The Project Gutenberg eBook of Aus meinem Leben — Zweiter Teil

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Title: Aus meinem Leben — Zweiter Teil

Author: August Bebel

Release date: October 10, 2004 [eBook #13690]
Most recently updated: December 18, 2020

Language: German

Credits: Produced by Distributed Proofreaders

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS MEINEM LEBEN — ZWEITER TEIL ***

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Aus meinem Leben

Von August Bebel

Zweiter Teil

Stuttgart 1911

Verlag von J.H.W. Dietz Nachf. G.m.b.H.

Inhaltsverzeichnis.

Geleitwort
Die Periode des Herrn v. Schweitzer in der proletarischen Arbeiterbewegung
  Jean Baptist v. Schweitzer
  „Der Sozialdemokrat“
  Schweitzer und die Konservativen
  Schweitzer im norddeutschen Reichstag
  Schweitzers Diktatur
  Die Generalversammlung in Barmen-Elberfeld
  Die Rebellion im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein
  Der Eisenacher Kongreß
  Die Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die Auflösung
  des Verbandes der deutschen Arbeitervereine
  Nach Eisenach
  Schweitzers Ende
Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit
  Im konstituierenden norddeutschen Reichstag
  Im norddeutschen Reichstag und dem Zollparlament
  Taktische Unstimmigkeiten
Der Deutsch-Französische Krieg
  Das Vorspiel zur Kriegserklärung
  Meinungsdifferenzen
  Erklärungen und Proklamationen
  Die Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses
  Annexionen und Kaiserkrone
  Unsere Verhaftung
Meine weitere parlamentarische Tätigkeit, der Leipziger Hochverratsprozeß
und anderes
  Die erste Session des deutschen Reichstags
  Der erste deutsche Webertag
  Weiteres aus Sachsen
  Der Dresdener Parteikongreß
Die zweite Session des deutschen Reichstags
  Der Leipziger Hochverratsprozeß
  Die dritte Session des ersten deutschen Reichstags
  Mein Majestätsbeleidigungsprozeß
Unsere Festungshaft und was zwischendurch passierte
  Hubertusburg
  Königstein
  Zwickau
Von 1871 bis zum Vereinigungskongreß zu Gotha
  Die Regierungen und die Sozialdemokratie
  Die Einigungsfrage vor den beiden Fraktionen
  Der Parteikongreß zu Eisenach 1873
  Die erste Session des neuen Reichstags 1874
  Tessendorf als Bahnbrecher der Einigung. Einigungsverhandlungen
Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des Sozialistengesetzes
  Das Einigungswerk
  Nachwehen
  Reichstagsarbeit
  Meine Stellung zur Kommune
  Neue Verfolgungen
  Der Parteikongreß zu Gotha 1876
  Der Wahlkampf 1876 bis 1877
  Der Reichstag 1877
  Der Kongreß zu Gotha 1877
  Landtagswahl in Sachsen. „Die Zukunft“
  Wieder reif fürs Gefängnis
  Innere Vorgänge
  Der Reichstag Frühjahr 1878
  Im Leipziger Gefängnis und was währenddem geschah
  Das Hödel-Attentat und seine Folgen
  Das erste Ausnahmegesetz
  Das Nobiling-Attentat und seine Wirkung
  Die Reichstagswahl von 1878

Geleitwort.

Früher, als ich selbst gehofft, ist es mir ermöglicht worden, den vorliegenden zweiten Band „Aus meinem Leben“ fertigzustellen. Mein Gesundheitszustand hat sich in den letzten anderthalb Jahren erheblich gebessert und damit ist meine Leistungsfähigkeit gehoben worden. Leider fiel in diese Zeit die lange, schwere Erkrankung meiner teuren, unvergeßlichen Frau, mit deren Hinscheiden Ende November 1910 ihr Leiden seinen Abschluß fand.

Der zweite Band ist weit stärker geworden, als ich anfangs geahnt; er wuchs mir unter den Händen zu einer Art Geschichte der Partei, was erklärlich ist bei der Stellung, die ich in der Partei erlangte. Auch kamen mir noch Briefe und Aktenmaterial in die Hände, das ich verloren glaubte. Während dem ruhelosen, überarbeiteten Leben, das ich länger als ein Menschenalter führte, war vorsichtshalber manches beseitigt und vergeben worden, das sich bei gründlichem Nachforschen wieder fand. Außerdem gelangten, da ich als Miterbe des Friedrich Engelsschen literarischen Nachlasses testamentarisch eingesetzt worden war, die meisten meiner Briefe wieder in meinen Besitz, die ich im Laufe mehrerer Jahrzehnte mit Friedrich Engels und Karl Marx gewechselt hatte. Den Hauptinhalt dieser Briefe, die wesentlich in die Zeit des Sozialistengesetzes fielen, werde ich im dritten Bande benutzen.

Dieser letztere wird, vorausgesetzt, daß mir überhaupt das Leben und die nötigen Kräfte verbleiben, erst nach längerer Zeit erscheinen. Die Vorarbeiten befinden sich noch in den Anfängen. Möglicherweise muß ich diesen dritten Band in zwei Teile zerlegen. Sein Inhalt wird die zwölf Jahre Sozialistengesetz, die „Heroenzeit“ der Partei, wie diese Periode gern genannt wird, umfassen. Damit gedenke ich meine Veröffentlichungen größeren Umfangs abzuschließen.

Dem Schlußband wird ein Namen- und Sachregister beigegeben werden.

Zürich, den 2. September 1911.

A. Bebel

Die Periode des Herrn v. Schweitzer in der proletarischen
Arbeiterbewegung.

Jean Baptist v. Schweitzer

Unter den Persönlichkeiten, die nach dem Tode Lassalles nacheinander die Führung des von ihm gegründeten Vereins übernahmen, steht J.B. v. Schweitzer allen weit voran. In Schweitzer erhielt der Verein einen Führer, der in hohem Grade eine Reihe Eigenschaften besaß, die für seine Stellung von großem Werte waren. Er besaß die nötige theoretische Vorbildung, einen weiten politischen Blick und eine kühle Ueberlegung. Als Journalist und Agitator hatte er die Fähigkeit, die schwierigsten Fragen und Themen dem einfachsten Arbeiter klar zu machen; er verstand es wie wenige, die Massen zu fanatisieren, ja zu faszinieren. Er veröffentlichte im Laufe seiner journalistischen Tätigkeit in seinem Blatte, dem „Sozialdemokrat“, eine Reihe populärwissenschaftlicher Abhandlungen, die mit zu dem Besten gehören, was die sozialistische Literatur besitzt. So beispielsweise seine Kritik des Marxschen „Kapital“ und die später als Broschüre veröffentlichte Abhandlung „Der tote Schulze gegen den lebenden Lassalle“, Arbeiten, die noch heute ihren vollen Wert haben. Auch als Parlamentarier erwies er sich als sehr geschickt und gewandt. Er erfaßte rasch eine gegebene Situation und verstand sie auszunutzen. Endlich war er auch ein guter Redner von großer Berechnung, der Eindruck auf die Massen und die Gegner machte.

Aber neben diesen guten, zum Teil glänzenden Eigenschaften besaß Schweitzer eine Reihe Untugenden, die ihn als Führer einer Arbeiterpartei, die in den ersten Anfängen ihrer Entwicklung begriffen war, dieser gefährlich machten. Für ihn war die Bewegung, der er sich nach mancherlei Irrfahrten anschloß, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Er trat in die Bewegung ein, sobald er sah, daß ihm innerhalb des Bürgertums keine Zukunft blühte, daß für ihn, den durch seine Lebensweise früh Deklassierten, nur die Hoffnung bestand, in der Arbeiterbewegung die Rolle zu spielen, zu der sein Ehrgeiz wie seine Fähigkeiten ihn sozusagen prädestinierten. Er wollte auch nicht bloß der Führer der Bewegung, sondern ihr Beherrscher sein, und trachtete sie für seine egoistischen Zwecke auszunutzen. Während einer Reihe von Jahren in einem von Jesuiten geleiteten Institut in Aschaffenburg erzogen, später sich dem Studium der Jurisprudenz widmend, gewann er in der jesuitischen Kasuistik und juristischen Rabulistik das geistige Rüstzeug, das ihn, der von Natur schon listig und verschlagen war, zu einem Politiker machte, der skrupellos seinen Zweck zu erreichen suchte, Befriedigung seines Ehrgeizes um jeden Preis und Befriedigung seiner großen, lebemännischen Bedürfnisse, was ohne auskömmliche materielle Mittel, die er nicht besaß, nicht möglich war. Es ist aber eine alte geschichtliche Erfahrung, die in allen Volksbewegungen sich bestätigt hat, daß führende Persönlichkeiten, die sybaritische Gewohnheiten haben, aber wegen Mangel an Mitteln sie nicht zu befriedigen vermögen, leicht an sie herantretenden Versuchungen unterliegen, namentlich wenn sie dabei auch glauben, außer der Befriedigung ihres Ehrgeizes Scheinerfolge erringen zu können.

Die diktatorische Stellung, welche die Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins dem Leiter des Vereins einräumte, begünstigte die Schweitzerschen Bestrebungen ungemein. Es war aber auch ebenso natürlich, daß gegen die Gelüste des Diktators ein ständiger Kampf der selbständiger denkenden Mitglieder im Verein entstand. Die Opposition, zeitweilig durch seine brutale Rücksichtslosigkeit scheinbar niedergeworfen und aus dem Verein hinausgedrängt, erhob sich in Kürze in anderen Personen und an anderen Orten wieder, und es begann der Kampf von neuem gegen ihn. Seine Herrschaftsbestrebungen wurden noch dadurch ungemein begünstigt, daß das einzige Blatt, das der Verein besaß — und ein zweites neben diesem duldete er nicht —, „Der Sozialdemokrat“, in seinen Händen war und von ihm geleitet wurde. Damit hatte er das Mittel in der Hand und wandte es ohne Skrupel an, die geistige Beherrschung der Mitglieder zu einer absoluten zu machen, wobei er jeden Widerspruch und jede ihm unbequeme Meinungsäußerung gewaltsam niederhielt. Die Art, wie dabei wieder Schweitzer den Massen zu schmeicheln verstand, obgleich er innerlich sie verachtete, ist mir nie mehr in ähnlichem Maße begegnet. Sich selbst stellte er als ihr Werkzeug hin, das nur dem Willen des „souveränen Volkes“ gehorche, dieses souveränen Volkes, das nur seine Zeitung las und dem er seinen Willen suggerierte. Wer aber wieder ihn zu lecken wagte, der wurde der niedersten Motive geziehen, als eine Viertels- oder Achtelsintelligenz gebrandmarkt, die sich über die braven, ehrlichen Arbeiter erheben wolle, um sie im Interesse ihrer Gegner zu mißbrauchen.

Eine Rolle, wie Schweitzer sie allmählich spielte, war allerdings nur in den Jugendjahren der Bewegung möglich, und darin liegt die Entschuldigung für seine fanatisierten Anhänger. Wer heute die Rolle eines Schweitzer in der Bewegung spielen wollte, wäre in kurzer Zeit unmöglich, sei er wer er wolle.

Schweitzer war ein Demagog großen Stils, der an der Spitze eines Staates sich als ein würdiger Schüler Machiavellis — für dessen grundsatzlose Theorien er schwärmte — erwiesen haben würde. Die absolute Herrschaft, die er durch die erwähnten Mittel sich auf Jahre in seinem Verein zu sichern wußte, läßt sich nur vergleichen mit gewissen Erscheinungen in der katholischen Kirche. Er hatte eben nicht umsonst bei den Jesuiten Unterricht genommen.

Wessen wir — Liebknecht und ich — Schweitzer beschuldigten, war, daß er den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein — natürlich wider Wissen und Wollen des weitaus größten Teiles seiner Mitglieder — im Interesse der Bismarckschen Politik leite, die wir nicht als eine deutsche, sondern als eine großpreußische Politik betrachteten, eine Politik, betrieben im Interesse der Hohenzollernschen Hausmacht, die bestrebt war, die Herrschaft über ganz Deutschland zu gewinnen und Deutschland mit preußischem Geist und preußischen Regierungsgrundsätzen — die der Todfeind aller Demokratie sind — zu erfüllen.

Wie damals die Dinge im allgemeinen lagen und bei dem schweren Kampfe, in dem sich Bismarck mit der liberalen Bourgeoisie befand, benutzte er jedes Mittel, auch das unscheinbarste, das seinen Zwecken dienen konnte. Ich habe bereits im ersten Teil dieser Arbeit dargelegt, wie Bismarck noch vor dem Auftreten Lassalles in dem Lackierer Eichler einen gewandten Agenten besaß, der für seine Politik in den Arbeiterkreisen Propaganda machte. Lassalle, der nicht als Dienender, sondern als Gleichberechtigter, als Macht zu Macht mit Bismarck in Unterhandlungen sich einließ, unterstützte mehr als er wohl selbst wollte diese Bismarckschen Bestrebungen. Seine Verhandlungen mit Bismarck wurden zwar offenbar mit dem Februar 1864 abgebrochen und bis zu seinem (Lassalles) Tode nicht wieder aufgenommen, aber das Streben, die Arbeiterbewegung der Bismarckschen Politik dienstbar zu machen, blieb bestehen und hatte einen gewissen Erfolg, woran die scharfe Absage, die Karl Marx dem alter ego Bismarcks, Lothar Bucher, gab, als dieser ihn zur Mitarbeit am preußischen „Staatsanzeiger“ einlud, nichts änderte.

Helene v. Rakowicza (Helene v. Dönniges), die ehemalige Geliebte Lassalles, wegen der er in das Duell, das ihn das Leben kostete, verwickelt wurde, erzählt in ihrem Buche: „Von anderen und mir“, Berlin 1909, daß sie in einer Nachtunterhaltung Lassalle die Frage vorgelegt: Ist's nun wahr? Hast du mit Bismarck allerlei Geheimes zu tun? Worauf dieser geantwortet habe: „Was Bismarck anbelangt und was er von mir gewollt hat und ich von ihm? — laß dir's genügen, daß es nicht zustande kam, nicht zustande kommen konnte. Wir waren beide zu schlau — wir sahen unsere beiderseitige Schlauheit und hätten nur damit enden können, uns (immer politisch gesprochen) ins Gesicht zu lachen. Dazu sind wir zu gut erzogen — also blieb es bei den Besuchen und geistreichen Gesprächen.“

Diese Darstellung klingt wahrscheinlich. Es hieße Lassalles Scharfsinn und seine Einsicht beleidigen, sollte er anders gedacht haben, als hier seine ehemalige Geliebte erzählt. Ueberhaupt konnte kein scharfsinniger und einsichtiger Mensch, und das war auch Schweitzer, sich täuschen über das, was ein Sozialdemokrat von Bismarck erlangen konnte, was nicht, und daß, wenn Bismarck auf irgendwelche Beziehungen mit Sozialdemokraten sich einließ, es nur geschah, um sie in seinem Interesse zu verwenden und nachher wie ausgepreßte Zitronen beiseite zu werfen. Oder ein anderes, daß sie sich an ihn verkauften und ihm Dienste leisteten, was bei Lassalle nicht in Frage kommen konnte.

Für meine Auffassung spricht zunächst die Tatsache, daß, als an des Präsidenten Bernhardt Beckers Stelle F.W. Fritzsche Vizepräsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wurde, Dr. Dammer, der frühere Vizepräsident des Vereins, Fritzsche empfahl, er solle bei seinen Agitationen im Königreich Sachsen neben den sozialistischen Forderungen für die preußische Spitze eintreten und die über diese Versammlungen veröffentlichten Zeitungsberichte direkt an Bismarck senden, auch diesem über die abgehaltenen Versammlungen direkt berichten. Fritzsche selbst hat mir diese Mitteilungen gemacht, als es sich im Herbst 1878 um die Bekämpfung des Entwurfs des Sozialistengesetzes handelte. Diese Mitteilungen habe ich damals im Reichstag in einer Rede gegen Bismarck auch verwendet.

Die Versuche, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein für die
Bismarcksche großpreußische Politik nutzbar zu machen, waren also sehr
frühzeitig vorhanden und dauernde. Es wird Sache meiner
Auseinandersetzungen sein, zu beweisen, daß Schweitzer diesen
Bestrebungen Bismarcks bewußt diente.

Wäre Schweitzer ein Mann gewesen, der der Sache, die er äußerlich verfocht, innerlich ehrlich zugetan war, wäre er ein Mann gewesen, von dem jeder Parteigenosse überzeugt sein mußte, daß nur die Begeisterung und das reinste Streben, der Arbeiterklasse zu dienen, bei ihm vorhanden war, hätte er die sehr bedenklichen Zweideutigkeiten, die in seinem politischen Leben auftauchten, zu vermeiden gewußt, wäre mit einem Worte sein ganzes Tun Vertrauen fordernd gewesen, er wäre bis an sein Lebensende unbestritten der Führer der Partei geblieben. Jeder Versuch, ihn zu diskreditieren, wäre an ihm abgeprallt, mochten solche Angriffe ausgehen von welcher Seite immer. Statt dessen mußte er sein stetig sinkendes Ansehen verteidigen und erlebte schließlich, daß nach der Niederlegung seiner Präsidentschaft, als jeder wagen durfte, frei zu sprechen, ohne Gefahr, von einem Bannstrahl getroffen zu werden, gerade diejenigen die ehrenrührigsten Anklagen gegen ihn erhoben, die ihn einstmals gegen die Angriffe von unserer Seite fanatisch verteidigt hatten. So kam es, daß die Nachricht von seinem Tode jene kalt und gleichgültig ließ, die im anderen Falle ihn bis zur letzten Stunde als ihren Führer anerkannt und seinem Andenken alle Ehren erwiesen haben würden.

* * * * *

Jean Baptist v. Schweitzer wurde am 12. Juli 1834 zu Frankfurt am Main geboren. Das Blut, das in seinen Adern floß, war, nach seinen Vorfahren zu urteilen, eine Mischung von italienisch-französischem mit deutschem Blute. Seine Familie, die im Jahre 1814 vom damaligen König von Bayern geadelt wurde, gehörte zu den sogenannten Patrizierfamilien Altfrankfurts.

Was der junge Schweitzer in seiner Familie sah und hörte, war nicht sehr erhebend und von zweifelhaft erzieherischem Einfluß. Der Vater, einst Kammerjunker bei dem berüchtigten Herzog Karl von Braunschweig, der 1830 eilig sein Land verlassen mußte, wollte er nicht der Volkswut zum Opfer fallen, war ein Lüdrian, der als Verschwender lebte. Die Mutter, die getrennt von ihrem Manne ein besonderes Haus führte, trieb es in der gleichen Weise. Kein Wunder, daß der junge Jean Baptist bei solcher Abstammung und bei solchem Vorbild in die elterlichen Fußtapfen trat, nur daß ihm die Mittel fehlten, welche die Eltern verjubelt hatten, worauf denn für ihn das Schuldenmachen die notwendige Konsequenz war.

Gegen die Mitte der fünfziger Jahre führte ihn sein Studium auch nach Berlin, wo er unter anderem im Hause Krummachers, dessen Frau eine Verwandte seiner Großmutter war, verkehrte, und die führenden Männer der preußischen Reaktion, so zum Beispiel Friedrich Julius Stahl, kennen lernte. Die später in seinen Schriften hervortretende scharfe und treffende Kritik der Natur des preußischen Staates dürfte er bei seinem Aufenthalt in Berlin und im Verkehr mit den maßgebenden Gesellschaftskreisen gewonnen haben. Sein großdeutsch-österreichischer Standpunkt, der nicht nur der herrschende in seiner Familie, sondern auch in den Bürgerkreisen Altfrankfurts war, mochte seine Beobachtungsgabe besonders schärfen. Er lernte jetzt den Staat in seinem innersten Wesen kennen, der der Todfeind Oesterreichs war. Dieser sein großdeutsch-österreichischer Standpunkt kam auch in den politischen Schriften zum Ausdruck, deren erste Schweitzer 1859 veröffentlichte, und zwar in Frankfurt, wo er sich 1857 als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, dem aber die Praxis fehlte. Diese Schrift, die während des österreichisch-italienisch-französischen Krieges veröffentlicht wurde, führte den bezeichnenden Titel „Oesterreichs Sache ist Deutschlands Sache“ und forderte das Eintreten von Gesamtdeutschland für Oesterreich. Die zweite Schrift mit gleicher Tendenz führte den Titel: „Widerlegung von Karl Vogts Studien zur gegenwärtigen Lage Europas“. Dieselbe schließt: Oesterreichs Sache ist die Sache des europäischen Rechtes und der europäischen Ordnung, die Sache der Kultur und Humanität und vor allem die nationale Sache deutscher Ehre und deutscher Unabhängigkeit.

In einer dritten Schrift, die 1860 erschien, betitelt „Der einzige Weg zur nationalen Einheit“, rückt er erheblich nach links. Er bekennt sich als Republikaner und sieht nur in einer demokratischen Einheit Deutschlands, die durch eine Revolution von unten herbeizuführen sei, das Heil Deutschlands. Indes verfiel er später wieder in seine großdeutsch-österreichischen Sympathien, bis er endlich nach seiner persönlichen Bekanntschaft mit Lassalle ins kleindeutsche Lager abschwenkte und in der Politik eines Bismarck die einzige Möglichkeit zur Lösung der deutschen Frage sah.

Der Beginn der Volksbewegung und die Gründung des Nationalvereins im Jahre 1859 mit seinen kleindeutschen Bestrebungen konnten Schweitzer nicht gleichgültig lassen. Er trat, entsprechend seinem damaligen Standpunkt, gegen den Nationalverein auf. Er meinte (Januar 1861), nur wenn der Nationalverein sich für die Republik, das hieß also für die Revolution erkläre, könne er auf die Hilfe der Arbeiter rechnen. Preußen sei nicht besser als Oesterreich; beide müßten zertrümmert werden, sollte die deutsche Einheit möglich sein.

Als dann im November 1861 in Frankfurt a.M. mit seiner Hilfe ein Arbeiterbildungsverein gegründet wurde, wählte man Schweitzer zu dessen Vorsitzenden. Hier vertrat er die gleichen radikalen Ideen. Anfang 1862 erschien wiederum eine Schrift von ihm, „Zur deutschen Frage“, in der er sich abermals als unerbittlichen Gegner der hohenzollernschen Hauspolitik und der preußischen Führerschaft in Deutschland bekannte und die Jämmerlichkeit der Mittelparteien brandmarkte. Er trat jetzt als Vielgeschäftiger in der Politik hervor. So wurde er auch Vorsitzender des Frankfurter Turnvereins; Vereine, die damals samt und sonders eine eifrige politische Tätigkeit entfalteten, obgleich sie angeblich unpolitische Vereine sein sollten. Das gleiche war mit der Schützenvereinsbewegung der Fall. Auch in dieser trat Schweitzer aktiv hervor und wurde, als der deutsche Schützenbund gegründet wurde, Mitglied des engeren Ausschusses desselben. Als dann Juli 1862 das erste deutsche Schützenfest in Frankfurt abgehalten wurde, war Schweitzer Schriftführer des Zentralausschusses und Redakteur der Festzeitung. Der intime Umgang, den er damals mit dem Herzog von Koburg, dem „Schützenherzog“, pflog, an dessen Seite er sich häufig auf dem Festplatze zeigte, stand freilich in Widerspruch zu seinem bisherigen radikalen Verhalten und auch zu der radikalen Rede, die er am 22. Mai 1862 auf dem Arbeitertag des Maingaus in durchaus sozialistischem Sinne gehalten hatte, wie ich das bereits im ersten Teil dieser meiner Arbeit erwähnte.

Schweitzer hatte um diese Zeit gleichzeitig mehrere Eisen im Feuer. Aber da brach das Verhängnis über ihn herein. Er wurde kurz nach dem Frankfurter Schützenfest zweier Verfehlungen öffentlich beschuldigt, die einen schwarzen Schatten auf sein späteres Leben warfen und als Merkmale seines Charakters von Bedeutung sind.

Zunächst wurde er beschuldigt, 2600 Gulden für die Kasse des Frankfurter Schützenfestes unterschlagen zu haben. Klage wurde von seiten des Ausschusses nicht erhoben, und das gab wohl Veranlassung, daß die Tat überhaupt bestritten wurde. Demgegenüber möchte ich feststellen, daß der Justizrat Sterzing in Gotha, der im Zentralausschuß des Schützenfestes saß, mit seiner Namensunterschrift eine Erklärung in der „Allgemeinen Deutschen Arbeiterzeitung“ in Koburg erließ, worin er die Unterschlagung als Tatsache bestätigte. Als dann einige Jahre später im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein die Opposition gegen Schweitzer losbrach, schickte die Gothaer Mitgliedschaft einen ihrer Angehörigen zu Justizrat Sterzing, um ihn zu fragen, ob die gegen Schweitzer erhobene Beschuldigung der Unterschlagung wahr sei. Sterzing betätigte das. Darauf wandte sich die Gothaer Mitgliedschaft an Schweitzer, teilte ihm die Aeußerung Sterzings mit und ersuchte ihn, Sterzing zu verklagen. Schweitzer lehnte ab. Er erklärte: das falle ihm nicht ein, da habe er viel zu tun.

Ein anderer noch unliebsamerer Vorgang trug sich im August 1862 im Schloßgarten zu Mannheim zu. Schweitzer wurde beschuldigt, am Vormittag des betreffenden Tages ein Sittenvergehen an einem Knaben begangen zu haben. Er wurde mit vierzehn Tagen Gefängnis bestraft. Die Handlung wäre viel schwerer bestraft worden, hätte man den betreffenden Knaben feststellen können. Dieses gelang nicht. Wohl aber wurden andere Knaben gefunden, denen Schweitzer das gleiche Ansinnen gemacht hatte. Daraufhin fand seine Verurteilung statt. Im Eifer, Schweitzer reinzuwaschen, hat man die Unschuld Schweitzers, die er natürlich selbst behauptete, zu beweisen versucht. Im Interesse der historischen Wahrheit sollten solche Versuche unterbleiben. Man mag über die gleichgeschlechtliche Liebe noch so frei denken, so war es unter allen Umständen eine Ehrlosigkeit, die Befriedigung derselben am hellen Tage in einem öffentlichen Park und an einem schulpflichtigen Knaben zu versuchen. Bemerkt sei auch, daß Schweitzer sich hütete, gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung einzulegen, was sicher geschehen wäre, wenn er sich unschuldig gefühlt hätte.

Diese beiden Vorkommnisse zwangen Schweitzer, auf einige Zeit Frankfurt zu verlassen. In den Arbeiterkreisen erweckten sie natürlich eine starke Animosität gegen ihn. Als daher im nächsten Jahre, nach Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Schweitzer die persönliche Bekanntschaft Lassalles gemacht hatte und Mitglied des Vereins geworden war, stellten die Frankfurter Mitglieder an Lassalle das Ersuchen, er solle Schweitzer angehen, den Versammlungen des Vereins nicht mehr beizuwohnen. Lassalle lehnte dieses Ersuchen als philiströs ab, das Schweitzer zugeschriebene Vergehen habe mit seinem politischen Charakter nichts zu tun. Die Knabenliebe sei in Griechenland allgemein herrschender Brauch gewesen, dem der Staatsmann und der Dichter gehuldigt habe. Im übrigen zollte er den Fähigkeiten Schweitzers hohes Lob. An Schweitzer selbst schrieb er, daß die gerügten Neigungen nicht nach seinem Geschmack seien. Einen Zweifel, daß Schweitzer diese nicht besitze, drückte er nicht aus; er wußte wohl warum.

Anfang 1863 veröffentlichte Schweitzer eine neue Schrift bei Otto Wigand in Leipzig, betitelt „Die österreichische Spitze“. Die Schrift widmete er seinem Freunde Herrn v. Hofstetten, einem ehemaligen bayerischen Offizier, „in Verehrung und Freundschaft“; die Vorrede ist von einer schwülen Ueberschwenglichkeit, als rede Alkibiades zu einem seiner Lieblinge. Der Inhalt der Schrift ist in mehr als einer Beziehung interessant. Er schildert darin den Charakter des preußischen Staates durchaus richtig und erklärt Preußen für eine Einigung Deutschlands durchaus ungeeignet. Im weiteren tritt er trotz aller demokratischen Vorbehalte wieder für die österreichische Spitze ein. Der preußische Staat stehe der Gesamtheit Deutschlands gegenüber, so führt er aus, auf Grund seiner historischen Entwicklung …, die ihn zwinge, sich weiter in demselben Lande und durch dieselbe Bereicherungsart zu vergrößern, also auf Annexionen auszugehen. Diese Mission Preußens sei aber keine deutsche, sondern eine preußische. Preußen müsse nach seiner inneren Natur darauf sehen, daß der alles einzelne mehr oder weniger durchdringende Geist, der althistorische, spezifisch preußische, wesentlich hohenzollernsche Charakter des Staates nicht verloren gehe.

Gegen dieses Preußen macht er energisch Front, das mit einem wirklichen Gesamtdeutschland unverträglich sei. Er spricht sich dabei in folgender programmatischer Weise aus, eine Auffassung, der wir später in einer anderen Situation wieder begegnen werden. Er sagt: „Wenn dem künftigen Deutschen Reiche — sei es eine Republick oder ein Kaisertum — auch nur ein einziges Dorf des jetzigen deutschen Bundesgebiets fehlt, so ist dies ein nationaler Skandal. Die kleinste Hütte im fernsten Dorfe, wo deutsche Zunge klingt, hat das heilige Recht auf den Schutz der Gesamtheit.“

Diese feierliche Erklärung hielt ihn aber bald darauf nicht ab, die Politik zu unterstützen, die den nationalen Skandal herbeiführte und herbeiführen wollte, und nach seiner eigenen Auffassung herbeiführen mußte. Und es handelte sich dabei nicht bloß um ein einzelnes Dorf oder eine Hütte, sondern um Ländergebiete mit zehn Millionen Deutscher, die Jahrhundertelang früher zum Reiche gehörten als die Provinz Preußen, deren Namen die Hohenzollern ihrem Königreich gaben. Schließlich forderte er die österreichische Spitze und den Eintritt Gesamtösterreichs in den Bund, wenn nicht anders, so durch die Zertrümmerung Preußens. Demgemäß verlangte er, daß die großdeutsche Partei energisch für die österreichische Spitze eintrete und nicht der kleindeutschen Partei das Feld in der Agitation für die preußische Spitze überlasse.

So Schweitzer als schwarzgelber Großdeutscher noch Anfang 1863. In wenigen Monaten war er ein anderer. Mittlerweile hatte er die persönliche Bekanntschaft Lassalles gemacht. Er begriff rasch, daß sich hier eine Gelegenheit zu einer Stellung für seine Zukunft bot, die seinem Ehrgeiz entsprach, die ihm in der bürgerlichen Welt nach den oben geschilderten Vorgängen für alle Zeit abgeschnitten war. In diesen Kreisen galt er als ein Mensch, vor dem man die Tür schließen müsse.

Als im Frühjahr 1863 Lassalle nach Frankfurt kam, verständigten sich beide offenbar sehr bald. Gelegenheit dazu bot auch ein gemeinsamer Ausflug in die Rheinpfalz, auf dem sich ein amüsanter Vorgang mit Lassalle zutrug. Außer Lassalle und Schweitzer nahmen an der Partie die Gräfin Hatzfeldt, Hans v. Bülow und unser verstorbener Parteigenosse, der damals jugendliche Wendelin Weißheimer teil. Die Reise ging nach Osthofen am Rhein, von wo aus der Ebernburg, bekanntlich einst der Sitz Sickingens, ein Besuch gemacht werden sollte. Auf Betreiben Weißheimers hatte sein Vater, der in Osthofen wohnte, die Gesellschaft zum Mittagstisch geladen. Lassalle saß an der Tafel neben Frau Weißheimer. Als diese im Laufe des Gesprächs, wißbegierig wie Frauen nun einmal sind, die Frage an Lassalle richtete: ob er glaube, daß seine Pläne durchführbar seien, umarmte Lassalle sie und drückte ihr mit den Worten: „Sie sind eine köstliche Frau“ einen Kuß auf die Lippen. Er schloß ihr also buchstäblich den Mund. Ueber diese Verhöhnung aller gesellschaftlichen Etikette geriet der alte Weißheimer dermaßen in Aufregung, daß er einige Sekunden nach Atem schnappte, wohingegen die übrige Gesellschaft aus vollem Halse lachte.

Die Wandlung in der Gesinnung Schweitzers unter dem Einfluß Lassalles zeigte sich sofort deutlich in der Rede, die er am 13. Oktober 1863 in Leipzig unter dem Titel hielt: „Die Partei des Fortschritts als Trägerin des Stillstandes“. Diese Rede bezeichnet eine vollständige Umwandlung seiner bisherigen Stellung zu Preußen, zugleich war sie eine Rechtfertigung der Politik Lassalles und eine klare Stellungnahme gegen den Liberalismus, was zu jener Zeit hieß eine Parteinahme für Bismarck und die Feudalen. In jener Rede führt er unter anderem aus:

„Allein, meine Herren, wenn Sie meinem Vortrag gefolgt sind, so werden Sie erkannt haben, daß zwar der moderne Absolutismus samt seinen Adels- und Priesterkoterien uns feindlich gegenübersteht, da er überhaupt von Neuerung nichts wissen will; allein, Sie werden zugleich erkannt haben, daß unser eigentlicher, hartnäckiger und erbitterter Feind wo ganz anders steckt — nämlich in der Bourgeoispartei und ihren Vertretern. Es muß durchaus einmal offen und bestimmt ausgesprochen werden, daß in der weitaus höchsten und wichtigsten Frage der Zeit der wahre Sitz des Stillstandes in der sogenannten liberalen Partei liegt, daß also unser, der sozialdemokratischen Partei Kampf in erster Linie gegen sie gerichtet sein muß. Wenn Sie dies aber festhalten, meine Herren, dann werden Sie sich selbst sagen: Warum hätte Lassalle sich nicht an Bismarck wenden sollen?“

Nach dieser Theorie waren also nicht die Feudalen, denen jeder politische und soziale Fortschritt ein Greuel war, die, um modern zu reden, die heftigsten Verteidiger der gottgewollten Abhängigkeiten sind, der Hauptfeind der Arbeiter, das waren vielmehr die Liberalen, von denen selbst der am weitesten rechtsstehende Anhänger doch immer noch ein Vertreter der modernen Entwicklung, ein Anhänger eines gewissen Kulturfortschrittes ist, ohne den die kapitalistische Ordnung nicht bestehen kann, die dem Proletarier erst die Möglichkeit schafft, sich zum freien Menschen emporzuarbeiten, die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. Schweitzer wußte, daß die von ihm gepredigte Auffassung eine grundreaktionäre war, ein Verrat an den Interessen des Arbeiters, aber er propagandierte sie, weil er glaubte, sich dadurch nach oben zu empfehlen.

Es verstand sich von selbst, daß Bismarck und die Feudalen eine solche Hilfe von der äußersten Linken mit Vergnügen sich gefallen ließen und den Vertreter einer solchen Auffassung eventuell auch unterstützten. War doch dieses Spielen mit Sozialismus und Kommunismus — und kein vernünftiger Mensch konnte annehmen, daß es sich um mehr als um ein Spielen handle — ein vortreffliches Mittel, die liberale Bourgeoisie, die nie an einem Uebermaß von Mut und Einsicht litt, ins Bockshorn zu jagen und sie dem Bismarckschen Zäsarismus ins Garn zu treiben. Je radikaler dieser Sozialismus sich gegen die Bourgeoisie aufspielte, je mehr erfüllte er seinen Zweck. Daher auch die Aufforderung Buchers an Marx — man muß dieses immer wiederholen —, im „Staatsanzeiger“ selbst kommunistisch zu schreiben.

Diese Politik war aber das gerade Gegenteil von Demokratie und
Sozialismus, was ich nicht erst zu beweisen nötig habe.

„Der Sozialdemokrat.“

Schweitzer siedelte im Juli 1864 nach Berlin über und ließ sich dort naturalisieren. Sein Zweck war, die Herausgabe eines Parteiorgans „Der Sozialdemokrat“ zu betreiben, wozu sein Freund v. Hofstetten, der mit einer Gräfin Strachwitz verheiratet war und einiges Vermögen besaß, die Mittel hergab. Auffallend ist, daß Lassalle in seinem Testament keinen Pfennig für das von ihm gebilligte Unternehmen anwies.

Schweitzer war es gelungen, trotz des Mißtrauens, das ein Teil der hier Genannten gegen ihn hegte, außer Liebknecht Karl Marx, Friedrich Engels, Oberst Rüstow, Georg Herwegh, Jean Philipp Becker, Fr. Reusche, Moritz Heß und Professor Wuttke als Mitarbeiter zu gewinnen, selbstverständlich auf ein radikales Programm, das Schweitzer entworfen hatte, das sich durch Klarheit, Bestimmtheit und Kürze auszeichnete. Dasselbe erschien an der Spitze der Probenummer des „Sozialdemokrat“ vom 15. Dezember 1864 und lautete:

Unser Programm.

  Drei große Gesichtspunkte sind es, welche das Streben und die
  Tätigkeit unserer Partei bestimmen:

Wir bekämpfen jene Gestaltungen des europäischen Staatensystems, welche, unnatürlich die Völker trennend und verbindend, aus dem feudalen Mittelalter in das neunzehnte Jahrhundert sich herübergeschleppt haben — wir wollen fördern die Solidarität der Völkerinteressen und der Volkssache durch die ganze Welt.

  Wir wollen nicht ein ohnmächtiges und zerrissenes Vaterland, machtlos
  nach außen und voll Willkür im Innern — das ganze, gewaltige
  Deutschland wollen wir, den einen, freien Volksstaat
.

  Wir verwerfen die bisherige Beherrschung der Gesellschaft durch das
  Kapital — wir hoffen zu erkämpfen, daß die Arbeit den Staat regiere.

Diese drei großen auf gemeinsamer Grundlage beruhenden Gesichtspunkte weisen uns in jeder möglichen Frage mit zwingender Notwendigkeit auf die Bahnen, die wir zu wandeln haben.

Unsere Prinzipien sind einfach und klar — ihre Konsequenzen zu ziehen werden wir uns niemals scheuen.

Kein Zweifel, wäre dieses durchaus unanfechtbare, von allen maßgebenden Personen in der Partei gebilligte Programm fortan die Richtschnur des Blattes geblieben, eine Spaltung wäre unmöglich gewesen, eine Aera gesunder Fortentwicklung wäre eingetreten und hätte eine ungeahnte Ausbreitung der Partei schon in jungen Jahren höchst wahrscheinlich gemacht.

Aber Schweitzer wollte es anders. Von Herrn v. Hofstetten, seinem Associé und Miteigentümer des „Sozialdemokrat“, rede ich nicht. Hofstetten war ein schwacher Mann ohne tiefere Einsicht in das Wesen der Dinge, der sich von Schweitzer treiben und mißbrauchen ließ, und den dann Schweitzer wie eine ausgequetschte Zitrone nach einigen Jahren beiseite warf, nachdem Hofstetten sein Vermögen bis zum letzten Rest für den „Sozialdemokrat“ und für Schweitzer, der über Jahr und Tag auch an seinem Tische saß, geopfert hatte.

Die korrekte Haltung des „Sozialdemokrat“ währte nicht lange.

Bereits in Nr. 6 des „Sozialdemokrat“ waren in dem Artikel „Das Ministerium Bismarck und die Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten“ Wendungen enthalten, in denen Schweitzers Sympathie mit der Politik Bismarcks, wenn auch noch sehr vorsichtig, zum Ausdruck kam. Mit der Nr. 14 des „Sozialdemokrat“ vom 27. Januar 1865 beginnt dann jene Serie Artikel „Das Ministerium Bismarck“, in denen er die demokratische Maske fallen läßt, was die öffentliche Absage der meisten der eben erst gewonnenen Mitarbeiter zur Folge hatte.

In dem ersten dieser Artikel wurde ausgeführt:

„Parlamentarismus heißt Regiment der Mittelmäßigkeit, heißt machtloses Gerede, während Zäsarismus doch wenigstens kühne Initiative, doch wenigstens bewältigende Tat heißt. ‚Schmach den Renegaten, die jetzt der Reaktion dienen‘, rufe man. Sonderbar aber doch, daß diese radikalen Renegaten (deren rasche Abwirtschaftung wir erlebt haben. A.B.) nicht bei Pfordten und Beust (selbstverständlich nicht. A.B.), daß diese radikalen Renegaten gerade bei Bismarck sind.“

Die Renegaten, die er meinte, waren eben alles Leute, die keinen Beruf zu einem revolutionären Vorgehen in sich verspürten, die sich mit der kapitalistischen Ordnung der Dinge — vorausgesetzt, daß sie überhaupt je deren Gegner waren — abgefunden hatten und sich sagten, daß der Kapitalismus unter der Aegide des märkischen Junkers nicht zu kurz kommen werde, worin sie sich nicht täuschten.

Im zweiten Artikel Schweitzers hieß es in Betrachtung der Entwicklung
Preußens:

„Von dieser Grundlage aus (dem Kurfürstentum) hat sich sodann der vergleichungsweise junge Staat, vorzugsweise durch das mächtige Genie eines großen Königs und gewaltigen Kriegshelden, eines in jeder Beziehung bewunderungswürdigen Mannes, zu einem ausgedehnten und mächtigen Königreich erweitert.“

Nach dieser Verherrlichung Friedrichs des Großen, die ein Sybel oder Treitschke tönender nicht betreiben konnte, spendet er auch der Volkserhebung von 1813 ein Lob, die eine glänzende Ausnahme von der Regel preußischer Geschichte sei. „Der Hauptsache nach und alles in allem genommen, ist Preußen das, was es ist, durch die an seiner Spitze stehende Dynastie geworden.“

Alsdann charakterisiert er das Wesen des preußischen Royalismus.

„Während ein solcher Geist in den einen deutschen Staaten zwar nicht ohne alle Begründung sein mag, jedenfalls aber alles höheren politischen Ernstes und der tieferen Würde entbehrt, in den anderen Staaten aber geradezu als Karikatur dessen erscheint, was man Royalismus nennt, ist der königliche Geist in Preußen eine wohlbegründete politische Anschauungsweise und Richtung. Denn die Dynastie und in ihr der jedesmalige Regent können mit innerer Berechtigung als der Kulminationspunkt der aufsteigenden Skala der herkömmlichen Elemente, als der Schwerpunkt der in hergebrachten Bahnen rotierenden Kräfte, als Herz und Gehirn des Organismus innerhalb eines Staatsganzen betrachtet werden, welches nur so und unter solcher Voraussetzung seine eigentümliche Wesenheit und seine dermalige Stellung erlangte und erlangen konnte.“

Des weiteren meinte er noch, daß der preußische Staat in seinem dermaligen Zustand das offenbare Gepräge des Unfertigen, einer noch nicht abgeschlossenen geschichtlichen Entwicklung auf sich trage. Ein Zustand also, der nach Annexionen schreie. Diese Mission, die Preußen in Deutschland habe, sei aber keine deutsche, wie man uns glauben machen wolle, sondern eine preußische.

Schweitzer kannte also die Natur des preußischen Staates, wie keiner sie besser kennen konnte, seine Schlüsse waren durchaus logisch. Aber um so mehr drängt sich die Frage auf, wie konnte er dann eine Politik unterstützen, die nach seinem eigenen Geständnis undeutsch, weil nur großpreußisch war, und wenn siegreich, die Niederlage der Demokratie bedeutete? Eine solche Politik durfte vom demokratischen Standpunkt aus nicht unterstützt, sie mußte vielmehr auf Leben und Tod bekämpft werden, denn es war der Todfeind der Demokratie, der diese Politik betrieb.

Schweitzer schließt seinen zweiten Artikel also:

„Ein wahrhaft preußisches Ministerium, ein solches, welches die aus der Geschichte des preußischen Staates hervorgegangene Wesenheit desselben zu befestigen und weiterzuentwickeln strebt, kann weder in Gemäßheit bloßen Schablonenkonservatismus lediglich die stupide Aufrechterhaltung des gerade Vorhandenen beabsichtigen, wie dies konservative Ministerien in Preußen lange getan, noch auch kann es die dem Staate von seiner Geschichte indizierte äußere Politik unter Aufhebung des inneren Charakters des Staates anstreben, wie dies die liberale Partei unter Verleugnung des Machtschwerpunktes von der Krone hinweg in das Abgeordnetenhaus beabsichtigte.“

Das heißt also in klares Deutsch übersetzt: Die Eigenart des preußischen Staates verbietet einer preußischen Regierung die Einführung eines parlamentarischen Regimes, und wenn ihr Liberalen dennoch danach strebt, so verlangt ihr etwas, was der Natur des preußischen Staates entgegen ist. Begnügt euch also, ein Ornament am Staatswagen zu sein. In der Situation, in der damals die Kammer sich der Regierung gegenüber befand, bedeuteten solche Auslassungen einfach ein In-den-Rücken-fallen der Volksvertretung und eine Unterstützung der Pläne Bismarcks.

In seinem dritten Artikel führt er zunächst aus: Die Schlußfolgerungen seines zweiten Artikels und die Untersuchungen, die zu denselben führten, seien mehrfach mißverstanden (!) worden. Er wird also jetzt noch deutlicher. Er sagt:

  „Indem Preußen eine Politik verfolge, die zur Annexion der Herzogtümer
  (Schleswig-Holstein) führen müsse, setze es, die glorreichen
  Traditionen preußischer Geschichte aus langem Schlummer weckend, an
  den innersten Kern des preußischen Staatsgeistes seine Hebel an.

  Es ist eine bedeutende Politik, die jetzt in Preußen gemacht wird! …
  Wer Annexion anfängt, muß sie durchsetzen. Mehr noch.

  Eine preußische Regierung, die in der zweiten Hälfte des neunzehnten
  Jahrhunderts deutsches Land zu annektieren beginnt, eine preußische
  Regierung, die angesichts der offenkundigen, von Kaiser, Königen und
  Fürsten feierlich proklamierten Unhaltbarkeit der politischen
  Verfassung Deutschlands die ‚friedericianische Politik‘
(wie ein
  großdeutsches Blatt sich ausdrückte) wieder aufnimmt, kann nicht
  stille stehen nach kleinem Sieg — weiter muß sie auf der betretenen
  Bahn — vorwärts, wenn nötig mit ‚Blut und Eisen‘.

Denn anknüpfen an die stolzesten Traditionen eines historisch erwachsenen Staates und dann feige zurückbeben vor entscheidender Tat, hieße den innersten Lebensnerv eines solchen Staates ertöten.

Man kann solche Traditionen ruhen lassen — aber man kann sie nicht aufnehmen, um sie zu ruinieren!

Ein preußischer Minister, der solche Politik für Preußen machte — er verfiele unrettbar den zürnenden Manen des großen Friedrich und dem Gelächter seiner Zeitgenossen.

Wie mußte bei dem Lesen solcher Artikel das Herz jedes guten Preußen schlagen; war doch danach Preußen quasi von der Vorsehung vorher bestimmt, der Beherrscher Deutschlands zu werden. Und wie mußten die Herzen der Feudalen einem Manne zugetan sein, der besser als sie alle die „historische Mission“ des preußischen Staates darzulegen und zu verherrlichen verstand. Und das sollte unbeachtet und unbelohnt bleiben?

Was Schweitzer hier schrieb, war aber auch eine Verherrlichung der weiteren Bismarckschen Politik, es war eine förmliche Anpeitschung Bismarcks, auf dem betretenen Wege weiter zu gehen, wäre eine solche noch notwendig gewesen.

Im vierten Artikel kam Schweitzer auf den Bundestag und Oesterreich zu sprechen. Hier hatte er mit seiner Kritik leichtes Spiel, denn dümmer und dem Zeitbedürfnis widersprechender konnte nicht gehandelt werden, als diese beiden Faktoren in der deutschen Frage gehandelt hatten. Im übrigen war die Haltung, die in diesem Artikel Schweitzer Oesterreich gegenüber einnahm, wie in seiner ganzen späteren Politik, das direkte Gegenteil von dem, was er noch im Jahre 1863 — also anderthalb Jahre zuvor — in seiner Broschüre „Die österreichische Spitze“ zur Verherrlichung Oesterreichs gesagt hatte, und was das Programm besagte, das angeblich der „Sozialdemokrat“ vertreten sollte.

Der fünfte Artikel beschäftigte sich mit der Stellung der Nation und der deutschen Frage. Er kommt zu dem Resultat:

Aktionsfähig in Deutschland sind nur noch zwei Faktoren: Preußen und die Nation, preußische Bajonette oder deutsche Proletarierfäuste — wir sehen kein drittes.

Das Preußentum ist der Feind des Deutschtums, aber es ist auch der Feind der bestehenden Gewalten Deutschlands.

  Die Nation steht fest auf ewigem Fundament — die Fürstenstühle
  Deutschlands aber müssen wanken, wenn Preußen sich erinnert, daß
  Friedrich der Große sein König war.

Und wie stand's mit dem preußischen Thron?

Der Leser wird zugeben, daß raffinierter, demagogischer nicht zu schreiben war. Wie ein Aal windet er sich vor einer klaren Stellungnahme. Er läßt nur ahnen, spricht aber nicht aus, was er will. Klar ist, daß das Lesepublikum, an das Schweitzer sich wandte, von seinem Plädoyer für Preußen gefangen genommen wurde, und das war sein Zweck. Dazu kam, daß der ganze politische Inhalt des „Sozialdemokrat“ von der Tendenz durchtränkt war, welche die fünf Artikel erfüllte. Bismarck hatte in der ganzen deutschen Presse keine Feder, die geschickter für seine Politik Propaganda machte.

Kein Zweifel, diese Bismarckartikel standen mit dem Programm des „Sozialdemokrat“ in seiner ersten Nummer im schneidendsten Widerspruch. Es ist auch ausgeschlossen, daß der äußerst scharfsinnige Schweitzer nicht vorausgesehen habe, daß er mit diesen Artikeln der großen Mehrzahl der eben erst gewonnenen Mitarbeiter in gröblichster Weise vor den Kopf schlug. Es war eine Brüskierung sondergleichen. Es war also selbstverständlich, daß darauf Karl Marx, Friedrich Engels, W. Liebknecht, Herwegh, Joh. Ph. Becker und Friedrich Reusche von dem Blatte sich lossagten.

Schweitzer quittierte in einem Artikel in der Nr. 31 seines Blattes über die Rücktritte mit den Worten: Einige bornierte Köpfe hatten sich an unseren Leitartikeln „Das Ministerium Bismarck“ gestoßen. Mit Genugtuung konstatiere er, daß zwei Hauptorgane des österreichischen Liberalismus, die „Presse“ und die „Ostdeutsche Post“, sich auf seine Seite gestellt hätten und brachte längere Auszüge aus denselben. Weiter zitierte er die „Neue Frankfurter Zeitung“, das Blatt Sonnemanns, die ausgeführt hatte, daß die von Schweitzer befolgte Politik nichts als die Fortsetzung der Lassalleschen Politik sei.

Das war richtig! Ohne Lassalles Verhalten wäre es Schweitzer sehr schwer geworden, die von ihm beliebte Politik im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Geltung zu bringen. Aber doch war zwischen Lassalle und ihm ein Unterschied. Lassalle, ökonomisch vollständig unabhängig, stand zu Bismarck wie Macht zu Macht, davon konnte bei Schweitzer, der tief in Schulden steckte und nach seiner sonstigen Qualität in alle Wege keine Rede sein. Er erschien in seinem Auftreten als ein Werkzeug der Bismarckschen Politik, als ein Mann, der den Vorteil des Lassalleschen Scheins für sich hatte und ihn geschickt ausnutzte.

Im weiteren erklärte Schweitzer gegen Marx und Engels, daß sie sich vom „Sozialdemokrat“ zurückgezogen, sobald sie eingesehen hätten, daß sie nicht die erste Rolle bei der Partei spielen konnten. Im Gegensatz zu ihnen sei Lassalle nicht der Mann der unfruchtbaren Abstraktion, sondern ein Politiker im strengen Sinne des Wortes, nicht ein schriftstellerischer Doktrinär, sondern ein Mann der praktischen Tat gewesen.

Wobei wieder nicht vergessen werden darf, daß später Schweitzer den
Mann der „unfruchtbaren Abstraktion“, den „schriftstellerischen
Doktrinär“ Karl Marx, umschmeichelte und für sich zu gewinnen suchte.

Marx und Engels blieben die Antwort nicht schuldig. Unter dem 24.
Februar 1865 veröffentlichten sie folgende Erklärung:

„Die Unterzeichneten versprachen ihre Mitarbeit am ‚Sozialdemokrat‘ und gestatteten ihre Nennung als Mitarbeiter unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß das Blatt im Geiste des ihnen mitgeteilten kurzen Programms redigiert werde. Sie verkannten keinen Augenblick die schwierige Stellung des ‚Sozialdemokrat‘ und machten daher keine für den Meridian Berlin unpassenden Ansprüche. Sie forderten aber wiederholt, daß dem Ministerium und der feudalabsolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie gegenüber den Fortschrittlern. Die von dem ‚Sozialdemokrat‘ befolgte Taktik schließt unsere weitere Beteiligung an demselben aus. Die Ansicht der Unterzeichneten vom königlich preußischen Regierungssozialismus und von der richtigen Stellung der Arbeiterpartei zu solchem Blendwerk findet sich bereits ausführlich entwickelt in Nr. 73 der ‚Deutschen Brüsseler Zeitung‘ vom 12. September 1847, in Antwort auf Nr. 206 des damals in Köln erscheinenden ‚Rheinischen Beobachters‘, worin die Allianz des Proletariats und der Regierung gegen die liberale Bourgeosie vorgeschlagen war. Jedes Wort unserer damaligen Erklärung unterschreiben wir noch heute.“

Die Erklärung in der „Deutschen Brüsseler Zeitung“, auf die hier Marx und Engels sich bezogen, lautete:

„Wenn eine gewisse Fraktion deutscher Sozialisten fortwährend gegen die liberale Bourgeoisie gepoltert hat, und zwar in einer Weise, die niemandem Vorteil brachte als den deutschen Regierungen, wenn jetzt Regierungsblätter wie der ‚Rheinische Beobachter‘, auf die Phrasen dieser Leute gestützt, behaupten, nicht die liberale Bourgeoisie, sondern die Regierung repräsentiere die Interessen des Proletariats, so haben die Kommunisten weder mit der ersteren noch mit der letzteren etwas gemein….

Das Volk oder, um an die Stelle dieses weitsichtigen, schwankenden Ausdrucks den bestimmten zu setzen, das Proletariat räsoniert ganz anders, als man im geistlichen Ministerium sich träumen läßt. Das Proletariat fragt nicht, ob den Bourgeois das Volkswohl Nebensache oder Hauptsache sei, ob sie die Proletarier als Kanonenfutter gebrauchen werden oder nicht. Das Proletariat fragt nicht, was die Bourgeois bloß wollen, sondern was sie müssen. Es fragt, ob der jetzige politische Zustand, die Herrschaft der Bureaukratie, oder der von den Liberalen erstrebte, die Herrschaft der Bourgeoisie, ihm mehr Mittel bieten wird, seine eigenen Zwecke zu erreichen. Dazu hat es nur nötig, die politische Stellung des Proletariats in England, Frankreich und Amerika mit der in Deutschland zu vergleichen, um zu sehen, daß die Herrschaft der Bourgeoisie dem Proletariat nicht nur ganz neue Waffen zum Kampfe gegen die Bourgeoisie in die Hand gibt, sondern ihm auch eine ganz andere Stellung, eine Stellung als anerkannte Partei verschafft.

  Es heißt weiter: „Das Volk kann sich nicht für die ständischen
  Rechte
interessieren. Aber ein Landtag, der Geschworenengerichte,
  Gleichheit vor dem Gesetz, Aufhebung der Frondienste, Preßfreiheit,
  Assoziationsfreiheit und eine wirkliche Repräsentation verlangt, ein
  Landtag, der ein für allemal mit der Vergangenheit gebrochen und seine
  Forderungen nach den Bedürfnissen der Zeit eingerichtet hat statt nach
  alten Gesetzen, solch ein Landtag kann auf die kräftigste
  Unterstützung des Proletariats rechnen.

Am 4. März schlossen sich Georg Herwegh und Wilhelm Rüstow der Erklärung von Marx und Engels ausdrücklich an. Am 5. März erklärte Fr. Reusche in der „Rheinischen Zeitung“ seinen Rücktritt von der Mitarbeiterschaft am „Sozialdemokrat“, wobei er unter anderem bemerkte, er habe wiederholt die Redaktion aufgefordert, das Junkertum rücksichtslos zu bekämpfen. Rüstow habe Anfang Februar eine eingehende Kritik der Militärfrage an die Redaktion gesandt; aber trotz der wiederholten Anfragen von Rüstow und ihm erschienen weder diese noch ein von ihm eingesandter Artikel gegen den königlich preußischen Regierungssozialismus. Bald habe es geheißen, es sei kein Raum vorhanden, bald, man wolle warten, bis die Zeit geeignet wäre. Am 11. März erklärte Jean Philipp Becker in Genf im Hamburger „Nordstern“, dem Vorgehen von Marx und Engels sich anzuschließen. Liebknecht hatte sich gleichzeitig mit den letzteren von Schweitzer und dem „Sozialdemokrat“ losgesagt. Professor Wuttke in Leipzig gab zwar keine öffentliche Erklärung ab, stellte aber seine Mitarbeiterschaft am „Sozialdemokrat“ ein. Der einzige, der von dem ganzen Mitarbeiterstab einstweilen noch dem „Sozialdemokrat“ verblieb, war Moritz Heß in Paris. Er schied Ende 1866 aus. Eine zweite Erklärung von Marx und Engels, datiert London den 15. März und abgedruckt in der Berliner „Reform“ vom 19. März 1865, richtete sich gegen einen Artikel, den Schweitzer aus der „Neuen Frankfurter Zeitung“ im „Sozialdemokrat“ abgedruckt hatte, in dem nachgewiesen werden sollte, „wie inkonsequent und innerlich haltlos das Verfahren der Herren Marx und Engels dem ‚Sozialdemokrat‘ gegenüber ist“. Marx konstatiert: Schweitzer habe am 11. November 1864 ihm das Erscheinen des „Sozialdemokrat“ angezeigt und habe bei dieser Gelegenheit geschrieben:

„Wir haben uns an etwa sechs bis acht bewährte Mitglieder der Partei oder derselben wenigstens nahestehende Männer gewandt, um sie für die Mitarbeiterschaft zu gewinnen…. Allein für ungleich wichtiger halten wir es, daß Sie, der Begründer der deutschen Arbeiterpartei und ihr erster Verfechter, uns Ihre Mitwirkung angedeihen lassen. Wir hegen die Hoffnung, daß Sie einem Verein, der, wenn auch nur indirekt, auf Ihre eigene Wirksamkeit zurückzuführen ist, nach dem großen Verlust, der ihn betroffen, in seinem schweren Kampfe zur Seite stehen werden.“

In dem Prospekt habe der Name Lassalle nirgends gestanden. Der Prospekt habe nur drei Punkte enthalten: „Solidarität der Völkerinteressen“, „Das ganze gewaltige Deutschland — ein freier Volksstaat“, „Abschaffung der Kapitalherrschaft“. Daraufhin hätten er und Engels ihre Mitarbeit zugesagt…. Am 28. November habe Schweitzer ihm geschrieben, daß seine und Engels' Zusage in der Partei, soweit sie überhaupt eingeweiht sei, die freudigste Sensation hervorgerufen…. Marx erzählt weiter, wie er im Laufe des Januar gegen die Taktik Schweitzers im „Sozialdemokrat“ protestierte und daß, als trotz Schweitzers Beruhigungsschreiben die Taktik im Blatte dieselbe geblieben, er aufs neue protestiert habe, worauf Schweitzer ihm am 15. Februar folgendes geschrieben:

„Wenn Sie mir wie im letzten Schreiben über theoretische Fragen Aufklärung geben wollen, so würde ich solche Belehrung von Ihrer Seite dankbar entgegennehmen. Was aber die praktischen Fragen momentaner Taktik betrifft, so bitte ich Sie, zu bedenken, daß, um diese Dinge zu beurteilen, man im Mittelpunkt der Bewegung stehen muß. Sie tun uns daher unrecht, wenn Sie irgendwo und irgendwie Ihre Unzufriedenheit mit unserer Taktik aussprechen. Dies dürfen Sie nur dann tun, wenn Sie die Verhältnisse genau kennen. Auch vergessen Sie nicht, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ein konsolidierter Körper ist und bis zu einem gewissen Grade an seine Tradition gebunden bleibt. (Der Verein war damals kaum 22 Monate alt und hatte nur einige tausend Mitglieder. A.B.) Die Dinge in concreto schleppen eben immer irgend ein Fußgewicht mit sich herum.“

Es war also selbstverständlich, daß Marx, Engels und Genossen handeln mußten, wie sie gehandelt haben. Schweitzer scheint geglaubt zu haben, daß er seinen Mitarbeitern eine ähnliche Rolle zumuten dürfe, wie sie Lothar Bucher im Einverständnis mit Bismarck Marx im „Staatsanzeiger“ zugemutet hatte. Sie sollten Mitarbeiter sein, aber kein Recht haben, über die Taktik mitzusprechen, die mit dem Programm, auf Grund dessen sie ihre Mitarbeiterschaft zugesagt hatten, im schneidendsten Widerspruch stand. Schreibt so radikal wie möglich für Sozialismus und Kommunismus, je radikaler, desto besser; ihr seid dann die Flagge, unter der ich meine Konterbande decke. So ungefähr mochte Schweitzer räsonnieren. Es war daher eine Unverschämtheit, wenn er auf die Beschwerde von Marx und Engels über die Haltung des Blattes erklärte: sie im Ausland könnten die Dinge in Deutschland nicht beurteilen. Diese konnten aber selbst Personen durchaus richtig beurteilen, die den Marx und Engels nicht das Wasser reichten. Eines konnte man damals Bismarck nicht vorwerfen, daß er seine Politik verschleierte und mit verdeckten Karten spielte.

Bucher hat später, im Herbst 1878, als anläßlich des bevorstehenden
Sozialistengesetzes seine Einladung von Marx, für den „Staatsanzeiger“
zu schreiben, Gegenstand der öffentlichen Erörterung wurde, die Marxsche
Darlegung dieser Einladung bestritten. Darauf antwortete Marx in der
„Daily News“ unter anderem:

Der Brief, worin mich Herr Bucher für den „Staatsanzeiger“ zu kirren suchte, datiert vom 8. Oktober 1865. Es heißt darin unter anderem: „In betreff des Inhaltes versteht es sich von selbst, daß Sie nur Ihrer wissenschaftlichen Ueberzeugung folgen; jedoch wird die Rücksicht auf den Leserkreis — haute finance —, nicht auf die Redaktion, es ratsam machen, daß Sie den innersten Kern nur eben für den Sachverständigen durchscheinen lassen.“ Dagegen besagt die „Berichtigung“ des Herrn Bucher, daß er bei „Herrn Marx anfrug, ob er die gewünschten Artikel liefern wolle, indem es auf eine objektive Behandlung ankäme. Von des Herrn Marx ‚eigenem wissenschaftlichen Standpunkt‘ steht nichts in meinem Briefe.“

Ferner heißt's in dem Briefe Buchers:

„Der ‚Staatsanzeiger‘ wünscht monatlich einen Bericht über die Bewegungen des Geldmarktes (und natürlich auch des Warenmarktes, soweit beide nicht zu trennen). Ich wurde gefragt, ob ich nicht jemanden empfehlen könnte, und erwiderte, niemand würde das besser machen als Sie. Ich bin infolgedessen ersucht worden, mich an Sie zu wenden.“

Klassisch ist der Schluß der Bucherschen Einladung, die Marx in jener
Erklärung ebenfalls abdruckt:

„Der Fortschritt (er meinte die liberale oder Fortschrittsbourgeoisie) wird sich noch oft häuten, ehe er stirbt; wer also während seines Lebens noch innerhalb des Staates wirken will, der muß sich ralliieren um die Regierung.“

Das war also der Grund, der Bucher Bismarck in die Arme trieb und der ihn veranlaßte, bei anderen das gleiche zu versuchen.

Nach einer Erklärung, die Liebknecht am 24. März in der „Rheinischen Zeitung“ veröffentlichte, habe Schweitzer nach dem Tode Lassalles Marx zum Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vorgeschlagen. Marx habe abgelehnt, sich mit einer Bewegung zu identifizieren, deren Taktik er für grundverkehrt hielt, auch habe er keine Neigung gehabt, unter den obwaltenden politischen Zuständen nach Deutschland überzusiedeln. Schweitzer habe sich verpflichtet, daß das neue Blatt die Lassallesche Taktik nicht befolgen, jedes Kokettieren mit der Reaktion vermeiden sollte, unter dieser Bedingung, und nur unter dieser, habe er sich zur Mitarbeiterschaft bereit erklärt, vorausgesetzt, daß auch Marx und Engels sich beteiligen würden. Beide hätten sich schließlich nur mit dem größten Widerstreben dazu verstanden, und nur auf seine wiederholte Versicherung, daß er an die Loyalität Schweitzers — von dem er sehr schlimme Dinge gehört — glaube.

Die Politik des „Sozialdemokrat“ trug rasch die gewünschten Früchte. Bereits Anfang Februar 1865 hielt ein Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, Peter Rex, in Köln eine Rede, worin er sagte: ihm sei die jetzige Regierung lieber als ein Fortschrittsministerium. Der „Sozialdemokrat“ druckte ohne ein Wort der Kritik diese Aeußerungen ab. Am 12. März erklärte der Rheinisch-Westfälische Arbeitertag zu Barmen sich mit der Haltung des „Sozialdemokrat“ einverstanden, auch sei es durchaus zu billigen, die Vorschläge der preußischen Regierung, die bei verschiedenen Gelegenheiten die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen durch die Gesetzgebung versprochen habe, abzuwarten, bevor man über dieselbe aburteile, indem es keineswegs unmöglich sei, daß dieselbe das Dreiklassenwahlgesetz aufhebe und statt desselben das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, wie es das von Lassalle, dem Begründer der deutschen Arbeiterpartei, vorgezeichnete nächste Ziel der jetzigen deutschen Arbeiterbewegung sei, einführe.

Form und Inhalt dieser Resolution sprachen dafür, daß Schweitzer sie verfaßt hatte, auch empfahl der „Sozialdemokrat“, überall dieselbe zur Abstimmung zu bringen, ein Akt, der einem Vertrauensvotum für die preußische Regierung gleichkam.

Bereits begann aber auch die Opposition im Verein sich bemerkbar zu machen. In seiner Nr. 38 polemisierte der „Sozialdemokrat“ gegen die offenen Feinde und falschen Freunde, die Zwietracht in die Partei zu säen suchten. Und da die Opposition auch begann, gegen die diktatorischen Organisationsbestimmungen im Vereinsstatut zu polemisieren, so mußte die Organisation als das ureigenste Werk Lassalles mit einer Art Glorienschein umgeben werden. Der Lassallekultus wurde von jetzt ab systematisch gefördert und jeder als eine Art Schänder des Heiligsten gebrandmarkt, der andere Ansichten zu hegen wagte. Es waren namentlich die Worte im Lassalleschen Testament: „Dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein empfehle ich, den Frankfurter Bevollmächtigten, Bernhard Becker, zu meinem Nachfolger zu wählen. Er soll an der Organisation festhalten; sie wird den Arbeiterstand zum Siege führen“, die das Schibolet wurden, das den echten von dem falschen Lassalleaner unterschied. Und Schweitzer unterstützte diese allmählich ans Idiotenhafte grenzenden Anschauungen, die schließlich eine Art religiöser Glaubenssätze wurden. Kam es doch im Laufe der Jahre dahin, daß das Thema „Christus und Lassalle“ das Thema für die Tagesordnung zahlreicher Volksversammlungen wurde. F.W. Fritzsche erhielt sogar 1868 in Berlin eine Anklage wegen eines Vortrags über dieses Thema, in dem der Staatsanwalt eine Gotteslästerung erblickte. Fritzsche wurde nur freigesprochen, weil ihm der Dolus nicht nachgewiesen werden konnte.

Wie Schweitzer innerlich über dieses von ihm geförderte Treiben dachte, bedarf keiner Auseinandersetzung.

In einem merkwürdigen Gegensatz zu den Bismarckartikeln veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ in seiner Nr. 43 vom 5. April 1865 eine Schlußbetrachtung über die österreichischen Staatsverhältnisse, worin es hieß:

  „Die Deutsche Volkspartei ist, wie in allem, so auch in der deutschen
  Einheitssache radikal, das heißt sie will die ganze und ausnahmslose
  Verwirklichung der als gut und richtig erkannten Idee.

  Die Deutsche Volkspartei also will das ganze Deutschland zum freien
  Volksstaat vereinen.

  Das ganze Deutschland! sagen wir. Nicht ein Dorf, nicht ein
  Meierhof, nicht die kleinste Hütte im fernsten Winkel darf uns fehlen!

Der kleindeutsche Gedanke eines ‚einigen Deutschland‘ ohne die deutsch-österreichischen Provinzen ist ein Hochverrat an der Nation und ihrer Zukunft. (Auch im Text gesperrt gedruckt.)

Ein einiges Deutschland — bedingungslos, ausnahmslos!

Das war eine der Doppelzüngigkeiten, womit Schweitzer bezweckte, die Opposition zum Schweigen zu bringen, die sich anläßlich der Bismarckartikel innerhalb und außerhalb des Vereins geltend machte. Er sah, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Ein solches Manöver wiederholte er regelmäßig, sobald er wegen seines Verhaltens öffentlich Angriffen ausgesetzt war. Alsdann warf er sich wieder auf die linke Seite und schrieb mit einem Radikalismus, der nichts zu wünschen übrig ließ. Er konnte so, aber auch anders.

Und er nicht allein, auch der eine und der andere seiner Anhänger. In derselben Nummer des „Sozialdemokrat“, in der der oben zitierte Artikel über Oesterreich stand, veröffentlichte Tölcke einen spaltenlangen Bericht über eine Königsgeburtstagsfeier, welche die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Iserlohn veranstaltet hatten und in der Tölcke ein Hoch auf den König von Preußen ausgebracht hatte. In diesem Toast führte Tölcke aus, der Wille, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein vernichten zu wollen — wie das der Iserlohner Bürgermeister durch maßlos brutale Unterdrückungsmaßregeln versucht hatte — sei vergeblich.

„Das gelingt nimmermehr, weil das preußische Ministerium den Bestrebungen des Vereins, mehr aus volkswirtschaftlichen als aus politischen Beweggründen, augenscheinlich die große Aufmerksamkeit schenkt — es gelingt endlich nimmermehr, weil Seine Majestät unser allverehrter König der Freund der Arbeiter ist.“

Auf Tölckes Betreiben hatte man sogar den König durch eine telegraphische Depesche zum Geburtstag beglückwünscht, worauf folgende Antwort eingegangen war:

  „Dem Arbeiterverein Iserlohn. Seine Majestät dankt bestens für Ihre
  Glückwünsche. Im allerhöchsten Auftrag: Strubberg, Oberstleutnant und
  Flügeladjutant.“

Die Verlesung dieser Depesche wurde, wie Tölcke weiter berichtete, mit einem gewaltigen Hoch auf Seine Majestät aufgenommen. Im Festsaal war ein Transparent angebracht: der preußische Adler stehend auf verschlungenen Eichen- und Lorbeerzweigen, und darüber die Inschrift: Heil dem Könige, dem Beschützer der Bedrängten!… Weithin schallten patriotische Lieder. Ein Kriegerverein konnte nicht patriotischer handeln.

Schweitzer druckte den spaltenlangen Bericht Tölckes im „Sozialdemokrat“ ab, ohne ein Wort des Tadels oder der Unzufriedenheit hinzuzufügen. Tölcke handelte eben in den Intentionen Schweitzers. Das hinderte ihn aber nicht, im „Sozialdemokrat“ vom 20. September 1865 bei Besprechung einer Depesche Lord Russells, worin dieser den Gasteiner Vertrag zwischen Preußen und Oesterreich aufs schärfste verurteilte, zu sagen: Was geht uns der Gasteiner Vertrag an?… Es ist nur eine Angelegenheit der preußischen Regierung, deren Politik im offensten und entschiedensten Widerspruch zum Willen des Volkes in Preußen steht. Und gegen die „Kreuzzeitung“ gewendet, die dem Volke mit dem Ausland drohte, das sich in deutsche Angelegenheiten mischen werde, antwortete er: Nicht in Frankreich, in Deutschland sitzen die Erbfeinde deutscher Nation. Wen er darunter meinte, das überließ er dem Leser, sich zurechtzulegen. Wie konnte der Arbeiter von damals in dieser Zweideutigkeit und Doppelzüngigkeit sich zurechtfinden? Er hatte nur das eine Gefühl, daß der Mann, der alles das schrieb, geistig turmhoch über ihm stand und er darum ihm folgen müsse.

Die Verbreitung, die damals der „Sozialdemokrat“ besaß, war eine sehr geringe. Er hatte nur einige hundert Abonnenten. Das Blatt erforderte also sehr erhebliche Zuschüsse, und es konnte gar keine Rede davon sein, daß es seinen Redakteuren auch nur einen Pfennig Gehalt abwarf, obgleich beide darauf angewiesen waren. Um so mehr mußte auffallen, daß bei einem solch elenden finanziellen Stand dasselbe vom 1. Juli 1865 ab sogar täglich erschien, also sein Defizit fast verdoppelte, ohne jede Aussicht, in absehbarer Zeit einen Abonnentenzuwachs zu erlangen, der auch nur einen nennenswerten Teil der Kosten deckte. Die Frage war also sehr natürlich: wo kommt das Geld her? denn ohne daß erhebliche Zuschüsse von irgend einer Seite in Aussicht standen, war der Plan, das Blatt täglich erscheinen zu lassen, der Plan von Irrenhäuslern.

Der Verein hatte kein Bedürfnis nach einer solchen Vergrößerung des Blattes, wohl aber die konservative Presse, welche die scharfen Angriffe, die der „Sozialdemokrat“ unausgesetzt gegen die Fortschrittspartei und ihre Politik führte, mit Behagen weiter verbreitete und die liberale Presse zwang, dem „Sozialdemokrat“ ebenfalls größere Beachtung zu schenken. Auf diese Weise erlangte das Blatt eine Bedeutung, die ganz außer Verhältnis zu seiner Verbreitung stand. Die Frage: woher kommt das Geld? wurde auch für die liberale Presse aktuell, und so sahen sich Schweitzer und Hofstetten genötigt, in der Nr. 77 des „Sozialdemokrat“ vom 28. Juni 1865 eine Erklärung gegen die „Rheinische Zeitung“ zu veröffentlichen, die in ihrer Nr. 139 erklärt hatte: Der „Sozialdemokrat“ stehe in nahen Beziehungen zu Bismarck, und in ihrer Nr. 139 weiter die Beschuldigung aussprach, dem „Sozialdemokrat“ flössen aus hochkonservativen Kreisen die Mittel zu, um statt dreimal wöchentlich täglich zu erscheinen. Die Erklärung Schweitzers und Hofstettens gegen die „Rheinische Zeitung“ lautete:

„In diesen beiden Stellen hat die Redaktion der ‚Rheinischen Zeitung‘, obwohl mit einiger Vorsicht (? A.B.) und in etwas gewundenen Phrasen (? A.B.), so doch im ganzen ziemlich unzweideutig uns, die Redakteure des ‚Sozialdemokrat‘, der schmählichsten und erbärmlichsten Haltung beschuldigt, die überhaupt in der Politik möglich ist: daß nämlich wir, die berufen sind, die sozialdemokratische Partei in der Presse zu vertreten, uns an eine entgegenstehende Partei oder politische Macht verkauft hätten.

Wenn die Redaktion der ‚Rheinischen Zeitung‘ nicht sofort nach Kenntnisnahme dieser Erklärung ihre Verleumdung widerruft, werden wir gegen dieselbe, weiteres uns übrigens vorbehaltend, bei dem zuständigen Gericht Klage erheben.

Darauf antwortete die Redaktion der „Rheinischen Zeitung“ bereits am folgenden Tage, den 29. Juni:

  _„An die Redaktion des ‚Sozialdemokrat‘, zu Händen des Herrn v.
  Schweitzer, Berlin.

Die Redaktion der ‚Rheinischen Zeitung‘ sieht sich angesichts der ihr zugesandten Erklärung nicht veranlaßt, irgend etwas zu widerrufen, und überläßt es der Redaktion des ‚Sozialdemokrat‘, die angedrohte Klage zu erheben.“_

Darauf antwortete Schweitzer:

„Demgemäß wird also die in Aussicht gestellte Klage stattfinden.“

Diese Klage fand aber nicht statt, Schweitzer ließ die schweren Beschuldigungen gleich anderen, die ihm schon gemacht worden waren, auf sich sitzen. Das besagt genug.

Um diese Zeit und noch Jahre nachher machte sich ein Individuum in den Berliner Arbeiterkreisen sehr bemerklich, das im Verdacht stand, im Dienste der Regierung zu stehen. Es war dies der angebliche Arbeiter Preuß. Tatsächlich war dieser für ein Gehalt von 50 Taler monatlich angestellt, und zwar stand er im direkten Dienst des Geheimen Regierungsrats Wagener. Nebenher lieferte Preuß für eine Anzahl Blätter die Polizeinachrichten, die ihm eine Extraeinnahme brachten. Preuß war es auch, der Liebknechts Anwesenheit in Berlin, Herbst 1866, wegen Bannbruchs der Polizei denunzierte, worauf dieser, wie ich schon im ersten Teil dieser Arbeit erzählte, zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Preuß besuchte mit Vorliebe die Versammlungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, in denen er auch öfter sprach. Liebknecht und andere unserer damaligen Berliner Parteifreunde behaupteten mit Bestimmtheit, daß er den Mittelsmann zwischen Schweitzer und Wagener abgebe, doch hatte Schweitzer wohl direktere Beziehungen zu Wagener.

Letzterer, der Geriebene, mit allen Wassern Gewaschene, war, wie allbekannt, die rechte Hand Bismarcks in allen sozialpolitischen Angelegenheiten, zugleich war er vortragender Rat und stand so in engster täglicher Beziehung zu Bismarck und dem König. Die Kette Schweitzer-Wagener-Bismarck war also ohne ein weiteres Verbindungsglied geschlossen, was für alle Teile sehr wichtig war. Daß Schweitzer je mit Bismarck persönlich verkehrte, betrachte ich als vollkommen ausgeschlossen. Schweitzer war kein Lassalle. Unvergeßlich bleibt mir, wie Bismarck eines Tages im Reichstag den Neugierigen spielte und mit der Lorgnette vor den Augen den auf die Tribüne zuschreitenden Schweitzer vom Scheitel bis zu den Zehen maß, als wollte er sagen: also du bist der, der mir an den Rockschößen hängt?

Am Molkenmarkt mußte man die Beziehungen Schweitzers zu Wagener und höher hinauf kennen. Daher kam es wohl, daß, wenn der „Doktor“, wie Schweitzer dort kurz und vertraulich genannt wurde, seine öfteren Besuche auf dem Präsidium machte, die Beamten und Offiziere ihn sehr entgegenkommend behandelten, wie das der undankbare Tölcke nach einer Reihe Jahre, als er mit Schweitzer gebrochen hatte, zugestand. Das Berliner Polizeipräsidium hatte offenbar ein lebhaftes Interesse, auf Grund seiner wenig sagenden Akten Schweitzer zu rehabilitieren und damit auch Wagener und Bismarck weiß zu waschen. Aus diesem Grunde geschah es wohl, daß, als Dr. Gustav Mayer sein Werk „Johann Baptist v. Schweitzer und die Sozialdemokratie“ schrieb (bei Gustav Fischer in Jena erschienen), ihm das Berliner Polizeipräsidium bereitwilligst Einsicht in seine Geheimakten über Schweitzer nehmen ließ. Schon fünfzehn Jahre früher wurde Genosse Franz Mehring, als er seine Geschichte der deutschen Sozialdemokratie verfaßte, vom Polizeipräsidium dieselbe Offerte gemacht, die Mehring aber ablehnte.

* * * * *

Die Gräfin Hatzfeldt, der die Unterstützung der Bismarckschen Politik durch Schweitzer noch nicht weit genug ging, hatte eine Rechtfertigung dieser Politik schon gegen Ende 1864 in einem Briefe an die Frau Herweghs versucht, in dem sie schrieb:

„Es liegt ein förmlicher Abîme (Abgrund) zwischen folgenden zwei Sachen: sich an einen Gegner zu verkaufen, für ihn arbeiten, verdeckt oder unverdeckt, oder wie ein großer Politiker den Augenblick zu erfassen, um von den Fehlern des Gegners zu profitieren, einen Feind durch den anderen aufreiben zu lassen, ihn auf eine abschüssige Bahn zu drängen und die dem Zwecke günstige Konjunktur, sie möge hervorgebracht werden von wem sie wolle, zu benutzen. Die bloßen ehrlichen Gesinnungen, diejenigen, die sich immer nur auf den idealen, in der Luft schwebenden Standpunkt der zukünftigen Dinge stellen und darauf nur das momentane Handeln bestimmen, mögen privatim als recht brave Menschen gelten, aber sie sind zu nichts zu brauchen, zu Handlungen, die auf die Ereignisse wirklich einwirken, ganz unfähig, kurz, sie können nur in der großen Masse dem Führer folgen, der besser weiß.“

Die Frau Gräfin hatte sich hier ein Programm zurechtgelegt, das selbst einen Lassalle zum Scheitern gebracht hätte, weil vor allen Dingen die Macht, die dazu gehörte, in der von ihr geschilderten Weise zu politisieren, fehlte. Lassalle wäre, das ist meine Ueberzeugung, wenn es zum Kirschenessen mit Bismarck gekommen wäre, gehörig hereingefallen; sein Spiel hätte mit einer gewaltigen Blamage geendet. Zu glauben, ein Bismarck konnte oder wollte der Sozialdemokratie, also dem Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft, ernsthafte Konzessionen machen, er, dem doch allein daran liegen mußte, mit der modernen Macht des Kapitalismus sich zu verständigen und der zu diesem Zwecke die Sozialdemokratie allenfalls als Mittel benutzte, hätte von einer Verblendung gezeugt, die alles andere, nur nicht Realpolitik gewesen wäre. Auch ist die Sozialdemokratie keine Schafherde, die gedankenlos hinter dem Führer trottet und sich beliebig führen und nasführen läßt. Das mochte die Gräfin Hatzfeldt zu ihrer Zeit und in der Atmosphäre, in der sie lebte, noch glauben, aber eine sozialdemokratische Politik ist auf die Dauer nicht ohne die bewußte Mitwirkung der Massen und das Betreten ehrlicher, gerader Wege möglich. Die Massen lassen sich auf diplomatische Finessen nicht ein; der Führer, der anders rechnet, wird bald erkennen, daß er sich verrechnet hat.

Der Sommer 1865 bot Schweitzer Gelegenheit, sich wieder als Radikaler aufzuspielen, womit er die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in den Hintergrund zu drängen hoffen durfte. Es war das ebenfalls schon von mir im ersten Bande erwähnte Abgeordnetenfest in Köln, dem gegenüber Bismarck den Gewaltmenschen spielte. Schweitzer mit seinem gewohnten großen Geschick wendete sich in einer Reihe Artikel im „Sozialdemokrat“ gegen die Regierung. Und wenn er darin der Fortschrittspartei wegen ihres feigen Verhaltens in der Kölner Angelegenheit übel mitspielte, so forderte er auch mit Nachdruck ein völlig freies Vereins- und Versammlungsrecht für Preußen. Trotz seiner eminenten journalistischen Gewandtheit schrieb er jetzt mit einer Schärfe, daß der „Sozialdemokrat“ eine längere Reihe von Tagen täglich konfisziert wurde. Diese oppositionelle Haltung übertrug er auch auf die Kritik an der auswärtigen Politik, als Bismarck im Oktober zu Napoleon nach Biarritz reiste, um dessen Zustimmung zu seiner „nationalen“ Politik zu erlangen, Verhandlungen, bei denen, wie sich nach 1866 erwies, Napoleon der Geprellte war. Gegen Schweitzer erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen verschiedener Preßvergehen. Auch reizte die Opposition des „Sozialdemokrat“ die Staatsanwaltschaft noch zu weiterer Verfolgung. So wurden durch Gerichtsbeschluß in Berlin und Magdeburg die Mitgliedschaften des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unterdrückt, weil sie als selbständige politische Vereine anzusehen seien, die nach dem § 8 des preußischen Vereins- und Versammlungsgesetzes nicht miteinander in Verbindung stehen durften.

