legen könnten! Nichts bleibt ihm als die rasch verblassende Erinnerung an Augenblicke sinnlichen Genusses; die Folgen entziehen sich seiner Empfindung. Anders das Weib, dem die Beschwerden der Schwangerschaft, die Schmerzen der Geburt im Kinde sichtbar sich verkörpern, das daher auch bei noch so geringer Mutterliebe ihr Zeugungsverhältnis zum Kinde unvergleichlich heftiger empfindet und empfinden muss, als der Mann. Und eben dieses Verhältnis, das Blutsband, hält auch die Früchte eines Schosses um die Erzeugerin vereinigt, ebenso wie diese selbst mit ihren Blutnächsten, d. h. ihren Geschwistern. Machte wirklich bloss die räumliche Verbindung, ohne alle Rücksicht auf das Blutsband, die Bedingung aus, unter der, wie Dr. Starcke will, das primitive Bewusstsein die Vorstellung der Zusammengehörigkeit der Personen, d. h. der Verwandtschaft, festzustellen vermag[1018], so wäre schlechterdings nicht zu begreifen, warum z. B. unsere Zeltzigeuner, diese nach Europa verschlagenen Söhne Indiens, in blutsverwandte Máhliyá sich spalten.
Die Zigeuner geben das merkwürdigste Beispiel, in welchem Grade ein Volk geradezu aufgehen kann in der Familie und dem damit zusammenhängenden familienhaften Stammesleben.[1019] Die verwandtschaftlichen Beziehungen sind bei den einzelnen Stämmen nicht in demselben Masse ausgeprägt, sondern zwei Stämme haben auch diese letzte Grundlage der Zusammengehörigkeit im Laufe der jüngsten zwanzig Jahre — also erst in ganz neuester Zeit — fahren gelassen und zählen selbst bei wichtigen Anlässen, wie Eheschliessung, nur drei Glieder in aufsteigender und ebenso viele in absteigender Linie. Die schärfere Beachtung des Blutsbandes giebt sich also als die ältere zu erkennen. Bei beiden Gruppen tritt aber die weibliche Linie in den Vordergrund; der männlichen hingegen wird nur eine untergeordnete Bedeutung eingeräumt; sie gelangt bloss ausnahmsweise zur Geltung; sonst treten die verwandtschaftlichen Beziehungen väterlicherseits ganz und gar[S. 467] in den Hintergrund. Sobald der Zeltzigeuner sich beweibt, muss er derjenigen Truppe (Máhliyá), beziehungsweise Sippe (Gákkiyâ) sich anschliessen, zu welcher seine Gattin gehört. Bei der Sippe, zu der er durch Geburt gehört, wird er nach seiner Verheiratung wohl persönlich als Einheit noch mitgezählt; er aber und seine Nachkommen gehören nur der Sippe seiner Frau an. Wenn z. B. Peter aus der Sippe A die Maria der Sippe B ehelicht, so gehört er der Sippe B an, wird aber bis zu seinem Tode von der Sippe A als Glied gezählt. Seine Kinder gehören dagegen der Sippe B an, werden von der Sippe A nicht als nahe Verwandte betrachtet und können in diese zurückheiraten, nur dürfen sie nicht die Schwestern ihres Vaters, also ihre Muhmen, zu Frauen nehmen. Weil der junge Ehemann die ganze Einrichtung eines zigeunerischen Hauswesens — Zelte, Wagen, Pferde, Werkzeuge u. s. w. — von seiner Frau erhält, ist er gezwungen mit deren Sippschaft zu wandern und wenn nötig sich sogar von seinen nächsten Geburtsverwandten zu trennen. Weil jede Sippe einen Namen hat, der sich nie verändert, so nimmt der Mann nach seiner Verheiratung als Zunamen auch den Namen der Sippe seiner Frau an und lässt den seiner Sippe, zu der er durch Geburt gehört, fallen. Als Familienname gilt also der Name der Sippe, der sich beim Manne mit seiner jeweiligen Verehelichung jedesmal verändert. „Neues Weib, neue Sippe“ (Ǹeve romǹa, ǹeve gákkiyá) sagt ein zigeunerisches Sprichwort. So lange der Mann verheiratet ist, darf er die Genossenschaft, welcher sich seine Sippe angeschlossen hat, nicht verlassen und sich einer anderen Máhliyá anschliessen. Nach dem Tode seiner Frau kann er aber in eine andere Sippe übergehen, sobald er nämlich eine weitere Ehe eingeht. Die Kinder der verstorbenen Frau gehören selbstverständlich ihrer mütterlichen Sippe an, welcher auch, und nicht dem Vater, die Sorge für dieselben anheimfällt. Bekümmert sich doch auch bei Lebzeiten der Gattin der Zigeuner nicht im Geringsten um das leibliche und geistige Wohl seiner Kinder, sondern das Weib hat die ganze Last einer Mutter zu verspüren. Dafür wird das Weib mit Recht nicht nur als Mehrerin der Familie, sondern auch der Sippe betrachtet und geniesst noch als Matrone ein Ansehen und einen[S. 468] Einfluss, den sie in allen inneren und äusseren Angelegenheiten nicht nur ihrer Sippe oder Máhliyá, sondern selbst des ganzen Stammes geltend macht. Urteil und Meinung einer solchen Matrone gelten mehr als der weiseste Urteilsspruch des Wojwoden. Infolge dieser Achtung werden auch die Matronen als Vorsteherinnen der Sippe anerkannt und betrachtet.[1020]
Ich denke, das hier entrollte Gemälde führt uns, von leichten, durch den Einfluss der Umgebung bedingten, Nebensächlichkeiten abgesehen, schnurgerade in die Periode der Muttergruppe und Mutterfolge zurück, als dem Manne und Vater in der Familie nur eine untergeordnete Rolle zukam. Im Zusammenhange mit den oben aufgezählten alten Eheformen wird dieses Beispiel der indischen Zigeuner wohl jeden Zweifel beseitigen, dass auch in der Hindufamilie das Patriarchat nicht das Ursprüngliche ist. In der That lässt sich keine Brücke denken, welche aus dem Patriarchate der Hindu, wie es sogleich zur Sprache kommen wird, zu Zuständen, wie die geschilderten, hinüberführen könnte.
Immerhin ist das Patriarchat in Indien sehr alt. Schon in der Vedazeit kann man die Familie als eine patriarchalische bezeichnen. Der Vater genoss ein unbedingtes Ansehen; die Kinder gehorchten ihm und wuchsen auf in der strengen Verehrung der Ahnen, was an sich ein Zeichen der schon gegründeten Vaterherrschaft ist. Jede Familie besitzt ihren besonderen Kult, und heiratende Mädchen treten in den fremden Kultkreis der neuen Familie ein. Über dieser Familie gab es nichts als das ganze Volk. Keine Zwischengruppe, weder Stamm noch Clan, trennte sie nach oben; nach unten gab es nichts, denn das Individuum hatte keine von seinen Vorfahren oder Nachkommen unabhängige Existenz. Die Einheit war nicht der einzelne Mensch, sondern der Vater mit der Mutter und den Kindern, hinter ihnen die Geschlechtsfolgen, welchen sie entsprossen, vor ihnen die lange Reihe von Wesen, welche aus ihrem Blute hervorgehen und ihr Andenken, ihren Namen im Zeitenlaufe fortpflanzen sollten.[1021][S. 469] So bildete denn die Familie eine Gesamtheit, eine Genossenschaft, die ungeteilt beisammen lebte, deren Güter, Weiber und Vieh, einen gemeinschaftlichen Besitz ausmachten. Diese Familie war also noch keine Sonderfamilie im heutigen Sinne, sondern nichts anderes als die Sippe. Beim Tode eines Mitgliedes war es kein Einzelner, sondern die ganze Sippe, welche dessen Erbe antrat. Die indische Familie stand also auf dem Boden des Sammeleigentums, des Kollektivbesitzes, und man wird nicht fehl gehen, wenn man darin einen Überrest des älteren, mutterrechtlichen Kommunismus erkennt. Diesen Charakter hat nun die indische Familie niemals verloren; auf diesem Boden erwuchs die heute noch bestehende Dorfgemeinschaft der Hindu, die sich mit verwandten Zügen in der javanischen Dessa, im Mir der Russen wiederfindet. Dass diese Sippe oder ungetrennte Familiengruppe (the joint undivided family, wie die Engländer sie nennen), ursprünglich auf Blutsverwandtschaft und nur auf dieser beruhte, beweist deutlich der Umstand, dass schon das Altertum eine ganz erstaunliche Reihe von Verwandtschaftsgraden als Ehehindernisse kannte, was Exogamie zwischen den Familien nach sich zog. Die Sippe der Hindu ist also nicht bloss eine Gesellschaft von Personen, die unter demselben Dache wohnen, Eigentum gemeinsam besitzen und demselben Stammvater gemeinschaftlich opfern[1022], wie Dr. Starcke sie beschreibt, sondern die Bedingung ist ferner, dass diese Personen Blutsverwandte seien. Die Sapinda, d. h. Personen, die durch den Opferkuchen verbunden sind, sind zugleich Blutsverwandte innerhalb sechs Grade.[1023] Die Bestimmung nach Graden hätte aber keinen Sinn, wenn die Verwandtschaft bloss eine bürgerliche wäre.
So lange die Familiengruppe zusammenbleibt, steht sie unter der Leitung des Patriarchen, d. i. des ältesten Mannes der ältesten Linie. Seine Macht erstarkte immer mehr und gewann allmählich Ausdehnung über Leben und Freiheit der Familienglieder. In der brahmanischen Zeit hatte das Weib schon seine ganze Freiheit[S. 470] eingebüsst. Frauen haben nunmehr kein freies Verfügungsrecht mehr. Die Ehefrau, durch Raub oder Kauf erworben, ist Sklavin, in allem und jedem von ihrem Gatten abhängig; sie kann ohne dessen Willen nicht Opfer noch Gelübde vollziehen. Ihre Pflicht ist unverletzliche Treue gegen ihren Gatten zu wahren, in Gedanken, Wort und That; ihr grösstes Verbrechen Ehebruch. Dagegen konnte der Mann das kinderlose Weib, weil es sein Eigentum war, von einem aus der Blutsverwandtschaft, einem Sapinda, befruchten lassen. Man nannte dies Niyoga. Das Kind war nach dem Gesetze immer dem Manne zugezählt, der die Mutter besass, wie, nach Manus Worten, der Eigentümer der Kuh Eigentümer des Kalbes wird. War der Niyogavater kein Sapinda, so gehörte ihm das Kind, es sei denn, dass der Eheherr dasselbe aufgenommen und erzogen.[1024] Und wer den Sohn besass, konnte ihn auch einem andern als dessen Sohn geben, so wie der emanzipierte Sohn sich selbst irgend einem Beliebigen als seinem Vater übergeben konnte. Damit wurde, wie man sieht, neben der natürlichen, der Verwandtschaft des Blutes, eine zweite, künstliche, bürgerliche geschaffen, welche lediglich den Eigentumsbegriffen entspringt und ihre Entstehung erst im Patriarchate finden konnte, so lange dasselbe seinen rein rechtlichen Charakter bewahrte, d. h. so lange der Vater noch nicht im Erzeuger aufgegangen war. Dass diese bürgerliche Verwandtschaft in der Geschichte der Familie eine bedeutende Rolle zu spielen berufen war, ist unbestreitbar; unzulässig jedoch, deren Wichtigkeit auf Kosten der natürlichen Blutsverwandtschaft zu übertreiben.
Wo Niyoga Gepflogenheit, darf man mit grösster Wahrscheinlichkeit auch das Levirat als ein Ergebnis des nach Söhnen und Pflegern des Ahnenkults strebenden Patriarchates ansehen. In der That setzten die Hindu das Levirat mit dem Niyoga in Verbindung. Stirbt ihr Gatte, so mag die kinderlose Witwe, oder die nur Töchter hat, um einen Sohn zu erhalten, ihrem Schwager, wo solcher fehlt, auch einem anderen Sapinda oder gar einem Kastengenossen ihres Mannes angehören. Hat sie ihr Mann[S. 471] aber anders verlassen, so muss sie sechs, bei einem Brahmanen sogar zwölf Jahre auf dessen Rückkehr warten. Und wenn jener dem ehelichen oder häuslichen Leben entsagt, so soll auch die Frau auf jede andere Verbindung Verzicht leisten. Dagegen ist von der Sati, der Witwenverbrennung, selbst in Manus Gesetzbuch, welches die Anschauungen des Brahmanismus verkörpert, noch keine Rede. Weder das religiöse, noch das bürgerliche Gesetz hatte diesen Brauch anerkannt, obgleich er da und dort wahrscheinlich schon seit lange vorgekommen sein wird. Wenigstens erzählt Diodor von Sizilien, anscheinend nach dem Berichte eines Augenzeugen, wie in Medien, im Lager des Eumenes, schon im Jahre 316 v. Chr., am Leichname des in der Schlacht gefallenen Anführers der indischen Hilfstruppen, Keteus, ein Wettstreit seiner beiden Gattinnen sich erhebt, welche von ihnen dem Gemahl ins Feuer folgen dürfe, und wie die jüngere den Sieg behält, indem sie verrät, dass die andere guter Hoffnung sei. Wenn auch der Grieche die Ursachen dieses Brauches unrichtig angibt, so steht doch die Thatsache selbst fest, und auch das ist zu ersehen, dass der Flammentod der Witwe als Ehrensache und Ziel der Wünsche galt. Vom Bruder geführt, von den Freundinnen und Dienerinnen geschmückt wie zur Hochzeit, betritt sie freudig den Holzstoss und stirbt ohne Schmerzenslaut. Die Purâna, deren ältester nicht über das sechste christliche Jahrhundert zurückreicht, erklären schon nur jene Witwe für wahrhaft tugendhaft, welche den für ihren Ehemann errichteten Scheiterhaufen besteigt; nur dieser sei der Himmel sicher.[1025] Die Purâna bringen natürlich nur längst geläufig gewordene Begriffe zum Ausdruck. Es kann kein Zweifel sein, dass diese Grabfolge der Witwen auch in Indien, wie schon einmal besprochen[1026], aus dem Patriarchate hervorgewachsen ist. Verschiedene Ursachen, zu nicht geringem Teile religiöser Natur, haben dann dazu beigetragen, die Sitte über die Dauer des strengen Patriarchats hinaus bis in die jüngere Familie der Gegenwart zu erhalten, ihr allgemeine Billigung zu erwerben, hohe Ver[S. 472]heissungen daran zu knüpfen und sie sogar durch Einführung geeigneter Zusätze in älteren Schriften zu begründen.[1027]
Wie die Patriarchalfamilie aus dem Nomadentume geboren wurde, so schwindet ganz allmählich wieder ihr strenger Charakter mit dem Überhandnehmen des Ackerbaues. Diesem zersetzenden Einflusse vermochte auch die indische Familie sich nicht zu entziehen. Die rohen Arten der Aneignung der Weiber durch Raub und Kauf werden späterhin zur blossen Form, die Beweibung wird zur „Ehe“, welche bei Manu schon kein Geschäft mehr ist und dem Manne seiner Gattin gegenüber gleiche Treue und Rücksicht vorschrieb; die Befriedigung der Geschlechtslust ist nicht mehr das wesentlichste und einzige Moment des Ehebundes; die Bräute, welche stets aus gleicher Kaste zu nehmen, empfangen ihre Ausstattung von der Familie, und das Besitzrecht der Weiber aus persönlicher Habe, wie Schmuck, Geräte, Geschenke, gelangt zur Anerkennung, unbeschadet des an ihnen selbst noch haftenden Eigentumsbegriffes. Auch bildet sich für dieses Vermögen eine Erbfolgeordnung, nach welcher die unverehelichten Töchter der Erblasserin zuerst berufen werden. Am Familiengute erben die Weiber allerdings nicht, wohl aber haben sie Anspruch auf Unterhalt aus demselben.[1028] In das Vermögen des Vaters, nicht aber in das Gut der Gesamtfamilie, teilen sich die Söhne, wenn jener nicht schon bei Lebzeiten, da er keine Kinder mehr zu erwarten hatte, die Teilung vorgenommen. Der Erstgeborene soll nach älterem Rechte alles erhalten und die übrigen wie als Vater versorgen. Oder er bekommt einen zweifachen, die anderen Söhne jeder einen gleichen Anteil. Oder es wird nach dem Alter der Söhne und nach der Verschiedenheit der Hinterlassenschaft unter[S. 473]schiedlich geteilt. Stirbt Jemand ohne männliche Nachkommenschaft, so fällt sein Vermögen dem ältesten Bruder oder überhaupt seinen Brüdern zu, die mit ihm ausser (Vermögens-) Gemeinschaft gestanden. Doch nennt das Gesetz ausser dem leiblichen rechtmässigen Sohn noch fünf andere als familienangehörig und Erbsöhne; diese, welche insgesamt der bürgerlichen oder künstlichen Verwandtschaft angehören, sind: der Gattin- oder Verwandtensohn, d. h. mit einer Frau unter Zustimmung des kinderlosen Gatten oder nach dessen Tode von einem andern gesetzmässig erzeugt (Niyoga); der Schenksohn oder „gegebene“, den seine Eltern, Vater und Mutter, übereinstimmend und feierlich einem sohnlosen Kastengenossen gegeben; der Adoptiv- oder „künstlich erworbene“ Sohn, welcher aus gleicher Kaste an Sohnesstatt angenommen ist; der Geheimsohn, mit ungewisser Vaterschaft im Hause eines Mannes (etwa während dessen langer Abwesenheit) ihm von seiner Frau geboren; endlich der Pflegesohn, welcher von seinen natürlichen Eltern oder nach dem Tode des Vaters von seiner Mutter oder umgekehrt verlassen und dann aufgenommen worden. Familienangehörig, aber nicht erbberechtigt sind ferner: der Mädchensohn, von einer unverheirateten Haustochter; der Brautsohn, von einer vorehelich bekannt oder unbekannt schwangeren Frau; der Sohn einer wiedervermählten, der verlassenen oder verwitweten Frau, die sich nach Gutdünken wieder verheiratet; der einer Bestimmungstochter (deren Mutter niederer Kaste angehört); der Selbstgabe- und der Kaufsohn. Nur wenn keiner von den erstgenannten vorhanden, sollen diese ein Viertel der Hinterlassenschaft haben. Besitzt ein Vater nur Töchter, so kann er übrigens die künftigen Söhne einer Tochter, die dann Bestimmungstochter heisst, für seine Söhne und Erben bestimmen und erklären. Wo väterliche und nächste Erben fehlen, treten als erbberechtigt die Sapinda ein.[1029]
Einer höheren Stufe der Rechtsentwicklung als Manus Gesetzbuch gehört das Gesetzwerk des Narada[1030] an, dessen Abfassung[S. 474] in das fünfte oder sechste christliche Jahrhundert zu verlegen ist. Auch darin ist das indische Erbrecht gänzlich von den beiden Rücksichten der Reinhaltung der Kaste und der Erfüllung des Ehezwecks, der Hervorbringung eines männlichen Nachkommens beherrscht, der als rechtmässiger Darbringer der vorgeschriebenen Totenopfer für den verstorbenen Vater von der höchsten religiösen Bedeutung war. Im allgemeinen gilt als Regel, dass man Ehen nur in derselben Kaste abschließen solle, indessen ist es dem Manne gestattet, eine gewisse Anzahl Frauen aus einer niedrigeren Kaste als seine eigene zu nehmen, wobei freilich die aus solchen Ehen geborenen Kinder den niederen Volksstämmen anheimfallen. Die Kinder folgen also in diesem Falle der Mutter. Als höchst sündhafte Vermischung der Kasten wird es dagegen angesehen, wenn ein Mädchen höheren Standes zu einem Manne aus einer niedrigeren Kaste herabsteigt. Auch kann ein Dviga (Brahmane, Kschatrya oder Vaiçya) niemals eine Çudra zur rechtmässigen Gattin haben. „Nur der Lust wegen nimmt er sie, indem er sich von der Leidenschaft blenden liess.“ Rasch aber erniedrigt er dadurch seine Familie und Nachkommenschaft zur Çudrakaste herab. Der fast einzige Ehezweck ist im Narada mit nackten Worten ausgesprochen: Die Weiber sind erschaffen zum Zweck der Fortpflanzung des Geschlechts; sie sind das Feld, der Mann ist der Säer, und ein Feld muss dem gegeben werden, der Samen hat. Das Haupterfordernis zur Eheschliessung ist Mannbarkeit und Zeugungsfähigkeit, und um diese festzustellen, hat das Gesetz eine Reihe höchst seltsamer Untersuchungen vorgeschrieben.[1031] Wie bei Manu ist die Ehe sogar gesetzlich geboten und Pflicht des Vaters oder wer an dessen Stelle getreten, das Mädchen zu verheiraten, sobald, nach manchen sogar ehe es zur Geschlechtsreife gelangt. Wer diese Pflicht verabsäumt, begeht eine Sünde, macht sich des Verbrechens der Embryozerstörung schuldig, und das Mädchen ist berechtigt, nach eingeholter Erlaubnis[S. 475] des Königs, sich nun selbst einen Gatten zu wählen; auch wird dabei von den sonst sehr strengen Verboten von Ehen unter Sapinda in der Weise abgegangen, dass der Vormund die kinderlose Witwe zum Niyoga ermächtigen kann. Wie die gesellschaftliche, so war auch die rechtliche Stellung der Frau noch eine sehr untergeordnete und beschränkte, doch macht sich immerhin im Narada eine freiere Auffassung geltend. Das Recht, Immobilien zu besitzen, bleibt ihr freilich noch durchweg versagt, doch wird das Stridhana oder Frauengut anerkannt. Die Erbfolge geschieht nach Alter, Kaste und — man kann hinzufügen — nach Geschlecht. Der älteste Sohn bleibt der bevorzugte Erbe und nur wenn männliche Nachkommenschaft fehlt, kommen Töchter zum Zuge. Die Rücksicht auf das materielle und ökonomische Gedeihen der Familie, die patriarchalische Bevorzugung des Familienoberhauptes, die Geschlossenheit und das enge Zusammenleben der Sippen geben dem indischen Erbrecht einen durchaus fidei-kommissarischen Charakter. Das indische Recht kennt nicht die Befugnis letztwilliger Verfügungen. Die Testierfähigkeit findet nur einen schwachen Ersatz in dem Rechte des Vaters, sein Besitztum zu seinen Lebzeiten unter seine Angehörigen zu verteilen. Aber auch dies ist an verschiedene Voraussetzungen geknüpft. Der Vater ist zwar, wie es heisst, „der Herr von allem“; sobald er aber krank und gebrechlich oder vom Zorn beeinflusst erscheint, wenn sein Geist von einem geliebten Gegenstand allzusehr eingenommen ist, oder er gegen das Gesetz handeln will, geht er seines Rechtes zu Schenkungen unter Lebenden (Donationes inter vivos) verlustig. Vollständig frei scheint man überhaupt nur über das Frauengut und das, was man durch Wissenschaft und Tapferkeit erwarb, verfügt haben zu können, worin man vielleicht eine Art von Allodialvermögen erblicken darf. Auch die Bestimmungen über passive Erbfähigkeit hängen mit Rücksicht auf die Aufrechterhaltung der Familie und ihres Besitzstandes zusammen. Chronische Kranke, Blödsinnige, Zeugungsunfähige u. s. w. sind passiv erbunfähig, weil anderweitig in der Sippe für sie Sorge getragen wird; ebenso haben auch kinderlose Witwen kein Erbrecht, sondern nur einen Anspruch auf Unterhalt an den Stamm[S. 476] ihres Vaters. So findet denn in den Regeln des Erbrechts das Bewusstsein von der Einheit und Zusammengehörigkeit der Familie, richtiger der Sippe, seinen vollendetsten Ausdruck.
Dieses alte patriarchalische System herrscht heute noch ungeschwächt in Indien. Der Vater oder das männliche Haupt der Sippe ist die höchste, fast unbeschränkte Autorität. Er sorgt für ihre materiellen und geistigen Bedürfnisse. Wenn die Söhne heiraten, führen sie ihre Frauen unter das väterliche Dach, und so wachsen die Enkel als Mitglieder des Hauses auf, in dem ihre Väter geboren sind. Der Haushalt ist deshalb vielumfassend und durchaus nicht leicht zu regieren. Die durch die Hindugesetze ohnehin gestattete Vielweiberei ist durch die Einfälle der Muhammedaner noch wesentlich gefördert worden. Der gemeine Mann, der Hindu der niederen Klassen, nimmt freilich zumeist bloss ein Weib und nur dann eine zweite Frau, wenn die erste unfruchtbar ist. Aber auch wenn der Mann mehrere Frauen hat, so ist immer die erste von ihnen die Hauptfrau, welche ihren Platz an der Spitze der Familie behält. Die anderen sind nur Upastri oder Bhogyá, Konkubinen. Bloss die erste gibt gesetzliche, rechtmässige Erben und steht als Gattin neben dem Oberhaupte der Familie. Ihre Stellung ist eine verantwortliche; ihre Pflichten sind sehr mannigfaltig und schwierig. Sie ist stets ein Muster der Sparsamkeit, Hingebung, Keuschheit, Geduld und Selbstlosigkeit. Oft, ja fast gewöhnlich, ist sie wenig geistig gebildet, woran die herrschenden Volksanschauungen Schuld tragen; aber ihr natürlicher Verstand gleicht alle Mängel aus. Die Schwiegertöchter sind die beklagenswertesten Mitglieder der Familie, da sie keine selbständige Beschäftigung haben und ganz unter der Aufsicht der Schwiegermutter stehen, mit deren Ausnahme die weiblichen Mitglieder des Haushaltes ein abgeschlossenes, abstumpfendes Leben führen. Ihre Erholungen sind sehr beschränkt. Wegen ihres Geschlechts bringen sie ihr Leben in den Ketten der Unwissenheit und des Aberglaubens zu. Seit dem Eindringen der Moslemin ist auch die Hindufrau, wenn sie in der Öffentlichkeit erscheint, verschleiert, im Hause aber stets in ihrer Zenana eingeschlossen. Ohne Erlaubnis des Familienoberhauptes darf sie das Haus nicht verlassen;[S. 477] es gilt sogar für unpassend und nicht ehrbar, wenn sie die äusseren, den Männern bestimmten Räume des Hauses betritt. So streng sind die Gesetze des Herkommens, dass eine Frau in der Gegenwart der Schwiegermutter oder eines anderen weiblichen Mitgliedes der Familie nicht den Schleier lüften oder die Lippen öffnen darf, um mit ihrem Manne zu sprechen. Selbst innerhalb der Familie verbietet die Religion den Frauen, mit ihren Männern zusammen zu essen. Überhaupt kann man sich kaum einen Begriff davon machen, in welchem Grade die Hindu ihr Leben beengen und fesseln, oder welche Förmlichkeiten und Gebräuche, fast alle religiösen Ursprungs, sie wie eine undurchdringliche Mauer umgeben. In den ärmeren Klassen gibt es wenig Originelles; die Frau des Landmannes teilt die Mühen des Tages und das Ehebett in der Nacht, und je nach der Gutmütigkeit oder Roheit ihres Gatten hat sie einen grösseren oder geringeren Anteil an seinen Leiden und Freuden. Im allgemeinen ist ihre physiologische Formel sehr einfach: Haustier bei Tage, Weib bei Nacht.[1032]
Wie vor Alters haben die Hindu die feste Überzeugung, dass es ein verdienstvolles Werk sei, die Ehen ihrer Kinder früh zu schliessen. Deshalb geht ihr Streben dahin, ihre Söhne und Töchter noch während ihrer eigenen Lebenszeit zu verheiraten. In Bengalen kommen auf 1000 Frauen, die eine Ehe eingehen, 271 unter zehn und 666 zwischen zehn bis vierzehn Jahren. Die religiösen Vorschriften verlangen sogar eigentlich, dass die Mädchen vor dem achten Jahre vermählt werden sollen. Zuweilen werden Kinder daher schon im zartesten Alter miteinander verlobt, und namentlich das Mädchen fängt schon mit fünf oder sechs Jahren an zu denken und sich mit seiner künftigen Ehe zu beschäftigen, denn sie wird schon von einer alten Frau in die vorbereitenden Riten des Bratas eingeweiht, deren Zweck es besonders ist, ihr einen guten Mann zu verschaffen und sie für ihr ganzes Leben religiös und glücklich zu machen. In angesehenen Familien werden die Ehen durch gewerbsmässige Vermittler (Ghatuck) oder[S. 478] lieber noch Vermittlerinnen (Ghatki) eingefädelt. Es wird für höchst moralisch und höchst religiös erachtet, wenn zwei Kinder ihr Wort verpfänden, später Mann und Frau zu werden. Fast immer sind die Mädchen schon mit sechs bis acht Jahren verlobte Bräute, wenn nicht verheiratet. Es ist dies aber nur eine, zwar mit grossem Pomp und unter religiöser Weihe gefeierte Scheinehe, wobei die jugendlichen Gatten sich zum erstenmale ins Gesicht sehen können. Nach der Nacht des Fulsajya oder „des mit Blumen bedeckten Bettes“ kehrt die junge Gattin, zwar als Jungfrau, aber nicht unschuldig, nach Hause zurück. Die zweite oder eigentliche Ehe wird erst geschlossen, wenn sie das heiratsfähige Alter erreicht hat, nämlich mit etwa dreizehn Jahren. Babu Bose, ein gebildeter Hindu, welcher über das häusliche Leben seiner Landsleute ein lehrreiches Buch in englischer Sprache veröffentlicht hat, sagt, dass die Zeremonien, welche sich auf dieses Ereignis im Leben der Frau beziehen, so abscheulich sind, dass deren Beschreibung eine Beleidigung der Schamhaftigkeit wäre.
Die Hindufrau wird zuweilen mit dreizehn Jahren Mutter, öfter aber mit vierzehn und fünfzehn Jahren. Ihre Kinder säugt sie meistens selbst und zwar drei oder vier Jahre lang. Die Geburt eines Kindes wird mit vielen genau vorgeschriebenen Zeremonien begrüsst. Ist es ein Knabe, so wiegt seine Geburt in den Augen der Mutter jeden Schmerz auf; ist es aber ein Mädchen, so ist sie sehr betrübt und flucht dem Tage und ihrem Geschick. Schlimmer noch ist es jedoch, wenn sie kinderlos bleibt. Nur dann spielt nämlich das Weib eine Rolle, gewinnt sie Bedeutung, wenn sie Kinder gebiert. Ihre Stellung ist dann immer eine geachtete, selbst wenn sie Witwe wird, denn die Ehrfurcht und die Liebe der Kinder sind grenzenlos.[1033] Freilich bleibt die Witwenschaft unter allen Umständen das am meisten gefürchtete Übel. Ein unverheiratetes Weib und eine Witwe sind nämlich zwei Wesen, welche die indische Gesellschaft als Ausgestossene betrachtet, während die Religion ihnen verbietet, an den geselligen und häuslichen Angelegenheiten des Lebens sich zu beteiligen.[S. 479] Sie sind selbst ihren nächsten Angehörigen entfremdet, die sie als unreine Geschöpfe betrachten. Haben sie Kinder, so bleibt ihnen ein Lebenszweck; aber kinderlos zu sein, wird ihnen als Verbrechen, als Todsünde angerechnet. Auch müssen sie lebenslang Witwen bleiben. Solche, die sich über den Verlust trösten oder sogar wieder heiraten, werden in den heiligen Schriften als nicht würdig erklärt, im Jenseits neben ihren Gebietern einen Platz einzunehmen; sie sollen von Früchten und Beeren leben und gelten im Volke als Schandfleck der Familie. So ist es wohl die Furcht vor dem Witwenstande und der gänzlichen Vereinsamung, welche Frauen bewegt, freiwillig den Scheiterhaufen ihres Gatten zu besteigen. Dank den Bemühungen der britischen Regierung, die bei einigen verständigen Hindu Unterstützung fanden, ist jetzt der furchtbare Gebrauch der Witwenverbrennung fast, doch nicht ganz erstorben[1034]; aber vor fünfzig Jahren bestand er noch in voller Kraft, wenn er gleichwohl zu keiner Zeit allgemein oder auch nur häufig gewesen. Frauen, von Brahmanen beeinflusst, waren es, welche dem Vollzuge des englischen Gesetzes den zähesten Widerstand leisteten und ungestüm mit der Leiche ihres Gatten verbrannt zu werden verlangten. Heute verbrennen sich die Frauen nicht mehr, aber sie bedauern den Scheiterhaufen, und von ihren Familien verstossen, töten sie sich oft auf andere Weise, doch ohne den Trost, damit eine religiöse Pflicht zu erfüllen. Mantegazza führt dafür verschiedene Beispiele an.[1035] Und dies begreift sich angesichts der beispiellosen Marter, zu welcher Sitte und religiöse Ansichten die Witwenschaft in Indien gestalteten. Unendlich traurig ist namentlich das Los der sogenannten „Kind-Witwen“, d. h. der jungen Mädchen, welche nach der Scheinehe ihren Gatten verloren; ja die Volksmeinung be[S. 480]trachtet als Witwen selbst jene Mädchen, welche in den ersten Lebensjahren nur ihren Verlobten verloren. Ein solches Unglück, das durchaus keine Seltenheit, ist heillos[1036]; denn die herrschenden Sitten verdammen die kindliche Witwe zu strengster Ehelosigkeit und der denkbar traurigsten Lebensweise für den Rest ihrer Tage; die Brahmanen betrachten eine solche Witwe als eine schwere Sünderin und glauben sich berechtigt, ihr eine Menge Bussen und Qualen aufzuerlegen. Es gibt aber viele, die sich nicht fügen, die trotz ihrer Abgeschlossenheit einen Mann finden, dem sie ihre Gunst schenken; selbst Witwen aus besserer Kaste werden zu Geliebten von Mitgliedern der religiösen Orden, wenn nicht zu Prostituierten. Wenn bei uns uneheliche Geburten unter Mädchen vorkommen, sind sie in Indien die Regel unter Witwen. Das Los solcher Mütter ist aber noch furchtbarer; sie werden öffentlich verflucht, man jagt sie in die Wildnis, wo sie elend umkommen; man nimmt ihnen, damit sie ganz verlassen seien, die ihrer Verbindung entsprossenen Kinder, auf dass diese nicht befleckt werden von den Sünden der Mutter, die über den Bussen, die sie übte, nicht vergessen konnte, dass sie ein Weib sei. Erst in neuerer Zeit macht sich eine starke Strömung geltend, welche die harten Sitten beseitigen will und die Wiedervermählung der Witwen begünstigt. Gelangen ja doch im neueren Rechte auch schon Witwen und Töchter bei der Teilung des Vermögens zu Sohnesteilen, aus welchen sie ihren Unterhalt selbst bestreiten. Ja sogar die Ausstattung heiratender Töchter ist nicht mehr der Willkür der Brüder überlassen. Hat der Erblasser keine männlichen Nachkommen, so schliessen Töchter, neuestens auch Witwen, auf ihre Lebensdauer die Seitenlinien vom Einrücken in das Familiengut aus. Indes darf man nicht ausser acht lassen, das diese Neuerungen lediglich eine Folge der nahen Berührung, ja des Drucks der europäischen Gesittung sind.