Diese Verfolgungen verhinderten aber nicht, daß im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Schweitzer mit einer starken Opposition zu kämpfen hatte, wobei die Gräfin Hatzfeldt tapfer schürte, weil er dieser nicht den verlangten Einfluß auf den Verein und seine Politik einräumte. Es begann ein wahres Tohuwabohu im Verein, es war der Kampf um die Macht. Lassalle hatte kurz vor seinem Tode Schweitzer zum Vorstandsmitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ernannt. Die Generalversammlung in Düsseldorf ließ ihn aber für diesen Posten durchfallen. Bernhard Becker war ebenfalls mit Schweitzer zerfallen und versuchte einen Haupttrumpf gegen ihn auszuspielen, indem er die Generalversammlung des Vereins nach Frankfurt a.M. einberief, den Ort, der Schweitzer nach seiner Vergangenheit der allerunangenehmste sein mußte. Indes war die Opposition auch gegen den unfähigen Becker so stark, daß dieser kurz vor der Frankfurter Generalversammlung sein Amt niederlegte, worauf Tölcke als sein Nachfolger gewählt wurde. Bis aber dessen Wahl durch die Urabstimmung in den Mitgliedschaften bestätigt war, sollte Hillmann-Elberfeld, der wieder Fritzsche als Vizepräsident ersetzt hatte, die Leitung des Vereins übernehmen. Hillmann, der zu den entschiedensten Gegnern Schweitzers gehörte, benutzte jetzt seine Stellung, um den zwischen Becker und Schweitzer abgeschlossenen Vertrag, wonach der „Sozialdemokrat“ offizielles Vereinsorgan war, für null und nichtig zu erklären und ihm das Recht, sich Vereinsorgan zu nennen, zu entziehen. Schweitzer und Hofstetten bezeichneten von da ab das Blatt als „Organ der sozialdemokratischen Partei“.

Mittlerweile war Schweitzer ins Gefängnis gewandert. Er war am 24. November wegen verschiedener Preßvergehen, darunter Majestätsbeleidigung und Schmähung obrigkeitlicher Anordnungen, zu einem Jahre Gefängnis verurteilt worden. Später bekam er noch vier Monate dazu, auch wurden ihm jetzt die Ehrenrechte aberkannt. Seine Verhaftung erfolgte kurz nach seiner ersten Verurteilung. Schweitzers journalistische Tätigkeit wurde aber durch die Haft in keiner Weise unterbrochen, wie er denn im Gefängnis ein Maß von Freiheiten genoß, das weder bis dahin noch später einem in Berlin zu Gefängnis verurteilten politischen Gefangenen zuteil wurde. Er traf alle Anordnungen sowohl als Redakteur wie später als Präsident des Vereins aus dem Gefängnis. Seine Korrespondenz war unbeschränkt, Besuche empfing er häufig. Als er 1869 eine mehrmonatige Gefängnisstrafe in Rummelsburg verbüßte, konnte er sich sogar dem Vergnügen des Kahnfahrens auf dem Rummelsburger See widmen. Selbstbeköstigung war ihm ebenfalls gestattet, die in den Berliner Gefängnissen für politische Gefangene erst in sehr viel späterer Zeit, zu Ende des vorigen Jahrhunderts, erlangt wurde.

Man hat geltend gemacht, daß die verschiedenen Gefängnisstrafen ein Beweis gegen die Anklage seien, Schweitzer wäre Bismarckscher Agent gewesen. Diese Auffassung ist durchaus falsch. Die Beziehungen, die eine Regierung zu ihren politischen Agenten zu haben pflegt, bindet sie nicht den Staatsanwälten und Richtern auf die Nase. Eine zeitweilige Verurteilung eines politischen Agenten wegen oppositioneller Handlungen ist auch sehr geeignet, Mißtrauen gegen den Betreffenden zu beseitigen und das Vertrauen in ihn zu stärken. Bekanntlich haben auch die Berliner Gerichte zu derselben Zeit, in der Lassalle mit Bismarck seine stundenlangen politischen Unterhaltungen als „angenehmer Gutsnachbar“ hatte, sich nicht gescheut, ihn zu einer Reihe harter Gefängnisstrafen zu verurteilen, obgleich man damals in weiten Kreisen wußte, wie Bismarck und Lassalle zueinander standen. Lastete doch der Gedanke schwer auf Lassalle, wie er bei seinem Gesundheitszustand die langen Haftstrafen überstehen werde.

In den Monaten, welche der Kriegsentscheidung im Juni 1866 vorausgingen, arbeitete der „Sozialdemokrat“ weiter zugunsten der Bismarckschen Politik, und zwar wie auch früher mit raffiniertem Geschick. Es mußten schon geübte Augen und ein scharfer Verstand sein, um aus all den Verklausulierungen und Widersprüchen herauszuschälen, daß er eine unehrliche Politik betrieb.

Gegen Ende März 1866, also während er im Gefängnis sitzt, wird er im
„Sozialdemokrat“ deutlicher: „Die Zerstörung der Bundesleiche zu
Frankfurt sollte die Auflösung der Nation bedeuten. Die Geburt der
Nation würde von diesem Tage an datieren.“ Einer seiner Hamburger
Anhänger, Schallmeier, erklärte im „Sozialdemokrat“, die Arbeiter würden
für den Krieg sein, gebe man denselben das allgemeine Wahlrecht.
Gleichzeitig erhebt der „Sozialdemokrat“ unausgesetzt heftige
Angriffe gegen die Fortschrittspartei, den Nationalverein, den
Sechsunddreißiger-Ausschuß. Daneben erschienen wieder einige Artikel,
worin ein Buch Rüstows über das Milizsystem günstig besprochen und das
Milizheer als eine Einrichtung gepriesen wird, die am billigten die
meisten Streiter liefere.

Im März noch hatte der „Sozialdemokrat“ den preußischen Bundesreformentwurf mit Geringschätzung behandelt, er werde „schätzbares Material“ bleiben. In der zweiten Hälfte April tritt er entschieden für die preußische Bundesreform ein. Jetzt war keine Rede mehr von den früheren Versicherungen, dem neuen Deutschen Reiche dürfe kein Dorf, nicht der letzte Weiler fehlen. Er hatte auch vergessen, daß er noch in der zweiten Hälfte September 1865 geschrieben: Unser köstliches Kleinod ist, daß wir kein Oesterreich und kein Preußen, kein Bayern und kein Hessen-Homburg, daß wir nur ein Deutschland kennen, ein deutsches Volk und eine deutsche Sprache.

In einer Artikelserie: Habsburg, Hohenzollern und die deutsche
Demokratie, die Ende April erschien, spricht er sich schließlich für die
Vernichtung Oesterreichs aus; es müsse reduziert werden auf die 12900000
Einwohner, die zum Bunde gehörten. Dann sei Deutschland konstituiert,
das heißt dann hat Preußen das Feld.

Auf ein wiederholtes Gesuch wurde Schweitzer am 9. Mai 1866 angeblich wegen gefährdeter Gesundheit aus dem Gefängnis beurlaubt. Dagegen wäre nichts einzuwenden gewesen, entsprach der Grund des Urlaubs der Wahrheit. Dieser Grund erwies sich aber als eine Lüge. Kaum aus dem Gefängnis beurlaubt, entwickelte Schweitzer eine umfassende politische Tätigkeit, die nicht nur bewies, daß die Ruhe des Gefängnisses ihm wieder eine gute Gesundheit verschafft hatte, sondern daß auch die maßgebenden Behörden gegen seine politische Tätigkeit nichts einzuwenden hatten, obgleich sonst die Behörden bei Beurlaubungen politischer Gefangener die selbstverständliche Forderung stellen, daß der Beurlaubte nicht eine Tätigkeit betreibe, wegen der er in Strafe genommen worden ist.

Am 21. Mai erscheint Schweitzer in Hamburg, um dort „Ordnung zu schaffen“, am 11. Juni in Erfurt und am 18. Juni in Leipzig, woselbst er in einer Rede für die Bismarcksche Bundesreform eintritt. Dieses Eintreten hatte aber nicht verhindert, daß am 18. Mai der „Sozialdemokrat“ in einem Leitartikel sagte: Von einem liberalen Preußen sprechen die Gothaer, das an die Spitze Deutschlands zu treten habe, aber das hieße in Wahrheit sprechen: von einem Preußen, das nicht existiert und nicht existieren kann.

Und dieser positiven durchaus richtigen Auffassung über das Wesen
Preußens gegenüber sagt Schweitzer am 16. Juni in Leipzig in einem
Vortrag „Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der sozialdemokratischen
Partei Deutschlands“ am Schlusse:

„Wenn es aber gelingt, die preußische Regierung weiterzutreiben auf dem Wege der Konzessionen an uns (sic! A.B.)…, dann werden wir soviel wir können das Unsere tun, daß der Sieg nicht bei den Fahnen Oesterreichs, sondern bei den Fahnen Preußens, nicht bei den Fahnen Benedeks, sondern bei den Fahnen Bismarcks und Garibaldis sei.“

Kann man widerspruchsvoller handeln?

Diese Auslassungen sind als Programmsätze Schweitzers sehr bemerkenswert, und sie fanden wohl an hoher Stelle in Berlin ihr Echo. Was aber das Antreiben der preußischen Regierung zu Konzessionen an uns (also an den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein) betraf, so war, ganz abgesehen von dem Utopismus, auf Bismarcksche Konzessionen zu hoffen — woran Schweitzer auch selbstverständlich nicht glaubte — das ganze Gerede eine Aufschneiderei, denn Schweitzer selbst hatte zuletzt noch am 3. Juni, vierzehn Tage vor seiner Leipziger Rede, im „Sozialdemokrat“ geschrieben: daß die Wirren im Verein bis auf weiteres denselben unfähig machten, in sozialpolitischen Dingen irgend etwas zu leisten.

Diesem Gedanken hatte er auch schon wiederholt vor dem 3. Juni im
„Sozialdemokrat“ Ausdruck gegeben, wie denn in der Tat die Wirren im
Verein, an denen Schweitzer sein vollgerüttelt Maß der Schuld trug, bis
in das Jahr 1867 hinein denselben in Zerrüttung hielten.

In seltsamem Widerspruch zu diesen wiederholten Erklärungen Schweitzers steht es, wenn noch in unseren Tagen die Behauptung aufgestellt wurde, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein habe zu jener Zeit einen merkbaren Einfluß auf die Neugestaltung der Dinge ausgeübt, zum Beispiel bei Erlangung des allgemeinen Wahlrechts. Bei dem Widerstand, den das Bismarcksche Reformprojekt in den weitesten Kreisen fand, mußte Bismarck allerdings jede Unterstützung, war sie auch noch so unbedeutend, für sein Projekt willkommen sein. Daß er das allgemeine Wahlrecht gewährte, geschah, weil er es gewähren mußte. Das war so selbstverständlich, daß es dazu keiner Einflüsterungen und Anfeuerungen bedurfte. Hatte er doch bereits Sommer 1863, also zu einer Zeit, in der der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein eben erst gegründet worden war, gegenüber dem österreichischen Reformentwurf, der das deutsche Parlament aus Delegationen der einzelstaatlichen Landtage zusammensetzen wollte, ein Parlament gefordert, das auf Grund des in der Paulskirche 1849 beschlossenen allgemeinen Wahlrechtes gewählt werden sollte. Bismarck hat die Gründe, weshalb er zu demselben griff und greifen mußte, nicht bloß später im norddeutschen Reichstag auseinandergesetzt; er schrieb auch in einer Zirkulardepesche am 24. März 1866, also drei Monate vor dem Krieg:

„Direkte Wahlen und allgemeines Stimmrecht halte ich für größere Bürgschaften einer konservativen Haltung als irgend ein künstliches, auf Erzielung gemachter Majoritäten berechnetes Wahlgesetz. Nach unseren Erfahrungen sind die Massen ehrlicher bei der Erhaltung staatlicher Ordnung interessiert als die Führer derjenigen Massen, die man durch die Einführung irgendeines Zensus in der aktiven Wahlberechtigung privilegieren möchte.“

Und an den Grafen Bernsdorf in London schrieb Bismarck unter dem 19.
April 1866:

„Ich darf es wohl als eine auf langer Erfahrung begründete Ueberzeugung aussprechen, daß das künstliche System indirekter und Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der höchsten Gewalt mit den gesunden Elementen, die den Kern und die Masse des Volkes bilden, verhindert…. Die Träger der Revolution sind die Wahlmännerkollegien, die der Umsturzpartei ein über das Land verbreitetes und leicht zu handhabendes Netz gewähren, wie dies 1789 die Pariser Elekteurs gezeigt haben. Ich stehe nicht an, indirekte Wahlen für eines der wesentlichsten Hilfsmittel der Revolution zu erklären, und ich glaube, in diesen Dingen praktisch einige Erfahrungen gesammelt zu haben.“

Zu diesen Gründen, die deutlich das Unbehagen verraten, das die bisherigen Resultate der Wahlen nach dem Dreiklassenwahlsystem in Preußen bei ihm erzeugten, kommen noch als besonders entscheidende, daß in dem Staatenkonglomerat, das der später neugebackene Norddeutsche Bund bildete, es keine gemeinsame Grundlage gab, auf der ein anderes Wahlrecht als das allgemeine möglich war. Ferner gebot die Rücksicht auf die Traditionen des ersten deutschen Parlaments in Frankfurt 1848/49, daß er das allgemeine Wahlrecht einführte, das allein die starken Antipathien, die gegen die Gründung des Norddeutschen Bundes selbst in weiten Kreisen der norddeutschen Bevölkerung vorhanden waren, einigermaßen überwinden konnte. Es muß weiter hinzugefügt und wiederholt daran erinnert werden, daß in jenen Jahren der Gedanke, das allgemeine Wahlrecht einzuführen, selbst in konservativen Kreisen im Hinblick auf die Resultate des Dreiklassenwahlsystems sympathisch aufgenommen wurde und der Geheime Regierungsrat Wagener schon im Spätsommer 1862, also ehe noch Lassalle öffentlich diese Forderung erhoben hatte, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts befürwortete. Auch hatten schon zu Anfang 1862 die radikalen Leipziger Arbeiter diese Forderung gestellt, und seit 1865 war es eine Programmforderung der gesamten deutschen Arbeiterklasse ohne Unterschied der Partei. Im Winter 1865/66 wurde diese Forderung in unzähligen Volksversammlungen propagiert, noch ehe jemand an den Bismarckschen Reformentwurf denken konnte, weil er für die Oeffentlichkeit noch nicht existierte. Es war also nach Lage der Dinge unmöglich, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein als solcher merkbaren Einfluß auf die Gewährung des allgemeinen Stimmrechts ausgeübt hat.

Bismarck hatte am 9. Mai den Landtag nach Hause geschickt, weil er fürchtete, daß er ihm, wie bei Gelegenheit der Schleswig-Holsteinschen Frage, die Mittel zum Kriegführen verweigern werde. Bismarck brauchte aber Geld, und so gab er auf dem Verordnungswege, also ohne alles gesetzliche Recht, 40 Millionen Taler Kassenscheine aus und ordnete die Errichtung von Darlehenskassen an. Die gesamte liberale und demokratische Presse spie mit Recht Feuer und Flamme über diese gesetzwidrige Handlung, aber Schweitzer brachte es fertig, unter sehr deplacierten Angriffen auf die Fortschrittspartei die Handlung Bismarcks zu verteidigen. Als dann Bismarck nach dem Kriege die Gründung eines Staatsschatzes, der mit 20 Millionen Taler dotiert werden sollte, verlangte, um ausgesprochenermaßen im Kriegsfall zunächst von einer Geldbewilligung der Kammer unabhängig zu sein, führte Schweitzer wieder eine Menge Gründe zugunsten desselben an, wagte aber nicht, sich rückhaltlos für den Plan auszusprechen.

Der „Sozialdemokrat“ mußte mit dem 1. April 1866 sein sechsmaliges Erscheinen einstellen; er erschien wieder nur dreimal wöchentlich. Es mochte niemand mehr ein Bedürfnis haben, angesichts der kommenden kriegerischen Ereignisse weiter schwere Opfer für ein sechsmaliges Erscheinen zu tragen. Denn er besaß noch keine 500 Abonnenten. Am 17. Juni fand eine Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Leipzig statt, die nur von 12 Delegierten besucht war, was zeigt, wie gering damals die Leistungsfähigkeit des Vereins war. Angeblich sollten diese 12 Delegierten, unter denen sich auch Schweitzer befand, 9400 Mitglieder vertreten. Bei der Präsidentenwahl unterlag Hillmann-Elberfeld gegenüber Perl-Hamburg, das war ein indirekter Sieg Schweitzers. Im „Sozialdemokrat“ wiederholte sich jetzt das Spiel, das man nach seiner Leipziger Rede erwarten mußte. Als Oesterreich während der Waffenstillstandsverhandlungen Venetien an Napoleon übergab, um es nicht an das verhaßte Italien abtreten zu müssen, entdeckte Schweitzer hierin, gleich der liberalen Presse, einen Verrat Oesterreichs an Deutschland, und ging nun, diesen Vorwand benutzend, mit fliegenden Fahnen in das Lager Preußens, dessen „staunenswerte organisatorische Kraft“ gezeigt, daß Deutschland zu ihm zu stehen habe. Von diesem seinem Standpunkt aus war es ihm außerordentlich peinlich, als Ende August Johann Jacoby anläßlich der Beratung einer Adresse an den König eine vorzügliche Rede im preußischen Landtag hielt, in der er sich entschieden gegen das neue Gebilde, den Norddeutschen Bund, aussprach, der die Ausschließung Deutsch-Oesterreichs und der süddeutschen Staaten zur Voraussetzung gehabt habe. Im weiteren erklärte sich Jacoby gegen die Indemnität, die jetzt die Regierung für ihre gesetzwidrigen Maßnahmen vor und während des Krieges von dem Landtag forderte. Schweitzer zollte zwar dem Mute und dem Idealismus Jacobys volles Lob, rechtfertigte aber durch gewundene Ausführungen den neuen Stand der Dinge. Als dann am 20. September die allgemeine Amnestie erschien, war niemand vorhanden, der dieselbe mehr verdient hätte als er für die Dienste, die er vom 9. Mai ab für die Regierung geleistet hatte; sie brachte ihm den Nachlaß von zehn Monaten seiner Haft.

Ende August 1866 machte der „Sozialdemokrat“ in der Anwandlung einer melancholischen Stimmung das Geständnis: „So habe sich das deutsche Volk die deutsche Einheit nicht vorgestellt.“ Was damals über den Entwurf zur künftigen Nordbundsverfassung verlautete, war allerdings zum Melancholischwerden. Bismarck, der wirkliche Realpolitiker, der jetzt im Zenith seiner Macht stand, schmiedete das Eisen, solange es warm war, und schuf einen Verfassungsentwurf, der noch ein gut Stück hinter der preußischen Verfassung an konstitutionellen Rechten zurückstand. Es hieße den Scharfsinn Schweitzers beleidigen, wollte man annehmen, daß er ernstlich darüber enttäuscht war. Wer wie er das Wesen des jetzt alles beherrschenden preußischen Staates und auch das Wesen und den Charakter Bismarcks kannte, konnte nichts anderes erwarten. Aber wie wollte er seine großpreußische Politik dem Verein gegenüber rechtfertigen und mundgerecht machen? Jetzt zeigte sich, was es mit seiner Behauptung, der Verein sei eine Macht, so „daß er ihm (Bismarck) Konzessionen abnötigen könne“, auf sich hatte.

Wir waren nicht enttäuscht, denn wir hatten uns keinen Illusionen hingegeben. Indes spann Schweitzer den alten Faden weiter. Vor allem setzte er auf der Generalversammlung in Erfurt, die für den 27. Dezember einberufen worden war, ein Wahlprogramm durch, dessen erster Punkt in Berlin an maßgebender Stelle notwendig freundlich aufgenommen werden mußte. Dieser Punkt lautete: „Gänzliche Beseitigung jeder Föderation, jedes Staatenbundes, unter welcher Form es auch sei. Vereinigung aller deutschen Stämme zu einer innerlich und organisch durchaus verschmolzenen Staatseinheit, durch welche allein das deutsche Volk einer glorreichen nationalen Zukunft fähig werden kann: durch Einheit zur Freiheit.“ Also auf dem Wege der Bismarckschen Politik zur Freiheit. Das war die gleiche Parole, welche die nationalliberale Partei aufgestellt hatte, und bedeutete weitere Annexionen, die nicht ohne einen neuen Krieg ausführbar waren. Der zweite Punkt des Programms handelte von der Forderung des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes mit Diätenzahlung für Reichstag und Landtage. Sicherung der Volksrechte. Die Forderung nach allgemeiner Volksbewaffnung, die in dem von der Gräfin Hatzfeldt herrührenden Programmentwurf stand, strich Schweitzer, denn nach dem „Sozialdemokrat“ hatte Preußen bewiesen, „daß es allein durch seine staunenerregende organisatorische Kraft zur Führung der deutschen Wehrkraft berufen sei“, und dem durfte man doch jetzt nicht mit der allgemeinen Volksbewaffnung kommen. Der vierte Punkt verlangte Anbahnung der Lösung der Arbeiterfrage durch freie Assoziationen mit Staatshilfe nach den Prinzipien Ferdinand Lassalles. Also von Bismarcks Gnaden. Für Moritz Heß gab das Erfurter Programm endlich den Anstoß, um als letzter von den ersten Mitarbeitern dem „Sozialdemokrat“ die Mitarbeiterschaft aufzusagen.

Man vergleiche dieses Verhalten Schweitzers mit seinem Verhalten im Frühjahr 1865, als er, durch die Opposition in seinem Verein bedrängt, im „Sozialdemokrat“ vom 5. April 1865 erklärte:

„Die Deutsche Volkspartei also will das ganze Deutschland zum freien Volksstaat vereinen. Das ganze Deutschland sagen wir. Nicht ein Dorf, nicht ein Meierhof, nicht die kleinste Hütte im entferntesten Winkel darf uns fehlen. Der kleindeutsche Gedanke eines einigen Deutschland ohne die deutsch-österreichischen Provinzen ist ein Hochverrat an der Zukunft der Nation.“

So hatte der Schweitzer von 1865 dem Schweitzer von 1866 das Urteil gesprochen. Aber was er 1865 geschrieben und beteuert hatte, hatten seine Anhänger vergessen. Blieb nach einer anderen seiner früheren Ausführungen nur die Wahl zwischen deutschen Proletarierfäusten und Preußen für die Lösung der deutschen Frage, und waren damals die deutschen Proletarierfäuste zu schwach, die deutsche Frage im demokratischen Sinne zu lösen, so war dies für den Führer einer Arbeiterpartei kein Grund, sich zum Werkzeug der Lösung im cäsarischen Sinne herzugeben. Einmal die Ehrlichkeit Schweitzers für einen Augenblick vorausgesetzt, so wäre selbst dann seine Taktik ein Verrat an der Demokratie gewesen, weil er die Politik ihres gewalttätigsten und grimmigsten Feindes unterstützte.

Schweitzer und die Konservativen.

Mit der Agitation für die Wahlen zum konstituierenden norddeutschen Reichstag, die auf den 12. Februar 1867 angesetzt waren, beginnt die zweite Periode der Tätigkeit Schweitzers. Die Haltung des „Sozialdemokrat“ ließ keinen Zweifel, daß Schweitzer es mit den Konservativen nicht verderben wollte. Er rechnete offenbar auf Schachergeschäfte mit diesen gegen die Liberalen, was auch im Wunsche Bismarcks liegen mußte. Schweitzer ging also wieder gegen die Fortschrittspartei aufs schärfste ins Feuer, eine Taktik, die ihm der alte Moritz Heß als Verrat anrechnete. Dieser meinte, es handle sich vor allen Dingen doch darum, die linke Seite des Parlamentes nach Kräften zu stärken, um eine leidliche Verfassung zustande zu bringen, was ein durchaus richtiger Standpunkt, aber nicht der Schweitzers war.

Schweitzer hatte unter den verschiedenen Kandidaturen, die ihm von seinen Anhängern angeboten worden waren, sich für Barmen-Elberfeld entschieden, ein Wahlkreis, der ihm die meiste Aussicht auf Sieg bot. Die Leipziger Lassalleaner wollten in Leipzig Liebknecht aufstellen, den wir im neunzehnten sächsischen Wahlkreis aufgestellt hatten, wo wir hofften, ihn durchzubringen, was leider nicht gelang. Wir hatten in Leipzig, nachdem Professor Roßmäßler abgelehnt hatte, Professor Wuttke als Kandidat proklamiert. Schweitzer eiferte gegen Liebknechts Kandidatur. Dieselbe gehe von einer Seite aus, der das Werk Lassalles stets ein Dorn im Auge gewesen sei. Die Leute, die im Hintergrund von Liebknechts Kandidatur stünden, seien im Zusammenhang mit österreichischen reaktionären Kreisen. Liebknecht habe noch vor zwei Jahren Lassalle in öffentlichen Blättern geschmäht. Wer Liebknecht wähle, sage sich offen von Lassalle und seinem Werke los. So spekulierte er auf die blinde Voreingenommenheit seiner Anhänger für Lassalles Werk. Liebknecht zu wählen, war also ein Verbrechen an Lassalle. Wie Schweitzer überhaupt die Dinge ansah, zeigt ein Ausruf „An meine Freunde und Parteigenossen in Schlesien und im Rheinland“, in dem es pathetisch hieß: „Eine mildere Zeit, eine weisere Regierung ist gekommen!“ In Barmen-Elberfeld, woselbst Schweitzer Ende Januar wieder eine seiner geschickten Reden hielt, sprach er mit keinem Worte über seine Stellung in der Politik und gegebenenfalls im Parlament. Im „Sozialdemokrat“ wurden ungeschickterweise maßlose Hoffnungen über den Ausfall der Wahlen genährt. So wurde zum Beispiel in der Nr. 15 vom 3. Februar angekündigt, die gewählten Vertreter würden in Berlin einen gemeinsamen Haushalt führen. Man sprach von Diätenkommunismus usw. Schweitzer wurde sogar im „Sozialdemokrat“ als Sieger angesungen, noch ehe er gewählt war. Er hatte als Gegenkandidaten in Barmen-Elberfeld von konservativer Seite Bismarck, von liberaler Herrn v. Forckenbeck. Der Wahltag brachte eine schwere Enttäuschung. Bismarck erhielt 6523, Forckenbeck 6123, Schweitzer nur 4688 Stimmen. Er war nicht einmal in die engere Wahl gekommen. Auch im übrigen Deutschland war der Wahlausfall für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein eine Enttäuschung. In der engeren Wahl in Barmen-Elberfeld hatten also die Sozialdemokraten den Ausschlag zu geben. In einer großen Wählerversammlung am 26. Februar nimmt Schweitzer zunächst das Wort, erklärt aber, keine Parole für die engere Wahl auszugeben, bevor er nicht die Meinung der Versammlung gehört. Schließlich ergreift er wieder das Wort, wobei er äußerte:

„Das vielfache Rufen des Namens Bismarck aus der Versammlung hätte ihn erkennen lassen, nach welcher Seite sich die Stimmung im allgemeinen gelenkt habe. Er könne dem einzelnen keine Vorschriften machen, für wessen Wahl sich derselbe entscheiden solle, ein jeder solle dem Zuge seines Herzens folgen.

Damit wußte jeder, woran er war. Um aber das Komödienspiel zu vollenden, ließ er im Widerspruch mit seiner eigenen Rede eine Resolution annehmen, in der sich die Versammlung für Stimmenthaltung aussprach. In der Tat erhielt Bismarck bei der engeren Wahl fast die gesamten Schweitzerschen Stimmen. Er wurde mit 10196 gegen 6944, die Forckenbeck erhielt, gewählt.

Schweitzer suchte in einer Erklärung diese Abstimmung damit zu rechtfertigen, daß er ausführte:

Man habe der liberalen Bourgeoisie eine Lehre geben wollen für die gemeine Kampfweise, die sie im Wahlkampf geübt habe. „Vielleicht auch, Arbeiter,“ fuhr er fort, „war eure Abstimmung eine Huldigung nicht zwar für den Kandidaten der konservativen Partei, wohl aber für den Minister, der aus eigenem Antrieb ein Volksrecht euch zurückgegeben, welch es die liberale Opposition für euch zu fordern so hartnäckig vergessen hatte.

Der gute, volksfreundliche Bismarck!

Wenige Tage nach jener Elberfelder Bismarckwahl stand ich in engerer Wahl im 17. sächsischen Wahlkreis (Glauchau, Meerane usw.) gegen einen nationalliberalen Kandidaten. Hier erklärte der Führer der Lassalleaner — den Bericht veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ —, ein reiner Lassalleaner dürfe Bebel nicht wählen, der nach dem Standpunkte, den sie, die Lassalleaner, einnähmen, ein Verräter an der Sache sei.

Bismarck der Wohltäter der Arbeiter, Liebknecht und Bebel ihre Verräter. Das war das Resultat der Schweitzerschen Erziehungsmethode. Wie schon früher gemeldet, wurde ich trotzdem gewählt, die wenigen hundert Stimmen der Lassalleaner gaben nicht den Ausschlag.

In Barmen-Elberfeld mußte kurz darauf eine Neuwahl stattfinden, da Bismarck, der doppelt gewählt worden war, das Mandat für Barmen-Elberfeld niederlegte. Bei der darauf folgenden Neuwahl erhielt Schweitzer 4919, der liberale Professor Gneist 4291, der konservative von der Heidt 2594, Oberbürgermeister Bredt 1497 Stimmen. Es mußte also wieder engere Wahl stattfinden, und zwar diesmal zwischen Schweitzer und Gneist. Der „Sozialdemokrat“ buhlte jetzt offen um die Stimmen der konservative — Arbeiter. Noch charakterloser und würdeloser trieb Schweitzer die Buhlerei in einer Versammlung am 17. März, in der er die Konservativen aufforderte, von zwei Uebeln das kleinere oder entferntere zu wählen, und das sei er. Auf dem sozialen Boden könnte sich die Arbeiterpartei mit den Konservativen über manches die Hände reichen. Er bezieht sich dafür auf Reden des Geheimen Oberregierungsrats Wagener, auf Bischof Kettelers Buch, auf Aeußerungen Bismarcks.

„Die Konservativen möchten mitwirken, damit die Arbeiter durch ihn im Parlament zum Wort kämen. Als die Konservativen die Arbeiter riefen — einerlei aus welchem Grunde —, kamen diese mit ihrer ganzen Armee. Jetzt rufen die Arbeiter, und die Konservativen würden eine moralische Verpflichtung nicht lösen, wenn nicht auch sie nun dem Rufe folgten. Sie müßten kommen, wenn sie nicht die gerechtere Entrüstung über sich heraufbeschwören wollten.“

Dann stößt er Drohungen gegen die Fortschrittspartei aus.

Aber für diese Charakterlosigkeit und Würdelosigkeit sondergleichen blieb dennoch der Lohn aus. Schweitzer unterlag abermals, und zwar mit 7923 gegen 8019 Stimmen, die auf Gneist fielen.

Schweitzer im norddeutschen Reichstag.

Nachdem der konstituierende norddeutsche Reichstag die Verfassung des Norddeutschen Bundes beraten hatte und diese verkündet worden war, wurden die Wahlen für die erste Legislaturperiode auf Ende August 1867 angesetzt. Schweitzer kandidierte wieder in Barmen-Elberfeld, diesmal mit Erfolg. Schweitzer erhielt im ersten Wahlgang 6110, Dr. Löwe-Calbe (Fortschritt) 3588, Professor v. Sybel-Düsseldorf 3478 Stimmen, es war also engere Wahl zwischen Schweitzer und Löwe-Calbe nötig, in der Schweitzer mit 8915 Stimmen gegen 6690 Stimmen, die auf Löwe-Calbe fielen, siegte. Diesmal hatte wieder der größte Teil der Konservativen für Schweitzer gestimmt. Wie er in seiner Danksagung glaubte hervorheben zu müssen, waren es die konservativen Arbeiter, die in richtiger Erkenntnis der Sachlage dem Arbeiterkandidaten ihre Stimme gegeben hätten. Inwieweit das richtig war, zeigt die später bekannt gewordene Tatsache, daß der Führer der Konservativen, Herr v. Kusserow, Schweitzer für seine Wahl 400 Taler eingehändigt hatte. Auf der Berliner Generalversammlung stellte man, als diese Tatsache bekannt wurde, das grausame Verlangen, Schweitzer solle das Geld zurückgeben. Wie konnte man nur so naiv sein.

Aber Schweitzer glaubte noch ein übriges tun zu müssen und den Konservativen Zusicherungen für sein Wohlverhalten im Reichstag geben zu sollen, und so äußerte er in seiner Erklärung vom 11. September weiter:

„Mein sozialer Standpunkt wird von niemand in Zweifel gezogen; ich brauche daher in dieser Beziehung nichts zu sagen. In politischer Beziehung bemerke ich, daß ich gemäß den Grundsätzen der Partei, der ich angehöre und die mich zu ihrem Führer erkoren, in Fragen der Freiheit und des Volkswohls unwandelbar mit der äußersten Linken (der Fortschrittspartei) stimmen werde. Sollten ernstliche Gefahren vom Ausland her das deutsche Vaterland bedrohen, so werde ich den König von Preußen, in dem jetzt die nationale Machtstellung Deutschlands gipfelt, und seine Regierung mit aller Kraft, die einem einzelnen zu Gebote stehen kann, in dem Parlament wie außerhalb desselben zu unterstützen bestrebt sein.“

Schweitzers Wahl hatte begreiflicherweise unter seinen Anhängern große Begeisterung hervorgerufen, und er nutzte diese nun aus, indem er in einem mit vier Schimmeln bespannten Wagen einen Triumphzug durch die beiden Städte Barmen-Elberfeld unternahm. Solche Triumphzüge, die, wollte sie heute ein Arbeiterführer arrangieren, ihn zum toten Manne machten, liebte er. Solche Triumphzüge, wobei stets die Schimmel eine Rolle spielten, kamen wiederholt auch später vor, so zum Beispiel in Hamburg-Altona, nochmals in Barmen-Elberfeld und in Kassel. Damit aber auch das nötige Volk auf der Straße war, unterbrach zum Beispiel Schweitzer seine Reise von Berlin nach Kassel in Minden und fuhr von dort mit einem Zug, der erst abends nach 7 Uhr in Kassel eintraf. Hier benutzte er die mit Schimmeln bespannte Equipage auch während der mehrtägigen Dauer der Generalversammlung des Arbeiterverbandes, verlangte aber, daß seine Anhänger die hohen Kosten dafür tragen sollten. Dessen weigerten sie sich. Die Kosten des Triumphzugs vom Bahnhof nach der Stadt wollten sie bezahlen, das andere müsse Schweitzer tragen. Dabei blieb es.

Mit Schweitzers Eintritt in den norddeutschen Reichstag, dem außer mir nunmehr auch Liebknecht angehörte, kam es zeitweilig zwischen uns und Schweitzer zu Auseinandersetzungen. Eine solche von besonderem Interesse spielte sich in der Sitzung vom 17. Oktober 1867 ab, in der der Gesetzentwurf betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst auf der Tagesordnung stand. Liebknecht sprach zunächst, und zwar in außerordentlich scharfer Form unter häufigen heftigen Unterbrechungen der Mehrheit und des Präsidenten. Namentlich griff er die Politik Bismarcks schonungslos an und schloß seine Rede mit den Worten: „Die Weltgeschichte wird hinwegschreiten über diesen norddeutschen Reichstag, der nichts ist als das Feigenblatt des Absolutismus.“ Nachher kam ich zum Wort. Ich begründete in aller Ruhe unseren Standpunkt als Vertreter des Milizsystems. Mittlerweile hatte sich auch Schweitzer gemeldet, um seinen entgegengesetzten Standpunkt zu markieren. Bei Einbringung eines Schlußantrags verlas der Präsident, wie es damals Vorschrift war, die Namen der eingeschriebenen Redner für und wider den Gesetzentwurf, darunter Schweitzer als Gegner. Dieser erklärte darauf zur Geschäftsordnung, er habe sich nicht wider, sondern für den Gesetzentwurf einschreiben lassen.

Schweitzer ergriff alsdann bei der Spezialdebatte das Wort und führte aus: Nach dem Standpunkt, den Herr Liebknecht einnehme, müßte auch die allgemeine Wehrpflicht verworfen werden. Dabei hatten wir beide eine Resolution einzubringen versucht, für die wir aber nicht die nötigen Unterschriften erhielten, in der die Einführung des Milizsystems, also die Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht nach dem Muster Scharnhorsts und Gneisenaus gefordert wurde. Liebknecht wünsche, daß der Norddeutsche Bund überhaupt nicht existiere. Er und seine Freunde wollten den Norddeutschen Bund freiheitlich gestalten, darin ständen sie mit der Fortschrittspartei auf einem Boden. Er berief sich also wieder auf dieselbe Partei, die er seit 1863 als Trägerin des Rückschritts bekämpft und fortgesetzt angegriffen hatte. Er, Schweitzer, wolle nicht mit Herrn Liebknecht und seinen Freunden, den depossedierten Fürsten und dem Ausland, dahin trachten, Preußen und den Norddeutschen Bund zu ruinieren und zu zerstören:

„Wir haben erkannt, daß der preußische Machtkern unser deutsches Vaterland, das so lange mißachtet war, dem Ausland gegenüber endlich zur Geltung und zu Ehren gebracht hat und dies auch künftig tun wird, und es liegt uns fern, mit jenen selbst diejenigen Eigenschaften an Preußen leugnen und bemäkeln zu wollen, die im vorigen Jahre eine feindliche Welt bewundernd anerkennen mußte.“

Sie stünden innerhalb, wir außerhalb des neu sich bildenden Vaterlandes, wollten außerhalb desselben stehen.

Liebknecht antwortete in einer persönlichen Bemerkung:

„Der Abgeordnete v. Schweitzer hat mir einen großen Gefallen getan, denn er hat mir die Gelegenheit gegeben, die ich bis jetzt vergebens gesucht habe, zu erklären, daß ich allerdings mit dem Doppelgänger des Herrn Wagener nichts zu tun habe.“

Schweitzer schwieg und Wagener schwieg. Vor der Abstimmung über den entscheidenden § 1 verließ Schweitzer den Saal. Er wagte nicht dafür zu stimmen und wollte nicht dagegen stimmen.

Diese Vorgänge im Reichstag beschäftigten kurz darauf zwei Versammlungen der Berliner Mitgliedschaft des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Schweitzer beantragte hier folgende Resolution:

„Die Versammlung erkennt an, daß die von Preußen geschaffene Macht die Möglichkeit der Herstellung der deutschen Einheit in sich trägt; zweitens ist sie mit der Fortschrittspartei damit einverstanden (weiter nach links wagte Schweitzer nicht mehr zu gehen. A.B.), daß mit äußerstem Nachdruck und ohne daß man sich um Drohungen der preußischen Regierung kümmere, auf eine freiheitliche Gestaltung Preußens und des Norddeutschen Bundes gedrungen werden muß, da nur hierdurch eine ersprießliche endgültige Lösung der deutschen Sache möglich ist; drittens erklärt sie es für verfehlt, in Gemeinschaft mit der Auffassung des mißgünstigen Auslandes das Vorgehen Preußens im vorigen Jahre zu beurteilen und demgemäß eine Zertrümmerung Preußens und des Norddeutschen Bundes zu erstreben und zu erhoffen.“

Rückhaltloser konnte man für die Bismarcksche Schöpfung nicht eintreten. Dieser Resolution gegenüber beantragten nun Theodor Metzner und Reimann, zwei Opponenten von Schweitzer:

„Die Versammlung beschließt, daß Herr v. Schweitzer sowohl im Reichstag als durch seine Verdächtigung der radikalen Partei in der heutigen Versammlung das wenige Vertrauen, das derselbe bisher bei den Berliner Arbeitern genossen, vollständig verloren hat.“

Eine dritte Resolution brachte der fortschrittliche Maschinenbauer
Andreack ein, die forderte:

„Die Versammlung möge beschließen, daß sie in der deutschen Frage sich nur mit dem Standpunkt der Deutschen Fortschrittspartei einverstanden erklären kann.“

Und was geschah jetzt? Als Schweitzer merkte, daß die scharfe Opposition, die er fand, seine Resolution zu Fall bringen könnte, zog er, feig wie er immer war, wenn ihm eine Niederlage drohte, dieselbe zurück und erklärte sich für die fortschrittliche Resolution, die dasselbe besage wie die seine. Hofstetten, der den Vorsitz hatte, tat Schweitzer den Gefallen, über die Andreacksche Resolution zuerst abzustimmen und sie für angenommen zu erklären, was seitens der Opposition einen Sturm der Entrüstung hervorrief.

Schweitzers Diktatur.

Schweitzer hatte das dringendste Interesse, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ganz in die Hand zu bekommen, also dessen Präsident zu werden. Dieses Sehnen verwirklichte sich, als Perl-Hamburg, der Präsidentschaft müde, erklärte, dieselbe niederlegen zu wollen. Es wurde eine außerordentliche Generalversammlung auf den 19. und 20. Mai 1867 nach Braunschweig einberufen, die von 18 Delegierten, die 2500 Stimmen hinter sich hatten, besucht war. Schweitzer vertrat Apolda mit 22 und Limbach in Sachsen mit 30 Stimmen. Der Verein war sehr heruntergekommen. Die beständigen Zerwürfnisse, das Mißtrauen gegen Schweitzer wegen seiner Politik, der ungünstige Ausfall der Wahlen zum norddeutschen Reichstag, trotz aller großsprecherischen Worte Schweitzers, die Krise waren die Hauptursachen dieser Erscheinung. Die Eröffnungsrede Perls war der Ausdruck der vorhandenen Mutlosigkeit. Die Hoffnung, die man noch in Leipzig gehegt, Ordnung in den Verein zu bringen, hätte sich nicht erfüllt; die finanziellen Verhältnisse des Vereins seien sehr ungünstig, nur wenige Orte zahlten Beiträge usw. Im weiteren Verlauf der Verhandlungen bat Perl, von seiner Wiederwahl als Präsident abzustehen; er könne die Opfer nicht mehr tragen, die ihm diese Stellung auferlege. Schweitzer kritisierte Perls Geschäftsführung, doch wolle er, wie er sagte, ihm nicht persönlich zu nahe treten. Er erklärte, die Generalversammlung sei entscheidend für den Verein, nach Tölcke sollte er sogar die Präsidentschaft gefordert und gedroht haben, falls er nicht gewählt werde, ließe er mit der nächsten Nummer den „Sozialdemokrat“ eingehen. Er versprach Garantien zu geben, daß die Verwaltungsgeschäfte korrekt erledigt würden, da er wisse, daß man ihm mißtraue. Die Versammlung war unschlüssig, was sie tun sollte; so ließ man auf Vorschlag Brackes eine Pause eintreten, um sich zu verständigen. Nach dieser schlug Tölcke Schweitzer als Präsidenten vor. Es wurde darauf mehrseitig wieder geltend gemacht, daß gegen Schweitzer Mißtrauen vorhanden sei; auch sei es ein Unding, daß der Präsident des Vereins und der Redakteur des Vereinsorgans ein und dieselbe Person sei. Tölcke suchte die Bedenken zu beschwichtigen. Schweitzer erklärte, er wisse, daß man Mißtrauen gegen ihn habe; er werde das Amt nur annehmen, wenn man ihm Vertrauen entgegenbringe. Er beantragte eine zweite Pause zur Verständigung. Nach dieser erklärten mehrere Delegierte, ihr Mißtrauen gegen Schweitzer fallen zu lassen. Er wurde alsdann, nachdem er auf einen Vorhalt Tölckes noch mitgeteilt, er werde sich selber wählen, mit 2385 gegen 97 Stimmen und 41 Enthaltungen Präsident des Vereins. Er hatte, um sich Vertrauen zu erwerben, auf dieser Generalversammlung ein radikales Programm vorgelegt und annehmen lassen. Jetzt gab er auch die sogenannten Garantien für sein ferneres Wohlverhalten, indem er durch Handschlag sämtlichen Delegierten gegenüber sich feierlich verpflichtete, alles zu tun, was in seinen Kräften stehe, den Verein vorwärtszubringen. Umgekehrt verpflichteten sich die Delegierten ebenfalls durch Handschlag Schweitzer gegenüber, treu zur Organisation und zum Präsidenten zu stehen. Also eine Art Ballhausschwur, wie ihn die französische Nationalversammlung 1789 leistete, nur mit dem Unterschied, daß der Regisseur der Schwurszene in Braunschweig, Schweitzer, wußte, daß es sich um eine Posse handelte. —

Auf der Generalversammlung des Vereins in Berlin — 23. bis 25. September 1867 — wiederholte Schweitzer: daß in politischen Fragen der Verein mit der Fortschrittspartei gehen könne. Das verhinderte allerdings nicht, daß, als um dieselbe Zeit in Düsseldorf eine Nachwahl für den Reichstag stattzufinden hatte, bei der in der engeren Wahl der fortschrittliche Kandidat, Redakteur der „Rheinischen Zeitung“, Bürgers, und ein konservativ-nationalliberaler Kandidat sich gegenüberstanden, Schweitzer im „Sozialdemokrat“ die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aufforderte, für den letzteren zu stimmen, worauf Bürgers durchfiel. Neben dem, daß er damit Bismarck einen Gefallen erwies, kühlte er seine Rache wegen der Anklage der „Rheinischen Zeitung“, er habe aus hochkonservativen Kreisen Geld für den „Sozialdemokrat“ genommen.

Ein anderer für Schweitzer wenig ehrenvoller und seinen Charakter beleuchtender Vorgang war die Auseinandersetzung mit seinem bisherigen Freunde Hofstetten. Hofstetten hatte seine Mittel für die Gründung des „Sozialdemokrat“ hergegeben. Diese Mittel waren Mitte 1867 verbraucht und Hofstetten ein armer Mann. Anfang 1868 versuchte Schweitzer Hofstetten nach Wien zu schieben, woselbst er ein sozialdemokratisches Blatt gründen sollte. Hofstetten kam aber in Wien übel an und eilte nach Berlin zurück. Jetzt verschloß Schweitzer ihm den Wiedereintritt in die Redaktion des Blattes, er bestritt auch, daß Hofstetten noch irgendwelche Ansprüche habe, und setzte ihn vor die Tür, wobei er sich auf einen Vertrag stützte, den er dem gutmütigen und nicht gerade scharfsinnigen Hofstetten abgedrungen hatte. Als Hofstetten im Frühjahr 1869 auf der Generalversammlung des Vereins in Barmen-Elberfeld eine lange Anklagerede gegen Schweitzers Verhalten ihm gegenüber hielt, entrüsteten die mitgeteilten Tatsachen den Delegierten Heinrich Vogel — der gegenwärtig noch in Charlottenburg lebt — so, daß er erklärte, Schweitzer habe Hofstetten gegenüber wie ein ordinärer Bourgeois gehandelt, eine Charakterisierung, die bei Schweitzers Anhängern einen Sturm der Entrüstung hervorrief und nachher Vogels Ausschluß aus dem Verein zur Folge hatte. Hofstetten klagte auch Schweitzer an, daß er das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausgeworfen habe; woher er es erhielt, wisse er nicht. Als er Schweitzer wegen seiner verschwenderischen Lebensweise Vorhalt gemacht, habe dieser geantwortet: Darüber sei er ihm keine Rechenschaft schuldig, er habe seine Schulden nicht zu bezahlen. Darin hatte Schweitzer sicher recht, aber die Tatsache an sich ist sehr beachtlich. Ende 1867 hatte das Blatt erst 1200 Abonnenten, deckte also bei weitem noch immer nicht seine Kosten; es war also die Frage sehr wohl gerechtfertigt: Woher kommt das Geld für das Blatt und die verschwenderische Lebensweise Schweitzers? Das ewige Schuldenmachen hatte doch seine Grenze. Auch wollten die Gläubiger ab und zu Geld sehen. Eine Erbschaft, die er nach dem Tode seines Vaters Ende 1868 machte, war so geringfügig, daß sie einen Tropfen auf einen heißen Stein bedeutete. Dabei hielt Schweitzer sich während des Reichstags eine Equipage mit galonierten Dienern.

Gustav Mayer, dessen Buch über Schweitzer ich oben erwähnte, hielt es für zweckdienlich, sich bei Paul Lindau, der nach Schweitzers Rücktritt häufigen Verkehr mit ihm hatte, zu befragen, ob er Extravaganzen Schweitzers wahrgenommen habe. Lindau habe das verneint. Mir ist Paul Lindaus Urteil nicht maßgebend. Die lebemännischen Gewohnheiten des alten, heute noch lebenden Herrn waren immer große und da legt er wohl einen anderen Maßstab an „Extravaganzen“ als andere Menschenkinder. Auch war Schweitzer, als er zu Lindau in Beziehungen trat, bereits krank und hatte geheiratet, zwei Umstände, die Extravaganzen erschwerten. Die Informationen, die wir seinerzeit in Berlin über Schweitzers Lebensweise einzogen, lauteten anders. Danach war er ein Lebemann ersten Ranges, der namentlich auch häufig bei Kroll und in den Berliner Nachtlokalen mit der Demimonde verkehrte, womit er wahrscheinlich die „Treue“ gegen seine langjährige Braut betätigte, die man ihm als Tugend nachrühmte. Auch veranstaltete er zeitweilig Champagnergelage mit seinen intimsten Anhängern. Schweitzer gehörte zu den Naturen, die stets mindestens doppelt so viel Geld verbrauchen als sie einnehmen, deren Parole ist: Die Bedürfnisse haben sich nicht nach den Einnahmen, sondern die Einnahmen haben sich nach den Bedürfnissen zu richten, was bedingt, daß sie dann skrupellos das Geld nehmen, wo sie es finden. Hatte Schweitzer 1862 2600 Gulden aus der Schützenfestkasse entnommen, so unterschlug er später, als er Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war und als solcher über die Kassengelder verfügte, von schlecht gelohnten Arbeitern gesammelte Groschen, um seine Gelüste zu befriedigen. Es handelte sich hier nicht um große Summen, aber das lag nicht an Schweitzer, sondern an dem mageren Inhalt der Kasse. Diese Mißwirtschaft ist ihm auf verschiedenen Generalversammlungen des Vereins vorgeworfen und nachgewiesen worden, und Bracke, der jahrelang Kassierer des Vereins war und auf Schweitzers Anweisung die Gelder auszahlen mußte, hat ihn öffentlich dieser Schandtat bezichtigt, ohne daß Schweitzer ein Wort der Verteidigung wagte. Wer aber dergleichen fähig ist, von dem soll man nicht behaupten, daß er unfähig gewesen sei, sich politisch zu verkaufen, was doch das einzige halbwegs lukrative Geschäft für ihn sein konnte. Den Nachweis, wieviel gezahlt wurde, kann niemand erbringen, denn dergleichen Geschäfte werden nicht auf offenem Markte abgeschlossen. Es kann sich hier nur um den Nachweis durch Indizien und zahlreiche Tatsachen handeln, die sich anders nicht erklären lassen. Hervorheben möchte ich hier, daß Bismarck nach 1866 die Zinsen aus dem 48 Millionen Mark betragenden Privatvermögen des Königs von Hannover zur Verfügung standen, die er skrupellos für ihm gutdünkende politische Zwecke benutzte. Diesen Fonds, der unter dem Namen „Reptilienfonds“ berüchtigt geworden ist, konnte Bismarck verwenden, ohne jemand darüber Rechenschaft abzulegen. Da ist's nun charakteristisch, daß, während die ganze Oppositionspresse gegen diesen Korruptionsfonds ankämpfte, der „Sozialdemokrat“ den Fonds niemals erwähnte.

Charakteristisch für den Mann ist ferner, daß, als wir Anfang 1868 das „Demokratische Wochenblatt“ herausgaben, er systematisch den Namen desselben totschwieg und, wenn er nicht umhin konnte, gegen dasselbe zu polemisieren, er immer nur von dem Blatte des Herrn Liebknecht sprach. Er wollte mit dieser Taktik verhindern, daß einer seiner Anhänger durch Nennung des Namens des Blattes auf den Gedanken kommen könnte, das „Demokratische Wochenblatt“ zu abonnieren, wodurch der Leser vieles erfahren konnte, was ihm, Schweitzer, unangenehm war. Das war eine kleinliche und lächerliche Kampfesweise, aber er übte sie.

* * * * *

Eine merkwürdige Wandlung stellte sich bei Schweitzer wieder im Frühjahr 1868 ein. Gleich dem „Demokratischen Wochenblatt“ druckte jetzt der „Sozialdemokrat“, wenn er vom norddeutschen Reichstag sprach, diese Worte in Gänsefüßchen ab. Auch hielt er im Reichstag — Mitte Juni 1868 — eine Rede, in der er in einer Polemik gegen v. Kirchmann eine ganz andere Auffassung als bisher vom Wert des allgemeinen Wahlrechts entwickelte. Bisher hatte er damit eine Art Kultus getrieben und die Wahl Bismarcks durch seine Anhänger in Barmen-Elberfeld bekanntlich damit zu rechtfertigen gesucht, daß sie dem Geber des allgemeinen Stimmrechts ihre Dankbarkeit beweisen wollten, als sie ihn wählten. Jetzt erklärte er:

„Ich muß im Interesse derjenigen, die mich gewählt haben, und im Interesse der demokratischen Sache konstatieren, daß dieses Haus nur scheinbar und nicht in Wirklichkeit aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen ist.“

Er motivierte dieses damit, daß Preßfreiheit und volle Vereins-und Versammlungsfreiheit fehlten. Diese fehlten aber von Anfang an, und doch klang damals sein Urteil anders. Das Urteil, das er jetzt über das geltende Wahlrecht fällte, deckte sich mit dem, das das „Demokratische Wochenblatt“ längst und wiederholt abgegeben hatte. Diese plötzliche auffällige Meinungsänderung wurde offenbar wieder durch die zunehmende Opposition in seinem Verein verursacht.

In Nr. 80 des „Sozialdemokrat“ vom 19. Juli kündigt Schweitzer an, daß er eine dreiwöchige Haft in der Stadtvogtei antrete, die ihm wegen eines Flugblattes vom Landgericht Elberfeld zuerkannt worden war. Er ernannte W. Real in Düsseldorf zum Vizepräsidenten und Hasselmann zum Leiter des Vereinsorgans, mit dessen Eintritt die Rüpelhaftigkeit im Ton des Blattes einkehrte. Der pathetische Schluß der Ansprache lautete:

„Indem ich meine Haft antrete, richte ich an alle Parteigenossen meinen herzlichsten Abschiedsgruß. Ich hoffe, den Verein in derselben Blüte, in der ich ihn verlasse, oder in noch gesteigertem Maße (nach ganzen drei Wochen) wiederzufinden.“

Im Sommer 1868 hatte Johann Jacoby eine Rede über „Die soziale Frage“ gehalten, in der er stark nach links und weit ab von der Fortschrittspartei rückte. Auf einem großen Volksfest, das auf der Asse bei Braunschweig abgehalten wurde, hatte sich Bracke über dieses Auftreten Jacobys sehr günstig ausgesprochen und es begrüßt. Bracke stellte hier über die Rede folgende Thesen auf: Erstens, das demokratische Programm von Johann Jacoby verdient im höchsten Maße die Beachtung des deutschen Volkes; zweitens, nach demselben gibt es in den Zielen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der entschiedenen demokratischen Partei und der eigentlichen Arbeiterpartei; drittens, beide Parteien müssen in dem von Jacoby aufgestellten Ziel: Umgestaltung der bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Zustände im Sinne der Freiheit, gegründet auf Gleichheit alles dessen was Menschengesicht trägt, übereinstimmen. Darauf antwortete der „Sozialdemokrat“ in einem „Verwirrung“ überschriebenen Artikel:

„Der von Jacoby aufgestellte Satz einer gerechten Verteilung des Arbeitslohnes zwischen Kapital und Arbeit, die zu erstreben wäre, ist eine über alle Maßen verfehlte, alberne und hohle Phrase; es ist traurig, daß es Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gibt, die an diesen elenden Brocken herumkauen. … Wenn einer behauptet, es seien beachtenswerte Gedanken in Jacobys Rede, wird es hoffentlich von allen Seiten tönen: Nein! es ist albernes, hohles Geschwätz eines wichtigtuenden Bourgeois.“

Diese erregte, grobe Sprache zeigte, welche Aufregung es Schweitzer verursachte, sobald Mitglieder des Vereins den Anschein erweckten, als wollten sie mit Vertretern nahestehender Parteien Fühlung nehmen. Der Verein mußte nach außen mit einer Art chinesischer Mauer umgeben sein, damit er ihn absolut beherrschen und nach seinem Willen lenken konnte.

Die nächste Generalversammlung des Vereins war auf den 22. bis 26. August nach Hamburg einberufen. Waren auf der Braunschweiger Generalversammlung nur 2508 Mitglieder vertreten, auf der Berliner 3102, so jetzt 8192 durch 36 Delegierte. Der Verein war also wesentlich stärker geworden. Man hat diese Entwicklung ausschließlich der Tätigkeit und der Leitung Schweitzers zugeschrieben. Mit Unrecht. Der Druck der Krise, die sich als Folge des sechsundsechziger Krieges eingestellt hatte, war gewichen, an deren Stelle brachte das Jahr 1868 eine Prosperitätsperiode. Damit hatte die Hoffnungsfreudigkeit und das politische Leben in den Arbeiterkreisen von neuem eingesetzt, wovon nicht nur der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, sondern auch der Verband der Arbeitervereine profitierte, an dessen Spitze ich stand und der damals über 13000 Mitglieder zählte, die freilich keine programmatische Geschlossenheit wie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein besaßen. Schweitzer suchte jetzt Karl Marx für sich zu gewinnen. Er hatte Marx den Dank des Vorstandes für sein Werk „Das Kapital“ votieren lassen, auch hatte er ihn zur Generalversammlung nach Hamburg eingeladen, eine Einladung, die Marx wegen Ueberbürdung mit Arbeit ablehnte. Auch erlaubte er, daß Geib folgenden Antrag stellte:

„Die Generalversammlung erklärt, da der Druck des Kapitals und der Reaktion in allen Kulturländern aus im wesentlichen gleichen Ursachen auf der Arbeiterklasse lastet und da die Bestrebungen der Arbeiter nur dann erfolgreich sein können, wenn sie einheitlich zusammenhängend in allen Kulturländern auftreten, ist es die Pflicht der deutschen Arbeiterpartei und der Arbeiterparteien aller Kulturländer, die von denselben Prinzipien geleitet werden, gemeinsam vorzugehen.“

Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen. Aber wie radikal sich Schweitzer auch gebärdete, die Unzufriedenheit mit seiner Diktatur nahm zu. So beantragten die Erfurter Mitglieder: Schweitzer solle spezifizierte Rechnung ablegen über die Gelder, die er seit dem 1. Januar 1868 der Kasse entnommen habe. Der Vorstand solle die Abrechnung prüfen. Düsseldorf verlangte, daß Präsidium und Redaktion des Vereinsorgans getrennt würden, die Einrichtung könne leicht zu Despotismus führen; sie hätte bereits dazu geführt. Weiter waren lebhafte Klagen auf den vermiedenen Generalversammlungen laut geworden, daß die Redaktion des „Sozialdemokrat“ ihr mißfallende Korrespondenzen unterdrücke, andere willkürlich ändere, ja fälsche. Ein Antrag, das Organ von seiten des Vereins zu übernehmen, wurde auf der Generalversammlung für untunlich, die Trennung der Redaktion vom Präsidium als unzweckmäßig erklärt. Dagegen wurde beschlossen, daß der vierundzwanzigköpfige Vorstand des Vereins, der in vielen Orten verteilt wohnte, konzentriert werden solle. Er wurde nach Hamburg verlegt. Das war der erste harte Schlag, der die Diktatur Schweitzers traf. Bei den Erörterungen hierüber machte er eine Mitteilung, durch die er sich wider Willen denunzierte. Er äußerte: „Dies wird unsere letzte Generalversammlung sein. Die Feindseligkeit der preußischen Regierung wird immer mehr hervortreten. Der Verein wird aufgelöst werden.“ Und siehe da, kaum drei Wochen später löste die Leipziger Polizeibehörde, da der Verein in Leipzig seinen Sitz hatte, den Verein wegen der örtlichen Kassenverwaltungen auf, einer Einrichtung, die von Anfang an im Verein bestanden hatte.

Es ist ganz zweifellos, daß Schweitzer vorher von dieser Auflösung wußte, ja daß sie zwischen ihm und dem Berliner Polizeipräsidium verabredet war und die Leipziger Polizei auf Wunsch von Berlin den Verein auflöste. Natürlich unterließ unter so bewandten Umständen Schweitzer jede Beschwerde gegen das Vorgehen der Leipziger Polizei bei Kreishauptmannschaft und Ministerium. Schweitzer schloß seinen bezüglichen Artikel, worin er die Auflösung besprach, mit den Worten:

  „Wir fügen uns einfach darum, weil es nach Lage der Dinge das
  Vernünftigste ist, was wir tun können. Daher erkläre auch ich andurch:

  ‚Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hat sich aufzulösen…‘
  Arbeiter in ganz Deutschland! Wir stehen heute am Grabe des
  Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

Aber der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein lebt unter uns fort.

So stehen wir auch am Grabe Lassalles; er selbst aber weilt noch unter uns.

Daß unser Verein aufgelöst wurde, gereicht ihm, gereicht uns zur Ehre. Der Verein hat seine Schuldigkeit getan für die Arbeitersache — darum wurde er aufgelöst.

Die alte Form ist gefallen — wir werden neue Formen für die Betätigung unseres Strebens zu finden wissen.“

Dann dankt er für das ihm geschenkte Vertrauen.

  „Wir haben gemeinsam gekämpft und gelitten — wir werden auch in Zukunft
  gemeinsam kämpfen und leiden.“

So auf die Rührseligkeit spekulierend, rührte er die Mitglieder zu
Tränen, und sie vertrauten ihm weiter.

Wäre es die Feindseligkeit der preußischen Regierung gegen den Verein gewesen, wie Schweitzer wider besseres Wissen schrieb, dann war es jetzt seine Pflicht und Schuldigkeit, den Verein dem Einfluß der preußischen Regierung nach Möglichkeit zu entziehen, zum Beispiel dessen Sitz nach Hamburg zu verlegen, dessen Vereins- und Versammlungsgesetz kein Verbindungsverbot kannte. Außerdem hatte der Verein in Hamburg-Altona seine stärkste Mitgliedschaft, die für die Finanzen des Vereins wie für das Blatt das eigentliche Rückgrat bildete. Auch fehlte es in Hamburg nicht an geistigen Kräften. Statt dessen gründete Schweitzer den neuen Verein unter den Augen der Berliner Polizei, und Berlin wurde dessen Sitz. In Preußen bestand aber das Verbindungsverbot so gut wie in Sachsen, und außerdem verlangte das damalige preußische Vereins- und Versammlungsgesetz, daß die Mitgliederlisten des Vereins aus ganz Deutschland bei dem Polizeipräsidium eingereicht werden mußten. Und wiederum verriet er seine Beziehungen zum Berliner Polizeipräsidium und sein Einverständnis mit der Auflösung, indem er in Nr. 119 des „Sozialdemokrat“ sagte:

„Man habe Berlin als Sitz der Partei gewählt, damit die Polizei fortwährend Gelegenheit habe, sich davon zu überzeugen, daß die Partei ihre Agitation auf Grund und in Gemäßheit der bestehenden Gesetze betreibe.“

Wie rührend folgsam gegen die liebe Polizei von der Leitung einer demokratischen Partei!

Wenn je die innige Verbindung zwischen Schweitzer und dem Berliner Polizeipräsidium nachgewiesen werden konnte, so jetzt. Aber nicht allein, daß der Verein nunmehr unter die Kontrolle des Berliner Polizeipräsidiums kam, Schweitzer benutzte auch die Neugründung, um die ihm unbequemen Beschlüsse der Hamburger Generalversammlung aus der Welt zu schaffen und durch die neue Organisation seine Diktatur unumschränkter denn je zuvor zu befestigen. Er verkündete den neuen Plan mit den Worten:

  „Jedenfalls wird dafür gesorgt werden, daß die Einheitlichkeit der
  Partei durch ganz Deutschland gewahrt werde. Denn diese
  Einheitlichkeit ist unser bestes Kleinod — sie ist der Grundgedanke der
  Lassalleschen Organisation, und von dieser werden wir niemals
  abgehen.“

So mußte also die beständige Berufung auf Lassalle dazu dienen, seine Autorität aufrecht zu erhalten und den Mitgliedern Sand in die Augen zu streuen.

Die neue Vereinsgründung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt in einem kleinen Kreise Auserwählter, die mit ihm durch dick und dünn gingen. Das neue Statut enthielt geradezu ungeheuerliche Bestimmungen. So sollte der Präsident sechs Wochen vor der ordentlichen Generalversammlung in Urabstimmung durch die Mitglieder des Vereins gewählt werden, also ehe noch die Generalversammlung gesprochen und dessen Geschäftsführung geprüft hatte. Ein Mißtrauensvotum auf der Generalversammlung war dann wirkungslos, ebenso eine unliebsame Kritik seiner Tätigkeit. Ferner besagte §5 der Statuten:

„Wenn der Präsident es für dringlich hält, so kann er, vorbehaltlich der in drei Monaten einzuholenden Genehmigung des Vorstandes, alle Anordnungen treffen.“

Der Vorstand selbst sollte, im Gegensatz zu den Beschlüssen der Hamburger Generalversammlung, wieder über ganz Deutschland verteilt wohnen. Die Generalversammlung sollte eine Statutenänderung nur dann vornehmen können (§7), wenn ein solcher Antrag von 60 Mitgliedern unterzeichnet und drei Monate vor der Generalversammlung beim Vorstand eingereicht worden war. Wo und wie der Verein aufs neue gegründet wurde, darüber hat man nie Sicheres erfahren. Aber die Polizei mußte davon unterrichtet sein, sonst hätte sie den Verein nicht anerkannt. Der organisierte Arbeiter unserer Zeit wird sich bei dem Lesen solcher Vorgänge fragen, wie denn dergleichen möglich gewesen sei und ob denn nicht die ungeheure Mehrheit der Mitglieder des Vereins sich wie ein Mann erhob und gegen solche Ungeheuerlichkeiten protestierte, den Urheber derselben aber sofort von seinem Posten entfernte? Von alledem keine Spur. Mit seinem Blatte beherrschte Schweitzer absolut den Verein; jeder, der wagte aufzumucken, dessen Beschwerde flog in den Papierkorb, und wer in einer Versammlung austrat, der wurde als Verräter an dem Kleinod der Lassalleschen Organisation gebrandmarkt und mit dem Bann belegt. Im Verein war er tot. Ließ aber jemand sich merken, daß er mit Liebknecht und mir sympathisiere, so galt dieses selbst in den Augen der meisten Mitglieder als ein Verbrechen, womöglich größer als Blutschande oder Mord. Das war die Folge der systematisch von ihm betriebenen Verhetzung.

Doch die Umwandlung in den Anschauungen vollzog sich bei einem Teil der Vereinsmitglieder rascher, als wir damals selbst für wahrscheinlich hielten.

Unter dem 26. November 1868 veröffentlichte Schweitzer einen langen Aufruf in dem mittlerweile seit dem 10. Oktober vergrößerten „Sozialdemokrat“, der damals 3400 Abonnenten hatte, in welchem er seine Ansicht über die Finanzlage des Vereins darlegte, die durch das Wachstum desselben eine wesentlich günstigere geworden war. Zum Schluß kündigte er an, daß er auf drei Monate „in die Einsamkeit des Gefängnisses wandere“, die er wegen Veröffentlichung einer Broschüre, „Der Arbeitslohn und der Kapitalgewinn“, anzutreten hatte. Er schließt den Artikel mit den Worten:

„Lassalle sagt in betreff der Organisation, daß alle Einzelkräfte zusammengeschmiedet werden müßten zu einem einzigen Hammer. Die Partei war, als sie mich zu ihrem Führer erkor, der Meinung, daß mein Arm kräftig genug sei, diesen Hammer zu schwingen. Ich will hoffen, daß mir diese Kraft niemals erlahmt.“

An Selbstgefühl ließen diese Ausführungen nichts zu wünschen übrig.

Anfang Dezember trat er seine Haft an, er wurde aber bereits gegen Ende Dezember wieder aus dieser entlassen, weil sein Vater schwer erkrankte, der noch vor Ende des Jahres starb. Schweitzer erhielt darauf eine Woche Urlaub zur Ordnung von Familienangelegenheiten. Jetzt spielte sich aber dasselbe ab, was sich 1866 abgespielt hatte, als er auf Urlaub entlassen wurde. Aus der einen Woche wurden viele Wochen Urlaub, und nun begann Schweitzer abermals eine umfassende politische Tätigkeit, als sei der Urlaub ihm nur zu diesem Zweck gewährt worden.

Am 1. Januar 1869 kündigte der „Sozialdemokrat“ an, der Präsident sei noch auf Tage den Geschäften der Parteileitung entzogen. Am 14. Januar veröffentlichte Schweitzer unter den Augen der Polizei im „Sozialdemokrat“ eine lange Ansprache an die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und berief die Generalversammlung des Vereins auf den 27. bis 30. März nach Barmen-Elberfeld.

Nach normalem Gang hätte Schweitzer dieser Generalversammlung gar nicht beiwohnen können, da um diese Zeit seine Haft noch nicht zu Ende war. Aber er wußte bereits, daß er die Freiheit dazu haben würde. Weiter ordnete er an, daß die Präsidentenwahl sechs Wochen vor der Generalversammlung, zwischen dem 24. Januar und dem 7. Februar stattzufinden habe, wie es die neue, von ihm oktroyierte Organisation vorschrieb.

Ferner kündigte er die Einberufung einer Konferenz des Vorstandes in einer Stadt Mitteldeutschlands an, in der über die Agitation in Süddeutschland und Sachsen beschlossen werden sollte. Gegen uns nahm der „Sozialdemokrat“ jetzt eine noch schärfere Stellung ein, da wir bewußt oder unbewußt im Schlepptau der österreichischen Politik uns befänden. Bemerkt sei hier, daß um diese Zeit Liebknecht wiederholt im „Demokratischen Wochenblatt“ Oesterreich gegenüber eine Taktik eingeschlagen hatte, die ich für durchaus verfehlt hielt, was wiederholt zwischen uns zu Meinungsverschiedenheiten führte. Liebknecht war eben ein Mann des Extrems. Wie sein Haß gegen Bismarck und den Nordbund oft die Grenze überschritt, so auch wieder seine Zuneigung zu Oesterreich, dessen liberalem Bürgerministerium er übermäßige Leistungen zutraute. Es war nur natürlich, daß Schweitzer diese Schwäche Liebknechts ausnutzte, wobei ich bemerken will, daß es im Jahre 1867 auch für Schweitzer eine Periode gab, in der er dem Bürgerministerium seine Unterstützung in Aussicht stellte. Er wollte offenbar Hofstetten die Wege in Wien ebnen.

Im Januar 1869 setzten wir unseren schon früher gegen Schweitzer im „Demokratischen Wochenblatt“ und in Volksversammlungen aufgenommenen Kampf mit aller Vehemenz und mit schwerstem Geschütz fort, dessen vorläufiger Abschluß war, daß wir zur Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins nach Elberfeld-Barmen eingeladen wurden, um unsere Anklagen gegen Schweitzer zu erheben. Ich habe das Vorspiel zu diesem Ereignis bereits im ersten Teil dieser Arbeit ausführlicher geschildert.

* * * * *

Sozusagen zwischenaktlich sei hier erwähnt, daß Hasenclever infolge einer Stichwahl in Duisburg Anfang 1869 ebenfalls in den Reichstag gewählt worden war. Da ich glaubte annehmen zu dürfen, daß Hasenclever das Treiben Schweitzers mißbillige und ehrlich eine Vereinigung wolle, hatte ich 12 Taler gesammelt, die ich ihm zur Unterstützung seiner Wahl schickte. Damals rechneten wir hüben und drüben bei Wahlen noch nicht mit Tausenden und Zehntausenden Mark wie heute. Jeder Taler galt als namhafter Beitrag. Ich machte darauf unter dem 13. Februar 1869 im „Demokratischen Wochenblatt“ bekannt, daß Hasenclever seine große Freude und Genugtuung über die Sympathie und Unterstützung, die ihm zuteil geworden, ausspreche. Er bedauere die Spaltung, die unter den verschiedenen Fraktionen der Arbeiterpartei ausgebrochen sei, und hoffe, daß die Differenzen, die wir mit anderen Führern seiner eigenen Partei hätten oder gehabt hätten, und die doch nur persönlichen Ursprunges seien, bald verschwinden würden. Er lebe der vollsten Ueberzeugung, daß die Zeit nicht fern sei, wo sämtliche Sozialdemokraten Deutschlands in festgeschlossenen Reihen unter einem Banner kämpften.

An dieser Erklärung Hasenclevers ist bemerkenswert, daß er von uns als
Sozialdemokraten spricht, ein Zugeständnis, das Schweitzer und der
„Sozialdemokrat“ bis ans Ende der Wirksamkeit Schweitzers uns
versagten. Freilich hat es nachher, als Hasenclever Nachfolger
Schweitzers im Präsidium wurde, auch noch Jahre gedauert, ehe die
Einigung sich vollzog. Es scheint, daß auch sozialdemokratische
Kronprinzen, wo solche vorhanden, liberaler sind, denn später als
regierende Herren.

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Am 14. Februar verkündete Schweitzer das Wahlresultat; er war wieder mit rund 5000 Stimmen gegen 54 zum Präsidenten gewählt. Die Wahl war ein moralisches Mißtrauensvotum, wenn man bedenkt, daß einige Wochen später auf der Generalversammlung in Barmen-Elberfeld 12000 Mitglieder vertreten waren; 40 Orte hatten gar keine Stimme abgegeben. Nachdem so der politische Urlaub Schweitzers seinen Zweck erreicht hatte, ging er am 18. Februar wieder ins Gefängnis, er wurde aber bereits am 4. März, dem Tage vor dem Zusammentritt des Reichstags, aus der Haft entlassen.

Diese Haftentlassung bewies aufs neue die intimen Beziehungen Schweitzers zur Regierung. Solange ein Reichstag besteht, also von 1867 bis heute, ist es nie vorgekommen, daß ein Reichstagsabgeordneter, auch kein bürgerlicher, während des Reichstags aus der Strafhaft entlassen wurde, um an den Verhandlungen desselben teilzunehmen. Sogar mitten in der Session von 1909 bis 1910 mußte ein elsässischer Abgeordneter seine zweimonatige Strafhaft antreten. Die Regierungen, die preußische voran, wie die Mehrheit des Reichstags, haben stets die Ansicht vertreten, daß der Artikel 31 der Verfassung, der von der Immunität der Abgeordneten handelt, die Strafhaft nicht umfaßt. Im Gegensatz zu dieser jahrzehntelangen Uebung, die Preußen auch schon früher handhabte, wurde jetzt Schweitzer aus der Strafhaft beurlaubt, was nicht ohne Einwilligung des zuständigen Ministers geschehen konnte, der dieses nicht ohne die Zustimmung Bismarcks gewagt hätte.

Wie letzterer im übrigen in diesen Dingen dachte, zeigte plastisch die Verhandlung, die der Reichstag am 28. April — also wenige Wochen nach Schweitzers Beurlaubung aus der Strafhaft — hatte. Mende hatte in München-Gladbach eine Versammlung abgehalten, nach der es zu tumultuarischen Auftritten gekommen war, wobei er verhaftet wurde, weil er angeblich diese Auftritte verursacht habe, was nicht der Fall war. Schweitzer stellte einen Antrag auf Haftentlassung Mendes. In der Debatte nahm auch Bismarck das Wort und erklärte sich in seiner peremptorischen Art gegen die Haftentlassung. Der Reichstag mußte aber auf Grund der vorliegenden Tatsachen gegen Bismarck entscheiden. Darauf rächte sich dieser dadurch, daß er den Beamten, die die Verhaftung Mendes angeordnet und vorgenommen hatten, Ordensauszeichnungen zustellte. Und im Falle Mende handelte es sich um keine rechtskräftig gewordene Strafhaft wie im Falle Schweitzer, sondern um eine Untersuchungshaft.

Kurze Zeit vor jenem Vorgang war ich unfreiwilliger Zeuge einer Begegnung zwischen Schweitzer und dem Prinzen Albrecht, Bruder des Königs, der Mitglied des Reichstags war. Ich kam einen Korridor entlang und sah am Ende desselben den Prinzen Albrecht in Gesellschaft einiger konservativer Abgeordneter stehen. Aus einem Seitenkorridor trat Schweitzer. Sobald der Prinz seiner ansichtig wurde, winkte er Schweitzer heran, reichte ihm die Hand, die er kräftig schüttelte und fragte sehr leutselig: Mein lieber Schweitzer, wie geht es Ihnen? Schweitzer: Danke, Königliche Hoheit! Der Prinz: Warum waren Sie gestern nicht in der Sitzung? Schweitzer: Doch, Königliche Hoheit, ich war zugegen! Der Prinz: Warum haben Sie denn nicht das Wort ergriffen? Man hatte dieses erwartet…. Ich trat rasch in den Sitzungssaal, um nicht als Horcher zu erscheinen. Die Unterhaltung zeigte, daß Schweitzer mit dem Prinzen schon öfter verkehrt hatte, und sie zeigte weiter, daß „man“ auf der rechten Seite des Reichstags genau wußte, was selbst die radikalsten Reden Schweitzers bedeuteten.

Die Generalversammlung in Barmen-Elberfeld.

Als wir am 27. März gegen Abend in Barmen-Elberfeld ankamen, empfingen uns eine Anzahl Gesinnungsgenossen, die sämtlich der Internationale angehörten. Ueber unsere Verhandlungen an jenem Abend schrieb ich noch in der Nacht an Marx:

„Liebknecht und ich sitzen eben hier in Elberfeld in einem kleinen Kreise von Gesinnungsgenossen, um den Feldzugsplan für die morgige Schlacht vorzubereiten. Wir haben hier eine solche Fülle von Schuftereien Schweitzers zu hören bekommen, daß uns die Haare zu Berge stehen. Ebenso stellt sich zur Evidenz heraus, daß Schweitzer das Programm der Internationale nur zu dem Zwecke vorschlägt, um einen Hauptcoup gegen uns zu führen und ein gut Teil oppositioneller Elemente niederzuschlagen respektive zu sich herüberzuziehen. Ich bitte Sie deshalb, zugleich im Namen Liebknechts und sämtlicher hiesiger Freunde, eine etwaige Ratifikation des betreffenden Beschlusses der Generalversammlung durch Schweitzer vorläufig unberücksichtigt zu lassen oder wenigstens nur sehr vorsichtig zu beantworten.

Nähere Mitteilungen folgen bald nach.

Ueber den Ausgang der morgigen Disputation läßt sich noch gar nichts sagen, nur das eine kann ich mitteilen, daß Schweitzer mit allen Mitteln der Perfidie und Intrige gegen uns wühlt, auf einen durchschlagenden Erfolg hoffen wir auf keinen Fall. Die Organisation, um jede Opposition aus der Mitte seines eigenen Vereins totzuschlagen, ist hier schon seit Wochen mit großem Geschick getroffen worden. Gestern abend beispielsweise hat Schweitzer bei seiner Ankunft einen wahren Triumphzug durch Elberfeld-Barmen gehabt. (In einer mit Schimmeln bespannten Equipage.) Damit schließe ich für heute.“

Schweitzer hatte im „Sozialdemokrat“ angekündigt, daß die Feinde schon bis in die Nähe des Präsidenten (also der allerhöchsten Person) gedrungen seien und die Generalversammlung wohl strenger und entschiedener als bisher alle Angriffe auf die Organisation, das heißt auf die von ihm oktroyierte, zurückweisen müsse.

In der Vorversammlung war gegen die Ansicht Schweitzers — der die Begegnung mit uns hinausschieben, wenn nicht ganz verhindern wollte — mit 30 gegen 27 Stimmen unsere sofortige Zulassung beschlossen worden. Am nächsten Nachmittag traten wir in den überfüllten Saal, von wütenden Blicken der fanatisierten Anhänger Schweitzers empfangen. Liebknecht sprach zuerst, etwa anderthalb Stunden, ich folgte und sprach wesentlich kürzer. Unsere Anklagen enthielten zusammengedrängt, was ich bisher hier gegen Schweitzer vorgebracht habe. Mehrere Male erfolgten heftige Unterbrechungen, namentlich als ich Schweitzer als Regierungsagent bezeichnete. Ich solle das Wort zurücknehmen. Dessen weigerte ich mich. Ich glaubte, das Recht zu haben, meine Meinung frei aussprechen zu dürfen, sie, die Zuhörer, brauchten mir ja nicht zu glauben.

Der „Sozialdemokrat“ brachte einen sehr verstümmelten, zum Teil gefälschten Bericht unserer Reden, der irreführend wirkte. Liebknecht übertrieb die Loyalität. Er unterließ jede Berichterstattung und begnügte sich, im „Demokratischen Wochenblatt“ mitzuteilen, daß wir auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gewesen und unsere Anklagen gegen Schweitzer vorgebracht hätten. Schweitzer habe mit 6500 Stimmen gegen 4500, deren Vertreter sich der Abstimmung enthalten hätten, ein Vertrauensvotum erhalten. Doch da wir begründete Aussicht auf Verständigung, wenn auch nicht auf Vereinigung der vermiedenen sozialdemokratischen Fraktionen hätten, werde das „Demokratische Wochenblatt“ keine Angriffe auf Schweitzer mehr veröffentlichen, wobei wir voraussetzten, daß von der Gegenseite dieselbe Taktik innegehalten werde. Das geschah aber nicht, vielmehr setzte der „Sozialdemokrat“ seine Angriffe auf uns fort.

Schweitzer, der während unserer Reden auf dem Podium hinter uns saß, erwiderte kein Wort. So verließen wir den Saal, wobei einige Delegierte vor und hinter uns gingen, um uns vor Tätlichkeiten der fanatisierten Anhänger Schweitzers zu schützen. Aber Schmeichelworte wie Schufte, Verräter, Lumpe, euch sollte man die Knochen im Leibe zerschlagen usw., bekamen wir bei dem Gange durch das lebende Spalier in Menge zu hören. Auch machte einer der Anwesenden den Versuch, mich beim Heruntersteigen vom Podium durch einen Stoß in die Kniekehle zu Fall zu bringen. Vor der Tür nahmen uns unsere Freunde in Empfang, um uns als Schutzgarde nach unserem Hotel zu geleiten.

Schweitzer verlangte von den Delegierten ein Vertrauensvotum. Nach erregter Debatte wurde ihm dasselbe mit der oben mitgeteilten Stimmenzahl erteilt. Die Delegierten, die sich der Abstimmung enthielten, waren: Bracke, Bräuer, Rudolph-Hannover, v. Daake, Geib, Hirsch, Perl, Raspe-Essen, Schrader, Louis Schumann-Berlin, Spier, Heinrich Vogel, Wilke und York.