[996] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 83. Ganz das Nämliche sagt Mantegazza von den Ariern betreffs Europa, indem er bemerkt: „dass sie Europa viel mehr Wörter, Künste, Gewerbe und Religionen als Teile von ihrem Blute gegeben haben“. (Indien. S. 235.)
[997] Le Bon. A. a. O. S. 253.
[998] Theodor Pösche. Die Arier. Ein Beitrag zur historischen Anthropologie. Jena 1878. S. 151.
[999] Lefmann. Geschichte des alten Indiens. S. 28.
[1000] Starcke. Die primitive Familie. S. 273.
[1001] A. a. O. S. 182.
[1002] A. a. O. S. 271.
[1003] „Der Geschlechtstrieb oder die Liebe“, — schreibt Sacher-Masoch, „bleibt der ewige Angelpunkt, der Keim jedes Verhältnisses zwischen Mann und Weib, aber nur der Keim, aus dem sich bei steigender Entwicklung der geistigen Natur das Bedürfnis nach einer höheren Einheit in Gesinnung und Interessen entwickelt.“ (Sacher-Masoch. Marzella. S. 438). Und: „Die Grundlage unserer Ehe ist die sinnliche Liebe. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, aber diese Grundlage allein genügt mir nicht, und ich sehe aus ihr alle Missstände, alle Gebrechen, alle Laster unserer Gesellschaft entspringen.“ (A. a. O. S. 435.) Und Dr. Starcke meint für das Naturkind das verneinen zu können, was der Dichter heute noch als Grundlage der Ehe in unserer so hochentwickelten Zeit bezeichnet?
[1004] A. a. O. S. 178.
[1005] Siehe oben S. 243.
[1006] Lefmann. A. a. O. S. 90.
[1007] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 257.
[1008] Lefmann. A. a. O. S. 117.
[1009] Lefmann. A. a. O. S. 363.
[1010] A. a. O. S. 389.
[1011] Lefmann. A. a. O. S. 449.
[1012] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 135.
[1013] Emil Schlagintweit. Wander- und Zigeunerstämme im nordwestlichen Indien. (Globus. Bd. XLVI. S. 55–57, 71–74.)
[1014] Paul Bataillard. Les Tsiganes de l’âge du bronze. (Bulletin de la Société d’anthropologie de Paris, 2 décembre 1875.)
[1015] Dr. H. v. Wlisłocki im Globus. Bd. LIII. S. 185.
[1016] Starcke. Die primitive Familie. S. 18–21.
[1017] A. a. O. S. 136–137.
[1018] Starcke. A. a. O. S. 105.
[1019] W. H. Riehl. Die Familie. S. 135–137.
[1020] Wlisłocki, im Globus. Bd. LIII. S. 185. 189.
[1021] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 253.
[1022] Starcke. Die primitive Familie. S. 102.
[1023] Lefmann. Geschichte des alten Indiens. S. 472.
[1024] Lefmann. A. a. O. S. 467.
[1025] Schlagintweit. Indien in Wort und Bild. Bd. II. S. 150.
[1026] Siehe oben. S. 352–353.
[1027] Professor Wilson hat nachgewiesen, dass die Priesterschaft das Wort Agni, Feuer, für Agre, Altar, unterschoben hat. Diese Ansicht vertritt auch Max Müller, so dass nun Gottes Gebot in ursprünglicher Fassung so zu lesen ist: „mögen die Weiber, die nicht Witwen sind, sondern gute Ehemänner haben, näher kommen mit Öl und Butter. Die aber, welche Witwen sind, mögen zuerst an den Altar (Agre) treten, ohne Thränen, ohne Sorgen, sondern bedeckt mit schönem Edelgestein“.
[1028] Vgl. Aurel Mayr. Das indische Erbrecht. Wien 1873. S. 10.
[1029] Lefmann. A. a. O. S. 469–472.
[1030] Dr. Julius Jolly. Naradiya Dharmasástra, or the institutes of Narada. Translated for the first time, from the unpublished Sanscrit-Original. London 1876.
[1031] Dr. Jolly hat sie als highly indelicate unübersetzt gelassen.
[1032] Mantegazza. Indien. S. 281.
[1033] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 653.
[1034] Seit 1875 hat im englischen Indien kein Fall von Sati stattgefunden; in den Vasallenstaaten dagegen ist der Brauch noch nicht unterdrückt. In dem freilich unabhängigen Nepal fand bei der Bestattung des Sir Jung Bahadur 1877 die Verbrennung seiner drei Frauen statt; aber selbst in dem Vasallenstaate Bamra in Zentralindien duldete der Landesherr noch 1880 eine Sati. (Schlagintweit. Indien. Bd. II. S. 151.)
[1035] Mantegazza. Indien. S. 280.
[1036] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 650.
[1037] Trotz des Widerspruches der Brahmanen behaupten die Radschputen die Vertreter und reinen Nachkommen der alten Fürsten- und Kriegerkaste, der Kschatrya, zu sein, von welchen die heiligen Sanskritschriften berichten, und ihre äussere Erscheinung hat manches, das geeignet scheint, diesen Anspruch zu unterstützen. Dennoch bleibt ihre rein arische Herkunft zweifelhaft. Die gesellschaftlichen Zustände dieser Radschputen, die gegenwärtig über neunzehn Staaten herrschen und den ältesten Adel der Erde besitzen, haben nun eine so erstaunliche Ähnlichkeit[S. 482] mit dem Lehenswesen des europäischen Mittelalters, dass den ersten Beobachtern die Übereinstimmung eine vollständige schien. Erst genauere Forschungen ergaben, dass der Gesellschaftszustand der Radschputen nicht sowohl dem Lehenswesen, als einem Gesittungsgrade entspricht, welcher jenem unmittelbar vorhergegangen. Die Gesellschaft der Radschputen beruht nicht auf dem Lehenswesen, aber auf dem Systeme des Clans. Der unlängst verstorbene grosse britische Rechtsforscher Sir Henry Sumner-Maine nennt es „präfeudal“ oder, wenn ein solcher Ausdruck zulässig, „tribal“[1038] (von „Tribe“, Stamm).
ie Familie der Hindu — oder besser die Sippe, wie im vorhergehenden Abschnitte gesagt wurde — besass ursprünglich kein Zwischenglied, welches sie vom Volksganzen getrennt hätte. Mit anderen Worten, das ganze Volk der vedischen Arier zerfiel in einzelne Sippen, ungetrennt beieinander wohnende Verbände, welche gemeinsames Blut vereinigte. Um das vierte Jahrhundert unserer Zeitrechnung kamen nun nach Indien neue Eindringlinge, wahrscheinlich arischen Ursprungs, die sogenannten Radschputen oder „Königssöhne“, wie ihr Name besagt. Sie liessen sich in dem Lande nieder, welches östlich vom Indus bis jenseits der Aravulliberge sich erstreckt und heute noch Radschputana heisst.Worin unterscheidet sich nun die Gesellschaftsordnung der Radschputen von jener der Hindu, welche wir bisher betrachtet haben? Die letzteren leben in der ungeteilten Familie, in der Sippe, die Radschputen im Clan. Dies erfordert genauere Erläuterung. Zunächst ist es klar, dass die Sippe, die ungetrennte Familiengemeinschaft, nur ein Glied, eine Unterabteilung, wenn man will, eines grösseren sozialen Gebildes ist, das man gewöhnlich als Stamm (Tribe, Tribus) bezeichnet. Die vedischen Schriften erzählen allerdings nichts von arischen „Stämmen“; es kann aber doch wohl nicht anders gekommen sein, als dass auch im Vedavolke bei seinem allmählichen Fortschreiten auf indischem Boden Unterabteilungen sich bildeten, Zweige, welchen in gewissem Sinne der Wert von Stämmen zukam. Wenn man sich gegenwärtig hält, dass der „Stamm“ auch nichts weiter als eine gesellschaftliche Gliederung darstellt, so darf man vielleicht Zweige der gedachten Art in den Kasten erblicken. Dass die Kaste nichts Ursprüngliches ist, kann darin nicht beirren. Auch was wir Stamm nennen, hat sich erst allmählich durch Anschwellen der Kopfzahl aus der Horde gebildet. Verschieden erscheinen Stamm und Kaste bloss darin, dass ersterer, wie die Horde, als Geschlechtsgenossenschaft, wenn auch loser als diese, sich gibt, die Kaste aber in der Verschiedenartigkeit des Berufes ihren Grund findet. Es ist[S. 483] aber nachgewiesen, dass der Kaste ursprünglich keineswegs bloss die letztere, soziale Bedeutung, sondern auch, und zwar in erster Linie, eine ethnische Bedeutung zukam, worauf auch ihr Name Varna, d. i. Farbe, hinweist. Wissen wir doch, dass die Vaiçya, die Ackerbauer, aus einer vorarischen Bevölkerung entstanden. Bei der schwachen Kopfzahl der arischen Einwanderer konnten wohl auch die Kasten nicht sehr volkreich sein, und da zudem nur innerhalb der Kaste geheiratet werden durfte, so musste diese allgemach ebenfalls zu einer Art Geschlechtsgenossenschaft werden, deren Blutsbande kaum loser als jene eines Stammes gewesen sein mögen. Erst die trotzdem zunehmende Vermischung mit den Eingeborenen gestaltete das anfängliche ethnische Verhältnis in ein soziales um, ohne indes die Grundvorstellung von einer Einheit des Blutes völlig auslöschen zu können. Das Streben nach Reinerhaltung der Kaste hat keinen anderen Sinn. Innerhalb der Kaste steht nun, wie anderwärts innerhalb des Stammes, die Familie, richtiger die Sippe der Hindu.
Es ist bedauerlich, dass die meisten Ausdrücke, auf deren Benutzung wir uns angewiesen sehen, einer scharfen Sinnbegrenzung entbehren. Wo z. B. die Grenze zwischen Horde und Stamm zu ziehen sei, ist schwer zu sagen. Im Grunde genommen ist die Horde ein kleiner Stamm, der Stamm eine grosse Horde, ja selbst ein ganzes Volk braucht nicht notwendig mehrere Stämme zu umfassen, sondern kann bloss ein ausgedehnter Stamm sein. Ein Wort, welches häufig eben so unbestimmt gebraucht wird, ist Clan oder Unterstamm, dessen Entstehen im Kreise der Mutterfolge wir schon kennen gelernt haben.[1039] Dr. Le Bon meint, im Grunde sei der Clan nur die vergrösserte Familie. Das Nämliche lässt sich von der Sippe aussagen. Entwicklungsgeschichtlich ist aber die Sippe keine vergrösserte Familie, sondern die Familie eine verringerte Sippschaft, der Stamm keine Ausdehnung des Clans, sondern der Clan eine Einschränkung des Stammes. Es ist daher sinnverwirrend, wenn der sonst so scharf denkende Le Bon sagt, es sei der Familie kaum möglich, zum Clane zu werden, ohne durch[S. 484] den Stamm zu gehen.[1040] Vielmehr kann der Clan bloss aus dem Stamme entstehen. Mit der Familie, d. h. mit der Familie, wie wir sie verstehen, darf der Clan nicht verwechselt werden, weil, wie ich schon einmal erklärte, die letztere zur Zeit der Clanbildung noch gar nicht bestand. Dies scheint auch Dr. Starcke nicht erwogen zu haben, so sehr er den Gegensatz von Familie und Clan betont. Wie der Clan entsteht, sagt er uns nicht; er fasst aber denselben als neben und unabhängig von der Familie vorhanden auf. Der dänische Gelehrte unterscheidet: Stamm, Clan, Familiengruppe und Familie. Mit dem Worte Stamm bezeichnet er bloss „eine Gruppe von Individuen, welche zusammen wohnen und unter welchen das Vereinigungsband gemeinsamer Wohnort, Sprache u. s. w. ist. Ein Stamm kann eine Anzahl von Clanen, Familiengruppen und Familien umfassen; derselbe Clan kann in mehreren Stämmen zerstreut leben. Es wird aber eben die Frage sein, ob ein ursprünglicher Unterschied zwischen Stamm und Clan anzunehmen sei. Der Stamm ist als die primitive Form einer Staatenbildung aufzufassen; der Clan aber unter diejenigen Bildungen einzureihen, welche auf Vorstellungen einer Verwandtschaft beruhen.“[1041]
Für diejenigen meiner Leser, welche mir bisher gefolgt sind, wird die Frage, ob ein ursprünglicher Unterschied zwischen Stamm und Clan anzunehmen sei, sich leicht erledigen. Der Stamm, eine Anschwellung der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft, bewahrt diesen Charakter, wenn auch, wie begreiflich, in schwächerer Weise. Die der Geschlechtsgenossenschaft zugrunde liegende Blutsgemeinschaft verliert im Stamme an Quantität, nicht an Qualität. Nicht gemeinsamer Wohnort, gemeinsame Sprache u. dgl. sind das einzige Vereinigungsband des Stammes; sondern was eben die Menschen an einem gemeinsamen Wohnort vereinigt, ist vor allem die das Gefühl der Zusammengehörigkeit wachrufende Voraussetzung gleicher Abstammung, worin die gemeinsame Sprache sie bestärken muss. So irrig es ist, heutzutage Sprache und[S. 485] Rasse gleichzusetzen, so kann dem in der Urzeit doch nicht anders gewesen sein. Innerhalb des so gearteten Mutter-Stammes ward nun durch Exogamie der Clan geschaffen. Wie der Stamm selbst gründete er sich lediglich auf das weibliche Blut; dem Wesen nach war also kein Unterschied zwischen beiden. Dem Leser wird es ferner auch nicht entgehen, dass es unzulässig ist, für den Anfang im Clan Familiengruppen und Familien zu unterscheiden. Zur Zeit der Clanbildung gab es weder die einen noch die anderen, sondern einfache Muttergruppen, auf welche unsere Bezeichnung „Familie“ nicht anwendbar ist. Auf dem Wege zum Patriarchate waren es gerade die Reste der Mutterfolge, welche die Clanschaften, die Goira, Thums, Kilis, oder wie die Benennungen dafür bei vielen indischen Volksstämmen lauten, zu erhalten pflegten.[1042] Als die Vaterschaft endlich den Sieg errungen, sah sie sich vorerst an der Spitze einer durch Blutsbande zusammengehaltenen Geschlechtsgruppe, welche noch lange nicht die Familie war, wie Dr. Starcke sie auffasst. Eine Familie, sagt er, wird durch die Ehe gegründet; die Ehe in ihrer weitesten Ausdehnung ist ihm „nichts als eine Verbindung zwischen Mann und Weib, welche von einer mehr als augenblicklichen Dauer ist und während welcher die beiden gemeinsam für ihre Nahrung sorgen. Eine Familiengruppe und noch mehr ein Clan wird durch das Blut getragen, d. h. man wird als Mitglied der Gruppe geboren. Wir haben somit zwei sehr verschiedene und anscheinend völlig inkommensurable Grundlagen der Familienassoziation. Die Familie erhält eine immer grössere Festigkeit, je grössere Heiligkeit das eheliche Band zwischen den Eltern erhält; Familiengruppe und Clan sind dagegen etwas Stabiles, niemals gestiftet noch aufgelöst, nur daseiend und lebend.“[1043] „Die Familiengruppe entsteht aus der Familie, setzt ein Ehepaar und dessen Kinder voraus.“[1044]
Die hier vorgetragenen Ansichten sind durchaus den heute[S. 486] herrschenden Verhältnissen nachgebildet; letztere sind aber erst etwas Gewordenes, und es geht nicht an, insbesondere angesichts der so zahlreichen, dagegen sprechenden Thatsachen, dieses Gewordene als ein von allem Anfange an Gegebenes zu setzen. Die Familiengruppe entsteht nicht, wie Starcke glaubt, aus der Familie, sondern umgekehrt sondert sich ganz allmählich aus dem, was er Familiengruppe nennt, die Familie ab. Gewiss setzt dieselbe ein Ehepaar und dessen Kinder voraus; es hat aber lange, sehr lange gedauert, bis es zum „Ehepaare“ kam. Eine Verbindung von Mann und Weib, wenn sie auch von mehr als augenblicklicher Dauer und fruchtbar ist, begründet eben noch lange keine „Familie“. Vater, Mutter und Kinder sind freilich die natürlichen Bestandteile derselben; aber nicht um das, was in naturgeschichtlichem Sinne als Familie zu betrachten ist, handelt es sich, sondern um das kulturgeschichtliche Gebilde, das uns als Familie gilt. Dieses bestand ursprünglich und besteht noch bei vielen Völkern nicht, ebenso wenig wie eine Ehe, die dieses Namens annähernd wert wäre. Als die mütterlichen Clane sich bildeten, war von einer Familie, kulturgeschichtlich gesprochen, noch keine Rede, wenngleich selbstverständlich fruchtbare Paarung zu allen Zeiten den Kern aller gesellschaftlichen Verhältnisse ausmachten. Erst mit dem Aufkommen des Patriarchates nähern wir uns, wie in früheren Abschnitten entwickelt wurde, Zuständen, in welchen der Begriff der Familie schlummert. Zunächst ist es noch eine durch die mütterliche Abstammung verbundene Genossenschaft, über welche der Mann als Herr und Patriarch Gewalt gewinnt; im Clane steigt er zum Häuptling auf. Jene Genossenschaft Blutsverwandter ist die Sippe, ein weit treffenderes Wort als Familiengruppe. Die Sippe schliesst schon alle Elemente der späteren Familie ein, ist aber diese noch nicht, wie ja die Verschiedenheit der Bezeichnung deutlich genug besagt. Gleichwie, um der Chemie ein Beispiel zu entlehnen, die Natur in der atmosphärischen Luft Sauerstoff mit Stickstoff, etwas Kohlensäure und Wasserdampf zu einem innigen Gemenge vereint hat, das bloss der Scheidekünstler in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen vermag, so sind uranfänglich auch die sozialen Elemente[S. 487] verschmolzen, bis der grosse Scheidekünstler Gesittung sie nacheinander allmählich auslöst und zu neuen Verbindungen gruppiert. Ob und wie Sippe und Clan sich ursprünglich unterschieden, ist schwer zu sagen; es lässt sich aber denken, dass bei nicht allzu grosser Kopfzahl der mutterrechtliche Clan einfach zur patriarchalischen Sippe ward, dass also Clan und Sippe zusammenfielen, wie denn Dr. Starcke auch mit Recht seine „Familiengruppe“ dem Clane naherückt. Natürlich führten Zeit und Umstände vielfach eine Unterscheidung zwischen der engeren Sippe und dem weiteren Clane herbei. Die Mitglieder desselben Clans (Gotra) nennen sich Samanodoca und ihre Verwandtschaft endet erst, wenn Geburts- und Familiennamen nicht mehr bekannt sind. Wie bei den Chinesen für jedermann, so ist es in Indien für den Brahmanen ungesetzlich, ein Weib zur Frau zu nehmen, dessen Gotranamen derselbe wie sein eigener ist. Wenn nun aber Dr. Starcke den Clan als eine Blutsgruppe von hervorragender juridischer Bedeutung, ja als eine „exklusive Rechtsgruppe“ bezeichnet[1045], so ist er dies erst geworden durch die unter dem Patriarchate entstandene bürgerliche Verwandtschaft, welche reine und unreine Clane schuf.
Bei den Radschputen, welche diese rückblickenden Betrachtungen veranlassten, hat Alfred Lyall diese Vorgänge beobachtet. Die ganze Clangesellschaft ist dort durch das Blutsband verknüpft. An der Spitze des Clans steht der Häuptling, alle Clangenossen betrachten sich aber als dessen Brüder und Gleiche.[1046] Die Radschputen sind stolz auf ihren edlen Ursprung, den sie bis in ein hohes Altertum hinauf nachweisen können. Der ärmste Radschpute kann heute noch, wie L. Rousselet versichert, vermittelst des sorgfältig geführten Stammbaums seines Clans, seinen Ursprung bis zu dem Punkte hinaufführen, in welchem dieser sich von dem Hauptstamme abgezweigt hat, und zwar mit Sicherheit auf mehr denn fünfzehn Jahrhunderte zurück.[1047] Die Bewahrer[S. 488] dieser Genealogien sind vornehmlich die heroischen Dichter oder Barden (Bhât), deren Person geheiligt ist und deren jeder Clan wenigstens einen besitzt.[1048] Jeder Clan eines Stammes führt seinen besonderen Namen und dieser bezieht sich allemal auf irgend ein bemerkenswertes Ereignis im Leben des Gründers. Ein Clan nun, welcher auf gemeinsamer Abstammung seiner Mitglieder beruht, die gewöhnlich beisammen leben, auf demselben Gebiete wohnen und einen wirklichen Stammbaum besitzen, — ein solcher Clan ist ein reiner. Ein unreiner Clan ist dagegen keine Genossenschaft Blutsverwandter, wohl aber eine einer solchen Genossenschaft nachgebildete Körperschaft. Lyall hat die Neubildung solcher unreiner Clane beobachten können. Irgendwo erhebt sich ein kühner, unternehmungslustiger Mann, der auf Abenteuer ausziehen, vielleicht eine Räuberbande gründen will. Er ruft zu diesem Behufe zunächst solche seiner Blutsverwandten herbei, über die er Einfluss gewonnen und welche ihm mit Begeisterung folgen. Aber auch Nachbarn, Abenteurer, herabgekommene Menschen, von ihrer Umgebung ausgestossene Verbrecher schliessen sich gar bald dem kleinen Häuflein an. Man zieht fort, ergattert in Güte oder Gewalt ein Stück Land, auf dem man sich niederlässt und das man umhegt. Um sich von den benachbarten oder feindlichen Bevölkerungen zu unterscheiden, nehmen alle Glieder des kleinen Häufleins den Namen des Anführers an. Dieser künstlich geschaffene Stamm, d. h. diese Vereinigung von Abenteurern verschiedenen Ursprungs, wird ein solcher aber erst dann, wenn die verschiedene Herkunft der einzelnen soweit vergessen ist, dass deren Nachkommen sich für die echten Nachkommen des Stifters halten können.[1049] Solche Räuberstämme nehmen nun ihrerseits beständig fremde Leute auf, welche irgendwelche Umstände zum Ausscheiden aus ihren angestammten Verhältnissen bewogen. In diesem Menschenknäuel wirkt nun der Gedanke der Blutsverwandtschaft von neuem und reorganisiert sie systematisch in Gruppen. Jeder neu Eintretende hängt trotz allem so an seiner alten Herkunft und Sitte, dass er darauf besteht, innerhalb des[S. 489] Stammes einen bestimmten Kreis unter dem Namen seines ursprünglichen Clans, seiner Kaste oder Heimat zu gründen.
Man sieht, welche merkwürdige Rolle bei der Entstehung dieser unreinen Clane die Einbildung spielt; ein solcher unreiner Clan ist nur unter dem Patriarchate möglich, welches statt des Blutsbandes ein Rechtsband um die Genossenschaft schlingt. Dennoch ist es die Einbildung eines Blutsbandes, welche am mächtigsten auf die Bildung jener Clane wirkt. Es ist dies eine eingebildete Vorstellung, welche aus unserer abendländischen Welt keineswegs verschwunden ist. Handelt es sich doch um nichts Geringeres, als um den Anspruch auf eine bessere Herkunft und einen älteren Stammbaum, als jene, wozu man thatsächlich berechtigt ist. Im Abendlande wird das, was ehemals Stärke war, Schwäche; allein im Morgenlande, im Schosse durch den Verwandtschaftsgedanken geeinter Gesellschaften, stellt es noch immer eine Kraft vor. Ein Mann von hervorragender Tapferkeit und bedeutendem Ansehen bildet einen Clan mit Hilfe seiner Verwandtschaft und seines Gefolges; sein Erfolg schützt den Clan sofort selbst gegen jene Gefahren, die aus der numerischen Ungleichheit der Geschlechter entspringen. Es wird ein sogenannter reiner Clan mit einem wahrhaften Stammbaum, in dem man a priori die Vaterschaft des Gründers als eine sichere Thatsache voraussetzt. Der Clan kann auch exogam sein, entweder infolge der Anzahl Gefangener, die stets einen Teil seiner Beute bilden, oder einfach, weil die Gewohnheit, sich Weiber aus der Ferne zu holen, die physische Kraft desselben vermehrt und ihm das Übergewicht im Kampfe ums Dasein verschafft hat.[1050]
Bei den Radschputen ist nun die Exogamie durch Religion und Sitte gleich geheiligt. Der echte Radschpute achtet auf ein endloses Verzeichnis verbotener Verwandtschaftsgrade, zugleich aber lebt er in einem Kreise, innerhalb dessen er sich beweiben muss. Er muss das Weib seiner eigenen Kaste und darf sie nicht seinem eigenen Clane entnehmen. Vielweiberei herrscht bei den Radschputen, wie in allen Staaten Indiens. Jeder Wohlhabende[S. 490] hat zum mindesten drei Frauen; stets aber ist eine darunter die erste oder Hauptfrau. Die Frauen spielen auch in bezug auf das öffentliche Leben eine wichtige Rolle, und man unternimmt nichts von Bedeutung, ohne sie zuvor um Rat befragt zu haben. Eine Frau, welche eine ihr angethane Beleidigung gerächt wissen will, schickt irgend einem Krieger, den sie sich zum Kämpen ausersehen hat, ein Armband zu, und damit ist derselbe verpflichtet, für sie einzutreten. Wenn ein Stamm oder Clan dem andern seine Mädchen verweigert, so führt dies zu Blutfehde; das Scheingefecht, das sonst in Erinnerung an den einstigen Frauenraub beim Abholen der Braut aufgeführt wird, artet dann in blutigen Kampf aus — es ist dann thatsächlich Frauenraub — und kann langdauernde Stammesfeindschaft zur Folge haben. Der Arme, der streng an der Kastenvorschrift hält, kann sich längeres Suchen um eine Frau natürlich nicht erlauben; unter der arbeitenden Klasse der Radschputen ist deshalb die Zahl der Junggesellen grösser als sonstwo.
Die Schwierigkeit, die Tochter an den Mann zu bringen, liess sodann die Tötung neugeborener Mädchen zur nationalen Eigentümlichkeit heranreifen. Durch seine Hauschronisten vor jeder Missheirat ängstlich gemacht, greift der Radschpute hohen Ranges für den zu verheiratenden Sohn schliesslich zur Tochter aus geringer Radschputkaste, weil diese zum eigenen Stamm oder Clan sicher nicht verwandt ist. Dies hat eine fortwährende Standeserhöhung weiblicher Mitglieder aus Kasten von geringem Ansehen zur Folge; es befriedigt nicht nur den Ehrgeiz der Angehörigen, von höher Stehenden gesucht zu werden, die reichen Morgengaben verhelfen den Eltern der jungen Frau auch zu Vermögen. Anders unter den Kasten hohen Ranges; je bevorzugter die soziale Stellung, desto enger der Kreis, in welchem eine ebenbürtige Heirat möglich ist und dies bildet die Ursache, dass in solchen Kreisen die Väter ganz regelmässig auf die Achtung ab Schwiegerväter verzichten, Grosselternfreuden sich versagen und ihre Töchter gedungenen Mördern zur Tötung übergeben.[1051]
Wie im übrigen Indien ist auch die „Familie“ der Radschputen die Joint-family, die Sippe. Ihr Oberhaupt verwaltet das Vermögen und übt unbedingte moralische Autorität. Bei seinem Ableben folgt ihm der älteste Sohn, ohne dass es jedoch zu einer Teilung der Güter käme. Alle Mitglieder der Genossenschaft unterwerfen sich ihm, wie früher seinem Vater. Keines besitzt ein Sondereigentum. Alle beweglichen und unbeweglichen Güter sind ein Gemeineigentum, von dem nichts ohne Zustimmung aller veräussert werden kann. So ist denn die Joint-family eine moralische Person, welche besitzt, erwirbt und eine ewige Dauer hat, wie die tote Hand. Sie ist zugleich der vollendete Typus jener altertümlichen Form ungeteilten Besitzes, der in allen ursprünglichen ackerbauenden Gesellschaften auftritt. Ihn verkörpert bis auf unsere Tage die indische Dorfgemeinde. Manus Gesetzbuch spricht bloss von Dörfern, welche heute noch in Indien politisch und wirtschaftlich die Einheiten bilden. Über ihnen steht nur der Staat. Das Dorf ist die wahre Heimat der Hindu und in gewissem Sinne auch sein Clan, seine Sippe; vom Standpunkte unserer jetzigen abendländischen Verhältnisse könnte man sagen, das Dorf sei nichts als eine erweiterte Familie.[1052] Zweifelsohne ist auch die indische Dorfgemeinde aus den Familienzuständen hervorgewachsen, ihnen nachgebildet; sie ist die reinste Form der „Heimatsregierung“ (Home-rule), welche in der einfachsten Patriarchalverfassung wurzelt, da alle Brüder, als gemeinsame Eigner des Sippenlandes, beisammen lebten und dasselbe unter dem väterlichen Oberhaupte bebauten. Jedes Hindudorf ist eine Vereinigung solcher Sippen, welche zueinander in die engste gesellschaftliche Verbindung getreten sind[1053] und sich für Nachkommen eines gemeinsamen Stammvaters halten.[1054] In vielen Fällen ist dies auch genau; dann bilden die Dorfinsassen einen wahren Clan (Gotra). Manchmal aber sind es drei bis vier Sippschaften,[S. 492] welche den für Fremde mehr oder weniger offen stehenden, zugänglichen Grundstock des Dorfes darstellen. Dann ist die Verwandtschaft natürlich eine bloss eingebildete — wie ein unreiner Clan — nichtsdestoweniger aber allgemein anerkannt und angerufen. Das Dorf zerfällt heute in verschiedene Haushaltungen, jede mit eigener Wohnung und eigenem Landstück, was jedoch gewiss als eine neuere, nicht ursprüngliche Einrichtung zu betrachten ist. Alles im Besitze des Haushaltes befindliche bewegliche Gut, wie Vieh, Ackergeräte u. dgl., sowie der Anteil der Haushaltung an den Einkünften des Dorfes gehören den Mitgliedern der Sippe gemeinsam; die dem Dorfe gehörigen Liegenschaften sind dagegen gemeinsames Eigentum aller Dorfinsassen, welche sie auch gemeinsam bebauen und sich in deren Erträgnis teilen.[1055] Und so wie jede Sippe unter einem gemeinsamen Oberhaupte steht, so stehen wieder alle Dorfbewohner unter einem gemeinsamen Vorstande, der aber im Einvernehmen mit dem ursprünglich aus fünf Mitgliedern gebildeten Dorfrate, dem Pantschayat, handeln muss. Es ist dieser Pantschayat eine der ältesten indischen Einrichtungen.[1056] Vor der britischen Herrschaft kannten die indischen Dorfbewohner auch nicht das Testament; Grund und Boden wurde weder verkauft, noch verpachtet noch vererbt.[1057] Allmählich erst gelangte man in gewissen Bezirken dazu, Liegenschaften zu veräussern, aber es bedurfte der Zustimmung der Eltern, der Miteigentümer, der Nachbarn.[1058]
Wie man sieht, entspricht die Dorfschaft so ziemlich dem Clane, zumeist dem unreinen, wie er auf dem Boden des Patriarchats gedeiht. Mehrere Dörfer bilden dann einen Stamm, doch ist dies nicht unbedingt nötig; der Stamm kann auf ein Dorf beschränkt sein; in Peru z. B. sprach jedes Dorf, bevor die Inka das Land eroberten, seine eigene Zunge, die den Nachbarn unverständlich war. Personen gemeinsamer Sprache fühlten sich als[S. 493] eng verbundene Verwandte und waren es wohl auch dem Blute nach. In einem solchen Dorfe lebten mehrere Sippen nebeneinander, aber unter Umständen kann auch eine Sippe gross genug sein, um ein Dorf für sich zu bilden. Dann fällt die Sippe mit Dorf und Clan zusammen. Daher leider das Schwankende, Unbegrenzte, welches allen diesen Ausdrücken anhaftet. Sie alle kennzeichnet der gemeinsame Bodenbesitz, welcher nach Sir Henry Sumner-Maines scharfsinnigen Forschungen einst eine Etappe auf dem Gesittungswege aller Völker gebildet hat. Spuren davon haben sich in China erhalten, wo die Familie mit ihrem ungeteilten Besitzstande noch an die alte Sippe mahnt. Ganz unverfälscht besteht die Dorfgemeinschaft in vielen Teilen Javas. Gerade wie in China der Kaiser im Grunde für den alleinigen Besitzer alles Bodens gilt, so eignet derselbe in den Augen der Javanen, eines Volkes malayischen Stammes, dem Schöpfer und infolge dessen seinem Stellvertreter auf Erden, dem Fürsten, welcher den Unterthanen bloss den Nutzgenuss überlässt. Die javanische Dorfgemeinde, Dessa genannt, befindet sich im ungeteilten Besitze des Grund und Bodens, den die Dorfbewohner gemeinschaftlich bearbeiten. Sie steht unter einem jährlich gewählten Oberhaupte, welchem dafür ein grösserer oder besserer Anteil zugestanden wird. Bei den Arabern der algerischen Ebenen schliesst schon die Stammesregierung die Verneinung des persönlichen Grundeigentums sozusagen in sich.[1059] Diese leben gemeinschaftlich unter Zelten und unter einer aristokratischen Herrschaft. Ein Kreis von Zelten bildet ein Duar; mehrere vereinigte Duar eine Ferka oder Stammesabteilung (Clan) unter dem Befehle eines Scheich, mehrere Ferka endlich den Stamm, über den ein Kaïd gebietet.[1060] Der Stamm ist auf Grund verschiedener Rechtstitel der Eigner des Bodens, welcher bei gewissen Stämmen, besonders in der Provinz Constantine, alljährlich durch den Scheich unter den Stammesmitgliedern verteilt[S. 494] wird.[1061] Ganz ähnlichen Verfassungen begegnet man in der Vergangenheit von Mexiko und Peru, wie heute noch in Osteuropa bei Lappen, Karelen, Samojeden, Mordwinen, Tschuwaschen und Tscheremissen. Auch die indogermanischen Völker kannten dieses System; dass es aber nichts Indogermanisches an sich ist, beweisen die eben aufgeführten Beispiele. Wie Cäsar und Tacitus melden, fanden sie den Gemeingrundbesitz bei den Germanen.[1062] „Die Feldmarkung, je nach der Anzahl der Bebauer grösser oder kleiner, gehört der ganzen Gemeinde als Gesamtbesitz und diese verteilt die Grundstücke unter ihre Mitglieder nach Massgabe ihres Ranges. Die Möglichkeit dieses Verfahrens liegt in der grossen Ausdehnung der Markungen. In der Bebauung wechselt man alljährlich das Feld, wobei immer noch ein Teil desselben frei bleibt.“[1063] Und als sich im zehnten Jahrhundert im Thale Schwyz freie Leute ansiedelten, erhielt zwar jeder neue Ansiedler bei seiner Niederlassung sein eigenes Haus und seinen eigenen Hof mit dem zugehörigen Lande als Sondereigentum; alles übrige Land blieb aber in Gemeinschaft und bildete die gemeine Mark oder die „Landsallmende“. Gemeinbesitz herrschte auch bei den Kelten Irlands zur Zeit der Brehon-Gesetze[1064], welche wohl ursprünglich kurz nach Einführung des Christentums in Irland, d. h. zur Zeit als man dort der Schrift sich zu bedienen begann, abgefasst wurden. Starb ein Mitglied des Sept, der irischen Sippe, so nahm[S. 495] der Häuptling eine neue Verteilung des Bodens unter den Mitgliedern des Sept vor, deren Anteile dadurch grösser wurden. Die Erbschaft in gerader Linie bestand noch nicht; der ganze Clan trat als Erbe auf. Gemeinbesitz liegt endlich auch der Dorfgemeinde der Grossrussen, dem Mir, zu Grunde. Noch im neunzehnten Jahrhundert stellten die Verhältnisse der uralischen Kosaken, meist grossrussischen Ursprungs, getreulich die Besitz- und Nutzniessungsweise der Stämme oder Clane vorgeschichtlicher Zeiten dar. Bis in die Mitte dieses Jahrhunderts bildete der ungeheure Raum längs des Uralstromes ein einziges, ungeteiltes Eigentum des Kosakenheeres, gab es nicht ein Stückchen Land, welches einem Einzelnen, oder etwa einer Stadt oder einer Stanitza (Kosakendorf) angehörte. Besitz und Nutzniessung waren allen gemeinsam. An dem vom Ataman (Hetman) bestimmten Tage und auf das Zeichen der Offiziere jeder Stanitza setzten sich die Arme aller Kosaken zur Heuernte in Bewegung. Was am ersten Tage die Sense mähend umgrenzen konnte, war des einzelnen rechtmässiges Eigentum, das er darauf mit Musse einheimsen konnte. Auch in den kalten Strichen des Gouvernements Olonez hat man einen gemeinschaftlichen Bodenbesitz entdeckt, bei welchem das Verhältnis der persönlichen Nutzniessung lediglich von der thatsächlichen Arbeit des Einzelnen abhängt.[1065] Im grossrussischen Dorfe besitzt nun der Bauer (Muschik) dauernd gewöhnlich bloss seine Hütte (Izba) und das kleine dazugehörige Gartenstück (Usadba). An dem weitaus grösseren Grundbesitz der Dorfgemeinde hat er bloss einen ihm zugewiesenen und wechselnden Anteil, dessen Nutzniesser er gewissermassen ist. Denn von Zeit zu Zeit wird alles Gemeindeland unter den Haushaltungsvorständen nach Massgabe der männlichen Mitglieder jedes Haushaltes von neuem verteilt. Der Mir ist, wie sein Name besagt, eine Welt für sich. Zumeist besitzt er einen einzigen selbstgewählten Beamten, den Starosten oder Ältesten, der an der Spitze der aus den Haushaltungsvorständen gebildeten Gemeinde[S. 496]versammlung steht. Alles auf die Gemeinde Bezügliche fällt in den Wirkungskreis dieser Versammlungen. Insoweit ist die Gemeinde ein Organ örtlicher Selbstregierung, wobei aber ihre sämtlichen Mitglieder für alle Lasten auch gemeinsam verantwortlich und haftbar sind. Das Vorbild aller dieser Dorfverfassungen, die mehr oder weniger dem Clane entsprechen, bleibt aber überall die Sippe.