Die Genannten mußten schwer büßen, daß sie das Vertrauensvotum verweigert hatten; im „Sozialdemokrat“ fielen die Angriffe hageldicht auf sie nieder. Das beschlossene Vertrauensvotum lautete:

„In Erwägung, daß in den Ausführungen der Herren Bebel und Liebknecht
nichts Neues und Erhebliches enthalten ist, erklärt die
Generalversammlung, daß der Vereinspräsident nach wie vor das volle
Vertrauen der deutschen Arbeiterpartei besitzt.“

Die Elberfelder Generalversammlung bedeutete für Schweitzer eine Reihe schwarzer Tage. Was er im Herbste nach der Auflösung des Vereins durch die Leipziger Polizei an diktatorischen Bestimmungen in die neue Organisation gebracht hatte, fiel jetzt den Beschlüssen der Generalversammlung zum Opfer. Zunächst wurde beschlossen, daß die Leitung des Vereins aus einem Vorstand von 15 Personen statt wie bisher von 25 bestehen solle. Außer dem Präsidenten, Kassierer und Sekretär mußten die übrigen 12 Mitglieder an einem Orte wohnen, damit sie in beständiger Fühlung miteinander waren und jeden Augenblick eine Sitzung einberufen konnten. Die Sitzungen des Vorstandes sollte dessen Vorsitzender berufen, nicht wie bisher der Präsident. Der letztere sollte auch nicht sechs Wochen vor der Generalversammlung, sondern erst nach derselben durch direkte Wahl seitens der Vereinsmitglieder gewählt werden, nachdem das Protokoll veröffentlicht worden sei, damit die Mitglieder wußten, was auf der Generalversammlung geschehen sei. Die Befugnis des Präsidenten, für von ihm getroffene Anordnungen erst binnen drei Monaten die Genehmigung des Vorstandes einzuholen, wurde auf acht Tage beschränkt, machte also die Befugnis gegenstandslos. Außerdem sollte der Vorstand mit einfacher Mehrheit über die innere Organisation, den Geschäftsgang, die Förderungsmittel des Vereins, das Schreib- und Kassenwesen beschließen. Ferner sollte der Vorstand auch das Recht haben, in Fällen einer politischen Unredlichkeit oder grober Kassenvergehen ihn vom Amte zu suspendieren und die endgültige Entscheidung durch eine sofort zu berufende Generalversammlung oder durch Urabstimmung herbeiführen. Durch diese und noch eine Reihe anderer Bestimmungen wurden die Machtbefugnisse Schweitzers sehr bedeutend eingeschränkt. Die Beschlüsse legten Zeugnis ab von einem sehr intensiven Mißtrauen, das gegen ihn herrschte, und bemerkenswert ist, daß die wichtigsten Bestimmungen angenommen wurden, obgleich er opponierte. Weiter wurde eine Ueberwachungs- und Beschwerdekommission von drei Berliner Mitgliedern eingesetzt, die alle Beschwerden gegen die Redaktion entgegennehmen und darüber entscheiden sollte. Durch diese Beschlüsse war der Verein auf eine durchaus demokratische Basis gestellt. Schweitzer war durch die Einschränkung seiner Allmacht so deprimiert, daß er, nach Berlin zurückgekehrt, Annäherungsversuche an uns machte. Unter dem 8. April sandte ich meiner Frau einen Brief, in dem es hieß:

„Schweitzer hatte, obgleich ich ihn anfangs ignorierte, sich an mich herangeschlängelt, als ich mit einem anderen Kollegen eine Unterhaltung hatte. Beim Schluß der Sitzung hat er mich eingeladen, mit ihm, Fritzsche und Hasenclever zu speisen. Diese Einladung auszuschlagen war unmöglich, ohne grob zu erscheinen. Schweitzer ließ darauf seine elegante Equipage mit Livreebedienten vorfahren und fuhr mit uns nach dem Lokal, in dem wir speisten. (Wir aßen bei Olbrich, damals ein bayerisches Bierlokal, auf der Leipzigerstraße in der Nähe der Linden.) Nach dem Essen ließ er es sich nicht nehmen, mich mit der Equipage nach dem Anhalter Bahnhof zu fahren, woselbst ich Liebknecht abholen wollte.“ Nebenbei bemerkt, sein Essen zahlte jeder selbst.

Während des Essens wurde über Waffenstillstandsbedingungen verhandelt. Ich erklärte mich zu solchen bereit, könnte mich aber auf nichts Bestimmtes einlassen, bevor nicht Liebknecht mit dabei sei. Mit dreien gegen mich allein zu verhandeln, war mir bedenklich. Die folgenden Tage setzten wir die Verhandlungen im Reichstag fort. Schweitzer verlangte, daß nicht nur die gegenseitigen Angriffe in den Blättern und Versammlungen eingestellt würden, sondern daß auch die Mitglieder der beiden Parteien nicht miteinander politisch verkehren oder gemeinsame Aktionen unternehmen dürften. Das letztere lehnten wir ab, wie wir denn überhaupt wiederholt sehr heftig aneinander gerieten und Schweitzer nichts schenkten. Es sei eine Beleidigung für uns und auch eine solche für die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, sich gegenseitig wie Feinde anzusehen. Daß weder die Personen noch die Organisationen gegenseitig angegriffen werden dürften, sei selbstverständlich. Auch kamen wir überein, künftig im Reichstag die von der einen oder anderen Partei gestellten Anträge gegenseitig zu unterstützen. Darauf veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ in der Nummer 45 vom 16. April die Ankündigung, wonach er von jetzt ab weder Angriffe gegen Liebknecht und mich, noch gegen unsere Partei bringen würde, und forderte die Vereinsmitglieder auf, im gleichen Sinne zu handeln. Umgekehrt veröffentlichten wir im „Demokratischen Wochenblatt“ eine ähnlich lautende Erklärung.

So schien alles in schönster Harmonie zu sein. Aber Schweitzer konnte sich der neuen Ordnung nicht fügen; eine demokratische Organisation, wie sie die Barmen-Elberfelder Generalversammlung geschaffen hatte, war für ihn der politische Tod. Dieselbe legte ihm in einer Weise Fesseln an, daß die bisher geübte politische Zweideutigkeit für künftig unmöglich wurde. Außerordentlich bezeichnend für sein damaliges Verhalten ist auch, daß er das ausführliche Protokoll, das über die Elberfelder Verhandlungen erschienen war, unterschlug und verschwinden ließ, wie er das gleichfalls mit dem Protokoll der Hamburger Generalversammlung aus dem vorhergehenden Sommer getan hatte. Es sollte nichts, was ihn kompromittierte, den Vereinsmitgliedern bekannt werden und in die Oeffentlichkeit dringen.

Da erschien wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine Proklamation in Nummer 70 des „Sozialdemokrat“ vom 18. Juni, überschrieben: Wiederherstellung der Einheit der Lassalleschen Partei, und unterzeichnet von Schweitzer und Mende. Wiederholt sei hier, daß seit Anfang 1867 sich ein Teil der Mitglieder vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein unter dem Einfluß der Gräfin Hatzfeldt losgelöst und unter dem Namen „Lassallescher Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein“ organisiert hatte, dessen Präsident Mende war. Das Organ des letzteren Vereins war die „Freie Zeitung“. Die beiden Vereine lagen sich seitdem gegenseitig in den Haaren. Jetzt hatten sich die feindlichen Brüder, soweit ihre Präsidenten und die Gräfin Hatzfeldt in Frage kamen, auf einmal gefunden und traten Hand in Hand vor ihre Anhänger.

Der veröffentlichte Aufruf war ein ungemein phrasenreiches Schriftstück, das mit einer Verherrlichung Lassalles begann. Wieder wurde das Wort Lassalles: „Ihr sollt die Organisation aufrechterhalten, sie wird euch zum Siege führen“, zitiert. Weiter hieß es in hochtrabenden Worten:

„Die erwählten Führer der beiden Vereine sind von dieser Erkenntnis durchdrungen; mit gehobenem Gefühl treten sie heute vor die Mitglieder der beiden Vereine und fordern sie auf, ein stolzes Werk ihnen bauen zu helfen, … einen wahrhaft Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, mächtig über ganz Deutschland…. Unseren Vorschlag unterbreiten wir den gesamten Mitgliedschaften beider Vereine, das heißt dem souveränen Volk selbst unmittelbar zur sofortigen Entscheidung. (Auch im Original gesperrt.)

Das alte Lassallesche Statut ist es, unter dem wir dereinst einig waren und zu dem wir zurückkehren müssen, um diesmal in einheitlicher Entwicklung, von diesem Boden aus gemeinsam voranzuschreiten….“

Dann wurde gefordert, daß bis zum 22. ds. Mts. — der Ausruf, vom 16. datiert, erschien am 18. Juni im „Sozialdemokrat“ und gelangte erst am 19. oder 20. in die Hände der meisten Mitglieder — über ihren Vorschlag abgestimmt werden solle und am 23. das Abstimmungsresultat in Berlin angelangt sein müsse.

Des weiteren wurde erklärt, daß, wenn die Abstimmung zugunsten des Mende-Schweitzerschen Vorschlags ausfalle — in berechnender Bescheidenheit trat Schweitzer hinter den stupiden Mende zurück —, sollten am 24. Juni beide Vereine aufgelöst werden, worauf noch an demselben Tage einige Parteifreunde zusammentreten und die Wiederherstellung des ursprünglichen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unter dem alten Lassalleschen Statut beschließen sollten. Die Präsidentenwahl sollte am 30. Juni stattfinden und am 3. Juli das Resultat verkündet werden. Bis zur Wahl des Präsidenten sollte Mende als Präsident, Tölcke als Sekretär, Bracke als Kassierer fungieren. Der Aufruf schloß:

„Macht es möglich, Parteigenossen, daß, wenn der Todestag Lassalles wiederkehrt, wir alle, alle über seinem Grabe uns die Hände reichen und uns sagen können: Wir haben uns des Meisters würdig gezeigt.

Dieses Vorgehen der beiden Präsidenten war der Staatsstreich. Damit war die demokratische Organisation, welche die Elberfelder Generalversammlung dem Schweitzerschen Verein gegeben hatte, mit einem Schlage vernichtet. Schweitzer hatte die ihm angelegten Fesseln mit einem Ruck zerrissen und war wieder unumschränkter Herr und Diktator. Um den befürchteten Widerstand des in Hamburg domizilierten Vorstandes zu brechen, schickte Schweitzer seinen Vertrauensmann Tölcke nach dort, dem die Ueberredung des Vorstandes gelang. Geib telegraphierte: „Vorstand befürwortet einstimmig nach Erwägung der ihm von Tölcke vorgetragenen Gründe Wiedervereinigung. Mitgliederversammlung stimmte zu.“

Aber nun galt es auch die zwischen Schweitzer, Fritzsche, Hasenclever und uns getroffenen Vereinbarungen aufzuheben. Zu diesem Zwecke erklärte Schweitzer in der Nummer 72 des „Sozialdemokrat“ vom 22. Juni: Wir hätten diese Abmachungen gebrochen, indem wir erneut wissentlich und in böswilliger Weise einen Eingriff in die von uns gehaßte Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins versuchten. Damit hätten wir die getroffenen Vereinbarungen gelöst, und nun hielten auch sie sich nicht mehr daran gebunden.

Das begangene „Verbrechen“ fiel zunächst auf mein Haupt. Ich hatte im Laufe des Juni in zwölf thüringischen Städten Versammlungen abgehalten, darunter auch in Apolda, Erfurt und Gotha. Hier hatten die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, indem sie mich dazu einluden, Versammlungen einberufen, und deren Bevollmächtigte führten darin den Vorsitz. Alle Versammlungen waren überfüllt und verliefen ausgezeichnet. In jenen Versammlungen war eine Resolution angenommen worden, dahin lautend, daß nur die sozialdemokratischen Prinzipien es seien, welche die Lage der arbeitenden Klassen verbessern könnten, und daß eine Einigung der sozialdemokratischen Arbeiterfraktionen herbeigeführt werden müsse.

Den Schluß meiner Agitationsreise bildete eine Konferenz in Eisenach, an
der außer unseren Anhängern auch Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins und Mitglieder der Demokratischen Partei teilnahmen. Es
sei hier erläuternd bemerkt, daß zu jener Zeit eine Anzahl bürgerlicher
Demokraten in Thüringen vorhanden waren, die sämtlich auf dem Standpunkt
Jacobys standen, so Professor Abbe und sein Schwiegervater Professor
Snell, weiter Dr. Sy in Jena, der später der Partei sich anschloß,
Rechtsanwalt Creuznacher in Eisenach usw. Ferner zählte diese Partei
Anhänger in Weimar, Gotha und Altenburg. In Eisenach war in einer
Resolution erklärt worden:

„Zur gemeinsamen Arbeit für die Lösung der sozialen Frage ist es nicht nur erforderlich, daß die Spaltung unter den verschiedenen Fraktionen der Demokratischen Arbeiterpartei aufhört, sondern auch, daß die demokratischen Arbeitervereine mit der gesamten demokratischen Partei geeint seien, daß namentlich bei gemeinsamen politischen Angelegenheiten, insbesondere bei Wahlen, die demokratische Partei und die sozialdemokratischen Arbeitervereine zusammengehen.“

Das war also das Verbrechen, das Schweitzer zu seinem Vorgehen gegen uns veranlaßte.

Das Agitieren machte mir übrigens trotz aller Erfolge und Beifallsbezeigungen wenig Vergnügen. Am 7. Juni hatte ich meiner Frau von Ronneburg aus geschrieben: „Bei aller Liebe und Freundschaft, die einem die Leute erweisen, ist das Agitieren kein angenehmes Geschäft.“ Und wie lange habe ich es nachher noch betrieben. Die Pflicht gebot es, das genügte.

Die Rebellion im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein.

Schweitzers und Mendes Staatsstreich machte in weiten Kreisen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins böses Blut. Ein Teil der intelligenteren Mitglieder sah ein, daß es kein Auskommen mehr mit Schweitzer gebe und er das Hindernis einer Einigung sei. Bracke ließ durch Vermittlung von Bremer-Magdeburg Liebknecht und mich wissen: sie wünschten eine Zusammenkunft mit uns. Auf diesen Wunsch gingen wir bereitwillig ein. Am 22. Juni abends trafen wir uns — Bracke, Bremer, Spier-Wolfenbüttel, York-Harburg, Liebknecht und ich — in einem Gasthaus dritter Güte in Magdeburg. Die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Bracke und Bremer waren für sofortiges Losschlagen gegen Schweitzer und Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein. Spier und York hatten große Bedenken. Man müsse versuchen, den Verein von „innen heraus“ zu reformieren, meinten sie; worauf wir antworteten, daß gerade die Vorgänge von Barmen-Elberfeld zeigten, wie es mit einer Reformierung von innen heraus aussehe. Solange Schweitzer Präsident sei und den „Sozialdemokrat“ in der Hand habe, sei es unmöglich. Schließlich wurden wir einig. Es war Mitternacht, als der prächtige Bracke sich über das in der Wirtsstube stehende Billard streckte, um auf demselben den Aufruf niederzuschreiben, für den alsdann Unterschriften für die Einberufung eines Kongresses gesammelt werden sollten. Nachdem wir den Aufruf nochmals gründlich durchberaten, gingen wir gegen 3 Uhr zu Bette. Aber, o weh! Wir waren in ein Wanzennest geraten. Keiner von uns konnte schlafen. Bereits um 4 Uhr erhoben wir uns und fuhren mit den ersten Frühzügen nach unseren Heimatorten zurück. Beschlossen war worden, einen Kongreß nach einer mitteldeutschen Stadt — Gotha oder Eisenach — zu berufen und zur Beschickung desselben auch die deutsch-österreichischen und die deutschen Arbeitervereine der Schweiz einzuladen, ebenso die deutsche Abteilung der Internationale um eine Vertretung zu ersuchen.

Wegen seiner historischen Bedeutung bringe ich den Aufruf von Bracke und Genossen wörtlich zum Abdruck:

An die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

Parteigenossen! Unter einer Menge von heuchlerischen Redensarten hat der Präsident unseres Vereins eine Maßregel getroffen, welche jedes denkende Mitglied mit Entrüstung erfüllen muß. In derjenigen Eile, welche diese Vorgänge geboten — weshalb denn auch niemand sich über Zurücksetzung beklagen wolle —, sind die Unterzeichneten zusammengetreten und haben sich über einen Schritt geeinigt, der von den weittragendsten Folgen für die Partei sein wird. Wir bitten Euch, Parteigenossen, aufmerksam und vorurteilsfrei unsere Meinung zu prüfen.

Während noch vor kurzem die Herren Schweitzer und Mende, die sich in der heftigsten Weise gegenseitig beschuldigten, Söldlinge der Reaktion zu sein, von einer Verschmelzung der verschiedenen Fraktionen der Arbeiterpartei nichts wissen wollten, treten sie plötzlich heute (im Einverständnis mit der Gräfin Hatzfeldt) mit rührenden Worten vor die Mitglieder ihrer Vereine, um dieselben aufzufordern, eine Einheit lediglich dieser beiden Fraktionen der Partei herbeizuführen — wobei denn von der Einigung der gesamten sozialdemokratischen Partei keine Rede ist —, und dies alles unter Bedingungen, welche ein Hohn sind auf die Rechte des sogenannten „souveränen Volkes“. Nicht allein ist die Frist der Abstimmung so kurz, daß es unmöglich erscheinen muß, daß die Mitglieder sich über die Frage wirklich ein Urteil bilden können, so daß alles wie die reinste Ueberrumpelung erscheint; nicht allein ist die Form der Abstimmung, bei der man den Mitgliedern einfach die Pistole auf die Brust setzt mit der Aufforderung, ja oder nein zu sagen, also entweder sich in die schmachvollsten Bedingungen zu fügen oder auf die sehnlichst gewünschte, wenn auch nur stückweise Einigung zu verzichten; nicht allein ist diese Form der Abstimmung eine demokratisch gesinnter Männer unwürdige, sondern es ist auch der Präsident so eigenmächtig bei dem allen vorgegangen, wie es fast ohne Beispiel ist. Nie ist über amerikanische Sklaven in willkürlicherer Weise verfügt worden, als hier über die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Wozu auch vorher, ehe man solche im höchsten Grade wichtige Schritte tut, die Mitglieder oder den Vorstand um ihre Meinung fragen?! Wenn die Tatsachen fertig sind, wird die „freie“ Zustimmung der Mitglieder durch einige Redensarten erpreßt. Wenn Herr v. Schweitzer diktiert, haben die Mitglieder einfach zu gehorchen, und dann nennt man dieselben noch das „souveräne Volk“. Ein größerer Hohn war nie einem Menschen geboten. Wenn Herr v. Schweitzer es für gut hält, wird den Mitgliedern zugemutet, mit eigener Hand und mit einem Schlage das mühsam in einer Reihe von Jahren aufgebaute Reformwerk zu vernichten und ohne weiteres ein Statut anzunehmen, das früher zu dem erbittertsten Zwiespalt Veranlassung gegeben hat; ein Statut, nach welchem der Präsident die unumschränkteste Gewalt in seinen Händen und der Vorstand nicht den allergeringsten Einfluß hat, und das zu alledem dahin ausgelegt werden kann, daß auf volle drei Jahre hinaus jede Aenderung an demselben unmöglich ist! Das Vorgehen des Präsidenten in diesem Falle — ein Staatsstreich im kleinen — erhebt den schon seit langer Zeit von vielen Mitgliedern des Vereins gehegten Argwohn zur Gewißheit, daß Herr v. Schweitzer den Verein lediglich zur Befriedigung seines Ehrgeizes benutzt und ihn zum Werkzeug einer arbeiterfeindlichen reaktionären Politik herabwürdigen will; sonst würde derselbe jetzt die Einigung der gesamten sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands suchen. Wer die Einigung eines Teils der sozialdemokratischen Arbeiter empfiehlt, ohne dabei mit aller Energie auf die Einigung der gesamten Partei zu wirken, welche ihr allein Macht und Einfluß verschaffen kann, wer durch Einigung eines Teiles in diesen Formen die Einigung aller Teile unmöglich macht, und wer dies tut mit rührenden, von Bruderliebe überfließenden Worten, der ist ein elender Heuchler; und wer dann diejenigen, welche sich den gestellten schmachvollen Bedingungen nicht fügen, sondern etwas Größeres, etwas Erhabeneres erstreben, als Gegner der Einigung überhaupt brandmarken will, ist ein Jesuit ohnegleichen.

Die Einigung der gesamten sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands herbeizuführen, muß das Streben jedes ehrlichen Sozialdemokraten sein. Angesichts der immer mächtiger sich ausbreitenden Wogen der Bewegung, angesichts der Vorzeichen, welche in allen Kulturstaaten der Welt auf eine baldige mächtige Umgestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse hindeuten, ist ein Verschleppen dieser Einigung Verrat.

  Diese Einigung kann aber nur das Werk sein des wirklich souveränen
  Volkes selbst, und Ihr, Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
  Arbeitervereins, werdet Euch nicht verschachern lassen nach der Laune
  einiger Führer wie eine Herde Schafe, sondern Ihr werdet wie Männer
  Eures eigenen Geschickes Schmiede sein!

Wir haben eingesehen, daß eine Organisation, in welcher der Wille eines Einzelnen sich hinwegsetzen kann über alle Errungenschaften des Vereins, ja den Verein selber in jedem Augenblicke in Frage stellen, denselben jeden Augenblick auflösen und in anderer ihm passenderer Form wieder ins Leben rufen kann, in welcher dieser Einzelne die Pfennige der Arbeiter gebraucht, um elende Lumpen zu bestechen, daß eine solche Organisation keine Faser von demokratischem Geiste in sich hat. In einer solchen Organisation ferner zu wirken, wäre schmähliche Verschwendung unserer besten Kräfte; wir verzichten darauf!

Geleitet von dem Gedanken, daß nur von der Partei selbst über ihre Organisation beschlossen werden kann, und ferner geleitet von dem Gedanken, die Einigung der sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands, auch was die Gewerkschaften betrifft, herbeizuführen, haben wir den Entschluß gefaßt, in kürzester Zeit einen allgemeinen Kongreß der gesamten sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands zu berufen, auf welchem der Grund einer wirklich demokratischen Organisation der Partei, im Anschluß an die internationale Bewegung, gelegt werden kann. Parteigenossen, wir rechnen auf Eure Unterstützung! Die sozialdemokratischen Arbeiter, welche nie anders als von einem künstlich erregten Haß gegeneinander erfüllt gewesen sind, werden sich zu einigen und sich eine Organisation zu geben wissen, welche den Geist ihrer Prinzipien mit der Zusammenfassung aller ihrer Kräfte vereint.

Parteigenossen, Ihr werdet Euch nicht verblenden lassen von den heuchlerischen Redensarten von Leuten, denen die Einigung der Partei nie am Herzen gelegen hat; Ihr werdet Euch eine Behandlung nicht gefallen lassen, welche man nur ehrlosen oder gedankenlosen Menschen zu bieten wagen kann; Ihr werdet Euch als das zeigen, was Ihr seid — nicht als die willenlosen Sklaven eines launischen Herrschers —, sondern als das wirklich und wahrhaft souveräne Volk, das allein über die Gestaltung seiner Geschicke zu entscheiden hat. Wagt einmal im Interesse unserer Prinzipien, im Interesse der Demokratie und des Sozialismus eine kühne Tat! Laßt uns die Fahne, auf welcher die Einigung der gesamten Partei geschrieben steht, nicht vergebens erhoben haben! Einig nur sind die Arbeiter eine Macht! Zersplittert sind wir ewig das Gespött unserer Gegner, aber einheitlich und wahrhaft demokratisch organisiert sind wir unüberwindlich.

Wenn Ihr uns zustimmt — und wir hoffen sehr, daß Ihr dies tun werdet —, so sendet Eure Zustimmung an einen der Unterzeichneten ein, damit wir gemeinsam die Einberufung des Kongreß betreiben können.

Aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein werden wir — es ist uns schwer geworden, den Entschluß zu fassen — austreten. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein war uns ans Herz gewachsen, aber im Interesse der Sache muß man das schwerste Opfer zu bringen verstehen; und anders ist keine Rettung!

Vorwärts denn, Parteigenossen, auf der neuen Bahn in heiligem Kampfe für unsere große und erhabene Sache! Begeisterung und Ausdauer verbürgen den Sieg.

Den 22. Juni 1869.

  I. Bremer in Magdeburg. Hoffmann in Neustadt-Magdeburg. W. Klees in
  Buckau bei Magdeburg. Th. Borck in Harburg. C. Müller, S. Spier und A.
  Viewieg in Wolfenbüttel. W. Bracke junior, H. Ehlers, E. Lüdecke und
  A. Schrader in Braunschweig. Friedrich Ellner in Frankfurt a.M.

In derselben Nummer des „Demokratischen Wochenblatts“ vom 26. Juni, in der wir den vorstehenden Ausruf veröffentlichten, erschien auch eine Erklärung von uns an die Parteigenossen, in der die Beschuldigung Schweitzers, wir hätten die mit ihm getroffenen Abmachungen gebrochen, zurückgewiesen wurde. Alsdann unterzogen wir die Einigungskomödie der Mende-Hatzfeldt-Schweitzer einer scharfen Kritik. Wir erklärten: „Wir werden den Kampf aufnehmen und mit aller Kraft und Zuversicht ihn führen, Hand in Hand mit den klarblickenden Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.“ Wir schlossen:

„Es wird sich zeigen, ob die Korruption, die Gemeinheit, die Bestechlichkeit auf jener Seite, oder die Ehrlichkeit und die Reinheit der Absichten auf unserer den Sieg davonträgt.

Unsere Losung sei: Nieder mit der Sektiererei! Nieder mit dem Personenkultus! Nieder mit den Jesuiten, die unser Prinzip in Worten anerkennen, in Handlungen es verraten! Hoch lebe die Sozialdemokratie, hoch die Internationale Arbeiterassoziation!“

Daß wir in dieser Erklärung und später wiederholt die Ehrlichkeit unserer Absichten gegen die unehrlichen Schweitzers ins Feld führten, brachte nachher der neu gegründeten Partei von der Gegenseite den Spitznamen „Die Ehrlichen“ ein.

Auf meinen Antrag beschloß der Vorortsvorstand einstimmig, sich dem Aufruf von Bracke und Genossen zur Einberufung eines allgemeinen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongresses anzuschließen und die Vorstände der Arbeitervereine aufzufordern, ein gleiches zu tun. Ein am 28. Juni von mir hinausgesandtes Zirkular verlangte Antwort bis spätestens den 1. Juli mittags, eventuell telegraphisch. Auch schrieb ich an Joh. Phil. Becker in Genf, der Zentralrat der deutschen Sektion der Internationale möge ebenfalls eine zustimmende Erklärung zu dem Einigungswerk einsenden. Ich hoffte, diesesmal gelinge uns ein Hauptschlag. Am 26. Juni hatten auch Geib, Praast und Ockelmann-Hamburg ihren Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein erklärt und sich Bracke und Genossen angeschlossen.

Der „Sozialdemokrat“ beobachtete jetzt die Taktik, ständig zu verkünden, unser Anhang bestehe nicht aus Arbeitern, sondern aus Literaten, Schulmeistern und sonstigen Bourgeois.

Schweitzer suchte weiter mit dem Geschick, das er besaß, die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins an der von ihm systematisch gepflegten schwachen Seite zu fassen. In einem Artikel schrieb er mit Bezug auf die Opposition:

„Ein einziger Punkt entscheidet alles. Seid ihr Demokraten oder nicht? Ihr behauptet: Ja? Wißt ihr oder wißt ihr nicht, daß der Demokrat sich der Mehrheit zu fügen hat — doppelt zu fügen hat, wenn diese Mehrheit an Einstimmigkeit grenzt? Nun denn! Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein-beide bisherigen Vereine — habe nahezu einstimmig mit Ja gestimmt. Unterwerft ihr euch jetzt dem Volkswillen? O nein! In eurer Eitelkeit, ihr ‚Demokraten‘, erklärt ihr das Volk für eine Herde Schafe und eure Meinung für unfehlbar. Geht doch, ihr aufgeblasenen Heuchler, die ihr euch weiser dünkt als das ganze Volk und als Ferdinand Lassalle!

  Weiser als Ferdinand Lassalle, euer riesenhafter Lehrer und
  Meister — ja ja. Denn der Stein des Anstoßes liegt euch darin, daß die
  Lassallesche Organisation in ihrem ganzen Umfang wieder hergestellt
  wurde …“

Das Spiel mit der Lassalleschen Organisation ging spaltenlang und fast
Nummer um Nummer weiter.

Auf der anderen Seite brachte das „Demokratische Wochenblatt“ Nummer für
Nummer Erklärungen gegen Schweitzer aus der Mitte des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins. So aus Gotha, Hamburg, Hildesheim, Erfurt,
Hannover, Solingen, Wiesbaden, Elberfeld, Chemnitz (letztere gegen
Mende). Auch H. Roller, der bisherige Sekretär des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins, erklärte sich ebenfalls gegen Schweitzer.

Von den Gewerkschaftsführern sagten sich Fritzsche, Präsident des
Zigarren- und Tabakarbeitervereins, L. Schumann, Präsident des
Allgemeinen Deutschen Schuhmachervereins, Th. Bork, Präsident des
Gewerkvereins deutscher Holzarbeiter, und Schob, Präsident des
Allgemeinen Deutschen Schneidervereins, von Schweitzer los.

Unter dem 5. Juli teilte Mende im „Sozialdemokrat“ mit, daß Schweitzer mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten gewählt sei. Eine starke Minorität sei auf ihn (Mende) gefallen, trotzdem er wiederholt erklärt habe, er nehme eine Wahl nicht an. Zahlen wurden nicht mitgeteilt. Die Beteiligung an der Wahl war weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. In der schwülstigen Ansprache, mit der Mende die Wahl Schweitzers zum Präsidenten verkündete, hieß es:

  „Wie Marat, der größte Revolutionär seiner Zeit, es so treffend
  bezeichnet: Als Diktator mit der Kugel am Bein soll der Präsident den
  Verein leiten, und diese Kugel soll sein: Prinzip und Organisation.“

Bekanntlich erwies sich diese Kugel als Attrappe. Und wiederum zitierte
Mende:

„Haltet treu und fest an der Organisation, sie muß uns zum Siege führen“, und schloß: „Es lebe Ferdinand Lassalle! Es lebe der von ihm gestiftete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein! Es lebe die Organisation!“

Schweitzer dankte für seine Wahl in einer Ansprache, die ebenso schwülstig und emphatisch war wie jene Mendes. Der Schluß lautet:

„Wohlan denn! Namens des hingegangenen Meisters, der euch alle, ihr Arbeiter, aus dem Schlummer geweckt — namens des souveränen Volkes unserer Partei, das mich zum Führer erkoren — namens eurer leidenden Brüder auf der ganzen Erde, entfalte ich die Fahne und trage sie voran. Festgeschlossen in Reih' und Glied, ihr Arbeiterbataillone, folget dem erwählten Führer.

Hoch die Manen Lassalles! Hoch die sozialdemokratische Agitation!“

So die beiden Auguren, beide, wie sich nachher sehr bald herausstellte, betrogene Betrüger. Darauf ordnete unter dem 10. Juli Schweitzer die Wahl der vierundzwanzig Vorstandsmitglieder an, für die er die Kandidatenliste vorschlug. Der Vorstand wurde wieder in früherer Weise, über Deutschland verteilt wohnend, gewählt.

Im „Sozialdemokrat“ vom 14. Juli machte Schweitzer bekannt, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein werde sich auf dem von uns berufenen sozialdemokratischen Kongreß vertreten lassen und veröffentlichte eine Reihe von Resolutionen, die seine Anhänger auf dem Kongreß zur Annahme vorschlagen sollten. Hinter unserem Kongreß, hieß es in der betreffenden Nummer, stehe die ganze liberale Bourgeoisie in allen ihren Schattierungen. Von straffer, einheitlicher Organisation könne natürlich bei uns unter einem Regiment von Literaten, Schulmeistern, Kaufleuten usw. keine Rede sein. Jeder dieser Leute müsse Gelegenheit haben, sich recht wichtig zu machen. Die gesamte Bourgeoispresse stehe uns zu Gebot, log er weiter. Er werde dafür sorgen, daß eine entsprechende Anzahl Delegierter auf den Eisenacher Kongreß komme, aber keine Literaten und Bourgeois, sondern wirkliche Arbeiter.

Von den Literaten, Schulmeistern, Kaufleuten usw., aus denen allein unsere Partei bestehen sollte, sprach er von jetzt ab nicht anders als von Achtels- und Viertelsintelligenzen.

Unter dem 17. Juli forderte das „Demokratische Wochenblatt“ Schweitzer auf, nicht nur seine Werkzeuge nach Eisenach zu schicken, sondern selbst zu kommen. Ein Wort bei der Berliner Polizei, und der Urlaub werde ihm bewilligt, falls Herr v. Schweitzer sich überhaupt noch anstandshalber sollte einsperren lassen.

Das letztere zog Schweitzer vor. Er veröffentlichte, datiert vom 17. Juli, einen langen Aufruf „An die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“, worin er noch einmal einen Ueberblick über die vorhandenen Wirren gab und eine Anzahl Versprechungen machte, die er nach seiner Freilassung aus der Haft erfüllen wolle. Er schloß den Aufruf mit den Worten:

„Behaltet mich in gutem Andenken, wie auch ich inmitten meiner
Kerkermauern eurer gern gedenken werde
. Ich scheide von euch mit dem
Rufe: Auf frohes Wiedersehen bei der alten Fahne! Es lebe der Allgemeine
Deutsche Arbeiterverein!“

Der Rest der Haft, den er jetzt „hinter Kerkermauern“ verbüßen sollte, betrug noch acht Wochen, die er in Rummelsburg mit Kahnfahrten auf dem See und anderen Annehmlichkeiten verbrachte.

Man vergegenwärtige sich jetzt folgendes. Ende November ging Schweitzer zur Verbüßung einer dreimonatigen Haft ins Gefängnis. Gegen Ende Dezember wird er wegen Ordnung von Familienverhältnissen infolge seines Vaters Tod auf acht Tage beurlaubt; er bleibt aber sieben Wochen frei, betreibt in dieser Zeit unter den Augen der Polizei und der Behörden eine intensive politische Agitation und tritt erst am 18. Februar wieder die Haft an. Am 4. März erweist ihm die Regierung abermals den Dienst, ihn wegen Eröffnung der Reichstagssession aus der Haft zu beurlauben. Die Session wird am 22. Juni geschlossen, aber Schweitzer bleibt wieder frei und betreibt abermals bis zum 19. Juli unter den Augen von Polizei und Behörden eine intensive politische Agitation. Alsdann beliebt es ihm, die Haft wieder anzutreten.

Dergleichen war weder vor noch nach Schweitzer in Preußen je möglich. Als zum Beispiel 1868 Dr. Guido Weiß wegen Preßvergehen zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt wurde, überfielen ihn einige Polizisten morgens 6 Uhr im Bett und transportierten ihn ins Gefängnis. Diese brutale Methode, politisch Verurteilte in frühester Stunde aus dem Bette zu holen und ins Gefängnis zu schleppen, war jahrzehntelang Sitte bei der Berliner Polizei. Es sind noch nicht viele Jahre her, daß diese Sitte verlassen wurde. Schweitzer hatte sich nie über solche oder ähnliche Mißhandlungen zu beklagen. Er ging ins Gefängnis und verließ dasselbe, als wenn er ins Hotel ging und dasselbe verließ. Und jeden gewünschten Besuch konnte er empfangen. Das Mißtrauen gegen ihn war also zehnfach gerechtfertigt.

* * * * *

Kurz vor dem Eisenacher Kongreß glaubte Tölcke mir eine Stinkbombe an den Kopf werfen zu müssen, in der Hoffnung, mir politisch zu schaden. Er erklärte in Nummer 87 des „Sozialdemokrat“ vom 28. Juli, ich beziehe vom Exkönig von Hannover eine jährliche Besoldung von 600 Talern. Die Beschuldigung war blöde, aber es gab Leute im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, die daran glaubten. So beschloß ich, Tölcke wegen verleumderischer Beleidigung zu verklagen. Ich bat den Parteigenossen Wilhelm Eichhoff in Berlin, mit Rechtsanwalt Hirsemenzel, damals der erste Rechtsanwalt Berlins, zu reden und ihn zu fragen, ob er den Prozeß annehmen werde. Hirsemenzel lehnte ab, und zwar weil bei dem Prozeß nichts herauskomme. Der Richter werde in der Behauptung, daß ich im Solde eines Fürsten stehen solle, nichts Ehrenkränkendes finden und eine Beweiserhebung darüber ablehnen. Tölcke würde also höchstens wegen Beleidigung verurteilt, womit mir nicht gedient sein könne. Weiter machte Hirsemenzel geltend, ließe ich den Grafen Platen, den Hausminister des Exkönigs von Hannover, als Zeugen darüber vernehmen, ob die Behauptung Tölckes wahr sei, so werde dieser schon der Konsequenzen halber das Zeugnis verweigern und dadurch erhalte die Behauptung Tölckes einen Schein von Berechtigung. Eichhoff richtete darauf zweimal ein Schreiben an Tölcke mit der Aufforderung, im „Sozialdemokrat“ die Beweise zu veröffentlichen, da er behauptete, ich stünde „erwiesenermaßen“ im Dienste des Exkönigs. Tölcke schwieg; ich richtete darauf ebenfalls eine Aufforderung an ihn, die Beweise zu veröffentlichen. Statt dessen wiederholte er seine Beschuldigung und forderte mich auf, ihn zu verklagen. Ich nannte ihn darauf einen gemeinen Verleumder und ersuchte ihn, mich vor dem Leipziger Gericht zu belangen, da der Ausgang des Prozesses in Berlin kein Resultat verspreche. Die Sache ging aus wie das Hornberger Schießen. Bracke gegenüber erklärte Tölcke, er selbst habe keine Beweise für seine Behauptung, aber ein Regierungsrat(!) habe die Behauptung aufgestellt und den könne er nur bei einer gerichtlichen Klage meinerseits als Zeugen zum Beweis seiner Angaben zwingen. —

Der Eisenacher Kongreß.

Die Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei und die Auflösung des Verbandes der deutschen Arbeitervereine.

Nachdem wir uns verständigt hatten, den Kongreß auf den 7. August nach
Eisenach einzuberufen, erschien im „Demokratischen Wochenblatt“ vom 17.
Juli der Ausruf, der unterzeichnet war von 66 ehemaligen Mitgliedern des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aus verschiedenen Orten, 114
Mitgliedern des Verbandes der deutschen Arbeitervereine — worunter
ebenfalls eine Anzahl ehemaliger Mitglieder des Allgemeinen Deutschen
Arbeitervereins waren —, einer Anzahl ehemaliger Mitglieder des
Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, vom Zentralkomitee
der deutschen Arbeitervereine der Schweiz, vom Deutsch-Republikanischen
Verein in Zürich; für die Arbeiter Oesterreichs von H. Oberwinder, H.
Hartung, B. Beschan, A. Macher, A. Straßer-Graz, und für die deutsche
Abteilung der Internationale in Genf von Joh. Phil. Becker. Der Ausruf
lautete:

An die deutschen Sozialdemokraten!

Parteigenossen! In der jüngsten Zeit haben sich im Schoße unserer Partei Ereignisse vollzogen, die jeden ehrlichen Sozialdemokraten mit Freude erfüllen müssen. Der Bann, welcher bisher auf der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung lastete, ist gebrochen; die Selbstsucht einzelner, welche sich wie ein spaltender Keil in das Mark, in das Herz unserer Partei geschoben, ist entlarvt und niedergeschmettert, und es gilt nun, rasch zu handeln, damit die Früchte des Sieges uns nicht wieder entrissen werden und damit aus der heilsamen Revolution, welche sich soeben vollzogen hat, die Prinzipienreinheit und die einheitliche Organisation hervorgehen mögen, ohne die unsere Partei den ihr gebührenden Einfluß nicht ausüben, die ihr innewohnende Kraft nicht entfalten kann.

Lange, leider zu lange, war es dem Egoismus und der Bosheit einzelner möglich, die Partei in sich zu verfeinden. Doch eine neue Zeit ist angebrochen; mit ehernem Finger zeigt sie uns auf die Notwendigkeit hin, die Partei der gesamten sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands in sich zu einigen und dieselbe in die richtige, einzig zum Siege führende Bahn der auf internationaler Grundlage beruhenden, großen Arbeiterbewegung hinüberzuleiten.

Wer, der ein aufrichtig denkender Sozialdemokrat ist, sollte sich dieser Notwendigkeit verschließen können? Wer sollte die unberechenbaren Vorteile für unsere Partei nicht ahnen, die sich aus einer derartigen Einigung auf Grund einer gemeinsamen Organisation, eines gemeinsamen Programms, eines gemeinsamen Auftretens in der politisch-sozialen Welt ergeben? — Wir zweifeln keinen Augenblick daran, daß die große, die überwältigende Mehrheit unserer Parteigenossen der besseren Erkenntnis huldigt, daß sie gern und freudig die Hand zu dem stolzen Werke bietet, das endlich unsere Partei zur großartigen und wirksamen Machtentfaltung befähigt!

Von dieser Ueberzeugung durchdrungen, haben wir uns auf einer in Braunschweig am 6. Juli dieses Jahres stattgehabten Konferenz über die hierzu zunächst erforderlichen Schritte völlig verständigt und berufen hiermit in Gemäßheit des dort gefaßten Beschlusses einen allgemeinen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongreß auf Sonnabend den 7. August, Sonntag den 8. August und Montag den 9. August nach Eisenach.

  Auf die Tagesordnung des Kongresses sind, unbeschadet weiterer
  Anträge, folgende Punkte gesetzt: l. Die Organisation der Partei. 2.
  Das Parteiprogramm. 3. Das Verhältnis zur Internationalen
  Arbeiterassoziation. 4. Das Parteiorgan (Blatt). 5. Die Vereinigung
  der Gewerkschaften (Gewerksgenossenschaften).

Die auf diese fünf Punkte der Tagesordnung sich beziehenden spezielleren Anträge, zum Beispiel Vorlage betreffs der Parteiorganisation usw., werden ihrem Wortlaut nach spätestens Ende dieses Monats gedruckt versandt werden.

Die Delegierten (Abgeordneten) zum Arbeiterkongreß haben sich durch ein Mandat (Vollmacht), worin der Ort, für den sie abgeordnet sind, sowie die Zahl ihrer Wähler, die sie vertreten, angegeben sein muß, zu legitimieren. Es kann solche Legitimation erfolgen entweder durch Mandate, welche im Namen von Vereinen oder deren Mitgliedschaften, oder welche auch im Auftrag von zum Zwecke der Beschickung des Kongresses stattgehabten Volksversammlungen ausgestellt sind, oder endlich auch Mandate, welche mit den Unterschriften der an einem Orte anwesenden Parteigenossen versehen sind. Mehrere Orte, denen es zu schwer wird, je einen Delegierten zu senden, mögen zusammentreten, um mindestens gemeinsam einen Delegierten abzuordnen.

Es ist dringend notwendig, daß der Kongreß schon am Sonnabend den 7. August, abends 8 Uhr, eröffnet wird, damit die Wahl des Bureaus und die Feststellung der Geschäftsordnung erfolgen kann, weshalb denn auch die Delegierten noch an diesem Tage (7. August) in Eisenach eintreffen wollen.

Wir geben uns der frohen Hoffnung hin, daß von allen Orten des großen Gesamtdeutschlands, wo die Arbeit im Kampfe mit der Kapitalmacht, wo der Volkswille gegen die staatliche Reaktion tagtäglich im Ringen nach Freiheit begriffen ist, Vertreter zum Kongreß abgeordnet werden — wir hoffen es zum Wohle und Wachstum der Partei, welche die politischen und sozialen Rechte des gedrückten Volkes mit Flammenschrift auf ihre Fahne schrieb.

  Auf, Parteigenossen, zu wirken für den allgemeinen deutschen
  Arbeiterkongreß, zu wirken durch ihn für die Größe und Einheit der
  Partei!

Im weiteren berief ich im Auftrag des Vorortsvorstandes als Vorsitzender desselben für Montag den 9. August einen Vereinstag der deutschen Arbeitervereine nach Eisenach mit der Tagesordnung: 1. Bericht des Vorstandes. 2. Beratung über die Frage: Welche Stellung soll der Verband zu der neuen Organisation der sozialdemokratischen Partei einnehmen? Eventuell Auflösung des Verbandes.

Von den Einberufern des Kongresses erhielt ich den Auftrag, die nötigen Vorkehrungen für den Kongreß in Eisenach zu treffen, ferner einen Programm- und einen Organisationsentwurf auszuarbeiten und zur gemeinsamen Beratung vorzulegen. Bracke und Geib meinten, es sei an uns, die für passend erachteten Vorschläge zu machen. Liebknecht war mit der Redaktion des „Demokratischen Wochenblattes“ und der Polemik gegen den „Sozialdemokrat“ beschäftigt, so fiel mir die erwähnte Arbeit zu.

Ich betrachte noch heute mit einiger Heiterkeit die Schriftstücke, worin sowohl die königlich sächsische Staatsbahnverwaltung wie das Direktorium der damals privaten Thüringischen Eisenbahngesellschaft auf meine Gesuche mir anzeigten, daß sie die üblichen Fahrpreisermäßigungen für Besucher von Kongressen auch den Besuchern des in Eisenach stattfindenden sozialdemokratischen Kongresses gewährten. Heute geschähe dergleichen nicht mehr.

* * * * *

In eine kleine Verlegenheit brachte mich ein Artikel, in dem Joh. Phil. Becker im „Vorboten“ seine Ansichten über die Organisation der neuen Partei entwickelte. Der alte Jean Philipp war ein prächtiger Kerl, opferbereit, hingebend, unermüdlich bei Tag und Nacht, ein Haudegen, der wie 1848 und 1849 in der badischen Revolution als Oberst eines Freischarenregiments jetzt wieder bereit gewesen wäre, zu Pferde zu steigen. Auch wußte er aus seinem sehr bewegten Leben eine Menge Geschichten, Schnurren und Anekdoten zu erzählen, die er in äußerst lebendiger Weise zum Vortrag brachte. Ich habe mich öfter stundenlang über seine Erzählungen amüsiert. Aber von einer Parteiorganisation verstand er nicht allzuviel, und seine lange Abwesenheit aus Deutschland hatten ihn den deutschen Verhältnissen entfremdet. Statt einer geschlossenen, möglichst zentralisierten, aber demokratisch organisierten Partei, die fähig zu kräftigem Handeln war, wollte Becker eine Verbindung, die wohl die Propagierung der sozialdemokratischen Grundsätze betreibe, aber keine feste Parteiorganisation habe; sie müsse sich, wie er es nannte, einen stets wandelbaren und entwicklungsfähigen Charakter bewahren, und diese Verbindung sollte von Genf abhängen. Einen bezüglichen Entwurf hatte er im „Vorboten“ veröffentlicht und hoffte, daß der Eisenacher Kongreß ihm zustimmen werde. Dieser Artikel Beckers veranlaßte Marx, mir zu schreiben, daß sie mit demselben nichts zu tun hätten und die Ansichten desselben nicht teilten. Darauf antwortete ich Marx unter dem 30. Juli:

„Ihr werter Brief, den ich soeben empfangen, hat mir viel Freude gemacht. Ich habe die Vorschläge Beckers im ‚Vorboten‘ ebenfalls gelesen und muß gestehen, daß sie mich etwas unbehaglich stimmten, weil ich daraus zu ersehen glaubte, daß es Becker darum zu tun sei, die Leitung für Deutschland in bezug auf die Internationale in die Hände zu bekommen. Mein Entschluß war denn auch, auf dem Kongreß das unpraktische, ja unausführbare, Zeit und Geld kostende Projekt zu bekämpfen. Es freut mich nun, an dem Generalrat der Internationale selbst eine Stütze gefunden zu haben. Fürchten Sie deshalb nicht, daß ich Sie oder den Generalrat irgendwie nutzloser Weise in die Debatte hereinziehen werde; ich werde sogar versuchen, wenn Becker selbst oder ein anderer Vertreter aus Genf kommt, ihm privatim die Gründe auseinanderzusetzen. Auch können Sie im voraus versichert sein, daß Beckers Vorschlag weder von unserer Seite, noch von seiten der Opposition des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, noch von den schweizer oder österreichischen Vertretern unterstützt wird, ich müßte denn die Stimmung sehr schlecht kennen. Wie wir uns unser Verhältnis zur Internationale gedacht, werden Sie aus dem von mir entworfenen und von Braunschweig und Hamburg mitberatenen Organisationsentwurf, den das „Demokratische Wochenblatt“ diese Woche bringt, ersehen. Ich glaube, es ist die einzig richtige und mögliche Form.“

An I. Ph. Becker schrieb ich einen Brief im gleichen Sinne, in dem ich unter anderem auch ein Urteil über Schweitzer abgab, und zwar schrieb ich Becker mit Bezugnahme auf Schweitzers Plan, Delegierte zum Eisenacher Kongreß senden zu wollen:

„Es ist bei aller Pfiffigkeit Schweitzers doch eine große Dummheit, daß er seinen Coup selber verrät. Ich habe überhaupt im Zusammensein mit ihm, sowohl in Barmen-Elberfeld wie in Berlin, die Beobachtung gemacht, daß er, namentlich wenn man ihm persönlich gegenübertritt, sehr leicht den Kopf verliert und Dummheiten macht. Das böse Gewissen ist's, das ihm jederzeit die Besinnung raubt, sobald ihn einer an der Kehle packt.“

Ich möchte hier auch einige Worte über Schweitzers Aeußere verlieren. Schweitzer war von hoher, schlanker Gestalt und hatte bleiche, verlebte Gesichtszüge. Das braune Haar war dünn, ebenso die Bartkoteletten und der verzwirbelte Schnurrbart. Die Nase war ziemlich lang und gegen ihr Ende gebogen und spitz; hinter der Brille sahen ein paar kalte, glitzernde Augen hervor. Wenn er stand oder ging, legte er stets die Hände auf den Rücken und zog den Kopf zwischen die Schultern. Er mußte sehr blutarm sein, denn als ich ihm nach der Barmen-Elberfelder Affäre einmal in Berlin die Hand reichte, schauerte ich ein wenig zusammen. Es war, als hätte ich die kalte, feuchte Hand einer Leiche erfaßt.

* * * * *

Der Kongreß war von einer stattlichen Zahl von Delegierten besucht. Es waren 262 Abgeordnete anwesend, die 193 Orte vertraten. Darunter Johann Philipp Becker-Genf, Greulich und Dr. Ladendorf-Zürich, Oberwinder und Andreas Scheu-Wien, Hofstetten-Berlin. Sonnemann-Frankfurt war ebenfalls zugegen, er beteiligte sich auch einigemal an der Debatte. Von jetzt ab besuchte er aber keinen Arbeiterkongreß mehr; seine Hoffnungen, es könne noch zwischen der Arbeiterpartei und der Volkspartei zu einer Verständigung kommen, erfüllten sich nicht. Der Klassencharakter der Partei stieß ihn ab. Die „Schweitzerianer“, wie wir die Delegierten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins jetzt nannten, waren ganz bedeutend schwächer vertreten, nicht halb so stark. Dieselben versammelten sich im „Schiff“, unsere Delegierten im „Goldenen Bären“. Da von den verschiedensten Seiten Mitteilungen gemacht wurden, daß die Schweitzerianer den Kongreß mit Gewalt sprengen wollten, begab ich mich zum Oberbürgermeister und zur Polizei, um zu hören, wie diese die Situation betrachteten, denn es lag uns selbstverständlich alles daran, den Kongreß abhalten zu können, sollten nicht die enormen Opfer umsonst gebracht worden sein. Die Erklärung lautete, daß wir die Versammlungen ganz nach Belieben wo und wie abhalten könnten. In Sachsen-Weimar gebe es kein Vereins- und Versammlungsgesetz, die Versammlungsfreiheit war also eine absolute. Weiter wurde mir versichert, daß die Polizei, falls die von uns getroffenen Anordnungen mit Gewalt gestört werden sollten, bereit sei, einzugreifen. Eine Aufforderung an die Schweitzerianer im „Schiff“, ihre Mandate abzugeben und dieselben gegen rote Legitimationskarten einzutauschen, verweigerten sie. Abends gegen 7 Uhr rückten sie dann über hundert Mann stark, unter Führung des Riesen Tölcke, in den „Goldenen Bären“. Ueber seine damalige Mission schrieb Tölcke später in seiner Schrift „Zweck, Mittel und Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“:

„Es war überhaupt eine beliebte Manier des Herrn v. Schweitzer, überallhin, wo es galt, in heißem Kampfe einen Strauß anzufechten, andere zu senden und diesen die Verantwortlichkeit der Partei gegenüber für ein etwaiges Mißlingen aufzubürden.“

Das war vollkommen zutreffend; Tapferkeit war nicht die Stärke
Schweitzers, dagegen ließ sich damals Tölcke zu allem gebrauchen, wozu
Schweitzer ihn benutzen wollte.

Als die Schweitzerianer in den „Goldenen Bären“ einrückten, fanden sie die Treppe von uns so stark besetzt, daß sie es vorzogen, ihre Mandate abzugeben. Am Nachmittag waren in einer Vorversammlung Geib und ich zu Vorsitzenden, Oberwinder und Quick-Genf zu Stellvertretern in Aussicht genommen worden. Es war weiter auf meinen Vorschlag zwischen uns vereinbart worden, daß, falls die Versammlung am Abend tumultuarisch verlaufe, Geib den Kongreß schließen solle. Alsdann solle ein neuer Kongreß auf Sonntag vormittag einberufen werden, zu dem nur Delegierte mit gelben Eintrittskarten Zutritt hätten.

Wie vorausgesehen, so kam es. Bei der Bureauwahl entstanden bereits die stürmischsten Szenen. Wir hatten, da die Beleuchtung eine elende war, am Bureautisch ein halbes Dutzend Flaschen, in deren Hälse wir Stearinlichter gesteckt, aufgestellt. Diese waren in beständiger Gefahr, umzufallen, und mußten mit den Händen gehalten werden. Schließlich nahm der Tumult so zu, daß Geib den Kongreß schloß und anzeigte, daß er einen neuen Kongreß für nächsten Vormittag 10 Uhr in den „Mohren“ berufe, an dem nur Delegierte mit gelben Legitimationskarten teilnehmen könnten.

Unser Coup war gelungen. Während der Nacht sichteten wir (Bracke, Geib und ich) die Mandate, suchten die der Schweitzerianer heraus, und Geib übersandte sie am frühen Morgen an Tölcke mit dem Ersuchen, er möge sie den betreffenden Delegierten aushändigen. Der Kongreß verlief alsdann ohne jede Störung.

Zu Berichterstattern über Programm und Organisation waren ich und Bracke bestimmt. J.Ph. Becker hatte es sich trotz all meiner Gegengründe nicht nehmen lassen, einen langen Antrag einzubringen, wonach die Partei sich „Allgemeiner deutscher sozialistisch-demokratischer Arbeiterverein, Bestandteil der internationalen Arbeiterassoziation“ nennen solle. Der Antrag fand keine Zustimmung. Programm und Organisation wurden mit geringen Aenderungen in der von den Einberufern vorgeschlagenen Fassung angenommen. Die neue Partei erhielt den Namen „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“. Das angenommene Programm lautete:

Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

I. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Errichtung des freien Volksstaats.

II. Jedes Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei verpflichtet sich, mit ganzer Kraft einzutreten für folgende Grundsätze:

1. Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen.

2. Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.

3. Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.

4. Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.

5. In Erwägung, daß die politische und ökonomische Befreiung der Arbeiterklasse nur möglich ist, wenn diese gemeinsam und einheitlich den Kampf führt, gibt sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei eine einheitliche Organisation, welche es aber auch jedem einzelnen ermöglicht, seinen Einfluß für das Wohl der Gesamtheit geltend zu machen.

6. In Erwägung, daß die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft gibt, umfaßt, betrachtet sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation, sich deren Bestrebungen anschließend.

  III. Als die nächsten Forderungen in der Agitation der
  sozialdemokratischen Arbeiterpartei sind geltend zu machen:

  1. Erteilung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
  Wahlrechtes an alle Männer vom 20. Lebensjahr an zur Wahl für das
  Parlament, die Landtage der Einzelstaaten, die Provinzial- und
  Gemeindevertretungen wie alle übrigen Vertretungskörper. Den gewählten
  Vertretern sind genügende Diäten zu gewähren.

  2. Einführung der direkten Gesetzgebung (das heißt Vorschlags- und
  Verwerfungsrecht) durch das Volk.

  3. Aufhebung aller Vorrechte des Standes, des Besitzes, der Geburt und
  Konfession.

4. Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.

  5. Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der
  Kirche.

  6. Obligatorischer Unterricht in Volksschulen und unentgeltlicher
  Unterricht in allen öffentlichen Bildungsanstalten.

  7. Unabhängigkeit der Gerichte, Einführung der Geschworenen- und
  Fachgewerbegerichte, Einführung des öffentlichen und mündlichen
  Gerichtsverfahrens und unentgeltliche Rechtspflege.

  8. Abschaffung aller Preß-, Vereins- und Koalitionsgesetze; Einführung
  des Normalarbeitstags; Einschränkung der Frauen- und Verbot der
  Kinderarbeit.

  9. Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer einzigen
  direkten progressiven Einkommensteuer und Erbschaftssteuer.

10. Staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredit für freie Produktivgenossenschaften unter demokratischen Garantien.

IV. Jedes Mitglied der Partei hat einen monatlichen Beitrag von 1 Groschen (3-1/2 Kreuzer süddeutsch, 5 Kreuzer österreichisch, 12 Centimes) für Parteizwecke zu entrichten. Die Parteigenossen, welche auf das Parteiorgan abonnieren und dies glaubhaft nachweisen, sind während der Dauer des Abonnements ihrer Beitragspflicht enthoben. Sache des Ausschusses ist es, einzelnen Orten den Beitrag zu ermäßigen.

V. Der Beitrag ist monatlich franko an den Parteiausschuß abzuliefern.

VI. Wer drei Monate lang seine Pflichten gegen die Partei nicht erfüllt, wird als Parteimitglied nicht mehr betrachtet.

VII. Mindestens einmal im Jahre findet ein Parteikongreß statt, auf dem über alle die Partei berührende Fragen beraten und beschlossen, der Vorort der Partei sowie der Sitz der Kontrollkommission und der Ort für den nächsten Parteikongreß bestimmt wird. — Die Entschädigung für den Ausschuß respektive einzelne seiner Mitglieder setzt der Kongreß fest.

VIII. Außerordentliche Kongresse finden statt, wenn der Ausschuß oder die Kontrollkommission mit absoluter Majorität dies beschließt oder wenn ein Sechstel sämtlicher Parteimitglieder darauf anträgt.

IX. Zu jedem Kongreß ist die vorläufige Tagesordnung mindestens sechs Wochen vorher durch den Ausschuß im Parteiorgan bekanntzumachen. Die innerhalb der nächsten zehn Tage nach erfolgter Bekanntmachung von seiten der Parteigenossen einlaufenden Anträge sind alsdann mindestens vierzehn Tage vor dem Kongreß als definitive Tagesordnung zu veröffentlichen. Auf dem Kongreß gestellte selbständige Anträge kommen nur dann zur Verhandlung, wenn sich mindestens ein Drittel der Delegierten dafür erklärt.

X. Jeder Delegierte hat eine Stimme. Die Parteimitglieder, welche sich an einem Orte an den Wahlen der Delegierten beteiligen, dürfen nicht mehr als fünf stimmberechtigte Abgeordnete zum Kongreß senden. Parteimitglieder, welche nicht Delegierte sind, haben nur beratende Stimme.

XI. Spätestens drei Wochen nach dem Kongreß muß das Kongreßprotokoll allen Mitgliedern zum Kostenpreise zugänglich gemacht werden. Alle Kongreßbeschlüsse, welche eine Abänderung des Statuts, die Grundsätze und die politische Stellung der Partei oder die Besteuerung derselben betreffen, müssen innerhalb sechs Wochen nach dem Kongreß der Urabstimmung aller Parteimitglieder unterbreitet werden. Einfache Majorität der Abstimmenden entscheidet. Das Resultat der Abstimmung wird im Parteiorgan veröffentlicht.

  XII. Die Leitung der Parteigeschäfte ist einem Ausschuß von fünf
  Personen, als einem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter, einem
  Schriftführer, einem Kassierer, der eine entsprechende Kaution zu
  leisten hat, und einem Beisitzer übertragen. Sämtliche
  Ausschußmitglieder müssen an einem Orte oder in dessen einmeiligem
  Umkreis wohnhaft sein und werden von den am Vorort der Partei
  wohnhaften Parteimitgliedern in besonderen Wahlgängen durch
  Stimmzettel mit absoluter Majorität gewählt. Weder ein Mitglied der
  Redaktion noch der Expedition des Parteiorgans darf im Ausschuß sein.
  Treten im Laufe des Jahres im Ausschuß Vakanzen ein, so hat der
  Vorort — mit Ausnahme des in § VII erwähnten Falles — nach demselben
  Wahlmodus die Ergänzungswahlen vorzunehmen.

  XIII. Der Ausschuß muß innerhalb vierzehn Tagen nach stattgehabtem
  Kongreß gewählt sein; bis zu dieser Wahl verbleibt dem bisherigen
  Ausschuß, falls der Kongreß nicht anders verfügt, die
  Geschäftsführung.

  XIV. Der Ausschuß faßt alle Beschlüsse gemeinsam und ist nur dann
  beschlußfähig, wenn in einer ordentlich einberufenen Sitzung
  wenigstens drei Mitglieder anwesend sind; derselbe gibt sich, soweit
  nicht der Kongreß darüber bestimmt, selbst eine Geschäftsordnung.

  Der Ausschuß ist dem Parteikongreß für alle seine Handlungen
  verantwortlich.

XV. Um Eigenmächtigkeiten des Ausschusses möglichst zu vermeiden, konstituiert die Partei eine Kontrollkommission von elf Personen, an die alle von dem Ausschuß unberücksichtigt gelassenen Beschwerden zu richten sind, und die zugleich die Geschäftsführung des Ausschusses zu kontrollieren hat.

XVI. Die Kontrollkommission wählen die Parteimitglieder desjenigen Ortes und seines einmeiligen Umkreises, welcher von dem Parteikongreß als Sitz der Kontrollkommission bestimmt worden ist. Die Wahl erfolgt durch Stimmzettel und hat spätestens vierzehn Tage nach dem Kongreß stattzufinden.

XVII. Die Kontrollkommission ist verpflichtet, die Geschäftsführung, Akten, Bücher, Kasse usw. des Ausschusses mindestens einmal vierteljährlich zu prüfen und zu untersuchen, und ist berechtigt, falls sie begründete Ursache hat und der Ausschuß die Abhilfe der Unregelmäßigkeiten verweigert, einzelne Mitglieder wie den gesamten Ausschuß zu suspendieren sowie die nötigen Schritte für provisorische Weiterführung der Geschäfte zu tun. Es müssen solche Beschlüsse mit Zweidrittelmajorität der Kontrollkommission gefaßt werden und ist, wenn mehr als die Hälfte der Ausschußmitglieder suspendiert wird, innerhalb vier Wochen ein Parteikongreß einzuberufen, der endgültig in der Sache entscheidet.

XVIII. Die Partei gründet eine Zeitung als Organ unter dem Namen „Der Volksstaat“, Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Das Organ erscheint in Leipzig und ist Eigentum der Partei. Personen und Gehalt des Redaktions- und Expeditionspersonals, des Druckers, Preis des Blattes wird durch den Ausschuß bestimmt. Streitigkeiten hierüber entscheidet die Kontrollkommission, in letzter Instanz der Parteikongreß. Die Haltung des Blattes ist streng dem Parteiprogramm anzupassen. Einsendungen von Parteigenossen, welche demselben entsprechen, sind — soweit der Raum des Blattes ausreicht — unentgeltlich aufzunehmen. Beschwerden über Nichtaufnahme oder tendenziöse Färbung der Einsendungen sind bei dem Ausschuß, in zweiter Instanz bei der Kontrollkommission anzubringen, welcher die endgültige Entscheidung zusteht.

XIX. Die Parteimitglieder verpflichten sich, überall auf Grund des Parteiprogramms die Gründung sozialdemokratischer Arbeitervereine in die Hand zu nehmen.

Im Laufe der Verhandlungen teilte ich mit, daß mir aus dem Revolutionsfonds in Zürich von den Verwaltern desselben, Dr. Ladendorf und Genossen, 900 Taler zur Agitation bewilligt worden seien. Das sei die Geldquelle, die Tölcke und Genossen soviel Schmerzen verursachte, und die sie dem Hitzinger, dem König von Hannover, zuschrieben.

Zum Parteiorgan wurde das „Demokratische Wochenblatt“ bestimmt, das nunmehr vom 1. Oktober ab wöchentlich zweimal unter dem Titel „Der Volksstaat“, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen Gewerkschaftsgenossenschaften, erschien. Als Sitz des Ausschusses wurde Braunschweig-Wolfenbüttel, als Sitz der Kontrollkommission Wien gewählt. Man hatte anfangs die Absicht, Leipzig zum Sitze des Ausschusses zu bestimmen. Ich riet entschieden ab. Unsere Propaganda im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei weit leichter, wenn ein Ort wie Braunschweig Sitz der Parteileitung werde, woselbst ausschließlich frühere Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Frage kämen. Unser Einfluß in der neuen Partei bleibe uns gesichert, wir würden uns mit dem Ausschuß zu stellen wissen. So geschah es. Als nächster Kongreßort wurde Stuttgart bestimmt. Die Vertretung auf dem Kongreß der Internationale, der Anfang September in Basel stattfand, wurde Liebknecht übertragen, dem sich später Spier-Wolfenbüttel als Delegierter des Ausschusses anschloß.

Der glänzende Verlauf des Kongresses hatte im Schweitzerschen Lager einen sehr unangenehmen Eindruck erzeugt. Nachdem wir die nach Eisenach entsandten Delegierten Schweitzers von unserem Kongreß ausgeschlossen hatten, tagten diese im „Schiff“, woselbst sie eine Reihe Resolutionen gegen uns faßten. So lautete eine derselben, die sich gegen Liebknecht und mich persönlich richtete: „In Erwägung der gehörten Tatsachen beschließt der Kongreß, daß die Herren Liebknecht und Bebel unwürdig sind, daß der Kongreß sich weiter mit ihnen befaßt.“ Tölcke veröffentlichte im „Sozialdemokrat“ vom 15. August einen „Aufruf an die Parteigenossen“, der mit den Worten begann: „Der Kongreß zu Eisenach ist vorüber. Mit Stolz und mit voller Zuversicht auf die Zukunft der Partei können wir auf den Verlauf und das Resultat desselben zurückblicken.“

* * * * *

Nach dem Schlusse des Kongresses hielt der Verband der deutschen Arbeitervereine seinen Vereinstag ab. Zum Vorsitzenden wurde ich, Bürger-Göppingen zum Stellvertreter, Motteler zum Schriftführer gewählt. Crimmitschau erhielt den Auftrag, die Geschäftsführung des Vorortes zu prüfen und im Parteiorgan Bericht zu erstatten. Aus dem von mir erstatteten Bericht ging hervor, daß infolge der Spaltung in Nürnberg der Verband auf 72 Vereine gesunken war, daß im Laufe des Jahres weitere 5 ausschieden, aber 42 Vereine sich neu anschlossen, so daß schließlich zum Verband 109 Vereine mit rund 10000 Mitgliedern gehörten. Die Einnahmen betrugen 470 Taler, die Ausgaben 457 Taler, der Revolutionsfonds hatte 934 Taler gesteuert, von denen 800 Taler für Unterstützung des „Demokratischen Wochenblatts“ und für Agitation ausgegeben worden waren. Alsdann beschloß die Versammlung einstimmig die Auslösung des Verbandes nach sechsjährigem Bestehen und Anschluß an die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Der vorhandene Kassenbestand wurde der letzteren überwiesen, das vorhandene Inventar (Akten, Briefe, Protokolle) wurde mir zur Aufbewahrung überlassen. Nach einem warmen Danke an den Vorortsvorstand für dessen Mühewaltung trennte man sich mit dem Wunsche auf Wiedersehen in Stuttgart.

Nach Eisenach.

Wie man sich leicht vorstellen kann, entbrannte nunmehr heftiger als je der Kampf zwischen den beiden sozialistischen Fraktionen. Erklärungen flogen herüber und hinüber, und die Szenen, die sich in zahlreichen Versammlungen abspielten, spotteten jeder Beschreibung. Insbesondere waren es die Gewerkschaften, die unter der gegenseitigen Zerfleischung schwer litten. So kam zum Beispiel in der Metallarbeiterschaft die Wahl eines Präsidenten nicht zustande, weil eine vollständige Zersplitterung der Stimmen eintrat, außerdem wurde die Wahl nur bei 23 Abstimmungen anerkannt, bei 17 wurde sie verworfen.

Von jetzt ab schlug der „Sozialdemokrat“ einen Ton an, wie er bisher nur selten vorkam, und fälschte Tatsachen und Berichte in einer Weise, daß die Leser derselben ein vollständig falsches Bild von der Bewegung auf unserer Seite bekommen mußten.

Am 10. September verließ Schweitzer das Gefängnis. Am 12. September kündigte er in einem längeren Ausruf eine Rundreise durch Deutschland an, wobei er hinter verschlossenen Türen vor seinen Anhängern erschien, „um überall Ordnung und strenges Recht zu schaffen“…. „Fürchten werden meine Gegenwart,“ hieß es in dem Ausruf, „alle diejenigen, welche sich einer bösen Absicht oder einer Verletzung der Arbeitersache schuldig wissen; mit Freuden begrüßen werden mich diejenigen, welche als Bevollmächtigte, Agitatoren oder in sonstiger Eigenschaft treu zur Fahne gehalten haben.“

Glaubt man nicht einen gewissen Jesu zu hören, der ein Gericht über die Guten und die Bösen ankündigt, wobei die Böcke von den Schafen gesondert werden sollen?

Auf dieser Tour beobachtete Schweitzer die alte Taktik, daß überall, wo er über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen interpelliert wurde, er entweder schwieg oder mit spöttischen Bemerkungen darüber hinwegging.

Dem „Volksstaat“ gegenüber nahm er dieselbe Taktik ein wie gegenüber dem
„Demokratischen Wochenblatt“. Niemals wurde der Name des „Volksstaat“
genannt, und von der Partei sprach er nicht anders als von der
Eisenacher Volkspartei.

In Augsburg, wohin er ebenfalls auf seiner Rundreise kam, verlangte er von den dortigen Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins das Eingehen des von ihnen gegründeten Wochenblatts „Der Proletarier“. Als diese sich weigerten, seinem Verlangen nachzukommen, drohte er, daß er alles aufbieten werde, das Blatt zugrunde zu richten, sollte darüber die Bewegung in Bayern um fünf Jahre zurückgeworfen werden. Ein kleines Blättchen, „Der Agitator“, den Schweitzer dann zu Neujahr 1871 ins Leben rief, das vierteljährlich nur 15 Pfennig kostete, sollte in erster Linie bestimmt sein, massenhaft in Bayern verbreitet zu werden, um dort die obstinaten Elemente im Zaume zu halten.

Von seiner Rundreise zurückgekehrt, erklärte er, „daß die Partei niemals stärker, niemals einiger und zahlreicher gewesen sei als in diesem Augenblick“. Die Unwahrheit dieser Behauptung wurde dadurch bewiesen, daß zwischen ihm und Mende-Hatzfeldt von neuem der Zank ausbrach. Mende berief eine Generalversammlung nach Halle, die sich gegen Schweitzer erklärte, und veröffentlichte eine Broschüre, in der er Schweitzer aller möglichen Schandtaten zieh. Daß es so kommen würde, war vorauszusehen. Während aber Schweitzer ankündigte, daß mit dem 1. Januar 1870 der „Sozialdemokrat“ in vergrößertem Format erscheinen werde — es waren die Anstrengungen eines Schwindsüchtigen, der sich den Anschein von Kraft gibt —, mußte Mende ankündigen, daß, falls nicht bis zum 15. Januar für sein Organ, die „Freie Zeitung“, 1000 neue Abonnenten herbeigeschafft würden, er dasselbe werde eingehen lassen. Die größere Macht war also auf Schweitzers Seite. Die Generalversammlung seines Vereins berief Schweitzer auf den 5. Januar 1870 und die folgenden Tage nach Berlin.

Vorher, am 7. November, war es in Berlin zu einer großen Auseinandersetzung zwischen der Fortschrittspartei und den Lassalleanern gekommen. Der Abgeordnete Professor Virchow hatte im preußischen Abgeordnetenhaus einen Abrüstungsantrag gestellt, der nachher von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses verworfen worden war. Die Fortschrittspartei wollte diesen Antrag durch das moralische Gewicht einer Volksversammlung unterstützen lassen, die auf den erwähnten Tag einberufen worden war. Eine Verhandlung wurde aber unmöglich gemacht durch die Lassalleaner, die massenhaft erschienen waren und den Vorsitz in der Versammlung beanspruchten. Als nun ein großer Tumult ausbrach, schloß der Abgeordnete Löwe-Galbe die Versammlung. Darauf eröffnete Tölcke sofort dieselbe aufs neue. Er hatte in der Voraussicht, daß die fortschrittliche Versammlung gesprengt werde, eine zweite Versammlung in dasselbe Lokal polizeilich angemeldet, und die Polizei hatte diese gleichzeitige doppelte Anmeldung zu einer Versammlung in ein und dasselbe Lokal angenommen. Wider alle bisherige Gepflogenheit waren auch die Versammlungen polizeilich nicht überwacht. Tölcke präsidierte, Schweitzer sprach. In der vorgeschlagenen Resolution war kein Wort gegen die Regierung enthalten, dagegen wurde die Fortschrittspartei als Gegnerin des allgemeinen, gleichen Wahlrechts und Gegnerin des Normalarbeitstags verurteilt und die Abschaffung der stehenden Heere und die Einführung der Volkswehr, gegründet auf militärische Jugenderziehung, verlangt.

Schweitzer suchte also wieder einmal den Standpunkt vergessen zu machen, den er in Militärfragen vorher wiederholt eingenommen hatte.

Nebenbei bemerkt: In der sächsischen Zweiten Kammer wurde um jene Zeit ein Abrüstungsantrag mit 55 gegen 21 Stimmen angenommen.

Auf dem am 9. September begonnenen Internationalen Arbeiterkongreß in
Basel
bildete den Hauptpunkt der Verhandlungen die Haltung der
Sozialisten zur Grund- und Bodenfrage. Die Debatte hierüber füllte
mehrere Sitzungen. Schließlich stimmten von 75 Delegierten 54, darunter
Liebknecht und Spier, für folgende Resolution:

„Der Kongreß erklärt, daß die Gesellschaft das Recht hat, das individuelle Eigentum an Grund und Boden abzuschaffen und den Grund und Boden in Gemeineigentum zu verwandeln.“

Ebenso stimmten die beiden dem zweiten Teil der Resolution zu, der lautete:

  „Der Kongreß erklärt auch, daß es notwendig ist, den Grund und Boden
  zum Kollektiveigentum zu machen.“

Diese Beschlüsse riefen in Deutschland großes Aufsehen hervor, insbesondere fiel die volksparteilich-demokratische Presse über diese Beschlüsse her, die sie als eine Ungeheuerlichkeit bezeichnete. Statt daß nun Liebknecht den Beschluß des Kongresses gegen die Angriffe verteidigte, erklärte er in der letzten Nummer des „Demokratischen Wochenblatts“, die erschien:

  „Man hat gefragt: Welche Stellung nimmt die Sozialdemokratische
  Arbeiterpartei zu dem Beschluß über das Grundeigentum?

  Antwort: Gar keine! Jedes einzelne Parteimitglied kann und soll
  Stellung nehmen, der Partei als solcher steht das nicht zu, weil sie
  nach keiner Seite an den Beschluß gebunden ist — ebensowenig wie die
  Internationale Arbeiterassoziation selbst
.“

Dieses salomonische Urteil wurde in der Partei mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Es brachte der Partei keine Verbesserung, sondern eine Verschlimmerung ihrer Lage, denn nunmehr nutzte Schweitzer die Situation aus, indem er triumphierend auf die Halbheit der Eisenacher hinwies, die in einer Haupt- und Kardinalfrage des Sozialismus versagten und von Rücksichten auf die Bourgeois in ihren Reihen sich bestimmen ließen; das sei der beste Beweis, daß wir keine sozialdemokratische Partei seien. Unsere Stellung als Partei zu dem Baseler Beschluß wurde nicht klarer, als es in Nr. 4 des mittlerweile erschienenen „Volksstaat“ auf einmal hieß: „Ueber die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit des Baseler Beschlusses, betreffend das Grundeigentum, mögen innerhalb unserer Partei verschiedene Meinungen obwalten. Nachdem er aber einmal gefaßt ist, kann die Partei als solche ihn nicht verleugnen, ohne ihre Grundprinzipien zu verleugnen.“ Diese Erklärung war korrekter als die erste, sie stand aber im Widerspruch zu jener. Es war deshalb notwendig, daß die Partei klare Stellung nahm, und so schlug ich vor, die Frage auf dem nächstjährigen Parteikongreß zu erörtern, ein Vorschlag, dem auch der Ausschuß zustimmte. Und da ich für Anfang November eine große Agitationsreise nach Süddeutschland geplant hatte, nahm ich mir vor, den Baseler Beschluß zu verteidigen, wo die Gelegenheit dieses notwendig mache. Ich trat meine Reise am 8. November an und beendete sie am 28. Ich hielt in dieser Zeit achtzehn Volksversammlungen und an zwei Orten, Erlangen und München, private Besprechungen ab. Ich besuchte nacheinander: Koburg, Bamberg, Nürnberg, Fürth, Erlangen, Regensburg, München, Augsburg, Ravensburg, Tuttlingen, Reutlingen, Metzingen, Stuttgart, Eßlingen, Göppingen, Aalen, Heidenheim, Giengen, Schwäbisch Hall und Heilbronn. Opposition fand ich in nur vier Versammlungen. Der Erfolg war in allen Versammlungen ein sehr zufriedenstellender.

In Stuttgart, woselbst in der Versammlung der ganze Stab der Volkspartei und der Herausgeber der „Demokratischen Korrespondenz“, Julius Freese, anwesend waren, kam es zwischen mir und dem Mitglied der Volkspartei Hausmeister zu prinzipiellen Auseinandersetzungen, bei denen selbstverständlich mein Gegner den kürzeren zog. Den Abend vorher hatte ich in einer geselligen Zusammenkunft, bei welcher der damalige Führer der Volkspartei, Karl Maier, mich fragte, wie die Partei zu dem Baseler Beschluß stehe, erklärt: Die Partei werde auf dem nächsten Kongreß in Stuttgart Stellung nehmen und zweifellos sich im Sinne der Baseler Beschlüsse aussprechen. Tröstend hatte ich hinzugesetzt: Aber man brauche deshalb nicht aus der Haut zu fahren, denn die Ausführung des Beschlusses sei doch erst möglich, wenn die öffentliche Meinung dafür gewonnen sei. Mit dieser Verzuckerung schluckte man die Pille. In der Versammlung am nächsten Tage trat mir auch der Lassalleaner Leickhardt entgegen, der mich wegen unserer Stellung zu Schweitzer interpellierte, worauf ich gründlich antwortete. Alles in allem hatte ich an drei Stunden sprechen müssen.

Freese und einem größeren Teil der Volkspartei waren aber meine Auseinandersetzungen in die Glieder gefahren, und so sah Freese sich veranlaßt, in vier Artikeln in der „Demokratischen Korrespondenz“ gegen mich zu polemisieren. Ich beantwortete dieselben durch eine Reihe Artikel im „Volksstaat“, die zusammengestellt als Broschüre unter dem Titel „Unsere Ziele“ bis heute erschienen sind. In diesen Aufsätzen verteidigte ich natürlich auch den Baseler Beschluß. Freese, dem, wie wohl allen Schwelgern (Sybariten), es keine allzu großen Gewissensskrupel bereitete, seine Grundsätze zu opfern, sobald er seine lebemännischen Bedürfnisse durch die Vertretung seiner Grundsätze nicht mehr befriedigen konnte, ging später in die Dienste des österreichischen Reichskanzlers, des Herrn v. Beust.

Nach meiner Rückkehr aus Süddeutschland trat ich meine mittlerweile rechtskräftig gewordene dreiwöchige Gefängnisstrafe an, die, wie schon erwähnt, Liebknecht und mir wegen Verbreitung staatsgefährlicher Lehren aus Anlaß der Adresse „An das spanische Volk“ zuerkannt worden war.

* * * * *

Wir mußten nunmehr dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegenüber große Anstrengungen machen, um neue Mitglieder zu gewinnen. Was immer an Kräften und Mitteln aufgebracht werden konnte, wurde für diesen Zweck benützt. In erster Linie kam hier York als Agitator in Frage. Der Erfolg seiner Reisen war nicht immer ein zufriedenstellender. So klagte er mir Ende 1869 über die Erfolglosigkeit einer Agitationsreise, die er nach dem Rheinland unternommen hatte. Er war darüber in recht pessimistischer Stimmung. Agitator zu sein, schrieb er mir, sei eine traurige Existenz, was um so richtiger war, als die finanzielle Entschädigung, die der Agitator zu jener Zeit erhielt, eine geradezu erbärmliche genannt werden mußte. Er denke wieder daran, als Arbeiter bei einem Meister Stellung zu nehmen. York war Tischler. Hätte er keine Familie, läge die Sache anders, allein könnte er sich durchschlagen. Indes war sein Opfermut und seine Hingabe an die Sache doch zu groß, als daß er die Drohung ausgeführt hätte.

Liebknecht und ich benutzten unsere Anwesenheit während des Reichstags in Berlin, um dort immer mehr Anhänger zu gewinnen. Wir sprachen namentlich öfter in einer Reihe Branchenversammlungen mit bestem Erfolg.

Eine beständige Klage des Braunschweiger Ausschusses war der schlechte Eingang der Mitgliederbeiträge. Diese Klage war vollauf berechtigt. An eine regelmäßige monatliche Zahlung an den Ausschuß nach Braunschweig gewöhnten sich namentlich schwer die ehemaligen Mitglieder des Arbeitervereinsverbandes, die das Hauptgewicht auf die Verwendung ihrer Mittel für die lokalen Bedürfnisse zu legen gewohnt waren.

Zwischen dem Ausschuß in Braunschweig und uns in Leipzig entwickelte sich ein außerordentlich lebhafter Briefverkehr, in den auch August Geib in Hamburg, der dort als Buchhändler etabliert war, hereingezogen wurde, als die Kontrollkommission durch Beschluß des Stuttgarter Kongresses von Wien nach Hamburg verlegt worden war. Lebhafte Beschwerde führten Bracke und der Ausschuß über die Redaktion des „Volksstaat“, die zu viel Politik und zu wenig Sozialismus bringe. Eine Beschwerde, die vielfach in der Partei laut wurde.

Sehr aufgebracht war ich darüber, daß wir in der Person Rüdts, der seine Universitätsstudien unterbrochen hatte und in die Partei als Agitator eingetreten war, durch den Beschluß des Eisenacher Kongresses einen Redakteur erhalten hatten, der seine Pflichten stark vernachlässigte, aber mit dem Honorar, das freilich nicht hoch war, beständig im Vorschuß sich befand. Das ging gegen meine Auffassung von Leistung und Gegenleistung. Ich habe es allezeit, und zwar bis auf den heutigen Tag, als schlimmste Schädigung der Partei und als eine unverzeihliche Gewissenlosigkeit angesehen, die in einer Arbeiterpartei doppelt gerügt werden müsse, wenn Personen ein Amt übernehmen, aber vergessen, die damit übernommenen Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, das Gehalt einstreichen, aber nicht entsprechend dafür leisten. Ein Sozialdemokrat, der eine Brotstellung in der Partei annimmt, hat damit nach meiner Auffassung eine Art Ideal erreicht. Er kann nach seiner Ueberzeugung tätig sein, er hat Maßregelung nicht zu fürchten und findet die volle Anerkennung seiner Parteigenossen, wenn er seine Schuldigkeit tut.

Als ich eines Tages mich bei Bracke bitter über Rüdt beschwerte — der betreffende Brief spielte nachher im Leipziger Hochverratsprozeß eine Rolle und ist im Bericht darüber abgedruckt —, antwortete mir Bracke unter dem 17. Oktober:

„Rüdt ist nicht schlecht, wenigstens glaube ich es nicht. Ich habe einen intimen Freund, der ebenso ist wie Rüdt, und er ist ein braver Kerl. Diese Art Menschen sind das Gegenteil eines Philisters, aber in ihrer Einseitigkeit verfahren sie sich oft, bis sie durch längere, meist bittere Erfahrungen klug werden. Je weniger ich selbst solchem Charakter ähnele (ich komme mir oft selbst wie ein Philister vor, wenn ich meinen ‚Lebenswandel‘ betrachte), um so mehr liebe ich diesen Charakter bei anderen. Ich will allerdings gestehen, daß ich Rüdt zu wenig kenne, um behaupten zu können, er sei so wie mein Freund. Aber ich vermute es. Hast Du die Biographie von Lessing gelesen? Was war der eine längere Zeit leichtsinnig! Ich habe oft Sehnsucht, auch einmal leichtsinnig zu sein, aber werde es wohl schwerlich werden. Die Verhältnisse fesseln mich an mein arbeitsames, ernstes, ja philiströses Dasein! Von Natur heiteren Temperamentes, bin ich es in Wirklichkeit so selten.“

Ich weiß heute nicht mehr, was ich Bracke auf diesen Brief antwortete, aber eine Zustimmung zu seinem Urteil über Rüdt war die Antwort sicher nicht.

Bracke, der einer wohlhabenden Familie angehörte und aus dem höchsten Idealismus sich der Partei der Enterbten angeschlossen hatte, war damals in großen Nöten. Er hatte sich durch Fritzsche bestimmen lassen, für die Produktivgenossenschaft der Tabak- und Zigarrenarbeiter Bürgschaften zu übernehmen, und kam nach dem Konkurs der Genossenschaft in die höchst fatale Lage, sehr erhebliche Summen bezahlen zu müssen. Bracke klagte mir in zahlreichen Briefen sein Leid, wie wir denn beide kurz nach unserer Bekanntschaft uns eng aneinandergeschlossen und keine Geheimnisse voreinander hatten. Der Aermste hat viele Jahre zu kämpfen gehabt, um aus den Verlegenheiten herauszukommen, in die er sich durch seine Gutherzigkeit und Opferwilligkeit gestürzt hatte. Als ihn der Tod ereilte — er starb allzu jung im Jahre 1879, kaum 38 Jahre alt —, wurde sein Verlust in der ganzen Partei als ein unersetzlicher angesehen.

Im Oktober 1869 war Karl Marx mehrere Wochen bei seinem Freunde Dr. Kugelmann in Hannover auf Besuch. Bracke und Bonhorst, der Sekretär des Ausschusses, fuhren hinüber nach Hannover, um Marx kennen zu lernen und zu begrüßen. Bracke war von der Begegnung mit Marx aufs höchste entzückt; er sei, schrieb er mir, „ein lieber Mensch“, sie hätten sich beide sehr gut verständigt. Ich lernte Marx und zugleich auch Engels persönlich erst 1880 in London kennen anläßlich eines „Kanossaganges“, den ich mit Bernstein unternahm. Darüber später.

Im Dezember 1869 spielte uns die österreichische Regierung einen unangenehmen Streich; sie entzog dem „Volksstaat“ den Postdebit. Der „Volksstaat“ stand damals so, daß er keinen Abonnenten entbehren konnte. Der Akt war aber der beste Beweis, was es mit der Verleumdung des „Sozialdemokrat“ auf sich hatte, Liebknecht stehe im Dienste der österreichischen Regierung.

* * * * *

Gegen Ende des Jahres brach in Waldenburg in Schlesien ein großer Bergarbeiterstreik aus, der größte Streik, den Deutschland bis dahin gesehen hatte. Das Bemerkenswerteste an diesem war, daß er in einem Gebiet und unter Arbeitern ausbrach, die, soweit sie organisiert waren, den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen angehörten, und zwar verlangten die Bergherren den Austritt der Arbeiter aus dem Gewerkverein. Die Lehre der Hirsch-Duncker von der Harmonie der Interessen zwischen Kapital und Arbeit erhielt damit einen argen Stoß. Beide sozialdemokratische Fraktionen traten energisch für die Bergarbeiter ein und unterstützten sie. Ich wollte in Leipzig ein Plakat anschlagen lassen, in dem ich zu Sammlungen für die Streikenden aufforderte, aber die Polizei verbot den Anschlag des Plakats und die Sammlung, die die Genehmigung der Polizei erfordere, weil auf Grund der Armenordnung von 1842 Sammlungen für „Notleidende“ dieser Genehmigung bedürften. Ich appellierte wegen dieser sonderbaren Auslegung der Armenordnung bis an das Ministerium, aber Herr v. Nostitz-Wallwitz, der damals bereits Minister des Innern war, billigte die Entscheidung der Leipziger Polizei.

Mangels genügender Mittel ging der Waldenburger Streik verloren.

* * * * *

Im Frühjahr 1870 fiel mir eine Aufgabe zu, die zu erfüllen Pflicht eines Fortschrittsmannes oder bürgerlichen Demokraten gewesen wäre. In Leipzig starb Rechtsanwalt Tzschirner, der während des Dresdener Maiaufstandes 1849 mit Heubner und Tod Mitglied der provisorischen Regierung gewesen war. Nach Niederwerfung des Aufstandes floh Tzschirner nach der Schweiz, kehrte aber infolge der sächsischen Amnestie von 1865 als gebrochener Mann nach Leipzig zurück. Er mußte unterstützt werden, und ich selbst veranlagte eine Sammlung zu seinen Gunsten, deren Ertrag ich an Tzschirners Parteigenossen Rechtsanwalt Schaffrat in Dresden gelangen ließ.

Als nun Tzschirner im Frühjahr 1870 in Leipzig starb, war kein einziger seiner alten Parteigenossen, auch Schaffrat nicht, bereit, dem Manne die Grabrede zu halten; man schämte oder scheute sich offenbar, öffentlich als ehemaliger Parteigenosse des Revolutionärs zu erscheinen. So mußte ich die Rede übernehmen, obgleich ich den Mann persönlich nicht gekannt hatte und von seiner Tätigkeit nur vom Hörensagen wußte. Die deutsche Demokratie hat frühzeitig aufgehört, Mannesmut zu zeigen.

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Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins für 1870 begann am 5. Januar. Schweitzer war nicht in rosiger Stimmung. Nachdem man ihn darüber interpelliert, ob er seinerzeit einen geheimen Vertrag mit Mende bei der sogenannten Vereinigung abgeschlossen habe, was er bestritt, stellte man ihn wegen der Kassenführung zur Rede. Er habe Gelder des Vereins für den „Sozialdemokrat“ verwendet, wozu er kein Recht habe, da das Blatt sein Privateigentum sei. Es wurde sogar ein Beschluß herbeigeführt, wodurch ihm dieses ausdrücklich verboten wurde. Schweitzer war durch diesen Beschluß und die an der Redaktion des „Sozialdemokrat“ geübte Kritik sehr aufgebracht. Er antwortete: Was das Vertrauen anlange, so müsse er nach den in der Generalversammlung gefallenen Aeußerungen annehmen, daß er das Vertrauen der Generalversammlung nicht besitze; jedenfalls habe er großenteils das Vertrauen auf die Delegierten verloren…. Man scheine nicht zu wissen, was der „Sozialdemokrat“ sei. Nicht die Partei habe den „Sozialdemokrat“ gemacht, sondern der „Sozialdemokrat“ die Partei.… Zu verlangen, daß ein Redakteur für den Inhalt des Blattes eintreten müsse, sei leicht, wenn man selbst den Rücken frei habe und nicht einmal die Strafgelder bewilligte. Er habe es satt, sich in dieser Weise erst mit den Vereinsgegnern und dann mit den Vereinsmitgliedern herumzuärgern. Gegenüber dem Verlangen, daß in Geldangelegenheiten der Vorstand beschließen solle und nicht wie bisher der Präsident, erklärte er, dann sei es gleich besser, einen Ausschuß zu wählen, aber keinen Präsidenten. Die Generalversammlung nahm alsdann eine genaue Prüfung der Kassenausgaben vor. Ein Antrag: Die Generalversammlung erklärt sich mit der diesjährigen Kassenabrechnung vollständig zufrieden und weist alle Angriffe der Gegner unserer Partei als ungerechtfertigt zurück und spricht den Wunsch aus, daß die Kassenangelegenheit für alle Zeiten so bleiben möge, wurde mit 5097 gegen 3409 Stimmen angenommen.

Eine Aeußerung Schweitzers, daß es die Aristokratie des Vereins sei, die Agitatoren und Delegierten, von denen immer die Wirren im Verein ausgingen, führte zu gereizten Auseinandersetzungen. Ein Antrag Richter-Wandsbeck, dem Präsidenten die Mißbilligung auszusprechen, weil er auf Antrag von Hamburger Mitgliedern wider alles Recht die Mitglieder, die gleichzeitig dem Allgemeinen Tabak- und Zigarrenarbeiterverein angehörten, bis zur Berliner Generalversammlung ihrer Mitgliedsrechte für verlustig erklärt hatte, wurde mit 24 gegen 12 Stimmen bei zwei Enthaltungen abgelehnt. Diese Vorgänge ließen es Schweitzer wieder einmal geraten erscheinen, den radikalen Demokraten hervorzukehren. Am 9. Januar fand eine von 2000 Personen besuchte öffentliche Sitzung statt, in der das Thema „Der Militarismus“ auf der Tagesordnung stand. Hatte Schweitzer am 17. Oktober 1867 im deutschen Reichstag sich für die Militärgesetzvorlage einschreiben lassen und hatte er damals in seiner Rede ausgeführt, daß es ihm fernliege, jene Eigenschaften an Preußen leugnen und bemäkeln zu wollen, welche im vorigen Jahre eine feindliche Welt bewundernd anerkennen mußte, so ließ er jetzt folgende Resolution zur Annahme vorschlagen:

„Die Generalversammlung erklärt: Die stehenden Heere sind die Hauptstützen der heutigen reaktionären Regierungen und zugleich der gesellschaftlichen Ausbeutung; das demokratische Prinzip verlangt, daß überall an Stelle der stehenden Heere die allgemeine Volksbewaffnung trete.“

Also ganz wie in unserem ehemaligen Chemnitzer und jetzt im Eisenacher Programm. Nach längerer Debatte, an der Schweitzer sich nicht beteiligte, wurde die Resolution einstimmig angenommen. Im weiteren erklärte sich die Generalversammlung für den Uebergang des Grund und Bodens in Gemeineigentum der Gesellschaft. Mit einer sehr radikalen Rede schloß Schweitzer diese Sitzung.

Im weiteren Verlauf der Verhandlungen wurde ein Antrag, den „Sozialdemokrat“ als Parteieigentum zu erwerben, mit 6492 gegen 2585 Stimmen abgelehnt. Schweitzer hatte im Laufe der Debatte geäußert: Der „Sozialdemokrat“ habe während der sieben Jahre seines Bestehens enorme Summen verschlungen und erfordere auch jetzt noch Opfer. Woher diese enormen Summen kamen, erfuhr man nicht. Er sei bereit, das Eigentumsrecht abzutreten, wenn die Partei einen geringen Teil der auf das Blatt verwendeten Summen zurückzahle. Ein Redner äußerte die Besorgnis, Schweitzer werde ein neues Blatt gründen, falls es zu Differenzen komme. Die Mehrheit sah nach dieser Erklärung die Uebernahme des Blattes als ein Danaergeschenk an. Schweitzer teilte weiter mit, daß vom 1. Januar ab Hasenclever neben Hasselmann in die Redaktion eingetreten sei. Eine ganze Reihe Mitgliedschaften beantragte ausführliche und wahrheitsgemäße Abfassung der Protokolle der Generalversammlungen.

Eine längere und heftige Debatte entspann sich über verschiedene Anträge; zum Beispiel der Präsident solle, wie es im Statut stehe, durch die Generalversammlung gewählt werden, wohingegen namentlich Schweitzer mit aller Entschiedenheit für die Wahl durch „das Volk“ eintrat, das er durch sein Blatt in der Hand hatte. Er drang mit seiner Ansicht durch. Das mehrfache Verlangen, die Redaktion durch eine Beschwerdekommission zu kontrollieren, wurde durch den Beschluß erledigt, daß alle Beschwerden über die Redaktion des Vereinsorgans an den Präsidenten zu richten seien. Die oberste Kontrolle über die Wirksamkeit der Redaktion und die des Präsidenten in seiner Eigenschaft als Kontrolleur habe der Vorstand zu vollführen und könne derselbe etwa nötige Anordnungen treffen. In der betreffenden Debatte äußerte Pfannkuch, daß durch die bisherige Handhabung der Redaktion viele brave Mitglieder aus dem Verein hinausgestoßen worden seien.

Bei der Wahl zum Präsidenten, die am 12. Februar stattfand, wurde Schweitzer wieder mit 4744 gegen 249 Stimmen gewählt, eine Stimmenzahl, die man auch nicht als besonderes Vertrauensvotum gegenüber den 9000 Mitgliedern, die auf der Berliner Generalversammlung vertreten waren, ansehen kann.

* * * * *

Zu den drei vorhandenen sozialdemokratischen Organisationen trat Anfang 1870 eine vierte, die allerdings nur unbedeutend war und eine kurze Lebensdauer hatte. Die hartnäckige Gegnerschaft, die Schweitzer dem in Augsburg erscheinenden „Proletarier“ und seinen Hintermännern erwies, erregte diese aufs äußerste. Und als nunmehr auch die Berliner Generalversammlung sich gegen die Bayern erklärte, beschlossen diese den Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und beriefen auf Ende Januar einen sozialdemokratischen Kongreß nach Augsburg. An der Spitze dieser Separatbildung standen Franz, Neff und Tauscher; alle drei Schriftsetzer. Franz hat später eine vorzügliche Broschüre geschrieben: „Herr Böhmert und seine Fälschungen der Wissenschaft. Von einem Arbeiter. 1873.“ Franz starb vor wenig Jahren in Amerika. Neff starb weit früher, Tauscher lebt noch heute als Parteigenosse in Stuttgart. Von seiten des Braunschweiger Ausschusses wurde ich nach Augsburg delegiert, um den Anschluß der bayerischen Genossen an unsere Partei herbeizuführen und die Gründung einer vierten Fraktion zu verhüten. Auf dem Kongreß waren nur neun Delegierte anwesend. Der Standpunkt, den ich vertrat, war folgender:

Die Bildung einer neuen Fraktion werde nur den Gegnern der Arbeitersache nützen. Dieselben würden aufs neue über diese Spaltung jubeln und darauf hinweisen, daß die Arbeiter zur Leitung ihrer Angelegenheiten unfähig, als Partei ungefährlich seien, da sie trotz aller prinzipiellen Uebereinstimmung sich nicht einigen könnten, sondern rein formeller und persönlicher Bedenken wegen sich gegenseitig zerfleischten. Ein weiterer zwingender Grund für die Einigung sei die Verhütung der Zersplitterung der geistigen und materiellen Kräfte der Arbeiter. An beiden litten die Arbeiter keinen Ueberfluß. Je mehr Fraktionen, je mehr Verwaltungen müßten geschaffen werden. Diese kosteten Geld, und so würden die sauer erworbenen Groschen der Arbeiter allein durch diesen Verwaltungsapparat aufgezehrt. Statt die Gelder zur Bekämpfung der Bourgeoisie und der Reaktion zu verwenden, bekämpfe man sich gegenseitig, die nicht im Ueberfluß vorhandenen geistigen Kräfte würden in diesem selben Kampfe verbraucht und aufgerieben, ohne Nutzen für die Gesamtheit. Wohl sei mir bewußt, daß man hauptsächlich zwei Bedenken gegen die Verschmelzung habe. Das eine sei unser angebliches Bündnis, wohl gar Verquickung mit der Volkspartei, das andere unsere Organisation, die man als eine zu wenig einheitliche ansehe. Beide Einwände beruhten auf Vorurteilen, durch diejenigen geschickt verbreitet und in die Massen eingepflanzt, welche aus einer Berührung der Arbeiter mit dem demokratischen Bürgertum für ihre eigene Stellung fürchteten (Schweitzer, Mende) und unter der Firma: „Kampf gegen die radikale Bourgeoisie“, ihr Einverständnis mit der Reaktion verbergen wollten. Volkspartei und sozialdemokratische Arbeiterpartei seien zwei vollständig getrennte Parteien, jede habe ihr eigenes Programm und ihre eigene Organisation. Was das Programm unserer Partei betreffe, so brauchte ich es nicht weiter zu entwickeln, da man es ja nahezu wörtlich auch diesem Kongreß zugrunde gelegt, unser Programm gehe aber in seinem ersten Teile noch weiter, indem es das internationale Programm in schärfster Fassung enthalte und klar und scharf seine Stellung auch zum bestehenden Staate formuliere. Die „Volkspartei“ sei insofern mit uns einverstanden, als sie unsere politischen Forderungen und auch einige unserer sozialen (Normalarbeitstag, Verbot der Kinderarbeit) in ihrem Programm habe, also ein gewisses Stück Weg neben uns hergehe. Sie in den Punkten zu bekämpfen, in denen sie gleicher Meinung mit uns sei, sei Torheit; selbstverständlich würden wir ihr aber überall da entgegentreten, wo Differenzen zwischen ihr und uns beständen, also vorzugsweise auf dem sozialen Gebiet. Die Volkspartei sei, das wüßten wir genauer als jeder andere, eine Partei, die aus vermiedenen Elementen zusammengesetzt sei. Sie bestehe aus großdeutschen konstitutionellen Monarchisten, bürgerlichen Republikanern und einer kleinen Zahl von Leuten, welche im wesentlichen auch unser soziales Programm anerkennten, letztere seien indes sehr in der Minderheit. Einig sei die Volkspartei in dem Kampfe gegen die großpreußischen Tendenzen, den Militarismus und Zäsarismus und bekämpfe von diesem Standpunkt aus mit uns auch die uns feindlich gesinnte Fortschritts- und nationalliberale Partei. Wir ständen also zur Volkspartei in keinem anderen Verhältnis, als es sich aus der Natur der beiderseitigen Standpunkte von selbst ergebe. Habe doch Lassalle dasselbe der Arbeiterpartei gegenüber der Fortschrittspartei im Jahre 1863 angeraten, ja Lassalle habe sogar an mehreren Stellen seiner Schriften über „Verfassungswesen“ sich selbst als Mann der Volkspartei bezeichnet. Ebenso haltlos wie die beständigen Vorwürfe über unser Verhalten zur Volkspartei seien die Einwendungen gegen unsere Organisation. Lebten wir in Deutschland in einem freien Staat, dann verstünde sich von selbst, daß wir nur praktische Gründe bei Entwerfung einer Organisation im Auge zu behalten hätten. Deutschland sei aber kein Freistaat, sondern bestehe aus Staaten, die zum größten Teil sehr reaktionär seien, und in denen die Macht der Gesetze sich unliebsamen Volksorganisationen sehr fühlbar mache. Die Auflösung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Sachsen, die Schließung der vielen Gemeinden in Preußen, der Beschluß des preußischen Obertribunals gegen den schleswig-holsteinischen Wahlverein, der eine ähnliche Organisation gehabt habe wie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, die neuesten Vorgänge in Bayern bewiesen, wie das Gesetz jederzeit die Organisation vernichten könne. Hätte Schweitzer die Urteile der Untergerichte über seinen Verein durch alle Appellinstanzen verfolgt, das Obertribunal hätte zweifellos die Organisation als ungesetzlich anerkannt und wäre damit das Verbot des Vereins für Preußen ausgesprochen worden. Schweitzer habe sich davor gehütet, und wenn sein Verein dennoch existiere, dann habe er dies einzig und allein der Gunst zu verdanken, deren er sich notorisch von seiten des Berliner Polizeipräsidiums und der Regierung zu erfreuen habe. Wir müßten eine Organisation schaffen, die mit der Einheitlichkeit zugleich die formelle Unabhängigkeit der Parteimitglieder an den einzelnen Orten vor dem Gesetz möglich mache. Die Einheitlichkeit der Partei sei gewahrt in dem von der Partei gewählten und in seinen Machtbefugnissen scharf begrenzten und zugleich kontrollierbaren Parteiausschuß, wodurch jede „Führerschaft“ beseitigt und der Herrschaft einer einzelnen Person ein für alle Mal ein Ende gemacht sei; ferner in regelmäßigen Steuern, die monatlich jedes Parteimitglied leistet; und endlich in dem Parteiorgan, das Eigentum der Partei sei, zu Privatzwecken also nicht benutzt werden könne. Durch diese Einrichtungen sei also die Möglichkeit einer kräftigen Agitation zur Verbreitung der Partei und die Geltendmachung des Parteiwillens in allen Fragen gegeben. In den Lokalvereinen könnten die Parteigenossen die Parteiangelegenheiten in der ungehindertsten Weise besprechen und die lokale Agitation betreiben, ohne daß das Gesetz eingreifen könne. Daß die von uns angenommene Organisation wirklich und nicht bloß in der Einbildung gut sei, beweise, daß trotz aller Verfolgungen, welche die Partei vom ersten Tage ihres Bestehens zu erdulden gehabt habe, die Organisation noch nicht angetastet worden sei, weil man es einfach nicht könne. Mit einer Organisation, wie sie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein habe, würden wir längst zugrunde gerichtet worden sein.

Habe die Polizei das Urteil des Obertribunals auf den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein nicht angewandt, so kennzeichne das mehr als alles andere das gute Einvernehmen des Chefs des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins mit der preußischen Polizei. Wir hätten uns einer solchen Gönnerschaft nicht zu erfreuen, wollten sie auch nicht haben, müßten also unsere Organisation so einrichten, daß sie gegen polizeiliche Uebergriffe sicher sei. Die Form sei übrigens für uns Nebensache, die Hauptsache sei das Prinzip und seine Anwendung. Wir gehörten nicht zu denen, die als Orthodoxe die äußere Form über die Sache setzten, wir hielten die Organisation keineswegs für unverbesserlich. Jedes Mitglied der Partei könne seinen Einfluß für Aenderung derselben geltend machen, und gelänge es ihm, die Majorität hierfür zu gewinnen, dann sei der Wille derselben entscheidend; die ganze Verfassung der Partei sei mit einem Worte demokratisch.

Ich hatte mit meinen Ausführungen kein Glück. Die Einberufer stießen sich an unserer Stellung zur Volkspartei, die man, gerade weil sie ein radikales Programm habe, als gefährlich am schärfsten bekämpfen müsse. Auch passe ihnen unsere Organisation nicht.

In dem Bericht, den ich in Nr. 10 des „Volksstaat“ von 1870 veröffentlichte, führte ich noch aus:

Ich ergriff wiederholt das Wort und widerlegte die aufgestellten Bedenken, sah aber sehr bald ein, daß alles Reden unnütz sei, da man einmal fest entschlossen war, eine vierte Arbeiterfraktion mit dem ganzen bureaukratischen Apparat einer solchen zu konstituieren. Ich erklärte darauf, daß ich mein Mandat als erledigt betrachte und an den öffentlichen Verhandlungen nur insofern noch teilnehmen würde, um eine Erklärung über meine Stellung zu dem Kongreß abzugeben.

Als kurz darauf die öffentliche Versammlung wieder aufgenommen wurde, legte ich die Gründe dar, die mich verhinderten, weiter an den Verhandlungen mich zu beteiligen. Zugleich benutzte ich diese Gelegenheit, um nochmals öffentlich die Vorurteile entschieden zurückzuweisen, die noch als Erbstück Schweitzerscher Erziehung gegen unsere Partei in der Versammlung vorhanden sein möchten. Nachdem ich geendet, zog ich mein Mandat zurück und verließ mit unseren Parteigenossen den Saal.

War die mir offiziell übertragene Mission auch als gescheitert zu betrachten, so habe ich dennoch die moralische Ueberzeugung von Augsburg mitgenommen, daß die Masse der Arbeiter es müde ist, sich kleinlicher persönlicher oder formeller Bedenken wegen gegenseitig in die Haare zu geraten. Die Arbeiter begreifen, daß nur in festem Zusammenhalten, in der Vereinigung aller Kräfte die Gewähr des Sieges für sie liegt, und ich müßte mich sehr täuschen, wenn nicht trotz der jetzt konstituierten vierten sozialdemokratischen Fraktion der Zeitpunkt sehr nahe herangekommen wäre, wo der vollständige Eintritt in die sozialdemokratische Arbeiterpartei stattfinden wird.

Die hier ausgesprochene Hoffnung erfüllte sich rasch. Bereits im Juni fand auf dem Stuttgarter Kongreß eine Verständigung und der Uebertritt der bayerischen Fraktion in unsere Partei statt. Auf meiner Rückreise von Augsburg hielt ich in München eine Volksversammlung ab, in der als Zuhörer der damals zwanzigjährige Georg v. Vollmar anwesend war, wie er mir gelegentlich erzählte.

Der Monat Januar 1870 war für mich noch insofern von besonderem Interesse, als der Rat der Stadt Leipzig beschloß, dem Arbeiterbildungsverein den Rest der städtischen Unterstützung von 200 Taler jährlich zu entziehen, weil der Verein sich für das Eisenacher Programm erklärt hatte. Die Stadtverordneten beschlossen wenige Tage darauf nach einer heftigen Debatte mit 27 gegen 16 Stimmen, dem Beschluß des Rats beizutreten. An demselben Abend wählte mich der Verein wieder mit 121 gegen 20 Stimmen zu seinem Vorsitzenden.

* * * * *

Die Agitation zur Ausbreitung der Partei wurde seit Eisenach von uns in ganz Deutschland mit allen Kräften betrieben. Unter den zahlreichen Versammlungen, die auch ich abhielt, waren zwei in Plauen im Vogtland gegen Dr. Max Hirsch dadurch von besonderem Interesse, daß der Inhalt meiner Reden zu einer neuen Anklage gegen mich wegen Verbreitung staatsgefährlicher Lehren Veranlassung gab. Als dann noch vor Erledigung dieser Anklage das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund Geltung erlangte, das diese Bestimmung des sächsischen Strafgesetzes nicht enthielt, wurde das Material in dem nachher eingeleiteten Hochverratsprozeß wider mich verwertet. Diese Versammlungen, die an zwei Abenden hintereinander stattfanden, weil in der ersten die Debatte nicht zu Ende kam, endeten mit einer vollständigen Niederlage Dr. Max Hirschs, der damals Vertreter für den Plauener Wahlkreis im norddeutschen Reichstag war. Zwei Jahre zuvor war ich Dr. Max Hirsch auch in seiner Vaterstadt Magdeburg entgegengetreten und hatte ihm hier ebenfalls eine große Niederlage beigebracht. In einer späteren Magdeburger Versammlung, in der ich Schweitzers Treiben scharf kritisierte, warf ein fanatischer Zimmerer ein Bierglas nach mir, das hart an meinem Kopf vorbeiflog und an der Wand zerschellte. Wäre ich getroffen worden, so würde ich höchst wahrscheinlich einen Schädelbruch davongetragen haben. Diese Zeilen wären dann wohl nicht geschrieben worden. Das waren eben Liebenswürdigkeiten, mit denen sich damals die feindlichen Brüder traktierten.

* * * * *

Der Stuttgarter Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war von uns auf den 4. bis 7. Juni einberufen worden. Anwesend waren 74 Delegierte. Unter den Gästen befand sich auch Eduard Vaillant mit seinem Freunde Dr. Mülberger, deren Bekanntschaft ich damals machte. Nach den Bestimmungen der norddeutschen Bundesverfassung mußten Ende August 1870 die Neuwahlen zum Reichstag stattfinden — die nachher der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges verhinderte — und so war die Frage der Taktik bei den Wahlen ein Hauptthema in den Verhandlungen. Liebknecht und ich, die wir über die praktische Beteiligung im Parlament in Meinungsverschiedenheiten geraten waren, worüber ich noch an anderer Stelle berichte, hatten uns auf folgende Resolution verständigt:

„Die sozialdemokratische Arbeiterpartei beteiligt sich an den Reichs- und Zollparlamentswahlen lediglich aus agitatorischen Gründen. Die Vertreter der Partei im Reichstag und Zollparlament haben, soweit es möglich, im Interesse der arbeitenden Klasse zu wirken, im großen und ganzen aber sich negierend zu verhalten und jede Gelegenheit zu benutzen, die Verhandlungen beider Körperschaften in ihrer ganzen Nichtigkeit zu zeigen und als Komödienspiel zu entlarven.

  Die sozialdemokratische Arbeiterpartei geht mit keiner anderen Partei
  Allianzen oder Kompromisse ein, dagegen empfiehlt der Kongreß bei den
  Wahlen zum Reichstag und Zollparlament da, wo die Partei einen eigenen
  Kandidaten nicht aufstellt, solchen Kandidaten ihre Stimmen zu geben,
  die wenigstens in politischer Hinsicht wesentlich unseren Standpunkt
  einnehmen. Namentlich empfiehlt der Kongreß in den Bezirken, wo die
  Partei von Aufstellung eigener Kandidaten absieht, von anderen
  Parteien aufgestellte wirkliche Arbeiterkandidaten zu unterstützen.“

Werth-Barmen beantragte, die Nichtbeteiligung an den Wahlen auszusprechen; die Resolution sei inkonsequent. Dieser Antrag wurde abgelehnt und unsere Resolution angenommen.

Darauf kam die Grund- und Bodenfrage zur Verhandlung, für die ich
Berichterstatter war. Die von mir vorgeschlagene Resolution lautete:

„In Erwägung, daß die Erfordernisse der Produktion wie die Anwendung der Gesetze der Agronomie — wissenschaftlichen Bewirtschaftung des Bodens — den Großbetrieb beim Ackerbau erheischen und, ähnlich wie in der modernen Industrie, die Einführung von Maschinen und die Organisation der ländlichen Arbeitskraft notwendig machen, und daß im allgemeinen die moderne ökonomische Entwicklung den Großbetrieb im Ackerbau erstrebt; — in Erwägung, daß demgemäß bei dem Ackerbau wie bei der Großindustrie die allmähliche Verdrängung der kleinen und mittleren Eigentümer durch die Großbesitzer vor sich geht, das Elend und das Abhängigkeitsverhältnis der weitaus größten Mehrzahl der Ackerbaubevölkerung zugunsten einer kleinen Minorität stetig zunimmt und dies den Gesetzen der Humanität und Gerechtigkeit zuwiderläuft; — in Erwägung, daß die produktiven Eigenschaften des Bodens, die keine Arbeit erheischen, das Material aller Produkte und aller brauchbaren Dinge bilden: spricht der Kongreß die Ansicht aus, daß die ökonomische Entwicklung der modernen Gesellschaft es zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit machen wird, das Ackerland in gemeinschaftliches Eigentum zu verwandeln und den Boden von Staats wegen an Ackerbaugenossenschaften zu verpachten, welche verpflichtet sind, das Land in wissenschaftlicher Weise auszubeuten und den Ertrag der Arbeit nach kontraktlich geregelter Uebereinkunft unter die Genossenschafter zu verteilen. Um die vernünftige und wissenschaftliche Ausbeutung des Grund und Bodens zu ermöglichen, hat der Staat die Pflicht, durch Einrichtung entsprechender Bildungsanstalten die nötigen Kenntnisse unter der ackerbautreibenden Bevölkerung zu verbreiten.

Als Uebergangsstadium von der Privatbewirtschaftung des Ackerlandes zur genossenschaftlichen Bewirtschaftung fordert der Kongreß, mit den Staatsdomänen, Schatullengütern, Fideikommissen, Kirchengütern, Gemeindeländereien, Bergwerken, Eisenbahnen usw. zu beginnen, und erklärt sich deshalb gegen jede Verwandlung des oben angeführten Staats- und Gemeinbesitzes in Privatbesitz.“

Der Schlußsatz der Resolution wurde mehrfach angefochten, man solle nicht ins Detail gehen. Schließlich aber wurde der Resolution zugestimmt.

Da um jene Zeit in Wien der Hochverratsprozeß gegen die Führer der österreichischen Arbeiter, Oberwinder, Andreas Scheu, Johann Most usw. bevorstand, ferner die österreichische Regierung die Führer der Arbeiterbewegung mit fanatischem Haß verfolgte und der „Sozialdemokrat“ fortfuhr, Liebknecht als Agenten der österreichischen Regierung anzugreifen, schlug folgende Resolution vor:

„Der Kongreß erklärt, daß die österreichische Regierung durch ihre Haltung gegenüber der Arbeiterbewegung und durch die aller Menschlichkeit hohnsprechende Behandlung der eingekerkerten Arbeiter sich den Haß und die Verachtung der Arbeiter aller Nationen erworben hat.“

Die Resolution wurde unter stürmischem Beifall des Kongresses angenommen.

Als Kongreßort für das Jahr 1871 wurde Dresden gewählt.

Schweitzers Ende.

Während die geschilderten Vorgänge sich zutrugen, setzte der „Sozialdemokrat“ seine Angriffe mit ungeschwächten Kräften und ohne Bedenken über die Wahl der Kampfmittel gegen uns fort. So war es zum Beispiel jetzt bei ihm Sitte geworden, daß er beständig Artikel aus dem nationalliberalen „Frankfurter Journal“, das ein Organ unserer Partei sei, abdruckte und gegen uns verwertete. Die Verlogenheit konnte kaum weitergetrieben werden. Aber es kam noch besser.

Unter dem Datum des 3. Juli veröffentlichte der „Volksstaat“ einen Aufruf des Braunschweiger Ausschusses, worin dieser aufforderte, die Vorbereitungen zu den Reichstags- und Zollparlamentswahlen zu treffen, wobei er entsprechend den Beschlüssen des Stuttgarter Kongresses darauf hinwies, daß in Wahlkreisen, in denen wir selbst keinen Kandidaten aufstellten, zu erwägen sei, ob nicht dem Kandidaten einer anderen Arbeiterpartei mit unseren Stimmen zum Siege verholfen werden könne. Der Braunschweiger Ausschuß ahnte damals nicht, daß schon am Tage vorher, den 2. Juli, in einer Vorstandssitzung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Hannover Schweitzer Anträge eingebracht hatte, denen der Vorstand seine Zustimmung erteilt hatte, die folgendermaßen lauteten:

„1. Bei der engeren Wahl zwischen einem Reaktionär (Konservativen) und einem Liberalen: Stimmabgabe für den Liberalen.

  2. Bei der engeren Wahl zwischen einem Reaktionär und einem
  Volksparteiler (Ehrlichen, womit er uns meinte): Stimmenthaltung.

  3. Bei der engeren Wahl zwischen zwei Liberalen: Stimmabgabe für den
  weitergehenden Kandidaten.

  4. Bei der engeren Wahl zwischen einem Liberalen und einem
  Volksparteiler (Ehrlichen): Stimmabgabe für den Liberalen.“

Die ersten drei Punkte waren einstimmig, der vierte gegen vier Stimmen angenommen worden.

Man kann sich die Empörung vorstellen, die uns ergriff, als wir diesen Beschluß lasen, den wir als eine Infamie ersten Ranges ansahen. Es war klar, daß Schweitzer und Tölcke den fanatischen Haß der Vorstandsmitglieder gegen uns benutzt hatten, um diesen infamen Beschluß, der die der Bismarckschen Politik am feindlichsten gegenüberstehende Partei traf, durchzusetzen. Richter-Wandsbeck hat später erklärt, er habe gegen den Antrag gestimmt, weil er gewußt, daß Schweitzer ihn im Auftrag der Regierung gestellt habe. Ich lasse das dahingestellt sein. Zweifellos entsprach aber dieser Beschluß den Wünschen Bismarcks, und das genügte.

Sobald der Beschluß in unseren Reihen bekannt wurde, erließ der Braunschweiger Parteiausschuß unterm 11. Juli einen Aufruf, in dem es hieß: „daß ungeachtet jenes Beschlusses unsere Parteigenossen, wo dies im Interesse der Arbeitersache liege, den Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unterstützen sollten, treu dem Gedanken, daß die Organisation dazu da sein solle, die Einigung aller sozialdemokratischen Arbeiter zu ermöglichen“. Im weiteren hieß es alsdann:

„Dem Herrn v. Schweitzer aber, der in der gehässigsten und verwerflichsten Weise Arbeiter gegen Arbeiter, Sozialdemokraten gegen Sozialdemokraten zu hetzen sucht, sind wir um der Arbeitersache verpflichtet, mit aller Energie entgegenzutreten. Daher fordern wir die Parteigenossen in Barmen-Elberfeld, dem klassischen Boden für diesen Kampf, auf, die nötigen Schritte in dieser Richtung ohne Säumen zu tun; die Partei ist schuldig und verbunden, die allgemeine Bewegung von einem Menschen zu säubern, der, unter dem Deckmantel einer radikalen Gesinnung, bisher im Interesse der preußischen Staatsregierung alles getan hat, dieser Bewegung zu schaden. Die Partei wird den Genossen in Barmen-Elberfeld zur Seite stehen. Nun kräftig vorwärts!“

Am 13. Juli mußte der „Sozialdemokrat“ bekanntmachen, daß sein Format verkleinert werden müsse, weil die verlangten 500 neuen Abonnenten nicht gekommen seien. Das war die Antwort auf die prahlerische Ankündigung am Schlusse des Vorjahres, das Format des Blattes zu vergrößern. Die Zahl habe sich kaum um 100 vermehrt. Bald darauf mußte aber sowohl der „Sozialdemokrat“ wie der „Volksstaat“, der Ende März 1870 2000 Abonnenten hatte, weitere Raumbeschränkungen eintreten lassen. Es brach plötzlich der Deutsch-Französische Krieg aus, der von beiden Fraktionen zahlreiche Parteigenossen unter die Waffen rief, andere durch hereinbrechende Arbeitslosigkeit brotlos machte.

Auf die Ursachen und die Entwicklung dieses Krieges komme ich in anderem Zusammenhang zu sprechen. Liebknecht und ich betrachteten denselben als einen solchen, an dem Napoleon und Bismarck gleichmäßig schuldig seien, und enthielten uns bei der verlangten Kriegsanleihe der Abstimmung, was wir durch eine Erklärung zu den Akten des Reichstags motivierten. Anders Schweitzer und Genossen. Nach Schweitzer war der Krieg nicht nur ein Krieg gegen das deutsche Volk, sondern gegen den Sozialismus. Und jeder Deutsche, der sich dem Friedensbrecher entgegenwerfe, kämpfe nicht nur fürs Vaterland, sondern auch gegen den Hauptfeind der Ideen der Zukunft, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Den Sozialismus mit dem Kriege in Verbindung zu bringen, war zwar grandioser Blödsinn, aber in jener aufgeregten Zeit, in der der größte Unsinn geglaubt wurde, wenn er sich gegen uns richtete, lag Methode in diesem Verhalten.

Mitten in die Kriegswirren traf die Nachricht aus Wien ein, daß Oberwinder, Andreas Scheu, Most und Papst wegen Hochverrats, ersterer zu sechs Jahren, die anderen zu fünf bis drei Jahren Zuchthaus, verschärft für jeden durch einen Fasttag im Monat, verurteilt worden seien. Außerdem wurde für Oberwinder und Most die Ausweisung aus den österreichischen Ländern nach verbüßter Strafe ausgesprochen. Die übrigen Angeklagten wurden zu geringeren Strafen verurteilt. Ein Hauptanklagepunkt war die Beteiligung am Eisenacher Kongreß (Oberwinder und Scheu) und die Anerkennung des Eisenacher Programms, das nur durch Gewalt durchgesetzt werden könne.

An der Hatz, die jetzt gegen uns seitens fast der gesamten Presse wegen unseres Verhaltens im Reichstag inszeniert wurde, beteiligte sich der „Sozialdemokrat“ in hervorragendem Maße, der uns „Landesverräter“ und ähnliche schöne Titel anhängte. Damit nicht genug, sandte Schweitzer verschiedene seiner Agitatoren nach Leipzig, die dort die Massen gegen uns aufhetzen sollten. Zunächst kam Hasenclever, dessen Versammlung durch ein Plakat angekündigt wurde, in dem es hieß: „Sämtliche Arbeiter, Bürger und Bewohner der Stadt werden zu dieser Versammlung freundlichst eingeladen. Während unsere Truppen im Felde stehen, scheint eine öffentliche Kundgebung des echt deutschen Sinnes unserer Einwohnerschaft einzelnen undeutschen Elementen gegenüber, die sich auch hier bemerklich machen, dringend geboten. Der Bevollmächtigte des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.“

Hasenclever machte aber schlechte Geschäfte; wir hatten die Mehrheit in der Versammlung, und so wurde die von uns vorgeschlagene Resolution angenommen. Weit schlimmer ging es in der Versammlung zu, in der nach ihm Wolf-Hamburg und Armborst-Stettin sprechen sollten. Hier kam es sofort zu tumultuarischen Szenen, die bald in ein Handgemenge ausarteten, dem der erschreckte Wirt durch Ausdrehen der Gasflammen ein Ende bereitete. Als wir nach der Versammlung in unserem Vereinslokal uns zusammenfanden, kam die Kunde, die Schweitzerianer seien nach Liebknechts Wohnung gezogen, um diesem die Fenster einzuwerfen. Im Sturmschritt eilten wir auf dem kürzesten Wege nach Liebknechts Wohnung, kamen aber leider einige Minuten zu spät. In der Tat waren Liebknecht eine Anzahl Fensterscheiben eingeworfen worden, und war dadurch Frau Liebknecht, die ahnungslos in der Stube saß und ihrem ersten Sprößling die Brust reichte, aufs tiefste erschreckt worden. Voll Zorn eilten wir den Attentätern nach und erreichten sie in der Nähe der inneren Stadt, worauf sie regelrecht verprügelt wurden. Kurz darauf meldete der „Sozialdemokrat“ die Heldentat seiner Anhänger mit den Worten:

„Der Volkszorn gegen das landesverräterische Treiben der Volkspartei hat einen Ausbruch gefunden. Liebknecht sind die Fenster eingeworfen worden.“

Einige Tage später hatten mir eine Anzahl Studenten eine ähnliche Ovation zugedacht. Zu dem Fenstereinwurf sollte noch eine Katzenmusik kommen. Zum Glück wohnte ich hinten im Hofe im Hause eines Großkaufmanns. Sobald der Hauswart erfuhr, was die eines Abends heranziehenden Studenten beabsichtigten, schloß er rasch das Tor; so mußten sie unverrichteter Sache abziehen.

Alle diese Hetzereien, die weiter aufzuzählen sich nicht lohnt, erregten derart meine Wähler, daß diese, meist arme Teufel, sich veranlaßt sahen, mir einen silbernen Lorbeerkranz, begleitet von einem Uhlandschen Sinngedicht, zu überreichen. Würde ich von dieser Absicht eine Ahnung gehabt haben, ich hätte ihre Ausführung verhindert.

Ende August 1870 machte Tölcke im „Iserlohner Kreisblatt“ bekannt, daß er vorläufig die Politik an den Nagel gehangen und sich als Volksanwalt niedergelassen habe. Damit war eine der festesten Säulen Schweitzers geborsten. Aber jetzt trat auch im „Sozialdemokrat“ plötzlich eine Schwenkung ein, der Draht nach oben war offenbar zerrissen. Der Krieg mit seinen ununterbrochenen Siegen der deutschen Waffen führte Süddeutschland und fast das gesamte Bürgertum Norddeutschlands zu den Füßen Bismarcks. Selbst in den Kreisen der süddeutschen Volkspartei feierte der Chauvinismus wahre Orgien. Jetzt konnte ein Schweitzer Bismarck mehr schaden als nützen; es hatte keinen Zweck mehr, ihn zu halten.

Am 31. August wendete sich der „Sozialdemokrat“ gegen eine gewaltsame Annexion von Elsaß-Lothringen. Anfang September, nach der Gefangennahme Napoleons, sprach er sich für Abschluß eines Waffenstillstandes und gegen den Gedanken einer Wiedereinsetzung Napoleons aus. Genau also wie wir im „Volksstaat“. Am 14. September veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ einen Leitartikel, in dem er sich gegen die stehenden Heere aussprach und sich dabei auf Gneisenau berief.

Als er die Verhaftung August Geibs in Hamburg meldete, der das Schicksal des Braunschweiger Ausschusses teilte, dessen Mitglieder man mit Ketten gefesselt nach der Festung Lötzen geschleppt hatte, bemerkte er ingrimmig: Liebknecht und Bebel, die andere für sich die Kastanien aus dem Feuer holen ließen, befänden sich als Haupthetzer in Sicherheit. Er brauchte nicht allzulange zu warten, und seine Sehnsucht nach unserer Verhaftung wurde gestillt. Als dann auch Johann Jacoby und Herbig-Königsberg verhaftet und ebenfalls nach Lötzen geschleppt wurden, wendete sich jetzt der „Sozialdemokrat“ gegen diese Verhaftung. Anfang November 1870 meldete das Blatt, daß Petzold-Leipzig, einer seiner fanatischsten Anhänger, aus dem Vorstand des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ausgetreten sei. Er wollte von Schweitzer nichts mehr wissen.

Für den 24. November war der Reichstag wieder einberufen worden, um unter anderem über eine neue Geldbewilligung für Fortsetzung des Krieges zu beschließen. Jetzt kündigte der „Sozialdemokrat“ an, daß diesmal die Abgeordneten der Partei gegen die Geldbewilligung stimmen würden. Der Krieg, der anfangs ein Verteidigungskrieg gewesen, sei jetzt zu einem Eroberungskrieg geworden. Er war also nunmehr auch hierin auf unserem Standpunkt. Bei den außerordentlich heftigen Debatten, die Liebknecht und ich beständig im Reichstag provozierten, verhielten sich Schweitzer und Genossen vollkommen schweigsam, sie griffen mit keinem Worte in die Debatte ein. Nur als Liebknecht in einer Rede sich gegen die Unterstellung wandte, wir seien mehr die Freunde Frankreichs als Deutschlands, und bemerkte: Ich will lieber der gute Bruder des französischen Volkes als der gute Bruder des Schurken Napoleon sein, rief Schweitzer ein lautes Bravo! Bravo! dazwischen. Das war die einzige Aeußerung, die er in den Kriegsdebatten machte.

Am 17. Dezember wurden Liebknecht, Hepner (der Mitredakteur des „Volksstaat“) und ich in unseren Wohnungen polizeilich überfallen, und nachdem eine Durchsuchung unserer Wohnungen stattgefunden hatte, wurden wir für verhaftet erklärt und in Untersuchungshaft abgeführt. Wir waren also, da die Untersuchungshaft bis Ende März 1871 dauerte, während des Wahlkampfes, der nach Neujahr einsetzte, vollständig lahmgelegt, das verhinderte aber Herrn v. Schweitzer nicht, am 8. Januar im „Sozialdemokrat“ nochmals die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins darauf hinzuweisen, daß der Beschluß des Vereinsvorstandes vom 2. Juli des verflossenen Jahres betreffend ihr Verhalten bei engeren Wahlen sich gegen uns, die Eisenacher Ehrlichen, richte. Das brachte dieser Mensch fertig, während wir in strengster Einzelhaft hinter Schloß und Riegel saßen und Staatsanwalt und Richter einen Hochverratsprozeß gegen uns zusammenbrauten.

Aber die Leipziger Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins besaßen zuviel Ehrgefühl und Klassenbewußtsein, um diesem Winke zu folgen; sie machten mit unseren Parteigenossen gemeinsame Sache, indem sie mich als Kandidaten für Leipzig aufstellten. Auch weigerte sich eine Anzahl Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, eine Erklärung zu unterschreiben, worin sie sich in ihrer Taktik bei einer engeren Wahl gegen uns festlegen sollten. Herr v. Schweitzer hatte wieder einmal den Bogen überspannt.

Am 3. März 1871, dem Tage des Friedensschlusses, der mit Berechnung als Wahltag gewählt worden war, veröffentlichte der „Sozialdemokrat“ einen Leitartikel, der die größte Siegeszuversicht atmete. Aber am Abend jenes Tages wurde gemeldet, daß nirgends ein Sieg erfochten worden war und Schweitzer in Barmen-Elberfeld mit dem Kandidaten der Konservativen, Herrn v. Kusserow, in engere Wahl komme. Es war dieses derselbe Herr v. Kusserow, der im Herbst 1867 an Schweitzer 400 Taler zahlte als Wahlkostenbeitrag der Konservativen für seine Wahl. In der engeren Wahl unterlag Schweitzer mit 8477 gegen 9540 Stimmen. Diese Niederlage brachte bei ihm den Entschluß zur Reife, sich vom öffentlichen Leben zurückzuziehen, was wohl am deutlichsten für seinen Charakter spricht. In einer langen Ansprache im „Sozialdemokrat“ vom 26. März „An die Partei“ kündigt er an: er könne die Leitung fortan nicht beibehalten, sein Entschluß sei unwiderruflich. Indem er auf das Wahlergebnis hinweist, bemerkt er, daß dasselbe zwar nicht die Ursache seines Rücktritts sei, aber es gebe ihm allerdings Gelegenheit, den längst beabsichtigten Rücktritt zu verwirklichen. Zahlreiche Parteigenossen in seiner Umgebung könnten bezeugen, daß er schon seit einem Jahre hierzu entschlossen sei. Er werde sein Amt bis zur nächsten Generalversammlung beibehalten, und nachdem die Partei ihn von seiner Geschäftsgebarung entlastet habe, die Gewalt in die Hände der höchsten Behörde der Partei niederlegen.

Der eigentliche Grund seines Rücktritts sei: er habe lange Jahre hindurch Zeit, Arbeitskraft, Seelenruhe und Geld für die Arbeiterpartei geopfert. Niemand könne ihm zumuten, diese Opfer weiter fortzusetzen…. Er habe das Seinige getan, habe lange genug auf dem Posten gestanden, um verlangen zu dürfen, daß Ablösung stattfinde.

Diese Ankündigung war für den Verein wie für die Gegner Schweitzers eine Ueberraschung. Bisher hatte sein Gebaren nicht gezeigt, daß er es satt habe, auf dem Posten weiter zu stehen, auf den der Verein ihn gestellt. Alle seine Maßnahmen bewiesen das Gegenteil. Es mag zugegeben werden, daß er sich seit einem Jahre mit dem Gedanken eines eventuellen Rücktritts trug und ihn auch diesem oder jenem aus seiner Umgebung gegenüber äußerte. Aber ernsthaft daran geglaubt hat wohl niemand. Was seinen Entschluß zunächst hervorgerufen haben mochte, waren wohl die Erfahrungen in Barmen-Elberfeld und der Verlauf der Berliner Generalversammlung im Januar 1870, die ihm beweisen mußten, daß es ihm nie gelingen werde, das volle Vertrauen des Vereins zu erwerben, ja daß im Gegenteil das Mißtrauen und die Unzufriedenheit mit seiner Leitung und seinem Verhalten wuchs. Er hatte doch zu viel Anklagematerial geliefert, zu sehr durch zahlreiche Handlungen Kopfschütteln und Mißfallen erregt, als daß man schließlich es noch fertig brachte, wegen der glänzenden Eigenschaften, die er als Parteiführer besaß, über das Vorgekommene hinwegzusehen, wie das bisher geschehen war. Diesen Eigenschaften zuliebe hatte man ihm vieles verziehen, was der Verein unter anderen Umständen sich niemals würde haben bieten lassen. Aber dieses Maß von Nachsicht ging auf die Neige. Andererseits erkannte er, daß er auf die Dauer den Krieg gegen uns mit Aussicht auf Erfolg nicht fortführen konnte. Trotz aller Mängel, die damals unsere Partei noch aufwies in ihrer Organisation und im festen Zusammenschluß ihrer Glieder, die Partei wuchs beständig, und ihr moralisches Ansehen war in den Augen ihrer Gegner unbestritten. Es konnte also bald der Tag für ihn kommen, an dem er einen Friedensschluß mit uns suchen mußte, was einer Verurteilung seines ganzen bisherigen Verhaltens gleichkam. Diesem Gang unter das kaudinische Joch, als das er ihm erschien, wollte er sich nicht unterwerfen. Dieser Möglichkeit zog er die Preisgabe seiner Stellung im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein vor, die auch nach oben hin haltlos geworden war.

Schweitzer hatte auch bereits die Fühler für die Gewinnung einer bürgerlichen Stellung ausgestreckt. Im Januar 1871 war ein dreiaktiges Drama von ihm, betitelt „Kanossa“, über eine der Berliner Bühnen gegangen, wodurch er zeigte, daß bei ihm dramatisches Geschick vorhanden war. Auf diesem Gebiet arbeitete er nunmehr weiter.

* * * * *

Am 30. April hatte ein Teil des _Lassalle_schen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins seine Auflösung und seinen Uebertritt in unsere Partei beschlossen. Auch August Kühn, damals in Bremen, trat in einem „Offenen Brief“ für eine Einigung der verschiedenen Fraktionen ein, die namentlich hinsichtlich der gewerkschaftlichen Bewegung eine absolute Notwendigkeit sei.

Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war vom
30. April auf den 19. Mai vertagt worden. Aber Ende April ließ
Schweitzer den „Sozialdemokrat“ eingehen, so daß nunmehr der Verein ohne
Organ war.

Auf dieser Generalversammlung nahmen namentlich die Verhandlungen über die Kassenzustände einen sehr weiten Raum ein; sie endeten damit, daß ein Antrag Frohmes einstimmig angenommen wurde, lautend, „dem Präsidenten eine Rüge zu erteilen wegen der teilweise höchst unzweckmäßigen Verwendung der Gelder für die Agitation“. Im Laufe der weiteren Verhandlungen setzte Schweitzer auseinander, daß finanzielle Gründe ihn gezwungen hätten, den „Sozialdemokrat“ Ende April eingehen zu lassen. Er hob dabei hervor, daß der „Sozialdemokrat“ zu keiner Zeit seine Kosten gedeckt habe, also auch kein Redaktionsgehalt ihm einbringen konnte. Ein Delegierter gab an, daß vom 1. Oktober 1870 bis 1. Januar 1871 der „Sozialdemokrat“ zirka 1700 Abonnenten verlor. Der „Volksstaat“ verlor in der gleichen Zeit 300. Die Generalversammlung beschloß, den „Sozialdemokrat“ in der alten Form wieder erscheinen zu lassen, und zwar als Vereinseigentum. Das Blatt erschien unter dem Titel „Neuer Sozialdemokrat“ vom 1. Juli ab. Ferner wurde beschlossen, eine Verwaltungs-und Beschwerdekommission von drei Mitgliedern einzusetzen. An Stelle Schweitzers wurde Hasenclever zum Vereinspräsidenten gewählt, Hasselmann wurde erster Redakteur, Derossi Sekretär. Der Präsident wurde von jetzt ab mit 50 Talern monatlich honoriert.

Schließlich sprach die Generalversammlung einstimmig Schweitzer ihren herzlichen Dank aus für seine tatkräftige Leitung der Partei und bedauerte, ihn nicht länger auf diesem Posten und an ihrer Spitze zu haben. Offenbar wollte man ihm eine goldene Brücke bauen und die Genugtuung verbergen, die sein Rücktritt bei vielen seiner früheren Anhänger hervorrief.

Zu diesem einstimmigen Vertrauensvotum standen die Verhandlungen im grellen Widerspruch, die im nächsten Jahr auf der Generalversammlung des Vereins zu Berlin vom 22. bis 25. Mai 1872 gepflogen wurden. Auf dieser wurde das Protokoll der Vorstandssitzung in Hannover vom 3. März 1872 verlesen, auf der Tölcke, der frühere Vertrauensmann Schweitzers, ausgeführt hatte:

„Wenn man die Geschichte des Vereins betrachte, so falle es einem in die Augen, daß jedesmal, wenn derselbe in die Höhe ging, irgend ein Experimentchen gemacht wurde, das ihn wieder herunterbrachte.“

Worauf ihm mit Recht geantwortet wurde, daß er diese Experimente mitgemacht, aber bisher geschwiegen habe. Weiter äußerte Tölcke:

„Schweitzer habe keine Vereinskarten drucken lassen, weil er das einkommende Geld sofort selbst konsumierte. Er (Tölcke) habe den Agitatoren das doch nicht schreiben können, dann wären immer neue Risse in der Partei entstanden. Aurin habe damals gesagt, die Verbandskasse sei nicht in Ordnung; das sei richtig gewesen, da Schweitzer 500 Taler aus der Verbandskasse genommen und zu seinem Bankier getragen habe. Man habe in Rücksicht auf die Partei darüber geschwiegen.“

Weiter erzählte Tölcke:

„Schweitzer stehe mit dem Polizeipräsidium in Verbindung und hinterbringe demselben alles, was passiere. Schweitzer habe ihm kurz vor dem Antritt seiner Haft in Rummelsburg gesagt, daß er (Redner) sich zu jeder Zeit, wenn etwas passiere, an das Polizeipräsidium wenden könne; er sei auch mit ihm dorthin gegangen und habe ihn daselbst vorgestellt, wobei Schweitzer eine große Kenntnis der Räumlichkeiten dort entwickelte. Nachher sei er mit ihm um den ganzen Hof herum gegangen, wo sämtliche Hauptleute usw. aufgepflanzt waren und den Doktor freundlich grüßten. Dann sagte ihm Schweitzer auch, daß er (Redner) jederzeit zum Minister des Innern kommen könne.“

Hierauf wurde Tölcke abermals mit Recht erwidert, er habe die Partei immer im Dunkeln tappen lassen, noch auf der vorigen Generalversammlung habe er Schweitzer verteidigt. Ein anderer Redner meinte: Nach seinen eigenen Angaben sei Tölcke ein weit schlimmerer Verräter als Schweitzer. Ein dritter Redner äußerte:

Er bemerke die Anwesenheit Doktor Schweitzers und frage an, ob auch Nichtmitglieder anwesend sein dürfen. Könne sich Schweitzer weder als Mitglied noch als überwachender Polizeibeamter ausweisen, so habe er ohne weiteres das Lokal zu verlassen.

Es wird konstatiert, daß Schweitzer seit seinem Rücktritt vom Präsidium keine Beiträge mehr bezahlte, also kein Mitglied des Vereins mehr sei. Schweitzer verließ hierauf das Lokal.

Lingner beantragte alsdann, einen Beschluß zu fassen, daß Schweitzer nicht mehr in den Verein aufgenommen werden dürfe, er wolle ihn ausgeschlossen wissen.

Bei der Abstimmung wurde der Antrag, daß Schweitzer nicht mehr in den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein aufgenommen werden könne, mit 5595 gegen 1177 Stimmen bei 1209 Enthaltungen angenommen.

So endete Schweitzers politische Laufbahn. Er war preisgegeben und verurteilt selbst von denen, die ihm viele Jahre ein fast unbegrenztes Vertrauen schenkten oder wie Tölcke seine Helfershelfer waren. Mayer meint in seinem von mir mehrfach zitierten Buche über Schweitzer, es wären die literarischen Gefälligkeiten gegen den konservativen Sozialpolitiker Rudolf Meyer gewesen, die Schweitzers Ausschluß aus dem Verein herbeigeführt hätten. Das ist ein Irrtum, so empfindlich war man in jener Zeit im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein nicht. Auch hätte alsdann Hasenclever ausgeschlossen werden müssen, der, wie allbekannt war, damals ebenfalls mit Rudolf Meyer im Verkehr stand. Dieser Verkehr wäre aber auch kein Grund zu einem Ausschluß aus der Partei gewesen. Haben doch auch Fr. Engels und ich später zu Rudolf Meyer in persönlichen Beziehungen gestanden, der 1893 in Prag unser Führer durch die Stadt war. Ich meine, an den gewichtigsten Gründen für den betreffenden Beschluß gegen Schweitzer mangelte es dem Verein nicht, man brauchte nicht nach anderen zu suchen.

Mit Schweitzer schied eine Persönlichkeit aus dem politischen Leben, die, wenn sie zu ihren sonstigen Eigenschaften auch die Eigenschaften gehabt hätte, die der Führer einer Arbeiterpartei unbedingt haben muß, Selbstlosigkeit, Ehrlichkeit und volle Hingabe an die zu vertretende Sache, unbestreitbar der erste Führer der Partei bis an sein Lebensende geblieben wäre, wie ich das schon hervorhob. Man mag diese großen Fehler seiner Persönlichkeit bedauern, übersehen durfte man sie nicht. Unter den damaligen Verhältnissen wäre er der gegebene Mann gewesen. Viele Jahre erbitterter Kämpfe, in denen Zeit, Kraft, Gesundheit und Geld zur Freude der gemeinsamen Gegner verschwendet und verpufft wurden, was wieder ungezählte Kräfte abhielt, sich der Bewegung anzuschließen, wären unmöglich gewesen. Die Saat, die Schweitzer gesät, trug auch weiter ihre Früchte. Wohl hatte er die Ideen des Sozialismus in seltener Klarheit und Lebendigkeit den Massen beizubringen verstanden — das war sein Verdienst, und diese Tätigkeit stand mit der zweideutigen politischen Rolle, die er spielte, durchaus nicht im Widerspruch —, aber politisch hatte er Unheil gesät, den Fanatismus großgezogen und durch den Apfel der Zwietracht eine dauernde Spaltung und damit die Schwächung der Arbeiterbewegung aufrecht zu erhalten versucht.

Dieses war nach meiner Ueberzeugung seine eigentliche Aufgabe. Die Richtigkeit derselben wird bestätigt durch die bereits zitierte Aeußerung Tölckes auf der Berliner Generalversammlung, „daß bei einem Blick auf die Geschichte des Vereins es in die Augen falle, daß, sobald derselbe in die Höhe ging, irgend ein Experiment gemacht worden sei, das ihn wieder herunterbrachte“. Dafür liefert die Geschichte des Vereins zahlreiche Beispiele. Genau so ging es mit den Gewerkschaften. Nachdem ihre Gründung, weil im Zuge der Zeit liegend, unumgänglich war, mußte eine möglichst widersinnige Organisation ihre Entwicklung hemmen. Wenn hier Schweitzer seinen Zweck nicht erreichte, so, weil die Bewegung viel zu gesund war, um sich in spanische Stiefel schnüren zu lassen, sie wuchs ihm über den Kopf.

Der eigentliche Zweck seiner Tätigkeit, und in Bismarcks Augen ihr Hauptzweck, war, eine der Regierung politisch gefügige Arbeiterbewegung zu schaffen. Darum wurde als Grenzlinie für ihre Opposition der Standpunkt der Fortschrittspartei festgehalten, jener Partei, die nach Schweitzers Diktum in sozialen Dingen die Partei des Rückschritts war. Daß Schweitzer nach alledem, was ich hier an Tatsachen zusammengestellt habe, im Dienste Bismarcks stand, kann nicht dem geringsten Zweifel mehr unterliegen. Daß man die Summen nicht kennt, die er für seine Rolle bezog, beweist nichts. Dergleichen wird nicht, wie ich wiederhole, auf offenem Markte abgemacht, und daß bei einem Manne wie Schweitzer auch nicht subalterne Beamte damit zu tun hatten, ist sicher. Nach meiner Ueberzeugung wußte nicht einmal der Berliner Polizeipräsident darüber Genaueres.

Gegen seine Bestechung spricht auch nicht, daß er beständig und bis an sein Lebensende sich mit Gläubigern herumschlagen mußte. In der ersten Zeit des Bismarckschen Preußen waren die Summen nicht allzu hoch, die man für Dienste zahlte, wie Schweitzer sie leistete. Später stand Bismarck der Reptilienfonds zur absoluten Verfügung. Ueber diesen, der von der ganzen Oppositionspresse angegriffen wurde, schrieb und sprach bezeichnenderweise Schweitzer nie ein Wort. Er gehörte andererseits mit seinen sybaritischen Neigungen zu den Leuten, die selbst mit einem Bankdirektoreneinkommen leicht fertig werden. Möglich ist auch, daß er hoffte, und sein Ehrgeiz sprach dafür, zu gelegener Zeit mit einer entsprechenden Stellung in einem der Ministerien oder Reichsämter etwa als Geheimrat für Sozialpolitik angestellt zu werden, von der nach Bismarcks Geständnis seine damaligen Geheimräte nichts verstanden.

Für die Rolle, die Schweitzer spielte, war aber auch unumgänglich notwendig, daß er frei und unabhängig nach eigenem Gutdünken mit dem Verein schalten und walten konnte, an dessen Spitze er stand. Dazu gehörte die Diktatur. Die Diktatur, die ihn jeder Kontrolle entzog, die ihm erlaubte, ganz nach eigenem Gutdünken zu handeln, ohne daß er nötig hatte, andere in seine Machenschaften einzuweihen oder gar ihre Zustimmung einholen zu müssen. Das wäre der Tod der Diktatur gewesen und hätte ihm seine Rolle unmöglich gemacht. Daher die beständigen kleinen und großen Staatsstreiche, durch die er die Fesseln wieder abstreifte, die eben eine Generalversammlung ihm angelegt hatte. Und da Lassalle infolge seines eigenen Diktatorengelüstes eine Organisation geschaffen hatte, die dem Führer eine diktatorische Gewalt einräumte, mußte diese Organisation zu einer Pflanze Rührmichnichtan gemacht und Angriffe auf sie zu einer Art Staatsverbrechen gestempelt werden. Die absolute Gewalt des Präsidenten mußte unangetastet bleiben. Dazu mußte weiter der beständige Kultus mit Lassalle und der von ihm geschaffenen Organisation dienen, ein Kultus, über den der Zyniker heimlich lachte und seine Verachtung gegen diejenigen steigerte, die sich von ihm führen ließen.

Schweitzer hat wie an anderer Stelle so auch Rudolf Meyer gegenüber geklagt über die „Undankbarkeit“ der Arbeiter. Diese Klage paßt ganz zu dem Bilde, das er uns zeigt. Er kam eben mit einer ganz falschen Auffassung von seiner Stellung in die Bewegung. Der Führer einer Partei wird wirklicher Führer nur durch das, was er nach seinen Kräften und Fähigkeiten der Partei als ehrlicher Mann leistet. Das Höchste zu leisten, was er vermag, ist die Pflicht und Schuldigkeit eines jeden, der in einer demokratischen Bewegung steht und zu ihr gehört. Durch seine Leistung erwirbt er sich das Vertrauen der Masse, und diese stellt ihn deshalb als Führer an ihre Spitze. Aber nur als ihren ersten Vertrauensmann, nicht als ihren Herrn, dem sie blindlings zu gehorchen habe. Er ist der erwählte Verfechter ihrer Forderungen, der Dolmetsch ihrer Sehnsucht, ihrer Hoffnungen und Wünsche. Solange der Führer dieser Aufgabe gerecht wird, ist er der Vertrauensmann einer Partei; sieht diese aber, daß getäuscht und betrogen und auf Irrwege geführt werden soll, dann ist es nicht nur ihr Recht, sondern ihre Pflicht, dem Führer die Führerschaft zu entreißen und ihm ihr Vertrauen zu nehmen. Eine Partei ist nicht der Führer wegen da, sondern die Führer der Partei wegen. Und da jede Machtstellung in sich die Gefahr des Mißbrauchs enthält, hat die Partei die Pflicht, die Handlungen ihrer Führer unter scharfe Kontrolle zu nehmen.

Schweitzer sah aber die Dinge umgekehrt an, als er sie ansehen mußte. Er fühlte sich als eine Art Wohltäter, er sah in der Partei nur das Fußgestell, auf dem er emporstieg, das Mittel, seinen Ehrgeiz, und die Möglichkeit, seine Genußsucht zu befriedigen. Und als ihm dieses Spiel mißlang, klagte er über Undankbarkeit. Die Massen sind aber nie undankbar, vorausgesetzt, solange sie an die Ehrlichkeit ihrer Führer glauben. Und sie sind schwer zu überzeugen, daß sie betrogen werden, wenn sie erst jemand ihr Vertrauen schenkten. Dafür gibt es eine Menge Beispiele. Wer über Undankbarkeit der Massen klagt, klage sich selber an. Die Schuld liegt an ihm.

Nachdem Schweitzer das Spiel verloren geben mußte, glaubte er auf einmal seinen Anhängern empfehlen zu sollen, was er, solange er im Besitz seiner Stellung war, aus Leibeskräften verhindert hatte. In einem Flugblatt, betitelt: „An meine persönlichen Freunde im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“, das er unter dem 2. November 1872 veröffentlichte, trat er mit aller Entschiedenheit für eine Vereinigung der beiden Parteien ein. Natürlich konnte er dieses nicht, ohne zuvor zu versuchen, sein früheres Verhalten gegen uns zu rechtfertigen. Nach ihm war jetzt gar kein Zweifel mehr, daß wir eine sozialdemokratische Partei seien, wozu uns aber erst der Uebertritt zahlreicher rühriger Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gemacht, die er aber vordem mit uns in einen Topf geworfen und als Literaten, Schulmeister, Kaufleute, Viertels- und Achtelsintelligenzen bezeichnet hatte. Weiter wandte er sich gegen den Beschluß der letzten Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, wonach er nicht mehr Mitglied des Vereins werden dürfe, dessen gefeierter Präsident er jahrelang gewesen sei. Er sah in diesem Beschluß einen unlösbaren Widerspruch zu dem das Jahr vorher ihm von der Generalversammlung erteilten Vertrauensvotum. Er versicherte pathetisch seinen redlichen Willen, mit dem er der Partei gedient habe. Er setzte dann die Nachteile auseinander, die für beide Teile die Spaltung und gegenseitige Bekämpfung mit sich bringe, und forderte zu einem gemeinsamen Kongreß auf, der eine zentralistische Organisation, die nach seiner jetzigen Auffassung das eigentliche Wesen der Lassalleschen Organisation sei, zu schaffen habe. Er fordert, die Einigung zu schaffen „mit den Führern, wenn diese wollen, ohne sie, wenn sie untätig bleiben, trotz ihnen, wenn sie widerstreben“. Man sieht, er konnte auch so.

Schweitzer hatte anfangs den Versuch gemacht, sein Flugblatt im „Volksstaat“ zu veröffentlichen. Dieses wurde abgelehnt, nicht weil der Gedanke der Einigung unseren Widerspruch fand, sondern weil namentlich Liebknecht Schweitzer nicht traute. Er sah in dem Flugblatt eine Falle. Mir machte der Vorschlag den Eindruck, daß Schweitzer seine Nachfolger damit ärgern und in Verlegenheit bringen wollte. Im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein versagte die Schweitzersche Aufforderung zur Vereinigung vollständig. Er bekam jetzt in gewissem Sinne am eigenen Leibe zu spüren, was er durch jahrelange Verhetzung gegen uns gesät. Es mußten erst weitere Jahre ins Land gehen, bis unter dem Zwange innerer und äußerer Umstände die Einigung der deutschen Sozialdemokratie verwirklicht wurde.

Schließlich muß ich noch einige Handlungen Schweitzers erwähnen, die weiter dazu dienen, seinen Charakter in das richtige Licht zu stellen. Die Vorgänge, die sich auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zugetragen, wurden natürlich auch der bürgerlichen Presse bekannt, und diese erging sich nunmehr in allerlei Glossen über die Schweitzer bewiesene Undankbarkeit. Darauf veröffentlichte er in der „Berliner Börsenzeitung“ eine Erklärung, an deren Schluß es hieß:

„Ich stimme Ihnen daher vollständig zu, wenn Sie sagen, daß der Vorgang bezeichnend sei. Die Formfrage war diesen versammelten ‚Führern‘ und ‚Agitatoren‘ nur Vorwand. Derartige immer wiederkehrende Beweise von Undankbarkeit sind jedoch sehr erklärlich bei Leuten, von denen leider nur ein sehr kleiner Teil durch die Begeisterung für eine neue Idee bewegt wird, während weitaus die meisten, wie ich zu meiner Betrübnis beobachten mußte, nur durch den Neid gegen die höheren Gesellschaftsklassen (den niemand heftiger als er geschürt hatte. A.B.) oder durch andere unschöne Motive angetrieben werden. Nimmt man dazu den beschränkten Horizont und man wird sich über Erscheinungen des Undankes oder des Blödsinnes nicht weiter wundern.“

Der „Berliner Volkszeitung“ schrieb er auf einen Artikel hin, daß er sich seit seinem Rücktritt von der Präsidentur des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in keiner Weise aktiv um sozialdemokratische Angelegenheiten gekümmert habe und auch in Zukunft nichts damit zu schaffen haben wolle. Er habe es gründlich satt bekommen. Gründlicher konnte sich Schweitzer selbst nicht bloßstellen, als es durch solche Erklärungen geschah.

Damit hatte er aber seiner Feindseligkeit gegen die Träger der von ihm so viele Jahre geleiteten Bewegung noch nicht genug getan. Fast zu der gleichen Zeit, in der er sein Flugblatt „An meine Freunde im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ veröffentlichte, erschien auf einer Berliner Bühne ein von ihm verfaßtes Stück, betitelt „Unser großer Mitbürger“, Originalposse mit Gesang in drei Akten und sieben Bildern. In diesem verhöhnte und verspottete er aufs blutigste die Agitatoren des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, deren Erzieher doch er war. Selbst in der bürgerlichen Presse wurde diese Handlung als Charakterlosigkeit gerügt und verurteilt.

Schweitzer litt jahrelang an Tuberkulose, schließlich suchte er in der Schweiz Heilung seines Leidens. Vergeblich. Am 28. Juli 1875 verschied er an einer Lungenentzündung im zweiundvierzigsten Lebensjahr. Am 7. Oktober desselben Jahres wurde seine Leiche, wie Gustav Mayer erzählt, in der Familiengruft in Frankfurt a.M. beigesetzt. Das Geleite bildeten ausschließlich seine Familienangehörigen und ein katholischer Geistlicher. Von seinen einstigen Anhängern und Bewunderern im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein folgte keiner dem Sarge. Für die Sozialdemokratie war er tot, noch ehe er gestorben war. Eine Grabrede von ihrer Seite hätte keine Lobrede sein können. Auch war dazu die Leichengruft der Familie nicht der Ort. Auch kein Nachruf zeugt davon, daß man des ehemaligen Führers gedachte. So endete einer der bedeutendsten Führer der deutschen Arbeiterbewegung, der sein Schicksal selbst verschuldet hatte.

Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit.

Im konstituierenden norddeutschen Reichstag.

Sobald ich die offizielle Anzeige meiner Wahl zum Reichstag in der Tasche hatte, reiste ich mit einigem Herzklopfen am 5. März 1867 nach Berlin. Der Reichstag war bereits am 24. Februar eröffnet worden. Ich ging einer ganz neuen politischen Tätigkeit entgegen. Bis jetzt war mir das parlamentarische Leben noch gänzlich fremd; jemand, der mich hätte über dasselbe unterrichten können, kannte ich nicht. Rechtsanwalt Schraps, der mit mir von der gleichen Partei gewählt worden war, wußte davon so viel wie ich. Doch hinein ins Wasser. Als ich eben die Tür zum alten Herrenhaus in der Leipzigerstraße, in dem der Reichstag tagte, öffnen wollte, wurde dieselbe von innen geöffnet und heraus trat der Prinz Friedrich Karl, der ebenfalls Mitglied des Reichstags war. Da begegnet der auf der sozialen Stufenleiter Höchste dem Niedersten, dachte ich. Nachdem ich mich auf dem Bureau angemeldet hatte, begab ich mich in die Wohnung von Rechtsanwalt Schaffrath und Professor Wigard, an die ich ein Empfehlungsschreiben Professor Roßmäßlers hatte, die ich aber beide persönlich noch nicht kannte, um zu hören, wie es im Reichstag stehe. Beide klagten über ihre preußischen Gesinnungsgenossen, die Fortschrittler, unter denen auch der Beste sich nicht auf einen wirklich freien, demokratischen Standpunkt erheben könne. Auch die partikularistischen Sachsen, Geheimrat v. Wächter und Genossen, hätten sich bereits durch Bismarck ins Bockshorn jagen lassen und wagten nicht mehr ihren konstitutionellen Standpunkt zu vertreten.

Bemerken will ich, daß damals die konservativen Sachsen, Hannoveraner usw., die schon ein weit längeres Verfassungsleben hinter sich hatten als die Preußen, konstitutionellen Anschauungen huldigten und in ihrem Lande verwirklicht hatten, die selbst liberale Preußen nicht zu vertreten wagten.

Ich war der ersten Abteilung zugewiesen worden. Für Laien sei bemerkt, daß die Mitglieder des Reichstags durch das Los sieben Abteilungen zugewiesen werden, welche damals noch die Wahlprüfungen endgültig vorzunehmen hatten und wie heute die Fachkommissionen wählen. Aus diesem Grunde muß die Zahl der Kommissionsmitglieder stets durch sieben teilbar sein.

Meiner Frau schrieb ich unter dem 8. März: Schraps und ich bildeten die äußerste Linke und wir säßen dementsprechend. Weiter nach links zu rücken, verhindere uns die Wand, die wollten wir aber doch nicht mit dem Kopfe einrennen.

Unter den Abgeordneten befand sich damals die Elite der norddeutschen Politiker und parlamentarischen Koryphäen. Da sah ich wieder v. Bennigsen, der im Vorjahr dem Abgeordnetentag in Frankfurt a.M. präsidiert hatte; weiter Dr. Karl Braun-Wiesbaden, der Parlamentsspaßmacher wurde und die beste Weinzunge im Reichstag gehabt haben soll; den roten Becker, dessen Bekanntschaft aus dem Jahre 1863 ich erneuerte; Max Duncker, der auf seine Löwenmähne stolz war; v. Forckenbeck, der später Nachfolger Simsons und der parteiischste Präsident wurde, den den Reichstag je hatte; Gustav Freytag, der bekannte Romanschriftsteller; Rudolf Gneist, dem nachher eines Tages der Kriegsminister v. Roon vor dem ganzen Hause das Kompliment machte, er sei ein Mann, der alles beweisen könnte; den kleinen Lasker, der mit seinen kurzen Beinchen wie ein Wiesel lief, wenn er zur Tribüne eilte, was häufig vorkam; das ehemalige Mitglied des Kommunistenbundes Miguel, ein feiner Kopf und Redner; Dr. Planck, nachmals Hauptmitarbeiter am Bürgerlichen Gesetzbuch und Kommentator desselben; Eugen Richter, der noch ebenso frostig dreinsah wie 1863, als ich ihn in Frankfurt a.M. kennen lernte; Dr. Simson, einst einer der Präsidenten des Frankfurter Parlaments, dem man jetzt dieses Amt im Reichstag übertragen hatte; wegen der würdevollen Art, mit der er präsidierte und die Glocke schwang, wurde er scherzweise Jupiter Tonans genannt; Schwerin-Putzar, früher Minister in der „liberalen Aera“, setzte später durch, daß der Reichstag für die Beratung der Initiativanträge seiner Mitglieder einen bestimmten Tag in der Woche, in der Regel den Mittwoch, bestimmte; daher werden diese Tage noch heute im Parlamentsjargon Schwerinstage genannt. Schulze-Delitzsch, Twesten, besonders bekannt geworden durch sein Duell mit Herrn v. Manteuffel; v. Unruh, ein liberaler Reaktionär; Waldeck, der eigentliche Führer der Fortschrittspartei; die beiden Mecklenburger Gebrüder Wiggers, beide ehemalige Revolutionäre, von denen der eine zu den Nationalliberalen, der andere zur Fortschrittspartei gehörte. In der bundesstaatlich-konstitutionellen Fraktion ragte vor allen neben Windthorst Malinckrodt hervor, der mit der feinste Kopf des späteren Zentrums war. In der Fraktion des Zentrums, das damals aus Altliberalen bestand, saß Georg v. Vincke, der Schrecken der Stenographen. Er war der schnellste Redner des Reichstags. Endlich befand sich auf der äußersten Rechten und als ihr eigentlicher Führer der Geheime Oberregierungsrat Hermann Wagener, eine hohe, hagere Bureaukratengestalt, mit einem knochigen, unsympathischen Gesicht und einem unangenehmen Organ.

Eine gewichtige Person war Karl Mayer v. Rothschild, den das annektierte Frankfurt mit Unterstützung der „Frankfurter Zeitung“ in den Reichstag geschickt hatte. Rothschild war eine untersetzte, breitschulterige Persönlichkeit mit wohlgepflegtem pechschwarzen Haar und Bart; er trug eine schwere goldene Kette über dem ziemlich stattlichen Bauch und war immer höchst elegant gekleidet. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick, ohne je ein Bild von ihm gesehen zu haben. Aehnlich erging es mir im nächsten Reichstag mit Schweitzer. Auch gehörten dem Reichstag die Generale Vogel v. Falckenstein und v. Steinmetz an; sie waren gewählt worden wegen ihrer Kriegstaten im vorhergehenden Jahre.

Mehr aber als alle die Genannten interessierte mich Bismarck, den ich vordem noch nicht gesehen hatte. Er erschien damals im Reichstag fast immer im schwarzen Gehrock, schwarzer Weste und hoher schwarzer Geheimratskrawatte, aus der die weißen Spitzen der Vatermörder hervorfahen. Das Haar, soweit er solches noch besaß, war dunkel, ebenso der kurzgeschnittene Schnurrbart. Nach den drei Haaren, die nach Angabe aller seiner Karikaturenzeichner auf dem im übrigen kahlen Schädel stehen sollten, wie drei Pappeln auf weiter Flur, hielt ich vergebens Ausschau. Entweder waren sie nur in der Phantasie der Zeichner vorhanden gewesen, oder er hatte sie im Verfassungskampf als Trophäe in den Händen seiner Gegner lassen müssen. Ich war sehr begierig, ihn sprechen zu hören, aber nicht wenig enttäuscht, als der Hüne sich erhob und, statt mit einer Löwen- oder Stentorstimme, mit einer Diskantstimme zum Hause sprach. Er prägte lange, sehr verwickelte Sätze, stockte auch zeitweilig ein wenig, sprach aber stets interessant. Was er sagte, hatte Hand und Fuß.

Bismarck hatte sich zwar mit der großen Mehrheit der Liberalen, namentlich den Nationalliberalen ausgesöhnt, aber er war immer noch mißtrauisch gegen sie und fürchtete, daß sie in die alten Fehler der Sucht nach parlamentarischer Macht verfallen und ihm das Leben wieder sauer machen möchten. Den Verfassungsentwurf hatte er deshalb auf seinen eigenen Leib zugeschnitten, aber diesen Entwurf konnten die Liberalen, so sehr sie auch sich zu bescheiden bereit waren, doch nicht ohne einige nicht unerhebliche Aenderungen akzeptieren. Schließlich machte er ihnen eine Anzahl Konzessionen, aber in zwei Hauptpunkten, dem eisernen Militäretat und der Verweigerung der Diäten, gaben sie ihm nach. Letztere hätte er sicher auch gewährt, wie er später einmal zugestand, wären die Liberalen, die in der ersten Abstimmung mit erheblichem Mehr die Diäten durchgesetzt hatten, festgeblieben. Aber schon damals wurde das Umfallen, namentlich den Nationalliberalen, zur süßen Gewohnheit. Es wäre undenkbar gewesen, daß Bismarck, wie er drohte, die Verfassung ins Wasser fallen ließ, falls die Diäten in derselben blieben. Diese Blamage konnte er sich vor der Welt nicht zufügen. Im konstituierenden Reichstag bezogen übrigens die Abgeordneten sämtlicher Staaten, mit Ausnahme jener von Preußen, Mecklenburg und Reuß jüngerer Linie, Diäten, so zum Beispiel wir sächsischen Abgeordneten vier Taler pro Tag, die aus der Landesstaatskasse gezahlt wurden.

Dagegen mußte Bismarck in der Sitzung am 28. März, in der der Artikel über das künftige Wahlrecht für den Reichstag zur Beratung stand, dieses verteidigen. Die rechtsnationalliberalen Abgeordneten v. Sybel, Grumbrecht-Harburg und Dr. Meier-Thorn und verschiedene Redner der Rechten hatten Bedenken gegen dasselbe geäußert. Sybel sah in ihm „die Diktatur der Demokratie“. Darauf erklärte Bismarck: Das allgemeine Wahlrecht ist uns gewissermaßen als ein Erbteil der deutschen Einheitsbestrebungen überkommen; wir haben es in der Reichsverfassung gehabt, wie sie in Frankfurt entworfen wurde; wir haben es im Jahre 1863 den damaligen Bestrebungen Oesterreichs in Frankfurt entgegengesetzt, und ich kann nur sagen: Ich kenne wenigstens kein besseres Wahlgesetz.

Er setzte dann auseinander, wie es ganz unmöglich gewesen sei, in dem zu gründenden Bunde von einundzwanzig Staaten eine andere gemeinsame Basis für ein Wahlrecht zu finden. Oder wolle man etwa das Dreiklassenwahlsystem? „Ja, wer dessen Wirkung und Konstellationen, die es im Lande schafft, etwas in der Nähe beobachtet hat, muß sagen, ein elenderes, ein widersinnigeres Wahlgesetz ist nicht in irgend einem Staate ausgedacht worden.“ Er warf diesem Gesetz Willkür und Härte vor. Der Erfinder desselben würde es nie gemacht haben, hätte er sich die praktische Wirkung desselben vergegenwärtigt. Er finde es natürlich, daß jeder sich als Helot, als politisch tot ansehe, der durch dieses Gesetz in eine untere Wählerklasse gestellt werde.

Meine erste parlamentarische Handlung bestand darin, daß ich den Reichstag zu einer Ungesetzlichkeit verleitete. Da diese Tat noch nicht in die Tafeln der Geschichte eingegraben worden ist, sei sie hier in Kürze erzählt. Als ich der ersten Abteilungssitzung beiwohnte, stand zufällig die Wahl des Abgeordneten Professor v. Wächter für Leipzig auf der Tagesordnung. Wächter war in engerer Wahl mit 5434 gegen 4403 Stimmen gewählt worden. Der Leipziger Magistrat hatte aber den groben Fehler begangen, daß er nicht, wie §7 des Wahlreglements vorschreibt, den Wahlkreis in Wahlbezirke, von denen keiner über 3500 Einwohner haben darf, einteilte, sondern daß er die Namen der gesamten Wählerschaft der Stadt, nach dem Alphabet geordnet, auf acht Wahlorte verteilte, die im Mittelpunkt der Stadt lagen. Es entschied also nicht der Wahlbezirk, sondern die alphabetische Ordnung der Namen der Wähler, wo ein solcher zu wählen hatte. Der Berichterstatter Graf Bethusy-Hue trug den Fall vor, der nach seinem eigenen Geständnis sehr kritisch lag. In der Debatte, die über die Gültigkeit der Wahl entstand, ergriff auch ich das Wort und führte aus: Ich wohnte seit sechs Jahren in Leipzig, wäre mit den politischen Verhältnissen der Stadt genau bekannt und könnte danach bestimmt behaupten, wenn der Wahlkreis nach der gesetzlichen Vorschrift eingeteilt worden wäre, würde das Wahlresultat auch kein anderes gewesen sein. Diese Auffassung, nach der ich die gesetzliche Vorschrift vollständig ignorierte, schlug durch. Die Kommission beschloß mit 14 gegen 11 Stimmen die Gültigkeit der Wahl, und das Plenum schloß sich dem Antrag ohne Debatte einstimmig an.