[1037] Le Bon. Les civilisations de l’Inde. S. 85.
[1038] H. Sumner-Maine. De l’organisation juridique de la famille chez les Slaves du Sud et chez les Rajpoutes. (Extrait de la Revue générale du droit.) Paris 1888. S. 27.
[1039] Siehe oben. S. 188–190.
[1040] Le Bon. A. a. O. S. 407.
[1041] Starcke. Die primitive Familie. S. 14.
[1042] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 90.
[1043] Starcke. A. a. O.
[1044] A. a. O. S. 15.
[1045] Starcke. A. a. O. S. 193.
[1046] Le Bon. A. a. O. S. 408.
[1047] Globus. Bd. XXII. S. 85.
[1048] Revue d’anthropologie. 1873. S. 66.
[1049] Le Bon. A. a. O.
[1050] Sumner-Maine. De l’organisation juridique de la famille. S. 34–35.
[1051] Schlagintweit. Indien. Bd. II S. 55–56. Vgl. auch: Revue d’anthropologie 1874. S. 705–706.
[1052] Le Bon. A. a. O. S. 639.
[1053] Monier Williams. Modern India and the Indians. London 1879. S. 39.
[1054] Emile de Laveleye. De la propriété et de ses formes primitives. Paris 1874. S. 351.
[1055] Le Bon. A. a. O. S. 640.
[1056] Monier Williams. A. a. O. S. 42.
[1057] Laveleye. A. a. O. S. 170.
[1058] Letourneau. Sociologie. S. 399.
[1059] Jules Duval. Réflexions sur la politique de l’Empereur en Algérie. Paris 1866. S. 78.
[1060] Rodolphe Dareste. De la propriété en Algérie. Paris 1864. S. 82.
[1061] Dareste. A. a. O. S. 86.
[1062] Sed privati ac separati agri apud eos nihil est, neque longius anno remanere uno in loco in colendi causa licet. (Caesar. De bello gallico. IV. 1); ferner: Neque quisquam agri modum certum aut fines habet proprios: sed magistratus aut principes in annos singulos gentibus cognationibusque hominum, qui una coierint, quantum, et quo loco visum est, agri attribuunt atque anno post alio loco transire cogunt. (A. a. O. VI. 22.)
[1063] Agri pro numero cultorum ab universis per vices occupantur, quos mox inter se secundum dignationem partiuntur; facilitatem partiendi camporum spatia praestant. Arva per annos mutant, et superest ager. (Tacitus. Germania. 26.)
[1064] Ancient laws of Ireland, published under the direction of the Brehon Law Commission. London 1865–79. 4 Bde. Vgl. auch Sir H. Sumner-Maine. Lectures on the early history of institutions. London 1875.
[1065] A. Leroy-Beaulieu. L’empire des Tsars et les Russes. Bd. I. S. 497–498.
[S. 498] Patriarchenfamilie — ἄναξ, βασιλεύς — war auch der älteste „König“, d. h. ein König, der von den Göttern stammte und zugleich Priester dieser seiner Ahnenväter war. Die griechische Sage gewährt einen Einblick in diese Zeit des ältesten Königtums, das später durch ein jüngeres verdrängt wurde, in welchem der König als das Haupt eines kombinierten Familienbundes erscheint, sei es, dass sich ein solcher Verband nach der Analogie der Familie einen König gewählt, oder dass ein eroberndes Geschlecht sein Königtum mehreren Geschlechtern aufgezwungen hat.[1066] Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen „Königtum“ und „Tyrannis“. Der Tyrann kann die Regierungsgewalten ohne Wahl in sich vereinigen und selbst auf seine Nachkommen vererben, aber er ist nicht zugleich auch, wie der König, zum Priestertum geboren und führt seine Herrschaft nicht auf Grund seiner Beziehungen zu den höchsten Kultobjekten des Staates. Ihm fehlt also die religiöse Weihe und damit jener hohe Grad heiliger Unantastbarkeit des alten Königtums[1067], wie es an der Spitze der meisten Patriarchalgesellschaften, bei den Hindu, Kelten, Hellenen, Römern und Germanen angetroffen wird. Allen diesen Völkern ist nun auch zu Anfang der Sippenverband eigen, wenngleich unter verschiedenen Namen auftretend und nicht immer vom Clane scharf unterscheidbar, stets aber mit seinen wesentlichen, Clan wie Sippe kennzeichnenden Zügen. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei anderen Völkern. So leben die Bergstämme des Kaukasus, besonders die Abasen, in einer Art aristokratischer Republik, in der sich ein vollkommenes Lehenswesen ausgebildet hat. Eine gemeinschaftliche Sippenwohnung hiess Juneh, ihr Vorstand Juneh-is. Mehrere Juneh bildeten einen Tlakozük, d. h. eine grössere Familienverbindung (Clan), eine Anzahl Tlakozük aber einen Tlako, d. h. Gemeinschaft (Stamm), und mehrere Tlako einen Kau (Gau).[1068] In jedem Juneh wohnen, ausser den Eltern, ihre sämtlichen verheirateten Söhne, sowie alle unverheirateten Kinder[S. 499] nebst den Sklaven, die mit zum Gehöfte gezählt werden. Stirbt das Oberhaupt, so wird die Hinterlassenschaft nicht geteilt. Jeder ist verpflichtet und arbeitet darauf hin, dass alles unberührt beieinander bleibt. Ausser dem Oberhaupt erfreuen sich alle nebeneinander bei gleichen Pflichten gleicher Rechte.[1069]
iederholt ward darauf hingewiesen, wie der Übergang zur Herrschaft der Mannesgewalt in der Familie sich nicht vollzog, ohne dass Spuren der vorangegangenen Ordnung der Mutterfolge hinterblieben wären. Diese Spuren sind bei den verschiedenen Völkern mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger zahlreich, woraus hervorgeht, dass das Patriarchat nicht überall die gleiche Kraft gewann. Zu den mancherlei Beispielen dieser Art gesellt sich auch die Sippe. So wie wir dieselbe im Vorstehenden kennen lernten, hat sich in ihr wie im Clan das ungetrennte Zusammenleben der Blutsverwandten sichtlich erhalten, nur dass die früher mutterrechtlich geordnete Genossenschaft nunmehr auf die Abstammung in männlicher Linie sich gründet, das Weib überall in den Hintergrund und der Patriarch als aristokratisches Oberhaupt an die Spitze der Sippe wie des Clans getreten ist. Der kommunistische, jedenfalls demokratische Zug, welcher die mutterrechtliche Gesellschaft kennzeichnet, wurde aber in der Ungeteiltheit des Familienbesitzes bewahrt, von welchem sich erst allmählich das Weibergut und das persönliche Eigentum der Einzelnen (Peculium) aussonderten, während alles unbewegliche Eigentum Gesamtbesitz der Sippe oder des Clans verblieb. Wo das Patriarchat feste Wurzel schlug, entsprangen demselben überall aristokratische Verhältnisse, und das väterliche Haupt einerForscht man in der Geschichte der genannten Völker nach, so entdeckt man auch hier alsbald neben dem allen Gemeinsamen überall die Spuren älterer Verhältnisse, freilich in ungleichem Masse. Zu den altertümlichsten — natürlich nicht der Zeit nach, sondern entwicklungsgeschichtlich — zählen wohl jene, welche im Kreise der Kelten sich finden. Die Verfassung der Familie und der Gesellschaft ähnelt bei den alten Iren stark jener der Hindu, aber in Bezug auf die Stellung der Frau und die Verwandtschaftsverhältnisse weisen die Brehon-Gesetze ganz archaistische Züge auf, welche ohne eine vorangegangene Familienordnung der Mutterfolge schlechterdings unerklärbar bleiben. Nach dem Zeugnisse des heil. Hieronymus ging zu seiner Zeit (340–420 n. Chr.) bei den Skoten und Attikotten, zwei keltischen Völkerstämmen Grossbritanniens, noch Weibergemeinschaft und Kannibalismus im Schwange. In Irland stand zur etwas späteren Zeit der Brehonen die Ehe schon in Ehren, aber die Beziehungen der Geschlechter zueinander sind noch sehr locker. Neben der rechtmässigen Ehefrau finden wir die Konkubine, die Sklavin, Cumhal, welche einst gleich dem Vieh als Tauschmittel und Wertmesser gedient hatte. Das freie Weib genoss jedoch noch ausgedehnter Rechte. Die Kinder gehörten der Sippe, welche sie sogar verkaufen konnte, ein Gebrauch, der jedoch wahrscheinlich allmählich in Vergessenheit geraten war. Die Bevölkerung war in Clane (Triben, Fine) geteilt, deren Mitglieder sich durch die Abkunft von einem gemeinsamen Ahnen untereinander verbunden meinten. An der Spitze des Clans stand ein Oberhaupt, ein „König“. War der Clan zahlreich, so zerfiel er in mehrere Gruppen, Sippen, an deren Spitze geringere Häuptlinge standen, die Capita cognationum der anglo-irländischen Rechtsgelehrten. Diese Gruppen entsprachen[S. 500] der römischen Gens, dem griechischen γένος und jenen gentes oder cognationes hominum der Germanen, unter denen die alljährliche Verteilung des Bodens stattfand. Die juridische und politische Einheit in der gesellschaftlichen Ordnung war also nicht, wie heutzutage, das Individuum, sondern wie in Indien die ungeteilte Familiengruppe, Sept genannt, die Sippe. Der Sept hatte auch Ähnlichkeit mit jenen Familiengruppen, jenen Gesellschaften von Compani, von Frarescheux[1070], welche noch im mittelalterlichen Frankreich vorkamen und ein grosses Haus, die Cella, gemeinsam bewohnten. Léon Vanderkindere hat das Bestehen der Markgenossenschaft und des Sammeleigentums in Belgien bis tief ins Mittelalter hinein nachgewiesen.[1071] Der keltische Sept im alten Irland ist das treue Bild der Joint-family der Hindu, nur konnte er, auch ohne den Boden zu bebauen, infolge der Ausübung eines bestimmten Industriezweiges bestehen. Das Veräusserungsrecht stand aber unter allen Umständen dem Einzelnen, wie noch jetzt in Indien, nur mit Einwilligung der gesamten Genossenschaft zu. Der Flurzwang, die Verpflichtung, dieselbe Einteilung in Zelgern beim Bodenbau zu folgen, war ebenso streng wie im russischen Mir oder im altgermanischen Dorf.
Das Erbschaftssystem der altirischen Kelten, dessen schon im vorhergehenden Abschnitte gedacht ward und das die britischen Juristen Gavelkind nennen, zeigt aber auch auffallende Ähnlichkeit mit der sehr eigentümlichen, jetzt fast allenthalben schon im Verfall befindlichen „Hausgenossenschaft“ (Hauskommunion, Zadruga)[1072] der Südslaven. In der That ist der Sept nichts anderes als diese slavische Sippe oder Hausgenossenschaft. Wie der Sept entspricht sie dem griechischen γένος, der römischen Gens, aber nach verschiedenen Richtungen gibt sie sich als ein weit altertüm[S. 501]licherer Verband denn diese zu erkennen. Mit anderen Worten: bei den Slaven zeigt sich das Patriarchat lange noch nicht so fortgeschritten wie bei Griechen und Römern. Eben deshalb geziemt es jene östlichen Völker vor diesen zu studieren. Es wird sich dabei herausstellen, wie haltlos die Annahme jener ist, welche die im klassischen Altertume vorgefundenen Familienzustände, ohne alle Rücksicht auf die vergleichende Völkerkunde, als die ursprünglichen darzustellen lieben. Als Grundlage zu den nachstehenden Ausführungen benutze ich hauptsächlich die vortrefflichen Arbeiten von Prof. Balthasar Bogišić[1073] und des seiner Schule angehörenden Dr. Fried. Krauss.[1074]
Darnach findet sich die Hausgenossenschaft an den Anfängen aller Slaven; ihre Spuren sind selbst bei jenen Slavenvölkern erkennbar, wo sie längst schon erloschen ist. Immer und überall stellt sie sich als eine auf das Blutsband, auf die verwandtschaftlichen Beziehungen und zugleich auf die Gemeinsamkeit der wirtschaftlichen Interessen gegründete Gesellschaft dar[1075]; doch kann kaum zweifelhaft sein, welcher dieser beiden Faktoren der ursprünglich massgebende war. Wird doch bei einzelnen Stämmen in der Zrnagora, Herzegowina und um Cattaro das ganze Volks[S. 502]leben von dem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der von ein und demselben Vorfahren abstammenden Familien noch immer tief durchdrungen.[1076] In Russland erstrecken sich, wie wir sahen, die Grundzüge dieser Verbände noch bis auf die Gemeinde, das Dorf, während sie bei den Südslaven auf das Haus beschränkt sind. Immerhin bilden derartig blutsverwandte Genossenschaften unter sich eine politische und sakrale Vereinigung mit gemeinsamem Grundbesitz. Dieser Verband wird Bratstvo (Bruderschaft, griechisch φρατρία) genannt. Aus mehreren Bruderschaften, die ihren Ursprung von einem gemeinsamen Urahn ableiten, entwickelt sich das Pleme (in der Zrnagora und Herzegowina Nahija), nämlich der Stamm (lateinisch: Tribus, griechisch: φυλή)[1077]. Jeder derselben erhielt bei der Besiedlung des Landes einen von den anderen Plemena abgegrenzten Wohnbezirk, den man Župa nannte. Das gewählte Oberhaupt einer Župa hiess Župan, welches echt slavische Wort ursprünglich wohl zur Bezeichnung und als Name des Familienvaters diente, wie denn ehedem Župa allgemein die engere Sippe bezeichnet haben mochte.[1078] An der Spitze eines Pleme steht jetzt ein Stammesoberhaupt (Vojvoda, d. h. Herzog), der von den Stammesmitgliedern gewählt ward und dessen Würde bloss in einigen Plemena von altersher erblich war. Die Angehörigen eines Pleme, sofern sie nicht einem und demselben Bratstvo angehören, dürfen ohne weiteres miteinander Ehen schliessen. In der Gegenwart gibt es Plemena nur noch in der Zrnagora und zum kleinen Teil in der Herzegowina, und auch diese wenigen Überlebsel einer einst allgemeinen Einrichtung führen nur ein Scheindasein.[1079] Im allgemeinen verhält sich das Pleme zum Bratstvo, wie letzteres zur Hausgemeinschaft. Das Bratstvo nimmt seinen Anfang mit dem Ausscheiden blutsverwandter Brüder aus der Hausgenossenschaft, indem jeder für sich auf gemeinsamem Grund und Boden ein neues Heimwesen gründet. Wenn die[S. 503] Nachkommen und Zweiglinien der aus einer Hausgemeinschaft ausgetretenen Brüder in verwandtschaftlicher Fühlung bleiben und gewisse Angelegenheiten gemeinsam beraten und besorgen, so bilden sie eine Brüderschaft[1080], deren jede, gleich dem Pleme, eine Stammsage aufweist, die den Urahn verherrlicht.[1081] Alle Mitglieder einer Brüderschaft (Bratstvenici) betrachten sich untereinander als Anverwandte, und darum heiratete früher niemand aus seinem Bratstvo.[1082] In demselben treten alle für einen und einer für alle in jeder Hinsicht ein, was sich besonders in der noch nicht völlig ausgerotteten Blutrache offenbart. Ein Bratstvo bewohnt je nach seiner Kopfzahl ein oder auch mehrere Dörfer ganz ausschliesslich, doch gibt es auch solche Brüderschaften, die nur aus einigen Häusern eines Dorfes gebildet werden. Stets aber wissen die Mitglieder eines jeden Hauses sehr wohl, welchem Bratstvo sie angehören, mögen in demselben Dorfe auch mehrere Bratstva vorhanden sein.[1083] Aus dieser Darstellung springt die völlige Übereinstimmung des südslavischen Clan mit den im vorigen Kapitel geschilderten Zuständen in die Augen. Bei den Russen findet sich dieses Clanwesen nicht, wenn man nicht etwa die Dorfgemeinde selbst, den Mir, als einen Überrest desselben auffassen will. Politisch vertreten wird jedes Bratstvo durch ein von allen männlichen Mitgliedern der Brüderschaft gemeinsam gewähltes Oberhaupt, das verschiedene Namen, in der Zrnagora den fremden Namen Knez (aus dem deutschen Kunig, König) führt. In den Versammlungen haben nur die jeweiligen Hausvorstände Sitz und Stimme.[1084] Nur in einzelnen Gebieten hat sich das Bratstvo erhalten, aber auch wo die Namen Bratstvo und Bratstvenici in Vergessenheit geraten sind, hat sich doch das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit verwandter Sippen im Volke nicht verloren, wie sich alljährlich beim Sippenfeste (Krsno Ime), d. h. bei der gemeinsamen Feier eines und desselben[S. 504] Schutzpatrones zeigt. Wie Bogišić bemerkt, steht dieses Fest in einem inneren Zusammenhange mit der vorchristlichen Feier der Penaten der Hausgemeinschaft.[1085]
Ist die Brüderschaft ein treues Bild des Clans, so läge es nahe, die Hausgemeinschaft der Sippe gleichzustellen. Dem ist indes nicht ganz so. Die Sippe wurzelt in der Blutsverwandtschaft, und diese ist die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung bei den Südslaven[1086], wie auch bei den Russen[1087], wobei freilich der Begriff Blutsverwandtschaft eine starke Erweiterung erleidet. Denn zu ihr werden auch diejenigen Kinder fremder Leute gerechnet, die mit jemandem von derselben Mutter gesäugt wurden, die Milchgeschwister (Rodbina po mlickŭ). Der Blutsverwandtschaft gleich geachtet wird die Gevatterschaft (Kumstvo), sei es des Tauf- oder des Trauungszeugen. Ein solcher Kum gilt als die heiligste Persönlichkeit[1088], und von einer ehelichen Verbindung zwischen Kum und Kumče kann keine Rede sein. Selbst der Gedanke daran ist der gewaltigste Frevel, den der Himmel alsbald bestraft.[1089] Auf gleicher Stufe steht die Wahlverschwisterung, welche im südslavischen Volksleben als der bewunderungswürdigste, weil höchste und sinnigste Ausdruck freundschaftlicher Gesinnung und Liebe erscheint. Echte Wahlbrüder oder Wahlschwestern sind einander inniger als leibliche Geschwister ergeben.[1090] Der Wahlbruder tritt[S. 505] infolge der Wahlbrüderschaft (Pobratimstvo) in ein näheres verwandtschaftliches Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern seines Wahlbruders oder seiner Wahlschwester[1091], deren etwaige Verführung eine schwere Sünde wäre. Ehedem waren Eheschliessungen zwischen Wahlgeschwistern strenge verpönt; jetzt sind sie wohl zulässig, verstossen aber noch immer gegen die Sitte.[1092] Im Rahmen dieses Verwandtschaftssystems ist die Hausgenossenschaft, die Zadruga[1093] nun nichts mehr als ein Verein, gewöhnlich, ja fast immer im zweiten oder dritten, höchst selten im vierten oder gar fünften Grade, selbstverständlich männlicher Linie, blutsverwandter Menschen, die im selben Gehöfte wohnen, ein gemeinsames Vermögen besitzen, untereinander gleichberechtigt sind und sich in der Verwaltung gemeinsamer Angelegenheiten den Anordnungen eines von allen Mitgliedern in Übereinstimmung gewählten Hausverwesers fügen.[1094] Ein solches Hauswesen kann von aussen einen Zuwachs erhalten: indem jemand in das Haus zu einer Erbtochter hineinheiratet, was aber, weil vom Volke tief verachtet, ganz und gar selten ist; auch muss in jenen Gegenden, wo das Sippenbewusstsein noch sehr stark im Volke lebt, der Vater des Mädchens die Einwilligung der Dorfgemeinde einholen[1095]; oder der Hausvater nimmt eine Waise an Kindes Statt an, wobei jedoch zu beachten ist, dass man fast nie ein ganz fremdes Kind adoptiert, sondern stets eines aus der nächsten Verwandtschaft oder, falls ein solches nicht vorhanden, wenigstens aus demselben Bratstvo[1096]; oder endlich ein[S. 506] Fremder vergesellschaftet sich aus rein geschäftlichen Rücksichten mit dem Hause und zieht in dasselbe ein.[1097] So ist zwar strenge Blutsverwandtschaft nicht das alleinige Band dieser Genossenschaft, immerhin beruht sie jedoch ihrem Wesen nach durchwegs nur auf der nächsten Blutsverwandtschaft. Fremde Elemente gelangen in dieselbe nur ausnahmsweise, und zwar ist es stets nur ein Einzelner, der aufgenommen wird.[1098] Die Zadruga kommt also jedenfalls der Sippe sehr nahe, in sehr vielen Fällen deckt sie sich mit derselben. Lippert nennt sie nicht unpassend einen verkümmerten Rest der alten Einrichtung.[1099] Äusserlich giebt sie sich im Bau der Gehöfte zu erkennen. In grösseren Hausgemeinschaften giebt es ein Stammhaus, in welchem sich die Mitglieder, wofern sie nicht mit Feldarbeiten beschäftigt sind, tagsüber zumeist aufhalten und worin der Hausverweser mit den Seinigen gewöhnlich allein wohnt, während es mit den angebauten Wohnungen der übrigen Mitglieder — blosse Schlafkammern — einen hufeisenförmigen Halbkreis bildet.[1100]
Der Typus der südslavischen Zadruga ist oder war wenigstens bis unlängst ziemlich häufig auch in Russland vorhanden.[1101] Die neueren russischen Forscher unterscheiden beim Muschik zweierlei Familien: die grosse oder patriarchale (Bolschaja oder Rodowaja[1102] Semja) und die kleinere oder engere, unsere Sonderfamilie (Malaja oder Otsowskaja[1103] Semja), ohne dass es indes möglich wäre, beide Formen strenge auseinander zu halten. Im allgemeinen war es bis in die jüngste Zeit das Kennzeichen der grossrussischen Familie, dass sie nicht auf Vater, Mutter und Kinder beschränkt blieb, sondern in der Regel gleichfalls mehrere Geschlechtsfolgen und mehrere Haushaltungen umfasste, welche miteinander durch[S. 507] die Bande des Blutes und die Gemeinsamkeit der Interessen verknüpft waren. Oft lebten mehrere verheiratete Söhne, mehrere Haushaltungen von Seitenverwandten beisammen in dem nämlichen Hause oder auf dem nämlichen Hofe (Dwor), wo sie gemeinsam unter der Leitung des Vaters oder Grossvaters arbeiteten. Es war dies gewissermassen eine Gemeinde im kleinen, eine vom natürlichen Oberhaupte, dem Domochosain oder Bolschak, welchem sein Weib für die inneren Angelegenheiten hilfreich zur Seite stand, regierte Genossenschaft. Kam der leibliche Vater in Abgang, so nahm eines der ältesten Mitglieder, der Bruder oder der älteste Sohn, seine Stelle ein. Manchmal fiel dieses Amt sogar der Witwe zu, oder es wurde, wie im Mir und der südslavischen Zadruga, der „Älteste“ unter den Fähigsten und Angesehensten frei gewählt. Das Oberhaupt des Hauses genoss völlige Vollmacht in der Verwaltung der gemeinschaftlichen Güter, seine Frau in der Leitung der häuslichen Verrichtungen. In den grösseren Familien, welche aus mehreren Haushaltungen bestanden, holte der Älteste in wichtigen Dingen zumeist die Meinung der Genossenschaft ein. Der Domochosain war von Rechts wegen in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten der Vertreter seines ganzen Hauses.[1104] Wie man sieht, war die auf solchem Fusse eingerichtete grossrussische Familie nichts anderes als die Sippe.
Die Ähnlichkeit der geschilderten Einrichtung mit der Hausgenossenschaft der Südslaven bedarf kaum der Betonung. In der That haben Matwejew und Samokwasow unter anderem nachgewiesen, dass in einzelnen russischen Gouvernements, besonders in Samara und Kursk, noch heutzutage Familiengenossenschaften bestehen, welche in Hinsicht ihrer Organisation und ihres rechtlichen Charakters der serbischen Zadruga ungemein nahe kommen. Diese weist übrigens selbst mehrere Typen auf. Im allgemeinen steht aber eines der ältesten männlichen Mitglieder der Hausgemeinschaft als Domačin oder Starešina vor. Bei allen Slaven steht das Alter in hohem Ansehen. Ehedem war daher auch[S. 508] immer der Älteste der Sippe Hausverweser, und formell ist er es noch heutigen Tages. Dies zeigt sich an grossen Festtagen, wo der Älteste an der Spitze des Tisches sitzt, die Trinksprüche ausbringt, die Gäste begrüsst u. s. w.[1105] Von einer Wahl des Domačin durch die Hausgenossen kann nur uneigentlich gesprochen werden. Die Hausgemeinschaft wird eben nicht zum geringsten Teile durch die Autorität ihrer älteren Mitglieder zusammengehalten. Was der Würdigste und Besonnenste unter ihnen sagt, das hat Geltung. Wer sich in der Gemeinschaft im Laufe der Zeit am meisten bewährt und Achtung vor allen erworben hat, der wird leicht auch stillschweigend als Domačin anerkannt. Hat ein Hausverweser aber das sechzigste Jahr zurückgelegt, so muss er von selbst die Leitung einem andern übertragen.[1106] Er ist eben lediglich Verwalter eines Vermögens, auf welches er kein grösseres Anrecht besitzt, als irgend einer der erwachsenen Hausgenossen. Er ist bloss der Erste unter mehreren ihm Gleichberechtigten.[1107]
Auf den ersten Blick überschaut damit der Leser die Kluft, welche den südslavischen Domačin und Sippenvorstand von dem allmächtigen Oberhaupte der Patriarchenfamilie trennt, wie es uns etwa im Vater der Griechen und Römer, oder selbst im Haupte des keltischen Sept entgegen tritt. Aus diesem Grunde bezeichne ich den Bau der slavischen Sippe als einen altertümlicheren, denn die Familie der klassischen Völker. So wie die slavische Hausgenossenschaft gestaltet ist, so mag und muss wohl zuvor das Verhältnis in jener Zeit gewesen sein, als die männliche Gewalt im Kreise des Mutterrechtes aufkam. Noch herrscht das aus jenen Tagen überkommene Sammeleigentum der Sippe; nur haben die Weiber im häuslichen Kreise ihre rechtliche Geltung verloren, sind durch die Männer in den Hintergrund gedrängt. Noch aber hat das am Sondereigentum sich heranbildende Patriarchat zu Gunsten eines Oberhauptes nicht Kraft gewonnen, die Erblichkeit[S. 509] zu erlangen, womit es erst zum Patriarchate wird. So ist denn der Unterschied zwischen der südslavischen Zadruga und dem irischen Sept z. B. der, dass in letzterem der Häuptling schon die Autorität und Vorrechte des Feudalherrn erlangt hat, während bei den Südslaven die Demokratie der Urzeit sich noch erhalten, eine Aristokratie noch nicht gebildet hat. Dieser demokratische Grundzug der mutterrechtlichen Zeit weht in der slavischen Sippengesellschaft überhaupt, aber bei den Südslaven stärker als bei den Russen. Bei letzteren ist der Hausvater, wenngleich Verwalter des Gemeinbesitzes, doch schon Herr, dessen geachtete Autorität über die ihm unterstehenden Söhne, Töchter und Schwiegertöchter nicht selten in Tyrannei ausartete[1108], ja die Keuschheit der Weiber ernstlich gefährdete. Wo in der engen Izbá mehrere Geschlechtsfolgen und Haushalte beisammen wohnen, entsteht leicht eine Art geschlechtlicher Ungebundenheit und Vermischung. Das Familienoberhaupt, der „Älteste“, welcher dank der Sitte, sehr früh zu heiraten, oft kaum vierzig Jahre zählte, beanspruchte von seinen Schwiegertöchtern ein gewisses „Herrenrecht“, welches die Jugend und die Unterthänigkeit seiner Söhne ihm streitig zu machen verwehrten.[1109] Bei den Südslaven ist die Stellung des Weibes auch kaum eine höhere — es zählt nicht mit in der Hausgenossenschaft und wird ebensowenig um Rat gefragt[1110] — aber der Hausverweser hat noch weit geringere Macht als in Russland. Die südslavische Sippe ist trotz des Vorherrschens der Männer noch nicht patriarchalisch. Im Patriarchate giebt der Vater das Gesetz und die Kinder gehorchen; in der südslavischen Zadruga ist von einem solchen unbedingten Gehorsam keine Rede. Utješenović und Bogišić halten demnach dafür, dass die Bezeichnung „patriarchalisch“ unanwendbar sei. Auch sonst deutet noch manches auf ältere Züge. Ungeachtet[S. 510] der pessimistischen Verurteilung des Weibes und ihrer Erniedrigung spielt die Domačica eine bedeutende Rolle in der Hausgenossenschaft, und ihr, nicht dem Hausverweser, unterstehen deren sämtliche weiblichen Mitglieder. Sie ist gewöhnlich die Gattin des Hausverwesers, häufig aber wird dazu die verständigste und vorstellungsfähigste unter den Weibern bestellt. Ja, oft umgeht man mit Absicht die Gattin des Domačin, um die Aufsicht zu erleichtern.[1111] So lange Männer da sind, kann allerdings ein Weib nie Oberhaupt der Hausgemeinschaft sein, wohl aber tritt die Witwe an deren Spitze, wenn ihre Kinder noch zu jung sind und ihr Gatte keine Brüder hinterlassen hat. Ja selbst ein Mädchen kann bei Abgang erwachsener männlicher Mitglieder das Haupt der Zadruga werden. Die Rechte des Einzelnen in der Hausgemeinschaft sind ganz gering, aber selbst diese geniesst der Mann voll erst dann, wenn er sich verehlicht, was freilich meist schon in jungen Jahren geschieht. Ebenso gilt den Russen als voll bloss der Verheiratete, d. h. derjenige, welcher nebst seiner eigenen auch die Arbeitskraft seines Weibes ins Treffen führen kann.[1112] Jener, welcher in ein Haus hineinheiratet, übt dagegen seinem Weibe gegenüber selten jene unbeschränkte Macht aus, die sonst einem Manne zugestanden wird. Besonders leicht wird das Verhältnis ein verkehrtes, wenn der Mann aus einem armen Hause stammt.[1113]
In älterer Zeit besassen die einzelnen Mitglieder einer Hausgemeinschaft nie ein besonderes Eigenvermögen. Alles, nicht bloss Grund und Boden, war gemeinsames Eigentum, was auch der Einzelne erwerben mochte. Diese ältere Form der Hausgemeinschaft kommt heute noch zu Pernik in Westbulgarien vor. Der bei Serben und Kroaten allgemein gebräuchliche Ausdruck für das jüngere Sondereigentum, Prčija (vom griechischen προίκιον, Mitgift), weist klar darauf hin, woher gewöhnlich Männer (in der Hausgemeinschaft) ihr Privatvermögen haben.[1114] Zwischen Mann[S. 511] und Weib muss Gütergemeinschaft herrschen; sie müssen mit Hab und Gut für einander ganz eintreten[1115]; dagegen erbt die Witwe, die aus der Hausgemeinschaft ihres verstorbenen Gatten ausscheidet, nach dem Gewohnheitsrechte nicht das Geringste von ihrem Manne. Sie kann bloss die mitgebrachte Aussteuer (Wäsche und Schmuck) mitnehmen; selbst die Geschenke, die sie von ihrem Gatten erhalten, muss sie der Hausgemeinschaft zurückgeben.[1116] Auch in Russland hat die Frau keinen Anspruch an das Familienvermögen weder ihres Mannes, noch selbst ihres Vaters. Wohl aber darf sie, was dem Manne verwehrt ist, ausserhalb des gemeinsamen Stammgutes, sich durch Ersparnis oder Arbeit ein besonderes Eigenvermögen, eine Art Peculium, erwerben, in einzelnen Landesteilen Korobija (Körbchen) genannt. Diese Korobija, wozu die Frauen allein den Schlüssel besitzen, nehmen die jungen Mädchen bei ihrer Verheiratung als Mitgift oder Aussteuer mit. Stirbt ein Weib kinderlos, so kehrt die Korobija an ihre Stammfamilie zurück, aber nicht an deren männliches Oberhaupt, sondern an die Mutter oder, wo diese fehlt, an die noch unverheirateten Schwestern der Verstorbenen, so dass hier gewissermassen eine Art Erbrecht in der Weiberlinie besteht.[1117]
Wie angedeutet, ist die Zadruga oder Hausgemeinschaft, die Sippe, fast allerwärts im Verfall begriffen. In Serbien gehört sie nur mehr der Geschichte an. In Bulgarien, wo man sie ebenfalls für schon erloschen hielt, hat indes Iv. Ev. Gešov ihr Bestehen unlängst nachgewiesen.[1118] Selbst um Sofia herum giebt es Dörfer, wo die Zadruga vorkommt, und in den Kreisen von Sofia, Tirnovo und Küstendil (Westbulgarien) ist sie häufig anzutreffen. In Makedonien endlich soll die Hausgemeinschaft nicht bloss auf Dörfern, sondern sogar in Städten gewöhnlich sein, was noch genauer zu erforschen wäre. Die meisten Hausgemeinschaften trifft man aber im Savelande und in den Gebirgsgegenden an, und zwar vorzugsweise unter der griechisch-orthodoxen Bevölkerung.[S. 512] In Dalmatien, in der Herzegowina und in der Bocca di Cattaro ebenso wie in Bosnien, wo ein karger Boden sorgfältigste Bearbeitung erheischt, zwingt meistens die Not das Volk, bei der alten Einrichtung zu bleiben[1119], welche einer noch weniger entwickelten Gesittungs- und Wirtschaftsstufe angehört. Übrigens findet sich auch in der deutschen Schweiz, insbesondere im Kanton Zürich, ein Typus der ländlichen Familie, welcher „Gemeinderschaft“ oder „Zusammenteilung“ genannt wird und, äusserlich wenigstens, der südslavischen Zadruga oder noch besser dem Bratstvo der Serben ungemein ähnlich ist. Ja, der sippenhafte Zug kennzeichnet sogar die Familie der entfernten Armenier. So lange die Häupter der Familie, Vater oder Mutter, leben, bleibt stets die ganze Familie ungetrennt und ohne irgend eine Vermögensscheidung beisammen, in unbedingtem Gehorsam gegen das Haupt. Es ist nicht selten, dass bei einem achtzigjährigen Patriarchen drei Geschlechter zusammensitzen, vier bis fünf verheiratete Söhne von fünfzig bis sechzig Jahren, dann noch Enkel von dreissig Jahren und deren Kinder. Keine Absonderung des Vermögens; kein Glied kann etwas für sich erwerben, es erwirbt nur für das Ganze. Es giebt auf solche Weise Gehöfte, auf denen Familien vierzig bis fünfzig Köpfe stark wohnen. Selbst Brüder trennen sich nur sehr ungern; gewöhnlich tritt nach dem Tode des Oberhauptes der älteste Sohn an die Spitze der Familie, und dann ganz mit dem Rechte des Vaters. Erst bei den Enkeln beginnen die Teilungen.[1120]
Diese sind es, welche auch den Zerfall der Zadruga herbeiführen, damit die Auflösung des Sippenlebens mit sich bringen und ganz von selbst zu der auf Eltern und Kinder beschränkten Sonderfamilie leiten. Das Gleiche ist in Russland der Fall. Zur Zeit der Leibeigenschaft liebte es die ländliche Bevölkerung, sippenweise beisammen zu leben. Teilungen waren gefürchtet und fanden nur dann statt, wenn das Haus oder richtiger der Hof (Dwor) zu eng für die Zahl der Insassen wurde.[1121] Schon darin giebt[S. 513] die Sippengenossenschaft sich als eine niedrigeren Kulturstufen angepasste Familienform zu erkennen, wie sie eben der noch dünneren Volksmenge entsprachen. Überall, bemerkt Leroy-Beaulieu sehr treffend, ist die Vermehrung der Bevölkerung eine der Ursachen gewesen, welche den Übergang vom Gesamt- zum Sondereigentum beschleunigt haben.[1122] Es ist beachtenswert, dass diese Thatsache früh schon auch in Irland anerkannt war. Eine irländische Handschrift des zwölften Jahrhunderts: „Lebor na Huidre“ spricht es unumwunden aus: „Wegen der zu grossen Anzahl der Familien entstanden in Irland die Abteilungen und Begrenzungen des Bodens.“ In der That ist dies einer der Hauptgründe für die Entwicklung des Sonderbesitzes. Wenn die Zahl der Anspruchberechtigten zu gross wird, so wird naturgemäss der auf jeden Einzelnen entfallende Anteil zu gering für die extensive Kultur jener Zeiten. Man muss notwendig zu einer Ausbeutungsart übergehen, welche beständige Verbesserungen und ein in dem Boden angelegtes Kapital erheischt, was sich nur durch die Zusicherung eines erblichen oder wenigstens sehr lange Fristen umfassenden Ertragsgenusses erreichen lässt. Daraus geht dann die individuelle Besitznahme hervor, das der engeren Familie des Besitzers dauernd gehörende und vererbliche Eigentum.
Dass indes es sehr lange währte, ehe das Sondereigentum aus dem Gemeinbesitz sich herausbildete, bezeugt die ungemeine Zähigkeit, womit letzterer sich erhielt, wo die Umstände ihm günstig waren. So ist denn noch heutzutage bei den Südslaven Gemeinbesitz nicht bloss der Zadruga, sondern auch jener bisher wenig beachteten ländlichen Familie eigen, welche schon alles Sippenhafte abgestreift hat, im allgemeinen ganz der städtischen Sonderfamilie gleicht und so wie diese auf Vater, Mutter und Kinder sich beschränkt. Diese Art ländlicher Familie ist die Inokoština (Beiwort: inokosna)[1123], d. h. die einfache Familie. Sie findet sich überall neben der Hausgemeinschaft; die Natur[S. 514] der Dinge selbst entwickelt sie überall, wo diese vorhanden. Allerdings ist die Machtvollkommenheit des Hausvaters in der Inokosnafamilie grösser als jene des Zadrugaverwesers, allein er ist nichts weniger als unumschränkter Herr über seine Söhne, wie etwa der Pater familias zur Zeit der römischen Republik. Die Söhne sind vielmehr als Besitzer des Gesamtvermögens dem Vater gleichgestellt, welcher ohne ihre Zustimmung darüber nicht verfügen kann. Er ist also auch bloss Vermögensverwalter, welcher sein Amt in allen wichtigen Fragen nur im Einverständnis mit den Söhnen ausübt und darin durch einen Dritten ersetzt werden kann, wenn er sich seiner Aufgabe irgendwie nicht gewachsen zeigt. Die erwachsenen Söhne, besonders wenn schon verheiratet, können vom Vater noch bei dessen Lebzeiten die Teilung der Güter verlangen, ja ihn dazu zwingen; dabei hat der Vater bloss Anspruch auf einen gleichen Anteil wie jeder seiner Söhne. Nach des Vaters Tode nehmen die Dinge in der Inokoština den nämlichen Verlauf wie in der Zadruga: alles bleibt beim alten, wenn, wie es zumeist geschieht, die Brüder die Gemeinschaft fortsetzen, welche sie zu Vaters Lebzeiten durch ihren freiwilligen Austritt hätten auflösen können. Der Tod des Hausvaters führt also bloss einen Wechsel im Oberhaupte hervor, vorausgesetzt, dass er bis zu seinem Lebensende die Gemeinschaft geleitet hat; andernfalls ändert sich gar nichts. Aus dem Gesagten leuchtet sattsam hervor, dass die Inokoština, obgleich der Kopfzahl nach unsere engere Familie, mit der auf Vaterrecht gegründeten städtischen Familie nichts zu thun hat, wohl aber mit der Zadruga ihren Wesen nach identisch ist, deren Rechtsgrundsätze auch in dieser engeren Familie walten.[1124] Es ist daher auch nicht zu verwundern, dass häufige Übergänge von dem Zadrušna- in den Inokosna-Zustand und umgekehrt stattfinden.[1125]
Die Hausgemeinschaft, ward oben bemerkt, sei zwar nicht mit der Sippe zu verwechseln, komme ihr aber doch sehr nahe, ja decke sich auch in vielen Fällen mit derselben. Jedenfalls ist[S. 515] sie aus der auf Blutsverwandtschaft beruhenden Sippe hervorgegangen, ist die Sippe das Grundlegende, die Hausgenossenschaft, wo sie auftritt, das Spätere. Die Ausgestaltung der Sippe ist nun nicht allerorts die gleiche gewesen, dies hat sich schon aus dem Unterschiede zwischen der südslavischen und der russischen Familienordnung ergeben. Wo dieselbe einen ausgeprägten patriarchalischen Charakter gewann, verliert sich auch der genossenschaftliche Zug des Gemeinbesitzes; das Sippenhaupt waltet nicht bloss als dessen Verweser, sondern als Eigentümer. So erkennen bei den katholischen Mirediten Albaniens alle Mitglieder der oft 50, 100, ja sogar 200 Köpfe starken Sippe in dem Grossvater oder Urgrossvater, kurz in dem Ältesten, ihr gemeinsames Oberhaupt. So lange dieses lebt, wagt es niemand, sich das geringste seiner Rechte anzumassen. Er behält das ganze Vermögen und alle seine Gewalt bis zu seinem Tode. Wenn er vorher unzurechnungsfähig werden sollte, übernimmt sein ältester Bruder oder Sohn die einstweilige Verwaltung, welche jedoch erst nach seinem Tode auf diesen endgiltig übergeht. Dass sich nach dem Tode eines Vaters die Brüder trennen, kommt nur in den seltensten Fällen vor. Bloss wenn ein Sohn Geistlicher wird, tritt er aus dem Familienverbande aus und erhält gewöhnlich den ihm entsprechenden Teil der Einkünfte ausgezahlt.[1126] Weiber sind erbunfähig, ebenso wie bei den Maljsoren und in Albanien überhaupt, wo der Bräutigam noch einen Kaufschilling entrichtet und die Mädchen keine Mitgift, sondern bloss eine Ausstattung erhalten.[1127] Schon sehr jung, mitunter in der Wiege, werden die Kinder miteinander verlobt, und die drohende Blutrache gestattet unter keiner Bedingung von diesem Verlöbnis abzuweichen.[1128][S. 516] Auch sonst zeigt die albanesische Familie, ungeachtet der ausgeprägten väterlichen Gewalt, deutlich das Wesen der Sippe. Die Verwandtschaftsbegriffe gehen so weit, dass sie den ganzen Stamm für Verwandte ansehen; dabei herrscht Exogamie, teilweise mit Frauenraub, und nicht bloss Verwandtschaft, sondern mitunter schon Namensgemeinschaft ist Ehehindernis.[1129]
Lehrreich ist, bemerkt treffend Sigmund Riezler, die Doppelbedeutung des alten Wortes Sippe. Sibja heisst zugleich Friede, Bündnis (Pax, Foedus) und Familie, Geschlecht, Verwandtschaft (Gens).[1130] Sowohl hieraus als aus der bedeutendsten Nachwirkung des Geschlechtsverbandes, dem Fehderecht, das noch in den Anfängen des geschichtlichen Staates nicht allen Staatsangehörigen untereinander, sondern nur den Gesippen zusteht, muss man schliessen, dass der Schutz des Rechtes, der Rechtsfriede, ursprünglich auf die Gesippen, d. h. zugleich die Verwandten und Verfriedeten, beschränkt war. Wie Tacitus berichtet, war es die Sippe, welche das Wergeld für ihren getöteten Angehörigen empfing. Dem entsprechend haftete auch die ganze Sippe für die Zahlung des von ihrem Genossen verwirkten Wergeldes. Die Sippe hatte also eine korporative Gestaltung als Friedens- und Rechtsgenossenschaft. Nach diesen Geschlechterverbänden regelte sich die Ansiedlung, regelte sich auch das Heerwesen.[1131] Aus dem Studium der Ortsnamen der Münchener Gegend hat der obengenannte Geschichtsschreiber nachgewiesen, dass bei[S. 517] der Einwanderung der Bajuwaren, die wahrscheinlich im Beginn des sechsten christlichen Jahrhunderts, jedenfalls nicht vor den letzten Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts, erfolgte, der Geschlechtsverband noch so lebendig war, dass die Sippen als geschlossene Massen ihren Einzug hielten und als geschlossene Massen Wohnsitze gründeten.[1132] Nach Riezlers Ermittlungen besagt die an bayerischen Ortsnamen so häufige Endung -ing bei den grösseren und alten Ansiedlungen, dass ihr Ursprung auf eine Sippe zurückzuführen ist. Auf diesem Geschlechtsverband, auf der Sippe oder Magschaft, beruht auch nach Felix Dahn die Ansiedlung der Germanen überhaupt.[1133] Lange, ungemein lange war die germanische Sippe, das Geschlecht, die einzige Gliederung innerhalb der Horde und zugleich der Rahmen des Rechtsverbandes; die Blutsverwandten besassen ein gemeinsames Erbrecht, überwachten die Eheschliessungen und verehrten einen gemeinsamen Stammvater, in Kampf und Prozess traten sie füreinander ein. Die engere Familie, die man so gerne gerade bei den deutschen Völkern am reichsten und tiefsten ausgebildet sein lässt, war allem Anscheine nach den Germanen völlig unbekannt. Wir besitzen dafür auch gar kein gangbares echt deutsches Wort, sondern müssen uns mit dem lateinischen Familia behelfen, welches, sagt Riehl, von dem Erbfeind der deutschen Sitte des Hauses, von dem römischen Recht, uns angeheftet worden ist.[1134] Die Sippenverbände ragen dagegen auch in spätere Jahrhunderte hinein. Von den Ostgoten wissen wir, dass die Sippe ihnen das subjektive Band bildete und sie bei der Einwanderung nach Italien geschlechterweise über die Halbinsel verteilt wurden. Aber noch zu Ende ihres Reichs war das Sippengefühl sehr lebhaft, lebhafter als das Nationalgefühl, und trotz des Gesetzes die Blutrache in vollem Schwung.[1135] Ebenso stark äusserte sich der Sippenverband, das Sippegefühl bei den Westgoten. Deutlich spiegelt noch Vul[S. 518]filas’ Sprache jene Anschauungen, jene Zustände, in welchen der Rechtsfriede sich bloss auf die Gesippen erstreckte. Mit Unrecht aber würde man die Sippe lediglich als einen Rechtsverband auffassen, denn sehr zahlreich sind die Ableitungen und Zusammensetzungen von dem Worte für „Geschlecht“, „Familie“: Kuni; und deutlich sieht man, dass Blutsverwandtschaft und Volksgenossenschaft in diesen Wortbildungen zugleich ausgedrückt werden.[1136] Bei ihrem Eintritt in die Geschichte stehen die barbarischen Germanen schon in vollem Vaterrechte; nur wenige Spuren, deren schon wiederholt gedacht wurde, weisen auf ältere Zustände zurück. Der Mann ist der Herr des Hauses, im Sinne des Patriarchats, und herrscht mit weitreichender Gewalt über Frau und Kinder, die er züchtigen, töten und verkaufen durfte, gleich wie die Sklaven. Nur er hat Recht auf eheliche Treue der Frau; Buhlschaft des Mannes mit einer Unverheirateten ist nicht Ehebruch: der Mann kann die eigene Ehe nicht brechen, nur ein Fremder durch Buhlschaft mit der Frau eines anderen. Kebsinnen und sogar Nebenfrauen hinter der ersten oder Hauptgemahlin begegnen wir wie bei Südgermanen so in starker Verwilderung bei Nordgermanen.[1137] Nur der Mann, als wirkliches Glied der Völkerschaft, war in vollem Umfange rechtsfähig. Auch hatte das Patriarchat einen Adel gezeitigt, und dieser beruhte wieder auf mächtiger Pietät und Liebe für das Geschlecht (Adal = Geschlecht) und die heiligen Bande des Blutes, welche auch der politischen Genossenschaft zu Grunde liegen.[1138] Aber dem Westgoten heisst der Hausgenosse nur selten Ingardis, häufiger Inna-Kunds, d. h. Geschlechtsgenosse: eine Erinnerung an die Zeit, da noch nicht das auf Wagen bewegliche Zelt- oder Holzhaus der engeren Familie, sondern der Geschlechtsverband, die Sippe, den dauernden, wichtigsten, engsten Lebenskreis bildete.[1139] Ein abermaliger Beweis für die hier verfochtene Ansicht, dass die Sippe nicht erst aus einer Vereinigung von engeren Familien entstanden ist, sondern[S. 519] letztere sich aus dem älteren Sippenverbande herausgesondert haben.
Die Geschlechtsverfassung, betont Riezler, bezeichnet eine vorgeschichtliche Vorstufe des staatlichen Lebens; ich füge hinzu: auch eine Vorstufe in der Geschichte der patriarchalischen Sonderfamilie. Der bayerische Geschichtsforscher, im Hinblick nicht auf die Familie, sondern auf den Staat, bemerkt weiter: „In dem Masse, als die öffentliche Gewalt erstarkte, musste die korporative Gestaltung, welche die Sippe als Friedens- und Rechtsgenossenschaft ursprünglich hatte, mehr und mehr verschwinden. Wie weit dieser Prozess zur Zeit der bajuwarischen Einwanderung gediehen war, entzieht sich der Beobachtung. Hier genügt der Nachweis, dass damals noch zahlreiche Sippen als gesellige Gemeinschaften, deren Genossen der gleichen Abstammung sich bewusst waren, bestanden, eine Thatsache, welche hinwiederum wahrscheinlich macht, dass auch von der alten, rechtlichen und sittlichen, religiösen und wirtschaftlichen Genossenschaft, welche die Geschlechter ursprünglich bildeten, damals wenigstens noch Reste vorhanden waren.“[1140]
Auf dieser Stufe, wo die Sonderfamilie schon in voller Kraft besteht, aber Spuren der Sippe noch nicht gänzlich erloschen sind, bewegen sich z. B. die heutigen Osseten im Kaukasus. Diese wohnen noch in sehr grossen, aus alten Zeiten stammenden Gebäuden (Galuan) beisammen, und das Haupt des Galuan ist der Älteste der Sippe.[1141] Darin giebt es aber schon Sonderfamilien und in diesen ist wieder der Vater das Haupt und unbedingter Eigentümer sämtlicher Güter. Das Recht, über das Ganze zu verfügen, steht ihm demnach zu, und er kann sogar das von den Kindern erworbene Vermögen einem Fremden als Erbe überweisen. Die Kinder müssen ihn als hauptsächlichen Erwerber, selbst wenn er dieses nicht ist, betrachten und haben sich seinem Willen in jeder Hinsicht zu fügen.[1142] Aber auch bei den altrömischen Rechtsgelehrten und den hellenischen Schriftstellern finden sich die Spuren[S. 520] einer alten Ordnung, welche in den ersten Zeiten der griechischen und italischen Gesellschaft in grosser Kraft gewesen zu sein scheint, die aber, allmählich verblasst, kaum noch bemerkbare Spuren im letzten Teil der Geschichte dieser Völker zurückgelassen hat.[1143]
Griechen und Römer zerfielen ursprünglich, nach Angabe der geschichtlichen Überlieferung, in Stämme; φυλή nannten sie die Griechen, Tribus die Römer, und solcher Stämme gab es in Attika vier, in Roms ältester Zeit sicher zwei, später drei; denn von den Luceres bleibt es zweifelhaft, ob sie von Anfang an neben den Ramnes, den eigentlichen Latinern, und den Tities, Sabinern, als dritter Stamm vorhanden waren. Was die Phyle der Griechen anbetrifft, so bezeichnete das Wort bloss: Abteilung eines Volkes, ursprünglich jedoch Familie oder Anhäufung von Menschen derselben Rasse. Dies festzuhalten dünkt mir wichtig, denn in der Urzeit, als die Kopfzahl der Menschenverbände noch sehr gering war, fiel Gleichheit der Rasse mit Gleichheit der Abstammung zusammen. Im Zeitenlaufe trübt sich naturgemäss immer mehr diese Reinheit der Abstammung, besonders wenn die Stämme, worin die Mannesherrschaft schon ausgebildet war, lange Jahre der Wanderung unter fremden Völkern durchmachen. So sind z. B. die drei Stämme der übrigens wenig zahlreichen Dorier, welche lange in Thessalien unter illyrischem und thrakischem Volkstume gesessen, in den Peloponnes schwerlich als reine Hellenen eingewandert, wenn sie auch Herodot als reine Hellenen den jonischen Athenern gegenüber stellt.[1144] Allein überall beobachtet man im Kreise der Vaterherrschaft, wie allmählich das Band der im Ursprunge wirklichen Blutsverwandtschaft durch eine eingebildete ersetzt wird, welche zudem in einem gemeinsamen Kult ihren Ausdruck findet. Nur ist es verkehrt, wie Fustel de Coulanges und andere thun, diesen Kult für den Schöpfer des Stammes, des Clans oder der Sippe zu halten, während er[S. 521] vielmehr aus diesen hervorgegangen ist. Menschen bilden einen Stamm, einen Clan, eine Sippe, nicht weil sie um einen gemeinsamen Kult sich scharen, sondern sie scharen sich um diesen Kult weil sie ihrer gleichen Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren sich bewusst sind, weil sie mit Recht oder Unrecht an eine engere oder weitere Verwandtschaft untereinander glauben. Mit seinem Anschwellen spaltet sich der Stamm in grössere oder kleinere Verbände, deren jeder wiederum seinen eigenen Kult sich schafft und kraft des Abstammungsgefühles mit seinen Bruderverbänden je nach den gegebenen Umständen in genauerer oder loserer Fühlung bleibt, mit ihnen auch dem Stammeshäuptling ebenso wie dem Stammeskult ergeben ist. So stellt sich uns die Vereinigung dieser schwächeren Verbände allerdings wie ein Bund, eine Erweiterung der einzelnen Glieder dar, in welchem die nämliche Organisation in höherer Ordnung waltet, wie in dieser. In der That besass auch jede der vier attischen Phylen ihre besondere Schutzgottheit, die Phylopatores, die „Stammväter“, welche darum im Sinne des Totemismus natürlich auch die Eponymen, d. h. Namengeber der Stämme sind.[1145] Sie hatten jährlich ihre bestimmten Kultfeste, meist mit einem gemeinsamen Mahle aller Stammesmitglieder verbunden. Jeder Stamm stand unter einem Häuptling, dem φυλοβασιλεύς, dem Tribunus.[1146] Aber es sollte nicht vergessen werden, dass wenn der so gestaltete Stamm als Bund seiner Unterabteilungen erscheint, er dies doch erst geworden, nachdem die Verhältnisse eine Gliederung notwendig gemacht.
Solche Gliederungen waren in Griechenland die Phratrien (φρατρία), deren jede Phyle drei zählte, in Rom die Kurien (Curia), wovon zehn in jedem Tribus vorhanden waren. In Attika bildeten dann wieder je dreissig Geschlechter eine Phratrie, in Rom wahrscheinlich je zehn Geschlechter eine Kurie. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich Phratrie und Kurie etwa dem Clanverbande, und zwar dem unreinen Clan, die Geschlechter aber, in Hellas γένος, in Rom Gens geheissen, der Sippe gleich setze. Wie der[S. 522] Clan hatten Phratrie und Kurie ihre Häuptlinge; Lippert hat die Anschauung, dass die Gruppe, welche in Althellas je ein „Fürst“ vertritt, als die Phratrie zu betrachten sei.[1147] In Rom hatte jede Kurie ebenfalls ihren Vorsteher, Curio, und alle zusammen einen Obervorsteher (Curio maximus). Von diesen Kurionen oder Clanhäuptlingen wurden mit Hilfe des Opferpriesters (Flamen curialis) auch die besonderen gottesdienstlichen Handlungen (Sacra) verwaltet, die jeder Kurie oblagen. Wie die Kurie besass auch die griechische Phratrie ihre eigene Opferstätte und Schutzgottheit, zu deren Ehren die Phratriengenossen sich zu gemeinsamem Festmahle versammelten. Mitglied einer Phratrie war nur derjenige, welcher der rechtmässigen Ehe in einem der die Phratrie bildenden Geschlechter entsprossen war. Ob letztere nun wirklich ein gemeinsames Blutsband umschlang, lässt sich so wenig entscheiden, als beim unreinen Clan. Die blosse Vorstellung eines solchen genügte ja, wie wir wissen, um die Menschen gesellschaftlich und politisch zu vereinigen.
Wie Phratrie und Kurie etwa dem Clan, sagte ich, so entsprachen γένος und Gens der Sippe; in der That sind ihnen deren wesentlichsten Kennzeichen gemein. Sie umfassen — wie bei den Südslaven unserer Tage — eine unbestimmte Anzahl von Gruppen, die wir heute als Sonderfamilien auffassen, unter der Vorsteherschaft eines in Griechenland sogenannten Archon (Ἄρχων), welcher der Erbe des Patriarchats ist und, wie Lippert glaubt, anfangs wahrscheinlich seine Würde der Wahl verdankte.[1148] Jedes Geschlecht besass wiederum seine eigenen Kult- und Begräbnisstätten, sowie gemeinsame Kultfeste, und die verehrte Schutzgottheit erweist sich bei näherer Untersuchung fast immer als irgend ein vergötterter Vorfahr. Desgleichen hatte jede römische Gens jährlich wiederkehrende Festtage (Feriae gentiliciae) — ihr „Sippenfest“ — an welchen sie sich vereinigte, um der Schutzgottheit der Gens, den Dii gentiles, unter der Aufsicht der Pontifices besondere Opfer (Sacrificia gentilicia oder anniversaria) darzubringen.[S. 523] Die Verwandtschaft war strenge in der männlichen Linie geregelt und die Frau, welche in ein Geschlecht heiratete, musste mit dem Eintritt in das Haus ihres Mannes von ihren heimischen Heiligtümern und Beziehungen sich lossagen. Diese vom Patriarchat geschaffene Abstammung in männlicher Linie, mit schroffer Ablehnung der weiblichen, ward allmählich durch den Kult geheiligt, was Fustel de Coulanges zu der irreführenden Behauptung verleitet: Die Religion habe die Verwandtschaft bestimmt.[1149] In Wahrheit hat sie allmählich gewordenen Anschauungen nur ihre Billigung erteilt und sie damit allerdings befestigt. Diese Anschauungen, hervorgewachsen nicht aus religiösen Satzungen, sondern aus dem starren Eigentumsbegriff, waren das gerade Gegenteil jener der mutterrechtlichen Epochen, in welchen nur das weibliche, niemals das männliche Blut Verwandtschaft begründen konnte. Bei den Römern galt dagegen nur die Agnatio, die „zivilrechtliche Blutsverwandtschaft“, und es erstreckte sich der häusliche Kult nicht auf die natürliche Verwandtschaft durch die Weiber, welche als Cognatio allmählich mit steigender Gesittung und Verfeinerung der Gefühle gewisse Beachtung fand. Stets aber gingen in der Erbfolge die Genossen der Sippe, die Gentiles, den Kognaten voran. Ihren Sippencharakter äussert die Gens selbst noch in späteren Tagen, als das ursprünglich den Römern wie den Südslaven unbekannte Testament aufgekommen war, auch darin, dass die Gentilen denjenigen ihrer Geschlechtsgenossen beerbten, welcher ohne Testament und Erben starb. Damit hängt zusammen, dass sie das Recht hatten, einen ihrer Genossen, der als Verschwender oder geisteskrank sein Vermögen nicht selbst verwalten konnte, unter ihre Cura oder Tutela zu nehmen. Seit dem frühesten uns bekannten Altertum herrschte in Griechenland und Rom das Sondereigentum, aber wenn Fustel de Coulanges leugnet, dass je etwas wie Gemeineigentum bestanden habe, so behauptet er Unwahrscheinliches und Unbeweisbares zugleich. In Griechenland wenigstens scheinen einige Geschlechter noch immer Reste von Gemeinvermögen besessen und durch den Archon ver[S. 524]waltet zu haben. Auch deutet die Unveräusserlichkeit des Familienbesitzes auf ein solches hin. In Sparta war jedem verboten seinen Bodenanteil zu verkaufen, desgleichen bei den Lokrern und auf Leukos. Phidon von Korinth, ein Gesetzgeber des neunten Jahrhunderts, schrieb vor, dass die Zahl der Familien und der Liegenschaften unverändert bleiben sollte. Dies war aber nur durchführbar, wenn die Güter weder verkauft, noch selbst verteilt werden durften. In Rom war der Güterverkauf erst seit dem Zwölftafelgesetz gestattet, allem Anscheine nach früher aber, gleichwie in Griechenland, unzulässig,[1150] und Mommsen hat gezeigt, wie die römischen Gentes ehedem ihre gemeinsame, nach ihrem Namen benannte Gemarkung besassen, welche, wie aus einigen Andeutungen hervorgeht, lange noch ungeteilt der ganzen Sippe gehörte und nach deren, beziehungsweise des Pater Anordnungen gemeinsam bebaut wurde. Nur der Ertrag wurde auf die Sonderfamilien verteilt. Letourneau gelangt daher mit Laveleye zu dem Schlusse, dass auch in Rom und Hellas das Gemeinvermögen dem Sondereigentum vorangegangen, dass letzteres nur sehr allmählich aus jenem sich herausgebildet habe.[1151] Den unteilbaren und unveräusserlichen Besitz der späteren Sonderfamilie wird man füglich als ein Zwischenglied auf diesem Entwicklungsgange ansprechen dürfen. Endlich gilt vom Gemeineigentum wohl mit gleichem Recht, was Fustel de Coulanges für das in keinem römischen Gesetz erwähnte Vorrecht der Erstgeburt ins Treffen führt. Man dürfe, sagt er, aus diesem Fehlen nicht folgern, dass es dem alten Italien unbekannt gewesen; es konnte ja einfach verschwinden und selbst die Erinnerung daran erlöschen.[1152]
Die Geschlechter der griechisch-römischen Urzeit (γένος und gens) trugen also unzweifelhaft alle Merkmale der Sippe an sich, die wir in ihrem Urgrunde als einen Verband von Blutsverwandten kennen. Dass das Nämliche auch bei der Gens zutraf, hat Fustel de Coulanges ausser alle Frage gestellt. Schon die[S. 525] sprachlichen Ausdrücke reden beredt genug. Das Wort Gens ist genau das nämliche Wort wie Genus, so sehr, dass man das eine für das andere setzen und z. B. Gens Fabia ebenso wohl als Genus Fabium sagen könnte; beide entsprechen dem Zeitworte gignere und dem Hauptworte Genitor; ebenso wie γένος seinerseits γεννᾷν und γονεύς. In allen diesen Wörtern steckt der Begriff der Abstammung. Die Griechen bezeichneten die Genossen eines γένος auch als ὁμογάλακτες, d. h. von der nämlichen Milch Genährte.[1153] Griechen und Römer verbanden ohne Zweifel mit den Worten Gens und γένος die Vorstellung eines gleichen Ursprungs und in Hellas wie in Rom haben die Geschlechternamen stets die Form, wie sie in beiden Sprachen für die patronymischen Benennungen gebräuchlich war. Claudius heisst Sohn des Clausus, und Butades Sohn des Butes. Das Zeichen, dass man einer Gens angehöre, war das Nomen gentilicium, der Geschlechtsname, der stets mit -ius endigt. Diesem wurde bei den Patriziern vorgesetzt zur Bezeichnung des Individuums das Praenomen, der Vorname; endlich spalteten sich die Gentes meist in Sonderfamilien, welche zu ihrer Unterscheidung noch einen besonderen Beinamen (Cognomen) führten, und dieser wurde dem Nomen gentilicium als dritter Name nachgesetzt. So war z. B. Scipio Beinamen der Cornelier, Piso der Calpurnier u. s. w. In dem Namen Publius Cornelius Scipio ist also Cornelius jener des ganzen Geschlechts und älter als Scipio; es hat demnach Leute des Namens Cornelius lange vor Scipionen gegeben. Daraus geht hervor, was Fustel de Coulanges mit Recht betont, dass das Geschlecht, die Sippe ursprünglich die Familie selbst,[1154] sagen wir die älteste Form der griechisch-römischen Familie war. Es ist die Joint-Family der Hindu, die ursprüngliche slavische Sippschaft. So wie diese aber in der Hausgenossenschaft sich nicht mehr als ein strenger Bund Blutsverwandter darstellt, so sind auch die unter Vatergewalt entstandenen Gentes Verbände, wie sie nicht mehr die Abstammung allein, sondern eben die väterliche Besitzgewalt[S. 526] durch Aufnahme fremder Elemente geschaffen hat, indem sie ihnen Sklaven und die aus den Freigelassenen hervorgegangenen Klienten einfügte. Stets aber beherrschte die Einbildung gemeinsamer Herkunft den Begriff des Geschlechts. Bei der späteren Spaltung der Sippe in Sonderfamilien schieden sich die Gentiles von den Agnaten, d. h. die engeren Verwandten nach Manneslinie. Gentile blieben solche Agnaten, welche ihre in der Nacht der Zeiten verloren gegangene Verwandtschaft nicht mehr nachweisen konnten; die einzige Erinnerung an diese Verwandtschaft lebte fort in dem gemeinschaftlichen Nomen gentilicium.