Ich hatte also den Leipziger Magistrat vor einer großen Blamage bewahrt, der er verfallen wäre, wenn die Wahl für ungültig erklärt worden wäre. Ich hatte aber auch der Stadt die Vertretung gerettet, denn da der Reichstag bereits am 17. April geschlossen wurde, hätte eine Nachwahl, für die eine neue Wählerliste aufgestellt werden mußte, nicht mehr rechtzeitig stattfinden können. Daß so beschlossen wurde, war allerdings nur in ungefestigten Verhältnissen möglich, wie sie in der ersten Session dieses neuen Reichstags vorhanden waren.

Ich habe oben den Namen des Grafen Bethusy-Hue genannt. Dieser Herr war einer der oberflächlichen Vielredner jener Zeit und liebte es besonders, in gewagten Bildern zu sprechen. So äußerte er zum Beispiel eines Tages: „man müsse den Strom der Zeit an der Stirnlocke fassen“; ein andermal sagte er mit Beziehung auf die Abgeordneten: „sie seien von der Sehnsucht erfüllt, heimzukommen zu ihren väterlichen Ochsen“, ein Satz, der die stürmische Heiterkeit des ganzen Hauses hervorrief.

Einmal Mitglied des Reichstags, hatte ich das Bedürfnis, eine größere Rede im Plenum zu halten. In meinem Wahlkreis wartete man sehnlichst darauf und richtete dementsprechende Anfragen an mich. Aber die Schlußanträge waren sehr häufig, und in der Generaldebatte über den Verfassungsentwurf war mir das Wort abgeschnitten worden. Endlich gelangte ich bei Artikel 14, Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund, zum Worte. Ich führte aus:

Ich sei überzeugt, daß es Preußen bei der Gründung des Norddeutschen Bundes keineswegs um eine Einigung Deutschlands zu tun gewesen sei (lebhafter Widerspruch rechts), man habe im Gegenteil ein spezifisch preußisches Interesse, die Stärkung der hohenzollernschen Hausmacht, im Auge gehabt. (Lebhafter Widerspruch rechts. Der Präsident forderte zur Ruhe auf, man solle mich nachher widerlegen.) Betrachte man den Bund näher, so ergebe sich ein ganz abnormes Verhältnis der übrigen Staaten zu Preußen. Der Bund sei nur ein Groß-Preußen, umgeben von Vasallenstaaten, deren Regierungen nichts weiter als Generalgouverneure der Krone Preußen seien. (Lebhafter Widerspruch rechts.)

Ich führte weiter aus:

Wenn Preußen die süddeutschen Staaten in das Bundesbündnis hätte mit aufnehmen wollen, hätte es das gekonnt. Die Behauptung, daß Frankreich dem entgegengetreten sein würde, ließe ich nicht gelten, denn durch die Militärkonventionen mit den süddeutschen Staaten sei die militärische Macht Deutschlands im Falle eines Krieges in der Hand Preußens vereinigt. Frankreich würde sich also gehütet haben, sich gegen die Aufnahme Süddeutschlands in den Nordbund zu erklären. Eine Einmischung von seiner Seite in die inneren Angelegenheiten Deutschlands würde zur Folge gehabt haben, daß ganz Deutschland sich wie Ein Mann gegen Frankreich erhoben hätte.

Wenn der Prager Friedensvertrag nur eine international geregelte Einigung zwischen Nord- und Süddeutschland zulasse, dann sei damit bewiesen, wie Preußen in der Frage denke, denn Preußen habe den Prager Friedensvertrag diktiert, und würde die preußische Regierung finden, daß dieser Vertrag ihr schädlich sei, so werde sie nicht anstehen, denselben zu zerreißen. (Oh! Oh! rechts.) Ich sei auch überzeugt, daß Oesterreich dasselbe tun werde, sobald es die Niederlage und Blamage des vorigen Jahres auswetzen könne. Die preußische Regierung wolle die süddeutschen Staaten nicht in den Nordbund aufnehmen, weil alsdann Preußen eine Majorisierung fürchten müsse. Preußen werde sich also begnügen, daß es durch die Militärkonventionen die militärische Gewalt in die Hände bekommen habe, im übrigen werde man durch Zollverträge die vorhandene Kluft zu überbrücken trachten, aber ausfüllen werde man sie nicht. Eine solche Politik unterstützten wir nicht. Ich protestierte dagegen, daß man eine solche Politik eine deutsche nenne, und ich protestierte gegen einen Bund, der nicht die Einheit, sondern die Zerreißung Deutschlands proklamiere, gegen einen Bund, der Deutschland zu einer großen Kaserne mache (lebhafter Widerspruch) und den letzten Rest von Freiheit und Volksrecht vernichte.

Der nationalliberale Abgeordnete Weber-Stade fand, daß durch meine Rede ein Mißton in die Versammlung geworfen worden sei, er hoffe aber, daß mit dem Aussprechen solcher Mißtöne die Gelegenheit zur Auflösung derselben in Harmonie gegeben sei.

Der Abgeordnete Miquel polemisierte ebenfalls gegen mich. Ich hätte bedauert, daß der Norddeutsche Bund den Rechten der kleinen Fürsten einen so gewaltigen Abbruch tue, daß sie sich in der beklagenswerten Stellung von Generalgouverneuren befänden. Das war eine Verdrehung meiner Worte, da ich mit dem Gleichnis nur dartun wollte, was für ein sonderbares Gebilde dieser Norddeutsche Bund sei. Wären damals sämtliche Klein- und Mittelstaaten annektiert worden, ich hätte keinen Finger dagegen gerührt. Ein weiteres Diktum von Miquel war: Der preußische Staat ist kein Militärstaat, sondern ein Staat der Kultur…. Es sei wunderbar, welche Koalition von Gegnern dem neuen Staatsgebilde entgegentrete. Auf der einen Seite die entschiedensten Demokraten, deren Tendenzen doch nicht darauf hinausliefen, sich besonders für die Machtvollkommenheit der kleinen Fürsten zu interessieren, und verbunden mit ihnen sei die ultramontane Partei, die, wenn man offen sein wolle, unser Vaterland nirgends anderswo als in Rom sehe.

Man sieht, daß vom ersten Augenblick unseres parlamentarischen Lebens bereits die Denunziation auftauchte, wir seien Verbündete der ultramontanen Partei, die damals im norddeutschen Reichstag noch keine organisierte Vertretung hatte. Miquel ist also der Vater dieser Denunziation, die bis heute von seinen Gesinnungsgenossen uns gegenüber praktiziert wird. Im weiteren sprach er die Hoffnung aus, der König von Preußen werde mit Gegnern wie Bebel fertig werden. Bis heute hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt, so wenig wie die andere, die drei Jahrzehnte später geäußert wurde: die Sozialdemokratie sei nur eine vorübergehende Erscheinung.

Natürlich konnte auch Lasker, die parlamentarische Anstandsdame, auf meine Rede nicht schweigen. Er sei nicht wenig erstaunt gewesen, daß der erste Redner (ich) mit so heftigen Angriffen gegen den Leiter unserer Politik auftrat. So viel er wüßte, gehörte ich zu einer Partei, die in Elberfeld-Barmen die Wahl des Herrn Ministerpräsidenten sehr kräftig unterstützt habe. (Er meinte die Wahl Bismarcks.) Im übrigen müsse er mir allerdings das Zugeständnis machen, daß ich die Gespräche, die man in Bierstuben zu führen pflege, hier klar abgespiegelt habe. Hier unterbrach ihn der Präsident mit dem Bemerken, daß es ihm (Lasker) nicht zustehe, eine solche Kritik an der Rede eines Kollegen zu üben. In einer persönlichen Bemerkung antwortete ich Lasker: Es sei mir sehr angenehm, durch seine Angriffe auf meine Parteistellung eine Erklärung abgeben zu können. Ich gehörte nicht zu der Partei, die in Barmen-Elberfeld geholfen habe, den Grafen v. Bismarck durchzubringen, das heiße der Lassalleschen Partei. Er (Lasker) hätte dies schon aus der Tatsache entnehmen können, daß ich hier gegen die Politik des Grafen v. Bismarck aufgetreten sei. Ich gehörte nicht der Lassalleschen, sondern der radikaldemokratischen, oder wenn man wolle, der Volkspartei an. Auf seine persönlichen Angriffe hätte ich keine Veranlassung mehr zurückzukommen, nachdem der Präsident ihm eine Rüge erteilt habe.

Meine Rede hatte erhebliches Aufsehen auch außerhalb des Hauses und namentlich bei meinen Wählern große Befriedigung hervorgerufen. Dagegen gab das liberale „Glauchauer Tageblatt“ seinem Aerger dadurch Ausdruck, daß es schrieb: „Der jugendliche Drechslermeister Bebel aus Leipzig hat seine wohleinstudierte Jungfernrede glücklich vom Stapel gelassen, infolgedessen schlägt das Schweinefleisch um drei Pfennig ab.“ Darauf antwortete nächsten Tages eine Annonce im „Schönburger Anzeiger“, der ebenfalls in Glauchau erschien: „Der erwartete Abschlag des Schweinefleisches ist nicht erfolgt, wohl aber steht infolge großen Andranges von ostpreußischem Rindvieh (Anspielung auf den Verfasser) ein bedeutender Abschlag des Ochsenfleisches bevor.“

Meine Jungfernrede hatte noch zwei weitere Nachspiele. Die „Gartenlaube“ veröffentlichte zu jener Zeit eine Reihe Artikel, in der das Auftreten markanter Persönlichkeiten im Reichstag besprochen wurde. Mir wurde die Ehre zuteil, ebenfalls in diesen Artikeln genannt zu werden. Der Verfasser führte aus, als ich meine Rede gehalten, sei es gewesen, als rausche der Sturmvogel der Revolution durch das Haus. Das schien dem Verleger der „Gartenlaube“, Ernst Keil, mit dem ich früher persönlich wiederholt wegen politischer Dinge Verkehr gehabt hatte, ein zu großes Lob zu sein. Der Druck der betreffenden Nummer wurde unterbrochen und der Satz geändert.

Einige Wochen später, als ich wieder zu Hause war, traten eines Tages zwei aristokratisch aussehende Herren in meine Werkstatt, in der ich eben am Schraubstock stand und Büffelhörner zersägte. Der eine der Herren fragte nach dem Drechslermeister Bebel. Der bin ich, gab ich zur Antwort. Darauf sah mich der Frager etwas betroffen an und äußerte: Ich meine den Reichstagsabgeordneten Bebel. Etwas pikiert antwortete ich: Ja ja, der bin ich! Erstaunt sah er an mir vom Kopf bis zu den Füßen herunter und stellte sich als Freiherr v. Friesen auf Rötha vor. Er war der Bruder des Ministers. Er habe meine Reichstagsrede gelesen und sich über eine Anzahl Stellen in derselben gefreut. Ich verneigte mich für das Kompliment. Dann fragte er, wer der Dr. Johann Jacoby sei, der im preußischen Landtag eine so gute Rede gegen die Annexionen und die von Bismarck geforderte Indemnität gehalten habe. Ich gab ihm die gewünschte Aufklärung. Dann entfernten sich die beiden.

Unsere Partikularisten waren zu jener Zeit von einem unbändigen Haß gegen Bismarck beseelt; sie hätten mit dem Teufel ein Bündnis geschlossen, um ihn zu vernichten. Während des Reichstags saß der größte Teil der sächsischen Abgeordneten im Leipziger Garten, der vis-à-vis dem Herrenhaus sich befand. Wir hatten mit dem Wirt ein Abkommen getroffen, wonach er für uns jeden Tag nach Schluß der Sitzung ein gemeinsames Mittagessen bereit hielt. Eines Tages saß ich neben dem Abgeordneten Haberkorn, der Bürgermeister von Zittau und Präsident der Zweiten sächsischen Kammer war. Im Laufe der Unterhaltung kam das Gespräch auch auf Bismarck, der in der Sitzung am Vormittag wieder eine seiner heftigen Reden gehalten hatte. Haberkorn war darüber so erregt, daß er sich in den denkbar stärksten Ausdrücken wider ihn erging.

Gegen Ende der Session hatte der König den gesamten Reichstag zu Tisch ins Schloß geladen. Ich und einige andere Abgeordnete nahmen an diesem Essen nicht teil. Am nächsten Vormittag nach jenem Tage stieß ich im Reichstag auf den roten Becker, mit dem ich gut Freund geworden war. Becker war noch in weinseliger Stimmung und trug auf dem breit ausgelegten Chemisette Spuren des genossenen Weines. Becker war damals Junggeselle. „Nun Becker,“ fragte ich ihn, „wie war es denn gestern bei Wilhelms?“ Darauf stellte er sich breit vor mich hin, legte beide Hände auf meine Schultern, schüttelte mich ein wenig und antwortete: „Bebelchen, es war großartig, Wilhelm hat deliziöse Weinchen,“ dabei schnalzte er mit der Zunge, „und hinter mir stand so'n Kerl, der immer einschenkte, wenn mein Glas leer war.“ Ich lachte und fragte: „Da werden Sie wohl auch künftigen Einladungen ins Schloß folgen?“ worauf er ebenfalls lachend erwiderte: „Mein Lieber, das können Sie sich denken.“

In Becker und Miquel besaß der norddeutsche Reichstag zwei Mitglieder des ehemaligen Kommunistenbundes, von denen jeder in seiner Art Karriere machte. Becker wurde Oberbürgermeister von Dortmund und später von Köln, in welcher Eigenschaft er auch Mitglied des Herrenhauses wurde. Miquel stieg noch einige Stufen höher. Er wurde zunächst Oberbürgermeister von Osnabrück, dann von Frankfurt a.M. und starb bekanntlich als geadelter pensionierter preußischer Finanzminister und Liebling der Agrarier.

Eine Anzahl Mitglieder des ehemaligen Kommunistenbundes hatte überhaupt eine besondere Entwicklung genommen. So neben Becker und Miquel der ehemalige Schriftsetzer Wallau, der als Oberbürgermeister von Mainz starb, ferner Bürgers, der längere Zeit Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“ war und während einer Legislaturperiode Mitglied des Deutschen Reichstags wurde. Er gehörte wie damals Becker zur Fortschrittspartei.

Am 16. April fand die namentliche Abstimmung über die Verfassung des
Norddeutschen Bundes statt. Von 283 anwesenden Mitgliedern — der
Reichstag zählte 297 — stimmten 230 dafür und 53 dagegen. Außer Schraps
und mir die gesamte Fortschrittspartei, die Polen, Windthorst,
Wächter, Haberkorn und mehrere Hannoveraner. Nach Ansicht der damaligen
Fortschrittspartei war die norddeutsche Bundesverfassung ein Werk, das
nicht die Rechte enthielt, auf deren Gewährung eine konstitutionelle
Volksvertretung bestehen mußte. Keine Grundrechte, kein
Steuerbewilligungsrecht, keine Ministerverantwortlichkeit, keine Diäten.
Dafür den eisernen Militäretat und eine große Machtstellung des
Bundeskanzlers. Reichskanzler heißt er von 1871 ab. Am 17. April wurde
der Reichstag geschlossen; er hatte fünfunddreißig Sitzungen abgehalten.

* * * * *

Ich hatte gegen Schluß der Session meine Frau nach Berlin kommen lassen, um ihr die Stadt zu zeigen. Das damalige Berlin kann sich mit dem heutigen in nichts vergleichen. Die schmucklosen Fassaden der Häuser an den langen geraden Straßen ließen es langweilig und eintönig erscheinen. Die Häuser standen gleichmäßig nebeneinander wie ein Regiment Soldaten, aber ohne anregende Farbe. Der Verkehr war im Vergleich zu heute gering. Ab und zu humpelte ein Omnibus mit zwei müden Gäulen über das Pflaster. Droschken sah man selten, deren Benutzung war dem Berliner jener Zeit zu teuer. Das einzige moderne Verkehrsmittel war die Pferdebahn, die vom Kupfergraben nach Charlottenburg führte. Mit den hygienischen Zuständen war es übel bestellt. Eine Kanalisation war noch nicht vorhanden. In den Rinnsteinen, die längs der Bürgersteige hinliefen, sammelten sich die Abwässer der Häuser und verbreiteten an warmen Tagen mephitische Gerüche. Bedürfnisanstalten auf den Straßen oder Plätzen gab es nicht. Fremde und namentlich Frauen gerieten in Verzweiflung, bedurften sie einer solchen. In den Häusern selbst waren diese Einrichtungen meist unglaublich primitiv. Eines Abends besuchte ich mit meiner Frau das Königliche Schauspielhaus. Ich war entsetzt, als ich in einem Zwischenakt in den Raum trat, der für die Befriedigung kleiner Bedürfnisse der Männer bestimmt war. Mitten in dem Raum stand ein Riesenbottich, längs den Wänden standen einige Dutzend Pots de Chambre, von denen man den benutzten höchst eigenhändig in den großen Kommunebottich zu entleeren hatte. Es war recht gemütlich und ganz demokratisch. Berlin als Großstadt ist wirklich erst nach dem Jahre 1870 aus dem Zustand der Barbarei in den der Zivilisation getreten.

* * * * *

Ich hatte die Gewohnheit angenommen, nach jeder Session des Reichstags in meinen Wahlkreis zu reisen und in den Hauptorten eine Anzahl Wählerversammlungen abzuhalten, in denen ich über die Verhandlungen des Reichstags und meine Tätigkeit Bericht erstattete. Da wir überall große Säle zur Verfügung hatten, konnte ich auf Massenbesuch rechnen, und es war mir besonders interessant, daß von Anfang meiner Agitation an die Frauen ein nicht unerhebliches Kontingent zu den Versammlungsbesuchern stellten, die nachher eifrige Agitatorinnen für uns wurden. Da wir keine Presse besaßen und die paar im Kreise verbreiteten Parteiblätter nur von wenigen gelesen wurden, die gegnerische Presse aber unausgesetzt sich namentlich mit mir beschäftigte, waren diese Versammlungen nötig. Es bildete sich allmählich zwischen mir und meinen Wählern ein Vertrauensverhältnis heraus, das nichts zu wünschen übrig ließ. Die Gegner machten bei den verschiedenen Wahlen vergebliche Anstrengungen, mich aus dem Sattel zu heben. Es fiel mir sehr schwer, als ich nach zehn Jahren (1877) doppelt gewählt wurde, den Wahlkreis aufzugeben; andernfalls wäre der neugewonnene Wahlkreis (Altstadt-Dresden) der Partei wieder verloren gegangen.

Im norddeutschen Reichstag und dem Zollparlament.

Die erste Session der ersten Legislaturperiode des norddeutschen Reichstags wurde am 10. September 1867 eröffnet. Unter den Abgeordneten, die neugewählt waren, ragten besonders hervor Freiherr v. Hoverbeck, Franz Ziegler und v. Kirchmann. Alle drei gehörten zur Fortschrittspartei! Kirchmann hatte wie Ziegler eine längere demokratische Vergangenheit hinter sich. So gehörte er in der preußischen Nationalversammlung im Jahre 1848 zu den Steuerverweigerern. Er war aber auch einer der am meisten verfolgten preußischen Richter, gegen den sich die Reaktion die nichtswürdigsten Mittel erlaubte. Schließlich wurde er seines Amtes als Vizepräsident des Appellationsgerichts in Ratibor ohne Pension entsetzt, weil er einen Vortrag gehalten hatte über den Kommunismus in der Natur, in dem er für eine Einschränkung der Bevölkerungsvermehrung eintrat, und zwar im Interesse einer höheren Kulturentwicklung und der Beseitigung der wirtschaftlichen Ungleichheit. Er hatte darin vor seinen Zuhörern ausgeführt: „Das Ideal einer fortschreitenden Gleichheit aller Menschen im Glück und Wohlbefinden liegt so tief in der Brust eines jeden, daß man nicht zu verzagen braucht. Die Bewegung, die Annäherung zu diesem Ziele wird vorschreiten, des seien Sie gewiß. Wenn viertausend Jahre dazu gehörten, um nur die Gleichheit des Rechts in einem hohen Grade zu gewinnen, so dürfen wir nicht den Mut verlieren, weil die Gleichheit der Glücksgüter, diese viel schwerere Aufgabe, innerhalb zweier Generationen nicht hat erreicht werden können.“ Dieser Vortrag sollte „unsittlich“ sein und einen so unsittlichen höheren Richter konnte der allezeit so fromme und sittliche preußische Staat nicht gebrauchen. Kirchmann war wohl der philosophisch gebildetste Kopf im Reichstag, jedenfalls stand er an Bildung und Wissen hoch über den Mitgliedern des Gerichtshofs, die ihm seine Stellung aberkannten. Außer den drei Genannten war auch Feldmarschall v. Moltke Mitglied des Hauses geworden. Ferner gehörte dem Hause der später berüchtigt gewordene Strousberg an, der es meisterhaft verstand, zahlreiche Vertreter des preußischen Hochadels als Lockvögel für seine Gründungen zu gewinnen, deren Unterschriften denn auch unter seinen Prospekten prangten. Das schien um so unbegreiflicher, als Strousbergs Aeußeres schon den Eindruck eines höchst unsympathischen Emporkömmlings machte. Sein Auftreten war protzenhaft. Die Feste, die er veranstaltete, machten in dem Berlin jener Zeit großes Aufsehen. Die Berliner Presse veröffentlichte lange Berichte über dieselben. So verschwenderisch wie er hatte bis dahin in Berlin kein Privatmann gewirtschaftet. Es war die Aera des Großkapitalismus, die Strousberg einläutete. Aristokratie und Plutokratie verschwägerten sich.

Meine erste Rede in der neuen Session hielt ich anläßlich einer Adreßdebatte am 24. September. Ich legte Verwahrung dagegen ein, daß in der Adresse an das Bundesoberhaupt — den König von Preußen — sich der Reichstag als die Vertretung der deutschen Nation bezeichne. Der Präsident unterbrach mich, es gebe keine andere Vertretung der Nation. Darauf antwortete ich, der Reichstag vertrete nur einen Teil der Nation. Man habe 18 Millionen Deutsche preisgegeben — 10 Millionen Deutsch-Oesterreicher, 8 Millionen Süddeutsche — und Luxemburg, das ebenfalls aus dem Bunde geschieden sei. Außerdem bestehe auf Grund Artikel 4 des Prager Friedensvertrags die Gefahr, daß wir eines Tages die nordschleswigschen Distrikte an Dänemark abtreten müßten. Das sei keine nationale Politik.

Darauf nahm Bismarck das Wort. Er wolle mir nicht persönlich entgegnen — bemerkte er etwas maliziös —, sondern weil ich mich zum Mundstück eines weitverbreiteten Irrtums gemacht hätte. Luxemburg sei nicht preisgegeben, was er durch eine Reihe Sophismen zu beweisen versuchte. Oder ob ich etwa wünschte, daß man wegen Luxemburg habe einen Krieg machen sollen? Das fiel mir selbstverständlich nicht ein, ich wollte nur konstatieren, daß die alten Beziehungen des Landes zu Deutschland infolge Bismarcks „nationaler“ Politik gelöst werden mußten, und zwar auf Verlangen Napoleons. Luxemburg war vordem deutscher Bundesstaat, es hatte Sitz und Stimme im Bundestag in Frankfurt, und die Stadt Luxemburg war deutsche Bundesfestung, und da der Großherzog von Luxemburg der König von Holland war, so waren Hollands Interessen in hohem Grade an die Deutschlands gekettet, was bei internationalen Verwicklungen ein Vorteil war.

Am 17. Oktober hielt ich meine zweite Rede bei der Beratung des Entwurfes betreffend die Wehrpflicht. Der Gesetzentwurf fordere nur scheinbar die allgemeine Wehrpflicht, denn alle Wehrfähigen wehrpflichtig zu machen, sei bei der langen Dienstzeit unmöglich. Alle Wehrfähigen militärisch auszubilden, sei aber ein Akt der Gerechtigkeit und eine Wohltat für das Land. Das sei nur bei einem Wehrsystem möglich, wie es infolge der Militärreorganisation von Scharnhorst und Gneisenau in Preußen von 1809 bis 1813 bestanden habe. Daß man mit kürzerer Dienstzeit ebenfalls kriegstüchtige Mannschaften liefern könne, habe 1866 auch Sachsen gezeigt, dessen weitaus größte Zahl der Mannschaften nicht über neun Monate bei den Fahnen gewesen sei. Auch das in Preußen bestehende Einjährig-Freiwilligensystem beweise es.

In großer Erregung trat mir Hans Blum entgegen, der sehr ausfallend gegen mich wurde. Woher ich die Stirne zu einer solchen Rede nehme? (Rüge des Präsidenten.) In persönlicher Bemerkung antwortete ich Blum, ich hätte die Stirne hergenommen, wo sein Vater sie 1848 hergenommen habe, als er für ähnliche Forderungen wie ich im Frankfurter Parlament eintrat. Liebknechts und meine Reden bei diesem Gesetzentwurf hatten nach außen Aufsehen erregt. Wir erhielten über dreißig Zustimmungsadressen, fast alle aus preußischen Städten. Die Leipziger Parteigenossen schickten uns als Anerkennung einen neun Pfund schweren Schinken, der uns als diätenlosen Abgeordneten, die wir jetzt waren, willkommen war.

Bei der Beratung des Paßgesetzes stellten Liebknecht und ich einen Antrag, wonach die Polizei kein Recht zu Ausweisungen haben solle. Zum Freizügigkeitsgesetz stellten wir Anträge, wonach die Polizei niemand Aufenthaltsbeschränkungen unterwerfen dürfe, solche sollten nur infolge eines richterlichen Urteils ausgesprochen werden können. Alle bisher erfolgten Ausweisungen sollten mit Inkrafttreten des Gesetzes aufgehoben sein. In der Rede, mit der Liebknecht den Antrag begründete, kam er auf die Vorgänge zu sprechen, die 1865 zu seiner Ausweisung aus Preußen und Herbst 1866 zu seiner Verurteilung wegen Bannbruch führten. Natürlich wurden die Anträge abgelehnt.

Die Session ging bereits am 26. November zu Ende.

* * * * *

Im Frühjahr 1868 wurde die Session des Reichstags, die am 23. März eröffnet worden war, unterbrochen; es sollte nach den Osterferien das Zollparlament zusammentreten, das für den 27. April nach Berlin berufen worden war. Dessen Sitzungen wurden im Sitzungssaal des preußischen Landtags — damals am Dönhofsplatz — abgehalten, weil für die um rund hundert größere Abgeordnetenzahl der Saal des Herrenhauses nicht reichte. Die Arrangeure für die Verteilung der Plätze begingen dabei die kleine Bosheit, daß sie Rothschild neben Liebknecht placierten. Alles lachte. Der Frankfurter Weltbankier hielt es aber in der gefährlichen Nachbarschaft nicht lange aus, er ließ sich einen anderen Platz anweisen.

Unter den süddeutschen Zollparlamentsmitgliedern befanden sich eine
Anzahl, die bereits eine politische Rolle hinter sich hatten, so Ludwig
Bamberger, der Staatsrechtslehrer Professor Bluntschli, der katholische
Sozialpolitiker Jörg, der Statistiker Dr. Kolb, Fürst zu
Hohenlohe-Schillingsfürst, der spätere Reichskanzler, Professor
Marquardsen, Rechtsanwalt Metz-Darmstadt, Moritz v. Mohl, Rechtsanwalt
Oesterlen-Stuttgart, der gewesene Minister v. Roggenbach, Professor
Schäffle, Professor Sepp, Freiherr v. Stauffenberg, Dr. Tafel-Stuttgart,
Minister v. Varnbühler, Rechtsanwalt Völck — die Frühlingslerche — und
andere.

Da ich bei der Eröffnungssitzung des Zollparlaments zugegen war, wurde ich neben den Abgeordneten Hans Blum, v. Watzdorf und Tobias Jugendschriftführer. Damals bestand noch in der Geschäftsordnung des Reichstags die Bestimmung, daß die bei der Eröffnungssitzung anwesenden vier jüngsten Mitglieder neben dem Alterspräsidenten das provisorische Bureau bildeten. Aus Aerger, daß auf diese Weise Sozialdemokraten in das Bureau kommen konnten, änderte man später die Geschäftsordnung. Jetzt wählt der Alterspräsident die vier Schriftführer des provisorischen Bureaus. An Kleinlichkeit der Auffassung der Opposition gegenüber hat es dem Reichstag nie gefehlt.

Unter den süddeutschen Abgeordneten befanden sich eine Anzahl, mit denen Liebknecht und ich in nähere Beziehungen traten: Ammermüller, Freiesleben, Kolb, Oesterlen, Schäffle, Tafel usw. Mehrere derselben, wie Kolb und Tafel, gehörten zur Demokratie. Der größte Teil der süddeutschen Abgeordneten fand sich nur sehr schwer in die neue Ordnung der Dinge. Das Zollparlament war eine der Früchte des zwei Jahre vorher stattgehabten Bruderkriegs, dessen Wunden in Süddeutschland noch nicht vernarbt waren. Man fühlte sich immer noch als Besiegte. Zudem war das Zollparlament eine politische Zangengeburt, ein Verlegenheitsprodukt, nicht Fisch, noch Fleisch. Die Liberalen, als Vertreter der modernen kapitalistischen Entwicklung, wollten aus dem Zollparlament ein Vollparlament machen; dem widerstrebte nicht nur Bismarck, aus politischen Rücksichten auf Frankreich und die Stimmung in Süddeutschland, dem widerstrebten auch die Vertreter aller anderen Parteien in Süddeutschland, die in dem Nordbund, seiner Verfassung und seinen Einrichtungen kein politisches Ideal sahen. Nimmt man hinzu, daß zu jener Zeit noch ein besonders scharfer Gegensatz in der Volksgesinnung zwischen Süd und Nord bestand, auf Grund dessen man in Süddeutschland besser Wien und Paris als Berlin kannte, das Süddeutsche zu jener Zeit selten besuchten, so begreift man, daß die Geister scharf aufeinanderplatzten, wo immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Doch zeigte sich auch hier, daß die Süddeutschen an Zähigkeit hinter den Norddeutschen zurückstanden. Liebknecht und ich hatten manchmal Mühe, dem uns näher stehenden Teil der süddeutschen Abgeordneten den Rücken zu steifen.

Der Versuch der Nationalliberalen, eine Adresse an den König von Preußen durchzusetzen, fiel nach heftiger Debatte mit 186 gegen 150 Stimmen, ein Resultat, das die Antragsteller ganz perplex machte. Ich nahm in dieser Session zu zwei längeren Ausführungen das Wort. Das erstemal sprach ich gegen den Entwurf eines Gesetzes, wonach der Tabak besteuert werden sollte, das zweitemal zu dem Zollvertrag zwischen dem Zollverein und Oesterreich. Ich stieß bei dieser Debatte scharf mit dem Abgeordneten Lasker zusammen. Derselbe hatte sich wieder einmal allerlei schulmeisterliche Bemerkungen gegen uns erlaubt und die Zustände in den Kleinstaaten in übertriebenster Weise angegriffen. Ich wies seine schulmeisterlichen Bemerkungen energisch zurück und äußerte wegen seiner Angriffe auf die Kleinstaaten, daß mich diese aus seinem Munde um so mehr wunderten, da er einem Kleinstaat (Meiningen) sein Mandat verdanke, eine Bemerkung, durch die ich die Lacher auf meiner Seite hatte.

* * * * *

Auf den 14. Mai war eine Volksversammlung von Berliner Demokraten und Parteigenossen nach dem Konzerthaus berufen worden, und zwar saßen unter anderem im Komitee: Buchhändler Jonas, der nachher wegen geschäftlicher Misere nach den Vereinigten Staaten auswanderte und dort die New Yorker Volkszeitung mitbegründete, deren Chefredakteur er wurde, Ludwig Löwe, Paul Singer, Fr. Stephani, Tölde usw. Von den süddeutschen Abgeordneten waren Freiesleben, Kolb, Oesterlen, Schäffle und Tafel, ferner Liebknecht, Dr. Reinke, der vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in Lennep-Mettmann gewählt worden war, und ich anwesend. Liebknecht griff die Politik der Fortschrittspartei und speziell Waldeck und Genossen heftig an, auch sprach er so scharf gegen den Nordbund, daß es einem Teil der Komiteemitglieder angst und bange wurde. Ich führte aus: Was jetzt unter den Formen der deutschen Einheit vorgenommen werde, sei nie und nimmer das einige Deutschland. Wir hegten die Erwartung, daß in einem Deutschland, das durch den Gesamtwillen der Bevölkerung getragen werde und an dessen Spitze eine Regierung stehe, die aus dem freien Willen des Volkes hervorgegangen sei, allein das wirkliche Heil für die Bevölkerung, insbesondere für die arbeitende Bevölkerung zu erwarten sei. Ich kritisierte weiter die Zustände im Norddeutschen Bund mit Bezug auf die Entwicklung des Militarismus: nicht Verminderung, sondern Vergrößerung der Lasten werde die Folge sein.

Dr. Max Hirsch, der mit seinem Anhang erschienen war, versuchte Lärm hervorzurufen; das Tischtuch sei zwischen uns zerschnitten. Das war es längst; sein lärmender Anhang wurde zur Ruhe verwiesen.

* * * * *

An einem Maisonntag waren Liebknecht und ich zu einem Fest des Berliner Schneidervereins geladen. Wir nahmen auf ihren Wunsch die Abgeordneten Oesterlen, Schäffle und Tafel zu demselben mit. Bei dem Ball kam es zu einem sogenannten Damenengagement. Die Damen stürzten sich auf uns fünf. Jede wollte mit einem von uns tanzen. Die vier Kollegen erklärten aber, nicht tanzen zu können. Nun fielen die Damen über mich Unglücklichen her. Vier Engagements hatte ich glücklich hinter mir, beim fünften versagten mir Kopf und Magen. Mir wurde übel, ich mußte in den Garten flüchten. Nächsten Vormittag kam eine Damendeputation zu mir in meine Wohnung, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich konnte ihr die beruhigende Versicherung geben, daß ich die Strapazen glücklich überwunden hätte. Als wir in jener Nacht nach Hause gingen, äußerte sich Schäffle höchst überrascht über den guten Ton und die ganze Haltung der Ballgesellschaft, die nicht besser hätte sein können. Er glaube, in Süddeutschland sei dergleichen auf einem Ballfest der Arbeiter unmöglich, dort würde es zu Prügeleien kommen. Ich protestierte gegen diese Auffassung. Ich sei zwar noch auf keinem Ballfest süddeutscher Arbeiter gewesen, sei aber fest überzeugt, daß dergleichen auf einem Fest organisierter Arbeiter nicht vorkomme.

Für den 20. Mai hatte die Berliner Kaufmannschaft die Mitglieder des Zollparlaments zu einem Festessen geladen, bei dem das Kuvert 25 Taler kostete. Ich nahm an demselben nicht teil. Kollegen, die daran teilgenommen hatten, versicherten mir nächsten Tages, die Arrangements seien so mangelhaft gewesen, daß eine Anzahl Gäste sich nicht einmal habe satt essen können.

Die meisten Süddeutschen waren froh, als sie nach vierwöchiger diätenloser Anwesenheit in Berlin wieder zu ihren Penaten zurückkehren konnten. Im übrigen waren die Sitzungen meist so schlecht besucht, daß die Berliner den Witz machten: Zollparlament bedeutet Leerparlament. An den Schlußberatungen der unterbrochenen Reichstagssession beteiligte ich mich nicht.

* * * * *

Die nächste Session des norddeutschen Reichstags begann den 4. März 1869. Hauptgegenstand seiner Beratung war der Gesetzentwurf für eine Gewerbeordnung. Ich trat erst in der 10. Sitzung in das Haus und nahm gleich zur Generaldebatte über den Gesetzentwurf das Wort. Ich polemisierte unter anderem gegen den Geheimen Regierungsrat Wagener, den ich wegen seines Auftretens in der Debatte als königlich preußischen Hofsozialisten bezeichnete. Im weiteren wandte ich mich gegen den Freiherrn v. Stumm, der uns heftig angegriffen hatte. Ich rechtfertigte unsere Agitation und Organisation. Organisierten die Arbeiter sich international, was er ihnen zum Vorwurf gemacht hatte, so sei dieses die notwendige Konsequenz gegenüber der Internationalität des Kapitalismus. Gegen den Abgeordneten Miquel trat ich ebenfalls polemisch in die Schranken, der behauptet hatte, wir in Deutschland seien in sozialen Dingen weiter als England und Frankreich. Ich antwortete: Jedenfalls streite man sich in England und Frankreich nicht mehr wochenlang wie wir um Gewerbefreiheit und Freizügigkeit. Ich führte ferner aus: Der Abgeordnete Wagener habe dem Abgeordneten Schulze-Delitzsch gegenüber gesagt: was er (Schulze) fordere, sei ihm (Wagener) insofern angenehm, als es gelte, die letzten Konsequenzen des Wirtschaftssystems zu ziehen, das führe dann zur Reaktion. Ich sei der Meinung, er (Wagener) habe sich in der Schlußfolgerung geirrt, nicht die Reaktion, sondern die Revolution werde schließlich kommen und kommen müssen.

Ich hatte mich in meiner Rede gegen eine Kommissionsberatung des
Gesetzentwurfes erklärt, da das Haus doch keinen von uns in die
Kommission wähle. Das hatte die Wirkung, daß man mich in die Kommission
schickte.

Ich möchte hier die Bemerkung einschalten, daß die Teilnahme an den Reichstags- und Zollparlamentsverhandlungen für Liebknecht und mich ein großes Opfer war. Zwar taten unsere Wahlkreise, und namentlich der meine, was sie konnten, um uns finanziell zu unterstützen. Es war aber doch ein peinliches Gefühl für uns beide, von einer Wählerschaft finanzielle Hilfe annehmen zu sollen, die mit zur ärmsten in Deutschland gehörte. Eine Parteiunterstützung gab es damals noch nicht, für Diäten war kein Geld vorhanden. Die Diätenzahlung durch die Partei trat erst vom Jahre 1874 ab ein, die mager genug ausfiel. Auch mußten wir die Reisen nach und von Berlin aus eigener Tasche bezahlen. So fehlten wir häufig in den Sitzungen, manchmal sogar, wenn unser Parteiinteresse gebot anwesend zu sein. Schweitzer und Genossen hatten es darin besser. Sie wohnten in Berlin, mit Ausnahme von Reinke, der aber bereits 1868 sein Mandat niederlegte, worauf Fritzsche an seine Stelle trat; sie konnten ohne Mühe und größere Opfer jeder wichtigen Sitzung beiwohnen. Doch waren wir bei weitem nicht die einzigen, die schwänzten. Die große Mehrzahl der Gesetze wurde von beschlußunfähigen Häusern angenommen. So blieb es bekanntlich bis zur Einführung der Diäten im Frühjahr 1906.

* * * * *

Bei der zweiten Beratung der Gewerbeordnung stellten wir eine Anzahl Anträge, mit denen wir aber nur vereinzelt Glück hatten. Wir beantragten Bestimmungen, nach denen die Streitigkeiten betreffend Kündigungsfristen usw. Gewerbegerichten überwiesen werden sollten; wir forderten ferner das Verbot des Trucksystems; obligatorische Fabrikordnungen für alle Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern, wobei die Arbeiter gutachtlich zu hören seien; weiter beantragten wir Bestimmungen über den Lehrvertrag, Aufhebung der Arbeitsbücher, Verbot der Kinderarbeit für Kinder unter vierzehn Jahren in Fabriken. Weiter verlangten wir das Verbot der Sonntagsarbeit, einen zehnstündigen Normalarbeitstag für Betriebe mit mehr als zehn Lohnarbeitern, volle Vereinigungsfreiheit für die Gewerkschaftsorganisationen, Einführung von Fabrikinspektoren. Meist hatten Schweitzer und Genossen dasselbe beantragt.

Einen unerwarteten Erfolg hatte ich mit meinem Antrag, die Arbeitsbücher
abzuschaffen. Das kam so. Das Leipziger Polizeiamt hatte eine
Verordnung erlassen, in der es hieß: Wirte, bei denen einwandernde
Gewerbsgehilfen einkehrten, seien verbunden, ihnen sogleich nach ihrer
Ankunft ihre Wanderlegitimationen abzufordern und solche an das
Fremdenbureau abzugeben. Diejenigen Gesellen aber, welche eine
Wanderlegitimation vorzuzeigen nicht vermöchten, ohne Verzug dem
Fremdenbureau zuzuführen. Ueberdies sollten die Wirte darauf sehen, daß
zugewanderte oder arbeitslos gewordene Gewerbsgehilfen ohne polizeiliche
Erlaubnis nicht über vierundzwanzig Stunden in Leipzig verweilten.

Diese Verordnung stand in schneidendem Widerspruch mit dem Paßgesetz, das den Legitimationszwang für das Inland aufgehoben hatte. Die bezüglichen Bestimmungen der sächsischen Gewerbeordnung, die die Arbeitsbücher vorschrieben, seien, so führte ich aus, durch das Paßgesetz gegenstandslos geworden. Lasker unterstützte meinen Antrag, und so wurde derselbe angenommen. Zehn Jahre später wurden bei einer Revision der Gewerbeordnung von der konservativ-ultramontanen Mehrheit die Arbeitsbücher für Personen unter 21 Jahren wieder eingeführt.

Die Annahme meines Antrags auf Beseitigung der Arbeitsbücher verschnupfte in den Kreisen der selbständigen Handwerker. Das ganze Raffinement, mit dem ich bei Stellung dieses Antrags zu Werke gegangen sein sollte, beschrieb Dr. C. Roscher, der Sohn des bekannten verstorbenen Nationalökonomen W. Roscher — dem Marx und Lassalle übel mitspielten —, in einem Artikel überschrieben: Wie der deutsche Gewerbsstand die Arbeitsbücher verlor. Fragment aus einem sozialen Roman. Nach C. Roscher, der heute noch in einem hohen Amt in der sächsischen Regierung sitzt, hatte ich meinen schlau erdachten Plan meinem „Freund Tübicke“ — der Mann hat wohl nie gelebt — entwickelt, als er mich eines Abends „in meinem öden Zimmer“ aufsucht, wo ich eben meine — nebenbei bemerkt — sehr kurze Rede zu meinem Antrag entwarf. Ich lasse mich nun — immer nach Roscher — mit Tübicke in ein Gespräch ein, wobei ich ihm auseinandersetze, wie ich morgen den Reichstag düpieren würde, damit er für meinen Antrag stimme. Ich war nicht wenig stolz, zu lesen, welche Schlauheit mir Roscher zuschrieb, um meine verehrten Kollegen über den Löffel zu barbieren. Natürlich gelang der Streich genau so, wie ich den Plan entworfen haben sollte. Als der Präsident verkündete, der Antrag habe die Mehrheit, hörte man auf der Tribüne ein unterdrücktes Kichern. Es war mein Freund Tübicke, der sich über das Gelingen meines Planes diebisch freute. Ich bin überzeugt, mancher, der diese Schilderung las, nahm sie ernst und sagte sich: Der Bebel ist doch ein verfluchter Kerl! Aber geschichtliche Wahrheit enthielt die Schilderung nicht. So wird aber oft Geschichte gemacht.

Ein zweiter, minder wertvoller Antrag, den ich durchsetzte, war, daß überall, wo es im Gesetz „Muße“ hieß, „Pause“ gesetzt wurde. Die Regierung sah selbst ein, daß das Wort „Muße“ unpassend sei, und akzeptierte meinen Vorschlag. Dagegen wurden alle unsere anderen Anträge abgelehnt.

In derselben Session wurde auch das Wahlgesetz für den Reichstag festgestellt. Schweitzer und Hasenclever beantragten, statt fünfundzwanzig Jahre zwanzig zu setzen, und der Wahltag müsse ein Sonntag sein. Ich beantragte, daß die Wahlen am gleichen Tage im ganzen Bundesgebiet stattfinden und der Wahltag ein Sonn- oder Feiertag sein müsse. Ferner verlangte ich, die Bestimmung zu streichen, wonach Personen das Wahlrecht verlieren sollten, die eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln beziehen oder im letzten Jahre vor der Wahl bezogen haben.

Es ist überflüssig zu sagen, daß trotz aller unserer Reden diese Anträge ebenfalls abgelehnt wurden. Auch verloren jetzt die unter der Fahne stehenden Militärpersonen das aktive Wahlrecht. Es waren die Nationalliberalen, die hierfür eifrig eintraten. Die Regierungen hatten diese Forderung nicht gestellt.

Bei der Debatte über den Haushaltsetat — 24. April — hatte sich der Abgeordnete v. Hoverbeck für eine Entwaffnung ausgesprochen. Darauf antwortete ich: Ich sei der Ansicht, daß, wie gegenwärtig die Dinge in Europa stünden, wo der Zäsarismus hüben und der Zäsarismus drüben das Ruder führe, ernstlich eine Entwaffnung für möglich zu halten eine Torheit sei. Ich hielte es für unmöglich, daß unsere Zäsaren, von denen jeder nach der Gelegenheit hasche, über den anderen herzufallen und ihn niederzuschlagen, sich einfallen ließen, eine noch so mäßige Entwaffnung eintreten zu lassen. Es geschehe eben hier, was von den beiden Löwen der Fabel erzählt werde, sie fielen über sich her und fraßen sich bis auf die Schwänze auf. Dabei könnten wir nur profitieren.

Am 13. Mai hielt ich eine Rede gegen das Privileg der Portofreiheit der Fürsten. Ich wurde wiederholt heftig unterbrochen. Meine Ausführungen hatten die „loyalen Gefühle“ eines Teils der Mitglieder verletzt. Dafür erhielt ich aus der Wählerschaft viele Zustimmungen.

Am 3. Juni wurde das Zollparlament wieder eröffnet, aber bereits am 22. Juni geschlossen. Ich beteiligte mich nicht an den Debatten, die für mich keine besondere Bedeutung hatten; außerdem erforderte mein Geschäft meine Anwesenheit in Leipzig.

* * * * *

In der Frühjahrssession des norddeutschen Reichstags von 1870 war der Hauptberatungsgegenstand der Strafgesetzentwurf für den Norddeutschen Bund. Ich nahm bei dessen Beratung nur einmal das Wort, und zwar in dritter Lesung bei Beratung der Todesstrafe. Der Reichstag, der in der zweiten Lesung mit erheblicher Mehrheit sich gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte — das im Jahre 1868 erlassene sächsische Strafgesetzbuch hatte sie abgeschafft, ebenso war sie in Baden abgeschafft worden —, stimmte jetzt auf Drängen und Drohen Bismarcks für dieselbe, und zwar mit 127 gegen 110 Stimmen. Der einzige sächsische Abgeordnete, der für die Todesstrafe eintrat, war Dr. Hans Blum, der Sohn des im Herbst 1848 in der Brigittenau bei Wien erschossenen Robert Blum. Als Blum sein Ja für die Todesstrafe abgab, antworteten wir auf der äußersten Linken mit einem kräftigen Pfui!

Hans Blum gehörte zu den schmutzigsten und perfidesten Gegnern der Sozialdemokratie; um uns zu bekämpfen, war ihm jedes Mittel recht. Selbstverständlich war er ein begeisterter Verehrer Bismarcks, und dieser wollte ihm wohl. Aber er konnte ihn vor schimpflichem Untergang nicht retten. Blum wurde wegen ehrloser Handlungen die Advokatur entzogen. Er ging alsdann nach der Schweiz, woselbst er eine Zigarrenfabrik betrieb. Er starb 1909 als wohlhabender Mann.

In einer zweiten Rede in der Frühjahrssession 1870 trat ich für einen
Antrag Lasker ein, der eine Revision des Militärstrafrechtes verlangte.
Der Antrag wurde mit 117 gegen 73 Stimmen angenommen.

Die Zollparlamentssession von 1870 war wiederum sehr kurz, sie währte nur gegen drei Wochen. Vor Beginn derselben hatte der Abgeordnete Dr. Kolb-Bayern sein Mandat für das Zollparlament niedergelegt. Das Zollparlament sei ein Werk der Täuschung und des Truges, das nur für die Machtstellung Preußens zu arbeiten habe. Es ist bemerkenswert, wie kampfunlustig die bürgerliche Demokratie wurde. Damit erhält man aber keine Partei am Leben, geschweige, daß man sie stärker macht. Die Klügeren sahen eben schon damals, daß bei der Entwicklung, die die Sozialdemokratie nahm, die bürgerliche Demokratie keine Zukunft mehr habe. Die wachsenden Klassengegensätze schieden immer mehr die Geister.

Die Frühjahrssession 1870 war die letzte des Zollparlaments, denn wenige
Monate nachher begann die große Tragödie, die auch die politischen
Verhältnisse Deutschlands sehr wesentlich änderte und das Zollparlament
überflüssig machte.

Taktische Unstimmigkeiten.

Bevor ich auf die Tragödie des Deutsch-Französischen Krieges eingehe, muß ich in Kürze auf die taktischen Unstimmigkeiten zu sprechen kommen, die sich zwischen Liebknecht und mir wegen unserer parlamentarischen Stellung herausgebildet hatten.

Liebknecht hatte schon zur Zeit, als der Bismarcksche Bundesreformantrag zur Diskussion stand — Frühjahr 1866 —, sich gegen das Wählen zu einem solchen Parlament ausgesprochen, und zwar im Mannheimer „Deutschen Wochenblatt“. Dieses wurde aber in unseren Kreisen fast nicht gelesen, und da Liebknecht, soweit ich mich dessen entsinne, weder im Leipziger Arbeiterbildungsverein, noch im Demokratischen Verein, noch in einer anderen Versammlung seinen negierenden Standpunkt zur Geltung zu bringen suchte, kam es infolgedessen zu keiner Diskussion. Als wir dann Weihnachten 1866 auf unserer Landesversammlung zu Glauchau ohne jeden Widerspruch die Wahlbeteiligung als selbstverständlich beschlossen und Liebknecht, der damals drei Monate Gefängnis in der Berliner Stadtpolizei verbüßte, mit als Kandidaten für den 19. sächsischen Wahlkreis aufstellten, akzeptierte er diese Aufstellung ohne jeden Vorbehalt. Bei seiner zweiten Kandidatur, Hochsommer 1867, wurde er auch gewählt. Anfangs stellte er selbst Anträge zu Gesetzentwürfen, aber bald kam die alte Abneigung gegen den Parlamentarismus wieder bei ihm zum Durchbruch und äußerte sich in lebhaften Auseinandersetzungen zwischen uns über die Taktik, die wir im Reichstag einnahmen sollten.

Liebknecht sah in dem Norddeutschen Bunde ein Gebilde, das mit allen Mitteln bis zur Vernichtung bekämpft werden müsse. An dessen Parlament sich anders als negierend und protestierend zu beteiligen, war nach seiner Meinung eine Preisgabe des revolutionären Standpunktes. Daher kein Paktieren, kein Kompromisseln, das heißt kein Versuch, die Gesetzgebung in unserem Sinne zu beeinflussen.

Zu dieser Auffassung unseres revolutionären Standpunktes konnte ich mich nicht bekennen. Protestieren und negieren, wo es am Platze war, also vor allen Dingen gegen alles Schlechte und Verderbliche, aber zugleich auch agitieren in positivem Sinne, indem wir überall unsere Anträge zu den einzelnen Gesetzentwürfen stellten und damit zeigten, wie wir uns die Gestaltung der Dinge dachten. Indem wir diese Anträge stellten und Reden zu ihren Gunsten hielten, die, wenn auch noch so verstümmelt, in den Berichten der Zeitungen von Millionen gelesen wurden, würden wir im höchsten Grade agitatorisch und propagandistisch wirken.

Diese Meinungsverschiedenheiten kamen zwischen uns am lebhaftesten zum
Ausdruck, als ich zahlreiche Anträge zur Gewerbeordnung und anderen
Gesetzentwürfen stellte, zu denen Liebknecht seine Stimme nur ungern
hergab. Er hielt es schließlich für zweckmäßig, seinen abweichenden
Standpunkt in einem Vortrag darzulegen, den er am 31. Mai 1869 im
Berliner Demokratischen Arbeiterverein hielt. Der Vortrag ist nachher in
einer Broschüre erschienen, betitelt: Die politische Stellung der
Sozialdemokratie, insbesondere mit bezug auf den Reichstag.

Liebknecht äußerte darin: Die soziale Bewegung ist ein revolutionärer Umgestaltungsprozeß, der sich nicht über Nacht vollziehen kann … Aber die neue Gesellschaft steht in unversöhnlichem Gegensatz mit dem alten Staat … Was die neue Gesellschaft will, hat daher vor allem auf Vernichtung des alten Staates hinzuwirken … Für die soziale Praxis muß sich die Sozialdemokratie erst den staatlichen Boden schaffen … Der Kampf im Reichstag sei bloß ein Scheinkampf, bloß eine Komödie … Verhandeln könne man nur, wo eine gemeinsame Grundlage bestehe … Prinzipien seien unteilbar, man müsse sie ganz bewahren oder ganz opfern … Den im Reichstag fast ausschließlich vertretenen herrschenden Klassen gegenüber sei der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Straße, auf dem Schlachtfeld zu lösen sei, gleich jeder anderen Machtfrage … Alles, was von dem Werte der Reden im Reichstag gesagt werde, sei hinfällig. Ob man glaube, den Reichstag durch Reden bekehren zu können? Dieses Reden sei zwecklos, und zwecklos zu reden, sei ein Vergnügen der Toren.

Er wendete sich dann gegen die Ueberschätzung des Wahlrechts im
absolutistischen Staat; losgelöst von staatsbürgerlicher Freiheit, ohne
Preßfreiheit, ohne Vereinsrecht könne das allgemeine Stimmrecht nur
Spiel und Werkzeug des Absolutismus sein.

Der Reichstag habe auch keine Macht; eine Kompagnie Soldaten jage, selbst wenn wir die Mehrheit darin hätten, diese Mehrheit zum Tempel hinaus … Revolutionen würden nicht mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung gemacht; die sozialistische Idee könne nicht innerhalb des heutigen Staates verwirklicht werden; sie müsse ihn stürzen, um ins Leben treten zu können. „Kein Friede mit dem heutigen Staat.“

Diese rein negierende Stellung Liebknechts ist für die Partei nie maßgebend geworden, so oft er auch dafür kämpfte. Als aber in den achtziger Jahren unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes der Anarchismus in Deutschland hier und da Boden fand, benutzten selbstverständlich die Anarchisten die Broschüre Liebknechts, um gegen uns als „parlamentarische Partei“ zu kämpfen. Es war ein unhaltbarer Zustand, daß eine Rede des ersten Führers der Partei ständig gegen die Wirksamkeit der Partei ausgenutzt wurde. Darauf machte ich ihn in einer Fraktionssitzung Mitte der achtziger Jahre aufmerksam. Liebknecht gab die Berechtigung meiner Auffassung ohne weiteres zu, und so erschien die neue Auflage mit einem Vorwort, in dem er darauf hinwies, daß sein in der Broschüre vertretener Standpunkt sich nur auf die Periode vor Gründung des Reiches beziehe. Im weiteren hat dann auch Liebknecht auf dem St. Galler Kongreß — Oktober 1887 — offen und rückhaltlos erklärt, er sei nunmehr zu der Ansicht gekommen, daß die praktische Tätigkeit in den Parlamenten eine Notwendigkeit und von großem Vorteil für die Partei sei. Damit waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen uns über die parlamentarische Taktik beseitigt.

Die Liebknechtsche Rede hatte ein gerichtliches Nachspiel. Das Berliner Stadtgericht verurteilte ihn in contumaciam, da er auf Vorladung nicht erschienen war, wegen Schmähung obrigkeitlicher Anordnungen zu drei Monaten Gefängnis. Das Berliner Stadtgericht forderte darauf die Auslieferung Liebknechts — man halte fest, daß es damals noch kein gemeinsames Strafrecht und kein gemeinsames Prozeßverfahren gab — auf Grund des Gesetzes über die gegenseitige Rechtshilfe. Diese Auslieferung wurde von den sächsischen Gerichten verweigert, weil es nach dem neuen sächsischen Strafrecht kein Vergehen gab wie jenes, auf das hin Liebknecht in Berlin verurteilt worden war. Nun verlangte die preußische Regierung bei der sächsischen die Verfolgung Liebknechts wegen Schmähung von Bundesinstitutionen. Die sächsische Regierung machte auch Miene, dem Verlangen stattzugeben. Die Sache zog sich aber in die Länge, und schließlich erging es Liebknecht mit seiner Berliner wie mir mit meinen Plauener Reden, sie wanderten als schätzbares Anklagematerial in die Akten unseres kommenden Hochverratsprozesses.

Der Deutsch-Französische Krieg.

Das Vorspiel zur Kriegserklärung.

Die Haltung, die Liebknecht und ich bei Ausbruch und während der Dauer jenes Krieges in und außerhalb des Reichstags einnahmen, ist jahrzehntelang Gegenstand der Erörterung und heftiger Angriffe gewesen. Anfangs auch in der Partei. Aber nur kurze Zeit, dann gab man uns recht. Ich bekenne, daß ich unsere damalige Haltung in keiner Weise bedaure und daß, wenn wir bei Ausbruch des Krieges bereits gewußt hätten, was wir im Laufe der nächsten Jahre auf Grund amtlicher und außeramtlicher Veröffentlichungen kennen lernten, unsere Haltung vom ersten Augenblick an eine noch schroffere gewesen sein würde. Wir hätten uns nicht, wie es geschah, bei der ersten Geldforderung für den Krieg der Abstimmung enthalten, wir hätten direkt gegen dieselbe stimmen müssen.

Heute kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß der Krieg von 1870 von Bismarck gewollt und durch ihn von langer Hand vorbereitet worden ist. Wenn er mit seinen Versuchen, anläßlich der Kriege von 1864 und 1866 sich als den Unschuldigen und dazu Gereizten hinzustellen, wenig Glück hatte, so ist ihm dieses in bezug auf den Krieg von 1870/71 glänzend gelungen. Mit Ausnahme eines kleinen Kreises Eingeweihter, der wußte, daß Bismarck mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln auf den Krieg mit Frankreich hinarbeitete — zu dem der damalige König und spätere Kaiser Wilhelm I. nicht gehörte —, hat Bismarck alle Welt düpiert und den Glauben zu erwecken verstanden, daß Napoleon den Krieg provozierte und er, der friedliebende Bismarck, sich mit seiner Politik in der Rolle des Angegriffenen befand. Und die offizielle und offiziöse Geschichtschreibung hat diesen Glauben, wonach Frankreich der Angreifer, Deutschland der Angegriffene war, bis heute in der großen Masse der Bevölkerung aufrechtzuerhalten verstanden.

Allerdings hat Napoleon formell den Krieg erklärt, aber das
Bewundernswerte in der Bismarckschen Politik lag darin, daß er die
Karten so geschickt gemischt hatte, daß Napoleon mit der Kriegserklärung
austrumpfen mußte, er mochte wollen oder nicht, und so als der
Friedensbrecher erschien.

Haben doch kurze Zeit selbst Männer wie Marx und Engels die Anschauung gehabt und öffentlich zum Ausdruck gebracht, Napoleon sei der Friedensbrecher gewesen, obgleich die Warte, auf der sie standen, für die Beurteilung der europäischen Politik eine weit höhere war als die unsere. Die Vorgänge bis zur Kriegserklärung waren so irreführend und verblüffend, daß man ganz die Tatsache übersah, daß Frankreich, das den Krieg erklärte, mit seiner Armee auf keinen Krieg vorbereitet war, wohingegen in Deutschland, das als der zum Kriege provozierte Teil erschien, die Kriegsvorbereitungen bis auf den letzten Lafettennagel fertig waren und die Mobilmachung wie am Schnürchen sich vollzog.

Die öffentliche Anklage, daß Bismarck der Urheber des Deutsch-Französischen Krieges sei, habe ich meines Erinnerns in der Partei zuerst in zwei Artikeln des „Volksstaat“, und zwar in den Nummern 73 und 74 vom Jahre 1873 erhoben, die die Ueberschrift trugen: „Zum zweiten September.“ Liebknecht, dem ich die beiden Artikel vorlegte, hat nur einige kleine formale Aenderungen daran vorgenommen und hat sie beide an der Spitze seiner später erschienenen Broschüre: „Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden“, abgedruckt.

Der Krieg mit Frankreich lag lange in der Luft. Sobald die Lösung der deutschen Frage durch die Kabinette und nicht durch die Volksmassen in die Hand genommen wurde, war bei der Situation in Deutschland und Europa, die der Wiener Kongreß von 1815 geschaffen hatte, auch die Einmischung des Auslandes zu befürchten, in erster Linie die Frankreichs, dessen damaliger Herrscher Napoleon sich eine Art Schiedsrichterrolle in Europa anzumaßen verstanden hatte. Der Antagonismus zwischen Oesterreich und Preußen, wie das ganze Gebilde des damaligen deutschen Bundes, erleichterte ihm diese Rolle. Bismarck trug dieser Rolle ebenfalls Rechnung, indem er von 1864 bis 1866 sich auf allerlei bedenkliche Unterhandlungen mit Napoleon einließ, bei denen die Abtretung gewisser Teile Deutschlands als Kompensation für Annexionen deutscher Staaten durch Preußen in Frage kam. Ich habe schon im ersten Teil meiner Arbeit darauf Bezug genommen.

Bismarck war es gelungen, sowohl 1864 wie 1866 Napoleon zu prellen; er ging bei der Umgestaltung der deutschen Verhältnisse zugunsten Preußens leer aus. Aber seine Einmischung in die Friedensverhandlungen des Krieges von 1866 hatte doch genügt, um Preußen die geplante Annexion Sachsens unmöglich zu machen; auch war Napoleons Einfluß die Bestimmung des Artikel 4 des Prager Friedensvertrags zu verdanken, wonach eine Abtretung des dänisch sprechenden Teiles Nordschleswigs an Dänemark in Aussicht genommen wurde; ferner mußte Preußen auf Annexionen südlich der Mainlinie verzichten. Napoleons Einfluß war weiter geschuldet die Lösung der Luxemburger Frage im folgenden Jahre zuungunsten Deutschlands.

Es liegt auf der Hand, daß diese Störung von Bismarcks Zirkeln durch Napoleon bei Bismarck Rache- und Vergeltungsgedanken aufkommen ließen und er danach gierte, die überragende Stellung Napoleons und Frankreichs in Europa zu brechen. Einen Krieg gegen Frankreich zu beginnen, sobald eine günstige Gelegenheit sich dazu biete, war von 1866 ab das Ziel der neupreußisch-deutschen Politik. Auf dieses Ziel wurde die militärische Reorganisation und Armeeerweiterung mit fieberhafter Eile betrieben; es wurden alle Maßnahmen bis ins kleinste getroffen, um, wenn der Moment komme, mit Frankreich anbinden zu können.

Daß der nächste Krieg ein Krieg mit Frankreich sein werde, war seit 1866 die Ueberzeugung aller Politiker. Auch in der Armee sah man dieses als selbstverständlich an und sehnte sich nach demselben. Wir klagten deshalb die Bismarcksche Politik an, daß sie einen Zustand für Deutschland geschaffen hatte, wie er seit 1815 nicht vorhanden gewesen sei. Das gespannte Verhältnis zu Oesterreich, das der Ausgang des Krieges von 1866 zur Folge hatte, mache die Frage für Deutschland doppelt gefährlich, weil befürchtet werden müsse, daß Oesterreich zu einer Revanche für 1866 mit Frankreich im Bunde bereit sein werde. Tatsächlich wurden auch bezügliche Verhandlungen zwischen Frankreich und Oesterreich gepflogen, die aber keinen Erfolg hatten, weil der unerwartet rasche Ausbruch des Krieges und die siegreichen Schläge, mit der die französische Armee von der deutschen niedergeworfen wurde, es Oesterreich klüger erscheinen ließen, von einer Einmischung abzusehen. Aus dieser Situation heraus sah man im Volke einem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich mit großem Unbehagen entgegen, um so mehr, da man in weiten Volkskreisen noch an eine Unbesiegbarkeit Frankreichs glaubte. Andererseits stand allerdings fest, daß der Mangel an positivem Gewinn, den Napoleon aus seiner Einmischungsrolle heimgebracht, sein Ansehen im eigenen Lande tief heruntergesetzt und der bürgerlichen Opposition großen Anhang verschafft hatte. Diese Stimmung kam deutlich zum Ausdruck bei den Wahlen im Mai 1869, bei welchen auf die Kandidaten der Regierung nur rund 4469000 Stimmen, auf die der Opposition 3259000 Stimmen fielen. Ueber diesen Wahlausfall schrieb man damals der „Frankfurter Zeitung“ aus Paris: „Nicht allein die moralischen, auch die materiellen Interessen Europas lassen die republikanische Staatsform als unerläßlich für die Regeneration unserer Verhältnisse erscheinen.“

Die Opposition in der Kammer war auf 116 Köpfe gestiegen. Das veranlaßte Napoleon Anfang Januar 1870, das Mitglied der Opposition, Olivier, zum Präsidenten eines gemäßigt liberalen Kabinetts zu ernennen und zur Unterstützung seiner Politik am 8. Mai ein sogenanntes Plebiszit (allgemeine Volksabstimmung) vorzunehmen, wobei er für sein Regiment zwar 7350000 Ja gegen 1500000 Nein erzielte, aber was sehr bedenklich war, die Armee und Marine hatten 50000 Nein in die Urne geworfen. Außerdem hatten zahlreiche Städte, voran Paris, ein erhebliches Mehr gegen ihn ergeben.

Die feindselige Stimmung gegen Napoleon war in Paris schon im Januar zutage getreten bei der Beerdigung des Schriftstellers Victor Noir, den der Prinz Pierre Napoleon bei einem persönlichen Streit meuchlings niedergeschossen hatte. Eine ungeheure Menschenmenge begleitete demonstrativ die Leiche Victor Noirs. Es fehlte nicht viel, und es wäre dabei zu einem revolutionären Ausbruch gekommen.

Alle diese Vorgänge wirkten niederdrückend auf Napoleon, der damals schon an einem schmerzhaften Blasensteinleiden litt, dem er schließlich auch erlag. Dieses Leiden raubte ihm Energie und Tatkraft.

Aber auch die militärischen Verhältnisse Frankreichs waren solche, die einen Krieg mit einer starken Macht für gefährlich erscheinen ließen. Wenn Preußen-Deutschland seit 1866 mit aller Kraft und Energie an der Vermehrung und Ausbildung der Armee arbeitete, so geschah gleiches nicht in Frankreich. Napoleon harte zwar in dem Oberst Stoffel einen Militärattaché in Berlin, der offene Augen und Ohren hatte und fortgesetzt Berichte einschickte, worin er über die gewaltigen Fortschritte in der militärischen Entwicklung Preußens Bericht erstattete und zu ähnlichem Vorgehen antrieb, aber alles war vergebens. Oberst Stoffel predigte tauben Ohren. Einige Urteile Stoffels, weil von historischer Bedeutung, mögen hier Platz finden. So schrieb er unter dem 22. Juli 1868: „Nach meiner Meinung lebt man in Frankreich in der tiefsten Unwissenheit von alledem, was Preußen angeht, sowohl die preußische Nation als die preußische Armee.“ Am 12. August 1869 schrieb er prophetisch: „Preußen hat Scharfblick genug, um zu erkennen, daß der Krieg, den es nicht wünscht, doch ausbrechen wird, und es hat alle Anstrengungen gemacht, um vorbereitet zu sein für diese Eventualität, daß irgend ein Zwischenfall den Krieg herbeiführt.“ Ein andermal bemerkt er: „Das ist der Hauptgegenstand meiner Befürchtung, dieser schlagende Kontrast zwischen der Voraussicht Preußens und der Verblendung Frankreichs.“ Wütend ist er über Thiers, der 1848 verhindert habe, daß die allgemeine Wehrpflicht in Frankreich eingeführt wurde. „Dieser Mensch war für unser Land ein schlimmeres Verhängnis als zwanzig Niederlagen.“ Und bei Ausbruch des Kriegs bezeichnet er denselben von französischer Seite als den Krieg der Voraussehungslosigkeit, der Unwissenheit und der Albernheit gegenüber der Voraussicht, Bildung und Intelligenz. Napoleon sei krank, die Revolution stehe vor der Tür, und dazu komme die Dummheit der Kaiserin.

In Paris glaubte kein Mensch an einen Krieg mit Deutschland. Noch Anfang Juli 1870, also vierzehn Tage vor Ausbruch des Kriegs, beschloß die französische Deputiertenkammer die Herabsetzung des Rekrutenkontingents von 100000 auf 90000 Mann. Der Kriegsminister Leboeuf erklärte, daß, wenn er der Herabsetzung zustimme, es geschehe, weil er einen Beweis der Friedfertigkeit des Ministeriums geben wolle. Und der Ministerpräsident Olivier erklärte auf eine Anfrage des Abgeordneten Jules Favre, daß zu keiner Zeit die Erhaltung des Friedens mehr gesichert sei als gegenwärtig. Nirgends gebe es eine aufregende Frage.

Und doch kam über Nacht der Krieg.

„Fern im Süd das schöne Spanien“ gab ungewollt die Gelegenheit dazu. Seit Herbst 1868 war Spanien Republik, aber die herrschenden Klassen sehnten sich nach der Monarchie. So gingen sie auf die Königsuche. Wie nachträglich bekannt geworden ist, wurde bereits im September 1869 der Fürst Karl Anton von Hohenzollern davon unterrichtet, daß man seinen Sohn Leopold, der damals als Leutnant in einem preußischen Garderegiment stand, zum König von Spanien wünsche. Der preußische Gesandte in München, Freiherr v. Werthern, hatte dabei seine Hand im Spiele. Ob mit oder ohne Wissen Bismarcks? Bismarck leugnete, daß er davon etwas gewußt habe, aber wer glaubt es ihm? Ein Hohenzollernprinz als Kandidat für den spanischen Königsthron war eine Sache von größter politischer Bedeutung, sowohl für die Hohenzollern wie für Napoleon. Napoleon und Frankreich fühlten sich in ihren Interessen aufs stärkste gefährdet, wenn neben dem Hohenzollern an der Ostgrenze ein Hohenzoller auf der Südgrenze als Regent eines großen Staates hinzukam. Im Fall eines Kriegs mit Deutschland mußte alsdann Frankreich sich gegen einen Ueberfall von Süden schützen, was eine starke militärische Schwächung bedeutete.

König Wilhelm hatte bezeichnenderweise von einem ernsthaften Plan, einen Hohenzollernprinzen auf den spanischen Königsthron zu erheben, keine Ahnung. Er erhielt die Nachricht darüber erst Ende Februar 1870 und schrieb darauf unter dem 26. an Bismarck:

„Die Einlage fällt mir wie ein Blitz aus heiterer Luft auf den Leib! Wieder ein hohenzollerischer Thronkandidat, und zwar für Spanien. Ich ahndete kein Wort und spaßte neulich mit dem Erbprinzen über die frühere Nennung seines Namens und beide verwarfen die Idee unter gleichem Spaß! Da Sie vom Fürsten Details erhalten haben, so müssen wir konferieren, obgleich ich von Haus gegen die Sache bin. Ihr W.“

Bismarck ließ sich aber durch diese Ansicht des Königs nicht irre machen, er verfolgte konsequent seinen Plan und erreichte schließlich doch, daß in einer Beratung unter dem Vorsitz des Königs, an welcher der Kronprinz, der Fürst von Hohenzollern, er und Moltke teilnahmen, der Kandidatur des Prinzen Leopold zugestimmt wurde.

Napoleon soll anfangs die Nachricht von der Kandidatur des Hohenzollernprinzen ohne besonderen Widerspruch hingenommen haben, was für seine Apathie und sein Ruhebedürfnis spräche. Als aber Anfang Juli die provisorische Regierung Spaniens sich für die Kandidatur des Hohenzollern aussprach und dieser Beschluß in Frankreich bekannt wurde, begann der größte Teil der französischen Presse zu toben wegen der Gefahr, die ein Hohenzoller auf dem spanischen Königsthron für Frankreich bedeute. Jetzt mußte auch Napoleon sich rühren. Er sandte seinen Botschafter Benedetti um Aufklärung zu Bismarck. Dieser gab zur Antwort, das Ministerium wisse nichts von der Sache. So stellt er selbst in „Gedanken und Erinnerungen“ die Sache dar. Dort erklärt er im zweiten Bande auf Seite 80: Politisch habe er der Frage ziemlich gleichgültig gegenüber gestanden. Auf der folgenden Seite aber äußert er bereits: „Wenn der Herzog von Gramont (in einer 1872 erschienenen Broschüre) sich bemüht, den Beweis zu führen, daß ich der spanischen Anregung gegenüber mich nicht ablehnend verhalten hätte, so finde ich keinen Grund, dem zu widersprechen.“

Einer seiner Verehrer hat recht, wenn er schreibt: „Indem Bismarck Geschichte schreibt, macht er Geschichte“, das heißt er dreht die Dinge so, wie sie ihm passen.

Dem Lärm in der französischen Presse folgte der Lärm in der deutschen. Aber zunächst nicht überall. Noch am 12. Juli sprach die „Kölnische Zeitung“ sich sehr entschieden gegen die Hohenzollern-Kandidatur aus im Interesse der Ruhe Europas. Und wie man in jenen Tagen in Bürgerkreisen über den Militarismus dachte, darüber legt Zeugnis ab ein Beschluß einer Vertrauensmännerversammlung der Fortschrittspartei für Rheinpreußen am 10. Juli in Köln. Jene Versammlung resolvierte:

„Wir erwarten und fordern von den zu wählenden Abgeordneten zum Reichstag, daß sie in der nächsten Session des Reichstags insbesondere für die Verminderung der Militärlast durch Verminderung der Friedensarmee und Verkürzung der Dienstzeit eintreten und für den Fall, daß diese Forderung abgelehnt wird, in Ausübung ihres verfassungsmäßigen Rechtes jedwede Bewilligung von Geldmitteln für das Militär dem Bundespräsidium verweigern.“

Wer denkt in den bürgerlichen Parteien heute noch an dergleichen Schritte, obgleich mittlerweile die militärischen Rüstungen zu Wasser und zu Lande einen Umfang angenommen haben, den zu jener Zeit niemand für möglich hielt.

Da kam der 13. Juli, der die Entscheidung brachte. Nach der offiziellen und offiziösen Darstellung der Begegnung des Grafen Benedetti mit König Wilhelm in Ems sollte Benedetti in brüsker Weise vom König gefordert haben, zu erklären, daß er nie wieder eine Hohenzollernkandidatur für den spanischen Thron zulassen werde, nachdem an demselben Tage auf Betreiben des Königs Wilhelm der Hohenzollernprinz seine Kandidatur zurückgezogen hatte. Der König hatte durch einen Adjutanten an Benedetti diesem mitgeteilt, daß er die Verzichtleistung approbiert habe. Auf einen nochmaligen Wunsch Benedettis, den König zu sprechen, ließ dieser, wie sein Generaladjutant Prinz Radziwill nachher in einer Erklärung mitteilte, „dem Grafen Benedetti durch mich zum dritten Male nach Tisch, etwa um 6 Uhr, erwidern, Seine Majestät müsse es entschieden ablehnen, in betreff der bindenden Erklärungen für die Zukunft sich in weitere Diskussionen einzulassen. Was er heute morgen gesagt, wäre sein letztes Wort in dieser Sache, und er könne sich lediglich darauf berufen. Hierauf erklärte Benedetti, sich seinerseits bei dieser Erklärung beruhigen zu wollen.“ Damit war tatsächlich der Zwischenfall erledigt. Aber nicht für Bismarck, dessen Pläne auf einen Konflikt mit Frankreich durch die Erklärung des Königs durchkreuzt waren. Er erzählt selbst in „Gedanken und Erinnerungen“, daß, als er an jenem Tage mit Moltke und Roon gemeinsam speiste, diese über die Nachricht von der Verzichtleistung des Prinzen von Hohenzollern auf den spanischen Thron im höchsten Grade deprimiert waren. Bismarck selbst war so aufgebracht, daß er seine Demission geben wollte. Bald darauf lief aus Ems eine lange Depesche ein, in der Abeken im Auftrag des Königs den Verlauf der letzten Zusammenkunft desselben mit Benedetti schilderte, deren Inhalt die letzte Hoffnung auf einen Konflikt mit Frankreich zerstörte. Roon und Moltke legten tief betroffen Gabel und Messer hin, erzählt Bismarck; daß die Aussicht auf Krieg geschwunden war, hatte ihnen den Appetit verdorben. Darauf setzte sich Bismarck — immer nach seiner eigenen Darstellung — an einen Nebentisch, nahm den Stift und strich die Depesche so zusammen, daß dieselbe einen völlig veränderten Charakter bekam. Als er sie in seiner Fassung Moltke und Roon vorlas, leuchteten beider Augen, und Moltke, der Schweiger, rief: „So, das hat einen anderen Klang, vorher war es eine Schamade, jetzt ist es eine Fanfare.“ Alsdann setzten sich alle drei fröhlich zu Tisch und aßen mit bestem Appetit weiter. Der Krieg war gesichert.

Die Depesche ging in die Welt und wurde offiziell an alle fremden
Kabinette mit Ausnahme des Pariser verschickt, was die schwerste
Beleidigung für die französische Regierung war. In der redigierten
Fassung lautete die Depesche:

„Ems, 13. Juli 1870. Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der kaiserlich französischen Regierung von der königlich spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der französische Botschafter in Ems an Seine Majestät noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, daß Seine Majestät der König für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten. Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter zu empfangen und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.“

Diese Bismarcksche Depesche hatte die gewünschte Wirkung. Sobald sie bekannt wurde, war die Aufregung in Frankreich und Deutschland und weit über diese Länder hinaus eine ungeheure. Ich bekam Kenntnis von derselben, als ich am Nachmittag des 14. Juli im Vorderhause bei meinem Friseur war und die damals von Professor Dr. Karl Biedermann redigierte „Allgemeine Deutsche Zeitung“ hereingebracht wurde, die jene Depesche enthielt. Als ich sie gelesen, warf ich das Blatt mit den Worten auf den Tisch: Da haben wir den Krieg! Der Friseur erschrak über diese Aeußerung aufs höchste, ich mußte ihm auseinandersetzen, warum die Depesche diese Bedeutung habe.

Wie vorauszusehen, erfolgte am 19. Juli die Kriegserklärung Frankreichs
an Deutschland, nachdem die französische Kammer bereits am 15. Juli eine
Kriegsanleihe in Höhe von 700 Millionen Franken gegen eine kleine
Minorität bewilligt hatte.

Meinungsdifferenzen.

Die geschilderten Vorgänge hatten zwischen Liebknecht und mir abermals eine Meinungsverschiedenheit hervorgerufen. Liebknecht hatte die Ansicht, Napoleon wolle den Krieg, Bismarck habe aber nicht den Mut, den hingeworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen. So schrieb er am 13. Juli im „Volksstaat“: „Das Frankreich des Bonaparte hat dem Preußen des Bismarck die Kriegsfrage gestellt, und wenn letzteres sich nicht zu einem schimpflichen Rückzug entschließt, ist der Krieg unvermeidlich.“ Am 16. Juli schrieb er: „Der Mutige weicht zurück — vor dem Stärkeren. Die Hohenzollernkandidatur ist gegenüber der drohenden Haltung Bonapartes zurückgezogen worden; es bleibt Friede, und der großmächtige Norddeutsche Bund, der Deutschland Achtung im Ausland verschaffen sollte, hat mit derselben Demut, wie weiland in der Luxemburger Affäre, vor dem französischen Kaiserreich die Segel gestrichen.“

Ich vertrat den entgegengesetzten Standpunkt. Wohl habe Napoleon den Krieg erklärt, aber er sei nach meinem Gefühl in eine Falle getappt, die Bismarck ihm gestellt; letzterer wolle den Krieg, und er habe sein Ziel erreicht. Ich war über die Auffassung des „Volksstaat“ im höchsten Grade erregt, es kam zu lebhaften Erörterungen zwischen Liebknecht und mir, und erst auf eine Intervention Geibs kam es zu einer Verständigung zwischen uns. Vom 20. Juli ab vertrat der „Volksstaat“ eine Auffassung, die auch ich durchaus teilte.

Ohne Ahnung, daß ein Krieg ausbrechen werde, hatten wir zum 17. Juli
eine Landesversammlung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei nach
Chemnitz einberufen. Natürlich mußten wir nunmehr zur Kriegsfrage
Stellung nehmen. Dieses geschah durch folgende Resolution, die
Liebknecht und ich vorschlugen und die einstimmig angenommen wurde.

„Die Landesversammlung protestiert gegen jeden nicht im Interesse der Freiheit und Humanität geführten Krieg, als einen Hohn auf die moderne Kultur. Die Landesversammlung protestiert gegen einen Krieg, der nur im dynastischen Interesse geführt wird und das Leben von Hunderttausenden, den Wohlstand von Millionen auf das Spiel setzt, um den Ehrgeiz einiger Machthaber zu befriedigen. Die Versammlung begrüßt mit Freuden die Haltung der französischen Demokratie und insbesondere der sozialistischen Arbeiter, sie erklärt sich mit deren Bestrebungen gegen den Krieg vollständig einverstanden und erwartet, daß auch die deutsche Demokratie und die deutschen Arbeiter in diesem Sinne ihre Stimme erheben.“

Die Pariser Arbeiter hatten schon vor uns sich gegen den Krieg ausgesprochen. In ähnlichem Sinne wie wir erklärten sich die Arbeiter vieler Städte in öffentlichen Versammlungen, so unter anderen in Barmen, Berlin, Nürnberg, München, Königsberg, Fürth, Krefeld.

Anders dachte der Braunschweiger Parteiausschuß, der zum 16. Juli eine Volksversammlung einberufen hatte, in der er eine Resolution annehmen ließ, in der die Versammelten sich auf den Standpunkt stellten, daß Napoleon und die Majorität der Volksvertreter Frankreichs die frivolen Friedensbrecher und Ruhestörer Europas seien. Die deutsche Nation dagegen sei die beschimpfte, die angegriffene, deshalb müsse die Versammlung den Verteidigungskrieg als unvermeidliches Uebel anerkennen, sie fordere jedoch das gesamte Volk auf, mit allen Mitteln dahin zu wirken, daß dem Volke selbst die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden, wie überhaupt die vollste Selbstbestimmung werde. Dieser Auffassung des Parteiausschusses schlossen sich eine große Zahl Parteiorte, namentlich in Norddeutschland, an. Es war also eine starke Meinungsverschiedenheit in der Partei vorhanden.

* * * * *

Der Reichstag war zum 19. Juli einberufen worden. Als Liebknecht und ich am 18. von Chemnitz abreisten, waren bereits die Bahnen durch die Militärtransporte so in Anspruch genommen, daß wir auf dem Gößnitzer Bahnhof mehrere Stunden warten mußten, ehe wir weiterfahren konnten. Hier besprachen wir unsere im Reichstag zu beobachtende Taktik. Liebknecht war der Ansicht, wir müßten die Geldforderung strikte ablehnen, da beide Teile am Kriege schuld seien und wir für keinen Teil Partei ergreifen dürften. Ich erklärte dieses für einen Fehler. Nach Lage der Sache könnten wir allerdings für keinen der streitenden Teile Partei ergreifen. Dieser Eindruck würde aber gerade dann, und zwar zugunsten Napoleons, hervorgerufen, wenn wir gegen die Anleihe stimmten; es bliebe uns kein anderer Weg, als uns der Abstimmung zu enthalten. Schließlich ersuchte mich Liebknecht, den Entwurf einer Erklärung auszuarbeiten und am nächsten Tage mit nach Berlin zu bringen. Dies geschah. Nach einigen kleinen Aenderungen stimmte Liebknecht meinem Entwurf zu, auch sollte ich die Erklärung im Reichstag abgeben. In der Sitzung vom 21. Juli nahm ich das Wort: „Da, wie wir vernommen, es der Wunsch ist, die Tagesordnung ohne Debatte zu erledigen, so sind wir übereingekommen, keine Debatte zu provozieren, obgleich wir mit der Ansicht des Hauses in keiner Weise einverstanden sind. Wir sind entschlossen, in der vorliegenden Frage uns der Abstimmung zu enthalten, und werden unsere Motive in einer schriftlichen Erklärung zu den Akten des Hauses niederlegen.“

Simson als Präsident meinte: Das zu tun, könne er uns nicht hindern. Die
Motivierung unseres Standpunktes lautete:

  „Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im
  Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse
  der Dynastie Hohenzollern.

Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat.

Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern; denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbund zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft, als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Uebel, zu beseitigen.“

Die geforderten 120 Millionen Taler Kriegsanleihe wurden vom Reichstag bewilligt. Fritzsche, Hasenclever, Mende und Schweitzer stimmten dafür, Försterling hatte im Frühjahr sein Mandat für Chemnitz niedergelegt. In der Nachwahl war der Kreis den Hatzfeldtianern verloren gegangen. Als aber die Anleihe zur Zeichnung aufgelegt wurde, gab die deutsche Kapitalistenklasse der Welt ein trauriges Schauspiel. Obgleich das Geld mit 5 Prozent verzinst werden sollte und der Gläubiger für 100 Taler nur 88 zu geben brauchte, für die er aber nachher 100 Taler erhielt, wurden nur 68 Millionen Taler gezeichnet. Das war eine ungeheure Blamage. Anders in Frankreich. Dort wurden die geforderten 700 Millionen Franken voll gezeichnet, und zwar zu dem gleichen Zins, den Deutschland bot.

* * * * *

Unser Verhalten im Reichstag hatte die Differenzen zwischen uns und dem Parteiausschuß erweitert. Es kam zu sehr gereizten brieflichen Auseinandersetzungen, namentlich zwischen Liebknecht und dem Ausschuß, da Liebknecht nicht im Sinne des Ausschusses den „Volksstaat“ redigieren wollte. Vergebens mahnte Liebknecht zur Vernunft. Unter dem 26. Juli schrieb er an Bracke unter anderem: „Ich nehme Euch Euren patriotischen Eifer nicht übel. Aber seid auch Eurerseits tolerant. Wenn Ihr mit Bebels und meinem Verhalten auf dem Reichstag nicht einverstanden seid, so muß dieser Zwist jetzt um jeden Preis beigelegt oder wenigstens ein offener Ausbruch vermieden werden. Es darf in einem Moment, wie dem jetzigen, in der Partei nichts vorkommen, was wie Uneinigkeit aussähe, und ich beschwöre Euch, alles zu unterlassen, was die Differenzen verschärfen könnte.“

Diese Bitte war vergeblich. Schließlich war Liebknecht so verärgert, daß er drohte auszuwandern, die Wirtschaft und der nationale Paroxismus ekle ihn an. Auch mir wurden die Nörgeleien der Braunschweiger zu arg. Am 13. August schrieb ich nach dort: „Wenn der Ausschuß gegen Liebknecht vorgeht, verzichten wir auf jede fernere Mitarbeit am ‚Volksstaat‘. Nach Eurem Briefe (der an Liebknecht gerichtet war und Drohungen gegen ihn enthielt) scheint Ihr in eine Art von nationalem Paroxismus verfallen zu sein, scheint Ihr den Skandal und den Bruch in der Partei um jeden Preis zu wollen. Einen Verstoß gegen die Parteiprinzipien könnt Ihr in unserem Verhalten auf dem Reichstag nicht nachweisen. Statt Euch damit zu begnügen, daß keine Verschärfung des Konflikts eintritt, verlangt Ihr von Leuten, die eine feste Meinung haben, die Aenderung, die Verleugnung dieser Ansicht. Der ‚Volksstaat‘ hat sich gerade in den letzten Wochen streng als Parteiorgan gezeigt. Beweis: das einstimmige Wutgeheul unserer Gegner. Wollt Ihr auch in dieses nationalliberale Geheul mit einstimmen? Ihr sprecht von sächsischem Partikularismus. Und doch sind wir gerade in Sachsen gut sozialrepublikanisch, und wir betrachten alle den Krieg als einen dynastischen. Marx hat sich auch für uns erklärt.“

Am 1. September schrieb Liebknecht auf einen Brief von Bracke: „Nicht aus Furcht vor den Strebern habe ich Lust, wegzugehen, sondern aus Ekel vor dem patriotischen Dusel. Diese Krankheit muß ihren Verlauf nehmen, und während derselben bin ich hier sehr überflüssig, kann aber anderwärts sehr nützlich sein, zum Beispiel in Amerika. Doch es wird nicht so schlimm kommen, und ich werde nicht zu gehen brauchen.“

August Geib-Hamburg suchte abermals zu vermitteln. Aber erfolgreicher als alle Vermittlung wirkte der Gang der Ereignisse, der uns bald wieder in die gleiche Schlachtlinie trieb.

Erklärungen und Proklamationen.

Am 17. Juli fand in Berlin ein großer Kriegsrat statt. Wie es mit den Kriegsaussichten für Preußen-Deutschland stand, zeigt eine Erklärung Moltkes, die dieser zugleich im Namen Roons abgab: „Preußen sei noch nie in der Lage gewesen, hinsichtlich seiner Heeresverfassung, Ausrüstung, Hilfsmittel usw. mit solchen Aussichten auf Erfolg einen Krieg anzunehmen wie gegenwärtig. Er sei sehr genau über den Fortschritt (er hätte sagen können die Zurückgebliebenheit. A.B.) der französischen Rüstungen informiert, und danach sei eine militärische Ueberrumpelung seitens Frankreichs nicht zu fürchten.“ Die Richtigkeit dieser Ansicht bestätigte sich sofort. In Deutschland glaubte man allgemein, der Kriegserklärung Napoleons werde ohne Verzug ein Einbruch der französischen Armee in deutsches Gebiet folgen. Man wartete vergebens. In Frankreich hatte die Kriegserklärung ein vollständiges Durcheinander hervorgerufen, kein einziges Armeekorps war auf Kriegsfuß, die Kopflosigkeit herrschte von oben bis unten. Anfang August standen bereits 380000 Deutsche 250000 Franzosen gegenüber. Und wie man in deutschliberalen Kreisen die Situation ansah, bewies ein Toast des Professor Biedermann in Leipzig auf einem studentischen Fest, in dem er bereits Ende Juli ausführte: Wir werden die französische Nation daniederwerfen, daß sie in einem Menschenalter nicht mehr an Krieg denken kann. Wir werden das tun, indem wir dafür Sorge tragen, daß der Leib Frankreichs etwas schmäler wird.

Hier wurde also bereits auf eine Annexion angespielt, noch ehe eine Schlacht geschlagen war. Man rechnete also absolut sicher mit dem Siege. In den offiziellen Aktenstücken lautete es um diese Zeit ganz anders! So wurde in der Thronrede, mit der der Reichstag am 19. Juli eröffnet worden war, gesagt, „daß man die Volkskraft zum Schutze unserer Unabhängigkeit aufrufe“, „Deutschland trage in sich selbst den Willen und die Kraft der Abwehr erneuter französischer Gewalttat“, man wende sich getrosten Mutes „an die Vaterlandsliebe und Opferfreudigkeit des deutschen Volkes mit dem Aufruf zur Verteidigung seiner Ehre und seiner Unabhängigkeit“. „Wir werden nach dem Beispiel unserer Väter“ — so lautete der Schluß — „für unsere Freiheit und für unser Recht gegen die Gewalttat fremder Eroberer kämpfen, und in diesem Kampfe, in dem wir kein anderes Ziel verfolgen, als den Frieden Europas dauernd zu sichern, wird Gott mit uns sein, wie er mit unseren Vätern war.“

Nach dieser feierlichen Erklärung — deren Verfasser Lothar Bucher war — handelte es sich also um einen Verteidigungs-, nicht um einen Eroberungskrieg, mit dem Zweck, für künftig den Frieden zu sichern.

Einen interessanten Satz enthielt aber noch die Thronrede; der Satz lautete:

„Das deutsche wie das französische Volk, beide die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes genießend und begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampf berufen als zu dem blutigen der Waffen.“

Bezeichnend für die Stimmung in den offiziellen Kreisen war auch die Proklamation des Königs von Preußen vom 11. August 1870, worin er anzeigte, daß er in Frankreich eingerückt sei und den Oberbefehl übernommen habe: „Ich führe Krieg mit den französischen Soldaten und nicht mit den Bürgern Frankreichs.“

Eine sehr günstige Beurteilung in unseren Kreisen fand die Proklamation des Prinzen Friedrich Karl:

„An die Soldaten der zweiten Armee!

Ihr betretet französischen Boden. Der Kaiser Napoleon hat ohne allen Grund an Deutschland den Krieg erklärt, er und seine Armee sind unsere Feinde. Das französische Volk ist nicht gefragt worden, ob es mit seinen deutschen Nachbarn einen blutigen Krieg führen wolle, ein Grund zur Feindschaft ist nicht vorhanden. Seid dessen eingedenk den friedlichen Bewohnern Frankreichs gegenüber, zeigt ihnen, daß in unserem Jahrhundert zwei Kulturvölker selbst im Kriege untereinander die Gebote der Menschlichkeit nicht vergessen, denkt stets daran, wie eure Eltern in der Heimat es empfinden würden, wenn ein Feind, was Gott verhüte, unsere Provinzen überschwemmte. Zeigt den Franzosen, daß das deutsche Volk nicht nur groß und tapfer, sondern auch gesittet und edelmütig dem Feinde gegenübersteht.“

Und bereits am 25. Juli hatte der König auf die laut gewordenen
Kundgebungen ein Dankschreiben veröffentlicht, in dem es hieß:

„Die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, die einmütige Erhebung der deutschen Stämme und ihrer Fürsten hat alle Unterschiede und Gegensätze in sich beschlossen und versöhnt, und einig, wie kaum jemals zuvor, darf Deutschland in seiner Einmütigkeit, in seinem Recht die Bürgschaft finden, daß der Krieg ihm den dauernden Frieden bringen und daß aus der blutigen Saat eine von Gott gesegnete Ernte deutscher Freiheit und Einheit sprießen werde.“

Es ist zu beachten, wie in diesem Dankschreiben am Schluß die Freiheit vor die Einheit gesetzt ist. Das sollte mir später verhängnisvoll werden, als ich an dieses Versprechen in mehreren öffentlichen Versammlungen erinnerte.

Die Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses.

Im „Volksstaat“ vom 30. Juli veröffentlichte der Parteiausschuß einen Aufruf, in dem der abweichende Standpunkt, der ihn damals von uns noch trennte, zum Ausdruck kam. Nachdem er die Partei zu energischer Tätigkeit aufgefordert, fuhr er fort: „Unsere Aufgabe ist es, bei der Geburt dieses, wie wir hoffen, ganz Deutschland umfassenden Staates bestimmend mitzuwirken, damit, wenn es möglich ist, nicht der dynastische Staat, sondern der sozialdemokratische Volksstaat (!!! A.B.) ins Dasein tritt; unsere Aufgabe ist es — mag der gewordene neue Staat bei der Geburt noch dynastische Färbung tragen —, ihm in ernstem, schwerem Kampfe den Stempel unserer Ideen aufzudrücken.“ Er hoffe, daß unsere Brüder mit Begeisterung und Mut uns bald zum Siege in Frankreich führten, doch solle man sich nicht vom Siegestaumel beherrschen lassen. Man müsse den Bruderkampf zwischen zwei Völkern bedauern, aber Deutschland sei unschuldig an dem Kriege; den Schuldigen werde die Strafe ereilen, dann aber gelte es, uns kräftig zu erhalten für den glorreicheren gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten der Erde. Sei Napoleon besiegt, werde das französische Volk freier aufatmen, und wir hätten alsdann unsere Machthaber daran zu erinnern, was dem Volke von Gottes und Rechts wegen gebühre und was zu fordern die unendlichen Opfer und Qualen des Krieges es doppelt und dreifach berechtigten.

Der Ausschuß ahnte in seinem Optimismus damals nicht, daß er das erste Opfer sein werde, das die Herrlichkeit des Sieges zu kosten bekommen werde. Die Armeen des Kaiserreichs wurden in rasch aufeinanderfolgenden Schlägen zu Boden geworfen, Deutschland sah ganze Armeen französischer Gefangener in seinen Gauen, deren Unterbringung und Verpflegung bald eine unbequeme Last wurde. Es kam die Schlacht bei Sedan, die Napoleon unter Umständen annahm, daß man fast glauben sollte, er habe absichtlich so manövriert, um als Gefangener nach Deutschland, nicht als geschlagener Kaiser nach Frankreich zu kommen. Als die Nachricht von seiner Gefangenschaft nach Deutschland kam, jubelte alles, wir mit. Alle Welt erhoffte das Ende des Krieges, dessen Schlachten mit ihren ungeheuren Verlusten an Menschenleben schon den Ueberdruß am Kriege erzeugt hatten. „Ich scheue mich, nach den Verlusten zu fragen“, schrieb der König von Preußen nach den Schlachten um Metz an die Königin. An den König von Württemberg telegraphierte er: „Die Verluste der letzten Schlacht (am 19. August) wie der vorhergehenden sind so bedeutend, daß die Siegesfreude sehr getrübt wird.“ Und die von Guido Weiß redigierte Berliner „Zukunft“ schrieb: „Vor dem bleichen Purpur des Todes beugen sich auch die im Purpur Geborenen. Eine Furcht überkommt selbst die Furchtlosen: Zu weit ausgegriffen hat die Sichel, zu reichlich gedüngt ist das Blachfeld.“

Doch der Krieg wütete weiter. Die Gefangennahme Napoleons bei Sedan beantwortete Paris mit der Erklärung der Republik, ein Ereignis, das namentlich im deutschen Hauptquartier sehr unangenehm berührte. Um Frankreich zu einer Republik zu machen, dafür hatte man den Krieg nicht begonnen. Man fürchtete das böse Beispiel, wie sich gezeigt hat, ohne Grund. Als die Nachricht von der Verkündung der Republik nach Deutschland kam, stürzte Liebknecht in größter Aufregung und mit Tränen in den Augen zu mir in meine Werkstatt, um mir das Ereignis zu verkünden. Er war frappiert über die Kühle, mit der ich die Nachricht aufnahm. Aber auch im Braunschweiger Ausschuß hatte die Nachricht wie eine Bombe eingeschlagen und einen starken Gesinnungswechsel hervorgerufen. Jetzt waren mit einem Schlage alle Differenzen zwischen uns beseitigt. Sofortiger Friedensschluß mit der französischen Republik, Ersatz aller Kriegskosten, aber Verzicht auf jede Annexion waren die Forderungen, die wir jetzt gemeinsam erhoben. Aus dem Verteidigungskrieg war mittlerweile der Eroberungskrieg geworden. Was Biedermann schon Ende Juli angedeutet, wurde nach den vielen und raschen Siegen allgemeine Forderung der liberalen und konservativen Presse.

In einem Manifest, das der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation mit Bezug auf den Krieg erließ und der „Volksstaat“ am 7. August veröffentlichte, hieß es: „Das Kriegskomplott vom Juli 1870 ist nur eine verbesserte Auflage des Staatsstreichs vom Dezember 1851.“ Der Krieg habe so aberwitzig geschienen, daß Frankreich nicht daran glauben wollte, selbst die bürgerliche Opposition habe die Geldmittel verweigert. Die der Internationale angehörenden französischen Arbeiter hätten den Krieg als einen dynastischen Krieg verurteilt. „Welchen Verlauf auch immer der Krieg Louis Bonapartes mit Preußen nimmt, die Totenglocke des zweiten Kaiserreichs hat bereits in Paris geläutet. Es wird enden, wie es begonnen, mit einer Parodie.“ Auf deutscher Seite sei der Krieg ein Verteidigungskrieg, „aber welche Politik habe verschuldet, daß Deutschland in diese Lage komme?“ Die Kritik der Bismarckschen Politik, die hier folgte, mußte der „Volksstaat“ unterdrücken. „Wenn die deutschen Arbeiter es erlauben, daß der gegenwärtige Krieg seinen streng defensiven Charakter verliert und in einen Krieg gegen das französische Volk ausartet, wird Sieg oder Niederlage sich gleich verhängnisvoll erweisen.“ Der Generalrat weist alsdann darauf hin, daß in einem solchen Falle Rußland den Vorteil habe.

Im Sinne des Manifestes des Generalrats handelte jetzt der Braunschweiger Ausschuß, als er, datiert vom 5. September, einen Aufruf „An alle deutschen Arbeiter“ erließ. Mit Hinweis auf die neuesten Ereignisse in Frankreich erwarte er, daß die neue republikanische Regierung den Frieden mit Deutschland zu erreichen suche. Darin müßten die deutschen Arbeiter die Absichten der republikanischen Regierung unterstützen und einen ehrenvollen Frieden mit dem französischen Volke fordern, für den sie in Masse ihre Stimmen erheben sollten.

Der Ausschuß zitiert dann aus einem Briefe von Karl Marx — dessen Name aber nicht genannt wurde —, was folgen werde und folgen müsse, wenn man auf der Annexion von Elsaß-Lothringen bestehen bleibe. Das Zitat lautet:

„Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt ist oder ein Interesse daran hat, das deutsche Volk zu übertäuben, muß einsehen, daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt, wie der Krieg von 1866 den von 1870…. Durch den Verlauf des jetzigen Krieges sei der Schwerpunkt der kontinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt. Damit hafte größere Verantwortlichkeit auf der deutschen Arbeiterklasse.“

Der Ausschuß akzeptierte diese Auffassung, forderte zu Kundgebungen auf gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen und für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik. Der Aufruf schloß:

„Wenn wir jetzt sehen, wie wieder ein großes Volk seine Geschicke in seine Hände genommen, wenn wir heute die Republik nicht allein mehr sehen in der Schweiz und jenseits der Meere, sondern auch faktisch Republik in Spanien, Republik in Frankreich, so lasset uns ausbrechen in den Ruf, der, wenn es auch heute noch nicht sein kann, auch für Deutschland einst die Morgenröte der Freiheit verkünden wird, in den Jubelruf: Es lebe die Republik!“

Am 11. September hatte der „Volksstaat“ den hier erwähnten Ausruf abgedruckt, in der nächsten Nummer am 14. mußten bereits Liebknecht und ich eine Ansprache an die Parteigenossen veröffentlichen, in der wir anzeigten, daß der General Vogel v. Falckenstein in Hannover — wie sich herausstellte wider Recht und Gesetz — Befehl gegeben hatte, den Parteiausschuß, und zwar Bracke, Bonhorst, Spier, Kühn und den Buchdruckereibesitzer Sievers, mit Ketten gefesselt und unter starker militärischer Bedeckung nach der Festung Lötzen in Ostpreußen zu transportieren und dort zu internieren. Die den Verhafteten widerfahrene Behandlung war eine höchst brutale, um nicht zu sagen grausame; sie brauchten allein 36 Stunden, um nach Königsberg zu gelangen. Auf der Reise hielt man sie überall von seiten des Publikums für gefangene Landesverräter und behandelte sie danach. Wir forderten auf, daß bis auf weitere Anordnung der Kontrollkommission Briefe und Gelder an Geib-Hamburg gesandt werden sollten. Der Schluß lautete:

  „Parteigenossen! Es ist ein schwerer Schlag, der die Partei getroffen,
  und es werden ihm vielleicht andere folgen.

  Steht fest und unverzagt; in der Gefahr zeigt sich die echte
  Ueberzeugung, bewährt sich der rechte Mann.

  Arbeitet kräftig für die Ausbreitung der Partei und unserer
  Prinzipien, aber seid vorsichtig im Reden, vorsichtig auch im
  Schreiben — die uns feindliche Gewalt sucht alles gegen uns zu
  benutzen.

  Wirkt kräftig für Verbreitung des Parteiorgans, denn in ihm liegt in
  diesem Moment des geistigen Kampfes unsere Macht und unsere Stärke.

  Es lebe der internationale Kampf des Proletariats! Hoch die
  sozialdemokratische Organisation!“

Die Nennung von Geibs Namen in unserer Ansprache genügte für Vogel v. Falckenstein, um auch diesen nach Lötzen schaffen zu lassen. Dasselbe Schicksal traf Johann Jacoby wegen einer Rede in Königsberg gegen die Annexion, und Gutsbesitzer Herbig, der Vorsitzender jener Versammlung gewesen war. Vogel v. Falckenstein handelte als Oberstkommandierender in Norddeutschland, das er gegen eine eventuelle Landung der Franzosen an den Nordküsten verteidigen sollte. In Ermanglung kriegerischer Taten verfiel er auf Polizeimaßregeln.

Die Verhaftung Jacobys und Herbigs machte in der liberalen Presse einen unangenehmen Eindruck. Ein linksliberales Blatt meinte: „Diese Handlungen paßten schlecht zu den großen Siegen und veranlaßten die Frage aufzuwerfen: ob nicht dem deutschen Volk an innerer Freiheit verloren gehe, was es an äußerem Ruhm gewonnen.“

Wir sahen das Tun und Treiben der Machthaber als selbstverständlich an. Es war eben eine Illusion des Parteiausschusses, daß er an eine freiheitliche Gestaltung in der neuen Ordnung glaubte, die derselbe Mann gewähren sollte, der sich bis dahin als der größte Feind jeder freiheitlichen, ich sage nicht einmal demokratischen Entwicklung gezeigt hatte, und der jetzt als Sieger dem neuen Reich den Kürassierstiefel in den Nacken setzte.

In Harburg wurden auch Bock und mehrere Genossen und in Halberstadt Naters verhaftet und ins Gefängnis gesetzt, um ihnen einen Prozeß wegen Verbreitung des Manifestes des Parteiausschusses zu machen. In Sachsen erließ das Generalgouvernement für das 12. Armeekorps Ende September eine Verordnung, wonach alle Volksversammlungen mit Rücksicht auf die Endziele des Kriegs verboten wurden. Ein Lichtblick in dieser Zeit war, daß in Kirchberg und in Mittweida (beide in Sachsen) die Stadtverordnetenwahlen für unsere Partei glänzend ausfielen. Auch war trotz des Krieges am 1. August in Crimmitschau ein täglich erscheinendes Parteiblatt, „Der Bürger- und Bauernfreund“, den Karl Hirsch redigierte, erschienen, und am nächsten 1. Februar folgte die „Chemnitzer Freie Presse“, die ebenfalls täglich herauskam. Der Unterschied zwischen uns und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein bestand auch darin, daß wir Neugründungen von Parteiblättern kein Hindernis in den Weg legten.

Anfang Oktober bedauerte die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“, daß man Liebknecht und mich nicht ebenfalls in Haft genommen habe wie den Braunschweiger Ausschuß, Johann Jacoby usw. Ihr Wunsch fand bald Erfüllung.

Die Kontrollkommission hatte den provisorischen neuen Ausschuß nach Dresden verlegt. Er wurde von den Genossen Knieling, Köhler und Otto Walster gebildet. Da wir wußten, daß bei der Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses eine große Menge Briefschaften beschlagnahmt worden waren, schrieb ich an Walster, der Sekretär im neuen Ausschuß war, er möge sich den Braunschweiger Vorgang als Warnung dienen lassen und keinen der Briefe aufheben. Aber wer diesen guten Rat nicht befolgte, war Walster. Als später — wie vorauszusehen war — auch bei ihm Durchsuchung stattfand, fiel sogar mein Warnungsbrief der Polizei in die Hände, der dann in die Akten des bevorstehenden Hochverratsprozesses wanderte.

* * * * *

Ein eigenartiges Intermezzo erlebten Liebknecht und ich Ende Oktober. Der 31. Oktober, der Reformationstag, an dem Luther seine 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schloßkirche schlug, ist in Sachsen ein Feiertag. Zwei Tage vor demselben erhielt ich einen eingeschriebenen Brief, worin Liebknecht und ich dringend ersucht wurden, in einer hochwichtigen Sache am 31. Oktober nach Mittweida zu kommen. Wir folgten der Einladung. Am Bahnhof wurden wir geheimnisvoll in Empfang genommen und um die halbe Stadt nach einer Restauration geführt, woselbst wir zu unserer Ueberraschung die gesamten Vertrauensmänner des oberen und unteren Erzgebirges versammelt fanden. Darauf wurde von einem Redner an uns die Frage gestellt, warum wir die Hände in den Schoß legten und nicht zum Losschlagen aufforderten, die Armee sei doch außerhalb des Landes, was im Lande sei, könne leicht überwältigt werden. Wir schüttelten über diese Naivität den Kopf. Ich nahm zunächst das Wort und bewies dem Redner das Unsinnige seines Verlangens. Liebknecht sprach sich selbstverständlich im gleichen Sinne aus. Es kostete uns keine Mühe, den Anwesenden die Richtigkeit unseres Standpunktes zu machen. Die Anwesenden waren gleich uns auf Einladung von zwei Parteigenossen nach Mittweida gekommen ohne Ahnung dessen, was man hier wollte.

Um dieselbe Zeit hielten die Züricher Parteigenossen eine öffentliche Versammlung ab, in der der damalige Staatsanwalt Parteigenosse Forrer eine Rede hielt, in der er folgende Resolutionen begründete:

„1. Unsere Sympathien gehören der französischen Republik! Möge es derselben gelingen, durch energischen Widerstand die Militärmacht Hohenzollern so zu schwächen, daß ihr ein baldiger Friede angeboten werden muß.

  2. Wir sprechen unseren Parteigenossen in Deutschland und England
  (Marx und Engels) die wärmste Anerkennung aus.

  Namentlich seid Ihr, Brüder in Deutschland, trotz Verfolgung und
  Unterdrückung, trotz Kerker und Ketten als Männer für Eure Prinzipien
  eingestanden, und wir haben das feste Vertrauen auf Euch, Ihr werdet
  Eure Schuldigkeit tun und Euch der weltgeschichtlichen Aufgabe der
  Sozialdemokratie würdig erzeigen.“

Uns bereitete damals diese Anerkennung unserer Züricher Genossen eine große Genugtuung, und ich empfinde sie noch heute. Gegenwärtig ist der damalige Redner und Parteigenosse Forrer Mitglied des schweizerischen Bundesrats in Bern und war zeitweilig dessen Präsident. Selbstverständlich konnte er zu dieser Würde nicht als Sozialdemokrat gelangen. So weit ist man auch in der Schweiz noch nicht. Er rückte eben mit der Zeit, wie so mancher andere, von links nach rechts und kam dadurch zu Würden und Ehren.

Annexionen und Kaiserkrone.

Der Krieg mit Frankreich wurde nach Sedan mit ungeschwächten Kräften weitergeführt. Die kaiserliche Armee war zwar vernichtet oder gefangen, aber jetzt hatte die Regierung der nationalen Verteidigung, an deren Spitze Gambetta und Freycinet standen, die Organisation neuer Armeen in die Hand genommen. Diese wurden mitten im Kriege sozusagen aus dem Boden gestampft. Ein interessantes Buch über diese großartige Leistung ist „Léon Gambetta und seine Armee“ von Freiherrn von der Goltz, Berlin 1877. Das Hauptverdienst fiel aber nicht Gambetta, sondern Freycinet, dem ehemaligen Ingenieur, zu. Hatte der Krieg gegen das Kaiserreich keine sechs Wochen gedauert, so jetzt gegen die Republik noch nahezu sechs Monate. Die neue Regierung hatte zwar Versuche gemacht, Frieden zu schließen, allein diese scheiterten an dem Verlangen Bismarcks nach Annexionen. Auch erklärte Bismarck, der immer noch an die Wiedereinsetzung Napoleons dachte, die Regierung der Landesverteidigung sei keine stabile Regierung, mit der man unterhandeln könne. Schließlich mußte man aber dennoch mit dieser Frieden schließen.

Ende Oktober übergab Bazaine Metz mit 150000 Mann Besatzung und enormen Kriegsvorräten, was ein Glück für die deutsche Armeeleitung war, die alle Kräfte gegen die neugebildete französische Loire- und Nordarmee brauchte.

Am 26. Oktober wurden Jacoby, Bonhorst und Herbig aus Lötzen entlassen. Es standen die preußischen Landtagswahlen bevor, und da konnte man die wider Recht und Gesetz verhafteten Landesangehörigen nicht in Haft behalten. Einige Wochen später, am 14. November, wurden die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses wiederum in Ketten gefesselt von Lötzen nach Braunschweig zurücktransportiert. Es sollte hier ein Hochverratsprozeß gegen sie inszeniert werden. Endlich wurde Anfang Dezember auch Geib aus Lötzen entlassen, und zwar auf Betreiben des Hamburger Senats. Anklagematerial lag gegen ihn nicht vor.

* * * * *

Auf den 24. November war der norddeutsche Reichstag zu einer außerordentlichen Session einberufen worden, die zwar kurz, aber sehr erregt war. Es handelte sich um eine weitere Bewilligung von Geldmitteln für die Fortführung des Krieges und um die Beratung der Versailler Verträge mit den süddeutschen Staaten und die neue Reichsverfassung.

Was bis dahin über die Versailler Verträge bekannt geworden war, hatte in den liberalen Kreisen große Verstimmung hervorgerufen. Danach waren den süddeutschen Staaten, insbesondere Bayern, sogenannte Reservatrechte eingeräumt worden, die die Reichseinheit nur komplizierten. Die norddeutsche Bundesverfassung sollte mit den unumgänglich nötigen Aenderungen, die die Versailler Verträge bedingten, Reichsverfassung werden. Die Freiheit, die Ende Juli in seinem Dankschreiben der König in Aussicht gestellt hatte, blieb wo sie war, in der Kaserne. Nicht einmal die Diäten wurden bewilligt. War schon durch diese Vorgänge die Stimmung eine gedrückte, so noch mehr durch die Tatsache, daß der Krieg sich in die Länge zog, ungeheure Opfer aller Art kostete und sich ein Ende nicht absehen ließ. Anfang September hatte Moltke an seinen Bruder geschrieben, er hoffe Ende Oktober in Creisau (seinem Gute in Schlesien) zu sein und Hasen zu schießen. Diese blieben aber unbehelligt von der Moltkeschen Flinte.

Im Reichstag herrschte über die Nachrichten vom Kriegsschauplatz eine sehr gedrückte Stimmung. So hatte man sich den Gang der Dinge nicht vorgestellt. Der Kriegsberichterstatter der „Kölnischen Zeitung“, ein Herr v. Wickede, schrieb noch Ende Dezember:

„Dieser entsetzliche Krieg, der mit Streitermassen geführt wird, wie solche die Geschichte aller Zeiten und Völker noch niemals in dem Umfang gehabt hat, spottet in der Tat aller und jeglicher Berechnung. Man glaubte endlich am Ende desselben zu sein, und nun stellt sich heraus, daß man am Ende des Monats genau so weit ist wie am Anfang desselben. Wir schlagen fort und fort die Franzosen, töten und verwunden ihnen Tausende von Soldaten … und immer von neuem und wieder von neuem sammeln sich ihre geschlagenen Scharen … und werfen sich uns sehr häufig mit dem wilden Mut der äußersten Verzweiflung entgegen…. Es herrscht jetzt schon in manchen von unseren Gruppen besonders ausgesogenen Gegenden eine entsetzliche Hungersnot, die Leute fallen wie die Fliegen im Hochsommer zu Dutzenden um, und dieser Zustand wird sich im Laufe des strengen Winters in noch furchtbarerer Weise steigern.“

Die Thronrede, mit welcher der Reichstag eröffnet wurde, verlas der Präsident des Bundeskanzleramts, Delbrück; es hieß darin, die jetzigen Machthaber Frankreichs zögen es vor, die Kräfte einer edlen Nation einem aussichtslosen Kampfe zu opfern. In einem gewissen Widerspruch hiermit wurde bemerkt: Frankreich habe keine Regierung, mit der man unterhandeln könne; es seien auch durch die Haltung der Bevölkerung die Hoffnungen auf dauernden Frieden vernichtet worden. Sobald Frankreich sich erholt oder durch Bündnisse sich stark genug fühle, sei eine Wiederaufnahme des Krieges zu erwarten. Man sah also ein, wohin das Verlangen nach Annexionen die künftige Entwicklung treiben werde.

Am 26. November stand die Forderung der weiteren Geldbewilligung (100 Millionen Taler) auf der Tagesordnung. Ich nahm zu dieser Forderung das Wort. Vor mir hatte der Abgeordnete Reichensperger sich für die Bewilligung ausgesprochen. Meine Rede war nicht lang, aber sie erweckte einen Sturm, wie ich ihn seitdem nie wieder mit einer Rede hervorrief. Ich führte aus: Ich glaubte ein so guter Deutscher zu sein wie der Vorredner, trotzdem käme ich bei Prüfung der Sache zu dem entgegengesetzten Resultat. Ich gab eine kurze historische Uebersicht bis zum Sturze des Kaiserreichs und wies nach, daß mit der Gefangennahme Napoleons die eigentliche Kriegsursache beseitigt sei. Dabei stützte ich mich auf die Thronrede vom 19. Juli und die Proklamation des Königs von Preußen vom 11. August. Meine Ausführungen riefen große Unruhe und heftigen Widerspruch hervor. Die Behauptung, Frankreich besitze keine Regierung, mit der man unterhandeln könne, sei falsch. Ich wies dieses in meinen Ausführungen nach. Was den Friedensschluß unmöglich mache, sei die Forderung der Annexionen. Ich verurteilte dann scharf, daß man uns verbiete, in öffentlichen Versammlungen unseren Standpunkt über die Annexionen darzulegen. Diesen unseren Standpunkt begründete ich näher. Wiederum regnete es Unterbrechungen. Als ich dann auf die traurige Rolle hinwies, die die deutsche Kapitalistenklasse bei der ersten Kriegsanleihe gespielt und wie ganz anders sich dagegen die französische Bourgeoisie im gleichen Falle benommen habe, brach vollends der Sturm los. Ein großer Teil des Hauses hatte einen förmlichen Tobsuchtsanfall; man überschüttete uns mit Schimpfworten der gröbsten Art, Dutzende von Mitgliedern drangen mit erhobenen Fäusten auf uns ein und drohten uns hinauszuwerfen. Viele Minuten lang konnte ich nicht zum Worte kommen; zum Schluß empfahl ich die Annahme des Antrags, den Liebknecht und ich gestellt hatten. Dieser Antrag lautete:

„Der Reichstag wolle beschließen:

Den Gesetzentwurf betreffend den ferneren Geldbedarf für die Kriegführung abzulehnen und folgendem Antrag seine Zustimmung zu geben:

In Erwägung, daß der am 19. Juli von Louis Bonaparte, damals Kaiser der Franzosen, erklärte Krieg durch die Gefangennahme Louis Bonapartes und die Niederwerfung des französischen Kaiserreichs tatsächlich sein Ende erreicht hat;

in Erwägung, daß nach den eigenen Erklärungen des Königs von Preußen in der Thronrede am 19. Juli und der Proklamation an das französische Volk vom 11. August der Krieg deutscherseits nur ein Verteidigungskrieg und kein Krieg gegen das französische Volk sei;

in Erwägung, daß der Krieg, welcher trotzdem seit dem 4. September geführt wird, in schroffstem Widerspruch mit dem königlichen Wort, nicht ein Krieg gegen die kaiserliche Regierung und die kaiserliche Armee, welche nicht mehr existieren, sondern ein Krieg gegen das französische Volk ist, nicht ein Verteidigungskrieg, sondern ein Eroberungskrieg, nicht ein Krieg für die Unabhängigkeit Deutschlands, sondern ein Krieg für die Unterdrückung der edlen französischen Nation, die nach den Worten der Thronrede vom 19. Juli berufen ist, ‚die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig zu genießen und zu begehren und zu einem heilsameren Wettkampf als zu dem blutigen der Waffen‘,

beschließt der Reichstag, die verlangte Geldbewilligung für die Kriegführung abzulehnen, und fordert den Bundeskanzler auf, dahin zu wirken, daß unter Verzichtleistung auf jede Annexion französischen Gebiets mit der französischen Republik schleunigst Frieden geschlossen werde.“

Nach mir kam der Abgeordnete Lasker zum Wort, der sich in den Tönen höchster sittlicher Entrüstung über uns und das französische Volk erging. Köstlich war, wie er die Finanzwelt gegen meine Vorwürfe in Schutz nahm. „Es ist wahr,“ führte er aus, „daß die große Finanzwelt sich nicht erheblich beteiligt hat; es stand kein Gewinn in Aussicht (im Falle des Sieges sogar ein recht großer. A.B.), und es ist die Weise der Geschäftsleute, wie dies in der Natur des Geschäftslebens liegt, sich nicht als Geschäftsleute zu beteiligen, wenn eben ein Gewinn nicht sichtbar ist. Nun, auch dort die Männer — auf uns zeigend —, die über den Gewinn und die Belohnung lachen, üben doch ihre ideale Tätigkeit gegen Entgelt aus (Heiterkeit), und ihre Leitungen, welche sie als apostolische bezeichnen, erfolgen gegen Diäten. (Heiterkeit. Sehr gut!) Welche Verwirrung der Begriffe, wenn diese Herren, welche nach der Natur ihrer Leistungen vielleicht mit geringeren Summen sich begnügen müssen (das Haus schüttelt sich vor Lachen), über die Lust am Gewinn die Nase rümpfen. Also, die höhere Finanzwelt hat die Gelegenheit nicht für geeignet gehalten, gewinnbringende Geschäfte zu machen.“

Oeder und widerspruchsvoller konnte wirklich nicht die deutsche
Kapitalistenklasse zu rechtfertigen versucht werden. (In einer zweiten
Rede antwortete ich gebührend Lasker.) Nach Lasker folgte
Braun-Wiesbaden, diesem Liebknecht. Dieser ging den liberalen Vorrednern
kräftigst zu Leibe. Wiederum heftige Unterbrechungen, Ordnungsruf des
Präsidenten.

Liebknecht führte unter anderem aus:

„Die Regierung, die im Juli den Krieg erklärt hat, ist beseitigt und ihr Führer sitzt auf Wilhelmshöhe und ist der gute Bruder des Königs von Preußen; er schwelgt in kaiserlichem Luxus, während die deutschen Krieger draußen ihr Blut vergießen und die furchtbarsten Strapazen erdulden müssen im Kampfe gegen das französische Volk, welches unser Brudervolk trotz alledem und alledem ist, und welches den Frieden mit uns will. (Unruhe, Zurufe) Es ist wahrlich ehrenhafter, der Bruder des französischen Volkes und der französischen Arbeiter zu sein, als der liebe Bruder des Schurken auf Wilhelmshöhe. (Abgeordneter Dr. v. Schweitzer: Bravo, bravo!)“

Liebknecht schloß:

  „Die Anleihe, die man von uns fordert, ist für die Durchführung der
  Annexion bestimmt, wie das ja auch aus dem Wortlaut der Thronrede
  hervorgeht. Die Annexion aber bringt uns nicht den Frieden, sondern
  den Krieg. Indem sie auch nach dem Frieden eine beständige
  Kriegsgefahr schafft, befestigt sie in Deutschland die
  Militärdiktatur…. Aus diesen Gründen bin ich natürlich gegen die
  Kriegsbeile und habe mit meinem Freunde Bebel den Antrag auf
  Verweigerung derselben gestellt.“

Dieser Antrag wurde gegen fünf Stimmen abgelehnt.

In der Sitzung vom 28. November, in der die dritte Lesung der Kriegsanleihe auf der Tagesordnung stand, nahm der von unserer Partei gewählte Dr. Götz-Lindenau, der im März desselben Jahres noch die Kandidatur Johann Jacobys für den Reichstag befürwortet hatte, das Wort, um sich für die Kriegsanleihe auszusprechen, obgleich ihm dieses, wie er versicherte, „blutessigsauer“ werde, und obgleich er aus der Thronrede entnommen, daß der Krieg nicht den Frieden bringe und auch keine Verminderung der Militärlasten zu hoffen sei. Die Rede war ungemein konfus. Bezeichnend war, daß, als wir in dieser Sitzung gegen Angriffe durch Zwischenrufe uns wehrten, Lasker die Frage an den Präsidenten richtete, ob nicht durch sofortige Aenderung der Geschäftsordnung diesem „Unfug“ ein Ende gemacht werden könne. Liebknecht antwortete, indem er auf die beleidigenden Zurufe und Reden hinwies, die wir in der Sitzung am 26. November zu hören bekommen hatten. Als Liebknecht dann bei dem §1 des Gesetzentwurfes über die Kriegsanleihe auf die gehörten Angriffe antworten wollte, unterbrach ihn der Präsident, er könne nicht auf die allgemeine Debatte zurückgreifen. Als Liebknecht mit vollem Recht diesen Standpunkt nicht anerkannte, denn der §1 enthielt die Geldforderung für Fortsetzung des Krieges, entzog ihm das Haus auf Anfrage des Präsidenten das Wort. Gegen die Kriegsanleihe stimmten in dritter Lesung Dr. Ewald (Hannoveraner), Fritzsche, Hasenclever, Liebknecht, Mende, Schraps, Schweitzer und ich.

Einige Tage später stand eine Interpellation des Abgeordneten Duncker und Genossen, betreffend die Handhabung der Verfassungsbestimmungen während des Kriegszustandes, auf der Tagesordnung. Dieselbe richtete sich gegen die Maßnahmen des Generals Vogel v. Falckenstein. Uns war eine solche Interpellation einzubringen nicht möglich, weil wir nicht die nötigen dreißig Unterschriften bekamen. Wenn man in bürgerlichen Kreisen den Gewaltakt gegen unseren Parteiausschuß sich gefallen ließ, so hatte die Verhaftung Johann Jacobys viel böses Blut gemacht; sie paßte schlecht zu dem, was man von der neuen Reichsgründung erwartete. Jacoby harte sich nach seiner Verhaftung direkt beschwerdeführend an Bismarck im Versailler Hauptquartier gewandt und dessen Intervention für seine Freilassung verlangt, da seine Verhaftung ungesetzlicherweise erfolgt sei. Bismarck gab in seiner Antwort an Jacoby indirekt diesem recht, er tat aber nichts zu seiner Freilassung, offenbar wollte er es mit den Militärs im Hauptquartier, mit denen er auf sehr gespanntem Fuße stand, nicht noch mehr verderben. Aber nach der Niederschrift seines Leibjournalisten Moritz Busch, der über die Herd- und Tischunterhaltungen Bismarcks getreulich Bericht erstattete, äußerte er am 20. Oktober, als das Gespräch auf die Verhaftung Jacobys kam: „Ich freue mich darüber ganz und gar nicht; der Parteimann mag das tun, weil seine Rachegefühle dadurch befriedigt werden; der politische Mann, die Politik kennt solche Gefühle nicht; die fragt nur, ob es nützt, wenn politische Gegner mißhandelt werden.“ Und als am 24. November, also wenige Tage vor der Interpellation im Reichstag, das Gespräch wieder auf das Thema kam, äußerte Bismarck — nach derselben Quelle —, die Militärs befragten ihn zu selten um seine Meinung. „So war's auch mit der Ernennung Vogel v. Falckensteins, der jetzt den Jacoby gemaßregelt hat. Wenn ich mich vor dem Reichstag darüber aussprechen müßte, würde ich meine Hände in Unschuld waschen; man hätte mir nichts Unangenehmeres einbrocken können. Ich bin militärfromm in den Krieg gekommen, künftig gehe ich mit den Parlamentarischen, und wenn sie mich weiter ärgern, lasse ich mir einen Stuhl auf die äußerste Linke stellen.“

Schade, daß er diese Drohung nicht wahr machte, ich würde mich sehr gefreut haben, wenn ich ihn in der nächsten Session, in der ich allein die äußerste Linke markierte, als Kampfgenossen an meiner Seite gehabt hätte.

Die Verhandlung, die am 3. Dezember stattfand, war sehr erregt. Duncker wies nach, daß Jacoby und Herbig zu unrecht verhaftet worden seien, dasselbe gestand er auch unseren nach Lötzen geschleppten Braunschweiger Genossen zu. Er verlangte — da mittlerweile, wie schon bemerkt, die gefangenen preußischen Staatsangehörigen in Rücksicht auf die bevorstehenden preußischen Landtagswahlen freigekommen waren —, daß Aehnliches künftig unterbleibe. Der Präsident des Bundeskanzleramtes, Delbrück, nahm als Vertreter Bismarcks das Wort und versuchte die Maßregeln zu rechtfertigen. Ihm antwortete Windthorst, der ihm scharf zu Leibe ging und unter anderem bissig bemerkte, daß nach dem, was er heute vom Präsidenten des Bundeskanzleramtes gehört, er nicht recht daran glaube, daß es nunmehr gelingen werde, was zu Anfang des Krieges versprochen worden war, „daß der deutsche Staat ein Staat der Gottesfurcht, der guten Sitten und der wahren Freiheit werde“. Er empfahl höhnisch, in die Friedensbedingungen mit Frankreich die Bestimmung aufzunehmen, daß es uns auch Cayenne und Lambessa abtrete, damit man geeignete Orte habe, um unbequeme Persönlichkeiten unterzubringen. Im weiteren beschwerte sich Windthorst bitter über die Mißhandlungen, die Vogel v. Falckenstein gefangen gesetzten Hannoveranern habe zuteil werden lassen. Im Laufe der Debatte nahm auch ich das Wort, um die Behandlung zu schildern, die unseren gefangen gesetzten Genossen auf der Reise nach und von Lötzen und während ihrer Haft in Lötzen widerfahren sei. Auch beschwerte ich mich über das generelle Versammlungsverbot in Sachsen. Die Maßregeln seien ein Hohn auf Recht und Gesetz. Miquel billigte, wie nicht anders von ihm zu erwarten war, nicht nur die Maßregeln Vogel v. Falckensteins, er behauptete sogar, daß durch unsere Haltung in Deutschland Frankreich in seinem Widerstand bestärkt worden sei, eine Behauptung, deren Unwahrheit ich ihm sofort nachwies. Bekanntlich gehen in der Regel Interpellationen aus wie das berühmte Hornberger Schießen, so auch diesmal.

In einer der folgenden Sitzungen standen die Verträge mit Baden, Hessen, Württemberg und Bayern zur Beratung. Ich erklärte mich sowohl gegen diese wie gegen die neue Verfassung überhaupt. Das Volk werde in Bälde zur Einsicht darüber kommen, wie es mit der deutschen Freiheit und Einheit aussehe. Die drei Kriege, die Deutschland seit zehn Jahren durchzuführen gehabt habe, hätten es in freiheitlicher Beziehung nur zurückgebracht. Doch das Volk werde einst sein Selbstbestimmungsrecht fordern und erlangen und dann eine Verfassung sich selber schaffen, die nur die Republik zum Ziele haben könne.

Nach mir nahm der Geheime Regierungsrat Wagener das Wort und erzählte zu Liebknechts und meiner großen Ueberraschung, daß wir, wie er aus der ihm soeben übermittelten „Börsenzeitung“ ersehen habe, von dem französischen Konsul in Wien, Lefaivre, den Dank der französischen Republik für unser Auftreten im Reichstag empfangen hätten. (Lebhafte Zurufe: Hört! Hört! und Pfui!) Ich konnte darauf in einer persönlichen Bemerkung nur antworten, daß bis zu diesem Augenblick weder Liebknecht noch mir ein solcher Brief zugegangen sei, was mir um so unbegreiflicher wäre, da, wie ich eben gehört, auch die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ den Brief abgedruckt habe. Ich sei der Meinung, daß der Brief eine elende Modifikation sei, die vom preußischen Pressebureau ausgehe, um mich und Liebknecht zu diskreditieren. In der folgenden Sitzung hielt Wagener seine Behauptung aufrecht. Der Brief, der an meine Adresse geschickt worden, sei echt. Ich antwortete am Schlusse der Sitzung, daß ich bis zu diesem Augenblick den fraglichen Brief nicht erhalten habe, also bei meiner ersten Erklärung verbleiben müsse. Schließlich erhielt ich ihn aber dennoch; er war an Liebknecht und mich gerichtet. Der Brief existierte also, er war vom 2. Dezember datiert und hatte sechs Tage gebraucht, bis er in meine Hände gelangte. Er lautete:

„Meine Herren! Im Namen der französischen Republik, deren Regierung mich zu ihrem speziellen Vertreter bei der Demokratie Deutschlands bestellt hat, erachte ich es für meine Pflicht, Ihnen für die edlen Worte, die Sie im Berliner Parlament inmitten einer durch den Geist der Eroberung und der Trunkenheit des Militarismus fanatisierten Versammlung gesprochen haben, meinen Dank auszudrucken. Der Mut, den Sie bei dieser Gelegenheit bewiesen, hat die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf Sie gelenkt und Ihnen einen ruhmvollen Platz in der Reihe der Streiter für Freiheit erobert. Der freisinnige und humanitäre Geist Deutschlands erleidet in diesem Augenblick, wie Sie, meine Herren, es so beredt dargetan haben, eine jener Verfinsterungen, die wir selbst während der Periode unseres ersten Kaiserreichs durchgemacht haben, und geht denselben Enttäuschungen entgegen. Eine Sucht nach brutaler Herrschaft hat sich der erleuchteten Geister bemächtigt. Jene Denker, die noch vor kurzem solche Lichtstrahlen über die Welt aussandten, sind heute unter der Eingebung des Herrn v. Bismarck zu Aposteln des Mordes und der Vernichtung einer ganzen Nation geworden. Sie, meine Herren, sind es und Ihre Partei, welche bei diesem allgemeinen Abfall die große deutsche Tradition aufrecht erhalten. — In unseren Augen sind Sie die großen Vertreter einer deutschen Nation, die wir mit einer wahrhaft brüderlichen Liebe umfassen und die wir zu lieben nicht aufgehört haben. Frankreich begrüßt Sie, meine Herren, und dankt Ihnen, denn es erblickt in Ihnen die Zukunft Deutschlands und die Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen den beiden Völkern.“

Der Brief mochte gut gemeint sein, aber in jenem Augenblick bedeutete er eine große Taktlosigkeit. Wer ihn veröffentlichte, haben wir nie erfahren. Ich vermute, der Konsul wurde zu dem Briefe von einer Seite animiert, die ein Interesse daran hatte, uns zu schaden. —

Während der Verfassungsberatung kam es zu einer heiteren Szene. Es war bekannt geworden, daß der König Ludwig II. von Bayern nach langem Drängen und Unterhandeln sich bereit erklärt hatte, die deutschen Bundesfürsten und freien Städte zu ersuchen, dem König von Preußen die deutsche Kaiserkrone anzutragen. Die Mitteilung dieses Ereignisses sollte mit einer gewissen feierlichen Ueberraschung im Reichstag erfolgen. In der betreffenden Sitzung erhob sich der Abgeordnete Friedenthal und stellte eine diesbezügliche Anfrage. Darauf erhob sich feierlich der Präsident des Bundeskanzleramtes, Delbrück, um das betreffende Schriftstück vorzulesen. Aber er wußte nicht, in welche Tasche er es gesteckt hatte. In höchster Aufregung durchsuchte er krampfhaft alle Taschen, ein Schauspiel, das im Hause ungeheure Heiterkeit hervorrief. Schließlich fand er den Brief, aber die Wirkung war verpufft. Delbrück war ein sehr tüchtiger Beamter, aber die trockenste Bureaukratennatur, die man sich vorstellen konnte. Eine feierliche Manifestation zu inszenieren, dazu war er ganz und gar nicht der Mann. Bismarck brauste auf, als er in Versailles von der mißlungenen Manifestation hörte.

In dieser Debatte erregte eine Rede Liebknechts über die neue Verfassung und das neue Kaisertum Stürme der Entrüstung. Er warf einen Rückblick auf die deutschen Einheitsbestrebungen, die eine ganz andere Einheit Deutschlands als Ziel gehabt hätten, als jene, die jetzt geschaffen werde. Diese sei ein Gewaltwerk von oben, über die sich die Fürsten verständigt hätten und zu dem der Reichstag einfach Ja sagen solle und müsse. Die Verfassung zeige, daß sie im Heerlager zu Versailles ihren Ursprung habe. Die dort abgeschlossenen Verträge mit den süddeutschen Staaten zeigten aber auch, daß es sich nicht einmal um eine äußere Einheit handle. Das Hindernis einer wirklichen Einheit Deutschlands bilde das Haus Hohenzollern, dessen Interessen im Gegensatz zu denen des deutschen Volkes stünden. Die Krönung des neuen Kaisers solle man auf dem (Berliner) Gendarmenmarkt vornehmen, der das geeignete Symbol hierfür sei. Denn dieses Kaisertum könne nur durch den Gendarmen aufrecht erhalten werden. Mehrere Ordnungsrufe und eine Reihe von Zurechtweisungen durch den Präsidenten gaben der Rede die Weihe.

Am 10. Dezember wurde eine Deputation gewählt, die dem König die beschlossene Adresse mit den Glückwünschen des Reichstags zur Kaiserwürde nach Versailles überbringen sollte. Die Fortschrittspartei, die mit uns zum größeren Teil gegen das Verfassungswerk stimmte, hatte dem Bureau mitgeteilt, daß sie auf Beteiligung an der Deputation verzichte. Die Mitglieder sollten durch das Los bestimmt werden. Wir schwiegen und ließen es darauf ankommen, ob einer von uns durch das Los für die Deputation bestimmt würde. Selbstverständlich hätte er nicht angenommen. Aber das Glück blieb uns fern. Als der Name Rothschilds aus der Urne gezogen wurde, ging Windthorst feierlich auf diesen zu, schüttelte ihm kräftig die Hand und gratulierte ihm zur Wahl. Das ganze Haus brach in stürmische Heiterkeit aus.

Die Deputation war von ihrer von vielen Hindernissen begleiteten Reise und von dem Empfang im Versailler Hauptquartier nicht entzückt. Der Empfang stand so gar nicht im Einklang mit den Vorstellungen, die sich die Deputation von ihrer „hehren Mission“ gemacht hatte. Der König selbst stand der Kaisermache so gleichgültig gegenüber, daß er ganz überrascht war, als der Kronprinz ihm mitteilte, die anwesenden Fürsten und Generale hätten den Wunsch, bei Ueberreichung der Reichstagsadresse durch die Deputation anwesend zu sein. Die trockene Antwort des Königs lautete: Wenn wirklich jemand von den Genannten dabei zu sein Lust habe, habe er nichts dawider. Seine Stimmung wäre wohl eine der neuen Würde günstigere gewesen, hätte die Deputation ihm in Aussicht stellen können, daß im Falle der Annexion von Elsaß-Lothringen dieses Preußen angegliedert werden solle. Es war der erste große Krieg, den ein Hohenzoller siegreich führte, der ohne Landeserwerb für Preußen endete. Das konnte ein Hohenzoller nur schwer verwinden.

Es ist also wie so vieles andere eine Geschichtslegende, zu behaupten,
der damalige König habe die deutsche Kaiserwürde als das Ziel seines
Sehnens angesehen. Daher entspricht auch die Darstellung, die der Kaiser
Wilhelm II. am 26. Februar 1894 in einer Rede bei dem Festessen des
Provinziallandtags der Provinz Brandenburg gab, nicht den gerichtlichen
Tatsachen. Damals führte Wilhelm II. mit Hinweis auf die Einigung
Deutschlands aus:

„Das alte Deutsche Reich wurde verfolgt von außen, von seinen Nachbarn, und von innen, durch seine Parteiungen. Der einzige, dem es gelang, gewissermaßen das Land einmal zusammenzufassen, das war der Kaiser Friedrich Barbarossa. Ihm dankt das deutsche Volk noch heute dafür. Seit der Zeit verfiel unser Vaterland, und es schien, als ob niemals der Mann kommen sollte, der imstande wäre, dasselbe wieder zusammenzufügen. Die Vorsehung schuf sich dieses Instrument und suchte sich aus den Herrn, den wir als den ersten großen Kaiser des neuen Deutschen Reiches begrüßen konnten. Wir können ihn verfolgen, wie er langsam heranreifte von der schweren Zeit der Prüfung bis zu dem Zeitpunkt, wo er als fertiger Mann, dem Greisenalter nahe, zur Arbeit berufen wurde, sich jahrelang auf seinen Beruf vorbereitend, die großen Gedanken bereits in seinem Haupte fertig, die es ihm ermöglichen sollten, das Reich wieder erstehen zu lassen. Wir sehen, wie er zuerst sein Heer stellt und aus dinghaften Bauernsöhnen seiner Provinzen sie zusammenreiht zu einer kräftigen, waffenglänzenden Schar; wir sehen, wie es ihm gelingt, mit dem Heer allmählich eine Vormacht in Deutschland zu werden und Brandenburg-Preußen an die führende Stelle zu setzen. Und als dies erreicht war, kam der Moment, wo er das gesamte Vaterland aufrief und auf dem Schlachtfeld der Gegner Einigung herbeiführte.“

In Wahrheit lagen die Dinge so, daß nicht der alte Wilhelm, sondern sein Sohn, der Kronprinz — der spätere Kaiser Friedrich —, Sehnsucht nach der Kaiserwürde empfand und damals in Versailles alles aufbot, um dieselbe durchzusetzen. Sein Freund, der bekannte Schriftsteller Gustav Freitag, behauptete sogar, daß dem Kronprinzen allein die Erlangung der Kaiserwürde für die Hohenzollern zu danken sei. Sicher ist, daß neben dem Kronprinzen auch Bismarck alles aufbot, um die Kaiserwürde für die Hohenzollern zu erlangen. Bismarck, der sicher hier der kompetenteste Beurteiler ist, schreibt über die Stellung des Königs zur Kaiserwürde in seinen „Gedanken und Erinnerungen“:

Die Kaiserkrone erschien ihm im Lichte eines übertragenen modernen Amtes, dessen Autorität von Friedrich dem Großen bekämpft war, den großen Kurfürsten bedrückt hatte. Bei den ersten Erörterungen sagte er: „Was soll mir der Charakter-Major?“ worauf ich unter anderem erwiderte: „Euer Majestät wollen doch nicht ewig ein Neutrum bleiben, ‚das Präsidium‘? In dem Ausdruck ‚Präsidium‘ liegt eine Abstraktion, in dem Worte ‚Kaiser‘ eine große Schwungkraft.“

Ausführlich und sehr lehrreich wird die Kaiserfrage in des Kronprinzen
Friedrich Tagebuch erörtert, das der Geheimrat Geffken nach dem Tode
Friedrichs in der „Deutschen Rundschau“, Oktoberheft 1888, zum größten
Aerger Bismarcks veröffentlichte. Dort schreibt Friedrich unter dem 30.
September 1870:

„Ich rede Seine Majestät auf die Kaiserfrage an, die im Anrücken begriffen; er betrachtet sie als gar nicht in Aussicht stehend; beruft sich auf du Bois-Reymonds Aeußerung, der Imperialismus liege zu Boden, so daß es in Deutschland künftig nur einen König von Preußen, Herzog der Deutschen, geben könne. Ich zeige dagegen, daß die drei Könige uns nötigen, den Supremat durch den Kaiser zu ergreifen, daß die tausendjährige Kaiser- oder Königskrone nichts mit dem modernen Imperialismus zu tun habe, schließlich wird sein Widerspruch schwächer.“

Und am 17. Januar, dem Tage vor der Ausrufung des Königs zum deutschen
Kaiser, schreibt Friedrich:

„Die Reichsfarben machen wenig Bedenken, die, wie der König sagt, sind nicht aus dem Straßenschmutz gestiegen; doch werde er die Kokarde nur neben der preußischen dulden, er verbat sich die Zumutung, von einem kaiserlichen Heere zu hören, die Marine aber möge kaiserlich genannt werden; man sah, wie schwer es ihm wurde, morgen von dem alten Preußen, an dem er so festhält, Abschied nehmen zu müssen. Als ich auf die Hausgeschichte hinwies, wie wir vom Burggrafen zum Kurfürsten und dann zum König gestiegen seien, wie auch Friedrich I. ein Scheinkönigtum geübt und dasselbe doch so mächtig geworden, daß uns jetzt die Kaiserwürde zufalle, erwiderte er: Mein Sohn ist mit ganzer Seele bei dem neuen Stand der Dinge, während ich mir nicht ein Haar breit daraus mache und nur zu Preußen halte.“

Am 11. Dezember, nach Schluß des Reichstags, reisten Liebknecht und ich nach Leipzig zurück. Am 15. referierten wir in einer öffentlichen Versammlung des sozialdemokratischen Arbeitervereins über die Verhandlungen des Reichstags. Die Versammlung war so massenhaft besucht, daß sie zur Volksversammlung wurde. Unter den Zuhörern befanden sich eine Menge französischer Offiziere in Zivil, die als Kriegsgefangene in Leipzig interniert waren. Die Versammlung verlief ausgezeichnet; dieselbe nahm mit großer Begeisterung eine Resolution an, in der uns für unsere Haltung im Reichstag gedankt wurde. Zustimmungen zu unserer Haltung waren uns auch aus einer Reihe anderer Orte zugegangen. Es war auf längere Zeit die letzte Versammlung, die wir abhalten sollten. Am 17. traf uns der Schlag, den wir längst erwartet hatten. Ich hatte bereits in einem Briefe vom 1. Dezember an den Parteigenossen F.A. Sorge in Hoboken geschrieben: Die Wut der „patriotischen“ Kreise gegen uns ist grenzenlos; wenn man uns nächstens packen kann, dann geschieht's sicher und fest.

Unsere Verhaftung.

An der Spitze des „Volksstaat“ vom 7. September hatten wir mitgeteilt, wir hätten aus sicherster Quelle in Erfahrung gebracht, daß auf entschiedenes Verlangen im deutschen Hauptquartier, speziell des Grafen v. Bismarck, die sächsische Regierung entschlossen sei, gegen unsere Partei mit allem Nachdruck vorzugehen. Haussuchungen und Verhaftungen sollten bevorstehen. Wie auf Kommando ging fast die gesamte Presse, die liberale voran, in Hetzartikeln gegen uns los. Man trieb die Unverschämtheit so weit, daß man uns des Landesverrats zugunsten Frankreichs bezichtigte. Als dann im Dezember die damals erscheinende offiziöse „Zeidlersche Korrespondenz“ aus den bei dem Braunschweiger Parteiausschuß beschlagnahmten Briefen von Liebknecht und mir tendenziös herausgerissene Bruchstücke veröffentlichte, um ihre Denunziationen gegen uns gerechtfertigt erscheinen zu lassen, schickte ich der Berliner „Zukunft“ folgende Erklärung zur Veröffentlichung:

„Die unter der Mitwirkung des Herrn Wagener auf Dummerwitz erscheinende ‚Zeidlersche Korrespondenz‘ hat, wie ich aus hiesigen Lokalblättern ersehe, Bruchstücke aus Briefen von Liebknecht und mir, die bei Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses gefunden wurden, abgedruckt, um ihre Denunziantenmission daran zu üben. Obgleich ich der Meinung bin, daß nur durch Bruch des Amtseids eines Beamten die ‚Zeidlersche Korrespondenz‘ in der Lage ist, jene Bruchstücke zu veröffentlichen, muß ich dennoch den Wunsch aussprechen, daß sie statt der Bruchstücke den ganzen Inhalt meiner Briefe der Öffentlichkeit übergebe.

Ich habe alle Ursache zu glauben, daß durch eine solche Veröffentlichung klar und zweifellos festgestellt wird, wie Herr Zeidler und Konsorten die bruchstückweise Veröffentlichung von Privatbriefen, die ihnen nur von einem gewissenlosen Beamten zugesteckt sein können, deshalb betreiben, weil sie dadurch ihr schwarzes Handwerk mit größerer Wirkung auf das leichtgläubige Publikum ausüben können.

Mich wundert dieses Treiben nicht. Die offiziöse Preßmeute tut eben, was Natur und Amt ihr vorschreiben.

Leipzig, den 16. Dezember 1870. A. Bebel.“

Am 17. Dezember morgens arbeitete ich in meiner Werkstatt, als plötzlich meine Frau totenbleich hereinstürzte und mir mitteilte, daß oben in unserer Wohnung ein Polizeibeamter sei, der mich zu sprechen wünsche. Ich wußte woran ich war. Ich eile die Hintertreppe hinauf und treffe in unserer Wohnstube den mir bekannten Beamten, zugleich aber auch einen Soldaten in kriegsmäßiger Ausrüstung. Auf meine Frage, was das bedeute, antwortete mir meine Frau, der Mann sei soeben als Einquartierung eingetroffen. Alsdann teilte mir der Beamte mit, er habe Auftrag, meine Papiere zu beschlagnahmen. Das war rasch geschehen, ich hatte für reinen Tisch gesorgt. Der Beamte erklärte weiter, er habe auch Auftrag, mich zu verhaften. Ich kleidete mich rasch um, nahm Abschied von Frau und Kind, mit der Vertröstung, ich würde bald zurückkommen, und stieg in die vor dem Hause wartende Droschke, die mich zunächst nach dem Polizeiamt, von dort nach dem Bezirksgericht führte. Hier wurde mir im Bezirksgerichtsgefängnis eine Zelle angewiesen. Ich mache kein Hehl daraus, daß, nachdem der Beamte das große Schloß und die beiden eisernen Riegel, womit nach alter Väter Weise die Tür versehen war, hinter mir abgeschlossen hatte, ich wütend in der Zelle auf und ab lief und meinen Feinden fluchte. Aber was half es? Der Kluge gibt nach. Am nächsten Morgen (Sonntag) traten der Staatsanwalt und der Bezirksgerichtsdirektor, der die Oberaufsicht über das Gefängnis hatte, herein und fragten: ob ich Wünsche hätte. Ich bat, daß ich mir Bücher dürfe kommen lassen und um Licht bis abends 10 Uhr. Der Direktor sagte beides zu, Licht aber nur bis abends 8 Uhr. Der Staatsanwalt teilte mir mit, daß es sich bei der Untersuchung um meine gesamte agitatorische Tätigkeit handeln werde, die man als staatsgefährlich und hochverräterisch ansehe. Die Untersuchung werde längere Zeit währen, da auch Recherchen nach auswärts nötig seien. Ich würde morgen vor dem Untersuchungsrichter mein erstes Verhör haben. Meine Spannung war groß. Der Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Ahnert, dem ich vorgeführt wurde, empfing mich mit strenger Miene und großer Zurückhaltung. Es werde gegen mich, Liebknecht und Hepner, die beide ebenfalls verhaftet seien, was ich erst jetzt erfuhr, die Anklage auf Versuch und Vorbereitung zum Hochverrat erhoben werden. Daß Liebknecht mit mir gepackt war, fand ich natürlich, aber auch der Unglückswurm Hepner, der erst kurze Zeit zweiter Redakteur am „Volksstaat“ war? Der war doch so unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Weiter teilte mir zu meiner nicht geringen Ueberraschung und Enttäuschung der Richter mit, daß er die Untersuchung noch nicht weiter führen könne, weil der Hauptteil des Untersuchungsmaterials noch in Braunschweig sei. Er hoffe aber, daß dasselbe noch vor Neujahr eintreffe, worauf er alsdann mit allem Fleiß an die Arbeit gehen werde. Man hatte uns also, streng genommen, ohne gesetzlichen Grund verhaftet, denn weder der Richter noch der Staatsanwalt kannten das Anklagematerial, auf Grund dessen wir angeklagt werden sollten. Es war also offenbar der Wunsch des Hauptquartiers, uns möglichst rasch unschädlich zu machen, für unsere Verhaftung maßgebend gewesen.

Ich war sehr ärgerlich, als ich in meine Zelle zurückkehrte; ich hatte jetzt reichlich Zeit, mich zunächst mit dieser zu beschäftigen. Die Zelle hatte genügend Raum, denn sie war fast leer. In einer Ecke an der Tür stand ein großer, verdeckter hölzerner Kübel, über dessen Zweck ich kein Wort zu verlieren nötig habe. An der einen Wand war ein kleines Regal angebracht, auf dem ein Wasserkrug stand und ein Gesangbuch und das Neue Testament lagen. An der anderen Wand war eine drei Fuß lange schmale Bank befestigt, so daß man sie nicht wegrücken konnte, und vor derselben hatte man mir, als besondere Vergünstigung, ein kleines Tischchen aufgestellt, so groß, daß wenn ich einen Band Gartenlaube darauf ausbreitete, die Tischplatte bedeckt war; ein Bett war nicht vorhanden, die Matratze, die abends auf den Fußboden gelegt wurde, wanderte am nächsten Morgen auf den Korridor auf einen Berg anderer Matratzen. Unten vor meinem Fenster, das fest vergittert war und nur durch Besteigen des Tischchens erreicht werden konnte, hörte ich Tag und Nacht ein eigentümliches Geräusch. Als ich an das Fenster stieg, sah ich, daß unten in einem Garten sechs große Kaffeeröstmaschinen aufgestellt waren, in denen große Quantitäten Kaffee für die im Felde stehenden Truppen geröstet wurden. Der Winter 1870/71 war wohl der strengste, den wir in vielen Jahrzehnten hatten. Die armen Teufel im Felde — Deutsche wie Franzosen — litten fürchterlich unter Kälte, Eis und Schnee. Das Unwetter hatte früh eingesetzt und hörte erst spät auf. Aber auch in meiner Zelle war es scheußlich kalt. Der alte vorsintflutliche eiserne Ofen, der morgens um 5 Uhr mit einer Handvoll Kohlen geheizt wurde, gab keine besondere Wärme ab. Außerdem mußte ich doch frische Luft haben. Oeffnete ich also morgens die Fensterklappe, so war das bißchen Wärme im Nu verflogen. Ich fror hundemäßig. Um mich zu erwärmen, setzte ich mich auf das Tischchen, stützte die Füße auf die Bank und umwickelte die Beine mit einer weißen wollenen Decke, die ich als Bettdecke erhalten hatte. Trotzdem bekam ich einen Blasenkatarrh. Zum Unglück lag meine Zelle auch noch nach Norden. Liebknecht, als dem ältesten unter uns, hatte man ein Zimmer, das damals für sogenannte Wechselgefangene reserviert war, eingeräumt. Dies erfuhr ich bei einem Besuche meiner Frau, die wöchentlich einmal in Gegenwart des Untersuchungsrichters mich kurze Zeit sprechen durfte. Auch wurde mir die Korrespondenz mit ihr unter Kontrolle des Richters gestattet.

Sehr rasch entdeckte ich aber zu meinem großen Unbehagen, daß ich die Zelle nicht allein bewohnte; dieselbe wimmelte von Ungeziefer. Nun, ich hatte Zeit zur Jagd, und ich war dabei erfolgreicher als Moltke mit seiner Hoffnung auf die Greisauer Hasen. Die weiße Wolldecke wurde zur Falle. Ich hatte bald eine Rekordziffer erreicht. Ich tötete an einem Tage, meine Leserinnen mögen nicht erschrecken, einundachtzig der braunen Kerle, die man Flöhe nennt. Allmählich brachte ich die Zelle rein, auch ohne Insektenpulver, das mir meine Frau auf mein Verlangen ein paarmal sandte, das ich aber nie erhielt, weil es die Aufseher für sich verbrauchten. Ich hatte auch durchgesetzt, daß meine Matratze in der Zelle blieb, die vordem jedesmal am Abend voll Ungeziefer wieder zu mir hereingebracht wurde. Kaum hatte ich aber mein „Heim“ rein, so wurde ich auf Anordnung des Arztes nach der Westseite umquartiert. Ich erhielt jetzt eine Zelle, in der vor mir eine Kindsmörderin zugebracht hatte, wie mir mein Aufseher in liebenswürdiger Weise mitteilte. Nun hatte ich die Arbeit des Reinigens von neuem vorzunehmen.

Eine Untersuchungshaft wie die unsere ist die scheußlichste aller Haftarten. In strenger Einzelhaft hinter Schloß und Riegel sitzen müssen, ohne zu wissen, wie lange die Haft währt und welches Anklagematerial vorliegt, wirkt ungemein aufregend und nervenzerrüttend. Endlich wurde ich Anfang Januar wieder dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Als ich in das Zimmer des Richters trat, fiel mein Blick auf ein stattliches Bündel blauer Papiere, die auf der breiten Fensterbank lagen. Es waren meine Briefe an den Parteiausschuß, die dieser mit den Briefen von Liebknecht, Marx und Engels ganz besonders sorgfältig und liebevoll aufbewahrt hatte. Ich weiß nicht, was ich getan, hätte ich in diesem Augenblick unseren Parteisekretär Bonhorst zwischen den Fingern gehabt. Bald ergab sich aber, daß ich keine Ursache hatte, mich über die beschlagnahmten Briefe zu ärgern. Der Untersuchungsrichter teilte mir mit, daß er erst vor ein paar Tagen das Anklagematerial erhalten habe, daß er aber gewillt sei, nach Möglichkeit die Untersuchung zu beschleunigen. Und er hielt Wort. Mit jedem neuen Verhör wurde der Richter zugänglicher. Selbstverständlich waren unsere Briefe das erste Material, was er durchstudierte. Und da nun diese fast alle streng vertraulicher Natur waren, so hatten wir darin uns gegenseitig nicht nur unsere Parteischmerzen, sondern auch unsere großen und kleinen Privatschmerzen mitgeteilt, und dabei stellte sich heraus, daß keiner von uns auf Rosen gebettet war. Wohl zu seiner eigenen Ueberraschung entdeckte der Untersuchungsrichter, daß wir keine Landesverräter und Königsmörder seien, sondern Menschen, die von den besten Absichten beseelt waren und warmes Herzblut in den Adern hatten. Ende Februar hatte der Untersuchungsrichter das Riesenmaterial, das quantativ sehr groß war — es waren allein gegen 2000 Briefe vorhanden —, durchgearbeitet und die Untersuchung geschlossen. Der Untersuchungsrichter hatte, und er war ein sehr intelligenter und gewissenhafter Mann, wie wir später durch unseren Rechtsanwalt Otto Freytag erfuhren, die Ueberzeugung gewonnen, daß wir nicht nur nicht wegen Versuchs, sondern auch nicht wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt werden könnten. Er stellte demgemäß den Antrag auf unsere Haftentlassung, dem aber die Staatsanwaltschaft widersprach.

Als Ende Februar 1871 in Oesterreich das Ministerium Graf Hohenwart-Schäffle ans Ruder kam und durch eine Amnestie die Wiener Hochverräter Oberwinder, A. Scheu, Most usw. aus dem Zuchthaus entlassen wurden, legte mir eines Abends gelegentlich eines Verhörs der Untersuchungsrichter schweigend die „Leipziger Zeitung“ vor, in der die Depesche über die Amnestie enthalten war. Ich konnte mich nicht enthalten zu bemerken, dergleichen würde uns nicht blühen; und ich behielt recht. Ich hatte die feste Ueberzeugung, daß wir verurteilt würden, nicht weil ich mich schuldig fühlte, sondern weil ich wegen der Hatz, die namentlich auch während unserer Haft gegen uns fortgesetzt betrieben wurde, der Stimmung der Geschworenen nicht traute. Außerdem sagte ich mir auch, daß die Regierung alles aufbieten werde, unsere Verurteilung herbeizuführen. Andernfalls wäre der Prozeß eine Blamage für sie geworden. Ich hatte sogar in einem Brief an einen Freund, den ich meiner Frau zur Uebermittlung schickte, ausgesprochen, wir würden wohl mit zwei Jahren Festung hängen bleiben. Darüber war namentlich Frau Liebknecht, der meine Frau meine Ansicht mitgeteilt hatte, ganz entsetzt. Aber meine Prophezeiung traf wieder einmal ein.

* * * * *

Nachdem wir in Haft genommen waren, beriefen die Leipziger Parteigenossen Karl Hirsch, der damals Redakteur am „Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund“ war, nach Leipzig, um die Redaktion des „Volksstaat“ zu übernehmen. Karl Hirsch sprang bereitwillig ein und verdiente sich durch die Art, wie er das Blatt in schwerster Zeit redigierte, den Dank der Partei. In der Nummer 102 des „Volksstaat“ vom 21. Dezember kündigte er an, daß er die Redaktion auf unseren Wunsch übernommen habe, und fuhr dann fort:

„Die gegen unsere Freunde eingeleitete Untersuchung wird, wie ich hoffe, nicht von langer Dauer sein und, wie ich überzeugt bin, die Schuldlosigkeit derselben zum Ergebnis haben. Einstweilen werde ich mir die edle, kühne und nicht ‚landesverräterische‘, sondern im Gegenteil wahrhaft patriotische Haltung, die der ‚Volksstaat‘ unter seiner bisherigen Leitung eingenommen hat, bei meiner Redaktion zum Vorbild nehmen.

An der Tendenz und am Erscheinen des Blattes wird nichts geändert, die gegnerischerseits gehegte Hoffnung, der Schlag, der unser Organ betroffen, werde die Partei mundtot machen, wird zuschanden werden.“

Kaum war Hirsch in die Redaktion des „Volksstaat“ eingetreten, so begann
Professor Biedermann in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ auch gegen
ihn zu denunzieren. Im gleichen Sinne arbeitete die „Zeidlersche
Korrespondenz“, die, wie sie von uns Briefe tendenziös stückweise
veröffentlichte, dasselbe mit Briefen von Hirsch machte, die in
Braunschweig beschlagnahmt worden waren. Hirsch schüttelte die
Denunzianten kräftig ab. Weiter antwortete Hirsch damit, daß er an der
Spitze des „Volksstaat“ vom 1. Januar 1871 Freiligraths Gedicht „Die
Schlacht am Birkenbaum“ zum Abdruck brachte.

Im Januar wurden die Wahlen zum Reichstag ausgeschrieben; sie sollten am 3. März vorgenommen werden. Eine Landesversammlung der Partei hatte uns wieder in unseren alten Wahlkreisen aufgestellt. In Leipzig vereinigten sich die Lassalleaner mit unseren Genossen auf meine Kandidatur. Ich ließ das Komitee wissen, daß ich im Interesse der Konzentration der Mittel und Kräfte auf die aussichtsreichen Wahlkreise eine Kandidatur für Leipzig nicht annehmen könne. Es blieb aber dabei. In bürgerlichen Kreisen veranstaltete man Geldsammlungen, um Liebknechts und meine Wahl zu verhindern. In meinem Wahlkreis — Glauchau-Meerane-Hohenstein — hatten die Gegner sich auf die Kandidatur von Schulze-Delitzsch gegen mich vereinigt. Schulze nahm die Kandidatur an, er weigerte sich aber, Wählerversammlungen abzuhalten, da ich an der Abhaltung solcher verhindert sei; dieselben wären ihm wahrscheinlich schlecht bekommen. Ende Januar legte der provisorische Parteiausschuß in Dresden sein Mandat nieder; es galt, die Kräfte zu konzentrieren, und so wurde auf Anordnung der Kontrollkommission in Hamburg Leipzig Sitz des provisorischen Ausschusses. Die Geldmittel waren natürlich sehr knapp. Die Parteigenossen von heute ahnen nicht, mit wie wenig Geld damals die Wahlen betrieben wurden. Ueber 500 bis 600 Mark gingen die Wahlkosten kaum irgendwo hinaus.

Die Wahlen verliefen ungünstig; sie fanden statt unter Glockengeläute und Kanonendonner, da am 3. März der Präliminarfriede in Versailles unterzeichnet wurde. Die einzigen Sieger waren Schraps und ich im 17. und 18. sächsischen Wahlkreis. Ich hatte mit 7344 Stimmen gegen Schulze-Delitzsch mit 4679 Stimmen gesiegt. Schraps, der streng genommen nicht mehr zur Partei gehörte und an dessen Stelle von Rechts wegen Julius Motteler hätte aufgestellt werden sollen, siegte mit 5875 gegen 5706 Stimmen. Liebknecht unterlag im 19. sächsischen Wahlkreis mit 3981 gegen 5134 Stimmen. Spier war in Mittweida-Frankenberg in engere Wahl gekommen, er unterlag aber mit 4017 gegen 5430 Stimmen, die auf Professor Biedermann fielen. In Leipzig hatte ich 2576, mein Gegenkandidat Bürgermeister Dr. Stephani 7312 Stimmen erhalten. Das Resultat galt als sehr günstig; im Herbst 1867 erhielten wir nur 900 Stimmen. In Leipzig-Land war Johann Jacoby aufgestellt worden, der mit 2877 gegen 5718 Stimmen seinem Gegner unterlag. Bracke wurde in Chemnitz und im 22. sächsischen Wahlkreis aufgestellt und erhielt 2972 bezw. 3477 Stimmen. Wir hatten in Sachsen über 39000 Stimmen auf unsere Kandidaten vereinigt. In manchen Wahlkreisen, wie Bielefeld, hatten unsere Parteigenossen den Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (Pfannkuch) unterstützt, in Mittel- und Süddeutschland hatten sie fast überall von der Aufstellung eigener Kandidaten abgesehen. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hatte im ganzen 63000 Stimmen auf seine Kandidaten vereinigt.

Wie die angeführten Zahlen zeigen, war die Beteiligung an der Wahl eine schwache, nirgends herrschte Begeisterung für das neue Reich. Der schwere Druck, der auf Handel und Wandel lastete, die Arbeitslosigkeit, alles Folgen des Krieges, dazu der lange und harte Winter, der den Massen ebenfalls schwere Opfer auferlegte, schufen eine sehr gedrückte Stimmung.

Sobald ich die offizielle Nachricht von meiner Wahl erhalten hatte, schickte ich aus dem Gefängnis meinem Wahlkomitee folgende Danksagung zur Veröffentlichung:

„An meine Wähler! Parteigenossen! Ihr habt mir aufs neue einen glänzenden Beweis Eures Vertrauens gegeben, indem Ihr mich nunmehr zum dritten Male zum Vertreter des 17. Wahlkreises in den Reichstag erwähltet.

  Ihr habt mir Euer Vertrauen erhalten, obgleich ich nicht in Eurer
  Mitte erscheinen konnte, um meinen Standpunkt gegenüber der neuen
  Sachlage der Dinge darzutun. Ebensowenig habt Ihr Euch auch beirren
  lassen durch die heftige und niedrige Kampfweise, womit die Gegner den
  Wahlkampf führten.

  Dies, verbunden mit der Tatsache, daß der unterlegene Gegner als die
  gefeiertste Größe des Liberalismus und Kapitalismus gilt, macht die
  diesmalige Wahl für mich doppelt ehrenvoll. Nehmt dafür meinen
  wärmsten und innigsten Dank entgegen und das Versprechen, daß ich tun
  werde, was in meinen Kräften steht, Euer Vertrauen zu rechtfertigen.

  Es lebe die Sozialdemokratie! Das sei der Ruf, mit dem wir neuen
  Kämpfen entgegengehen.

Leipzig, Bezirksgerichtsgefängnis, den 13. März 1871.

Mit sozialdemokratischem Gruß

Euer A. Bebel.“

Ich habe in meinem Leben oft das Glück gehabt, angesungen zu werden, und zwar im guten wie im schlimmen Sinne. Auch in dem jetzt verflossenen Wahlkampf spielte die Poesie eine, wenn auch zweifelhafte Rolle. So veröffentlichte der Bürgermeister Hohensteins, natürlich anonym, folgendes Gedicht:

Napoleon und Bebel.

  Er sitzt auf Wilhelmshöhe,
  Er im Bezirksgericht.
  Er hat sie in der Zehe
  Und er im Kopf die Gicht.

Im „Meeraner Wochenblatt“ höhnte ein anderer Anonymus über mich:

Der Wilhelmshöher an Bebel.

Mein lieber Bebel!

Lassen Sie uns ein vernünftiges Wort miteinander reden! Sehen Sie, ich bin ein alter Praktikus und habe das alles schon durchgemacht, was Sie noch vor sich haben. Ach, Bebel, wenn mir auch der Schlummerkopf vom „New-York-Herald“ neulich wieder einige Hoffnung gemacht hat — ich fürcht', ich fürchte doch sehr, es wird mit mir nichts mehr werden. Mir fehlen die Mittel, noch einmal von vorn wieder anzufangen.

Aber Sie, Bebel, Sie haben ohne Frage eine Zukunft. Sie sind noch jung, haben ein gewinnendes Aeußeres, einen guten Appetit, eine edle Dreistigkeit, eine formidable Sprache und ein harmloses Wesen. Kommt dazu noch die Gunst der Weiber und die Freundschaft der Kirche, so haben wir alle Eigenschaften beisammen, deren ein junger Mann bedarf, um en gros sein Glück zu machen.

Jetzt, Bebel, will ich Ihnen ein wichtiges Wort über die Republik sagen. Die Republik ist eine sehr gute Einrichtung, wenn man — Präsident derselben ist. Ist man es nicht, so ist die Republik eine ebenso mangelhafte Staatsform wie alle anderen, das Papsttum mit einbegriffen. Wie man Präsident wird, Bebel, das will ich Ihnen einmal unter vier Augen sagen. Das aber kann ich Ihnen gleich ganz offen sagen, daß von der Präsidentschaft bis zur Kaiserkrone nur ein Schritt ist.“ Und so weiter.

In Leipzig hatte man, und das ist von einem gewissen kulturhistorischen Interesse, die Verhöhnung unserer Personen während unserer Haft noch weiter getrieben. So wurde in einem Tingeltangel eine Posse aufgeführt, betitelt: „Nebel und Piepknecht“; in einem anderen größeren Lokal der Stadt wurde eine Posse aufgeführt, betitelt: „Bebel oder der erleuchtete Schuster mit seinem Jungen.“ In dieser Weise machten die „Patrioten“ ihrem Zorn wider uns Luft.