Ursprünglich allerdings liefen Gentilität und Agnation nicht auf denselben Ursprung zurück. Mac Lennan hat es sehr wahrscheinlich gemacht, dass die Geschlechter der Griechen und Römer vor dem Aufkommen der agnatischen Abstammung entstanden, wie ich ja für die Sippe die Wurzel ebenfalls in voragnatischer Zeit, also in den Epochen der Mutterfolge suche. Dass die Griechen, wie erwähnt, die Geschlechtsgenossen doch noch ὁμογάλακτες, Milchbrüder nannten, zu einer Zeit, wo das Vaterrecht schon in voller Blüte stand und die Cognatio, die Weiberlinie, nicht mehr zur Verwandtschaft zählte, ist es ein deutlicher Hinweis auf ältere Zustände. Man darf also sagen, die Gentilen waren Menschen, welche sich als Blutsverwandte zu jener Zeit betrachteten, als das neue agnatische System sich Bahn brach. Da das Patriarchat, die Mannesgewalt, stets mit der Entwicklung des Eigentums gleichen Schritt hielt, so dürfte voraussichtlich die zur Sonderfamilie leitende Agnation im Kreise der Reichen auch zuerst sich entwickelt haben, während die Ärmeren noch lange an der mütterlichen Familienordnung festhielten. Damit vermag A. Giraud-Teulon eine, wie mir däucht, annehmbare Erklärung der Unterscheidung zwischen Patrizier und Plebejer zu bieten. Mit Unrecht hat man letzteren die Gens absprechen wollen; das Geschlecht hat mit allen seinen wesentlichen, rechtlichen Merkmalen bei den Plebejern so gut bestanden wie bei den Patriziern; auch die Plebejer besassen ein Nomen gentilicium, Beinamen, sowie die Erbschafts- und Vormundschaftsrechte unter den Gentilen. Dennoch bestand zwischen den Patrizier- und Plebejergeschlechtern ein[S. 527] Unterschied, und dieser muss ein wesentlicher gewesen sein, da in den ersten Jahrhunderten Roms die Patrizierkaste ihren ganzen Stolz in den ausschliesslichen Besitz des Geschlechterwesens, der Gentilität setzte. Giraud-Teulon wagt nun die Vermutung, dass eine Verschiedenheit der Verwandtschaftssysteme diesem Unterschiede zu Grunde gelegen. Der römische Staat erwuchs zuerst aus mächtigen Clanen der vorgeschichtlichen Zeit, welche die Pagi der römischen Campagna inne hatten. Diese Clane bildeten Geschlechter, Gentes, besonderer Art, nämlich solche, in welchen die vaterrechtliche Agnation, vielleicht lange schon vor der Gründung Roms, die kognatische Verwandtschaft der älteren Zeit verdrängt hatte. Diese Geschlechter oder Sippen bestanden aus Leuten, welche ihren Stammvater nennen konnten, qui patrem scire possunt, und die, weil sie eben einen solchen kannten, sich patrizische nannten. Das Wesentliche der Gens patricia beruhte in der Idee der von den Göttern geheiligten Vaterschaft und die auf dieses besondere religiöse Recht fussenden Clane bildeten allmählich eine besondere politische Kaste. Als Patricii bezeichnete man demnach die Gentilen der herrschenden Sippen im Gegensatze zu den Gentilen der niederen Clane, der Bauern, welche noch nicht nach Vaterrecht organisiert waren. Diese plebejischen Gentes waren also noch natürliche, nicht auf das agnatisch-religiöse Recht aufgebaute Sippen. In der That berichten die alten Schriftsteller, dass anfangs die Plebejer noch nicht patres familias waren; solche gab es bloss im Verbande der patrizischen Geschlechter. Als die Vatergewalt allgemach auch in die Sitten der Plebejer überging, organisierten sich auch plebejische Clane nach dem Vorbilde der patrizischen Sippe und wurden von dieser als Gentes minores anerkannt, aber einen religiösen Patriarchen vermochten sie sich nicht zu geben. Damit fiel auch der Kult der Geschlechter hinweg; es gab für sie weder Auspicia noch Sacra. Der Plebejer war ein Mensch ohne kultlich geheiligten Stammvater; patrem non habet, sagte man von ihm, wenn auch sein leiblicher Vater genau bekannt war. Auch kennt man in der Plebejer-Gens weder die rechte Ehe (justum matrimonium) noch die rechte Vermählung (justae nuptiae), und die Plebejer schlossen ihre Bündnisse auch[S. 528] nicht nach den strengen Vorschriften der Patrizier: Connubia promiscua habent more ferarum. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Umgestaltung in agnatischem Sinne sehr lange durch das Fehlen von Eigentum in der plebejischen Sippe verzögert oder verhindert wurde. Das Eigentumsrecht ist in der That das hervorstechende Merkmal der alten patrizischen Geschlechter; der Plebejer hingegen war ursprünglich nicht Eigentümer.[1155]
[1066] Lippert. Kulturgeschichte. Bd. II. S. 488–489.
[1067] A. a. O. S. 490–491.
[1068] Ausland 1868. S. 328.
[1069] K. v. Gerstenberg, im Ausland 1866. S. 813.
[1070] Frarécheur, der männliche Mitteilhaber bei einer Lehensteilung unter Geschwister; der Hauptlehenserbe war der Parageur, doch wird dieses Wort auch im Sinne einfach von Mitbelehnter gebraucht.
[1071] Léon Vanderkindere. Notice sur l’origine des magistrats communaux et sur l’organisation de la marke dans nos contrées au moyen âge. Bruxelles 1874.
[1072] Abgeleitet von Drug, Freund.
[1073] Valtazar Bogišić. Zbornik sadašnjih pravnih običaja u južnih Slovena. Agram 1874. Es ist hier der Hinweis am Platze, dass der angesehene slavische Rechtsforscher wohl als der Begründer jener Schule zu betrachten ist, welche in Deutschland Richter Post in Bremen vertritt und als ethnologische Jurisprudenz bezeichnet. Ehe noch des letzteren erste Schriften erschienen, hatte Bogišić ein schon auf dieser Grundlage aufgebautes Werk über das Gewohnheitsrecht der Slaven veröffentlicht (Pravni običaji u Slovena. Agram 1867). Seine Übereinstimmung mit Post’s leitenden Gedanken kenne ich aus dem eigenen Munde des mir befreundeten slavischen Gelehrten. Bogišić, aus Ragusa gebürtig, dermalen kais. russ. Staatsrat und Professor an der Universität zu Odessa, hat soeben die Ausarbeitung des Zivilgesetzbuches für das Fürstentum Montenegro beendet, eine Arbeit, die ihn viele Jahre in Anspruch nahm. Siehe darüber seine kleine Schrift: A propos du code civil du Monténegro; quelques mots sur les principes et la méthode adoptés pour sa confection. Paris 1886.
[1074] Dr. Fr. S. Krauss. Sitte und Brauch der Südslaven. Wien 1885.
[1075] Leroy-Beaulieu. L’empire des Tsars et les Russes. Bd. I. S. 477.
[1076] Krauss. A. a. O. S. 2.
[1077] A. a. O.
[1078] A. a. O. S. 18–19.
[1079] A. a. O. S. 57.
[1080] Krauss. A. a. O. S. 33.
[1081] A. a. O. S. 42.
[1082] A. a. O. S. 40.
[1083] A. a. O. S. 39.
[1084] A. a. O. S. 38.
[1085] Krauss. A. a. O. S. 51.
[1086] A. a. O. S. 72.
[1087] Leroy-Beaulieu. A. a. O. Bd. I. S. 476.
[1088] Krauss. A. a. O. S. 611.
[1089] A. a. O. S. 614. Dagegen berechtigt seine Stelle den Brautführer, der gewöhnlich der Taufpate ist, so oft es ihm behagt, die Braut abzuküssen; er darf ihr auch vor aller Augen in den Busen fahren, ohne dass man ihm einen Vorwurf daraus machen würde; auch das würde man ihm nicht verargen, wenn seine Freundlichkeit die Grenzen des Erlaubten überschritten, wenn er z. B. „die Braut in die Brüste kneipte oder sie beim Küssen beissen würde“. Er handelt nach dem Satze:
[1090] A. a. O. S. 619.
[1091] Krauss. A. a. O. S. 624.
[1092] A. a. O. S. 640.
[1093] Bogišić hielt das Wort Zadruga für nicht volkstümlich, aber Dr. Krauss fand es in Bosnien auch beim Volke lokalisiert und zwar bei den Katholiken in der Majevica und den Muhammedanern in Doljni Vakuf; sonst nicht.
[1094] Krauss. A. a. O. S. 72.
[1095] Der Erbtochtermann (Domazet) nimmt gewöhnlich den Zunamen des Weibes an, weil man den seinen mit der Zeit vergisst. (A. a. O. S. 476.) Aus den angeführten Gründen hält es schwer, jemanden zum Erbtochtermann zu gewinnen.
[1096] A. a. O. S. 598.
[1097] Krauss. A. a. O. S. 76.
[1098] A. a. O. S. 78.
[1099] Lippert. Geschichte der Familie. S. 240.
[1100] Krauss. A. a. O. S. 73.
[1101] Pachmann. Obytschnoje graschdanskoje pravo w Rossii. St. Petersburg 1877–79. Bd. II. S. 2.
[1102] Von Rod, Geschlecht, Rodstwo, Verwandtschaft.
[1103] Von Otjez, Vater.
[1104] Leroy-Beaulieu. L’empire des Tsars et les Russes. Bd. I. S. 478–479.
[1105] Krauss. A. a. O. S. 84.
[1106] A. a. O. S. 80–81.
[1107] A. a. O. S. 79.
[1108] Leroy-Beaulieu. A. a. O. Bd. I. S. 46.
[1109] A. a. O. S. 488.
[1110] Flicht doch der Bauer, wenn er von seinem Weibe spricht, regelmässig in die Rede die Worte ein: Da oprostiš moja žena, d. h.: Sollst mir’s vergeben, mein Weib. Krauss. A. a. O. S. 514. Wie bei den Moslemin, essen die Frauen auch niemals mit den Männern zusammen.
[1111] Krauss. A. a. O. S. 90.
[1112] Leroy-Beaulieu. A. a. O. Bd. I. S. 483.
[1113] Krauss. A. a. O. S. 478.
[1114] A. a. O. S. 107.
[1115] Krauss. A. a. O. S. 499.
[1116] A. a. O. S. 579–580.
[1117] Leroy-Beaulieu. A. a. O. S. 481.
[1118] Gešov. Zadrugata v zapadna Blgarija. Sofia 1888.
[1119] Krauss. A. a. O. S. 66.
[1120] Ausland 1866. S. 229.
[1121] Leroy-Beaulieu. A. a. O. S. 479.
[1122] Leroy-Beaulieu. A. a. O. S. 468.
[1123] V. Bogišić. De la forme dite „Inokosna“ de la famille rurale chez les Serbes et les Croates. Paris 1884.
[1124] Bogišić. A. a. O. S. 28–29.
[1125] A. a. O. S. 34.
[1126] Spiridion Gopčević. Oberalbanien und seine Liga. Leipzig 1881. S. 317.
[1127] A. a. O. S. 444.
[1128] Ein eigentümliches Mittel haben indes die mireditischen Mädchen, wenn sie der Ehe mit einem Verhassten entgehen wollen, ohne Blutrache gegen die Ihrigen heraufzubeschwören. Sie geben dann nämlich ihre Absicht kund — Mann werden zu wollen. In diesem Falle bringt der Pfarrer nach der Messe zur öffentlichen Kenntnis, dass die Jungfrau N. N. von nun an den männlichen Namen Džon, Gjergj, Dod (oder welcher ihr sonst gefiel) annehmen und daher künftig als „Mann“ zu betrachten sei. Sie kleidet sich dann in männliche Gewänder, nimmt die Waffen ihrer Verwandten und streicht als „Mann“ umher. Nur muss sich dieser neue Mann in acht nehmen, bei seinen Herumstreifereien nicht — schwanger zu werden, denn dies hätte seinen Tod zur Folge. (Gopčević. A. a. O. S. 459–460.)
[1129] A. a. O. S. 458.
[1130] Vgl. altnordisch Sifjar, fem. plur. die Gesippen; gotisch Sibja, das verwandte Geschlecht, die Verwandtschaft = „Freundschaft“, Gemeinschaft; altsächsisch Sibbja, althochdeutsch Sippja, mittelhochdeutsch Sippe = Friede, Bund, Verwandtschaft. Sanskrit Sabbhá, Communitas, daher Sabhya: zu einer Gemeinschaft gehörig, dann gesittet, anständig.
[1131] Sigmund Riezler im: Oberbayerischen Archiv für vaterländische Geschichte. Bd. XLIV. München 1887. S. 59–60.
[1132] Riezler. A. a. O. S. 57.
[1133] Felix Dahn. Urgeschichte der germanischen und romanischen Völker. Berlin 1881. Bd. I. S. 104.
[1134] W. H. Riehl. Die Familie. S. 209.
[1135] Felix Dahn. A. a. O. S. 289.
[1136] Felix Dahn. A. a. O. S. 436.
[1137] A. a. O. S. 37.
[1138] A. a. O. S. 105.
[1139] A. a. O. S. 436.
[1140] Riezler. A. a. O. S. 63.
[1141] Ausland 1876. S. 165.
[1142] Ausland 1866. S. 107.
[1143] Fustel de Coulanges. La cité antique. S. 113.
[1144] Dr. Cornelius Fligier. Die Urzeit von Hellas und Italien (Archiv f. Anthropol. Bd. XIII. S. 454).
[1145] Lippert. Kulturgesch. Bd. II. S. 561.
[1146] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 138.
[1147] Lippert. A. a. O. S. 558.
[1148] A. a. O.
[1149] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 62.
[1150] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 76.
[1151] Letourneau. Sociologie. S. 401. 402.
[1152] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 93.
[1153] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 121.
[1154] A. a. O. S. 124. 125.
[1155] A. Giraud-Teulon. Les origines de la famille. S. 218–231.
[1156] Erst innerhalb dieser grösseren Gruppen, deren Mitgliederzahl in die Hunderte gehen kann, bildet sich allmählich der Begriff der jüngeren Sonderfamilie, der engeren Familie im heutigen Sinne. Wenn M. Lange sagt: „Der Staat ist aus der Familie erwachsen, indem die Familie auf natürliche Weise zum Geschlechte (Gens), das Geschlecht sich zum Stamme... erweiterte, bis durch die Vereinigung verschiedener Stämme das Bedürfnis einer positiv staatlichen Gestaltung der vorauszusetzenden patriarchalischen Zu[S. 530]stände eintrat,“[1157] — so ist diese ziemlich allgemein angenommene Darstellung dem Gange der Dinge gerade entgegengesetzt. Unsere Familie ist nicht der Ausgangs-, sondern der bisherige Endpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Auflösung der alten kopfreichen Verbände wird allerwärts, wie schon einmal bemerkt, durch die Vermehrung der Menschen eingeleitet, welche auch den Übergang vom Gemein- zum Sondereigentum notwendig machte. Unlösbar ist die Geschichte der Familie mit jener des Eigentums verflochten. So hängt denn Wahrung der alten Verbände oder Auflösung in Sonderfamilien vielfach mit den Beschäftigungen und Besitzverhältnissen zusammen. So wirkt z. B. der Ackerbau, dieser alte Boden des Matriarchats, zersetzend, das Nomadentum dagegen erhaltend auf die Sippe, den aristokratischen Geschlechtsverband.[1158] Auch politische Ursachen, besonders der Aufbau des Staates, führten, wie Fustel de Coulanges scharfsinnig nachgewiesen, zur Auflösung der Sippen. So lange jede derselben für sich lebte, konnte ihre Einheitlichkeit erhalten bleiben. Mit dem Aneinanderschliessen mehrerer Geschlechter zu einem staatlichen Ganzen trat notwendig Zerfall ein. Das Vorrecht der Erstgeburt, in dem ihre Einheitlichkeit wurzelte, verschwand, die einzelnen Glieder trennten sich, es kam zur Aufteilung des Gemeindebesitzes unter die Sonderfamilien. Jede von diesen hatte nunmehr ihren eigenen Bodenanteil, ihre eigene Heimstätte, besondere Interessen und ihre Unabhängigkeit. Singuli singulas familias incipiunt habere, sagt der lateinische Rechtsgelehrte. Aus jener Zeit stammt wohl auch die alte Redensart: familiam ducere, welche besagte, dass jemand aus der Gens schied, um einen eigenen Hausstand zu gründen. Die alte Gens, das Geschlecht, behielt dann bloss noch eine ideale, religiöse Geltung für diese abgetrennten Zweige.[1159]
erfen wir einen Rückblick auf die zuletzt erörterten Gestaltungen des Familienwesens unter Vatergewalt, so ergiebt sich, dass wir es stets mit Verbänden zu thun hatten, die auf der Herrschaft beruhen. Gleichviel ob man es Sippe, Geschlecht, Gesamt- oder mit Lippert Altfamilie nenne, Joint-Family der Engländer, immer ist es eine solche, welche unter einer Herrengewalt „Kind und Kegel“, alle nicht aus dem Hause getretenen Verwandten und alle dem Hause zugehörigen Knechte umfasst. „Vater“ bedeutet in diesen Verbänden nichts anderes als „Herr“; es ist für das Wesen derselben gleichgültig, ob dieser „Vater“ mit vielen oder wenigen aus der Gruppe wirklich verwandt ist; wer die Herrschaft hat, ist Vater, Patriarch.Freilich schritt mit dem Erscheinen des Vaterrechts in den patriarchalisch geordneten Gruppen auch allmählich eine Umbildung der volkstümlichen Vorstellung von der Zeugungsphysiologie[S. 531] Hand in Hand, welche, wie wir wissen, ursprünglich das Kind lediglich der Mutter zuwies, eine Verwandtschaft des männlichen Erzeugers gar nicht zuliess. Aber auch noch im starren Patriarchate gehört das Kind durch das Band des Blutes zur Mutter, zum Vater nur nach dessen Herrschaftsrecht. Nach und nach änderte sich aber diese Auffassung und schlug sogar in ihr Gegenteil um. Mit der durch das Patriarchat verursachten Knechtung des Weibes entwickelte sich auch die Ansicht, dass die Natur der Frauen derjenigen der Männer untergeordnet, ja dass die Fortpflanzung des Geschlechts ausschliesslich Sache der Männer sei, da die Frauen dabei eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Schon die Ägypter meinten, wie Diodor bezeugt, dass der Vater die einzige Ursache der Zeugung sei, die Mutter aber dem Kinde nur Nahrung und Aufenthalt gewähre. Die gleiche Vorstellung entwickelte sich bei den Indiern, Hebräern, Griechen und, allerdings erst später, bei den Römern. Ja, noch Thomas von Aquino (1225–1274) folgerte aus diesen Ansichten, dass dem Vater eine grössere Liebe als der Mutter gebühre. Gewann diese physiologische Vorstellung erst genügend Boden, so fiel mit ihr der Vaterbegriff nach zwei verschiedenen Seiten auseinander: neben den Vater der Herrschaft tritt ein Vater der Verwandtschaft.[1160] Damit musste auch ein neuartiger Familienbegriff entstehen; diesem Begriffe nach mussten innerhalb der Gesamtfamilie oder Sippe jüngere Familien genau so um den jedesmaligen Vater als den Erzeuger sich ordnen, wie sich solche einst vor Entstehung irgend einer Art von Vaterfamilie um die Mutter geordnet hatten.[1161]
Ein Trugschluss wäre es jedoch zu meinen, dass die Umbildung der physiologischen Vorstellungen die Auflösung der Sippenverbände veranlasst hätte. Zwar ist die Entstehung der Sonderfamilien so mannigfaltig, dass man sie nicht nur, wie Lippert bemerkt, bei jedem Volke, sondern auch wieder auf jeder Bildungsstufe desselben für sich verfolgen müsste, wollte man mehr als Allgemeines feststellen. Wie wenig aber die erwähnte Umbildung[S. 532] die treibende Ursache gewesen, geht daraus hervor, dass die Sonderfamilie ältester Form, wie wir sie aus Hellas und Rom kennen, noch nichts von jener Veränderung der physiologischen Begriffe verrät, sondern noch ganz im Rahmen der auch der Sippe eigenen Vorstellungen sich bewegt. Auch diese älteste Sonderfamilie, auf welche ich Lipperts Bezeichnung „Altfamilie“ beschränken möchte, ist noch immer lediglich auf das Besitz- und Herrschaftsverhältnis gegründet, zum Unterschiede von der später entstandenen Neufamilie der väterlichen Verwandtschaft. Das Wort „Familie“ selbst hat keine andere Bedeutung, als „Eigentum“; es bezeichnete das Feld, das Haus, das Vermögen, die Sklaven,[1162] weshalb auch das Zwölftafelgesetz vom Erben einfach sagt: familiam nancitor. Das griechische οἶκος aber giebt ohnehin keinen anderen Sinn als den von Eigentum oder Wohnung.[1163]
Die Altfamilie zeigt bei Griechen und Römern nicht in allen Stücken die nämlichen Züge.[1164] Jedes Volkstum schuf sich eben, wie dies stets geschieht, seine besonderen Formen. Was nun Hellas anbelangt, so muss man einen Unterschied machen zuerst zwischen der mythischen oder poetischen Epoche, dem sogenannten Heroenzeitalter, wie es in Homer sich abspiegelt und in den Trauerspielen sich fortsetzt, und dann der späteren geschichtlichen Zeit. Es ward schon an früherer Stelle betont, wie gerade in der älteren und roheren Zeit die Frauen unzweifelhaft eine höhere Stellung einnahmen, auch die Auffassung der Ehe eine sehr geläuterte war. Den Homerischen Menschen ist die Hausfrau noch durchaus nicht unterwürfige Dienerin und Lagergenossin des Mannes, sondern ihm gleichstehende Lebensgefährtin und in dem durch die Natur dem Weibe zugewiesenen Wirkungskreise ganz ebenso geachtet wie der Hausherr. Niemals sind auch[S. 533] jungfräuliche Keuschheit und eheliche Treue, die Zierden sowohl wie die Tugenden der vollkommensten Weiblichkeit, vortrefflicher dargestellt worden, als in den homerischen Gesängen, und wenn man sich auch gegenwärtig hält, dass die vorgeführten Gestalten dichterisch verklärt sind, so kann doch der Dichter unmöglich ganz zu seiner Zeit Undenkbares geschaffen haben. Ich meine die richtige Deutung dieser später abhanden gekommenen Wertschätzung des Weibes darin zu finden, dass sie eben noch ein Nachklang älterer, mutterrechtlicher Zustände in dem aufkommenden, aber noch nicht völlig entwickelten Patriarchate war. Denn zu gleicher Zeit war die Stellung der Frauen in vieler Hinsicht eine niedrige. Die Sitte, dem Vater der Braut ein Kaufgeld zu zahlen, herrschte allgemein. Die Männer scheinen auch dem Umgange mit Kebsinnen, ohne sich Zwang anzulegen, gehuldigt und in diesem Punkte geringen oder gar keinen Tadel erfahren zu haben, was deutlich schon auf patriarchalische Gepflogenheiten hinweist. Begeisterte Lobredner der Hellenen haben diese auch gepriesen wegen der Einführung der Einzelehe, welche von den ältesten Zeiten an der griechischen Gesittung ihre Überlegenheit über die ihr vorangegangenen asiatischen Zivilisationen gesichert habe. Wahr ist aber bloss, dass in Hellas nur eine Frau rechtliche Geltung hatte, und diesen Zustand hat man trotz der zahlreich gehaltenen Kebsweiber als monogamisch bezeichnet. In Wirklichkeit aber blieben die Griechen bei der Übergangsstufe der Unterscheidung einer ersten Frau von den Nebenfrauen stehen; zu einer Monogamie mit der Folge der gegenseitigen Beschränkung gelangten sie nie.[1165] Einer Kebsin Sohn zu sein, gereichte nicht zur Schande, war doch selbst Ulysses in dieser Lage.
In der nachtroischen, geschichtlichen Zeit Griechenlands erfuhr die Stellung des Weibes eine wesentliche Veränderung; dass dieselbe jedoch, wie häufig angenommen wird, eine plötzliche gewesen, dem widerspricht die erhaltene hellenische Litteratur durchaus. Die Wandlung vollzog sich vielmehr in gleichem Masse als die Mannesherrschaft in der Altfamilie sich befestigte. Auch be[S. 534]gegnen wir einem auffallenden Unterschiede in der Erziehung und Stellung der Frauen bei den einzelnen, nach Sitten, Denk- und Mundart allerdings sehr verschiedenen Stämmen der Griechen, und namentlich sehen wir das Weib in Athen ganz anders aufgefasst als in Lakedämon. Das scheinbar Unvermittelte zwischen den Verhältnissen der heroischen und der geschichtlichen Zeit verliert auch seine Schroffheit durch die Erwägung, dass wir ja bei Homer fast gar keine Nachrichten über die Zustände in den mittleren und unteren Volksschichten erfahren. Zudem musste der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern um so schärfer hervortreten, je mehr deren Interessen auseinander gingen.
In Athen hatte die solonische Gesetzgebung die Entwicklungskeime der Demokratie gepflanzt, und je schneller diese sich entfalteten, wurde der Mann, dessen Heimat die Öffentlichkeit ward, seinem Hause und dem Familienleben entfremdet und das Weib in den Hintergrund geschoben. Mehr oder weniger galt dies übrigens für ganz Griechenland. Der Bund der Geschlechter, schon frühzeitig geschlossen — in Athen heirateten die Mädchen zwischen dem fünfzehnten und achtzehnten Lebensjahre — war noch nirgends auf Liebe gegründet. Wenn auch in der Poesie und den bildenden Künsten wie im täglichen Leben die reinsten und edelsten Züge Ausdruck fanden, wenn auch Dichter und Dichterinnen Gefühle glühendster und innigster Liebe verherrlichten, so darf man eine solche Leidenschaft doch nicht im Sinne der Romantik sich denken. Die Auffassung der Griechen von der Liebe war eine ganz andere als die unsrige, eine wie bei den Morgenländern sinnlichere, leidenschaftlichere; sie entwuchs mehr dem Boden des Natürlichen und verstieg sich nicht bis zu einer überschwänglichen Apotheose der Geliebten, war aber auch in ihrem ethischen Werte nicht so hoch stehend. Darum blieb bei der Wahl der Gattin alle Romantik ausgeschlossen; zumeist wählte der Vater für den Sohn, da es eben auf persönliche Neigung durchaus nicht ankam, und ohne dass dieser die Braut je zuvor gesehen. Als massgebend bei der Wahl zeigte sich starke Rücksichtsnahme auf die Familie des Mädchens und die Mitgift, welche dieses in das Haus des Bräutigams zu bringen hatte. Unter[S. 535] Vaterrecht zahlt nämlich, wie wir wissen, der Bewerber den Preis ein für allemal an den Mundwalt des Weibes, und indem dieses nun, um dem Manne zu folgen, aus dem väterlichen Hause ausgeschieden werden muss, entgeht ihr der Anteil am Genusse des Familienbesitzes, zu dem es durch Geburt und Aufnahme berechtigt war. Darum scheidet nun wieder der Vater einen entsprechenden Betrag aus dem Familienbesitze aus und giebt diesen dem Mädchen als Entschädigung und zugleich zur Begründung eines neuen Hausstandes. So entstanden Mitgift und Aussteuer.[1166] Allen diesen Gesichtspunkten zufolge ward das Weib bei den Griechen eigentlich nur als Mittel zum Zweck betrachtet, als ein für das Bestehen des Hauses und der Kindererzeugung wegen nicht zu entbehrendes Übel. Aristoteles spricht es kurzweg aus, dass der Mann besser, das Weib schlechter sei, und Plato ist der Ansicht, dass das Weib mehr zur Verschlagenheit und Schlauheit neige, und deshalb um so mehr gezügelt werden müsse, als die weibliche Natur in Bezug auf die Tugend schlechter sei als die männliche. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass dies bei den Griechen allgemeine Ansicht war. Unter solchen Umständen stand die Ehe im allgemeinen auch in keinem hohen Ansehen; sie war, wenngleich bei der Schliessung religiös geheiligt, keine religiöse, noch weniger eine Einrichtung für sittliche Befriedigung persönlicher Neigung, sondern ein rechtlich-politisches Institut und galt für Pflicht, weil die Götter einen Nachwuchs von Verehrern, der Staat Bürger und Krieger, das Geschlecht Nachkommen bedurfte, um Haus und Vermögen der Einzelnen zu erhalten. Das erste Erfordernis einer rechtsgültigen Ehe war für Athen, dass Gatte und Gattin bürgerlicher Herkunft waren, denn die Kinder aus der Ehe eines Bürgers und einer Nichtbürgerin waren illegitim und erbten nicht nach dem Vater, falls nicht eine formelle Adoption erfolgte. Verwandtschaft war kein Hindernis, kamen doch Ehen zwischen Halbgeschwistern vor, und bei entfernteren Verwandtschaftsgraden galt die Ehe sogar für wünschenswert. Vollbürger zu zeugen war also die Hauptsache; Hagestolze fielen, weil sie[S. 536] ihrer Bürgerpflicht nicht genügt, der Missachtung anheim; ja in Athen bestand selbst ein gesetzlicher Zwang zum Heiraten. Nicht freiwillig und von Natur, sondern durch das Gesetz gezwungen, bequemt man sich zum Heiraten und Kinderzeugen — sagt Plato ganz allgemein.[1167]
Die spartanische Gesetzgebung hatte vollends die Ehe ganz unter den Gesichtspunkt einer Anstalt zur Erzeugung gesunder und rüstiger Bürger gestellt und hiernach das Verhältnis zwischen Mann und Weib geregelt. Die Mädchen wurden durch die gymnastischen Übungen in der Palästra in einer an Entblössung grenzenden Kleidung zu kecker Dreistigkeit und unweiblicher Derbheit erzogen. Man war ferner unbefangen genug, sie zuschauen zu lassen, wenn die Knaben ganz unbekleidet sich mit ähnlichen Turnübungen beschäftigten, und auf Chios liess man sogar Jünglinge und Mädchen öffentlich miteinander ringen. Bei den Vermählten konnte daher der Begriff ehelicher Treue als einer geheiligten Verpflichtung eigentlich gar nicht aufkommen; die Ehe musste ihnen als eine Form erscheinen, deren Zweck durch die Geburt kräftiger Krieger für den Staat erfüllt wurde, wobei es nicht darauf ankam, wer der Vater war. Denn der Gesetzgeber wollte, wie Plutarch sagt, nicht, dass die Bürger eifersüchtig auf den ausschliessenden Gebrauch ihrer Frauen Anspruch machten; sie sollten vielmehr diesen Besitz bereitwillig mit anderen teilen; ein älterer Mann sollte seine Gattin einem jüngeren auf einige Zeit überlassen, damit auch dieser Kinder mit ihr zeuge; und so galt es denn, wie Polybius sagt, für schön und geschah häufig, dass ein Mann, der bereits mehrere Kinder von seiner Gattin hatte, diese nun auch einem seiner Freunde lieh.[1168] Die Polyandrie ging so weit, dass nach dem Zeugnisse des Polybius drei oder vier Männer in Lakedämon eine Frau gemeinschaftlich hatten.[1169]
An diesen Anschauungen der dorischen Spartaner, welche auf[S. 537] noch weit ältere Gesittungsstufen als im übrigen Griechenland hinweisen und augenscheinlich den ältesten Zeiten des Patriarchats entstammen, nahmen allerdings die jonischen Hellenen Anstoss, welche streng auf makellose Ehe hielten; aber auch ihnen war die Gattin nur die Mutter einer gesetzmässigen Nachkommenschaft. Darnach regelte sich auch die Stelle der griechischen Frau in der Familie. Auf den Strassen werden wir in der Zeit des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. ihrer nur wenigen begegnen, soweit es sich um die besseren Stände handelt. Das Hüten des Hauses gilt als die erste Pflicht der Frau, und der Begriff der Häuslichkeit war strenge begrenzt. Bis unter die Hausthür wagten sich die athenischen Frauen bloss in den Tagen der höchsten Not und Aufregung. Im Hause bewohnten sie Gemächer, die von denen der Männer sowie von der Aussicht auf die Strasse getrennt waren. Hier beschäftigten sie sich in Gesellschaft der Sklavinnen mit Spinnen und Weben, empfingen Basen, Muhmen, Freundinnen und suchten sich so gut als möglich die Langeweile zu vertreiben. Hier wuchs auch die Jungfrau in grösster Eingezogenheit und tiefer Unwissenheit auf. Umgang mit Männern kannte die Griechin nicht, ausser mit ihrem Eheherrn, der jedoch den grössten Teil des Tages ausser Hause weilte. Deshalb wäre es, gerade wie heute noch im Morgenlande, eine grobe Unschicklichkeit gewesen, hätte ein Mann in Abwesenheit des Hausherrn das Haus betreten. Wie der Harem, so wurde sein Vorbild, das Frauengemach (γυναικωνῖτις), als eine Art Heiligtum betrachtet, das nur den nächsten männlichen Angehörigen zu betreten erlaubt war. Im Hause war die Frau als Mesodoma völlige Gebieterin, ausserhalb desselben aber durften sich wenigstens die Frauen der höheren Stände nie ohne Vorwissen und ohne Begleitung einer Sklavin, auch nur unter gewissen Beschränkungen zeigen.[1170] In Sparta, wo freiere Ansichten walteten, gingen Verheiratete nie ohne Schleier aus. Durchaus orientalische Verhältnisse! Die Pflichten der Hausfrau waren natürlich verschieden, je nach dem Reichtume des Haus[S. 538]standes; in der Regel aber hatte die Frau nebst der Überwachung des Gesindes auch die Bereitung der Mahlzeiten zu besorgen und kranke Familienmitglieder zu pflegen, sowie der Erziehung der Kinder obzuliegen, die aber bei den Mädchen, welche bloss zu Hause von der Mutter im Lesen und Schreiben und höchstens noch in der Musik unterwiesen wurden, in Bezug auf den Unterricht nur eine sehr mangelhafte sein konnte. Darüber darf eine Täuschung nicht bestehen, dass die Griechen der Frau in ihrem Walten in der Familie keine ethische und moralische Bedeutung zuerkannten, wenngleich es sicher nicht an Familien fehlte, in welchen das Verhältnis zwischen den Gatten im guten Sinne sich über den Durchschnitt erhob, wie auch an solchen, in denen der Pantoffel gelegentlich auch eine mehr als figürliche Rolle spielte.
Die privatrechtliche Stellung der Frauen blieb in Athen immer eine sehr untergeordnete; sie mussten sich bei allen Rechtsgeschäften von Männern vertreten lassen, und die Witwe verfiel der Vormundschaft des eigenen Sohnes. In Vermögenssachen galten die Frauen zeitlebens als Unmündige, indem alle Käufe, Verkäufe, Schenkungen, Verpachtungen und andere Geschäfte, deren Gegenstand den Wert eines Scheffels Gerste überstieg, ihnen untersagt waren. Ja, selbst Massnahmen der Männer konnten angefochten werden, wenn sie nachweislich auf Überredung durch die Frau beruhten. Eine vaterlose Erbtochter war verpflichtet, sich vom nächsten Verwandten heiraten zu lassen, wollte er sich dazu nicht verstehen, so hatte er Strafe zu zahlen. Diese gesetzlichen und rechtlichen Bestimmungen blieben auch dann noch in Kraft, als nach dem peloponnesischen Kriege die sittlichen Zustände immer mehr in Verfall gerieten. Stets aber blieb der Mann der Herr und das unter allen Umständen anerkannte Oberhaupt des Hauses, unumschränkt in seiner Gewalt in der Familie. Seine Macht, die Gattin zu verstossen, eine andere, hübschere, jüngere, reichere zu nehmen, war im Grunde gar nicht beschränkt; da sie ganz in die Hand des Mannes gegeben, konnte die Frau es nicht wohl wagen, zu einer Trennung ihre Zustimmung zu versagen; sie musste es geschehen lassen, dass sie völlig wie eine Ware an einen andern verhandelt, verschenkt, durch Testament vermacht wurde.[S. 539] Nur die Mitgift, die den Mundwalten des Weibes gehörte und von welcher der Gatte nur die Nutzniessung hatte, wirkte hier einigermassen als Schutzmittel, wenn es dem Manne nicht gelegen war, sie herauszubezahlen. Eine Ehe ohne Mitgift stand thatsächlich dem Konkubinate ziemlich gleich.[1171]
Gross war auch des Mannes Vatergewalt; er konnte das Neugeborene nach Belieben aussetzen und dem Tode oder einem ungewissen Schicksale preisgeben. Obgleich von der öffentlichen Meinung gemissbilligt, kam es doch nicht selten vor, dass Töchter insbesondere, eben wegen der Mitgift, dem Vater eine Last waren, deren man sich durch Aussetzen oder durch Verkauf in die Sklaverei zu entledigen suchte; haben doch selbst Plato und Aristoteles vor diesen und ähnlichen Mitteln nicht nur nicht zurückgeschreckt, sondern sie sogar empfohlen. In Sparta, wo der Staat fast alles im Leben der Bürger regelte und streng beaufsichtigte, konnte der Vater das Neugeborene auch töten lassen, was bei schwächlichen oder krüppelhaften Kindern sogar geschehen musste, eine Massregel, welche die Heranbildung eines ebenso schönen als kräftigen und gesunden Menschenschlages zur Folge hatte. Auch Verstossung und Enterbung der Kinder, und zunächst der Söhne, war gesetzlich nicht verboten, wenngleich nur in besonderen Fällen gebilligt. Dagegen war es erwachsenen Söhnen gesetzlich gestattet eine Klage gegen den Vater anzustellen und ihn der Verwaltung des Familienvermögens entheben zu lassen, wenn er derselben aus Geistesschwäche nicht mehr gewachsen schien.
Wie aus dieser kurzen Darstellung hervorgeht, hatte die hellenische Altfamilie viele Züge mit der slavischen Inokoština gemein, welche der älteren Hausgenossenschaft nachgebildet ist. Letztere lernten wir ihrerseits wiederum als einen älteren Typus innerhalb des Patriarchates kennen. Doch stand die griechische Familie noch unter der Inokoština durch das Hinzutreten von Nebenfrauen, welche das Christentum nicht gestattet. Das Verhältnis zum Kebsweibe, zur Pallake (παλλακή), war häufig ein vertragsmässiges und stand selbst unter dem Schutze des Gesetzes.[S. 540] Grösser noch war der Einfluss der Buhlerinnen, der Hetären (ἑταίραι), auf das Familienleben. „Wir haben Hetären — sagte Demosthenes — für das Vergnügen, Konkubinen für die täglichen Bedürfnisse, Gattinnen aber, um uns rechtmässige Kinder zu geben und für das Innere des Hauses zu sorgen.“ Diese „Freundinnen“, welche von ihren flüchtigen Verbindungen lebten und zumeist aus den ausgesetzten Mädchen hervorgingen, scheinen in der Zeit vor den Perserkriegen noch selten gewesen zu sein; wegen des Einflusses, den ihre Bildung auf Kunst und Litteratur, namentlich in Athen, ausübte, sind sie ein beliebter Gegenstand ausführlicher Schilderungen geworden. Ich begnüge mich daher mit der Erwähnung, dass Mädchen, welche zu diesem Gewerbe bestimmt waren, eine sorgfältige Erziehung erhielten, wie sie den für den Ehestand bestimmten Töchtern verweigert ward. So war die Buhlerin der hervorragendste und blendendste Typus der jonischen Weiblichkeit, und bei den Männern wenigstens war die Herrschaft der Leidenschaft beinahe unbeschränkt. Durch die wollüstige Verehrung der Aphrodite Pandemos und durch den unzüchtigen Erwerb der Hierodulen in deren Tempeln erhielt ihr Gewerbe sogar eine Art religiöser Weihe. Alle Beschränkungen, welche Sitte und Brauch der ehrbaren Frau auferlegten, hatten auf die Hetären natürlich keinen Bezug. Übrigens — das sei nicht unbemerkt — hat man nur mit Unrecht diese Damen der Halbwelt als die Krone nicht bloss der leiblichen, sondern auch der geistigen Bildung angesehen, denn jene durch Geist und Bildung, wie durch körperliche Schönheit hervorleuchtenden Hetären, von denen die Geschichte spricht, bildeten doch nur einen schwachen Bruchteil unter dem Heere der öffentlichen Dirnen, die bereits vor Solon zu Athen, aus Gründen, mit denen der heilige Augustin übereinstimmt, von Staatswegen in öffentlichen Häusern (πορνεῖον, dikterion) untergebracht und besonders in allen Hafenstädten als unentbehrlich erachtet wurden.[1172] Nebst der Strenge, womit auf eheliche Nachkommenschaft gesehen wurde, veran[S. 541]lasste wohl auch die grosse Verbreitung unnatürlicher Laster bei den Ioniern diese solonische Massregel. Insbesondere gilt dies von der Knabenliebe (παιδεραστία), welche ohne Zweifel unter dem Einflusse der öffentlichen Spiele mit ihren vollständig nackten Gestalten entstand, ein Laster, von dem die angesehensten Männer und selbst Philosophen nicht nur ganz ungescheut wie von einem wesentlichen Elemente des griechischen Lebens sprachen, sondern das sie auch zu den erlaubten Freuden zählten und das sogar zu einer vom Staate geduldeten Erwerbsquelle der Jugend wurde. Die Knabenliebe war in ganz Hellas verbreitet, wurde aber am zügellosesten in Böotien und Ellis als etwas öffentlich Gebilligtes, am rücksichtsvollsten in Sparta getrieben, aber selbst da als Erziehungsmittel begünstigt, ja sogar gesetzlich angeordnet. Dagegen fehlte hier das Hetärenwesen. Nicht nur dass Keuschheit überhaupt als überflüssige Eigenschaft der Mädchen galt, waren auch die Frauen gern zu uneigennütziger Ausschweifung bereit, welche das Bestehen von Buhlerinnen unmöglich machte. Wünschte jemand in Sparta aber Kinder zu erzeugen, ohne sich doch mit einer Frau zu belasten, so entlehnte man die Frau des Nachbars auf einige Zeit. Gegen zu starke Volksvermehrung, wie um die Folgen unerlaubter Verbindungen zu beseitigen, stand in ganz Griechenland Entfernung der Leibesfrucht in Übung, ohne sittliche Bedenken zu erwecken.[1173]
Mehr noch als in Hellas gelangt die väterliche Gewalt in der Altfamilie der Römer zum Ausdruck, welche durchaus auf Agnatio, auf zivilrechtliche Blutsverwandtschaft von Mannspersonen, die zur Familie gehörten, gegründet war. Ihr gegenüber stand die Cognatio, die weitere, auf gemeinsamer Abstammung beruhende, natürliche Verwandtschaft. Die Agnaten bildeten allein die wirkliche Familie, mochten sie auch von dem gemeinsamen Ahnherrn im zwanzigsten Grade entfernt sein. Sie allein hatten Anrechte auf die Erbschaft und die Übernahme von Vormundschaften, während[S. 542] eine zivilrechtliche Verbindung zwischen dem Sohne und der Mutter und deren nächsten Verwandten nicht bestand.
In der Ehe sahen auch die Römer zunächst bloss eine für die Erzeugung und Erziehung der Kinder geschlossene Verbindung. In der Urzeit erwarb man das Weib wohl durch Raub, wovon Spuren bis in die Kaiserzeit in der Sitte sich erhielten, die Braut über die Schwelle zu heben und ihr das Haar mit einem Pfeil zu teilen. Auf den Raub folgte, wie allerwärts, der Frauenkauf, welcher in Gestalt von Scheinkauf die herrschende Eheform (Coëmptio) in Rom blieb. Wenn in ältester Zeit die Sitte, dem Vater der Braut Geschenke zu geben, noch nicht bestanden zu haben scheint,[1174] so ist dies ein Überlebsel aus vorpatriarchalischen Verhältnissen, welches in der schon einmal besprochenen Usus-Ehe fortlebte.[1175] Da aber die römische Altfamilie auf der unumschränkten Machtvollkommenheit ihres Hauptes, des Mannes, begründet war, dem eine Gewalt über Leben und Tod der Frau und der Kinder zustand, so war das Weib auch in der Ususehe eigentlich nicht freier, denn anstatt unter der Gewalt ihres Gatten, verblieb sie unter der nicht minder strengen ihres Vaters oder ihrer Agnaten; konnte doch in solchem Falle der Vater seine Tochter dem Manne wieder abfordern oder von ihm scheiden. Doch hatte auch in dieser Ehe der Mann über seine Frau das Züchtigungsrecht. In der Coëmptio-Ehe vollends war die Frau völlig von dem Gatten abhängig; sie stand in seiner „Hand“ (Manus), d. h. sie war ganz und gar in seiner Gewalt. Gehörte sie einem Patriziergeschlecht an, so ward die Coëmptio durch die sogenannte Confarreatio verschleiert, eine Zeremonie, wobei die Braut vor zehn Zeugen einen vom Pontifex des Jupiter gespendeten Kuchen aus feinstem Mehle mit ihrem zukünftigen Gatten teilte. Diese höchste Eheform, die justae nuptiae, welche lange ein ausschliessliches Vorrecht der Patrizier blieb, erheischte nämlich die[S. 543] Weihe durch den Kult. Schon diese verschiedenen Eheformen hätten Fustel de Coulanges vor dem Irrtum bewahren sollen, die väterliche und eheliche Gewalt aus der Religion abzuleiten,[1176] welche, ich wiederhole es, erst nachträglich heiligte, auch in bestimmte Satzungen kleidete, was schon vorher sich herangebildet. Wenn der verdiente französische Forscher die Kultehe für älter, als die anderen Eheformen hält,[1177] so rührt dies daher, dass er, immer bloss die geschichtlichen Zeiten im Auge, übersieht, wie diese zu Symbolen herabgesunkenen Formen vorgeschichtlichen, thatsächlichen Zuständen entsprechen. Es lässt sich begreifen, dass z. B. die blosse Zeremonie des Raubes, der Scheinraub oder gar nur die daran mahnenden Hochzeitsgebräuche die Kultweihe erhielten; es ist aber völlig undenkbar, dass religiöse Vorstellungen irgend welcher Art den Menschen schon einmal den wirklichen Weiberraub oder Mädchenkauf geboten hätten. Diese Arten der Beweibung können nur gesellschaftlichen Ursachen, niemals religiösen Anschauungen entspringen.
Gleichviel nun, ob durch Coëmptio oder durch Confarreatio, — das Weib gelangte mit Leib und Gut in die Gewalt des Mannes, d. h. des freien römischen „Bürgers“ der Geschichte. Man möge ermessen, welche unberechenbare Frist verstrichen sein muss, ehe der Begriff des mit zahlreichen Rechten ausgestatteten „Bürgers“ reifen konnte, der uns schon im Anfange der römischen Geschichte entgegentritt. Nur für ihn gelten die in Rede stehenden Bestimmungen; nur er hatte das Jus connubii, das Recht, eine gültige Ehe zu schliessen. In seiner Eigenschaft als Pater familias erkannten ihm Sitten und Gesetze Rechte zu, die ihm eine ganz eigentümliche Weihe verliehen. Als Haupt seines Hauses war er der Priester der Laren und befand sich, wie bemerkt, im Besitze einer unbeschränkten Gewalt — als Gatte über seine Frau (manus), als Vater über seine Kinder (patria potestas), als Herr über seine Sklaven (dominica potestas), während er für seine Person durchaus sui juris dastand. Nach dem Willen der Römer sollte keinerlei[S. 544] Autorität zwischen Vater und Sohn, zwischen einen Mann und seine Frau treten dürfen; der häusliche Herd galt als ein geheiligtes Asyl, wohin nicht einmal die Vertreter des Staatsgesetzes dringen sollten.[1178] Die Römer haben aus der väterlichen Gewalt in weit höherem Grade als aus der natürlichen Verwandtschaft das die Familie zusammenhaltende Band gemacht. Dem Vater gehörten alle in seiner Ehe geborenen Kinder: is pater est quem nuptiae demonstrant. Uneheliche oder einer nicht gesetzlich anerkannten Verbindung entstammende Kinder hatten keinen Vater, sondern traten in die Stellung ein, in der ihre Mutter zur Zeit ihrer Entbindung sich befand. Die väterliche Gewalt schloss das Recht über Leben und Tod in sich. Nahm der Vater das zu seinen Füssen niedergelegte Neugeborene auf, so galt es fortan als anerkanntes Glied der Familie; liess er es liegen, so stiess er es damit aus, es ward dann ausgesetzt und dem Verderben preisgegeben. Dieses Recht über Leben und Tod blieb dem Vater auch dann noch, wenn die Kinder erwachsen, ja wenn sie Beamte waren. Umsomehr konnte er sie auch verkaufen; die väterliche Gewalt gegenüber den Söhnen erlosch erst dann, wenn er sie dreimal hintereinander verkauft hatte, gegenüber den Mädchen schon nach dem ersten Verkauf. Im übrigen dauerte sie jedesmal so lange, als der damit bekleidete Hausherr am Leben war und erstreckte sich über alle seine Nachkommen in gerader Linie. Gleichviel wie alt und mit welcher Würde sie bekleidet waren, blieben die Kinder also andauernd in der Gewalt ihres Vaters, der über sie nicht weniger bestimmt gebieten konnte, wie über seinen toten Besitz oder seine Sklaven, und selbst das Recht hatte, in ihre liebsten Neigungen, ja sogar in die Verhältnisse der von ihnen neugegründeten Familie störend einzugreifen. Im Hause diente das Kind sozusagen als ein Werkzeug des Erwerbs: es erwarb für den Vater und konnte kein persönliches, kein selbständiges Eigentum besitzen. Zu wirklichem Eigentum gelangte der Sohn erst durch das Peculium castrense, durch das Sondergut oder die Ersparnisse, die er als Soldat gewonnen hatte; in späterer Zeit auch durch das Peculium[S. 545] quasi castrense, das im öffentlichen Dienste erworbene Vermögen. Waren in einer Familie, richtiger Ehe, keine Kinder vorhanden, so konnte der Hausherr einen Adoptivsohn wählen, denn ein Sohn war nicht bloss ein Arbeiter für die Familie, sondern auch eine neue Gewähr für die Fortdauer des Stammes, ein Pfand dafür, dass der Dienst der Manen des Hauses niemals erlöschen, dass die Sacra gentilicia niemals ihre gewohnten Opfer vermissen würden. Daher trat auch der Adoptivsohn in den Kult seiner neuen Familie ein. Die Römer kannten zwei Arten der Adoption, nämlich die „Ankindung“ im eigentlichen Sinne des Wortes und die Adrogation, je nachdem es sich um Kinder (alieni juris), die noch unter väterlicher Gewalt standen, oder um durchaus selbständige Bürger (sui juris) handelte. Wenn, was zuweilen vorkam, der neu „Adrogierte“ bereits selbst Kinder hatte, so gingen auch diese, wie sein Vermögen, mit ihm zugleich in die Gewalt des Adoptivvaters über, der dadurch mit einem Male Vater und Grossvater wurde. Der aus einer rechtmässig geschlossenen Ehe und aus der Adoption wie aus der Adrogation entsprungenen väterlichen Gewalt unterstanden endlich auch die aus einem später in eine gültige Ehe umgewandelten Konkubinat hervorgegangenen „natürlichen“ Kinder.[1179]
Die Monogamie wurde in Rom zwar von den ältesten Zeiten an streng eingeschärft; jede zweite, gleichzeitige Ehe war nichtig, infam und wurde als Ehebruch bestraft, aber zu allen Zeiten stand es dem Manne frei, sich seiner Sklavinnen als Konkubinen[1180] zu[S. 546] bedienen. Eigentliche Polygamie war mit dem Wesen der römischen Ehe unverträglich. Der Gründung eines Haushalts ging keine lange Einleitung voraus. Das Gefühl hatte bei einer Eheschliessung fast gar kein Wort mitzusprechen, und was wir „den Hof machen“ nennen, war bei den Römern bis ins vierte Jahrhundert völlig unbekannt. Man heiratete sich, ohne sich zu kennen, ja vielfach ohne vor der Verlobung sich gesehen zu haben. Die Sache wurde von den Eltern abgemacht, die Töchter oft schon als Kinder verlobt. Auch war das Alter, in welchem die bis dahin in ziemlich strenger Abgeschlossenheit gehaltenen Mädchen heirateten, nicht derart, dass sie eine Wahl treffen konnten. Gesetzlich war dieses Alter auf zwölf Jahre bestimmt, aber der Brauch wollte, dass man bis zum vierzehnten Jahre wartete; neunzehn Jahre war die äusserste Grenze, die man nicht überschreiten durfte. Die Männer verheirateten sich gegen das dreissigste Jahr. Die Töchter erhielten also ihre Gatten aus der Hand ihrer Eltern und es ist kein Beispiel von Widerstand gegen den väterlichen Willen bekannt. Die Ehehindernisse waren sehr zahlreich, namentlich durfte der Bräutigam mit der jungen Dame im Sinne des Gesetzes nicht zu nahe verwandt, noch auch ein Peregrinus (Nichtbürger) sein. So wie heute, spielte auch bei den Römern die Vermögensfrage eine grosse und sogar die erste Rolle. Das Mädchen erhielt nämlich schon Mitgift (Dos), welche in der älteren Zeit in die Gewalt des Gatten kam und den praktischen Römern oft Schönheit, Jugend und Rang ersetzen musste, was freilich auch heute noch vorkommt. War die Frage der Mitgift geregelt, so fand eine förmliche, feierliche Verlobung (Sponsalia) mit rechtlich bindender Kraft statt; aber sie änderte in den Verhältnissen der zukünftigen Gatten nichts; sie lernten sich jetzt ebenso wenig kennen als vorher; ein bräutliches Verhältnis gab es nicht; so wenig wie die Griechen besassen[S. 547] die Römer einen Ausdruck für Braut.[1181] Nach der Verlobung beschäftigte man sich mit der Ausstattung, was Sache des Brautvaters war. Wenn der Heiratsvertrag (Instrumentum dotale) von beiden Seiten angenommen und die Zustimmung zu der neuen Verbindung von den jungen Brautleuten oder jenen, die über sie zu verfügen hatten, ausgesprochen war, galt die römische Ehe als gesetzmässig geschlossen. Keine bürgerliche oder geistliche Behörde hatte daran teilzunehmen, lediglich die Confarreatio-Ehe in Patrizierfamilien ausgenommen, welche von Seiten des Pontifex Maximus und des Flamen Dialis durch ein Opfer geweiht wurde. Wenn der feierliche Hochzeitszug vor dem Hause des Bräutigams ankam, nahm letzterer an der Schwelle von der Braut die Erklärung entgegen: Ubi tu Gajus, ego Gaja; darauf erfolgte die Verzehrung des Hochzeitskuchens (Far), wobei rings um den Herd die Ahnenbilder und Hausgötter der Familie aufgestellt waren. Von diesem Augenblicke an teilte die junge Frau den Hausgottesdienst ihres Mannes; seine Götter und Ahnen waren fortan auch die ihrigen. Am Morgen nach der Hochzeit ergreift die junge Frau die Zügel der Regierung im Hause; alle reden sie als Domina an und wenn sie ausgeht, umgiebt die alte Sitte überall schützend die junge „Matrone“, die noch gestern ein Mädchen war. Sehr verschieden von der Griechin, war sie ihrem Gatten ebenbürtig, nahm auch, wie heute, an dessen amtlicher Stellung und deren Wirkungen teil, stand ihm als Mater familias ratgebend zur Seite, beteiligte sich an den öffentlichen Festen und an den Gastmählern, war die Vorsteherin des Haushaltes und hatte am häuslichen Herde die Sacra privata zu vollziehen. Das römische Gesetz fasste die Ehe als eine freiwillige Vereinigung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zu inniger Lebensgemeinschaft (Consortium omnis vitae) auf, deren Zweck zugleich Kindererzeugung ist. Dass in alter Zeit diese Ehe unlösbar war, sicherte der Römerin hohe Achtung und eine so würdige Stellung, wie wir dem im ganzen Altertum[S. 548] nicht wieder begegnen. Und dennoch, obwohl sie nicht selten in der Ehe den Pantoffel schwang, der auch den Römern als Sinnbild der weiblichen Herrschaft galt, befand sie sich zu Hause von Rechtswegen in einer sehr fühlbaren Abhängigkeit. Wo die Ehe sie in die Hand ihres Gatten gegeben, ward sie gewissermassen als die Tochter des letzteren, als die Schwester seiner Kinder angesehen; alle Verbindungen mit ihrer ursprünglichen Familie waren zerrissen. Ihr Gatte hatte ihr gegenüber ein sehr ausgedehntes Strafrecht und konnte, wenn er sie auf frischer That in Ehebruch ertappte, sie sofort töten. Stand die Frau nicht in der „Hand“ des Gatten, so begnügte er sich, sie zu verstossen, ihren Angehörigen die Bestrafung überlassend. Natürlich wurde auch in Rom das Vergehen des Ehebruchs nur auf das Weib bezogen; dann erst, wenn der Mann die Frau eines andern verführte, traf ihn der Vorwurf des Ehebruchs.[1182] In Sachen des Erbrechts wurde die Frau gleichfalls als Tochter des Hauses behandelt. Überlebte sie den Gatten, so erhielt sie für sich ihr Eingebrachtes und ein Erbschaftsanteil, wie er auf die Kinder entfiel. Starb sie dagegen vor ihrem Manne und kinderlos, so hinterliess sie keine Erbschaft, doch blieb in Sachen der Mitgift ihrem Vater ein Heimfallsrecht gewahrt. Vor Ablauf von zehn Monaten nach des Gatten Tode durfte keine Witwe zu einer neuen Ehe schreiten, und solche, die dies ganz unterliessen, wurden stets mit besonderer Hochachtung angesehen. Alles in allem stand zur Zeit der Herrschaft des ältesten römischen Rechts die Frau, selbst die Frau sui juris, für Lebenszeit unter Vormundschaft.[1183]
Dies in grossen Zügen das Bild der römischen Altfamilie. Dasselbe gehört in seiner Reinheit indes bloss den Tagen des Königtums und den ersten Jahrhunderten der Republik an. Die Stellung der Frau besserte sich nämlich allgemach, seitdem ein freierer Geist gegen die alten starren Formen anzukämpfen begann; zugleich aber nahm die fortschreitende Zersetzung der Altfamilie ihren Anfang. Die spätere Geschichte der Römer, insbesondere[S. 549] unter dem Kaiserreiche, zeigt die Altfamilie in ihrer allmählichen Umgestaltung zur Familie unserer Tage, wie sie zuletzt durch das Christentum ausgebildet wurde, begriffen. Als Zeiten des Sittenverfalls brandmarken sie die Geschichtsschreiber; gerade aus ihnen ging aber die moderne Familie als neuer Phönix hervor; ja sie sind gewissermassen eine notwendige Vorbedingung dazu gewesen. Stets, wie wir sahen, hat die Stellung des Weibes, seine Freiheit oder Unfreiheit, auch die Gestaltung der Familie selbst bedingt. Wo der Mann Herr der Gattin ist, herrscht er auch über Kinder und Familie. Seine patria potestas steigt und sinkt mit seiner ehelichen Gewalt. Indem das Weib derselben sich, wenn auch schliesslich auf Kosten der Sittlichkeit, entwand, untergrub sie auch die väterliche Autorität, auf welcher die Altfamilie beruhte.
Der Gang dieser Ereignisse wäre Sache einer besonderen, kulturgeschichtlichen Darstellung. Nur so viel sei hier angedeutet, dass es wiederum das in der Geschichte der Familie so hochwichtige Eigentum war, welches die Umwandlung einleitete. Mit dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung kam nämlich das „Dotalsystem“ zur Geltung, wonach die Frau ihre Mitgift für sich behielt, und damit war ein wesentlicher Fortschritt in ihrer Befreiung von der Mannesherrschaft angebahnt. Zugleich ward nun ermöglicht, was früher unmöglich gewesen: die Trennung der Ehe. Wenn es auch übertrieben ist, dass erst im Jahre 520 der Stadt die erste Ehescheidung daselbst vorgekommen sein soll, so waren dieselben doch gewiss höchst selten. Desto häufiger wurden sie seit den punischen Kriegen, wobei man als Grund zur Trennung Unverträglichkeit des Charakters geltend machte. Dabei vermied man, grosses Aufsehen zu erregen; jeder Teil nahm, was eben früher nicht anging, sein Eigentum an sich, um fortan wieder nach seinem Geschmack zu leben. War die Bewegung der Römerin in der Öffentlichkeit von Haus aus eine freiere, so begünstigte sie noch wesentlich das Eindringen der griechischen Gesittung in das bis dahin einfach ländliche, zugleich rauhe und kriegerische Leben Roms. Die Frauen nahmen an der neuen Strömung den hervorragendsten Anteil, und eine eigentümliche Erscheinung sind[S. 550] die geistreichen Frauenzirkel, welche zur Zeit der Scipionen der Mittelpunkt des höheren Lebens in Rom waren. Diese wachsende Gesittung konnte die Selbständigkeit des Weibes nur fördern; aber aus der Sicherheit eines engen, jedoch heiligen Berufes traten sie auch auf den schlüpfrigen Boden einer bedenklichen Ungebundenheit hinaus. Damit war eine Lockerung der ehelichen Bande unvermeidlich, zumal als die Frau die dem Manne in geschlechtlichen Dingen gestattete Freiheit auch für sich zu beanspruchen begann. Indes nicht erst unter dem Kaiserreiche, schon in den letzten Menschenaltern der Republik waren die Ehescheidungen und Wiedervermählungen an der Tagesordnung und gab es Damen, welche ihre Jahre nicht nach der Zahl der Konsuln, sondern ihrer Gatten zählten. Indem die Frauen immer mehr Verfügungsrecht über ihr Eigentum errangen und steigende Lebensansprüche erhoben, gewann die Ansicht, welche die Ehe als eine Last, als ein notwendiges Übel betrachtete, worauf der Censor Q. Metellus Numidicus schon 102 vor Chr. hingewiesen hatte, immer mehr Boden und die Ehelosigkeit nahm schliesslich in Rom ebenso überhand wie die leichtsinnigen Ehescheidungen. Damit mehrten sich wieder alle Arten von Ausschweifungen unter beiden Geschlechtern. Schon Cäsar musste durch Belohnungen zur Ehe aufmuntern, was aber sehr wenig half; Oktavian erliess strenge Gesetze gegen die Ehelosigkeit und befreite Mütter, die drei Kinder besassen, von aller Vormundschaft.
Um diese Zeit ärgster Zügellosigkeit der Sitten, wie sie in solchem Grade und Umfange die Welt nicht zum zweiten Male gesehen, im letzten Jahrhundert der Republik und in den Anfängen des Kaiserreiches, bestand die Mündigung (Emancipatio) der Weiber in den höheren Kreisen thatsächlich, und das einzige Lebensziel war hier der Genuss. Wenn aber der grimmige und heissblütige Dichter der „Pharsalia“ im achten Gesange schreibt:
so sei nicht vergessen, dass bei Lucan wie im „Satyricon“ des Petronius u. a. wir es mit Schilderungen zu thun haben, welche durchaus keine allgemeine Geltung gestatten. Man durchschaut heute die Übertreibungen der Sittenschilderer, welche die Ausschweifungen einzelner Kreise zur Lebensregel stempeln. Unleugbar hatte Rom wie jedes Volk der Welt seinen wohlbemessenen Anteil an Lasterhaftigkeit. Knabenliebe ging im Schwange und die grössten Männer der Republik machten aus ihr kein Hehl; die Tuskergasse, die Damen der Theater und der Schenken boten zur Genüge Bilder der Zügellosigkeit. Aber selbst Rom kannte doch in grosser Anzahl auch Frauen anderer Art, während in den Provinzen, und sogar in der höheren Gesellschaft, Sittenstrenge waltete. Auf den erhaltenen Grabinschriften spricht sich oft ein inniges Verhältnis der beiden Gatten aus, und häufiger als man annehmen sollte, sind die Univirae, die Witwen, die nur einem Manne angehört hatten.[1184] Schon im Zeitalter der Antonine (138–180 n. Chr.) ist die durch so grosse Massen schnell und auf schlimmem Wege gewonnener Reichtümer in Unordnung geratene römische Gesellschaft wieder zu sich selbst, wieder zu grösserer Ruhe gekommen. Offenbar hatte sie einen ähnlichen Charakter angenommen, wie alle Teile der menschlichen Gesellschaft, die eine hohe Stufe des Reichtums, der geistigen Kultur und der Verfeinerung erreicht haben. So begegnen wir auch bei ihr schmachvollen Lastern und erhabener Tugend, wüsten Ausschweifungen und strengster Sittlichkeit.[1185] Aber die Familie hatte eine Wandlung erfahren, aufgebaut auf die Selbständigkeit des Weibes, zu deren Entwicklung auch die durchlebte Periode wüster Gährung mit[S. 552] ihrem Durchbrechen der Schranken alter Sitte und Begriffe nicht wenig beigetragen hatte.
Schon gegen Ende der Republik hin wurde, wie erwähnt, eine freiere Ehe Sitte, in welcher die Frau weder die Verfügung über ihr angestammtes Vermögen verlor, noch persönlich der Gewalt des Mannes unterworfen war. Unter dem Kaiserreiche wurden die alten Formen der Eheschliessung vollends fast ganz obsolet: die besprochene losere, auf einfacher gegenseitiger Einwilligung ohne religiöse oder bürgerliche Zeremonieen beruhende Form der sogenannten freien Ehe wurde die durchaus gewöhnliche und hatte die Folge, dass die auf solche Weise verheiratete Frau in den Augen des Gesetzes als der Familie ihres Vaters angehörig betrachtet wurde und unter dessen Vormundschaft stand, nicht unter jener ihres Gatten. Die alte patria potestas hatte sich vollständig überlebt, und die praktische Folge der allgemeinen Annahme dieser Art von Eheschliessung war die vollständig gesetzliche Unabhängigkeit der Frau. Nur ihre Mitgift ging in das Vermögen des Mannes über, aber nicht einmal an diese war sein Anrecht unbeschränkt; ihr übriges Hab und Gut behielt die Frau als Eigentum und rechtlich stand dem Manne nicht einmal dessen Niessbrauch zu.[1186] Sie hatte also das freie Verfügungsrecht sowohl über ihr eingebrachtes Vermögen als über das, was ihr später aus der Erbschaft ihres Vaters zufiel.[1187] Auf solche Art ging ein sehr beträchtlicher Teil des römischen Reichtums in den unbeschränkten Besitz der Frauen über, welche dann im eigentlichsten Sinne des Wortes die Gebieterinnen ihrer Gatten wurden. So erlangten die Frauen im Kaiserreiche einen Grad von Freiheit und Würde, den sie später einbüssten und niemals ganz wieder erlangten. Die Verfassung der Familie hatte dergestalt eine vollständige Umwälzung erlitten. Anstatt auf dem alten Grundsatz der unumschränkten Mannesherrschaft, war sie auf dem der gleichen Berechtigung der Frau aufgebaut. Die gesetzliche Stellung der Frau war eine völlig unabhängige geworden, während ihre gesellschaft[S. 553]liche Stellung eine höchst geachtete war.[1188] Schon Kaiser Claudius schaffte die Vormundschaft der Seitenverwandten männlicher Linie ab, und wahrscheinlich war bereits mit dem dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung von einer Vormundschaft gegenüber Frauen sui juris, welche das 25. Lebensjahr vollendet hatten, überhaupt nicht mehr die Rede.[1189] Aber die völlige Aufhebung der die natürlichen Gefühle verleugnenden zivilrechtlichen Blutsverwandtschaft fand erst unter dem Einflusse zarterer Empfindungen und der christlichen Ideen im Jahre 543 durch Justinian statt. Damit war erst der Boden für Familie und Ehe im modernen Sinne geschaffen.
[1156] Lippert. Geschichte der Familie. S. 218–219.
[1157] M. Lange. Römische Altertümer. Berlin 1863. Bd. I. S. 90.
[1158] Lippert. A. a. O. S. 221.
[1159] Fustel de Coulanges. La cité antique. S. 301–306.
[1160] Lippert. A. a. O. S. 150.
[1161] A. a. O. S. 219.
[1162] Famuli origo ab Oscis dependet, apud quos servus famel dicitur, unde et familia vocata sagt Paulus Diaconus.
[1163] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 122.
[1164] Die Ehe- und Familienverhältnisse der Griechen und besonders der Römer sind der Gegenstand sehr genauer juridischer Untersuchungen geworden und es liegen umfangreiche Werke darüber vor. Ich beschränke mich daher in obigem auf die für die Zwecke meines Buches unentbehrlichsten Umrisse.
[1165] Lippert. A. a. O. S. 145.
[1166] Lippert. A. a. O. S. 167.
[1167] Döllinger. Heidentum und Judentum. S. 681.
[1168] Geschah es doch sogar in Athen, dass Sokrates seine Frau Xantippe dem Alkibiades lieh.
[1169] A. a. O. S. 682.
[1170] Albert Forbiger. Hellas und Rom. Zweite Abteil. I. Bd. Leipzig 1876. S. 5.
[1171] Döllinger. A. a. O. S. 683.
[1172] Ausführlicheres siehe bei: Forbiger. Hellas und Rom. A. a. O. S. 280–283.
[1173] Um Fehlgeburten zu bewirken wurden Pessaria, die aus Honig und Nieswurz oder Euphorbium bereitet waren, tief eingeführt (Archiv für Anthropologie Bd. V. S. 451).
[1174] William Edward Hartpole Lecky. Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf Karl den Grossen. Deutsch von Dr. H. Jolowicz. Leipzig und Heidelberg 1879. Bd. II. S. 249.