Ein Teil der liberalen Presse war über meine Wahl höchlich aufgebracht und agitierte dafür, daß der Reichstag bei seinem Zusammentritt sich gegen meine Freilassung aus der Untersuchungshaft aussprechen sollte. Die „Magdeburger Zeitung“ war von Leipzig aus im gleichen Sinne inspiriert worden. Darauf veröffentlichte unser Anwalt Otto Freytag eine Erklärung, in der er ausführte, die Behauptung, wir würden wegen Landesverrat oder Vorbereitung zum Landesverrat angeklagt, sei eine Unwahrheit. Wir würden wegen Vorbereitung zum Hochverrat, begangen durch unsere Agitation, angeklagt. Liebknechts und mein Verhalten in der Kriegsfrage spiele auch nicht einmal nebensächlich eine Rolle. Es sei auch eine dreiste Unwahrheit, wenn behauptet werde, Staatsanwalt und Untersuchungsrichter würden sich einer Haftentlassung widersetzen. Im Gegenteil, ihm habe der Untersuchungsrichter erklärt, daß gegen eine Haftentlassung, nachdem die Untersuchung beendet sei, nicht das geringste Bedenken vorliege. Ebenso werde der Staatsanwalt keine Bedenken gegen die Freilassung erheben.

Am 27. März stellte Schraps, unterstützt von den Mitgliedern der Fortschrittspartei, im Reichstag den Antrag auf meine Freilassung. Im Gegensatz hierzu beantragten die Abgeordneten Dr. Stephani-Leipzig und Professor Biedermann, den Reichskanzler um Auskunft über den Stand der Sache zu ersuchen. In ihrem blinden Haß fühlten sie nicht das Kleinliche und Verächtliche ihrer Handlungsweise. Am 29. März wollte der Präsident die beiden Anträge auf die Tagesordnung der Sitzung vom 30. März setzen. Darauf erklärte der Abgeordnete Schraps zur Geschäftsordnung: Er habe die Nachricht erhalten, daß wir am gestrigen Tage aus der Haft entlassen worden seien.

So war es in der Tat. Die sächsische Regierung wollte die Debatte im Reichstag umgehen, so ordnete sie unsere Freilassung an. Am Nachmittag des 28. März gegen 4 Uhr wurden plötzlich mit besonderer Hast Schloß und Riegel an meiner Tür geöffnet, und herein stürzte der Aufseher mit dem Ruf: Ich glaube, Sie kommen frei! Als ich aus der Zelle trat, standen Liebknecht und Hepner bereits auf dem Korridor. Ohne ein Wort zu sagen, stürzten wir uns alle drei in die Arme. Wir hatten uns seit jener ominösen Versammlung am 15. Dezember mit keinem Auge gesehen. Vor den Untersuchungsrichter geführt, erklärte dieser, wir seien aus der Haft entlassen, doch müßten wir durch Handschlag versichern, keinen Fluchtversuch zu unternehmen und den Bezirk, Stadt- und Amtshauptmannschaft Leipzig, nicht ohne seine Zustimmung zu überschreiten. Nachdem wir unsere Siebensachen zur Abholung bereit gestellt, eilten wir fort nach Hause, wo es ein frohes Wiedersehen gab. Mein Töchterchen sprang mir mit einem Freudenschrei an den Hals.

Zwei Tage danach, am 30. März, wurde auch der Braunschweiger Ausschuß
aus der Haft entlassen. Das Obergericht zu Wolfenbüttel hatte die
Erhebung einer Anklage wegen Hoch-und Landesverrat abgelehnt. Die
Braunschweiger hatten 200, wir 101 Tage in der Haft zugebracht.
Optimisten nahmen an, daß nunmehr auch wider uns die Anklage auf
Hochverrat fallen würde.

Der Braunschweiger Ausschuß wurde darauf im Herbst 1871 von dem
Kreisgericht in Braunschweig wegen einer Reihe Verstöße wider
verschiedene Paragraphen des Strafgesetzes verurteilt, und zwar Bracke
und Bonhorst zu 16 Monaten, Spier zu 14 Monaten, Kühn zu 5 Monaten
Gefängnis. Auf erhobene Nichtigkeitsbeschwerde hob das Obergericht zu
Wolfenbüttel das erste Urteil auf und verurteilte die Genannten wegen
Verstoßes gegen das Vereinsgesetz: Bracke und Bonhorst zu 3 Monaten,
Spier zu 2 Monaten Gefängnis und Kühn zu einer 6wöchigen Haft. Die
Strafen wurden durch die Untersuchungshaft als verbüßt erachtet.

Meine weitere parlamentarische Tätigkeit, der Leipziger
Hochverratsprozeß und anderes.

Die erste Session des deutschen Reichstags.

Am 2. April 1871 fuhr ich zur Ausübung meines Mandats nach Berlin. Der Reichstag, der diesmal in besonders feierlicher Weise durch den Kaiser unter Anwesenheit der gesamten deutschen Fürsten und Vertreter der freien Städte am 23. März eröffnet worden war, tagte im preußischen Abgeordnetenhaus am Dönhofplatz.

Zunächst besuchte ich meine frühere Wirtin, um zu hören, ob ich wieder Wohnung bei ihr bekommen könne. Sie erklärte, daß sie zu ihrem großen Bedauern mich nicht in Wohnung nehmen dürfe. Nachdem Liebknecht und ich im Dezember abgereist seien, sei die Polizei zu ihr gekommen und habe ihr heftige Vorwürfe gemacht, daß sie uns Wohnung gegeben habe. Wir waren in jener Session auf Schritt und Tritt durch Geheimpolizisten überwacht worden, als seien wir Verbrecher. Wie uns erging es den Polen. Kleinlichkeit und Gehässigkeit, mit einem Wort Unanständigkeit ist das Charakteristikum der politischen Polizei, sobald es sich um die Verfolgung von Gegnern der Staatsgewalt handelt. Das lernten wir später auch als sächsische Landtagsabgeordnete in Dresden kennen.

Als ich in den Reichstag trat, waren die Plätze auf der Linken besetzt, nur auf der äußersten Rechten waren noch solche frei. Dorthin begab ich mich, obgleich mir die Nachbarschaft der ehrenwerten Herren der äußersten Rechten nicht sehr sympathisch war. Aber sie begriffen mein Unglück und ließen mich nicht entgelten, daß ich als Saul unter die Propheten geraten war. Sie benahmen sich durchaus als Gentlemen, obgleich auch ihnen meine Nachbarschaft sicher unangenehm war. Manchmal entstand im Hause Heiterkeit, wenn die Linke gegen die Rechte stimmte und ich auf der äußersten Rechten mich mit der Linken erhob. Unter Larven die einzig fühlende Brust.

Die Generaldebatte über die Reichsverfassung, die nunmehr nach den nötigen redaktionellen Aenderungen auch der deutsche Reichstag gutzuheißen hatte, wurde bereits zu einer Kulturkampfdebatte. Die Unfehlbarkeitserklärung des Papstes auf dem vatikanischen Konzil zum Rom im Jahre 1870 hatte die Geister wach gerufen, und namentlich brannten die Liberalen darauf, das, was sie an bürgerlicher Freiheit preiszugeben bereit waren, durch hochtönende Kulturkampfpauken (die Bezeichnung Kulturkampf hatte der Abgeordnete Professor Virchow erfunden) vergessen zu machen. Die katholische Partei hatte sich als Zentrum konstituiert unter Führung von Windthorst und Malinckrodt. Unter den Kulturkämpfern ragte namentlich Kiefer-Baden hervor, der eine hohe Richterstelle bekleidete. Als ich am 3. April zum Wort kam, sprach ich meine Verwunderung aus über den religiösen Charakter, den die Debatten angenommen hätten. Es scheine, daß im neuen Deutschen Reich die religiösen Debatten alles andere verdrängen sollten. Jemanden, der wie ich in den zwei Sitzungen, denen ich bis jetzt beigewohnt, außer Religion kaum etwas anderes zu hören bekommen und mit den religiösen Dogmen vollständig gebrochen habe, koste es eine gewisse Selbstüberwindung, diesen Verhandlungen länger zuzuhören. (Heiterkeit.) Ich griff darauf die Nationalliberalen an, deren Redner, Professor v. Treitschke, erklärt hatte, Grundrechte für eine Verfassung zu fordern, gehöre in die Zeit der politischen Kinderjahre. Ich stimmte ihm zu, denn politische Kinderei sei es gewesen, wenn man 1849 dem König von Preußen zugemutet habe, eine Verfassung anzunehmen, die volle Preßfreiheit, volle Vereins- und Versammlungsfreiheit, Trennung der Kirche vom Staate, Gewährleistung der persönlichen Freiheit und andere schöne Dinge verlangte. Es sei allerdings kindlich, das einem Hohenzollern zuzumuten. Ich kritisierte weiter die Liberalen, die lieber alle Freiheiten preisgäben, als sich mit einer Partei, die als revolutionär gelte, einzulassen. Indessen hoffte ich, daß, ehe das neunzehnte Jahrhundert zu Ende gegangen sei, wir alle unsere Forderungen verwirklicht hätten. (Große Unruhe.) Diese Ansicht war, wie sich inzwischen gezeigt hat, sehr optimistisch.

Nach mir sprach Miguel, der meinte, er werde nicht mit mir diskutieren, vorläufig sei mein Partei noch keine Gefahr. Das sei anders mit den Herren vor ihm (dem Zentrum), gegen die er losdonnerte. Zum Schluß der Sitzung nahm ich das Wort zu einer persönlichen Bemerkung gegen Miguel. Er habe sich etwas wegwerfend über meine Partei ausgelassen. Ich wunderte mich darüber nicht, ich wolle aber doch konstatieren, daß der Abgeordnete Miguel — allerdings zu einer Zeit, wo er weder Bankdirektor noch Oberbürgermeister gewesen sei — zu derselben Partei gehört hätte, die er heute bekämpfte, nämlich zur kommunistischen. Das Haus war über diese Enthüllung verdutzt. Miguel schwieg. Nach der Sitzung traten eine ganze Anzahl Abgeordnete an mich heran, um zu hören, inwiefern der erhobene Vorwurf wahr sei! Der Abgeordnete Miguel behandelte mich von jetzt ab mit einer gewissen Hochachtung.

Kaum hatte man die Verfassungsberatung hinter sich, so kamen Schulze-Delitzsch und Genossen und beantragten die Aenderung des Artikels 32 der Verfassung zwecks Einführung der Diäten. Bei der Verfassungsberatung hatte man diesen Antrag nicht gestellt, obgleich er dort am Platze war. In einer Rede, die ich dazu hielt, führte ich aus, daß nur die Angst vor der Sozialdemokratie die Herren abhielt, die Diäten durchzusetzen, die in allen anderen Vertretungskörpern eingeführt seien. Bismarck verhöhnte die Antragsteller. Er wolle nicht mit voller Sicherheit entscheiden, ob die Versammlung in ihrer Zusammensetzung nach der Einführung der Diäten noch dieselbe sei. Aber er wolle den Versuch nicht machen, es wäre ihm zu schmerzlich, wenn er sich vergeblich nach der liebgewonnenen Versammlung zurücksehnen solle. (Große Heiterkeit.) Das Herrenhaus, das keine Diäten erhalte, habe immer die Neigung, die Sitzungen abzukürzen, bei dem Abgeordnetenhaus, das Diäten erhalte, sei das Gegenteil der Fall.

Am 24. April stand die Beschaffung weiterer Geldmittel zur Bestreitung der durch den Krieg veranlaßten außerordentlichen Ausgaben auf der Tagesordnung. Die französische Nationalversammlung hatte zwar am 26. Februar dem Präliminar-Friedensvertrag ihre Zustimmung gegeben, aber die Frage der Kriegskostenzahlung war noch nicht endgültig erledigt. Man brauchte für die große Armee in Frankreich weiter Geld. Bismarck nahm zunächst das Wort, um die Notwendigkeit der Vorlage zu begründen. Bis jetzt habe Frankreich seine Zahlungsverpflichtungen nicht einhalten können. Man könne ja in die inneren Verhältnisse Frankreichs eingreifen, aber das wolle man nicht, es sei daher wünschbar, Frankreich Zeit zu lassen, sich zu rangieren. Ich nahm nach Bismarck das Wort. Seine Erklärung zeige, daß er mit seiner Politik in der Klemme sei. Ich legte dann noch einmal unseren Standpunkt in der Kriegsfrage dar. Hätte man nicht auf der Annexion bestanden, so wäre der Friede schon seit vielen Monaten geschlossen worden. Ungeheure Verluste an Menschen und Geld wären uns erspart geblieben, und die Lage Deutschlands wäre eine viel günstigere geworden, als sie jetzt sei. Zwei Milliarden damals seien mehr wert gewesen, als heute fünf. Außerdem werde keine Regierung in Frankreich, heiße sie wie sie wolle, den Verlust von Elsaß-Lothringen vergessen dürfen. Frankreich werde nach Bündnissen suchen, und Rußland werde künftig anders zu der Frage stehen. Daß es dem Reichskanzler gelingen werde, Rußland ebenso über den Löffel zu barbieren, wie ihm das mit Napoleon gelungen sei, bezweifelte ich sehr. (Stürmische Heiterkeit.) Sicher sei, daß wir künftig ein viel höheres Militärbudget aufzubringen haben würden, als dieses bei einer vernünftigen Verständigung mit Frankreich unter Verzicht auf die Annexionen der Fall wäre. Wie Napoleon in Frankreich, so werde der Reichskanzler in Deutschland in seiner Politik durch die Bourgeoisie unterstützt. Es seien nur die Arbeiter hüben und drüben gewesen, die allein für den Frieden eingetreten seien. Man sehe jetzt wieder, wie die so viel angegriffene und verleumdete Kommune mit der größten Mäßigung vorgehe. (Große, anhaltende Heiterkeit.) — Die Kommune war seit dem 18. März in Paris proklamiert worden. — Ich sei durchaus nicht mit allen Maßregeln, die die Kommune ergriffen, einverstanden, aber sie sei zum Beispiel der großen Finanz gegenüber mit einer Mäßigung verfahren, die wir vielleicht in einem ähnlichen Falle in Deutschland schwerlich anwenden würden. (Heiterkeit.) Herr v. Kardorff nahm mir gegenüber das Wort, um festzustellen, daß ganz Deutschland ohne Annexion den Frieden nicht gewollt habe, was ich durch heftigen Widerspruch bestritt.

In dieser Session wurde auch der Gesetzentwurf betreffend die Verpflichtung zum Schadenersatz (Haftpflichtgesetzentwurf) bei Unfällen beraten. Ich nahm bei der dritten Lesung das Wort und hob hervor, daß die Hoffnungen, die man in Arbeiterkreisen an das Gesetz geknüpft, einmal schon durch den Regierungsentwurf, nachher aber noch mehr durch die Beschlüsse des Reichstags zunichte gemacht worden seien. Ich wies dieses in längeren Ausführungen nach. Insbesondere kritisierte ich scharf den §4, den Lasker in den Entwurf gebracht hatte, wonach der ganze Betrag der Leitungen aus Versicherungsanstalten, Knappschafts-, Unterstützungs-, Kranken-oder ähnlichen Kassen, wenn zu der Versicherungssumme der Unternehmer mindestens ein Drittel zahle, auf die Gesamtentschädigung einzurechnen sei. Der Unternehmer, der den Nutzen aus der Arbeit des Arbeiters ziehe, sei auch allein verpflichtet, ihn im Falle des Unfalls voll zu entschädigen.

Schließlich verlangte ich, daß bei Feststellung der Entschädigungen aus den Kreisen der beiden beteiligten Parteien Sachverständige in der Form von Geschworenen oder Schöffen hinzugezogen würden, und zwar Unternehmer und Arbeiter in gleicher Stärke. So wie der Gesetzentwurf jetzt vorliege, vermöchte ich nicht für denselben zu stimmen.

Da ich im Reichstag allein stand, Schraps zählte ernsthaft nicht mit, war ich gezwungen, häufiger als sonst in Berlin zu sein, um den Sitzungen beizuwohnen. Nun verlangte aber auch mein Geschäft dringend meine Anwesenheit. Das Unbehagliche dieser Zwitterstellung lastete schwer auf mir und kam in einem Briefe vom 10. Mai an meine Frau zum Ausdruck, der ich schrieb:

„Es ist eine unsäglich langweilige Wirtschaft hier und meine Stellung mir deshalb im höchsten Grade unangenehm. Dieser Widerspruch zwischen meiner Stellung und der Notwendigkeit, im Geschäft auf dem Platze sein zu müssen und zu wollen, ist es, was die schlimme Stimmung erzeugt, die Du und andere an mir bemerkt haben.“

Diejenigen, die mich damals wegen meiner Tätigkeit im Reichstag bejubelten, ahnten nicht, wie mir zumute war.

Am 25. Mai mußte ich wieder ins Feuer. Auf der Tagesordnung stand der Gesetzentwurf betreffend die Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem Reiche; zugleich sollte, zunächst bis zum 1. Januar 1873, die Diktatur in Elsaß-Lothringen aufrechterhalten werden. Wiederum ging ich auf den Verlauf des Krieges ein und auf die Versicherung des Königs von Preußen, daß der Krieg ein Verteidigungskrieg sei. Die Annexion widerspreche dieser Versicherung. Die Annexion bedeute nur eine Stärkung der Hohenzollernschen Hausmacht. In Elsaß-Lothringen werde nur so regiert werden, wie der Kaiser es wolle. Was aber die Diktatur bedeute, hätten wir seinerzeit nach der Annexion von Hannover erlebt, wie ich an Beispielen nachwies. Man habe hier von der französischen Präfektenwirtschaft gesprochen, von der angeblich die Elsaß-Lothringer erlöst werden sollten; die preußische Landratswirtschaft sei aber um kein Haar besser, eher schlimmer. Habe man doch kürzlich einem in Solingen zum Bürgermeister Gewählten die Betätigung versagt, weil er als Beamter die Aktenschwänze nicht in Ordnung gehalten habe. (Große Heiterkeit.) Der Reichskanzler habe neulich in einer Sitzung, der ich nicht beiwohnen konnte, davon gesprochen, man müsse Elsaß-Lothringen die preußische Städtefreiheit bringen. Ja, er habe sogar gesagt, daß die Bestrebungen der Kommune im Grunde darauf hinausliefen, die preußische Städteordnung in Paris einzuführen. Dafür aber zu kämpfen, lohnte nicht die Mühe, denn diese sei keinen Schuß Pulver wert. Habe aber der Reichskanzler recht, dann begriffe ich nicht, wie er in dem Friedensvertrag — der am 10. Mai in Frankfurt beiderseitig ratifiziert worden war — die Bestimmung aufnehmen konnte, wonach der französischen Regierung die gefangenen Armeen zur Niederwerfung der Kommune zur Verfügung gestellt werden sollten. Auch habe er in demselben Friedensvertrag festgesetzt, daß dreißig Tage nach dem Falle der Kommune Frankreich die ersten 500 Millionen Franken Kriegsentschädigung zu zahlen habe. Das sei doch eine seltsame Art, wie er die Kämpfer für die preußische Städteordnung in Paris behandle. Werde aber so von deutscher Seite die Kommune bekämpft, so wolle ich meinerseits erklären, daß das europäische Proletariat hoffnungsvoll auf Paris sehe. Der Kampf in Paris sei nur ein kleines Vorpostengefecht, und ehe wenige Jahrzehnte ins Land gegangen seien, werde der Schlachtruf des Pariser Proletariats: Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggang! der Schlachtruf des europäischen Proletariats sein. Ich schloß meine Rede, indem ich der Hoffnung Ausdruck gab, die elsaß-lothringische Bevölkerung werde, ihrer freiheitlichen Mission bewußt, den freiheitlichen Kampf mit uns in Deutschland aufnehmen, damit endlich die Zeit komme, wo die europäischen Bevölkerungen ihr volles Selbstbestimmungsrecht erlangten, das sie aber nur erreichen könnten, wenn die Völker Europas in der republikanischen Staatsform das Ziel ihrer Begebungen erblicken würden. (Unruhe.)

Fürst Bismarck äußerte im Herbst 1878 bei der Beratung des Sozialistengesetzes, es sei diese meine Rede gewesen, die ihm die Gefährlichkeit des Sozialismus vor Augen führte. Davon war an jenem Tage, an dem ich diese Rede hielt, nichts zu bemerken. Fürst Bismarck nahm unmittelbar nach mir das Wort und begann: Befürchten Sie nicht, daß ich dem Herrn Vorredner antworte; Sie werden alle mit mir das Gefühl teilen, daß seine Rede in diesem Saale einer Antwort nicht bedarf. (Zustimmung.) Das war alles, was er gegen mich äußerte. Auch die folgenden Redner machten es sehr gnädig mit mir, sie erwähnten mich kaum. Dafür ging draußen in der Presse der Lärm um so ärger gegen mich los. Darauf erklärte Liebknecht im „Volksstaat“ kategorisch: Was Bebel gesagt, hat er sagen müssen; es war seine Pflicht, für die Kommune einzutreten! Mitten in dem Toben gegen mich erschien eine Sonntagsplauderei in der „Berliner Börsen-Zeitung“, die in einem ganz anderen, und zwar viel harmloseren Ton gehalten war. Offenbar rührte sie von Stettenheim her, der damals Redakteur der „Berliner Wespen“ war. Ich hatte Stettenheim im Verein „Berliner Presse“ kennen gelernt, den ich manchmal auf Einladung von Robert Schweichel besuchte. Dieses ist auch der Verein, von dem Stettenheim in der Plauderei spricht. Darin hieß es, soweit sie sich auf mich bezieht:

„Berlin ist ruhig!

Die Schüsse, welche man dann und wann hört, bedeuten nicht die Hinrichtung von Insurgenten, es sind Aeußerungen des artilleristischen Examens in Tegel, und der Qualm, welcher den Horizont einhüllt, ist nicht der Rauch flammender Paläste, es ist der Kongreß der verschiedenen Sorten Staubes, welcher aus allen Ecken unserer geliebten Stadt aufsteigt und die Luft von Tauben, Spatzen und anderem Gefieder reinigt.

  Wir teilen dies in aller Eile und aus bester Quelle mit, um ängstliche
  Gemüter, deren Berlin sehr viele zählt, zu beruhigen….

… In der ‚Kreuzzeitung‘ taucht sogar eine Mutter von acht Söhnen auf, welche alle Mitmütter Berlins auffordert, den Kaiser zu bitten, zur Verhütung eines gleich schrecklichen Strafgerichts wie des Pariser alles vernichten und zerstören zu lassen, was Berlin an Anstalten, Aufführungen, Bildern, Büchern usw. besitzt, welche der Moralität unserer Kinder schädlich sein könnten….

… So hat die Rede Bebels gewirkt!

  Wir halten es für unsere Pflicht, Oel in die aufgeregten Wogen der
  Phantasie zu gießen, welche eine Mutter von acht Söhnen an die
  Inseratengestade der ‚Kreuzzeitung‘ schleudert.

Die Rede Bebels war allerdings etwas heftiger Art. Sie unterscheidet sich von gewöhnlichen Tischreden durch Drohungen und Betrachtungen, welche furchtsame Ohren erzittern machen. ‚Krieg den Palästen!‘ klingt etwas ungewöhnlich. Bei einem solchen Ausruf wird bekanntlich vorzugsweise jeder unruhig, der kein Palais besitzt, sondern zur Miete wohnt. Der Palastbewohner von Berlin pflegt sich auf seinen Portier zu verlassen, der sich im Falle mit verdächtigen Besuchern herumbalgt, bis der Schutzmann erscheint und die Uebelwollenden zur Wache führt.

Bebel rief: Krieg den Palästen! Er setzte allerdings hinzu: Friede den Hütten! Das aber ist kein Balsam für das blutende Herz einer Mutter von acht Söhnen…. Friede den Hütten! Was will das sagen?

Es gibt vor allen Dingen gar keine Hütten mehr. Man baut nur noch drei-, vierstöckige Häuser. Wo steht in Berlin eine Hütte? Mit Hüttenfrieden ist wenigen gedient, und Bebel kann ihn versprechen, wie er auch allen, welche Sandalen tragen, Steuerfreiheit versprechen könnte. Steuerfreiheit ist nicht übel, aber wer trägt heute Sandalen?

  Mittags hatte Bebel seine Brandfackel zu Protokoll gegeben, abends
  trafen wir ihn in einem Verein.

  Dieser Verein treibt keine Politik, sondern anderen Unsinn. Man kürzt
  sich die Zeit mit allerlei Gesprächen und Bieren.

  Man denke sich einen robusten Mann mit rötlichem Haar und
  energieträchtiger Nase — das ist Bebel nicht!

Bebel ist eine zierliche Erscheinung. Aus einem hübschen Gesicht strahlen Augen, welche gewiß schon viele Frauenherzen auf dem Gewissen haben. Aber Bebel ist kein Don Juan. Er ist solide, sogar philiströs, am allerwenigsten kokett, hauptsächlich bescheiden. Wir haben bemerkt, daß er das Feuerzeug weit wegschob, weil ihn der Schwefelgeruch augenscheinlich belästigte.

  Und nun fragen wir jede Mutter, ohne von jeder acht Söhne zu
  beanspruchen, wir fragen jeden Berliner Junggesellen, Verlobte, Väter,
  Großväter: Sieht Bebel, welchen man nach seiner Rede für den deutschen
  Haus- und Gebäude-Nero halten möchte, wie seine Rede aus? Wir boten
  Bebel eine Zigarre an.

Ich rauche nicht! sagte Bebel elegant abwehrend.

Sollen wir noch etwas zur Beruhigung der Haupt- und Residenzstadt anführen? Bebel raucht nicht. Bebel zündet keine Zigarre an — und er sollte Paläste anzünden?

Wir haben leider vergessen, ihn zu fragen, ob er abends Oel oder Gas brennt. Wir sind überzeugt davon, daß Bebel kein Petroleum im Hause hat. Und ein solcher Mann sollte — —?

Nein! Bebels Seele ist frei von Petroleum!

Zum Ueberfluß verwickelten wir ihn noch in ein Gespräch über die Paläste und ähnliche Gebäude in Berlin, die er nicht einmal alle kannte, und wiesen vorsichtshalber darauf hin, daß Berlin recht arm an Palästen sei, so daß es gar nicht die Mühe lohnte, einen Krieg gegen sie zu unternehmen. Bebel fiel es augenscheinlich nicht einmal ein, daß wir mit Bezug auf seine Rede also sprachen, das ‚Krieg den Palästen‘ war ihm ohne Zweifel nur so herausgefahren. ‚Was nun die Berliner Hütten betrifft,‘ fuhren wir fort, ‚so ist in erster Linie der Eisbock zu nennen, hinter welchem reichlich unschönen Bauwerk alle anderen Hütten zurückstehen. Würde er verschwinden, so dürfte Berlin kaum bestürzt sein.‘ Bebel hatte höflich zugehört, aber er begriff kaum unsere Andeutung, daß ein ‚Krieg den Hütten‘ uns am Ende, und zwar auf eine einzige beschränkt, viel willkommener wäre als irgend eine andere Demolierung, worin er uns recht zu geben schien, denn ihm gefiel der Eisbock ebensowenig wie irgend einem anderen Sterblichen.

So haben wir also Bebel von seiner Rede zu trennen. In unseren Parlamenten wird manches gesprochen, was sich besser, respektive schrecklicher liest, als es sich einfach ausgeführt denken läßt. Erinnern sich unsere geehrten Leser gefälligst der Dreizackrede des Abgeordneten Ziegler: ‚Der Kultusminister muß fort von seinem Platz!‘ Herr v. Mühler saß dabei und zuckte die Achsel. Heute noch sitzt er ‚aufrecht auf der Matte‘.

Bebel ist der Ziegler der Paläste!

Ziegler ist der Bebel des Kultusministers.“

Die Ausführungen, die ich in den hier von mir zitierten Reden über die Pariser Kommune machte, werden einem sehr erheblichen Teile meiner Leser unverständlich sein. Ein Teil derselben weiß überhaupt nicht, was die Kommune war, ein anderer Teil ist in Vorurteilen befangen durch das, was er gegen die Kommune las, nur der kleinste Teil kennt die Geschichte der Kommune. Unsere Stellung zu derselben spielte aber in den Kämpfen — insbesondere in den Wahlkämpfen der siebziger und achtziger Jahre — eine große Rolle. Ich mußte sogar noch in den neunziger Jahren unsere Stellung zur Kommune im Reichstag verteidigen.

Im März 1876 hatte ich in Leipzig eine große Disputation mit dem Hauptagitator der Leipziger Nationalliberalen Bruno Sparig, auf die ich an geeigneter Stelle zurückkommen und meine damaligen Ausführungen über die Kommune zum Abdruck bringen werde.

* * * * *

Der Reichstag wurde gegen Ende Mai 1871 geschlossen. Zu Hause angekommen, machte ich die Bekanntschaft von Johann Most, der nach seiner Amnestierung aus Oesterreich ausgewiesen worden und nach Leipzig gekommen war. Nach seiner Haftentlassung wurde sein Brief bekannt, den er an seinen Vater geschrieben hatte, der in Augsburg, irre ich nicht, Beamter bei einer Kirchenstiftung war. Der Vater hatte versucht, den Sohn von seinen „Irrwegen“ abzubringen.

Most hatte darauf am 13. Januar 1871 unter anderem geantwortet:

„Ich versichere es Ihnen: Wenn Sie mir eine Stelle mit einem Monatsgehalt von 1000 Gulden offerierten und ich einer mir gesinnungsfeindlichen Partei dienen sollte, und wenn mir andererseits von seiten meiner Parteigenossen nur trockenes Brot entgegengehalten würde, so würde ich, ohne mich zu besinnen, nach dem trockenen Brote greifen.“

Dieser Brief spricht sehr zugunsten von Mosts Charakter. Was er schrieb, war seine ehrliche Ueberzeugung, denn Most war im Grunde eine vortrefflich angelegte Natur. Wenn er später unter dem Sozialistengesetz immer mehr auf Abwege geriet, Anarchist und Vertreter der Propaganda der Tat wurde, ja schließlich sogar, er, der immer ein Muster von Enthaltsamkeit war, als Trunkenbold in den Vereinigten Staaten endete, so legte den Grund zu dieser schlimmen Entwicklung das Sozialistengesetz, das ihn wie so viele andere außer Landes trieb. Wäre Most unter dem Einfluß von Männern geblieben, die ihn zu leiten und seine Leidenschaftlichkeit zu zügeln verbanden, die Partei hätte in ihm einen ihrer eifrigsten, opferwilligsten und unermüdlichen Kämpfer behalten. Er hat später als Redakteur der von ihm gegründeten „Freiheit“ — die erst in London, nachher in New York erschien — mich oft heftig angegriffen. Noch schlimmer als mich behandelte er Ignaz Auer und Liebknecht. Aber dennoch ist mir leid, daß er, der gut Veranlagte, so elend zugrunde ging.

Most wurde in Leipzig nach wenigen Tagen seiner Anwesenheit ebenfalls ausgewiesen. Er ging nach Chemnitz, woselbst er Redakteur der „Chemnitzer Freie Presse“ wurde und den großen Metallarbeiterstreik leitete, der im Hochsommer 1871 zum Ausbruch kam.

* * * * *

Die Partei hatte sich von den Wirkungen der Kriegszeit rasch erholt. Die glänzende industrielle Prosperitätsperiode, die jetzt begann, kam der Bewegung zustatten. Daß die deutsche Frage einen Abschluß erlangt hatte, der, wenn er auch uns nicht gefiel, zunächst keine Aussicht auf Aenderung bot, beseitigte verschiedene Differenzpunkte, die bisher zwischen den streitenden Arbeiterparteien bestanden. Das Schlachtfeld wurde übersichtlicher und vereinfachter. In der Eisenacher Partei, wie unsere Partei kurz genannt wurde, erschienen in Bälde eine Anzahl Parteiorgane. So neben den Blättern in Crimmitschau und Chemnitz solche in Braunschweig, wo der unermüdliche, immer opferbereite Bracke den „Volksfreund“ ins Leben rief und eine eigene Druckerei gründete, ferner in Hamburg-Altona, Dresden, Nürnberg, Hof, später in München und Mainz. Dagegen ging der „Proletarier“ in Augsburg Mitte Juni ein.

Der erste deutsche Webertag.

Die Prosperitätsepoche, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg einsetzte, stimulierte die Arbeiterkreise zur Gründung neuer und Ausdehnung der vorhandenen gewerkschaftlichen Organisationen. Ein solches Bedürfnis machte sich auch unter der Weberbevölkerung geltend, deren Lage eine besonders gedrückte war. Aus meinem Wahlkreis wurde die Anregung zu einem deutschen Webertag gegeben, der vom 28. bis 30. Mai 1871 in Glauchau tagte. Derselbe war von 147 Delegierten besucht, die 134 Mandate aus 85 Orten zu vertreten hatten. Unter den Delegierten befand sich auch der spätere Reichstagsabgeordnete Harm-Elberfeld, der damals im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein stand. An Stelle von Motteler, der eine notwendige Geschäftsreise zu unternehmen hatte, war mir das Referat über die drei Fragen übertragen worden: 1. Wie ist es gekommen, daß in der Weberei die Löhne so gedrückt sind? 2. Wie sind sie zu heben? 3. Wie sind sie den Zeitverhältnissen entsprechend zu erhalten? Im Laufe des Vortrags wies ich darauf hin, daß durch die Annexion von Elsaß-Lothringen mit seiner hochentwickelten Baumwollspinnerei und -weberei den gleichen deutschen Industriezweigen eine gewaltige Konkurrenz erwachsen dürfte, die zweifellos auch eine revolutionierende Wirkung auf die Art der bisherigen Produktionsweise in Deutschland (weite Verbreitung der Hausweberei) ausüben werde. Glauchauer Kaufleute, die als Zuhörer anwesend waren und damals durch ihre Faktoren in der Hausweberei arbeiten ließen, hörten diese Ausführungen mit Kopfschütteln an. Als ich aber nach langer Haft im Jahre 1875 in meinen Wahlkreis zurückkehrte, wurde mir allseitig die Richtigkeit meiner Ausführungen bestätigt. Davon überzeugte mich auch der Anblick der Städte in meinem Wahlkreis, in denen in wenig Jahren die Fabriken wie Pilze aus dem Boden gewachsen waren. Ich empfahl, mit den elsaß-lothringischen Webereiarbeitern Fühlung zu nehmen. Weiter beantragte ich Resolutionen, die ein Verbot der Kinderarbeit in den Fabriken und die gesetzliche Einführung eines zehnstündigen Normalarbeitstags verlangten, die einstimmig angenommen wurden. Ferner wurde gegen zwei Stimmen die Abschaffung der Sonntagsarbeit zu fordern beschlossen. Eine andere von mir eingebrachte Resolution, die nach lebhaften Erörterungen ebenfalls Zustimmung fand, betraf die Arbeitseinstellungen, und lautete:

„Der allgemeine deutsche Webertag empfiehlt allen Fachgenossen, bei Organisierung von Streiks mit der größten Vorsicht vorzugehen und unter keinen Umständen eine Arbeitseinstellung vorzunehmen, wenn nicht die Gewißheit vorhanden ist, daß durch genügende Mittel und Unterstützung der Erfolg gesichert ist.“

Bezüglich der Schiedsgerichte schlug ich folgende Resolution vor:

„Der erste allgemeine deutsche Webertag erachtet es für wünschenswert, daß sich Schiedsgerichte bilden, die zu gleichen Teilen aus Arbeitern und Arbeitgebern bestehen, um Differenzen, durch die ein Streik droht, auf gütlichem Wege auszugleichen.“

Schließlich wurde ein Komitee von fünf Personen niedergesetzt (Sitz Glauchau), das die Agitation und Organisation der Fachgenossen in die Hand nehmen und regelmäßig Zirkulare herausgeben sollte mit fachgenössischen Mitteilungen. Es fand auch ein zweiter Webertag in Berlin statt, und eine Anzahl Zirkulare wurden ebenfalls herausgegeben, dann aber brach die Bewegung wieder zusammen.

Weiteres aus Sachsen.

Zum 14. Juni 1871 hatten wir in Leipzig eine Volksversammlung einberufen mit der Tagesordnung: „Die hohen Kommunalsteuern und die städtische Verwaltung“. Leipzig hatte seit 1848 keine solche Beteiligung gesehen wie bei dieser Versammlung. Eine wahre Völkerwanderung begann nach dem Versammlungslokal, das, obgleich es 5000 Köpfe faßte, kaum den dritten Teil der Besucher aufnehmen konnte. Die Versammlung war eine Antwort auf die heftigen Angriffe, welche die Leipziger Presse gegen unsere Partei und speziell gegen mich wegen meines Auftretens im Reichstag inszeniert hatte. Ich ging mit der Stadtverwaltung streng ins Gericht. Die von mir vorgeschlagenen Resolutionen tadelten das Steuersystem, das die kleinen Leute zugunsten der Wohlhabenden ungerecht belaste, sie tadelten ferner die Verwendung der Gemeindesteuern, die hauptsächlich im Interesse der besitzenden Klasse erfolge, und forderten, da diese Wirtschaftsweise nur durch das begehende Klassenwahlgesetz möglich sei, die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts. Die Versammlung nahm unter stürmischem Beifall meine Vorschläge gegen drei Stimmen an. Die liberale Presse tobte.

Jetzt begann auch die Aera der Verfolgungen in Sachsen. Im Juli wurde Vahlteich, der als Stellvertreter für Hirsch am „Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund“ eingetreten war, als letzterer die Redaktion des „Volksstaat“ übernahm, wegen Majestätsbeleidigung durch die Presse zu drei Monaten Festungshaft verurteilt. Kurz darauf erhielt Karl Hirsch wegen desselben Deliktes vier Monate Festungshaft.

Den 3. August eröffnete die Staatsanwaltschaft Liebknecht, Hepner und mir, daß sie gegen uns die Anklage auf Vorbereitung zum Hochverrat erheben werde, außerdem gegen Liebknecht wegen Majestätsbeleidigung. Am 27. September beschloß die Anklagekammer, dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattzugeben. Die von uns hiergegen eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde bei dem Oberappellationsgericht in Dresden wurde am 10. November verworfen.

Der Dresdener Parteikongreß.

Derselbe war auf den 12. bis 14. August 1871 berufen worden. Er war von 56 Delegierten besucht, die 6220 Parteigenossen aus 75 Orten zu vertreten hatten. Ich wurde erster, Bracke zweiter Vorsitzender. Die Tagesordnung war interessant und die Verhandlungen wurden sehr lebhafte. In der Eröffnungsrede konstatierte ich mit Genugtuung, daß der Kongreß in der Hauptstadt desjenigen Landes tage, in dem die Sozialdemokratie am heftigsten verfolgt würde, was ihr keinen Schaden tun werde. Die „Berliner Volkszeitung“, die zu jener Zeit unter ihrem Redakteur Bernstein der Partei besonders feindlich gesinnt war, führte Klage darüber, daß der Leipziger Untersuchungsrichter uns (Liebknecht, Hepner und mir) die Beteiligung am Kongreß nicht verboten habe, was er nicht konnte. Bork war Referent über den gesetzlichen Normalarbeitstag. Er hielt eine gute Rede und befürwortete eine Resolution, in der ein gesetzlicher Normalarbeitstag von höchstens zehn Stunden gefordert wurde. Ich referierte über die Forderung der Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für die Landtags- und Gemeindewahlen, Bracke über das neue Haftpflichtgesetz. Er schlug eine Resolution vor, durch die der Reichstag getadelt wurde, der das Gesetz in durchaus unbefriedigender Weise verabschiedet habe. Ueber die politische Stellung der Sozialdemokratie referierte an Liebknechts Stelle, der vorläufig abgehalten war zu kommen, Most. Die Verhandlungen hierüber führten zu heftigen Szenen. Der überwachende Polizeikommissar verlangte im Namen seiner vorgesetzten Behörde, ich solle dem Referenten mitteilen, daß er sich aller und jeder Abschweifung auf die Pariser Kommune zu enthalten habe. Das lehnte ich ab. Für Most war dieser Zwischenfall Wasser auf die Mühle. Er sprach zwar kurz, dafür aber um so schärfer. Man mache den Versuch, äußerte er, ihm einen moralischen Maulkorb vorzuhängen. Dinge, die in der ganzen Welt, selbst bei den Chinesen, diskutiert würden, wolle man uns verbieten zu erörtern. Dabei seien wir fortgesetzt wegen unserer Haltung Gegenstand der heftigsten Angriffe und der niedrigsten Verleumdungen. Und nachdem wir so von allen Seiten mit Schmutz besudelt und mit Steinen beworfen würden, wolle man uns verwehren, unseren Standpunkt darzulegen. (Stürmischer Beifall.) Der Kommissar suchte geltend zu machen, daß sich das Verbot nur auf Aeußerungen über die Kommune beziehe. Das war aber für uns der Punkt, auf den es uns ankam, wir wollten unseren Standpunkt gegenüber der Kommune darlegen.

Nach Most nahm ich das Wort. Mir scheine, daß die Art, wie die Behörden sich in unsere Verhandlungen einmischten und sie zu beeinflussen suchten, eines sozialdemokratischen Kongresses unwürdig sei. (Stürmischer, minutenlanger Beifall.) Mir sei nicht bewußt, daß Urteile über die Pariser Kommune abzugeben ungesetzlich sein sollte. Indes wüßten ja die Anwesenden alle, wie wir zur Kommune stünden. Wir seien leider dem Vorgehen der Behörden gegenüber machtlos, wir könnten nur dagegen protestieren. Ich schlage vor, da es unserer unwürdig sei, unter den uns auferlegten Beschränkungen zu debattieren, daß der Referent auf das Wort verzichte und wir ohne Debatte über die vorgelegte Resolution abstimmten. Es sei ein trauriges Zeichen der Zeit, daß jetzt, nachdem die offiziellen Aktenstücke über die Kommune bekannt geworden und festgestellt sei, daß das seit Monaten gegen die Kommune Gesagte Lüge, Verleumdung, Unwahrheit sei (Stürmischer Beifall), man uns verbieten wolle, diese Kampfweise an den Pranger zu stellen.

Most erklärte, er wäre um so mehr mit meinem Vorschlag einverstanden, da die Zeit schon weit vorgeschritten sei. Er nehme an, daß alle mit ihm einverstanden seien, wenn er erkläre: Wenn die Reaktion sich international verbindet, dann muß sich selbstverständlich die Revolution ebenfalls international verbinden. (Stürmischer Beifall.) Er schloß:

  „Seht wie von Osten hin nach West
  So hell die Flamme loht;
  Wir halten treu, wir halten fest,
  Denn unsre Fahn' ist rot.“

Stürmischer, langanhaltender Beifall folgte seinen Worten. Dann ließ ich über die Resolution abstimmen, die lautete:

„Der Kongreß erklärt seine volle Zustimmung zu der Haltung des Parteiorgans ‚Volksstaat‘ gegenüber den politischen und sozialen Fragen des vergangenen Jahres. Insbesondere billigt der Kongreß den durch den ‚Volksstaat‘ unterhaltenen geistigen Zusammenhang der deutschen Sozialdemokratie mit der Internationalen Arbeiterassoziation.“

Die Resolution fand einmütige Zustimmung. Die weiteren Verhandlungen des Kongresses beschäftigten sich mit den inneren Angelegenheiten der Partei: Bericht des provisorischen Parteiausschusses und der Kontrollkommission, Anträge über Statutenänderung usw. Der Bericht über den „Volksstaat“ ergab, daß derselbe 4020 Abonnenten und eine Schuld von 1675 Taler hatte. Hierbei ist zu beachten, daß die Gründung der Lokalblätter an den Orten mit der besten Parteiorganisation notwendig der Verbreitung des „Volksstaat“ sehr hinderlich war. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet war der Stand des Blattes ein erfreulicher. Heinrich Scheu, der in Stuttgart seinen Wohnsitz genommen hatte, dann aber aus ganz Württemberg ausgewiesen worden war, tadelte scharf die Liebäugelei unserer Parteigenossen in Württemberg mit der Volkspartei, was den schlechten Ausfall der Reichstagswahlen für unsere Partei dort verschuldet habe und überhaupt die Unklarheit in der Partei fördere. Es wurde ein Antrag der Ronsdorfer Parteigenossen angenommen, lautend: „Bei den Reichstagswahlen sind nur solche Kandidaten zu unterstützen, die als Mitglieder unserer Partei eventuell den anderen sozialdemokratischen Parteien angehören.“ Weiter wurde auf Antrag Metzner und Josewicz beschlossen: Der Pariser Kommune unsere Anerkennung ohne Debatte durch Erheben von den Plätzen auszusprechen. Schließlich beschäftigte man sich mit der Frage, wie am zweckmäßigsten die Agitation und Organisation unter den Landarbeitern betrieben werden könne. Auf meinen Antrag beschloß der Kongreß die Gründung einer Genossenschaftsdruckerei in Leipzig auf Grund des sächsischen Genossenschaftsgesetzes, das die beschränkte Hast zuließ. Als Sitz des Parteiausschusses wurde Hamburg, als Sitz der Kontrollkommission Berlin, als nächster Kongreßort Mainz gewählt. Nach einem Dank an das Bureau des Kongresses und das Dresdner Lokalkomitee wurde der in höchst befriedigender Weise verlaufene Kongreß geschlossen.

Kurz nach dem Dresdener Kongreß wurden die ersten Frauenversammlungen in Leipzig, Chemnitz usw. abgehalten und bildete sich in Chemnitz die erste Frauenorganisation. In Berlin gingen Anhänger des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in der gleichen Richtung vor.

Die zweite Session des deutschen Reichstags.

Die Session begann im Oktober 1871. Ende desselben stand die erste Lesung über den Etat für 1872 auf der Tagesordnung. Das Etatsjahr begann damals mit dem 1. Januar. Die Abgeordneten Lasker und Richter hatten vor mir gesprochen. Ich polemisierte gegen beide. Der Abgeordnete Lasker habe früher einmal gegen mich ausgeführt, eine starke Regierung brauche nicht notwendig reaktionär zu sein. Der Beweis dafür sei aber in Deutschland geliefert, wo die Regierung stark, das Parlament aber schwach sei. Alle Beschlüsse des Reichstags, die dem Reichskanzler nicht paßten, wanderten in den Papierkorb, und seien diese Beschlüsse auch noch so berechtigt. So werde es auch mit dem Verlangen des Abgeordneten Richter gehen, der die Abschaffung der Salzsteuer fordere, sobald Frankreich seine letzte halbe Milliarde Kriegskosten bezahlt habe. Das werde nach dem Friedensvertrag in zwei Jahren der Fall sein. Mittlerweile werde aber der Reichskanzler wieder aufs neue dilatorische Verhandlungen begonnen haben und wir stünden vor einem neuen Kriege. — Tatsächlich standen wir 1875 nahe vor einem solchen. — Die Salzsteuer werde nicht abgeschafft werden, weder jetzt noch in zwei Jahren. Auch werde die gewünschte Ermäßigung des Militäretats nicht eintreten. Der Abgeordnete Lasker habe unrecht, dem Abgeordneten Greil vorzuwerfen, es sei eine falsche Auffassung seinerseits, daß man im Volke geglaubt habe, nach der Gründung des Reiches würden die Militärlasten vermindert werden. Dieser Glaube sei allerdings vorhanden gewesen und er sei durch die Liberalen vertreten worden. Diesen Glauben hätte ich allerdings nie geteilt. Schon die wachsenden Klassengegensätze, die aus der zunehmenden kapitalistischen Entwicklung resultierten, würden es verhindern, die stehende Armee zu vermindern, und darüber hätten auch die Ausführungen des Abgeordneten Lasker keinen Zweifel gelassen. Es sei aber irrig, wenn Lasker glaube, die stehende Armee unter allen Umständen als Stütze der bestehenden Ordnung der Dinge ansehen zu können. Frankreich habe auch eine große Armee gehabt, aber die Entstehung der Kommune habe diese nicht verhindert. Außerdem vermehre sich das Proletariat weit rascher, als die stehende Armee vermehrt werden könne, und außerdem steige mit der Vermehrung der Armee auch das sozialistische Element in derselben, da das industrielle Proletariat einen immer größeren Bruchteil derselben bilde. Trotz alledem würden die Liberalen ihre Hoffnung auf die Armee setzen und jede Forderung für dieselbe bewilligen.

Am 8. November wurde über einen Antrag Büsing in dritter Lesung verhandelt, der verlangte, daß in jedem Bundesstaat eine aus Wahlen hervorgegangene Volksvertretung bestehen müsse. Dieser Antrag war in zweiter Lesung angenommen worden. Ich erklärte zu demselben, daß ich heute mit den Konservativen und dem Zentrum gegen den Antrag stimmen würde, auf die Gefahr hin, daß man wieder von einer Kooperation der Schwarzen mit den Roten spreche. Früher hätten wir uns gegen Kompetenzerweiterungen des Bundes ausgesprochen, in der Hoffnung, in den Mittel- und Kleinstaaten werde man sich etwas freier bewegen können. Das sei eine Täuschung gewesen, was man zum Beispiel gegen uns in Sachsen leiste, könnte nicht leicht überboten werden. Wenn daher der Reichskanzler die gesamten Mittel- und Kleinstaaten in die Tasche stecken wollte, hätten wir nichts dagegen, mit dem einen würden wir nachher auch fertig. (Gelächter.) Ich stimmte gegen den Antrag, weil er inhaltlos sei. Was heiße das: in jedem Bundesstaat müsse eine aus Wahlen hervorgegangene Vertretung bestehen. Aus welchen Wahlen? Etwa nach dem Dreiklassenwahlsystem in Preußen? Von den heutigen einzelstaatlichen Vertretungen als Volksvertretungen zu reden, sei Schwindel. (Gelächter und große Unruhe.) Man habe davon gesprochen, der Reichskanzler sei seit 1866 konstitutioneller geworden. Das sei nicht wahr. Die liberalen Parteien seien nachgiebiger geworden, das sei des Pudels Kern. (Große Unruhe.) Man habe eine Reichsverfassung geschaffen, wie sie reaktionärer nicht sein könne. (Gelächter.) Das sei Scheinkonstitutionalismus, nackter Cäsarismus. Der Präsident Simson, der schon lange nervös geworden war, unterbrach mich und drohte, wenn ich so fortfahren würde, sich vom Hause autorisieren zu lassen, daß er mir die Fortsetzung der Rede untersage. (Lebhafte Zustimmung.) Dazu hatte er nach der Geschäftsordnung keinen Funken Recht. Ich protestierte also gegen seine Drohung und fuhr fort, auszuführen, daß wenn die mecklenburgische Verfassung etwa ebenso schlecht sein sollte…. Abermalige Unterbrechung durch den Präsidenten. Er habe die Grenzen der Redefreiheit weit gezogen, aber gegen eine Verfassung, unter der wir lebten, so zu reden wie ich, überschreite alle Grenzen. Er drohte abermals mit der Wortentziehung. Ich protestierte aufs neue und berief mich darauf, daß die Opposition — zu der damals auch Simson gehörte — in der preußischen Konfliktszeit viel schärfer geredet habe als ich heute. Der Präsident erwiderte, was damals geschehen sei, gehe ihn nichts an, was jetzt gesagt werden dürfe, bestimme er.

Abermaliger Protest von meiner Seite. Ich charakterisierte dann den Humbug des Scheinkonstitutionalismus, was eine solche Verfassung für einen Wert habe? Ich hätte keine Neigung, den paar Dutzend Verfassungen in Deutschland, die nicht das Papier wert wären, auf dem sie geschrieben ständen, noch eine neue hinzuzufügen.

Der Präsident geriet abermals in Aufregung. Ob ich mit dieser Charakterisierung auch die Reichsverfassung gemeint habe? Ich hätte nicht nötig gehabt, auf diese Frage zu antworten, dennoch erklärte ich, daß ich allerdings auch die Reichsverfassung mit darunter verstanden habe. (Große Unruhe.) Darauf erbat sich der Präsident die Ermächtigung vom Hause, mir das Wort zu entziehen. Die Mehrheit stimmte zu.

Nach mir kam die Parlamentsanstandsdame, der Abgeordnete Lasker, zum Worte. Ihm zufolge hatten wir im Reichstag und im Reiche das denkbar höchste Maß von Rede- und Preßfreiheit. Das sei uns alles nicht genug, wir wollten mit roher Gewalt alles durchsetzen und uns über die Gesetze stellen. (Ich unterbrach den Redner durch Zurufe, der Präsident verwies mich zur Ordnung.) Ich sollte nur nicht glauben, daß man eine Armee von 400000 Mann hielte, um meine Bestrebungen zurückzuweisen. Das würden die Bürger allein besorgen. Er hatte hier hinzugefügt: indem sie uns mit Knüppeln totschlügen. Diesen Satz hatte er nachher im Stenogramm gestrichen. Der deutsche Bürger sei weit mutiger als der französische, ich sei ein Phantast, zu glauben, daß wir unser Ziel erreichen könnten.

Ich nahm am Schlusse der Sitzung zu einer persönlichen Bemerkung das Wort, um darauf hinzuweisen, daß der Präsident die Beleidigung, ich sei ein Phantast, nicht gerügt habe. Ich glaubte, der Abgeordnete Lasker sei mehr Phantast als ich. Geprahlt hätte ich auch nicht, daß das deutsche Volk hinter uns stehe. Ich wüßte, daß wir noch eine kleine Minderheit seien, stünde das Volk hinter uns, dann säßen der Abgeordnete Lasker und seine Freunde nicht in diesem Hause. (Große Heiterkeit.) Des weiteren habe der Abgeordnete Lasker sich gegen meine Partei Denunziationen erlaubt. Was er über die Kommune gesagt, darüber würde ich mich mit ihm ein anderes Mal auseinandersetzen. Der Abgeordnete Wiggers hatte ebenfalls gegen mich polemisiert. Mit meiner Ablehnung ihres Antrags spräche ich mich für den bestehenden Zustand in Mecklenburg aus. Ich antwortete, das sei ein Irrtum, er habe überhört, daß ich mich für die Annexion von Mecklenburg an Preußen ausgesprochen habe, da sei doch ihm und seinen Mecklenburger Parteigenossen auf einmal geholfen. (Heiterkeit.)

Am folgenden Tage nahm ich vor Eintritt in die Tagesordnung zu einer Erklärung das Wort. Das Haus habe mir gestern auf Verlangen des Präsidenten im Namen der Ordnung das Wort entzogen. Das Haus habe aber selbst die Ordnung aufs schwerste verletzt. Ich wies dieses an dem Wortlaut der Geschäftsordnung nach. Mir hätte nur das Wort entzogen werden können, nachdem der Präsident mich ausdrücklich zweimal zur Ordnung gerufen habe. Das sei nicht geschehen. Die vorgekommenen Unterbrechungen meiner Rede durch den Präsidenten seien keine Ordnungsrufe gewesen. Er hätte mir deutlich sagen müssen: Ich rufe Sie zur Ordnung! Nachdem der Präsident die vorgeschriebene Regel nicht beobachtet habe, sei auch der Beschluß des Hauses vollständig unberechtigt und deshalb nichtig.

Den Präsidenten brachte mein Einspruch aus dem Gleichgewicht, er wußte genau, daß er und das Haus ein Unrecht an mir begangen hatten. Er spitzte jetzt die Frage darauf zu, ob er bei einem Ordnungsruf die Formel gebrauchen müsse: Ich rufe den Redner zur Ordnung. Er sei nicht dieser Meinung; sei ich anderer Ansicht, so wolle er den Fall der Geschäftsordnungskommission überweisen.

Darauf erklärte ich, daß ich meine Auffassung über das Verfahren des
Präsidenten und des Hauses aufrechterhalten müsse. Es läge kein
Ordnungsruf vor, da eine bloße Unterbrechung des Redners durch den
Präsidenten nie als Ordnungsruf gegolten habe. Er möchte die Frage der
Geschäftsordnungskommission überweisen. Dazu erklärte sich Simson
bereit.

Diese Vorgänge hatten großes Aufsehen hervorgerufen und fast die gesamte Presse trat auf meine Seite. Der Präsident und der Reichstag hätten mir unrecht getan. Der Reichstag werde nervös und verliere die sachliche Urteilsfähigkeit, sobald ich spräche, äußerte ein liberales Blatt. Die „Elberfelder Zeitung“ hatte einige Tage vorher geschrieben: Der Vertretungskörper des deutschen Volks habe bei all seinen Vorzügen doch die Schwäche, den fremden Tropfen Blut in seinen Adern mit allzu wenig Geduld zu ertragen. Man solle die Spektakelsucht einzelner Reichstagsmitglieder durch die engsten gesetzlichen Schranken eindämmen, aber über die Grenzlinie des gesetzlich Erlaubten soll man nicht ein Haar breit gehen…. Am Mittwoch seien aber die gesetzlichen Formen ohne allen Zweifel vom Präsidenten und vom Hause selbst verletzt worden, und auch heute sei Lasker im Unrecht gewesen.

Als dann der stenographische Bericht über die Sitzung vom 8. November vorlag, nahm ich abermals vor der Tagesordnung das Wort. Der Abgeordnete Lasker wollte laut stenographischem Bericht in jener Sitzung gesagt haben, so würde der redliche und besitzende Bürger mit eigener Macht sie (uns) niederschlagen. Diese Stelle sei eine Fälschung der Rede; er habe gesagt: mit Knüppeln sie totschlagen. Er, Lasker, werde sich zwar sehr hüten, an die Spitze der redlichen Bürger, mit einem Knüppel bewaffnet, sich zu stellen, aber die Aeußerung sei gerade für ihn interessant, der sich mir gegenüber stets, und auch wieder in der erwähnten Sitzung, als Vertreter von Anstand und Sitte hingestellt und im Namen der Zivilisation gegen mich gesprochen habe. Da der Vizepräsident, der Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst — der spätere Reichskanzler —, mich unterbrach und mich nicht weiterreden lassen wollte, kam ich auch mit diesem in Konflikt.

Lasker nahm alsdann das Wort, um in einer Rede voll sittlicher Entrüstung mich als Ausbund alles Schlechten hinzustellen, gab aber zu, daß es ihm darum zu tun gewesen sei, seine Worte abzuschwächen. Ich antwortete, es komme nicht darauf an, was er (Lasker) habe sagen wollen, sondern was er gesagt habe, und das müsse unter allen Umständen in den stenographischen Bericht. Ich wandte mich dann gegen seine Ausführungen über die Kommune, auf die er wieder zu sprechen gekommen war. Ich verteidigte die Kommune und wies darauf hin, daß jetzt selbst die liberale Presse eine ganze Reihe angeblicher Schandtaten habe richtig stellen müssen, deren sie vorher die Kommune beschuldigt habe. Das Haus wurde wieder nervös, man unterbrach mich und gebrauchte die stärksten Schimpfworte gegen mich, ohne daß der Präsident ein Wort des Tadels hatte.

Am 22. November war endlich der große Tag, an dem die Streitfrage zwischen dem Präsidenten und mir ihre Erledigung finden sollte. Die Geschäftsordnungskommission hatte sich ihre Aufgabe sehr leicht gemacht. Der Präsident hatte ihr die Frage unterbreitet, ob er bei einem Ordnungsruf sagen müsse: ich rufe den Redner zur Ordnung. Der Präsident hatte auch mich für diese Formel einfangen wollen, indem er mir seinen Antrag zur Mitunterschrift unterbreiten ließ. Ich verweigerte die Unterschrift. Die Fragestellung war eine total falsche und ebenso die Antwort der Kommission, denn der Präsident brauchte nicht gerade die erwähnte Formel zu gebrauchen, um einen Redner zur Ordnung zu rufen. Das Mitglied der Fortschrittspartei Klotz-Berlin war Berichterstatter der Kommission. Gegen die grundfalsche Stellung derselben nahm zunächst der Zentrumsabgeordnete Greil-Passau das Wort und stellte sich auf meine Seite. Nach ihm kam der sächsische Generalstaatsanwalt Dr. v. Schwarze und verteidigte den Beschluß der Kommission. Alsdann kam ich zum Wort. Ich zerpflückte unbarmherzig den Kommissionsbeschluß. Ich hätte nicht behauptet, der Präsident müsse unter allen Umständen bei einem Ordnungsruf die Worte gebrauchen: Ich rufe den Redner zur Ordnung! Er könne auch sagen: Ich sehe mich genötigt, den Abgeordneten Soundso zur Ordnung zu rufen! Und so gebe es noch viele Formen. Entscheidend sei, daß der Redner und das Haus wisse, daß der Ordnungsruf erteilt wurde. Das sei bei mir nicht der Fall gewesen. Dann zitierte ich aus einer Rede Simsons vom 10. Februar 1866. Er habe damals geäußert: daß die Freiheit der Rede gemißbraucht werden könne und häufig gemißbraucht werde, daß vielleicht nicht viele unter uns seien, die sich von einem solchen Vorwurf freisprechen könnten — was ändere das? Habe nicht Niebuhr die Wahrheit ausgesprochen: Was nicht gemißbraucht werden kann, das taugt nichts? Simson habe in jener Rede die Regierung also angeklagt: Die Regierung sei schlechterdings unverträglich mit allem, was der Freiheit auch nur entfernt ähnlich sehe; sie könnte nicht mit einer freien Presse regieren; sie könnte nicht regieren ohne Einfluß auf die Zusammensetzung der Gerichte und sollte dadurch das Ansehen der Justiz im Lande untergraben werden; sie könnte nicht regieren ohne Beeinflussung der Wahlen und sollte das Wahlresultat das Gegenteil von dem sein, was im Volke an Ueberzeugungen lebe; sie könnte nicht regieren mit einer freien Kommunalverwaltung; sie könnte schließlich nicht regieren mit einem Hause, in dem durch den Artikel 84 die Redefreiheit walte!

Ich fragte, wie der Präsident sein Verhalten mir gegenüber mit seiner Rede vom 10. Februar 1866 in Einklang bringen wolle. Bismarck habe einmal geäußert: Man muß den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus tot machen. Das Haus sei auf dem besten Wege, durch sein Verhalten mir gegenüber dieses Wort wahr zu machen. Nach mir kam der Diplomat Windthorst zum Wort, der einen seiner berühmten Eiertänze aufführte. Die Geschäftsordnung sei angeblich nicht klar genug; schließlich beantragte er die Zurückweisung der Angelegenheit an die Kommission, um die betreffenden Vorschriften einer Revision zu unterziehen. Er schloß: Ich stimme weder für noch gegen Simson, noch für oder gegen Bebel. Auch die Redner der Fortschrittspartei, Freiherr v. Hoverbeck und Franz Duncker, waren weder warm noch kalt. Duncker sprach sich für den Windthorstschen Antrag aus, Hoverbeck dagegen; er glaubte nichts Besseres tun zu können, als Steine auf mich zu werfen. Der Antrag Windthorst wurde schließlich angenommen. Der alte Ziegler war tief ergrimmt über das Schauspiel, das der Reichstag und speziell seine Partei bot. Sobald der Beschluß gefaßt worden war, kam Ziegler bebend vor Zorn zu mir an meinen Platz und sagte: „Hören Sie, Bebel, wir sind allesamt Sch——, bekommen Sie die Gewalt in die Hand, so hängen Sie uns samt und sonders an die Laterne.“ Ich versprach ihm mit lachendem Munde, gegebenen Falles seinen freundlichen Rat zu befolgen. Den Beschluß des Reichstags faßte Simson als ein Mißtrauensvotum auf. Er legte das Präsidium nieder. Natürlich wurde er wiedergewählt.

Diese Vorgänge wie überhaupt mein Verhalten in den letzten drei Sessionen hatten mir eine große Popularität in den Arbeiter- und den demokratischen Bürgerkreisen verschafft. Letztere gab es damals noch. Es war zum Beispiel in Berlin eine ziemlich starke Gruppe meist gut gestellter Bürger, die in Johann Jacoby ihr Ideal sahen und mit uns sympathisierten. Sie gruppierten sich um Dr. Guido Weiß, den Redakteur der von ihm vorzüglich geleiteten „Zukunft“, eines großen demokratischen Tageblatts, das die vermögenden Jakobyten — wie wir die speziellen Anhänger Jacobys kurz nannten — im Jahre 1867 gegründet hatten, aber wegen zu großer Opfer, die das Blatt erforderte, im Frühjahr 1871 eingehen lassen mußten. Zugehörige dieser Gruppe waren William Spindler, der Sohn des Gründers des großen Färbereigeschäfts W. Spindler, van der Leeden, Dr. G. Friedländer, Morten Levy, Dr. Meierstein, Boas, Dr. Stephani, später Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“, und andere. Auch der damals noch sehr junge Franz Mehring, den ich durch Robert Schweichel hatte kennen gelernt, gehörte zu diesem Kreis. Blieben Liebknecht und ich über Sonntag in Berlin, so trafen wir in der Regel mit mehreren der Genannten, unter denen sich auch öfter Paul Singer befand, in einer Weinstube zusammen. Nach stillschweigender Uebereinkunft tranken alle einen billigen Moselwein, sogenannten Kutscher, den Schoppen zu 50 Pfennig. Nachher ging es nicht selten noch in ein Bierhaus. Meine Leistung im Trinken war allezeit eine minimale, aber Schweichel, Liebknecht, Guido Weiß, Mehring waren trinkfeste Mannen. Mehr als einmal gingen wir, doch stets aufrechten Hauptes, nach Hause, als schon die Sonne hell leuchtend am Himmel stand.

Eine Folge meiner Popularität war, daß ich hofiert und fetiert wurde und öfter Einladungen zu solennen Mittag- oder Abendessen bei Familien der Bekannten erhielt. Aber ich war kein großer Freund solcher Einladungen und ging ihnen so viel als möglich aus dem Wege. So schrieb ich unter dem 19. November 1871 an meine Frau:

„Für heute Sonntag habe ich mir alle Einladungen vom Halse geschafft, indem ich rund heraus erklärte, ich sei schon eingeladen, obgleich es nicht wahr war. Man ist froh, ein paar Stunden wieder Mensch sein zu können, indem man sich selbst angehört…. Uebrigens hoffe ich, hier bald loskommen zu können, ich habe das Leben hier sehr satt und sehne mich zu Euch und nach meiner Häuslichkeit…. Wenn vom Essen und Trinken das menschliche Glück abhinge, müßte ich hier sehr glücklich sein, aber ich bin es nicht.“ —

Die Vorgänge im Reichstag schlugen noch längere Zeit in der Presse ihre
Wellen. So veröffentlichte die „Augsburger Allgemeine Zeitung“
Uebersichten über die Verhandlungen, in denen es in bezug auf meine
Stellung zum Antrag Büsing sehr wohlwollend hieß:

„Bebel gab wieder Proben seines glänzenden Rednertalents und davon, daß er ein ganzer Mann ist. Schon weil es wenig bekannt ist, verdient hervorgehoben zu werden, daß der junge Drechslermeister von Leipzig sich, obgleich er völlig allein steht, und seine weitgehenden Ansichten fast einstimmig verdammt und bedauert werden, im Reichstag eine ganz exzeptionelle Stellung, und bei der Mehrzahl, namentlich auch bei den Hochkonservativen, achtungsvolle Anerkennung erworben hat, welche dadurch, daß er seine Mußestunden in Berlin dazu benutzt, durch Arbeit bei einem Handwerksgenossen den Unterhalt für seine Familie zu verdienen, nur vermehrt und durch die teilweise ungerechten Angriffe Laskers nicht beeinträchtigt werden konnte. Bebel bietet zugleich ein Beispiel der wunderbaren Fügungen der Vorsehung. Wäre er nicht als Knabe überaus schwächlich gewesen, so würde er als Sohn eines preußischen Unteroffiziers unzweifelhaft in einem preußischen Militärwaisenhause erzogen worden und jetzt voraussichtlich wohldisziplinierter Wachtmeister sein. Nun aber erhielt er seine Erziehung durch die Wincklersche Stiftung in Wetzlar, und seine angeborene Begabung und eigener Fleiß machten ihn zum Führer einer, trotz ihrer beschränkten Zahl nicht ungefährlichen Volkspartei und zu einem hervorragenden Redner im deutschen Parlament.“

Es war selbstverständlich eine Legende, wenn der Berichterstatter mich in Berlin bei einem Handwerksgenossen den Unterhalt für meine Familie verdienen ließ. Das war denn doch ein Ding der Unmöglichkeit. Aber diese Legende machte Schule; ich begegnete ihr eine Reihe Jahre später wieder in einem Buche über die Sozialdemokratie. So wird oft Geschichte gemacht. Ich erhielt später noch ähnliche Proben.

* * * * *

In der Partei ging in dieser Periode die Entwicklung ganz nach Wunsch. Die gegen die Partei inszenierten Verfolgungen, die schon kräftig eingesetzt hatten, schadeten ihr nicht, sie nützten ihr. Für jeden, der im Kampfe unfähig gemacht wurde, traten drei andere an seine Stelle. Zu den Wundern jener Zeit muß es gerechnet werden, daß die Leipziger Kreishauptmannschaft die Ausweisung Mosts durch die Leipziger Polizei aufhob, weil die Begründung für diese Maßregel nicht genüge. Keine angenehme Sache war es für mich, in den Versammlungen, die ich während meiner Anwesenheit in Berlin abhielt, in der Regel mich mit einer Anzahl Agitatoren des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins herumzuschlagen. Das Verhältnis zwischen uns war trotz des Rücktritts Schweitzers vom Präsidium unter dessen Nachfolger Hasenclever nicht besser geworden. Namentlich schlug Hasselmann im „Neuen Sozialdemokrat“ einen sehr rohen Ton an. Als ich im November im Streikverein der Sattler einen Vortrag hielt, wobei ich zum erstenmal Ignaz Auer kennen lernte, trat unter Führung Hasselmanns eine ganze Kolonne Redner gegen mich auf, um mich moralisch zu vernichten. Der Versuch bekam ihnen übel. Als ich dann nach Schluß der Versammlung mehreren meiner Gegner im Privatgespräch Vorwürfe machte wegen ihrer perfiden Kampfweise, gaben zwei derselben, Zielowsky und Finn, wie aus einem Munde zur Antwort: Sie müßten uns bekämpfen; denn werde heute eine Einigung der Sozialdemokratie hergestellt, schreite morgen die Regierung mit aller Macht ein, um die Partei zu unterdrücken! Die beiden waren ahnungsvolle Engel, denn so ungefähr kam es nachher, als die Einigung verwirklicht wurde. Hasenclever gefiel sich anfangs als Präsident auch in der Pose Schweitzers. So ließ er sich in Altona in einer mit zwei Schimmeln bespannten Kutsche eine Ovation bringen. Er fand aber bald, daß er kein Schweitzer war und zu einer solchen Rolle nicht paßte.

Im Dezember löste der Polizeidirektor Rüder den sozialdemokratischen Arbeiterverein in Leipzig wegen Verletzung des Verbindungsverbots auf. Das Verbot fand anderwärts Nachahmung. Um dieselbe Zeit veröffentlichten unsere Nürnberger Parteigenossen unter Führung Anton Memmingers einen Aufruf zur Unterstützung des Philosophen Feuerbach, der in großer Notlage in der Nähe Nürnbergs lebte. Memminger, der infolge lokaler Streitigkeiten in Nürnberg unmöglich wurde, ist später ganz nach rechts marschiert; er wurde eine Leuchte des bayerischen Bauernbundes und einer seiner fanatischsten und geschicktesten Vertreter in der Presse und im bayerischen Landtag. —

In Sachsen hatten die polizeilichen und gerichtlichen Verfolgungen, die mit der Gründung bes Deutschen Reiches eine nie vorher gekannte Schärfe erlangte, eine ganz vortreffliche Stimmung in der Partei hervorgerufen. Als wir am 9. Januar 1872 in Chemnitz in einer Landesversammlung zusammentraten, musterten wir 120 Delegierte. Das ganze Land war bis in die letzten Bezirke vertreten. Ich führte den Vorsitz, Most war Schriftführer. Beschlossen wurde, für eine gründliche Umgestaltung des Vereins- und Versammlungsrechtes zu wirken; das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht solle für die Landtags- und Gemeindewahlen gefordert werden; die Armenunterstützung solle reichsgesetzlich geordnet und die Kosten durch eine progressive Einkommensteuer aufgebracht werden. Den gemaßregelten Vereinen und Gewerkschaften wurde empfohlen, ihre Beschwerden bis in die letzte Instanz zu verfolgen und, falls diese resultatlos seien, Lokalvereine zu gründen. Ferner wurde die Aufhebung der Dienstbotenordnung verlangt und den Parteigenossen, die mit religiösen Ueberzeugungen gebrochen hätten, der Austritt aus der Landeskirche empfohlen. —

Am 1. Februar 1872 trat Vahlteich seine Festungshaft in Hubertusburg an; später folgte ihm Karl Hirsch. Mittlerweile wurden aber auch die übrigen Gefängnisse mit verurteilten Sozialdemokraten besetzt. Einzelne Genossen waren mit sehr harten Gefängnisstrafen bedacht worden.

Der Leipziger Hochverratsprozeß.

Bei der Eröffnungsfeier des ersten deutschen Reichstags am 23. März 1871 im sogenannten Weißen Saale des königlichen Schlosses zu Berlin trat Fürst Bismarck an den Abgeordneten v. Schwarze heran mit den Worten: „Nun, Herr Generalstaatsanwalt, was wird denn aus dem Prozeß Bebel und Genossen?“ Der Angeredete zuckte die Achseln und erwiderte: „Gar nichts wird.“, worauf Bismarck unwillig antwortete: „Dann hätte man die Leute auch nicht einstecken sollen; jetzt fällt das Odium des Prozesses auf uns.“ Wenige Augenblicke nach jenem Vorgang wandte sich der sächsische Finanzminister v. Friesen, der die Unterhaltung zwischen Bismarck und Schwarze angehört hatte, an den Abgeordneten Professor Birnbaum, Vertreter für Leipzig-Land, mit den Worten: „Da hat unser Schwarze eine große Dummheit gemacht!“

Herr v. Schwarze hatte aber keine Dummheit gemacht, er hatte nur gesagt, was er als Jurist nach genauer Kenntnis des Inhaltes der Akten sagen mußte. Schwarze hielt ebenso wie unser Untersuchungsrichter eine Verurteilung für unmöglich, und Bismarck hatte ganz vergessen, daß unsere Verhaftung am 17. Dezember 1870 nicht erfolgt war, weil man irgendwelche Beweise für unsere angebliche Vorbereitung zum Hochverrat hatte, sondern weil man die Tatsache der Beschlagnahme unserer Briefe bei dem Braunschweiger Ausschuß benutzen wollte, uns hinter Schloß und Riegel zu bringen. Uns war sogar mitgeteilt worden, daß Bismarck selbst vom Hauptquartier aus die Anregung zu unserer Verhaftung gegeben habe.

Die Frühjahrssession des Leipziger Schwurgerichtes war für unsere Aburteilung bestimmt worden. Der Prozeß sollte Montag den 11. März seinen Anfang nehmen. Die Aufregung in Leipzig war groß. Seitens der Behörden rechnete man mit Unruhen. Das veranlaßte uns, an der Spitze des „Volksstaat“ vom 6. und 9. März folgende Aufforderung zu veröffentlichen:

An unsere Parteigenossen!

Wie Ihr wißt, beginnen Montag den 11. März die Schwurgerichtsverhandlungen in dem Hochverratsprozeß gegen uns. Viele von Euch werden denselben beiwohnen wollen. Dies veranlaßt uns, die dringende Aufforderung an Euch zu richten, weder durch Zeichen des Beifalls noch des Mißfallens die Verhandlungen zu unterbrechen. Geschehe was da wolle, verhaltet Euch ruhig. Mag unsere Gegnerschaft durch bübische Hetzartikel oder durch bezahlte Agents provocateurs Euch zu reizen suchen, macht diese perfiden Machinationen zuschanden. Die Abrechnung wird nicht ausbleiben.

Leipzig, den 3. März 1872.

Bebel, Liebknecht, Hepner.“

Diese Mahnung war nicht überflüssig. In der Furcht, es werde unsere Verurteilung mißlingen, hielten es die Brockhaussche „Deutsche Allgemeine Zeitung“, das „Leipziger Tageblatt“ und die von Dr. Hans Blum redigierten „Grenzboten“ für ihre vornehmste Aufgabe, durch Hetzartikel, die man den Geschworenen zustellte, diese gegen uns einzunehmen. Ebenso wurde in den verschiedensten Formen persönlich auf diese eingewirkt.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, den Verlauf des Prozesses, der vierzehn Verhandlungstage in Anspruch nahm, in seinen Einzelheiten darzulegen. Das Anklagematerial bildete unsere gesamte agitatorische Tätigkeit in Vereinen, Versammlungen, Artikeln und Broschüren nebst einer Anzahl Briefe, die bei dem Braunschweiger Ausschuß gefunden worden waren. Außerdem wurde aber auch fast die ganze bis dahin in deutscher Sprache erschienene sozialistische Broschürenliteratur als belastend herangezogen, auch wenn wir an deren Verfasserschaft und Verbreitung gar nicht beteiligt waren, wie zum Beispiel bei dem Kommunistischen Manifest. Auch eine Broschüre des bürgerlichen Republikaners Karl Heinzen, betitelt: „Ein europäischer Soldat an seine Kameraden“, mußte als Belastungsmaterial dienen, obgleich bis zur Prozeßverhandlung keiner von uns von der Existenz der Broschüre etwas wußte. Dieselbe war im Archiv des Parteiausschusses in einem Exemplar gefunden worden. Das Belastungsmaterial ließ also an Quantität nichts zu wünschen übrig, um so schlimmer stand es mit der Qualität, wie wir das wiederholt während der Verhandlungen hervorhoben.

Unsere Reichstagsreden konnten auf Grund der Verfassung nicht unter Anklage gestellt werden, es sorgte aber die Leipziger liberale Presse dafür, daß die schärfsten Stellen aus denselben den Geschworenen bekannt wurden.

Als Belastungszeugen hatte die Staatsanwaltschaft eine Anzahl Herren aus Plauen im Vogtland geladen, die in den beiden Versammlungen anwesend gewesen waren, die ich Frühjahr 1870 dort gegen Dr. Max Hirsch abgehalten hatte. Der Inhalt jener Reden, die damals wegen Inkrafttreten des deutschen Strafgesetzbuchs nicht mehr verfolgt werden konnten, und ebenso die Liebknechtsche Rede „Ueber die politische Stellung der Sozialdemokratie“, wegen deren er 1869 in Berlin in contumaciam zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt worden war, wurden jetzt ebenfalls als Material für den Hochverratsprozeß verwendet. Die Belastungszeugen waren der Obergendarm aus Plauen, der meine Versammlungen überwacht hatte, ferner der Vorsitzende einer derselben, Rechtsanwalt Kirbach, ein Redakteur, ein Oberlehrer und der Einberufer der Versammlungen. Als Entlastungszeugen hatten wir Bracke und Spier laden lassen, die alsdann dem Prozeß bis zu seinem Schlußakt beiwohnten.

Präsident des Schwurgerichts war ein Herr v. Mücke, Bezirksgerichtsdirektor in Bautzen. Herr v. Mücke war im Gegensatz zu seinem Namen ein herkulisch gebauter Mann, der Hände wie ein Fleischer und eine so niedere Stirne besaß, daß man sich erstaunt fragte, wo in jenem Kopf das Gehirn sitze. Offenbar hatte der Justizminister Abeken sich als Präsident des Schwurgerichts den beschränktesten Kopf ausgesucht, den es unter den Gerichtsdirektoren in Sachsen gab. Will man in einem politischen Prozeß um jeden Preis eine Verurteilung herbeiführen, so empfiehlt sich, als Leiter eines solchen entweder einen gewissenlosen Streber — ein solcher scheint zu jener Zeit in Sachsen nicht vorhanden gewesen zu sein — oder einen beschränkten Kopf auszuwählen, der sich leicht beeinflussen läßt. Herr v. Mücke war seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen, weder beherrschte er das sehr umfängliche Aktenmaterial, noch besaß er das Maß von Unparteilichkeit und Ruhe, das erste Voraussetzung für den Leiter einer solchen Verhandlung ist. Auch war ihm bis dahin offenbar der Sozialismus ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch. Es stimmte oft sehr heiter und blamierte ihn gründlich, wenn er über unsere Ausführungen ganz aufgeregt wurde, Sinn und Tragweite derselben nicht verstehen konnte und dann in die Rolle fiel, uns widerlegen zu wollen, wozu er ganz und gar unfähig war und auch kein Recht hatte. Man konnte ihn naiv bis zur Bewußtlosigkeit nennen.

Unsere Verteidigung hatten die Rechtsanwälte Otto und Bernhard Freytag übernommen, die bei ihnen in den besten Händen lag. Beide machten durch ihre Kreuz- und Querfragen dem Präsidenten, der diese Fragen oft nicht verstand oder ihre Tragweite nicht übersah, das Leben sauer.

Unter den Geschworenen waren sechs Kaufleute, davon drei aus Leipzig, ein Rittergutsbesitzer, ein Oberförster und einige Gutsbesitzer. Die Verhandlungen waren für Leipzig eine Sensation. Tag für Tag war der geräumige Verhandlungssaal überfüllt mit Zuhörern aus allen Ständen. Mehrere Male waren auch der Justizminister und der Generalstaatsanwalt anwesend. Und da alle größeren Blätter Deutschlands ausführliche Berichte brachten und ihre Leser jetzt zum erstenmal zu hören bekamen, was der Sozialismus sei und was die Sozialisten erstrebten — soweit dies bei Zeitungsberichten möglich ist —, wirkten die Verhandlungen eminent agitatorisch. Dafür sorgten natürlich auch wir durch unsere Haltung, namentlich Liebknecht, der der eigentliche Führer des Prozesses wurde. An allerlei kleinen dramatischen Szenen fehlte es auch nicht. So wenn der Präsident durch ungeschickte Fragen und Bemerkungen von Liebknecht gehörig auf den Sand gesetzt wurde, oder ich bei der Frage, was ich zu dem Kommunistischen Manifest zu sagen habe, antwortete: ich sei damals, als dasselbe erschienen sei, kaum acht Jahre alt gewesen, oder Hepner wiederholt antworten mußte: er sei überhaupt noch nicht geboren gewesen, als dieses oder jenes Aktenstück erschien.

Die Beeinflussung der Geschworenen wurde Tag für Tag von unseren Gegnern dadurch versucht, daß sie dieselben in der Restauration aufsuchten, in der die meisten von ihnen allabendlich zusammenkamen. Alsdann wurden die Vorgänge des Tages besprochen und entsprechend auszunutzen versucht. So äußerte zum Beispiel eines Abends ein Appellationsgerichtsrat Müller: „Denken Sie sich, meine Herren, mir träumte verflossene Nacht, Bebel sei freigesprochen worden, da habe ich mich aber geärgert.“ Er schien anzunehmen, man wolle nur Liebknecht verurteilen. Für die Qualität einzelner Geschworener war auch folgender Vorgang bezeichnend: Eines Tages trifft einer unserer Rechtsanwälte einen der Geschworenen auf der Straße und fragt ihn, ob er sich wohl ein klares Bild von dem Inhalt der vorgetragenen Aktenstücke machen könne? Worauf dieser antwortete: „Herr Advokat, offen gesagt, wenn ich nicht zeitweilig eine Prise nähm', schlief' ich ein.“ Nun wurden wir schließlich mit acht gegen vier Stimmen verurteilt, mehr als sieben Stimmen verlangte das Gesetz für einen Schuldigspruch, und es war die Stimme dieses Herrn, die das Schuldig bewirkte.

Am dreizehnten Verhandlungstag begannen unter enormem Zudrang des Publikums die Plädoyers, nachdem die Fragen für die Geschworenen formuliert worden waren. Der öffentliche Ankläger schloß seine Rede mit den Worten: Wenn Sie die beiden Angeklagten nicht verurteilen — von Hepner sprach er nicht, er gab ihn preis —, dann sanktionieren Sie für immer den Hochverrat!

Zunächst antwortete Rechtsanwalt Otto Freytag, der damit begann, zu erklären, er habe trotz einer dreiviertelstündigen Pause, die zwischen der Anklagerede des Staatsanwaltes und seiner Rede lag, sich noch immer nicht von dem Erstaunen erholt, das bei ihm die Begründung der Anklage hervorgerufen habe. Nach einer mehrstündigen vorzüglichen Rede, in der er die Anklage gründlich zerzauste, beantragte er unsere Freisprechung. Am nächsten Morgen nahm Rechtsanwalt Bernhard Freytag das Wort. Auch er blieb an oratorischer und juristischer Gewandtheit nicht hinter seinem Bruder zurück. Nach zirka drei Stunden schloß er mit den Worten an die Geschworenen: Bejahen Sie die Fragen, so schaffen und sanktionieren Sie in Sachsen einen rechtlosen Zustand. Wegen dieser Worte kam es zwischen ihm und dem Präsidenten zu einer heftigen Auseinandersetzung. Der Präsident hatte diese Worte gerügt.