[1175] Siehe oben S. 304.
[1176] Fustel de Coulanges. A. a. O. S. 40.
[1177] A. a. O. S. 47.
[1178] Duruy. Geschichte des römischen Kaiserreichs. Bd. III. S. 6.
[1179] Duruy. A. a. O. S. 7–23.
[1180] Verbindungen, die eingestandenermassen nur für einige wenige Jahre eingegangen wurden, haben immer neben dauernden Ehen bestanden; unter dem Kaiserreiche, wahrscheinlich seit Augustus, wurden sie gesetzlich anerkannt und das Konkubinat erhält den Namen Ehe. Die Benennung Concubina bezeichnete im Kaiserreiche „Frau“ im streng gesetzlichen Sinne. Diese Verbindung war im wesentlichen eine Form der Eheschliessung, denn wer sich zu einer Konkubine eine „Frau“ oder noch eine Konkubine nahm, machte sich gesetzlich des Ehebruchs schuldig. Wie die niedrigste Form der Ehe wurde sie ohne jede Feierlichkeit geschlossen und konnte nach Belieben gelöst werden. Es war also eine „Ehe auf Zeit“. Das Eigentümliche dabei war, dass sie von patrizischen Männern mit freigelassenen Frauen geschlossen wurde, die gesetzlich keine Ehe eingehen durften, dass die Konkubine bei ihrer vollkommen anerkannten und ehrenvollen Stellung nicht den Rang ihres Mannes teilte, dass sie keine Mitgift brachte und dass die Kinder im Range der Mutter verblieben und von der Beerbung des Vaters ausgeschlossen waren.
[1181] Ludwig Friedländer. Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgange der Antonine. Leipzig 1862. Bd. I. S. 269.
[1182] Duruy. A. a. O. S. 25–50.
[1183] Döllinger. Heidentum und Judentum. S. 702.
[1184] Ein ausführliches Gemälde des römischen Familienlebens zur Zeit der Antonine siehe bei Albert Forbiger. Hellas und Rom. Erste Abteilung. Bd. I. S. 308–336.
[1185] Duruy. A. a. O. S. 505–506.
[1186] Friedländer. A. a. O. S. 273.
[1187] Lecky. Sittengeschichte Europas. Bd. II. S. 254.
[1188] Lecky. A. a. O. S. 255.
[1189] Duruy. A. a. O. S. 51.
er durchgreifendste Unterschied zwischen dem Familienbegriff der Alten und jenem, wie er sich bei den christlichen Kulturvölkern im Laufe des Mittelalters herausgestaltet hat, liegt darin, dass er aus einem vorwiegend rechtlichen ein vorwiegend religiös-sittlicher geworden. Eine Darstellung dieser nur sehr langsam sich vollziehenden Umwälzung müsste strenge genommen zu einer Kulturgeschichte des ganzen Mittelalters werden, daher dieser abschliessende Abschnitt bloss einige der wichtigsten Streiflichter darauf zu werfen vermag.
Ihren Ausgangspunkt nimmt die neue Anschauungsweise von der veränderten Beurteilung des Geschlechtsverkehrs überhaupt, und diese reicht noch bis in die Römerzeit zurück. Nirgends im Altertum, so sahen wir, galt die Befriedigung einer mächtigen und vorübergehenden sinnlichen Begierde seitens des Mannes für strafbar. Einer der wichtigsten Schritte war demnach das noch in die heidnische Kaiserzeit fallende, entschiedene Auftreten für die Gegenseitigkeit jener Pflicht ehelicher Treue, welche zuvor beinahe ausschliesslich den Frauen auferlegt war. Nach des Aristoteles Vorbilde suchten Plutarch und Seneca, beide im ersten christlichen Jahrhundert, den Männern in der schärfsten und unzweideutigsten Weise die Pflicht einzuschärfen, in der Ehe dieselbe Treue gegen ihre Frauen zu beobachten, welche sie von[S. 555] ihnen erwarteten. Theoretisch gewann auch diese Pflicht so festen Fuss im römischen Leben, dass der grosse Jurist Ulpian (gest. 228 n. Chr.) sie als gesetzliche Grundregel anerkannte. Gleichzeitig aber reifte das Emporblühen der neuplatonischen und pythagoräischen Philosophie die Anschauung, dass der Körper und seine Leidenschaften wesentlich böse seien und alle Tugend in einer Reinigung und Abkehr vom Materiellen bestehe. Die wichtigste Folge hiervon war die etwas strengere Ansicht von der Keuschheit vor der Ehe bei Männern. Der bithynische Rhetor und Philosoph Dion Chrysostomos (gest. Anfangs des zweiten Jahrh.) verlangte schon, dass die Prostitution gesetzlich unterdrückt werde. Der Glaube an die Unreinheit aller körperlichen Dinge und die Pflicht, sich über dieselben zu erheben, wurde im dritten Jahrhundert mit Nachdruck eingeschärft. Bald machte sich das Christentum zum Vertreter der neuen Richtung. Es betrachtete die geschlechtliche Reinheit als die wichtigste aller Tugenden, und der grösste Teil der kirchlichen Verordnungen bezog sich auf Sünden der Unkeuschheit. Das Christentum ward der grosse Feind der sinnlichen Leidenschaften und im Gegensatze zu dem Schönheitsgürtel der Griechen und Römer trugen die christlichen Heiligen und Asketen Keuschheitsgürtel, welche die sinnliche Leidenschaft töteten oder nur den Reinen passten.[1190]
So wurde den Menschen zwar eine tiefe und dauernde Überzeugung von der Wichtigkeit der Keuschheit beigebracht, zugleich aber auch die Ansicht gefördert, dass die Ehe selbst etwas Unreines sei. Der Begattungstrieb wurde immer als Folge vom Sündenfalle der ersten Menschen, und die Ehe fast ausschliesslich von ihrer niedrigsten Seite betrachtet. Das Ziel der Asketen war, die Menschen für ein Leben der Jungfräulichkeit zu gewinnen, und folgerichtig wurde die Ehe als ein niederer Zustand behandelt. Man gab allerdings ihre Notwendigkeit zu und rechtfertigte sie als Fortpflanzungsmittel der Gattung und Befreiung von grösseren Übeln; aber dennoch betrachtete man sie als einen Zustand der Erniedrigung, dem alle, welche wahre Heiligkeit anstreben,[S. 556] entfliehen müssten. Der Ehe überhaupt oder in der Ehe sich der vollständigen Vereinigung zu enthalten, wurde als ein Beweis der Heiligkeit angesehen, daher auch nominelle Ehen, bei denen beide Teile übereinkamen, das Ehebett zu meiden, nicht ungewöhnlich waren. Aus dieser Vorstellung von der Sündhaftigkeit der Ehe erwuchs sehr natürlich das Gefühl, dass die Geistlichkeit, welcher in den ältesten Zeiten der Kirche die Ehe ohne Einschränkung gestattet war,[1191] als der heiligste Stand in dieser Beziehung weniger Freiheit haben müsste als die Laien. Schon im Verlaufe des vierten Jahrhunderts ward es ein anerkannter Grundsatz, dass Priesterehen strafbar seien. Nichtsdestoweniger wurden sie gewohnheitsmässig und zwar meist mit der grössten Öffentlichkeit feierlich geschlossen. Die vollständige Beseitigung der Priesterehe ist hauptsächlich erst Papst Gregor VII. (Hildebrand) zu verdanken, welcher dieses Ziel mit unermüdlicher Beharrlichkeit verfolgte.[1192] Unfraglich kam Gregor VII. mit dem 1075 erlassenen Cölibatsgesetze dem Geiste seiner Zeit entgegen.[1193]
Eine weitere Folge dieser Ansichten von der Ehe war eine starke Missbilligung der zweiten Heirat. Schon den Römern wurde die zweite Ehe einer Frau anstössig; dass Männer eine zweite Ehe schlossen, ward wohl als minder unziemlich empfunden. Die Montanisten und Novatianer verdammten aber die zweite Ehe unbedingt. Die Strenggläubigen erklärten sie zwar mit Rücksicht auf die Schwäche der menschlichen Natur für gesetzlich zulässig, missbilligten sie aber aufs nachdrücklichste.[1194] Athanagoras im zweiten Jahrhundert nannte die Digamie oder zweite Heirat geradezu einen „anständigen Ehebruch“. Der Streit über die[S. 557] Zulässigkeit der Wiederverheiratung ward endlich durch die Autorität Augustins dahin entschieden, dass ein Geschiedener bei Lebzeiten des anderen Teiles nicht wieder heiraten dürfe. Ehescheidung war aber nach christlicher Satzung bloss bei Ehebruch gestattet, denn dem Evangelisten Matthäus zufolge hat Christus selbst die Unauflösbarkeit der Ehe ausgesprochen.[1195] Doch wurde diese kirchliche Lehre keineswegs gleich ins Leben eingeführt; erst im zwölften Jahrhundert gelang es, die Ansicht von der gänzlichen Unauflösbarkeit der Ehe überall zur Geltung zu bringen und auch im bürgerlichen Gesetze jede Ehescheidung zu verbieten. Fast ebenso lange währte es, ehe an Stelle der rein bürgerlichen Ehe des späteren Kaiserreiches allmählich die religiöse Ehe trat. So wenig wie im heidnischen Rom die Gültigkeit der Ehe von dem religiösen Weiheakt abhing, ebenso wenig war die kirchliche Trauung ursprünglich nach kanonischem Rechte zur bürgerlichen Gültigkeit der Ehe erforderlich; es gehörte dazu lediglich die übereinstimmende Willenserklärung der Verlobten.[1196] Allein als die Kirche nach und nach anfing, ihre Macht auszubreiten, kam es bald dahin, dass sie sich vermöge des in der Ehe liegenden religiösen Elementes ganz und gar derselben bemächtigte. So erhielt im Orient seit dem siebenten Jahrhundert, und seit der Christianisierung der Germanen auch im Abendlande, die kirchliche Weihe das Übergewicht. Doch wurde sie bei Sklavenehen lange Zeit weggelassen und selbst bei Heiraten der Freien, wo sie in der Regel schon zur Anwendung kam, wurde die Trauung erst im zehnten Jahrhundert unerlässlich. Gestützt auf des Paulus Brief an die Epheser,[1197] wo die Ehe ein Geheimnis genannt wird, was die Vulgata mit Sacramentum übersetzt, legte man der Ehe selbst die Bezeichnung Sacrament bei, und noch heute erkennt die katholische Kirche die Ehe als eines der sieben Sakramente an.
Die Umgestaltung des Ehebegriffs aus einem bürgerlichen in einen religiösen musste begreiflicherweise auch die Einehe, die Monogamie, zur ausschliesslichen Eheform erheben. Allerdings hat das Christentum die Monogamie nicht erst geschaffen, sondern überall schon verbreitet vorgefunden, indem die Römer in allen Ländern, wohin sie ihre Gesetzgebung getragen, gerade auf die Ehe einen entschiedenen Einfluss geübt hatten. Auch ward in den ersten Jahrhunderten des Christentums Vielweiberei von keiner Kirchenversammlung für Sünde erklärt; ja der heilige Augustin sagte ausdrücklich, dass er die Polygamie nicht verdamme, und thatsächlich hat auch das Christentum Jahrhundertelang der Vielweiberei der Barbarenkönige keine Schranken gesetzt.[1198] In der Natur der oben entwickelten Anschauungen lag es aber doch, dass der christliche Geist und die christliche Sitte sich sehr entschieden gegen alle Polygamie und irgendwelche Zugeständnisse in dieser Richtung auflehnten. Ja, das Christentum that noch einen wesentlichen Schritt weiter. Es forderte nicht bloss Monogamie, sondern Monogynie, indem es als ein religiöses, unabänderliches, unbiegsames Dogma lehrte, dass alle Arten des Geschlechtsverkehrs ausser lebenslänglichen Verbindungen strafbar seien. Deshalb machte es auch dem im Altertume zulässigen Konkubinate einen offenen und[S. 559] unversöhnlichen Krieg, der freilich erst sehr spät zum Siege führte. In Deutschland z. B. wurde das Konkubinat erst durch die Polizeiordnungen von 1530 und 1577 als etwas Unsittliches und Gemeingefährliches reichsgesetzlich verboten. Indem nun das Christentum lehrte, sein wider die Natur sündigendes Dogma als unumstösslich anzusehen, und strenge gesellschaftliche Strafen und tiefe Schmach auf vorübergehende Verbindungen legte, hat es diese in den meisten Ländern zu heimlichen und verhüllten gemacht. Denn die von den Kirchenvätern verfochtene gleichmässige Verpflichtung beider Geschlechter zur Keuschheit ging lange nicht in das Volksbewusstsein der Christenheit über, besteht sogar noch nicht in der Gegenwart, welche immer noch für Mann und Weib einen anderen sittlichen Massstab hat. Der strenge Tadel gegen die aussereheliche Verbindung stützt sich eben nicht auf ein Naturgesetz, sondern nur auf eine positive Satzung; kein Wunder daher, dass zu allen Zeiten dagegen gefrevelt ward. Immerhin rief die Erhebung der Ehe zum Sakrament die Überzeugung hervor, dass die lebenslängliche Verbindung eines Mannes und einer Frau unter allen Umständen die einzige nicht ungesetzliche Form des Geschlechtsverkehrs sei, und diese Überzeugung hat die Kraft einer intuitiven sittlichen Überzeugung erlangt.[1199]
Die in solchen Anschauungen wurzelnde Ehe ward der Boden für die christliche Familie, die Schöpfung eines liebenswürdigen und bewundernswerten, aber, wie man einräumen muss, aus der natürlichen Ordnung der menschlichen Gesellschaft mit verzückter Überschwänglichkeit sich flüchtenden Idealismus. Die Verhimmelung der Ehe, die das Christentum als Gegensatz der auf Sinnlichkeit gegründeten Familie des Altertums erfand, ist im Grunde ebenso widernatürlich wie diese. Die Sklavenkette, welche im Morgenlande das Weib fesselt, sie ward in der christlichen Welt zum Joch, in das Mann und Weib gleich grausam eingeschlossen wurden. Die überschwängliche Anschauung vom Familienleben, welche die christliche Welt bei ihrer Schöpfung beherrschte, fand in den zwei oben berührten Gegensätzen Ausdruck: in der Ehelosigkeit und in der Unlösbarkeit der Ehe. Es waren dies aber zwei Satzungen, welche die sittliche Ordnung wieder aus ihrem natürlichen Gefüge rissen. Das Klosterwesen entspross jener, der zum sittlichen System erhobene Ehebruch dieser. Es sind gegen die Klöster die schwersten sittlichen Anklagen geschleudert worden, und wenn auch die moderne geschichtliche Forschung vielen derselben den Boden entzogen hat und sie als Übertreibungen erscheinen lässt, so bleibt doch genug davon noch übrig. Immerhin, bemerkt sehr treffend Lecky, bleibt es sehr zweifelhaft, ob die Klöster, selbst in ihrer schlimmsten Zeit, nicht mehr Elend verhütet als gestiftet haben, und in den barmherzigen Schwestern haben die religiösen Orden einen der vollkommensten Typen der Weiblichkeit geschaffen.[1200] Nach der andern Seite hin war das Minnewesen des Mittelalters eine Auflehnung der Natur gegen einen unnatürlichen Zwang, das Rütteln an der Fessel einer schrecklichen Einrichtung, ein Protest der natürlichen menschlichen Freiheit, der später freilich rohere und cynischere Formen annahm und in einer Weise überwucherte, dass er zu einem sittlichen und gesellschaftlichen Fluch zu werden drohte.[1201] Im Kreise der höfischen Kultur, welche in Frankreich[S. 561] und Deutschland ihren Sitz hatte,[1202] war eine dem heidnischen Altertume fremde Blume aufgeblüht: die Empfindung der Liebe, der den Geschlechtstrieb veredelnden, über ihn hinaus begehrenden Liebe, zu deren Entwicklung die vom Christentum gepredigte Gottesliebe mit ihrer schwärmerischen Überschwänglichkeit nicht wenig beigetragen haben mag. Zu keiner Zeit der Welt hat man wohl so viel über das Wesen der Liebe gegrübelt, als in jener der Minnesänger. Die „Frau Venus“ ist allgewaltig, und jedermann huldigt ihr als seiner Herrin, der Laie und der Geistliche, der Kaiser und der Papst wie der einfachste Ritter und Dichter. Sie alle sind der Liebe gegenüber wehrlos. Ursache und Geheimnis dieser Herrschaft war, dass die Frau mit der vollen, edlen Weiblichkeit ganz und voll in das Leben eintrat, dass sie sich des Reiches bemächtigte, welches ihr rechtmässiges Eigentum war, der Gemütswelt, aber ganz und gar, und einzig nur dieser.[1203] In der Erziehungsweise jener rauhen Zeit fand zwar die sorgende und waltende Hausfrau ihre volle Berechtigung, nicht minder aber die gesellige Dame die Bildung des Geistes und Gemütes. An Kenntnissen war das Weib im elften und zwölften Jahrhundert dem Ritter zumeist überlegen. Die Grundlage aller höfischen Sitte war aber echte, wahre Weiblichkeit, Gottesfurcht, Tugend, Schamhaftigkeit und Bescheidenheit oder die „Masse“.[1204] In den Strahlen dieser Sonne keimte jener zuerst übersinnliche Frauendienst, welcher dem Ritter Minne zu guten edlen Frauen vorschrieb und ihm gestattete, auch zu einer hoch über ihm stehenden Dame das Auge zu erheben. Nach der Weise der Zeit ward das Verhältnis zwischen dem Ritter und seiner Dame etwa als das eines Vasallen gegenüber seinem Lehnsherrn aufgefasst und trug durchaus den[S. 562] Stempel der Idealität und Reinheit — aber nicht lange. Rasch genug trat der Umschwung ein und war im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts schon grösstenteils vollendet. Sehr würde man irren, wollte man annehmen, dass diese von den Dichtern des Mittelalters besungenen zärtlichen Neigungen lediglich platonischer Natur geblieben seien. Uneigennützige Schwärmer waren denn doch nur selten. An der sehr natürlichen Forderung von Gegenliebe musste aber die Reinheit des Verhältnisses notwendig scheitern. Und wenn je eine Zeit allein den realen Genuss im Auge gehabt hat, so ist es die damalige; mit blossem Anbeten und Schmachten ist weder den Männern, noch den Frauen gedient.[1205] Nur zu oft fand der treue Minner Erhörung und nicht immer bedurfte es dazu langer Prüfungszeit. Sicher, dass nicht alle hohe Damen ihren liebenden Dichter schmachten und verschmachten liessen und den Sehnsüchtigen, nach der Liebe Hungernden mit freundlichen Blicken, guten Worten, einem Handkuss oder, wenn es hoch kam, mit einem Kuss abspeisten. So trug der Frauendienst und mit ihm das Rittertum die Ursache der Entartung in sich selber. Diese Ursache war der Zwiespalt mit der Ehe,[1206] von welcher die oben erwähnten strengen Begriffe galten. Nun musste aber der Ritter eine Frau minnen, gleichviel ob sie verheiratet war oder nicht, gleichviel ob er selbst eine Gattin hatte oder nicht. Letzterer durfte er indes seine Ritterdienste nicht widmen; es musste eine andere sein. Dabei ward der Charakter des Verführers in der christlichen Volkslitteratur in einer Weise verherrlicht und idealisiert, wozu sich keine Parallele im Altertum finden lässt. Indem nun das Rittertum die Minne als Zeichen auf die Fahne erhoben, unbekümmert um das bürgerliche Sittengesetz, geriet es mit der allgemein gültigen Moral in Streit. Hatte sich die alte Minne so oft in der Übersinnlichkeit, in idealer Schwärmerei gefallen, so stürzte sie aus dieser Ätherhöhe in die krasseste Begierde hinab. Guibert von Nogent kennzeichnet seine Zeitgenossen folgender[S. 563]massen: „So waren überhaupt allgemein die Sitten, dass wenn sie nicht der Liebe nachgingen, sie bei jeder Gelegenheit sich grausam zeigten. Wie sie nämlich nie die Gattenpflichten achteten, so konnten sie auch ihre Gemahlinnen nicht davon zurückhalten, ihr Glück bei anderen zu versuchen.“ Ja, Frauen suchten sich oft mit Gewalt Männer gefügig zu machen. Doch bedurfte es des Zwanges in den meisten Fällen nicht. Unter ihren Standesgenossinnen trafen die armen Ritter, welche auf Abenteuer auszogen, genug an, welche ihnen auf halbem Wege entgegen kamen. So schildern wenigstens die Dichter ihre Zeit. Mädchen geloben geradezu, ihre Keuschheit für einen berühmten Helden aufzubewahren, suchen dieselben in ihren Schlafkammern auf und ermuntern die Zaghaften. Und es will fast scheinen, als ob die Dichter durchaus nicht übertrieben.
Bei allen Schattenseiten dieser gesellschaftlichen Verhältnisse sind das Rittertum und der von ihm ausgebildete Frauendienst für die Geschichte der Familie dennoch von grosser Bedeutung gewesen. Dies eine Gefühl der Liebe, bemerkt Gervinus, diese Bereitwilligkeit in einem rauhen Geschlechte von Männern, von dem zarteren Geschlechte Sitte und Zucht zu lernen, milderte damals die Roheit des Lebens, warf die erste Freude in ein eintöniges Dasein. Erst das Rittertum erhob auch die Frau zu der ihr eigenen, ihrer Wesenheit entsprechenden Stellung, welche sie heute noch in der Familie einnimmt, wonach sie die eine Hälfte des menschlichen Lebens, das Gemüt und die Häuslichkeit, auf sich nimmt, pflegt und vertritt. Es ist die gesellschaftliche Hebung der Frau um so bedeutsamer, als sie dieselbe trotz ihrer rechtlichen Stellung erlangte, wonach das Weib von altersher unmündig und des Schutzes bedürftig war. Noch weniger war es das ältere Christentum, welches ihre Eigenart anerkannte, denn die priesterliche Beschränktheit jener früheren Zeiten betrachtete das Weib durch Evas Verführung für niedriger stehend, als den Mann. Unter dem vereinigten Einflusse gewisser früheren jüdischen Schriftwerke und der asketischen Anschauung blieb man bei der Behauptung, dass die Stellung der Frau von Haus aus eine untergeordnete sei. Auch jetzt trat sie durchaus nicht aus ihrer recht[S. 564]lichen Unfreiheit und Bevormundung heraus; sie blieb in dieser Beziehung was sie war und wie sie es war. Ja, in der ganzen feudalen Gesetzgebung erhielten die Frauen eine viel tiefere Stellung als im heidnischen Kaiserreiche. Nächst den persönlichen Beschränkungen, welche notwendig aus den Lehren über die Ehescheidung und die Unterordnung des schwächeren Geschlechts entstanden, wehrten viele strenge Verordnungen den Frauen den Besitz eines irgend beträchtlichen Vermögens und liessen ihnen beinahe bloss die Wahl zwischen Ehe und Kloster. Das Gesetz betonte beständig die völlig untergeordnete Beschaffenheit des weiblichen Geschlechts, und überall, wo das kanonische Recht die Grundlage der Gesetzgebung war, herrschten Erbfolgegesetze, welche die Interessen der Frauen und Töchter opferten, sowie eine nach diesen Gesetzen gestaltete öffentliche Meinung.[1207] Der Grundsatz: Mulier taceat in ecclesia galt auch im Rechtsleben. Nur so viel war gegenüber den Zuständen im Altertume gewonnen, dass die Familie nicht mehr bloss auf der Agnation sich aufbaute, sondern auch die Verwandtschaft der weiblichen Linie, die Kognation, immer mehr in ihre Rechte trat.
Mittlerweile, während im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert die ritterliche Gesellschaft, welcher die Familie nicht genügte, in immer tieferen Verfall geriet, keimte und wuchs schon neues Leben aus anderer Quelle, eine neue Gesittung. Es erblühten die Städte, es erstarkte die bürgerliche Kraft. Sozial hatte aber diese neue Kultur die Erziehung auch der bürgerlichen Frau zur vollen und gleichberechtigten Bildung des Geistes wie des Gemütes zur Folge, so dass fortan auch der bescheidene Herd die volle Befriedigung bot, die bis dahin nur die höfische Halle gewährt hatte.[1208] Erst in dieser späten Zeit wuchs der Begriff der Familie zu dem heran, was sie uns heute noch ist: zu einer auf Monogamie und Blutsverwandtschaft ruhenden Verbindung von Gatten, Eltern und Kindern, vom Bande der Liebe umschlungen und getragen von Autorität und Pietät. In der so gearteten[S. 565] Familie wurde auch der Ehebegriff die natürliche, sittliche, rechtliche und religiöse Verbindung von Mann und Weib zur wechselseitigen Ergänzung, zur liebevollen Ausgleichung der Gegensätze des Körpers, Geistes und Gemütes, zur Darstellung eines vollen, ganzen, harmonisch gestalteten Menschenlebens. Freilich erlangten diese Sätze zumeist bloss theoretische Geltung; verwirklicht wurden sie niemals und nirgends allgemein. Hat doch das Christentum der Familie eine bevorzugte Familienlosigkeit entgegengesetzt und sie selbst, durch die Unlösbarkeit der Ehe, der sittlichen Freiheit beraubt, welche die Wurzel jeder Moral, die Grundlage jeder Sittlichkeit ist. Einen bedeutsamen Schritt in dieser Richtung brachte erst die Reformation, indem sie die Ehe ihres sakramentalen Charakters entkleidete und die Wohlthat gewährte, ein unleidlich und unsittlich gewordenes Verhältnis, das weder innerlich, noch äusserlich mehr eine wahrhafte Ehe ist, lösen zu können. Heute nennt man das eine demokratische Errungenschaft.
Am meisten näherte sich noch dem erreichbaren Ideal des Familienlebens, wie es dem natürlichen Rechte entstammt und auf die sittliche Freiheit sich gründet, die jüdische Familie des späten Mittelalters und der vorencyklopädischen Epoche. Die Juden Europas führten und führen vielfach noch heute im ganzen ein etwas zurückgezogenes und abgeschlossenes Familienleben. Freilich waren auch Nachteile damit verbunden, aber die Vorteile glichen sie andererseits wieder aus. Ihr Familienleben, gerade weil es abgeschlossen war, hat an Wärme und Würde gewonnen. In wenigen Familien ist so viel Beschaulichkeit, elterliche und geschwisterliche Zuneigung, Achtung vor dem Alter und Sorge für die Kinder, wie in jüdischen Familien. Die Frauen auch sind veredelt, nicht erniedrigt worden dadurch, dass ihr Wirkungskreis auf sie selbst und ihre Familie beschränkt blieb. Das Christentum strebte zwar das gleiche Ideal an, ja es war dem Judentume zu demselben Weg weisend, aber es erreichte dieses Ideal nicht, weil es sich nicht entschliessen konnte, das natürliche Recht anzuerkennen und die sittliche Freiheit walten zu lassen. Im Widerspruch mit jenem, feindlich dieser, vollbrachte es jene Zersetzung, der Familie, welche die Gesellschaft zerwühlt.
Zersetzung der Familie? Ist dies auch das richtige Wort? Handelt es sich nicht bloss um eine neue Wandlung, eine Umgestaltung, wie deren die Entwicklungsgeschichte der Familie schon so manche gebracht? Ein kurzer Rückblick auf die gewonnenen Forschungsergebnisse wird diese Frage am besten beantworten.
[1190] Lecky. A. a. O. S. 261–266.
[1191] Johannes Jansen erläutert dies dahin, dass allerdings solche, welche schon Frauen hatten, zuweilen zum Priestertume angenommen wurden, dass aber weder Bischöfe, noch Priester während ihres Priestertums Frauen nahmen. (Joh. Jansen. Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. Freiburg 1881. Bd. III. S. 184.)
[1192] Lecky. A. a. O. S. 268–278.
[1193] Hans Prutz. Staatengeschichte des Abendlandes im Mittelalter. Berlin 1885. Bd. I. S. 354.
[1194] Lecky. A. a. O. S. 272–273.
[1195] Matthäus 19, 8. 9.
[1196] Deshalb bezeichnet das kanonische Recht Ehe und Verlöbnis mit einem und demselben Worte: Sponsalia, und lässt das Verlöbnis (Sponsalia de futuro) schon durch die fleischliche Verbindung der Verlobten von selbst zur Ehe (Sponsalia de praesenti) werden.
[1197] Ephes. 5, 32.
[1198] Vielweiberei herrschte an den Höfen der Merowinger, welche gleichzeitig so viele Frauen hatten als ihnen beliebte, und Karl der Grosse hielt einen Harem trotz einem türkischen Sultan. Er lebte in einer Doppelehe und hielt sich viele Kebsweiber. In noch späterer Zeit erneuerte König Friedrich II. zu Palermo die halborientalische Haremswirtschaft, die schon in der normannischen Zeit dort üblich gewesen war (H. Prutz. A. a. O. S. 607). Der oft angeführte Fall von der Doppelehe des Grafen von Gleichen hat nach des Freiherrn von Tettau Untersuchungen wenig geschichtlichen Hintergrund, und ebenso wenig Gewicht ist wohl auf die Geschichte des Hennegauer Ritters Gileon von Prasignyes mit seinen zwei Frauen zu legen. Geschichtlich dagegen ist die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, welcher auch die Vielweiberei öffentlich verteidigen liess. Philipps Hofprediger, Dionysius Melander, welcher selbst drei lebende Frauen hatte, vollzog die Trauung mit der zweiten Frau. Dass viele Reformatoren die Vielweiberei nicht missbilligten, wird wohl kaum abzustreiten sein. Die Wiedertäufer predigten sie offen in Münster 1531. Wer ein rechter Christ sein wolle, verkündigten die Prädikanten, müsse mehrere Weiber nehmen. Jeder nahm der Frauen so viel er wollte; Rothmann vier, Jan van Leiden sechzehn Frauen. In einer Visitationsordnung der Grafschaft Mansfeld vom Jahre 1554 wird als allgemein berichtet: mehr dann ein Mann oder Weib zugleich zur Ehe haben. Und kurz nach dem Westfälischen Frieden ward Bigamie in dem sehr entvölkerten Deutschland nicht bloss gesetzlich erlaubt, sondern sogar von der Obrigkeit gewünscht. Der fränkische Kreistag zu Nürnberg fasste am 14. Februar 1650 folgenden Beschluss, der wörtlich nach den Akten lautet: „Es soll hinfüro jedem Mannsspersonen 2 Weyber zu heyrathen erlaubt sein; dabei doch alle und Jede Mannssperson ernstlich erinnert, auch auf den Kanzeln öfters ermanth werden sollen, Sich dergestalten hierinnen zu verhalten und vorzusehen, dass er sich völlig und gebührender Diskretion und versorg befleisse, damit Er als ein ehrlicher Mann, der ihm zwei Weyber zu nemmen getraut, beede Ehefrauen nicht allein nothwendig versorge, sondern auch under Ihnen allen Unwillen verhüette.“ Wie lange dieser Beschluss gesetzliche Kraft hatte, ist leider nicht mehr zu ermitteln. In jüngster Zeit haben bekanntlich die Mormonen ihre gesellschaftlichen Zustände thatsächlich auf Vielweiberei gegründet.
[1199] Lecky. A. a. O. S. 290.
[1200] Lecky. A. a. O. S. 309.
[1201] W. H. Riehl. Die Familie. S. 53.
[1202] Der normannische Adel Englands war von Frankreich abhängig; alle anderen Länder waren ebenfalls teils abhängig von der in Frankreich heimischen Kultur, teils, wie der skandinavische Norden und vollends der Osten, ohne nähere Berührung mit derselben, im Besitze einer eigentümlichen, aus andern Quellen stammenden oder ganz wesentlich modifizierten Bildung.
[1203] Jakob Falke. Die ritterliche Gesellschaft im Zeitalter des Frauenkultus. Berlin o. J. S. 49.
[1204] A. a. O. S. 58.
[1205] Alwin Schultz. Das höfische Leben zur Zeit der Minnesänger. Leipzig 1879–80. Bd. I. S. 451.
[1206] Falke. A. a. O. S. 74.
[1207] Lecky. A. a. O. S. 284.
[1208] Falke. A. a. O. S. 172.
[S. 568] Habe geht auf deren Kinder, als deren nächste Blutsverwandte, über, endlich auch jene des Mannes auf die Schwesterkinder.
n den Urzeiten unseres Geschlechtes, als dieses allmählich tierischen Zuständen entwuchs, lebte der Mensch in kleinen Horden, eine der andern feindlich gesinnt, mühsam den Kampf ums Dasein kämpfend. Ähnlich dem Leittiere der Herde, mag der Stärkste der Hordenführer gewesen sein. Innerhalb dieser kleinen Kreise herrschte ungebundener Geschlechtsverkehr, eingeschränkt bloss durch natürliche Momente, wie sie auch in der Tierwelt sich geltend machen. Keine Ehe, keine Elternschaft, keine Kindschaft, nichts als Hordenglieder, blutsverwandte Geschlechtsgenossen. Allmählich tauchte indes in dieser Geschlechtsgenossenschaft ein Etwas auf, aus dem lange später die Familie hervorgehen sollte, und allem Anschein nach war dies das Werk, das Verdienst des Weibes. Bei allen Säugern empfindet die Mutter eine viel lebhaftere und frühere Zuneigung zu den Jungen, als deren Erzeuger. In der Geschlechtsgenossenschaft hatten die Kinder keine Väter, wohl aber Mütter, welche sie an ihrem Busen nährten, meist mehrere Jahre hindurch. Das instinktmässige Gefühl der Mutterliebe bildete sich dabei immer stärker aus, immer später trennte sich die Mutter vom Kinde. Es entstand die Muttergruppe, welcher als dauernder Bestandteil der Mann noch fremd blieb. Nach und nach tritt die auf die Gleichheit des Blutes sich gründende Mutterfolge hinzu. Der Mutter beweglicheJe mehr der Mensch jedoch sich geistig und moralisch entfaltete, desto mehr enttierten sich auch seine geschlechtlichen Ansprüche. Der wilde Mann befriedigte sie zunächst nach dem Gesetze des Rechtes des Stärkeren: innerhalb und ausserhalb der Horde. Er raubte Weiber fremder, feindlicher Geschlechtsgenossenschaften und fügte sie dem eigenen Stamme als sein persönliches Besitztum ein. Noch galten sie ihm nicht höher als die Habe an leblosen Dingen, aber mit der Vermehrung der letzteren erwuchs auch die Liebe zum Besitze selbst. Viel Weiber zu besitzen ward sein Ehrgeiz, sein Stolz und zugleich sein Reichtum. Mildere Sittung, steigende Kultur setzten endlich die friedliche Verständigung mit dem Feinde an Stelle der rohen Gewalt. Der Weiberkauf verdrängte den Frauenraub, der zum blossen Sinnbild herabsank. Noch gab es keine Regel bei diesen Beweibungen; jede Geschlechtsgenossenschaft handelte nach ihrer Weise, die eine exogam, die andere endogam; aber von dem Augenblicke, als eine bestimmte Vereinbarung über die Beweibung erfolgte, war auch der Begriff der Ehe geboren, war dieselbe nun, wie zumeist, polygamisch, manchmal polyandrisch oder, was selten, monogamisch. Innerhalb der so geordneten Horde herrschte lange noch grosse geschlechtliche Freiheit unter den Jünglingen und Mädchen, aber das gekaufte Weib gehörte dem Manne als sein wohlerworbener Besitz, als seine „Sache“, und musste als solche geachtet werden. Zuvor unbekannt, wird Ehebruch jetzt Verletzung des Eigentums, Verbrechen. Ängstlich hütet der Herr seine weiblichen Schätze in abgesonderten Räumen, bewahrt sie vor jeglicher fremden Berührung, schaltet und waltet damit aber nach Gutdünken, und überlässt sie dem Gastfreunde oder jemandem, von dem er sich Nutzen verspricht. Obgleich unter diesen Verhältnissen das Weib längst den Erzeuger ihrer Kinder kannte, lebten diese doch lange noch in der Mutterfolge fort, bis endlich auch sie dem Eigentume ihres Vaters anheimfielen, nach dem Grundsatze: Wer das Feld besitzt, dem gehört auch die Frucht. Noch kannte diese Zeit nur Vaterrechte, keine Vaterpflichten, so wenig als Vaterliebe. In diesen[S. 569] Anschauungen erstarkte die väterliche Gewalt, es erstand die Patriarchalfamilie, richtiger die Sippe, welche den grossen Kreis aller in der Gewalt des Patriarchen befindlichen, männlichen und weiblichen Mitglieder umfasste und eine gründliche Umwälzung der Verwandtschaftsbegriffe zur Folge hatte. Die natürliche mütterliche Blutsverwandtschaft ward ersetzt durch die künstliche Vorstellung der Abstammung von einem gemeinsamen Ahnherrn, und diese neue Verwandtschaft pflanzte sich bloss in der männlichen Linie fort. Dies geschah indes nur bei solchen Völkern, welche schon eine vergleichsweise hohe Gesittungsstufe erklommen und denen die Beweibung zu einer ernsten Ehe geworden, geeignet, als Boden scharf umschriebener Rechtsverhältnisse zu dienen. Diese Ehe war nicht mehr die freie natürliche Handlung der mutterrechtlichen Zeit, sondern hatte den gesellschaftlichen Zweck, rechtmässige Erben zu schaffen und wurde damit Gegenstand wirtschaftlicher Berechnung. Wesentlich solchen wirtschaftlichen Gründen entsprang die Einehe, und mit ihr war der erste grosse Akt der seit dem Aufkommen des Patriarchats sich vollziehenden Knechtung des Weibes vollendet; es sank von seiner Höhe herab, und es gab von nun an nur mehr herrschende und beherrschte Klassen.
Die patriarchalen Sippen waren nichts anderes als Zerbröckelungen der durch Vermehrung zum kopfreichen Stamme angeschwollenen, ursprünglichen, blutsverwandten Horde oder Geschlechtsgenossenschaft. Das Grundeigentum nahm denselben Gang. Der einstens dem ganzen Stamme gehörige Boden ward zerstückelt, und die Sippengenossenschaft trat an Stelle der ethnischen Gruppe, des Stammes. Solche kleinere Gesellschaften, deren Blutsverwandtschaft nicht mehr unbedingt, sondern bloss mehr oder weniger rein war, lebten als Clane oder Sippen oft unter gemeinsamem Dache, verbunden durch die gleichen Interessen. Unter dem Einflusse des Ahnendienstes erstarkte gar mächtig das Sippengefühl, so dass es endlich die allgemeineren Interessen des Stammes oder des Volkes überwog. Für den einzelnen ward in dieser Entwicklungsperiode die Sippe der eigentliche Hort, der ihm Schutz und Zuflucht gewährte; ihrer Erhaltung ward alles daher unter[S. 570]geordnet und der Familienegoismus zur höchsten Tugend erhoben. Wohl konnte dem nicht anders sein in einer Zeit, als die grosse Gemeinschaft, Volk, Staat, sich um den einzelnen kaum bekümmerte, als jeder aufwuchs und lebte, wie er eben konnte. In dieser patriarchalischen Sippe gelangte auch die Einehe zu immer grösserer Geltung. Monogamie war freilich überall und stets das Los der Armut gewesen; nur Reiche vermochten sich mehrere Weiber zu halten; es gereichte der Einehe aber zur Bevorzugung, dass sie strengere Gestaltung der auf Agnation beruhenden Familie begünstigte. Nicht ohne schwere Überwindung bequemte man sich dazu, und lange blieb die Einweiberei für den Mann nichts als eine gesetzliche Fiktion, denn fast überall waren ihm neben der einen Ehefrau Nebenweiber, Kebsinnen, oft Sklavinnen gestattet. Während aller dieser Phasen einer niedrigen Gesittung ist den Weibern Eifersucht verwehrt.[1209] Erst als die Sippe durch Anschwellen der Kopfzahl wiederum zur Zersplitterung in Sonderfamilien sich genötigt sah, ward die Einehe auch immer mehr zur Einweiberei, ohne indes die polygynischen Gelüste bis auf unsere Tage völlig unterdrücken zu können, so dass man zur Annahme berechtigt ist, die wirkliche, strenge Einehe widerstrebe noch jetzt der Mehrzahl der Menschheit, besonders ihrer männlichen Hälfte.
In der Altfamilie, welche gleich der neueren auf Eltern und Kinder sich beschränkte, aber aus der Sippenzeit noch die väterliche Gewalt über Weib und Kinder bewahrte, gedieh wohl auch die Empfindung der Liebe, deren Anteil an der Bildungsgeschichte der Familie so schwer zu bestimmen ist, deren erste Regungen sich fast jeder geschichtlichen Beobachtung entziehen. Nichts ist indes merkwürdiger als die Betrachtung der Veränderungen, welche Theorie und Praxis der Liebe im Laufe der Zeiten erlitten haben. Wenn wir die dichterische Darstellung dieser Leidenschaft im Altertum, im Mittelalter und in der neueren Zeit bis herab auf die neueste miteinander vergleichen, so eröffnet sich uns eine auf- und niedersteigende Stufenleiter der ungleichartigsten Bilder, die sich mit der verschiedenen Auffassung des Gegensatzes von Mann und Weib[S. 571] keineswegs deckt. Die Kulturgeschichte lehrt nämlich, dass nicht allein die geistige, sondern auch die sinnliche Liebe zu verschiedenen Zeiten eine andere ist, so dass man sie nach vollendetem Übertritt aus der einen Phase in die andere kaum mehr als die nämliche Leidenschaft zu erkennen vermag. Nur so viel lässt sich sagen: von ihren Merkmalen herrscht bald das eine, bald das andere im allgemeinen vor, keines aber fehlt irgend einer Zeit gänzlich. Ja den Einzelwesen fehlen sie nie, so dass der sinnliche Mensch je nach dem Grade seiner Sinnlichkeit die sinnliche Seite, der geistige je nach dem Masse seiner geistigen Kraft die geistige Seite der Liebe entfaltet.[1210] Der Mensch auf der Stufe der Altfamilie war nun schon längst nicht mehr Sinnenmensch allein. Seine Gesittung war ja Hand in Hand mit seiner geistigen Entwicklung gegangen. Es begreift sich, dass mit der Vergeistigung der Liebe auch das eheliche Band immer enger, die Monogamie immer strenger wurde. Auch hängen die Wandlungen der Liebe mit dem Wechsel der religiösen Anschauungen zusammen, wenn sie auch von diesen nicht geradezu bedingt werden. Das Christentum vermochte niemals die Dauerlosigkeit, die Flüchtigkeit der Liebe als einen ihr innewohnenden Grundzug anzuerkennen. Die Einsicht war noch nicht gekommen, dass der Verliebte nur im Dienste der Natur steht, die sich um anderes kümmert als um unser Wohl und Wehe. Die Erhaltung der Gattung bezweckend, fördert sie die Individuen nur als Mittel zu diesem Zweck und wirft sie beiseite, sobald dieser Dienst geleistet ist. Wie sie im Frühling zahllose Blüten treibt, um die reichste Gelegenheit, die günstigste Wahl zur Fortpflanzung zu schaffen, so führt sie auch, mittelst der geschlechtlichen Wechselanziehung, Menschen zu Menschen, und zwar um so unwiderstehlicher, je besser ihren Zwecken damit gedient ist, ohne die mindeste Rücksicht darauf, wie die Gepaarten nachher dabei zurechtkommen. Ethische Rücksichten kommen dabei so wenig in Betracht, dass die für den gedachten Zweck der Natur mustergültigen Verbindungen den Verbundenen[S. 572] meist teuer zu stehen kommen. Einen schnell vorübergehenden Lusttaumel müssen sie mit der Unlust ihres ganzen Lebensrestes bezahlen, weil durch diese Verbindungen für das kommende Geschlecht auf Kosten des gegenwärtigen gesorgt wird, wie das spanische Sprichwort sagt: Quien se casa por amores ha de vivir con dolores (Wer aus Liebe heiratet, hat unter Schmerzen zu leben). Wenn nun eine gewisse Auffassung für die Liebe „die Ewigkeit des Gefühls“ beansprucht, sagt Julius Duboc, so muss ihr auch das ganze Leben des Individuums und sein Inhalt, in welchen eins das andere ablöst und alles dem Gesetze der Vergänglichkeit unterworfen ist, entadelt erscheinen. Dies entspricht der christlichen Weltanschauung, welche stets die Ewigkeit als ein Reales im Hintergrunde ihrer Gedanken- und Gefühlswelt hat, und es war auch nur folgerichtig, dass die Kirche die Familie auf die Unauflösbarkeit und Heiligkeit der Ehe gründete. Nicht aber entsprach dies einer menschlichen Denk- und Empfindungsweise, welche in der Begrenzung der Erscheinungswelt zu leben, zu denken und zu fühlen gelernt hat.
Obzwar das Christentum insbesondere durch die Marienverehrung unleugbar viel dazu beigetragen hat, das Ideal der Frauen zu erheben und zu läutern, die Sitten der Männer zu mildern, so hat es doch ebenso unverkennbar die Ehe zu einem wahren Joche gestaltet, dem die wachsende Gesittung in der einen oder anderen Weise, zumeist in Widerspruch mit dem herrschenden Sittengesetz, zu entrinnen sich bemühte. Nicht bloss die Prostitution gelangte im christlichen Mittelalter zu gewaltiger Ausdehnung, es fehlte auch sonst an ehebrecherischen Verhältnissen nicht, für welche den Mann wenigstens stets nur geringe Ahndung traf. Die Reformation brachte endlich die Ehescheidung mit der Freiheit der Wiedervermählung, und die französische Revolution, welche die Vorrechte abschaffen wollte, musste natürlich auch das kanonische des Ehesakraments beseitigen. Längst war ja der Staat entstanden und unter dem Schutze der von ihm erlassenen Gesetze heischten die Bürger eine grössere Summe persönlicher Freiheit. In dem Masse nun, als die Gesetze menschlicher wurden, liessen sie auch die eigenen Rechte der Familie als einer sozialen und[S. 573] sittlichen Macht zurücktreten zu Gunsten der egoistischen Freiheit des Individuums. Erst in neuerer Zeit indes brach sich mehr und mehr die Auffassung Bahn, dass die bürgerliche Gültigkeit der Ehe von dem religiösen Akt überhaupt unabhängig sein müsse. Schon in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts führte in Holland die religiöse Duldsamkeit zu einer gesetzlichen Anerkennung der bürgerlichen Eheschliessung, und zugleich wurde in England, allerdings nur vorübergehend, die Zivilehe eingeführt. Dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz entsprechend, machte sie die französische Revolution vollends zur Bedingung, und von Frankreich aus ging das System in die meisten übrigen Länder über. Die der Zivilehe zu Grunde liegende Auffassung entspricht dem unser heutiges öffentliches Recht beherrschenden Grundsatz der Religions- und Gewissensfreiheit.
Das Mass der Freiheit in der Ehe war aber von jeher verschieden bei den verschiedenen Völkern. Danach gestaltete sich auch das Ehe- und Familienleben selbst, dessen Darstellung ausserhalb des Rahmens dieses Buches liegt. Volkstum und hergebrachte Sitte nahmen darauf den grössten Einfluss. Deshalb sind z. B. Ehe und Familie des Briten anders als jene des Spaniers, die des Deutschen anders als die des Italieners oder Franzosen. So wird, um bloss ein Beispiel zu nennen, in Frankreich die Ehe gesetzlich als eine Verbindung zweier Personen bestimmt, welche einander Treue, Beistand und Hilfe durch das ganze Leben schulden; in Deutschland wird dagegen das Wesen der Ehe im geschlechtlichen Akt selbst gesehen.[1211] Massgebend für alle bleibt aber jeweils die Stellung der Frau. Im Vereine mit den Rechtsüberlieferungen Altroms, mit manchen barbarischen und feudalen Anschauungen sind die christlichen Ideen bei einem hinkenden Kompromiss angekommen, wonach das Weib weder Sklavin, noch Dienerin mehr ist, wohl aber vielfach in Unmündigkeit[1212] verharrt. Während[S. 574] jedoch in England John Stuart Mill nicht mit Unrecht von der „Hörigkeit“ der Frau sprechen konnte, erfreut diese sich jenseits des Ozeans schon der weitgehendsten Unabhängigkeit. In den Vereinigten Staaten sind die Frauen Königinnen, baut sich die Familie auf ausgedehnter Freiheit aller ihrer Mitglieder auf. Aber auch in Europa ist der Zug der Zeit unstreitig auf Lockerung der Ehefesseln und der Familienbande gerichtet, und zwar moralisch wie gesetzlich. Noch besteht die Familie und ihre Habe vererbt sich im Wege der männlichen und weiblichen Verwandtschaft; noch ist die Familie in vieler Beziehung allmächtig, aber diese Allmacht ruht mehr in ihrem moralischen Ansehen, als in der gesetzlichen Gewalt ihres Oberhauptes; vielmehr schrumpft die väterliche Gewalt über die Kinder immer mehr ein und steht im umgekehrten Verhältnis zu den immer wachsenden Verpflichtungen, welche der grosse Gesamtorganismus, der Staat, dem Einzelnen auferlegt. Familiensinn und Familiengeist sind in entschiedener Abnahme begriffen und mit der Verflüchtigung des Familienbewusstseins im Volke geht die steigende Leichtigkeit der Schliessung und Lösung der Ehe Hand in Hand.[1213] Zwar giebt es keine Statistik der Liebesbriefe und Küsse, und keine der Verlobungen, wohl aber eine Statistik der Ehen und Ehescheidungen, und diese beweist unwiderlegbar, dass in vielen Staaten der höchsten Gesittung die Ehen zurückgehen, die Scheidungen zunehmen und die Familien durch geringere Zahl der Geburten immer kleiner werden.
So wird denn häufig die Frage erörtert, ob das herrschende Familienverhältnis an keiner Krankheit sieche? Was man jedoch für Krankheit ausgiebt, ist eine Bedingung der Kulturentwicklung selbst. Da will der eine als einziges Motiv der Ehe die Liebe gelten lassen und vergisst völlig die Wandelbarkeit, wie die Flüchtigkeit dieses Gefühls. Noch in der Jugendzeit unserer Väter und Grossväter muss den von der Liebe Ergriffenen, Umnebelten,[S. 575] so recht eigentlich Hören und Sehen vergangen sein. Die Liebe ward nicht etwa nur als eines der Ideale des Lebens, sondern geradezu als das Lebensideal schlechthin betrachtet. Nach dieser Zeit sehen wir aber sodann eine Übergangsperiode die moderne Welt zu jener realistischen Anschauung von der Liebe hinüberleiten, wie sie nunmehr Leben und Dichtung mit geringfügigen Ausnahmen gleichmässig beherrscht. Wie lang oder kurz auch in dieser nüchternen Auffassung die „drei schönen Frühlingstage Liebe, Rausch und Jugend“ im Leben des einzelnen sind, ist von individuellen Verhältnissen abhängig, und hierbei sind nicht allein Wesen und Beschaffenheit des Individuums, seine vitale Energie, seine Kraft, Frische und Gesundheit, sondern auch die äusseren Lebensumstände desselben von wesentlicher Bedeutung. Flieht die Liebe den Luxus der Paläste und alles schwelgerische Wesen, so sitzt sie doch auch nicht gern vor leeren Schüsseln; wo Schmalhans Küchenmeister ist und die Not zum Fenster hereinschaut, da wird ihr unheimlich, sie macht sich davon und sucht sich einen trauteren Aufenthalt. Die Wissenschaft untersuchte bekanntlich die Beziehungen von Heiraten und Getreidepreisen und fand ein auffallend regelmässiges Verhältnis. Die höchsten Weizen- und Roggenpreise fielen mit der geringfügigsten Summe von Trauungen zusammen und die meisten Trauungen mit den niedrigsten Preisen. Sehr erklärlich, weil um so weniger Junggesellen sich entschliessen, die Sorgen eines jungen Hausstandes sich aufzubürden, je kostspieliger das Leben wird. Haben wir doch gesehen wie eng verknüpft die Geschichte der Familie seit Urzeiten mit wirtschaftlichen Fragen gewesen. Ein anderer jammert wieder, „dass die Ehe, ursprünglich als einzig statthafte Form der Liebe zwischen Mann und Weib gedacht“ — was nebenbei bemerkt das schnurgerade Gegenteil der Wahrheit und ihrer geschichtlichen Entwicklung ist — „ihren Inhalt vollständig verloren habe und zur grössten aller Lügen der Gesellschaft geworden sei, dass man sich gewöhnlich heirate, ohne nach Neigung zu fragen, dass Jünglinge und Mädchen... förmlich dazu erzogen werden, sich die Liebe von der Ehe durchaus gesondert vorzustellen, ja sogar jene und[S. 576] diese in der Ehe als gegensätzlich zu empfinden.“[1214] Stellten aber nicht schon die provençalischen Liebeshöfe geradezu den Satz auf, dass sich die Liebe mit dem Ehestande nicht vertrage? „Die Konvenienzheirat, von der Gesellschaft für höchst sittlich gehalten, sei, sagt man, sittenloser als das Konkubinat.“[1215] Ich könnte lange fortfahren, ohne die Klagen über das Elend der modernen Ehe zu erschöpfen, wie die schöngeistigen Schriften sie fast auf jeder Seite und beinahe bei allen Kulturvölkern bieten. Allein konnten solche Klagen nicht zu allen Zeiten erhoben werden? Ist die „Konvenienzheirat“, die Heirat aus Schicklichkeit oder meinetwegen die Vernunftehe etwas anderes als der alte Frauenkauf in gesitteter Gestalt? War die Ehe der Römer etwas anderes als eine solche Vernunftehe? Waren es nicht seit unvordenklichen Zeiten die Ehen im ganzen grossen Bauernstande, gerade so wie sie es heute noch sind, wo die eheliche Liebe weit mehr in der Freundschaft als in der Minne wurzelt? Und hat endlich nicht zu allen Zeiten, bildlich gesprochen, nach Wachenhusens treffender Bemerkung, das weibliche Geschlecht, das die meist begehrten Genüsse dieser Welt zu vergeben hat, sie für seidene Kleider hingegeben, während sie doch ohne diese genossen werden?[1216]
Jede Gesittung hat ihre Härten, scharfen Ecken und Kanten, an denen der einzelne sich blutig und wund stösst —, auch die unserige. Wahr ist: viele Männer und Frauen kommen nicht zur[S. 577] Gründung eines eigenen Daheims, daher Vermehrung der unehelich Geborenen, Umsichgreifen der Prostitution, immer grössere Dringlichkeit der sogenannten Frauenfrage. Nicht umsonst geht jetzt jene grosse Bewegung, welche der Frau gilt, durch die Kulturwelt. Der Emanzipationsdrang des Weibes ist die sittliche Reaktion gegen die frühere moralische Erniedrigung, die dichterische Ausbeutung des Familienelends ist der Aufschrei der zerrütteten und bedrohten Gesellschaft. Aber W. H. Riehl hat in seinem geistvollen und scharfsinnigen Buche über die Familie nachgewiesen,[1217] wie die höhere Gesittung naturgemäss zu einer immer tieferen Ausprägung des Charakteristischen der beiden Geschlechter führen muss, also zu einer bestimmteren Unterscheidung von Mann und Frau, daher das Streben, den Frauen den gleichen Beruf mit den Männern zu überweisen, keine That des Fortschritts wäre. Wahr ist ferner: Nur die verheiratete Frau darf Sinne, Herz und Blut haben und Kinder in die Welt setzen, so viel sie Lust und Kraft hat. Voll Unbarmherzigkeit und Unversöhnlichkeit haftet sich dagegen das Vorurteil, das an der geschiedenen Frau keinen Anstoss nimmt, an die Jungfrau, welche Weib geworden ohne priesterlichen Segen. Und ebenso ist es mit den Folgen verbotener Liebe. Ein eheliches Kind, und wäre der Herr Ehegatte noch so unschuldig daran, tritt mit Jubel und Ehren aufgenommen in die Welt; die Frucht der Liebe aber muss zeitlebens ein Brandmal auf der Stirn tragen und ein Bastard heissen. Was kann das Kind dafür, dass seine Eltern sich liebten, auch ohne vor der Welt glücklich sein zu dürfen? Gewiss, aber nicht erst von heute, sondern seitdem es ein Vaterrecht giebt, heisst der soziale Firnis für die Geschichte: Legitimität! Und ging man früher in solcher Härte gegen das Individuum nicht noch viel weiter? Wahr ist endlich auch, dass viele Männer, insbesondere der höheren Stände, erst in einem Alter zur Gründung der Familie gelangen, in welchem ihr Gemüt an Frische, ihr Herz an Empfänglichkeit verloren hat. Aber nur Unwissenheit kann sittliche Umkehr, Wiedererweckung der uralt-heiligen Ordnung verlangen, welche dem natürlichen Rechte, der sittlichen Freiheit entstamme und das Glück begründe, die Tugend feste und den einzelnen wie der Gesamtheit den morali[S. 578]schen Frieden, die Ruhe des Gemütes, das Glück des Herzens wiedergebe. Diese gepriesene uralt-heilige Ordnung hat eben niemals und nirgends bestanden. Man kann also nicht zu ihr umkehren, sie nicht wieder erwecken, sie kann nicht wiedergeben, was man nie besessen. Schon seit Einführung der Monogamie ist die ganze Geschichte eine Reihe von Klassenkämpfen, und die Gegensätze können sich nimmer ausgleichen, nur noch verschärfen. Heute, nachdem das Vater- und Erbrecht erst wenige tausend Jahre geherrscht, steht die moderne Gesellschaft anscheinend ratlos vor ihren ureigenen Erzeugnissen.
Angesichts dieser Beobachtungen spricht man gerne, des geschichtlichen Werdeganges unkundig, von Siechtum, Versumpfung, Zersetzung, Fäulnis, Verderbtheit. Zu allen Zeiten ward indes die Lockerung althergebrachter Sitten, die Erschütterung altgewohnter Zustände als verdammenswert, verderblich und sittenlos befunden. Wenn nun Peschel betont, die Geschichte erteile uns die Lehre, dass alle hochgestiegenen Völker die eheliche und überhaupt die geschlechtliche Reinheit strenge gehütet haben, sowie dass jeder Lockerung der Sitten die Zerrüttung der Gesellschaft auf dem Fusse folgte,[1218] so zeigt die nämliche Geschichte uns auch andererseits, dass gerade in Zeiten grosser geistiger Aufklärung und grosser gesellschaftlicher Verfeinerung die Beziehungen der Geschlechter oft höchst zügellos gewesen sind.[1219] Allemal hat aber in solchen Gährungsepochen die Gesittung schliesslich obgesiegt und ist ein dauernder Kulturgewinn die Folge gewesen. Und so wird es wohl auch diesmal wieder sein! Sehr wahr bemerkt Lecky, dass von allen Gebieten der Sittenlehre die Frage über die Beziehungen der Geschlechter und die richtige Stellung der Frauen diejenigen der Zukunft sind, über deren Lösung die grösste Unsicherheit schwebt.[1220] Darf solch ein Ausblick in die Zukunft gewagt werden, so ist es vielleicht statthaft zu denken: Die Entwicklungsrichtung der Familie wird abhängen von jener des Staates.
Was die Ehe anbetrifft, so hat sich gezeigt: keine Eheform ist unbedingt notwendig. Die Menschheit hat es schon mit gar vielen versucht. Sie wird neue Formen ersinnen. Nach welcher Richtung sie sich bewegen werden, lässt sich bloss ahnen: wahrscheinlich in jener, die gesellschaftlich die erspriesslichste sein wird. Das Nützliche schwankt aber je nach der Beschaffenheit der Gesellschaft. Dort wo der Staat an der Kindererziehung unbeteiligt verharrt, wird strengere Einehe notwendig werden; die Familie wird fester gefügt sein müssen, denn nur in ihr werden die kommenden Geschlechter Schutz und Erziehung erhalten können. Wo hingegen, wie in den Ländern höchster Gesittung, die Interessen der Einzelwesen immer mehr der Solidarität zustreben, wird der Staat stufenweise immer mehr die Familie in der Sorge um die Erziehung seiner zukünftigen Bürger ersetzen müssen.[1221] Genau betrachtet hat Ähnliches sich von Alters her vollzogen. Die ursprüngliche Vaterfamilie war, so sahen wir, ein Mikrokosmus, welcher Staat, Kirche, Schule, Volkswirtschaft, Gesellschaft im Keime enthielt und die Verrichtungen dieser Lebenskreise mit vollzog. Allmählich aber lösten sich die Verrichtungen der genannten umfassenderen Lebenskreise von der Familie ab und die Familie ward auf ihre eigenartigen Verrichtungen beschränkt. Die Familie, lehrt man, ist die Grundlage von Gesellschaft und Staat. Zwiefach falsch: geschichtlich und thatsächlich! Der Staat ist keineswegs die erweiterte Familie, noch ist der Organismus der Familie schlechthin ein Vorbild des Staatsorganismus.[1222] Familienleben und Staatsleben bedingen sich nicht in ihrem Prinzip, wohl aber in ihren Wirkungen.[1223] Die wirtschaftlichen und die Erziehungsaufgaben einer Kulturgemeinschaft lassen sich ohne die Familie lösen, die heutige Familie sich nur schwer dem Geiste des Kulturfortschrittes anpassen. Ist die oben erwähnte Allmacht der Familie, selbst in ihrer jetzigen, schon abgeschwächten Gestalt, nicht in mancher Hinsicht kulturgefährlich? Kraft dieser Allmacht dürfen Eltern ihre Kinder um ein Bettelgeld der Maschinenarbeit ausliefern, deren[S. 580] Geistesanlagen und Körperkraft verschleudern, sie sogar an das Laster verkaufen. Und alles dieses dank einer volltönenden Phrase, des Schlagwortes „Elternrechte“. So wenig aber „Kinder haben“ Würde verleiht, so wenig und noch weniger giebt es Rechte auf diese Kinder. Vielmehr sind sie berechtigt, sagt treffend Ferdinand von Saar, von den Eltern zu fordern, was sie immer wollen, von ihnen, die sie in die Welt gesetzt im raschen Taumel einer sünd’gen Lust. Eine gute Erziehung ist die einzige Entschuldigung, welche die Eltern vor den Wesen haben — denen sie das gefährliche Geschenk des Lebens machten; denn sie ist das Mittel, die unbegehrte Existenz würdig oder wenigstens erträglich zu machen. So urteilt scharfsinnig eine Frau.[1224] Oft aber kümmern sich die Eltern gar nicht oder nur schlecht um der Kinder geistige und sittliche Erziehung. Ja, die Beispiele von Ausbeutung, von bewusster Verwahrlosung sind gar nicht vereinzelt. Erst als die gesellschaftliche Obervormundschaft des Staates einigermassen zur Geltung gelangte, konnten die schwersten und verderblichsten Fesseln der Kindersklaverei gelockert werden. Wo bleibt die ausnahmslose Berechtigung der Familie? Wo ihr sittlicher Wert? Man versuche also nicht, das „Heiligtum der Familie“ zu verherrlichen. Sie hat zu allen Zeiten neben ihren glänzend strahlenden Lichtseiten auch ihre sehr hässlichen Flecken gehabt, und so wie die Lobredner sie darstellen, gehört sie meist in das Bereich frommer Wünsche, auch theoretischer Anforderungen, welchen die Wirklichkeit nur selten entspricht. Wer vermöchte es zu leugnen, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle, seine Familienumgebung dem Kinde eine bedauerliche Schule sei, wie geschaffen, den Körper zu verkümmern, das Gemüt zu verderben und den Geist zu fälschen?[1225]
So wie sie dermalen ist, mit allen ihren leuchtenden Vorzügen und schweren Mängeln, ist die Familie ein geschichtlich notwendig Gewordenes, aus den jeweiligen Gesittungszuständen Hervorgegangenes, und wer macht denn, fragt sehr treffend[S. 581] Riehl, in letzter Instanz die politischen und sozialen Zustände, als das Volk selber?[1226] Was die Familie in Wechselwirkung für die Förderung der Gesittung geleistet hat, muss und soll ihr unvergessen bleiben. So will es die Unparteilichkeit der geschichtlichen Beurteilung. Auf absehbare Zeiten ist auch ihre Rolle nicht ausgespielt. Nur so viel kann man, glaube ich, voraussetzen, dass ganz im Gegensatze zu H. Spencers Annahme, in gewissen Gesellschaften wenigstens, die Bedeutung der Familie eine immer geringere werden wird. Ich kann die Ansicht des geistvollen Riehl nicht teilen, dass wir jetzt schon bei dem der Familienallmacht entgegengesetzten Extrem stünden, wo die Familie erdrückt wird von der schrankenlosen Berechtigung des Individuums.[1227] Allmählich wird aber die Gesellschaft allerdings es stets mehr als ihre Aufgabe erachten, weniger die Ehe zu regeln und mehr die neue Gesellschaft heranzubilden. Die Sorge um die Kindheit wird ihr wichtigstes Interesse sein, während die Verbindungen der beiden Geschlechter an sich in wachsender Weise als einfache Handlungen des Privatlebens gelten, sich immer freier lösbarer gestalten dürften. Erziehen, und gut erziehen, darauf wird der Staat immer mehr abzielen und dieses wichtige Geschäft an sich nehmen. Wie diese einschneidende Umgestaltung der Familie im gesellschaftlichen Organismus sich vollziehen, wo sie Halt machen werden, steht freilich dahin. Auf dem weiten Gebiete, wo Staat und Familie sich berühren, erkennt man vorerst nur unbestimmte Umrisse, schwankende Gestalten. Diese festzuhalten, ihnen Körper und Wesenheit zu verleihen, bleibt Sorge und Aufgabe der nachkommenden Enkelgeschlechter.
[1209] Ch. Letourneau. Sociologie. S. 357–358. 379–380.
[1210] Vergl. darüber: Karl Julius Duboc. Die Psychologie der Liebe. Hannover 1874.
[1211] Daher gilt in Deutschland eine vollständige und unheilbare Untüchtigkeit des Mannes, welche während der Ehe entstanden ist, als Scheidungsgrund (Schmidts Jahrbücher der in- und ausländischen gesamten Medizin. Leipzig 1888. Bd. 218. S. 269).
[1212] In den Niederlanden bewirkte die Reformation frühzeitig grössere Selbständigkeit der Frau. Siehe: S. J. Fockema Andreae. Bijdragen tol de Nederlandsche Rechtsgeschiedenis. Haarlem 1888. Bd. I. S. 87–62.
[1213] W. H. Riehl. Die Familie. S. 220.
[1214] Max Nordau. Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig 1884. S. 330.
[1215] Richard Voss. Rolla. Die Lebenstragödie einer Schauspielerin. Leipzig o. J. Bd. II. S. 65.
[1216] Hans Wachenhusen. Was die Strasse verschlingt. Berlin 1882. Bd. I. S. IV. Bekanntlich sucht jedes Zeitalter das Gute in der Vergangenheit. So singt z. B. Ariost:
[1217] W. H. Riehl. Die Familie. Stuttgart, 1873. S. [?]
[1218] Peschel. Völkerkunde. S. 220.
[1219] Lecky. Sittengeschichte Europas. Bd. II. S. 309.
[1220] A. a. O.
[1221] Letourneau. Sociologie. S. 359–360.
[1222] W. H. Riehl. Die Familie. S. 117.
[1223] A. a. O. S. 110.
[1224] Auguste Groner im Echo 1887. Bd. II. S. 360.
[1225] Letourneau. A. a. O. S. 381.
[1226] W. H. Riehl. A. a. O. S. 284.
[1227] A. a. O. S. 230.
Druck von Emil Herrmann senior in Leipzig.
Ernst Günthers Verlag in Leipzig.
Dr. Carl du Prel’s Schriften:
Entwickelungsgeschichte des Weltalls. Entwurf einer Philosophie der Astronomie. Dritte vermehrte Auflage der Schrift: Der Kampf ums Dasein am Himmel. 1882.
M. 5.—
Die Planetenbewohner und die Nebularhypothese. Neue Studien zur Entwickelungsgeschichte des Weltalls. 1880.
M. 2.—
Unter Tannen und Pinien. Wanderungen in den Alpen, Italien, Dalmatien und Montenegro. 1875.
M. 5.—
Psychologie der Lyrik. Beiträge zur Analyse der dichterischen Phantasie. 1880.
M. 2.—
Philosophie der Mystik. 1885.
M. 10.—
Monistische Seelenlehre. 1888.
M. 6.—
Das weltliche Kloster. Eine Vision. 1888.
M. 1.—
Die Mystik der alten Griechen. 1888.
M. 3.—
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1888 erstmals erschienenen und 1889 wieder aufgelegten Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich waren oder im Text mehrfach auftreten. Fremdsprachliche Begriffe und Zitate wurden nicht korrigiert.
Nicht sinnvolle Bereiche von Seitenzahlen (z.B. ‚S. 87–62‘) bei Literaturstellen wurden beibehalten, wenn die Originalzitate nicht überprüft werden konnten. Die Fußnote [1217] fehlt im Original. Autor und Name der Monographie wurde vom Bearbeiter eingefügt, zusammen mit den zugehörigen Daten für Erscheinungsort und -jahr, die durchgehend für das vorliegende Buch verwendet wurden. Die Seitenzahl konnte hingegen nicht ermittelt werden.
Der Verweis auf das ‚Sach-Register‘ im Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter hinzugefügt.