Nach dem Schlußwort des Staatsanwaltes nahm noch einmal Otto Freytag das Wort, dagegen erklärte sein Bruder, daß, nachdem der Staatsanwalt auf seine Frage: worin „das bestimmte Unternehmen“ bestehe, dessen er uns anklage, nicht geantwortet habe, er bei der eigentümlichen Disziplin, die in diesem Saale herrsche, auf weitere Auseinandersetzungen verzichte. Eine Erklärung, der wir uns anschlossen. So ging die Verhandlung einen Tag früher zu Ende, als erwartet worden war. Bei der „Rechtsbelehrung“ der Geschworenen durch den Präsidenten kam es abermals zwischen diesem und unseren Verteidigern zu lebhaften Auseinandersetzungen; sie wollten die „Rechtsbelehrung“ desselben, weil von falschen Voraussetzungen ausgehend, nicht gelten lassen. Beide meldeten schon im voraus die Nichtigkeitsbeschwerde an.

Nach mehr als zweieinhalbstündiger Beratung verkündeten die
Geschworenen, daß sie Liebknecht und mich der Vorbereitung zum
Hochverrat schuldig befunden, Hepner freigesprochen hätten. Der
Staatsanwalt beantragte hierauf gegen uns eine Höchststrafe von zwei
Jahren Festung, weil die Vorbereitungshandlungen noch entfernte gewesen
seien, gegen Hepner beantragte er Freisprechung. Der Gerichtshof
erkannte demgemäß gegen Liebknecht und mich unter Anrechnung von zwei
Monaten Untersuchungshaft.

Unsere Parteigenossen waren über das Urteil höchst aufgebracht. Mich packte der Galgenhumor: „Wißt ihr was“, äußerte ich zu den Verteidigern und Mitangeklagten nach Schluß der Verhandlung, „wir gehen heute abend dem Urteil zum Trotz in Auerbachs Keller (berühmt geworden durch die Kellerszene in Goethes Faust) und trinken eine Flasche Wein.“ „Das tun wir“, erklärte Otto Freytag, „und wir (er und sein Bruder) bezahlen die Zeche.“

Unsere Frauen, die uns mit lautem Weinen empfingen, waren freilich von diesem Vorschlag sehr wenig erbaut. Es sei eine Frivolität, dergleichen zu tun, wir seien schreckliche Männer. Aber sie waren tapfer und gingen schließlich mit. Auch Bracke mit seiner jungen, liebenswürdigen Frau, die ihn nach Leipzig begleitet hatte, und Spier waren bei der Partie. Meine Frau war noch vor der Verurteilung durch unseren Hausarzt in etwas eigentümlicher Weise getröstet worden. „Frau Bebel“, hatte er zu ihr gesagt, „wird Ihr Mann zu einem Jahre Festung verurteilt, so seien Sie froh, er braucht sehr dringend Ruhe.“

Am 27. März, dem Tage, an dem wir die Entscheidungsgründe des
Gerichtshofs erhalten hatten, erließen Liebknecht und ich im
„Volksstaat“ eine kurze Ansprache „An die Parteigenossen“, in der wir
sie aufforderten, tapfer zur Sache zu stehen und namentlich für die
Verbreitung des „Volksstaat“ zu sorgen, der jetzt 5500 Abonnenten hatte.
An demselben Tage veröffentlichten wir eine zweite Erklärung im
„Volksstaat“ „Zu unserer Verurteilung“, in der es hieß:

„Der Wahrspruch der Herren Geschworenen ist nicht wahr. Was wir gewollt und getan, haben wir ohne Hehl bekannt; ein hochverräterisches Unternehmen im Sinne des Strafgesetzbuchs haben wir nicht vorbereitet. Wenn wir schuldig sind, ist jede Partei schuldig, die nicht gerade am Ruder ist. Indem man uns verurteilt, ächtet man die freie Meinungsäußerung.

Durch Ihren Wahrspruch, meine Herren Geschworenen, haben Sie im Namen der besitzenden Klasse die Gewalttat von Lötzen sanktioniert und der Reaktion einen Freibrief in blanco ausgestellt. Uns persönlich ist das Resultat gleichgültig. Dieser Prozeß hat so unendlich viel für die Verbreitung unserer Prinzipien gewirkt, daß wir gern die paar Jahre Gefängnis hinnehmen, die — falls Rechtskraft eintritt — über uns verhängt werden können. Die Sozialdemokratie steht über dem Bereich eines Schwurgerichtes. Unsere Partei wird leben, wachsen und siegen. Wohl aber haben Sie, meine Herren Geschworenen, durch Ihr Verdikt das Todesurteil gefällt über das Institut der heutigen Schwurgerichte, die, ausschließlich aus der besitzenden Klasse gebildet, nichts sind als Mittel der Klassenherrschaft und Klassenunterdrückung.“

Die ganze demokratische und linksliberale Presse, die damals noch Bedeutung hatte, stand auf unserer Seite, mit Ausnahme der „Berliner Volkszeitung“. Diese folgerte: Das Schwurgericht ist Volkesstimme, Volkesstimme ist Gottesstimme, ergo, … Auch der frühere Appellationsgerichtspräsident Temme, einer der aufrechtesten Männer, die der preußische Richterstand je gehabt hat, der aber der Reaktion im Anfang der fünfziger Jahre zum Opfer gefallen war, veröffentlichte in einem Wiener Blatte einen scharfen Artikel wegen unserer Verurteilung. Ich hatte das Glück, Temme noch kurz vor seinem Ableben 1882 in Zürich kennen zu lernen, wohin er sich zurückgezogen hatte; er war eine äußerst sympathische Persönlichkeit.

Herr v. Mücke und der Staatsanwalt Hoffmann wurden für ihre staatsretterische Tätigkeit durch Orden belohnt. Der Generalstaatsanwalt v. Schwarze, der bei der Anklage Geburtshelferdienste geleistet hatte, war schon zuvor belohnt worden. Als Antwort auf das Urteil erklärte Johann Jacoby am 2. April seinen Beitritt zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Dem Vorgehen desselben schloß sich der Berliner Demokratische Verein — nicht zu verwechseln mit dem Demokratischen Arbeiterverein — insofern an, als er mit großer Mehrheit dem Eisenacher Programm zustimmte.

Unsere Parteigenossen legten in der Parteipresse und in zahlreichen Volksversammlungen schärfsten Protest gegen das Urteil ein, was freilich zur Folge hatte, daß eine ganze Anzahl derselben gerichtlich verurteilt wurde.

Kurz nach Schluß des Prozesses befiel mich eine sehr schmerzhafte Brustfellentzündung, die mich mehrere Wochen ans Bett fesselte. Auch hatten Agitation, parlamentarische Tätigkeit, Untersuchungshaft und Prozeß, wozu noch angestrengte Tätigkeit in meinem Geschäft kam, das meine Kräfte ebenfalls in hohem Grade in Anspruch nahm und mich zu Erweiterungen meines kleinen Betriebs nötigte, meine Nerven zerrüttet. Ich litt neben heftigen Schmerzen an großer Schlaflosigkeit. In den Nächten, in denen ich mich schlaflos im Bette wälzte, dachte ich öfter an Bismarck, der damals insofern mein Leidensgefährte war, als er nach den Berichten der Zeitungen ebenfalls an Schlaflosigkeit und neuralgischen Schmerzen litt. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz.

Die dritte Generation des ersten deutschen Reichstags.

Ende April 1872 war der Reichstag wieder zusammengetreten. Eben genesen, reiste ich nach Berlin und hielt am 1. Mai eine Rede zu dem Antrag Hoverbeck und Genossen, betreffend die Abschaffung der Salzsteuer. Ich wendete mich in der Rede gegen die gesamten indirekten Steuern auf notwendige Lebensbedürfnisse. Die besitzenden Klassen suchten in ihrem Klasseninteresse dieses System aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen; sie suchten sich den Staatslasten, wo sie könnten, zu entziehen, aber sie machten die direkten Steuern zum Maßstab der politischen Rechte. Ob das Haus glaube, daß solche Zustände die Versöhnung der verschiedenen Klassen herbeiführten? Das Gegenteil werde erreicht; da dürfe sich die Bourgeoisie nicht wundern, wenn ihr alsdann von uns gesagt werde, was Tell über Geßler sagte: Mach' deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen. (Stürmisches Gelächter.) Eugen Richter erklärte: Er wolle mir nicht antworten, das hieße meiner Person und meiner Doktrin eine Bedeutung beimessen, die sie nicht habe. Ich polemisierte darauf gegen Richter in einer persönlichen Bemerkung; seine geringschätzende Bemerkung gegen mich solle nur verdecken, daß ihm die Gründe zu meiner Widerlegung fehlten. Richter antwortete: Er hielt mich durchaus nicht für so unbedeutend, daß es sich nicht lohne, mir zu antworten, aber er hielt mich, wenigstens zurzeit noch nicht, für so bedeutend wie den Reichskanzler (Heiterkeit), darum habe er keine Zeit gehabt, mir zu antworten. —

Im Jahre 1872 ging der „Kulturkampf“ seinem Höhepunkt entgegen, jener „Kulturkampf“, der der größte politische Fehler war, den Bismarck in der inneren Politik machte, und der der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands eine höchst verderbliche Richtung gab. Bismarck hatte das Jesuitenausweisungsgesetz dem Reichstag vorgelegt, um das ein heftiger Kampf entbrannte. Bei der dritten Lesung am 19. Juni kam ich zum Worte. Ich führte aus: Der englische Kulturhistoriker Buckle bemesse den Kulturgrad eines Volkes nach der Bedeutung, die religiöse Streitigkeiten bei demselben fänden. An diesem Maßstab gemessen, müßten wir in Deutschland auf einem tiefen Kulturgrad stehen. Keiner Frage werde seit längerer Zeit so viel Aufmerksamkeit geschenkt als der religiösen Frage. Freilich, die religiösen Auffassungen stünden in inniger Verbindung mit dem sozialen und politischen Zustand eines Volkes. Sei das Zentrum im Hause so stark vertreten, so nicht etwa bloß seiner religiösen Anschauungen wegen, sondern namentlich auch wegen der sozialen und politischen Interessen, die es vertrete. Die rückständigen ökonomischen Schichten im katholischen Volke schlössen sich mit Vorliebe dem Zentrum an, die anderen kapitalistischen Schichten den Liberalen. Der Protestantismus, einfach, schlicht, hausbacken, gewissermaßen die Religion in Schlafrock und Pantoffeln, sei die Religion des modernen Bürgertums. Der ganze Kampf sei, soweit die Religion in Frage komme, nur ein Scheinkampf, in Wahrheit bedeute er den Kampf um die Herrschaft im Staate. Wolle die liberale Bourgeoisie ehrlich den Fortschritt, müsse sie mit der Kirche brechen, denn die Bourgeoisie habe in Wahrheit keine Religion. Für sie sei die Religion nur Mittel zum Zweck, um die Autorität zu stützen, die sie brauche, und um in den Arbeitern willige Ausbeutungsobjekte zu erziehen.

Man sage, der Jesuitismus habe mit dem Katholizismus nichts zu tun. Das sei falsch. Der Jesuitismus sei die festeste Stütze des Katholizismus, und insofern habe das Zentrum recht, wenn es sage, der Kampf gegen den Jesuitismus sei ein Kampf gegen den Katholizismus. Die Verteidiger der Vorlage behaupteten, sie wollten durch dieselbe den Frieden herstellen; das Gegenteil werde erreicht; sie würden nicht den Frieden bekommen, sondern den Krieg.

Man sage ferner, das Dogma von der Unfehlbarkeit sei staatsgefährlich. Das könnte ich nicht einsehen. Schließlich ständen alle Dogmen mit der Wissenschaft und der gesunden Vernunft in Widerspruch und seien von diesem Gesichtspunkt aus ebenfalls staatsgefährlich. (Heiterkeit.) Je ungeheuerlicher ein Dogma ist, und das sei das von der Unfehlbarkeit des Papstes, um so mehr Widerspruch finde es bei allen Denkenden. Man behaupte auch, der Jesuitismus sei unmoralisch. Der Staat habe aber allezeit verdammt wenig nach der Moral gefragt, und der Reichskanzler sei der letzte, dem diese Sorge mache. Was den Reichskanzler ärgere, sei, daß man ihn in seiner Politik nicht für unfehlbar halte. (Heiterkeit.) Würden die Jesuiten und die Herren im Zentrum sich bereit erklären, seine Politik zu unterstützen, so könnten sie auf kirchlichem Gebiete tun, was sie wollten. (Sehr richtig.) Je reaktionärer dann der Jesuitismus sei, um so lieber würde es dem Reichskanzler sein. Er wolle nichts weiter, als daß die ultramontane Partei sein Werkzeug werde. Daß man es wage, dem Reichstag einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, sei ein Zeichen dafür, wie tief man ihn einschätze. (Unruhe.) Die Liberalen suchten durch den Kampf gegen den Jesuitismus nur wieder zu gewinnen, was sie an Kredit bei dem Volk durch Preisgabe aller Volksrechte eingebüßt hätten. Man bekämpfe den Jesuitismus mit einem Ausnahmegesetz, und die Folge werde sein, daß sein Anhang größer werde, als er je gewesen. Die Masse der Menschen sympathisiere mit dem Verfolgten. Es gehe nicht an, ein Gesetz zu erlassen, wonach man einen Menschen heimatlos machen und wie ein wildes Tier von einem Orte zum andern jagen könne. Wir hätten Unterdrückungsgesetze in Deutschland genug, wofür ich Beispiele anführte; wir brauchten keine neuen. Wer habe denn den Jesuitismus gezüchtet? Der Staat. Statt jährlich viele hundert Millionen für Mordwerkzeuge auszugeben, verwende man diese Mittel auf die Bildung des Volkes, das werde dem Jesuitismus mehr schaden als alle Ausnahmegesetze. Man errichte ein auf der Höhe der Zeit stehendes Bildungssystem, man trenne den Staat von der Kirche, man verweise die Kirche aus der Schule, und ehe zehn Jahre vergingen, würde es mit den pfäffischen Wühlereien zu Ende sein. Die Herren könnten dann in Gottes Namen in der Kirche predigen, hin gehe niemand mehr. (Heiterkeit.) Doch das wolle man nicht, sie alle brauchten Autoritäten, deren Hauptstütze die Kirche sei. Man wisse, höre die himmlische Autorität auf, dann falle auch die irdische. Man fürchte, es würde alsdann auf dem politischen Gebiet die Republik, auf dem sozialen der Sozialismus und auf dem religiösen der Atheismus zur Geltung kommen. Ich würde gegen das Gesetz stimmen, müßte aber die Behauptung, Ultramontanismus und Sozialismus seien Verbündete, als eine infame Verleumdung zurückweisen. Es würde dem Ultramontanismus und dem Liberalismus gleich schlecht gehen, wenn wir am Ruder wären. (Unruhe.)

Im Verlauf der Debatte sprach auch Graf Ballestrem, der spätere Präsident des Reichstags. Mit Hinweis auf meine Ausführungen meinte er, wohin man mit Annahme des Gesetzentwurfes steuere, habe meine Rede gezeigt. Verliere das Volk erst den Glauben an das Paradies im Himmel, dann werde es das Paradies auf der Erde verlangen, und das verspreche ihm die Internationale. Ich unterstrich diese Worte, indem ich kräftig „sehr richtig“ rief.

Kurze Zeit danach erzählte man sich im Reichstag einen amüsanten Vorgang. Einige Herren vom Zentrum unterhielten sich in einer Restauration über den katholischen Kirchengelehrten Döllinger und das neue Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Döllinger war heftiger Gegner der Unfehlbarkeitserklärung. Darauf äußerte ein geistlicher Herr, Abgeordneter für München: Glaubt der alte Esel an so viel Unsinn, konnte er auch an diesen glauben. Diese Aeußerung wurde im Reichstag bekannt und viel belacht.

Mein Majestätsbeleidigungsprozeß.

Die Anklage gegen Liebknecht auf Majestätsbeleidigung war auf Beschluß der Anklagekammer von der Anklage wegen Vorbereitung auf Hochverrat getrennt und vor das Leipziger Bezirksgericht verwiesen worden. Hier wurde Liebknecht Anfang April freigesprochen. Ende Mai 1872 verwarf das Oberappellationsgericht in Dresden unsere Nichtigkeitsbeschwerde, es war somit das Urteil des Schwurgerichtes rechtskräftig geworden. Liebknecht trat Mitte Juni seine Haft in Hubertusburg an. Ich hatte nach Schluß des Reichstags auch noch eine Anklage zu erledigen. Ich war ebenfalls auf Majestätsbeleidigung, begangen durch Reden in zwei Volksversammlungen im Bezirk der Leipziger Amtshauptmannschaft, angeklagt worden. Ich hatte anknüpfend an das Dankschreiben des Königs von Preußen vom 25. Juli 1870, das mit den Worten schloß: er hoffe, daß die Freiheit und Einheit Deutschlands das Ergebnis des Krieges sein werde, allerlei kritische Bemerkungen gemacht. Ich hatte ausgeführt, daß wir zwar die Einheit bekommen hätten, die Freiheit sei aber ausgeblieben; es sei in dieser Beziehung sogar schlimmer als früher, was ich durch Tatsachen bewies. Es sei eben die alte Geschichte. Seien die Könige in der Verlegenheit, so fehle es nicht an schönen Versprechungen, habe aber das Volk die Opfer gebracht und die Könige gerettet, dann würden die gemachten Versprechen vergessen und nicht eingelöst. In diesen Ausführungen sah die Staatsanwaltschaft eine Majestätsbeleidigung, und der Gerichtshof schloß sich ihr in der Verhandlung am 6. Juli 1872 an, in der ich mich selbst verteidigte. Der Staatsanwalt hatte eine Zusatzstrafe zu der bereits erkannten Festungshaft beantragt. Das Gericht ging über diesen Antrag hinaus und verurteilte mich zu neun Monaten Gefängnis. Da es sich um eine andere Strafart als die mir bereits zuerkannte handelte, fiel die Zusatzstrafe; sonst würden, wenn es bei neun Monaten Festung geblieben wäre, diese mit der schon erkannten Festungshaft wahrscheinlich auf achtundzwanzig Monate zusammengezogen worden sein. Außerdem ging der Gerichtshof noch in einem zweiten Punkte über den Antrag des Staatsanwaltes hinaus, er erkannte mir das Reichstagsmandat ab.

Dieser letztere Beschluß war ein großer politischer Fehler von seiner Seite, denn da er mir nicht auch die Wählbarkeit aberkennen konnte, mußte er sich sagen, sein Beschluß werde wirkungslos bleiben, indem meine Parteigenossen mich in meinem bisherigen Wahlkreis wieder aufstellen und mich sicher wählen würden. So geschah es. Meine Wiederwahl wurde für den Gerichtshof eine schallende Ohrfeige. Darüber später.

Unsere Festungshaft und was zwischenzeitlich passierte.

Hubertusburg.

Am 1. Juli 1872 schrieb mir Bracke einen Abschiedsbrief, dem er äußerte: „Wenn Eure Familien nicht wären, könnte ich fast triumphieren über die Einfalt unserer Feinde! Du zum Beispiel wirst Dich körperlich erholen und viel lernen; dann bist Du ein verdammt gefährlicher Kerl, und schließlich wird Deine liebe Frau auch, trotz des harten Loses der Trennung, zufrieden sein, wenn Du auf diese Weise eine Kurzeit durchmachst, die Dich wieder kräftigt fürs ganze Leben.“ Am 8. Juli, dem Tage meines Haftantritts, veröffentlichte ich folgende Erklärung:

An meine Wähler im 17. sächsischen Wahlkreis!

Freunde und Gesinnungsgenossen! Das Königliche Bezirksgericht zu Leipzig hat die Gewogenheit gehabt, mir wegen ‚Majestätsbeleidigung‘ neben einer neunmonatigen Gefängnisstrafe auch ‚den Verlust der bekleideten öffentlichen Aemter sowie der aus Wahlen hervorgegangenen Rechte‘ abzuerkennen.

Durch dieses Erkenntnis bin ich des mir von euch verliehenen Mandats verlustig geworden.

Freunde und Gesinnungsgenossen! Der Schlag soll nicht nur mich, er soll auch euch, deren Vertreter ich bisher war, er soll die Partei treffen, der wir angehören. Zeigen wir, daß der geführte Schlag ein Schlag ins Wasser ist. Ihr seid vor die Alternative einer Neuwahl gestellt. Ich biete mich euch für dieselbe aufs neue als Kandidat an. Habe ich nach eurer Meinung das in mich gesetzte Vertrauen gerechtfertigt, dann wählt mich wieder.

Seid versichert, die erhaltenen ‚Strafen‘ machen mich nicht mürbe. Festung und Gefängnis sind nicht die Mittel, mir bessere Begriffe über unsere faulen Gesellschaftszustände beizubringen. Die Gesellschaft, die zu solchen Mitteln der Belehrung greifen muß, verdient, daß sie aufhört zu existieren.

Führen wir also den Krieg fort mit aller uns zu Gebote stehenden Kraft und mit aller Fähigkeit; gebt mir durch die Neuwahl das Mittel in die Hand, daß ich auch für die nächsten Jahre mich an diesem Kampfe beteiligen kann. Der Tag kommt, wo auch unsere Stunde schlägt.

Lebt wohl! Auf Wiedersehen zu neuem Kampf und Sieg!“

Am Nachmittag desselben Tages reiste ich nach Hubertusburg. Am Bahnhof hatten sich eine große Zahl Männer und Frauen eingefunden, um sich von mir zu verabschieden. Meine Frau hatte ich gebeten, mit unserem Töchterchen zu Hause zu bleiben. Unter dem Gepäck, das ich mitnahm, befand sich auch ein großer Vogelbauer mit einem prächtigen Kanarienhahn, den mir ein Dresdener Freund als Gesellschafter für meine Zelle geschickt hatte. Er wurde, nachdem ich ihm zu einem Weibchen verholfen, der Stammvater einer Kinder- und Enkelschar, die ich in Hubertusburg züchtete. An der Station Dahlen, an der ich ansteigen mußte, um von dort zu Wagen nach Hubertusburg zu fahren, brachte man mir eine eigenartige Ovation. Als ich ausstieg, standen sämtliche Schaffner an dem langen Personenzug vor ihren Wagen und salutierten, indem sie die Hand an die Mütze legten. Der Lokomotivführer schwenkte die Mütze, ebenso schwenkte ein großer Teil der Passagiere, der in den Fenstern lag, Hüte und Mützen und rief mir Lebewohl zu. Ich war sehr gerührt über diese Zeichen der Sympathie.

Als ich in Hubertusburg ankam und mit Liebknecht zusammentraf, lachte er mich aus, daß ich mir noch neun Monate Gefängnis geholt. Da sei er doch klüger gewesen. Er hatte gut lachen. Er hat nachher für die Artikel, die er heimlich aus Hubertusburg an den „Volksstaat“ schrieb, weit mehr als neun Monate Gefängnis den verantwortlichen Redakteuren aufbrummen helfen. Und wie vorsichtig glaubte er zu sein. Hatte er einen solchen Artikel auf der Pfanne und hegte er Bedenken gegen seine Fassung, so zog er mich zu Rate. Er las mir alsdann die betreffende Stelle vor. Warnte ich ihn, eine mir bedenklich scheinende Stelle im Artikel zu lassen, so versuchte er mir nachzuweisen, daß und warum sie nicht gefährlich sei. Er erhielt alsdann regelmäßig von mir die Antwort: Du würdest recht haben, dächten Staatsanwalt und Richter so wie du. Er kaute alsdann an einem Fingernagel und überlegte sich die neue Fassung. Manchmal war diese aber noch schärfer als die frühere. Er trennte sich sehr ungern von einem Gedanken, mit dessen Veröffentlichung er den Gegner ärgern konnte.

Außer Liebknecht war noch Karl Hirsch und ein Chemnitzer Parteigenosse in der Festungshaft. Vahlteichs Haft war bereits zu Ende, doch sorgten die Gerichte stets für Ersatz. Wir waren meist fünf bis sechs Genossen, darunter zeitweilig auch irgend ein Student, der wegen Duellgeschichten zu kurzer Festungshaft verurteilt worden war. Erst als meine Haft zu Ende ging, war ich der letzte der Mohikaner, den Hubertusburg beherbergt hatte.

Es fiel uns auf, daß wir unsere Haft auf Hubertusburg statt auf der sächsischen Festung Königstein zu verbüßen hatten. Der Grund war, daß auf Königstein sich keine Räume für Zivilgefangene befanden, diese mußten erst erstellt werden.

Hubertusburg ist weiteren Kreisen bekannt geworden durch den 1763 hier abgeschlossenen Friedensvertrag, der den siebenjährigen Krieg beendete. Das Schloß ist ein stattlicher Bau im Zopfstil. Vor demselben dehnt sich ein großer Hof aus, der durch pavillonartige ein- und zweistockige Gebäude eingeschlossen ist, die früher den Hofbeamten und Bediensteten zur Wohnung dienten. Zu unserer Zeit wohnten dort die Beamten der in Hubertusburg vereinigten Anstalten und hatten daselbst ihre Bureaus. Längere Zeit waren Teile der Gebäude als Landesgefängnis benutzt worden. Für uns Festungsgefangene war ein Flügel dieser Bauten reserviert, in dem man sieben oder acht Zellen eingerichtet hatte. Mit Hubertusburg verbunden war ein Siechenhaus und eine Irrenanstalt für Frauen, und eine Pflegeanstalt für blinde und blödsinnige Kinder. Die Insassen dieser Anstalten bekamen wir aber nicht zu sehen. Unsere Zellen besaßen hohe Fenster, die mit Eisenstäben versehen waren. Wir blickten aus den Fenstern in den großen Wirtschaftsgarten, in dem wir unsere Spaziergänge zu machen hatten, und über dessen Mauern hinaus auf Wald und Flur und das in der Ferne liegende kleine Städtchen Mutzschen.

Die Reinigung unserer Zellen besorgte ein sogenannter Kalfakter. Für deren Reinigung und Miete — der Staat gibt auch den Gefängnisraum nicht umsonst — hatten wir monatlich fünf Taler zu zahlen. Unser Essen bezogen wir aus einem Gasthaus des an Hubertusburg grenzenden Wermsdorf. Unsere Tagesordnung war folgende: Morgens 7 Uhr mußten wir angekleidet sein, alsdann wurden die Zellen zwecks der Reinigung geöffnet. Während dieser Zeit frühstückten wir auf dem breiten Korridor, der vor den Zellen hinlief. Diese Pause benutzte Karl Hirsch, um mit einem Zivilgefangenen eine Partie Schach zu spielen, wobei sich die beiden zu unserem größten Ergötzen regelmäßig in die Haare gerieten. Um 8 Uhr wurden wir wieder eingeschlossen bis 10 Uhr, zu welcher Zeit wir unseren Spaziermarsch im Garten unternahmen. Um 12 Uhr wieder Einschließung bis 3 Uhr im Winter, 4 Uhr im Sommer, dann zweiter Spaziergang, von 5 beziehungsweise 6 Uhr ab wieder Einschließung bis nächsten Morgen. Da wir das Recht hatten, bis 10 Uhr abends Licht brennen zu dürfen, waren diese Stunden meine Hauptarbeitszeit. Nach einigen Monaten erlangte ich, daß Liebknecht den Vormittag von 8 bis 10 Uhr in meine Zelle mit eingeschlossen wurde, um mir englischen und französischen Unterricht zu geben. Bei dieser Gelegenheit wurden dann auch die Interna der Partei und die politischen Vorgänge erörtert. Die Korrespondenz für mein Geschäft erledigte ich auf Grund der Unterlagen, die mir täglich meine Frau sandte.

Liebknecht und ich waren passionierte Teetrinker. Tee konnten wir aber nicht erhalten, und das Selbstkochen war der Feuersgefahr wegen verboten. Aber Verbote sind da, um übertreten zu werden. Ich verschaffte mir also heimlich eine Teemaschine und die nötigen Ingredienzien. Sobald am Abend der Aufseher die Zelle abgeschlossen und sich entfernt hatte, begann ich Tee zu brauen. Um aber auch Liebknecht den Genuß desselben zu ermöglichen, hatte ich mir im Garten einen etwa zwei Meter langen Stock zurechtgeschnitten. An dessen Ende befestigte ich eine Schnur, die mit einem von mir geflochtenen Netz versehen war, in das ich das gefüllte Glas stellen konnte. War der Tee fertig, klopfte ich Liebknecht, dessen Zelle neben der meinen lag, damit er ans Fenster trete. Alsdann streckte ich den Stock mit dem Teeglas zum Fenster hinaus, beschrieb mit demselben einen Bogen nach Liebknechts Fenster, worauf dieser, sobald er das Glas in Händen hatte, mit einem: „Ich hab's, danke!“ den Empfang anzeigte. Aehnlich machten wir's mit dem Austausch der Zeitungen, die jeder sobald als möglich lesen wollte. Wir hatten vor den Fenstern der Zellen, längs der Eisenstäbe, eine Schnur ohne Ende angebracht. Wer mit dem Lesen seiner Zeitung fertig war, befestigte diese mit einem Haken an die Schnur, darauf klopfte er dem Nachbar, der alsdann ans Fenster trat und das Zeitungspäckchen zu sich heranlotste.

Kaum hatte ich mich in meiner Zelle häuslich eingerichtet, als ich wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Die großen Anstrengungen und Aufregungen der letzten Jahre hatten mir nicht zum Bewußtsein kommen lassen, wie sehr meine Kräfte heruntergekommen waren. Jetzt, wo ich gewaltsam zur Ruhe verwiesen worden war und die Spannung nachließ, brach ich zusammen. Die Erschöpfung war so groß, daß ich wochenlang keine ernste Arbeit vornehmen konnte. Aber absolute Ruhe und frische Luft brachten mich allmählich wieder auf die Füße. Mein Hausarzt hatte recht, als er meine Frau tröstete, ein Jahr Festung werde meiner Gesundheit nützlich sein. Später stellte sich bei einer genauen ärztlichen Untersuchung auch heraus, daß mein linker Lungenflügel stark tuberkulös angegriffen war und eine Kaverne aufwies, die auf der Festung ausheilte. Freunde, die das erfuhren, meinten lachend, da sei ich ja dem Staate Dank schuldig, daß er mich auf die Festung geschickt. Ich antwortete: Dank würde ich ihm schulden, hätte er mich zu meiner Gesundung zu Festung verurteilen lassen. Ich hatte wieder einmal, wie so oft im Leben, „Schwein“ gehabt. Was mein Verderben sein konnte, schlug zum Guten aus.

Nachdem unabänderlich feststand, daß ich für einunddreißig Monate meine
Freiheit eingebüßt hatte, entschloß ich mich, diese Zeit mit aller Kraft
zu verwenden, um die Lücken meines Wissens einigermaßen auszufüllen.
Sobald ich also wieder arbeitsfähig war, stürzte ich mich mit aller
Energie in die Arbeit, das beste Mittel, über eine unangenehme Situation
hinwegzukommen. Ich studierte hauptsächlich Nationalökonomie und
Geschichte. Zum zweitenmal studierte ich Marx' „Kapital“, dessen erster
Band damals nur vorlag, Engels' „Lage der arbeitenden Klassen in
England“, Lassalles „System der erworbenen Rechte“, Stuart Mills
„Politische Oekonomie“, Dührings und Careys Werke, Lavelayes
„Ureigentum“, Lorenz Steins „Geschichte des französischen Sozialismus
und Kommunismus“, Platos „Staat“, Aristoteles' „Politik“, Machiavellis
„Der Fürst“, Thomas Morus' „Utopia“, v. Thünens „Der isolierte Staat“.
Von den Geschichtswerken, die ich las, fesselten mich besonders Buckles
„Geschichte der englischen Zivilisation“ und Wilhelm Zimmermanns
„Geschichte des Deutschen Bauernkriegs“. Letztere gab mir die Anregung,
eine populäre Abhandlung zu schreiben unter dem Titel „Der Deutsche
Bauernkrieg mit Berücksichtigung der hauptsächlichsten sozialen
Bewegungen des Mittelalters“. Das Buch erschien bei W. Bracke in
Braunschweig; später, unter dem Sozialistengesetz, wurde seine
Verbreitung verboten. Eine zweite Auflage, die eine Neubearbeitung
erforderte, gab ich wegen Zeitmangel nicht mehr heraus. Auch die
Naturwissenschaften vernachlässigte ich nicht. Ich las Darwins „Die
Entstehung der Arten“, Häckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“, L.
Büchners „Kraft und Stoff“ und „Die Stellung des Menschen in der Natur“,
Liebigs „Chemische Briefe“ usw. Ebenso widmete ich dem Lesen der
Klassiker einen Teil meiner Zeit. Ich war von einer wahren Lern- und
Arbeitsgier befallen.

Ferner übersetzte ich während der Haft „Etude sur le doctrines sociales du Christianisme“ von Ives Guyot und Sigismond Lacroix, eine Uebersetzung, die unter dem Titel „Die wahre Gestalt des Christentums“ bis heute erscheint. Dazu verfaßte ich eine Gegenschrift unter dem Titel „Glossen zu Ives Guyots und Sigismond Lacroix' Die wahre Gestalt des Christentums, nebst einem Anhang über die gegenwärtige und zukünftige Stellung der Frau“. Der letztere Aufsatz war, glaube ich, die erste parteigenössische Abhandlung über die Stellung der Frau vom sozialistischen Standpunkt aus. Die Anregung zu dieser Abhandlung hatte mir das Studium der französischen sozialistischen und kommunistischen Utopisten gegeben. Auch machte ich während dieser Haft die Vorstudien zu meinem Buche „Die Frau“, das zuerst im Jahre 1879 unter dem Titel „Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ erschien und trotz des Verbreitungsverbots unter dem Sozialistengesetz acht Auflagen erlebte. Im Jahre 1910 erschien die 50. und 51. Auflage.

Es war schön und nützlich, daß ich die Zeit meiner Gefangenschaft zu meinem eigenen Besten verwenden konnte, nichtsdestoweniger atmete ich auf und begrüßte den Tag, an dem ich meine Freiheit wieder erlangte. Da aber jeder Gefangene, der seiner baldigen Befreiung entgegensieht, von großer Unruhe und Ungeduld gepackt wird und Tage und Stunden zählt, suchte ich dieselbe dadurch zu meistern, daß ich mir vornahm, noch ein Pensum Arbeit zu erledigen, das nur unter äußerster Aufbietung der Kräfte bewältigt werden konnte. Nach dieser Methode verfuhr ich auch bei späteren Freiheitsentziehungen; ich fand sie probat.

Unsere Familien besuchten uns alle drei bis vier Wochen einmal. Wir setzten schließlich durch, daß sie die Gültigkeit der Rückfahrkarten — drei Tage — ausnutzen durften. Sie wohnten während der Zeit im Dorfe. Jede der Frauen brachte ein Kind mit; Frau Liebknecht ihren Aeltesten, der etwas jünger war als meine Tochter. Die Reise war beschwerlich, namentlich in der ungünstigen Jahreszeit. Die Frauen und Kinder mußten schon früh vor 7 Uhr von Hause fort; Geld für eine Droschke auszugeben, hätte jede der Frauen als ein Verbrechen angesehen. Von vormittags ½10 bis abends 7 Uhr durften sie in unserer Zelle bleiben, auch den Spaziergang im Garten mitmachen. Das war für uns eine große Erleichterung der Haft.

Ich hatte ein großes Bedürfnis zu körperlicher Arbeit. So kam ich auch auf den Gedanken, wir sollten uns zu diesem Zweck im Garten einige Beete anlegen. Unser Gesuch, uns dazu ein Stückchen Land zu überweisen, wurde abgelehnt, wir könnten aber von dem mehrere Meter breiten Rain, der sich längs der Gartenmauer hinziehe, in Betrieb nehmen, so viel wir wollten. So geschah es. Mit dem nötigen Werkzeug ausgerüstet, gingen wir an die Arbeit. Liebknecht, der damals seine Abhandlung über die Grund- und Bodenfrage schrieb, betrachtete sich als agrarischen Sachverständigen. Er versicherte, wir hätten an dem Rain einen vorzüglichen Humusboden zu bearbeiten. Als wir aber die Spaten in den Boden stießen, antwortete ein Mark und Bein durchdringendes Aechzen. Wir stießen bei jedem Spatenstich auf Steine. Liebknecht machte bei diesem Resultat ein langes Gesicht, wir lachten unbändig. Statt aus Humus bestand der Boden aus magerem Lehm, den wir, wie unser Aufseher versicherte, düngen müßten, wenn wir ernten wollten. Liebknecht und ich nahmen also einen großen Korb und zogen nach einem Komposthaufen, der in einer Ecke des Gartens angelegt war. Wer einen solchen Komposthaufen kennt, weiß, daß, wenn man ihn ansticht, ihm Düfte entströmen, die alle Wohlgerüche Indiens und Arabiens nicht überwinden können. Aber wir gingen mit wahrer Todesverachtung ans Werk, und nachdem wir den Korb gefüllt, steckten wir durch die Henkel zwei Stangen und trabten, Liebknecht vorn, ich hinten, nach unserem Beet. Die im Garten arbeitenden Frauen lachten aus vollem Halse, als sie unser Tun sahen. Ich habe damals und später öfter geäußert: Mutete der Staat uns eine solche Arbeit zu, wir hätten sie mit höchster Empörung zurückgewiesen. Das ist der Unterschied zwischen Zwang und freiem Willen.

Wir hatten unser Beet mit Radieschensamen bestellt und warteten sehnsüchtig auf die Ernte. Der Same ging prachtvoll auf, das Kraut schoß mächtig in die Höhe, aber die ersehnten Radieschen zeigten sich nicht. Jeden Vormittag, sobald wir unseren Spaziergang antraten, veranstalteten wir ein Wettrennen nach dem Radieschenbeet, denn jeder wollte die ersten Früchte ernten. Vergebens. Als wir nun eines Tages kopfschüttelnd um unser Beet standen und tiefsinnige Betrachtungen über die fehlgeschlagene Ernte anstellten, lachte unser Aufseher, der in einiger Entfernung unserer Unterhaltung zugehört hatte, und sagte: „Warum Sie keine Radieschen bekommen, meine Herren, das will ich Ihnen sagen, Sie haben zu fett gedüngt.“ Tableau! So war also alle unsere Mühe vergeblich gewesen.

* * * * *

In den ersten Monaten des Jahres 1873 sollte wieder der Reichstag zusammentreten, und so mußte die sächsische Regierung wohl oder übel eine Neuwahl für den von mir innegehabten Wahlkreis anordnen. Der Wahltag wurde auf den 20. Januar festgesetzt. Die ganze Partei betrachtete es als eine Ehrensache, nicht bloß das Mandat für mich wiederzuerobern, sondern auch mit höherer Stimmenzahl. Was an agitatorischen Kräften zur Verfügung stand, eilte in den Wahlkreis. Auer, Motteler, Vahlteich, Wilhelm Stolle, Walster, York usw. gingen an die Arbeit. Als Gegenkandidat hatten die Gegner den Bezirksgerichtsdirektor Petzoldt in Glauchau aufgestellt, ein wegen seines leutseligen Wesens im Wahlkreis sehr beliebter Herr. Aber das half ihnen nichts. Am Abend des Wahltags wurden für mich 10740, für meinen Gegner 4240 Stimmen gezählt. Ich brauche nicht zu versichern, daß dieses Wahlresultat im Wahlkreis wie in der ganzen Partei stürmischen Jubel hervorrief. Das Resultat war eine klatschende Ohrfeige für den Gerichtshof, der mir das Mandat aberkannt hatte. Ich hatte fast 4000 Stimmen mehr erhalten als am 3. März 1871. Und damit nicht genug. Einige Tage nach der Wahl veröffentlichte mein besiegter Gegner in der Presse des Wahlkreises seinen Dank an die Partei, die den Wahlkampf gegen ihn in so anständiger Weise geführt habe.

Auer und York kamen nach der Wahl, nachdem sie zuvor meine Frau in Leipzig besucht und sie beglückwünscht hatten, zu mir nach Hubertusburg, um mir ebenfalls zu gratulieren. Es war ein fröhliches Wiedersehen.

Als dann die Session des Reichstags begann, machte ich den Versuch, von der sächsischen Regierung für die Teilnahme an dessen Sitzungen Urlaub zu erhalten. Wie ich vorausgesehen, ohne Erfolg. Nunmehr stellte Schraps, unterstützt von einer Anzahl liberaler Abgeordneter, den Antrag, mich für die Dauer der Session aus der Strafhaft zu entlassen. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Der Abgeordnete v. Mallinckrodt erklärte, er bedauere, daß ich an den Sitzungen des Reichstags nicht teilnehmen könne, aber der § 31 der Reichsverfassung erstrecke die Immunität der Abgeordneten nicht auf die Strafhaft.

Ich bekenne, daß ich diesen Beschluß nicht bedauerte. Wäre ich freigekommen, so mußte ich um die Urlaubszeit länger im Gefängnis zubringen. Und da mich dieses Schicksal während drei bis vier Sessionen getroffen haben würde, wäre statt im Frühjahr 1875 frühestens Sommer 1876 meine Haft zu Ende gewesen.

In einem konstitutionellen Staate sollte es eine selbstverständliche Sache sein, daß ein Abgeordneter, der in Strafhaft sich befindet, bei Beginn einer Session sofort aus der Haft entlassen wird, um seine Pflichten als Abgeordneter erfüllen zu können. Davon will man in Deutschland nichts wissen. Und doch ist für einen Abgeordneten, der wie ich mehrere Jahre Strafhaft zu verbüßen hatte, die regelmäßige Beurlaubung während einer Session keineswegs eine Annehmlichkeit, wie irrtümlicherweise allgemein angenommen wird. Ich wenigstens würde sie als eine Verschärfung meiner Haft angesehen haben, weil sie vor allem meine wirtschaftliche Existenz noch schwerer geschädigt haben würde.

Liebknecht und ich hatten selbstverständlich das Bedürfnis, wenigstens mit den führenden Genossen draußen in möglichster Fühlung zu bleiben. Das war allerdings nur in beschränktem Maße möglich. Konnten wir auch öfter Briefe heimlich hinausbringen, die Gefahr bestand, daß durch eine ungeschickte Antwort dieser Verkehr dem Anstaltsdirektor verraten wurde, und das hätte für uns unangenehme Folgen gehabt. Es galt also, vorsichtig zu sein. So schrieben wir nach Möglichkeit direkt, obgleich diese Korrespondenz der amtlichen Kontrolle unterlag. Ab und zu nahm dieselbe auch einen humoristischen Charakter an. Einen Brief, den ich von Most als Antwort auf einen solchen von mir aus dem Zwickauer Landesgefängnis erhielt, woselbst er wegen verschiedener Preß- und Redevergehen über ein Jahr zu verbüßen hatte, bringe ich hier zum Abdruck, weil er zugleich die Persönlichkeit Mosts am besten charakterisiert. Most antwortete mir:

Zwickau, den 21.4.73.

Mein lieber Bebel!

Aus Deinem Schreiben, das wie ein lichter Blitzstrahl aus düsterem Himmel in meine Einsiedelei fuhr, ersehe ich und freue mich darüber, daß es Euch ruchlosen Bösewichtern, die Ihr mittels Stahlfedern und Tintentöpfen den Staat in Gefahr gebracht hattet, ganz vortrefflich ergeht. — Ihr wollt nun auch wissen, wie es mit mir steht; glaub's gern, da ich mir denken kann, daß es Euch gerade so ergehen wird, wie es mir erging, ehe ich hier meinen Einzug hielt, daß Ihr nämlich bei dem Namen Zwickau stets an ein Zwicken denkt und ein „Au“schreien zu vernehmen wähnt. Ich muß gestehen, daß es mir trotz meiner zähen Katzennatur und meines Galgenhumors — ohne mich gerade einer Angstmichelei hinzugeben — nicht ganz so wohl war, wie den bekannten 500 Säuen, wenn ich vor meiner Hieherkunft an dieselbe dachte, jetzt aber, wo ich da bin, hat die Sache ein ganz anderes Gesicht. — Natürlich solch ein Jagdschloßleben wie Ihr führe ich nicht, sondern eher ein Karthäusermönchsdasein, allein Langeweile habe ich desungeachtet auch nicht, da ich ja noch gar vieles nachzuholen habe und jetzt daher die Gelegenheit zu fleißigem Studieren benütze. Zur Zerstreuung dienen mir die Zeitungen, welche ich erhalte, und alle meine leiblichen Bedürfnisse befriedige ich in gewohnheitsmäßiger Weise (Kost, Kleidung usw.). Ueberhaupt erdulde ich nur eine Freiheits-, nicht aber auch eine Leibesstrafe, wofür ich alles halte, was dem Gefangenen außer der Entziehung seiner Freiheit angetan wird. Bequemlichkeiten habe ich, von einem zu schriftlichen Arbeiten geeigneten Tische abgesehen, nicht. Nach einem eigenen Bette empfinde ich kein Bedürfnis, während ich aber mein eigenes Kopfkissen benütze. Die Zelle ist eben eine solche, wie sie Vahlteich schilderte (der ebenfalls längere Zeit im Landesgefängnis zu Zwickau war); andere gibt es hier nicht; man gewöhnt sich indes bald daran, zumal diese Zellen trotz des hochgelegenen Fensters sehr hell sind. Spazieren gehe ich pro Tag 2 Stunden in einem Raume, welcher ein Mittelding zwischen Hof und Garten ist, und zwar allein. Besuche macht mir niemand, weshalb ich natürlich auch keine annehmen kann. Dir wird es seinerzeit nicht verwehrt werden, daß Du mit Deinen Familiengliedern verkehrst. Ebenso wird man Dir so wenig wie mir den Bart abnehmen wollen. Licht brenne ich bis 10 Uhr. So, das wäre das Wesentlichste, was ich Dir von meiner Sozialistenklause aus berichten kann. Betreffs der Studien seid Ihr freilich schön heraus, da Ihr gleich Euren Professor bei Euch habt. Ich fühle es besonders bei Sprachstudien, wie sehr da ein Lehrer mangelt, zumal ja die Konversation ohne einen solchen gar nicht gepflogen werden kann. Apropos! Was für ein Lehrbuch benütztest Du fürs Französische? Mir hat Vahlteich auf meinen Wunsch nach einer französischen Grammatik einen ganz antiken, unbrauchbaren, unausstehlich-umständlichen und verkehrten Schunken (Hirzel) übermittelt, den ich schon manchmal vor Zorn am liebsten mitten entzwei gerissen hätte. — Was Du von Thiers schreibst, ist klar. Dieser Knirps ist der größte Intrigant Frankreichs, der lebendig gewordene Geldsack und zugleich die einzige Person, welche die Sache der Monarchie zu fördern verstand, freilich ohne Erfolg, allein der Plan war wenigstens nicht schlecht angelegt: den Status quo so lange wie möglich aufrecht zu erhalten und so schön langsam, gleichsam unmerklich die Republik erblassen und die Monarchie erscheinen zu lassen. Jeder andere Monarchist würde an seiner Stelle längst einen Staatsstreich gemacht haben und — dabei das Genick gebrochen, wie überhaupt der Monarchie den letzten Rest gegeben haben. In Spanien — ist man zu glauben versucht — haben die regierenden Tratschweiber vor lauter Schwätzen ihr bißchen Verstand verloren, sonst könnte es doch wahrhaftig nicht möglich sein, daß sie mit der Handvoll karlistischer Mordbrenner nicht fertig werden. Nun, hoffentlich wird da, wie in Frankreich, bald energisch ausgemistet. — Du staunst über die Fortschritte, die unsere Sache in der jüngsten Zeit gemacht hat; nun, die Ursachen sind zahlreich genug, um solche Wirkungen zu erzeugen. Ich sage Dir: nur 1000 Mann wie Du, oder selbst nur wie ich (ohne Selbstüberhebung) — und Europa, nicht bloß Deutschland, ist binnen 5 Jahren sozialistisch. Es erstehen zwar neue Kräfte genug, und wenn die Feigheit nicht so groß wäre, zeigte sich noch mancher, aber es sind viel zu wenig. Man sollte glauben, die meisten Menschen fallen bei der Geburt auf den Kopf oder gar auf den Mund, weil sie nicht imstande sind, den letzteren ordentlich aufzumachen. Und wir brauchen weiter nichts, als bloß Leute, die Mund und Herz am rechten Flecke haben. — Wenn ich mich schon in keinen großen Hoffnungen wiege, so freue ich mich immerhin gewaltig auf die nächste Wahlkampagne. Wenigstens wird agitatorisch gefletscht werden, daß die Funken sprühen. Die Situation ist für uns wie geschaffen. Fortschritts-Bankrott, Siegestaumel-Katzenjammer, Invalidenfrage, Wohnungsfrage, Schulfrage, Milliardenfrage, Friedensfrage, Gründerfrage, „Kulturkampf“-Angelegenheit, Fabrikantenbünde, Maßregelungen, Verfolgungen, Schubsereien usw. werden ihr Schärflein zu unsern Gunsten beitragen. Somit konserviere ich meine Lungenflügel und wetze meinen Schnabel, um dereinst mit wahrer Wollust, wenn die Wahlschlacht tobt, so manchen politischen Sumpfpiraten in den Grund bohren zu können. — In Sachsen freilich werde ich direkt nicht lospauken können, allein es gibt anderwärts auch viele Leute, denen man die Bretter loslösen muß, welche vor ihre Hirnkästen genagelt sind. Aus Sachsen wurde ich nämlich polizeilich ausgewiesen, wiewohl sich die höheren Instanzen noch nicht darüber ausgelassen haben, ob dieses Ding der gesetzlichen Unmöglichkeit auch durchgeführt werden soll, allein ich erwarte nichts Gutes, es ist mir aber auch ganz „schnuppe“, wie die Sache abläuft. Weniger „schnuppe“, ja geradezu unbegreiflich ist es mir, daß zu diesem Akt …[1] der sanfte Julius[2] bisher nicht zu bewegen war, einen Kommentar zu liefern. Richtig, das Schönste hätte ich bald vergeben: im Falle ich trotz Ausweisung wieder in Sachsen mich zeigen sollte, wurde mir aktenmäßig bedeutet, steckt man mich in ein Korrektionshaus!! — Und auch darüber wird geschwiegen. — Nun, wenn ich wieder frei bin, ist auch noch Gelegenheit zum — — —.

Im allgemeinen befinde ich mich sehr wohl und bin bei ausgezeichnetem Humor. Jetzt lebe wohl, grüße alle Insassen des Sozialistenseminars und sei auch Du bestens gegrüßt von Deinem

Joh. Most.

Einen anderen Charakter wie der Mostsche Brief hatte ein solcher von Kokosky an uns. Dieser, der 1871 in Königsberg die „Demokratischen Blätter“ herausgab, mußte diese bald eingehen lassen und trat Ende 1872 auf Einladung von Bracke in die Redaktion des „Braunschweiger Volksfreund“. Kokosky hatte eine sehr humoristische Ader, wovon die Kneipabende der damaligen Parteitage zu erzählen wissen. Auch er verfiel dem Schicksal der Parteiredakteure jener Zeit. Es währte nicht lange, und er hatte so und so viele Monate Haft auf dem Rücken. Diese verdarben ihm aber nicht den Humor, wie folgender Brief zeigt:

Braunschweig, den 14. Mai 1873

Werte Freunde! Sie haben es gut; vorsorglich hat der väterliche Staat Sie in sein Gewahrsam genommen, damit Sie in beschaulicher Stille die Segnungen einer guten Regierung kennen lernen. Haben die drei Männer im feurigen Ofen Loblieder singen können, warum sollt Ihr es nicht, wenn es anders die Festungsordnung nicht verbietet, hinter den Mauern von Hubertusburg können?

Auch mir hat eine gütige Vorsehung drei Monate Festungshaft gewährt, damit ich wenigstens für einige Zeit den Schreckruf nicht zu hören brauche: Herr Kokosky, es fehlt Manuskript! Schon der Gedanke hat etwas Beruhigendes, daß etwaige Briefe, die man empfängt, erst vorher die Zensur passieren müssen, so daß unangenehme und aufregende Mitteilungen fern gehalten werden. So enthalte ich mich auch aller revolutionären Mitteilungen, so gern ich Euch auch über den Stand der Rüstungen, über die äußerst gelungene Anfertigung der Handgranaten und Nitroglyzerinbomben, die wahrhaft Wunder verrichten, aufklären möchte. Nur das eine:

Hamburg, 27. Mai. Petroleum fester; loco R.-M. 16,20-80, per Mai 16,20, Aug.-Dez. 17 B., 16,90 G.

Die Bourgeoisie fängt bereits an, Sie zu beneiden. Als neulich in einer Bourgeois-Gesellschaft auf die Sozialdemokraten losgezogen wurde, meinte ein für sehr fein, ja für oberfein gehaltener Börsier: „Bei den heutigen Börsennachrichten geht mir der Kopf so mit Grundeis, daß ich Bebel beneiden möchte, daß er ruhig kann sitzen in Hubertusburg und braucht sich nicht zu kümmern um die Schwankungen der Kurse. Man gebe so einem Sozialdemokraten so für 30000 Taler Wechslerbank zu 130 und lasse sie dann fallen auf 85, oder Louise Tiefbau mit 15 Prozent über Pari, und ich kann Ihnen sagen, sie sind gestraft genug.“ So, von dieser Seite müßt Ihr die Sache betrachten lernen, dann wird das gärende Drachengift sich wieder in die Milch der frommen Denkungsart verwandeln, mit welcher und mit den herzlichsten Grüßen — ich schließe, da der Brief zur Post gebracht werden soll — ich bleibe

Euer treuer Freund und Parteigenosse

S. Kokosky.

* * * * *

Am 29. Oktober 1873 starb der König Johann von Sachsen, und sein Sohn Albert trat an seine Stelle. Da in der Regel ein solcher Thronwechsel mit einer Amnestie verbunden ist, hofften auch unsere Frauen auf eine solche. Man konnte ihnen das nicht verargen, denn sie litten am härtesten unter unserer Verurteilung und Haft, die wir als eine nicht zu vermeidende Konsequenz unserer Tätigkeit ansahen. Sobald wir aber von den erweckten Hoffnungen erfuhren, schrieben wir ihnen, sie möchten sich nicht mit falschen Hoffnungen tragen. Eine Amnestie werde kommen, aber nicht für uns. In dem Briefe an meine Frau bemerkte ich: der neue König werde eher alle Zuchthäusler Sachsens begnadigen als uns. Die Amnestie fiel sehr mäßig aus, von den zahlreichen gefangenen Parteigenossen in den verschiedenen sächsischen Gefängnissen wurde nach meiner Erinnerung nicht einer getroffen. Und das war gut so. Die allgemeinen Reichstagswahlen, die Anfang 1874 stattfanden, weil damals der Reichstag nur eine dreijährige Legislaturperiode hatte, zeigten eine Stimmung, die durch Amnestien nicht hätte verdorben werden dürfen.

Mir kam der Gedanke, daß ich mich auch als Gefangener in sehr nützlicher Weise an der Wahlagitation beteiligen könnte durch Abfassung einer Broschüre über die bisherige Tätigkeit des Reichstags, die den Kandidaten und Agitatoren der Partei das nötige Material liefere. Gedacht, getan. Die Broschüre erschien rechtzeitig unter dem Titel: Die parlamentarische Tätigkeit des Reichstags und der Landtage und die Sozialdemokratie von 1871 bis 1873. Als Anhang hatte ich derselben die wichtigsten Bestimmungen des Reichswahlgesetzes, der Wahlgesetzverordnung, der einschlägigen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs, der Vereinsgesetze und Winke für die Agitation angefügt. Die Broschüre, die anonym erscheinen mußte, wurde von der Partei mit großer Genugtuung begrüßt. Zwei Jahrzehnte später machte mir sogar der Abgeordnete Eugen Richter ein Kompliment darüber, als wir uns eines Tages auf einer Reise nach Hamburg in einem Wagenabteil begegneten. Wir hatten bis dahin, obgleich wir damals bereits über fünfundzwanzig Jahre Kollegen im Reichstag gewesen waren, nie miteinander eine Privatunterhaltung gepflogen. Diese kam jetzt in Fluß. Im Laufe der Unterhaltung erzählte mir Richter, er habe in den siebziger Jahren in einer thüringischen Stadt einen Vortrag in einer Volksversammlung gehalten, wobei in der darauf stattgefundenen Debatte ihm ein Parteigenosse von mir eine Reihe Sünden vorgehalten, die er zum Teil längst vergessen gehabt habe. Da er bemerkte, daß der Redner die Vorwürfe aus einer Broschüre zitierte, habe er einen seiner Parteigenossen gebeten, sich an den Redner heranzuschlängeln, um festzustellen, was für eine Broschüre es sei, aus der er zitiere. Er habe alsdann sich dieselbe beschafft und aus dem Inhalt ersehen, daß die der Broschüre zugrunde liegende Idee eine sehr gute sei. Darauf habe er sich entschlossen, den Gedanken, wenn auch in anderer Form, ebenfalls für seine Partei zur Durchführung zu bringen. So sei sein bekanntes politisches Abcbuch entstanden. Ich war in diesem Augenblick ein wenig stolz, meinem vielgerühmten politischen Gegner als Lehrmeister gegenüber zusitzen. Später haben bekanntlich auch die anderen Parteien, unserem Beispiel folgend, derartige politische Leitfäden herausgegeben.

Eine andere Wirkung meiner Broschüre war, daß ein Kaplan Hohoff aus Hüffe in Westfalen sich veranlaßt sah, in mehreren Artikeln, die der „Volksstaat“ veröffentlichte, gegen meine Auffassung des Christentums und des Kulturkampfes zu polemisieren. Ich antwortete in einer Reihe Artikel, die nachher als Broschüre unter dem Titel „Christentum und Sozialismus“ erschienen sind und bis heute eine größere Zahl Auflagen erlebten.

Die Wahlen waren auf den 10. Januar 1874 angesetzt worden. Das Wahlresultat war für uns sehr befriedigend. Wir hatten auf den ersten Hieb sechs Abgeordnete durchgebracht — Seib-Freiberg, Liebknecht-Stollberg-Schneeberg, Most-Chemnitz, Vahlteich-Mittweida-Burgstädt, Motteler-Crimmitschau-Zwickau und mich in meinem alten Kreise Glauchau-Meerane. Im 13. Wahlkreis Leipzig-Land war Johann Jacoby in Stichwahl gekommen. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hatte zwei seiner Kandidaten durchgebracht. Hasenclever in Altona und Reimer im schleswig-holsteinschen Wahlkreis Seegeberg. Hasselmann kam in Barmen-Elberfeld zur Stichwahl und siegte. Auch Johann Jacoby siegte mit 7577 gegen 6674 Stimmen, aber zur allgemeinen und unangenehmen Ueberraschung der Partei lehnte er das Mandat ab. Es war richtig, er hatte bei der Befragung, ob er eine Kandidatur annehme, nicht auch die Zusage gemacht, daß er eine Wahl annehmen werde. Er hatte in seinem Briefe ausgeführt: Den Parteigenossen sei seine Ansicht über das preußisch-deutsche Kaisertum bekannt; sie möchten hiernach ermessen, wie wenig Verlangen er trage, an den unersprießlichen Reichstagsverhandlungen sich zu beteiligen. Sollte — aus taktischen Gründen — die Partei für gut befinden, ihn als Kandidaten aufzustellen, so habe er nichts dagegen, er müsse jedoch im voraus bemerken, daß er — im Falle der Wahl — die freie Entscheidung über Annahme oder Ablehnung des Mandats sich vorbehalte. In dem Ablehnungsbrief bemerkte er, er habe seine Kandidatur nur als Protestkandidatur aufgefaßt, denn wie er über die neue Ordnung der Dinge in Deutschland denke, habe er schon am 6. Mai 1867 im preußischen Abgeordnetenhaus ausgesprochen. Er glaube nicht daran, daß man auf parlamentarischem Wege einen Militärstaat in einen Volksstaat verwandeln könne.

Der Fehler lag beim Wahlkomitee, das auf seinen ersten Brief keine klipp und klare Antwort verlangte. Die Aufregung über den Schritt Jacobys wurde in der Partei noch größer, als bei der Nachwahl unser Kandidat Wilhelm Bracke mit 5676 gegen nahe an 8000 Stimmen, die auf den Gegner fielen, unterlag. Ich selbst war über den Vorgang so aufgebracht, daß ich einen heftigen Brief an Dr. Guido Weiß, den Freund Jacobys, schrieb, worin ich die Ablehnung der Wahl tadelte.

Die beiden Fraktionen der Sozialdemokratie waren also nunmehr durch 9 Abgeordnete im Reichstag vertreten. Die Stimmenzahl, die auf ihre Kandidaten fiel, betrug 351670, davon kamen auf die Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 180319, auf die Kandidaten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 171351. Beide Fraktionen musterten also eine fast gleich starke Anhängerzahl; die Gesamtstimmenzahl war gegen 1871 um 200 Prozent, im ganzen um 236000 Stimmen gestiegen.

Dieser glänzende Wahlausfall hatte in den höheren Regionen wie in den bürgerlichen Kreisen stark verschnupft. Ein solches Resultat hatte man nicht erwartet. Es zeigte sich, daß allen Verfolgungen und Schikanen zum Trotz die Partei ständig wuchs, und so verdichteten sich die schon vorhandenen Gedanken in den maßgebenden Kreisen mehr und mehr, der Partei mit Ausnahmemaßregeln auf den Leib zu rücken.

* * * * *

Das tägliche Einerlei unserer Haft wurde Ende Februar 1874 durch einen Besuch von Gustav Rasch in amüsanter Weise unterbrochen. Rasch war ein wenig Sensationsschriftsteller, er liebte es, in seinen Arbeiten die Farben etwas dick aufzutragen. Er hatte sich dadurch einen Namen gemacht, daß er Ende der fünfziger und in der ersten Hälfte der sechziger Jahre in der „Gartenlaube“ und mehreren großen liberalen Zeitungen zahlreiche Artikel veröffentlichte über die Schandwirtschaft der Oesterreicher in Venetien und die „Tyrannenherrschaft“ der Dänen in Schleswig-Holstein, die großes Aufsehen erregten. Liebknecht und ich hatten ihn in Berlin kennen gelernt. Jetzt kam er hauptsächlich wohl zu einem Besuch, weil er hoffte, Material für einen Artikel zu erhalten. Solche Besuche fanden auf dem Bureau in Gegenwart eines Beamten statt und sollten nicht über eine Stunde währen. Das paßte aber Rasch nicht. Er verlangte vom Direktor, mit uns unter vier Augen sprechen zu dürfen, auch wünschte er unsere Zellen zu sehen. Der Direktor lehnte dieses Ansinnen mit den Worten ab: Er (Rasch) solle sich doch in seine Lage denken, um einzusehen, daß das nicht gehe; wäre er (Rasch) Direktor, könnte er auch nicht anders handeln, worauf Rasch mit seiner göttlichen Unverfrorenheit antwortete: O, wenn er Direktor wäre, er erlaubte es sicher! Eine Antwort, die uns alle zu schallendem Gelächter veranlaßte.

FUSSNOTEN:

[1] Die Stelle wurde durch den Kontrollbeamten gestrichen.

[2] Vahlteich. Most beschuldigte Vahlteich, daß er seine Kandidatur für den Reichstag unmöglich zu machen suche und die Veröffentlichung verschiedener Mitteilungen für die „Chemnitzer Freie Presse“ unterdrückte.

Königstein.

Im Laufe des März wurde uns offiziell mitgeteilt, wir würden am 1. April nach der Festung Königstein überführt werden. Die Nachricht war uns nicht angenehm. Liebknechts Haft ging Mitte April, die meine Mitte Mai zu Ende und da kam uns ein Umzug mit unseren Büchern und Skripturen und verschiedenen Möbelstücken sehr ungelegen. Im letzten Moment wurde aber die Uebersiedlung verschoben, und so konnte Liebknecht am 15. April von Hubertusburg nach Leipzig reisen. Ich aber mußte am 23. April 1874 die Reise nach dem Königstein in Begleitung eines Beamten in Zivil unternehmen. Als ich mich am Tage vor der Abreise vom Direktor verabschiedete und ihm für sein Entgegenkommen in so mancher Angelegenheit dankte, war er sehr gerührt. Er drückte mir zum Abschied warm die Hand und entließ mich mit den Worten: Gehen Sie mit Gott! Der beste Wunsch, den er von seinem Standpunkt aus wohl glaubte mir mitgeben zu können. Als ich dann am nächsten Morgen 5 Uhr die Reise antrat, war auch die ganze Familie des Aufsehers versammelt, um sich von mir zu verabschieden. Dieser wurde nunmehr nach dem Waldheimer Zuchthaus versetzt; ich glaube, die Zeit, in der er uns unter seiner Obhut hatte, war die schönste seines Lebens. Er starb bald nachher.

Der 23. April war ein herrlicher Tag, das ganze Elbtal grünte und blühte in voller Frühlingspracht. Beim Aufstieg auf die Festung begegneten wir dem Gouverneur der Festung, Generalleutnant v. Leonhardti, dem ich durch meinen Begleiter vorgestellt wurde. Während wir nun selbander den Weg nach oben zurücklegten, ließ sich der General in eine Unterhaltung mit mir ein. Er wünschte zu wissen, wie die Tagesordnung und die Behandlung in Hubertusburg gewesen sei. Nachdem ich ihm die gewünschte Auskunft gegeben, meinte er: Na, schlechter sollen Sie es bei mir nicht haben.

Als Aufenthalt wurde mir ein altes, nach früheren Begriffen bombenfestes Gebäude angewiesen, das vordem Zeughaus war. Auf dem Korridor standen zur Stütze des Daches Balken von einer Dicke, wie man sie nur noch auf den Böden alter Kirchendächer sieht. Die Stube war geräumig und hatte zwei schießschartenartige Fenster, die mit dicken Eisenstäben versehen waren, als gelte es, Mörder und Mordbrenner in Gewahrsam zu halten. An der einen Wand stand ein riesiger Kachelofen, in dem die fünf Pfund Kohlen, die mir als tägliches Deputat der Staat gewährte — denn es war trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit und dem prächtigen Frühlingswetter in dem Raum bitter kalt —, verschwanden. Ich mußte mir auf eigene Kosten noch Feuerungsmaterial beschaffen, wollte ich nicht frieren. Hätten wir unsere ganze Haft dort oben verbringen müssen, wir hätten ein kleines Vermögen für Feuerungsmaterial zugesetzt.

Eine interessante Persönlichkeit war mein Wärter. Dieser, ein siebzigjähriger Mann, leistete schon seit 36 Jahren auf der Festung Dienst und hatte 1849 zwei Mitglieder der provisorischen Regierung Sachsens, Tod und Heubner, ferner August Röckel und einen der Leiter des Dresdener Maiaufstandes, Michael Bakunin, den später nach den einen berühmt, nach den anderen berüchtigt gewordenen Führer der Anarchisten, in seiner Obhut. Die Genannten befanden sich auf der Festung in Untersuchungshaft.

Sehr beschränkt war der Raum für meinen Spaziergang, der sich auf einen einzigen kurzen Weg in dem kleinen Park der Festung erstreckte und bei dem regelmäßig ein Posten Wache stand, um die zahlreichen Besucher des Königsteins mir fern zu halten. Das einzig Zufriedenstellende war die Kost, die ich aus einer kleinen Wirtschaft auf der Festung bezog. Der Wirt schien mich in sein Herz geschlossen zu haben; das Essen war nicht nur sehr gut und billig, sondern auch sehr reichlich. Ich war verwundert, als ich am ersten Tage die für mich bestimmte Portion sah, war aber höchlich überrascht, als ich sie ganz verzehrte. Die Höhenluft tat ihre Wirkung. Die Soldaten der kleinen Besatzung klagten, daß sie hier oben nie satt würden und froh seien, wenn sie abgelöst würden, was alle drei Monate geschah.

Endlich kam der 14. Mai, der Tag der vorläufigen Befreiung. Unter denen, die mich zu Hause begrüßten, befand sich auch Eduard Bernstein, der extra zu diesem Zweck von Berlin nach Leipzig gekommen war. Ich hatte Bernstein bereits 1871 in Berlin kennen gelernt. Durch Vermittlung meines Rechtsanwalts Otto Freytag hatte sich das Ministerium herbeigelassen, mir bis zum Antritt der neunmonatigen Haft im Landesgefängnis in Zwickau eine sechswöchige Frist zu gewähren. Da in diese Pause Pfingsten fiel, machte ich mit meiner Frau und Tochter und einigen Freunden einen Ausflug nach der sächsischen Schweiz und dem Königstein. Hier machte es mir großes Vergnügen, daß die Zelle, in der ich drei Wochen kampiert hatte, mittlerweile zu den Sehenswürdigkeiten der Festung avanciert war. Der Fremdenführer machte auf die Fenster der Zelle, die mich damals beherbergte, aufmerksam. Später ist ihm das verboten worden. Für die Dresdener Parteigenossen hieß der Königstein längere Zeit scherzweise die Bebelburg.

Zwickau.

Nachdem ich vor meinem Haftantritt dem Direktor des Landesgefängnisses einen Besuch abgestattet, um zu erfahren, welche Erleichterungen er mir als politischer Gefangener während der Haft gewähren wollte, rückte ich am 1. Juli 1874 dort ein. Die Einrichtungen des Gefängnisses und die Erleichterungen, die den meisten politischen Gefangenen gewährt wurden, sind bereits in dem Mostschen Brief an mich erwähnt. Ich kann hier darauf Bezug nehmen. Den Besuch der Familie sollte ich monatlich einmal auf eine Stunde unter Aufsicht eines Beamten genießen können. Nachdem meine Frau einen solchen im dritten Monat meiner Haft gemacht hatte, verzichteten wir beiderseitig darauf, den Besuch zu erneuern. Zu den Kosten der Reise auch noch die Beamtenkontrolle über jedes Wort, das man miteinander sprach, in den Kauf nehmen zu sollen, das war ein zu großes Opfer. Anderweite Besuche empfing ich auch nur vereinzelt, ich sehnte mich nicht danach.

Ich stürzte mich nunmehr wieder mit allem Eifer in die Arbeit. Sehr aufregend wirkte auf mich, als von meiner Frau Berichte einliefen über den schweren Stand, den wir geschäftlich hatten, denn mittlerweile war die große Industriekrise mit aller Wucht hereingebrochen und machte sich obendrein für uns die ruinöse Konkurrenz eines neu errichteten Fabrikbetriebs geltend. Wer eine solche Situation nie durchgemacht hat, ahnt nicht, wie niederdrückend das Bewußtsein vollständiger Hilflosigkeit auf den Gefangenen wirkt. Meine Hauptgefängnisarbeit war die schon erwähnte Geschichte des deutschen Bauernkriegs — die längst vergriffen ist —, die aber schon aus dem Grunde kein Meisterwerk werden konnte, weil mir die nötigen Hilfsmittel fehlten. Ich schrieb das Buch, weil mir der große deutsche Bauernkrieg von 1525 und die ihm unmittelbar vorhergehenden revolutionären Bauernaufstände mit das wichtigste Ereignis der neueren deutschen Geschichte zu sein dünkt, das die offizielle Geschichtschreibung zu schildern schmählich vernachlässigte.

Am 1. Januar 1875 erhielt ich durch Motteler eine Depesche, daß am Vorabend York gestorben sei. York war ein knorriger und eigenwilliger Charakter, aber auch ein Mann von unermüdlicher Tätigkeit und höchster Opferwilligkeit. Dabei war er äußerst bescheiden. Er begnügte sich in den ersten Jahren als Parteisekretär mit einem Gehalt, das ihm nicht einmal erlaubte, wie er mir mal schrieb, sich eine neue Hose anzuschaffen. Er starb arm wie eine Kirchenmaus, die Partei dankte ihm dadurch, daß sie die Sorge für seine Frau und Kinder übernahm. An Yorks Stelle war schon den Herbst zuvor Auer als Parteisekretär eingetreten.

Endlich waren auch die neun Monate Zwickau überstanden. Am 1. April 1875 — dem 60. Geburtstag Bismarcks — wurde ich entlassen. Der Abschied zwischen dem Direktor und mir war auch hier ein warmer. Ich habe allezeit den Grundsatz befolgt, sich in Unvermeidliches, das man nicht zu ändern vermag, nach Möglichkeit zu fügen und den Dingen die beste Seite abzugewinnen. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, bin ich, ohne mir dabei das geringste zu vergeben, den Gefängnisbeamten bei Ausübung ihres schweren Amtes möglichst entgegengekommen, indem ich mich in die vorgeschriebene Ordnung fügte. Dafür waren sie stets dankbar. In den größeren Gefängnissen haben es die Beamten mit so viel sozial bedenklichen und verkommenen Elementen zu tun — den traurigen Produkten unserer famosen sozialen Ordnung —, daß ihr Dienst einer der schwersten ist, den es gibt; sie sind glücklich, wenn sie Leute unter ihre Obhut bekommen, mit denen sie menschlich verkehren können.

Die Zwickauer Genossen hatten sich am Tage meiner Entlassung zu einer Ovation vereinigt; sie überreichten mir und meiner Frau ein paar feine, mit einer Widmung versehene Kaffeetassen. Wir sollten das sächsische Nationalgetränk künftig noch recht lange in voller Ruhe und Muße und ungetrennt genießen. Der Wunsch war gut gemeint, aber in Erfüllung ging er nicht.

Unter den zahlreichen Gratulanten, die mir ihre Glückwünsche zu meiner
Befreiung übermittelten, befand sich auch die damals noch demokratische
„Frankfurter Zeitung“, die unter anderem mit Hinweis auf Bismarcks
Geburtstag schrieb:

„… Unser Glückwunsch sucht an einem anderen Orte einen anderen Mann. Er gilt dem schlichten Bürger und Arbeiter, der morgen nach fast ununterbrochener dreijähriger Haft das Gefängnis verläßt mit demselben fleckenlosen Rufe, mit dem er es nach einem Richterspruch, über den, soweit es von der Mitwelt noch nicht geschehen ist, die Nachwelt richten wird, betreten hat, geliebt von seinen Parteigenossen, gefürchtet und geachtet von seinen Gegnern. Wir zählen nicht zu diesen noch zu jenen, aber wir schätzen, wo wir sie finden, Ueberzeugungstreue und ehrliches, uneigennütziges Streben, und es erfüllt uns die stärkste Sympathie für jeden, der um ihrer willen leiden muß…. Gruß und Glückwunsch darum dem Reichstagsabgeordneten August Bebel.“

Einige Monate zuvor hatte mir der Hauptbesitzer der „Frankfurter Zeitung“, Leopold Sonnemann, zwanzig Flaschen Wein ins Gefängnis geschickt; ich ließ sie nach Hause wandern, da im Gefängnis solche Genüsse nicht gestattet werden. Ich trank sie nachher in Gemeinschaft mit meiner Frau und Freunden. Zu meiner Freilassung am 1. April sandte mir dann Sonnemann noch einen brieflichen Glückwunsch, worin er bemerkte: „Ich hoffe, daß nunmehr Dein Martyrium auf längere Zeit ein Ende hat.“ Wir duzten uns seit 1866.

* * * * *

Kurze Zeit nach meiner Entladung aus Zwickau erhielt ich einen Brief von Professor Schäffle aus Stuttgart. Schäffle hatte nach seinem Rücktritt aus dem Ministerium Hohenwart in Wien sich nach Stuttgart zurückgezogen, woselbst er seinen Studien lebte. 1874 war von ihm eine Broschüre, betitelt „Die Quintessenz des Sozialismus“, erschienen, die durch die objektive Beurteilung, die er darin dem Sozialismus zuteil werden ließ, großes Aufsehen machte. Jetzt sandte er mir den ersten Band seines dreibändigen Werkes „Bau und Leben des sozialen Körpers“ nebst einem Brief mit folgendem Inhalt:

Er wisse nicht, ob ich mich seiner noch vom Zollparlament her erinnere. Gesehen hätten wir uns seitdem nicht mehr, aber wohl öfter voneinander gehört. Gingen wir auch in vielem in unseren Lebensauffassungen auseinander, so sei doch wohl das Interesse an den sozialen Fragen bei uns gleich stark geblieben. Er sei daher so frei, mir ein Exemplar seines neuen Buches, in dem mich wohl manche Ausführung interessieren dürfte, zu übersenden. Es würde ihn freuen, wenn ich das Buch, das ihm viel Gedankenarbeit verursacht habe, als ein Zeichen der Erinnerung entgegennehmen wolle.

Ich antwortete entsprechend und dankte ihm nachträglich noch besonders dafür, daß er bei seinem Eintritt ins Ministerium Hohenwart die Amnestie für die verurteilten „Hochverräter“ Scheu, Most, Oberwinder usw. erlangt habe.

Im Sommer 1877 besuchte mich Schäffle in Leipzig. Wir unterhielten uns längere Zeit. Hauptthema unserer Unterhaltung bildete die Entwicklung der sozialdemokratischen Partei und der Zeitpunkt, wann der Sozialismus zum Siege kommen werde. Ich als Optimist sah diesen Zeitpunkt sehr nahe, er dagegen meinte, das werde mindestens noch zweihundert Jahre dauern. Darüber stritten wir uns. 1880 machte ich ihm einen Gegenbesuch in Stuttgart, wo wir ebenfalls wieder eine längere Unterhaltung hatten, die zeigte, daß er uns nach wie vor freundlich gegenüberstand. In den nächsten Jahren vollzog sich aber bei ihm eine vollständige Wandlung. Nachdem Bismarck die soziale Versicherungsgesetzgebung inaugurierte, von der, wie er meinte, seine Geheimräte zu wenig verständen, wurde seine Aufmerksamkeit auf Schäffle gelenkt. Schäffle war geneigt, eine Stellung im deutschen Reichsdienst anzunehmen. Damit aber keinerlei ungünstiges Vorurteil gegen ihn bestehen bleibe, verfaßte er jetzt eine Schrift, betitelt „Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie“, die das Gegenteil von seinen früheren Auffassungen bekundete. Hermann Bahr, der in seinen jungen Jahren ebenfalls sozialistische Hosen trug wie so viele unserer Intellektuellen, verfaßte darauf eine Broschüre, betitelt „Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle“, in der er in geschickter und humoristischer Weise Schäffle und seine Schrift verspottete. Meine Beziehungen zu Schäffle hörten mit dem Jahre achtzig auf. Bekanntlich erfüllte sich seine Hoffnung, in den Reichsdienst gezogen zu werden, nicht.

Von 1871 bis zum Vereinigungskongreß zu Gotha.

Die Regierungen und die Sozialdemokratie.

Die Pariser Kommune hatte in den regierenden Kreisen große Besorgnisse vor der sozialistischen Bewegung hervorgerufen. Die Sympathien, die die Kommune in allen Ländern mit sozialistischer Bewegung bei den Arbeitern fand, wurden auf das unangenehmste vermerkt und steigerten das Mißbehagen. Dazu kamen die übertriebenen, um nicht zu sagen lächerlichen Vorstellungen, die sich Bourgeoisie und Regierungen von der Macht der Internationale machten. So sollte zum Beispiel die Internationale der Pariser Kommune zwei Millionen Franken, viele tausend Gewehre, Munition usw. geliefert haben, obgleich der Kommune sowohl die Mittel der Bank von Frankreich zur Verfügung standen wie die Arsenale von Paris mit ihren Munitions- und Waffenvorräten. Ueberdies war die allgemeine Volksbewaffnung bereits seit Beginn September, seit der drohenden Einschließung von Paris durch die Deutschen, also noch unter der bürgerlichen Regierung, durchgeführt worden. In Deutschland wurden ebenfalls zahlreiche Stimmen laut, die ein scharfes Vorgehen gegen die sozialistische Bewegung forderten, ein Verlangen, dem Polizei, Staatsanwälte und Gerichte bereitwillig entgegenkamen. In dieser Situation benahm sich Garibaldi sehr anständig, der in einem Briefe an den Redakteur der „Romagnole“ — Caprera, August 1871 — schrieb: Die Internationale vertrete einen zahlreichen Teil der Gesellschaft, welcher um weniger Privilegierter willen leide. Folglich müßten sie für die Internationale sein, und wenn in ihren Einrichtungen Fehler seien, müßte man sie verbessern.

Obgleich um diese Zeit die sozialistische Bewegung in Oesterreich von geringer Bedeutung war und das Ministerium Hohenwart-Schäffle nicht die geringste Neigung zu Verfolgungsmaßregeln zeigte, folgte dennoch der Reichskanzler Graf v. Beust einer Einladung Bismarcks zu einer Konferenz der beiden Kaiser und ihrer Kanzler in Gastein, um dort über Maßregeln gegen die Internationale zu beraten. Schäffle hatte von dieser Konferenz abgeraten, aber er und Beust standen auf gespanntem Fuße, auch mochte es Beust darum zu tun sein, mit seinem langjährigen intimen Feinde einmal zusammenzukommen, wohingegen Bismarck von einer Zusammenkunft mit seinem Gegner von 1866 eine Annäherung erhoffte für seine spätere äußere Politik. Soweit bekannt wurde, kam man bezüglich der Internationale überein, zunächst die soziale Lage zu „studieren“.

Dagegen sah sich Anfang Februar 1872 die spanische Regierung veranlaßt — Spanien hatte mittlerweile in der Person des Prinzen Amadeo von Italien einen König erhalten —, in einer Zirkulardepesche an die Mächte einen Notschrei über die Internationale auszustoßen, die mit ihren Bestrebungen allen Ueberlieferungen der Menschheit ins Gesicht schlage, Gott aus dem Geiste auslösche, Familie und Erbnachfolge aus dem Leben streiche und durch ihre furchtbare Organisation eine Gefahr bilde, deren Größe nicht überschätzt werden könne. Die spanische Regierung wünsche deshalb, daß eine der Großmächte die Angelegenheit gegen die Internationale in die Hand nehme. Mit diesem Verlangen kam sie bei der englischen Regierung übel an. Der Leiter der englischen auswärtigen Politik, Lord Granville, antwortete ihr in einer Note, die ihr jedes weitere Vorgehen verleidete. Er erklärte: obgleich die Internationale ein Mittelpunkt für die Verbindung von Arbeitern und Gewerkschaften in den verschiedenen Teilen der Welt geworden sei, beschränke sie sich in Großbritannien darauf, hauptsächlich Ratschläge in Sachen von Arbeitseinstellungen zu geben. Auch habe sie sehr wenig Geld. Nach den bestehenden Gesetzen Großbritanniens hätten alle Ausländer das unumschränkte Recht, dieses Land zu betreten und sich hier aufzuhalten, und während sie in diesem Lande seien, ständen sie im gleichen Grade wie die britischen Untertanen unter dem Schutz der Gesetze. Auch könnten sie nicht anders bestraft werden als für einen Verstoß gegen das Gesetz und kraft des Urteilsspruchs der ordentlichen Gerichtstribunale nach einer öffentlichen Prozedur und nach einem Erkenntnis, das sich auf die in offenem Gerichtsverfahren beigebrachten Beweise stütze. Kein Ausländer könne als solcher des Landes verwiesen werden, mit Ausnahme derer, die auf Verträge mit anderen Staaten hin behufs wechselseitiger Auslieferung von Kriminalverbrechern weggeschafft würden. Schließlich äußerte Granville, es liege bis jetzt kein Grund vor, Aenderungen der bestehenden Gesetzgebung über den Aufenthalt von Ausländern in Großbritannien vorzunehmen.

Durch diese Haltung der englischen Regierung war jede Möglichkeit zu internationalen Vereinbarungen gegen die Internationale ausgeschlossen. Endlich zeigte auch der Ausgang des Kongresses der Internationale im Haag im September 1872, der mit einer Spaltung zwischen Sozialisten und Anarchisten — dort Marx, hier Bakunin — endete, auch der ängstlichsten Regierung, daß vorläufig die befürchteten Gefahren nicht eintreten würden. Und indem die Internationale den Sitz des Generalrats von London nach Newyork verlegte, war der Beweis geliefert, daß sie selbst ihre Reorganisation für eine Notwendigkeit hielt.

War so die Aussicht auf eine internationale Verfolgung der Sozialisten geschwunden, so hielt Bismarck um so nachdrücklicher an der Verfolgung der Arbeiterbewegung durch Ausnahmemaßregeln in Deutschland fest. Dieses zeigte seine Rede, die er Ende April 1873 im Herrenhaus hielt, worin er die Notwendigkeit scharfer Gesetze gegen die Partei der Internationale — wie er uns nannte — für ebenso notwendig erklärte wie gegen die Partei der weltlichen Priesterherrschaft, das Zentrum.

Dieser Ankündigung folgte die Tat auf dem Fuße. Anfang Juni 1873 ließ er dem Reichstag einen Preßgesetzentwurf zugehen, in dem der § 20 also lautete: Wer in einer Druckschrift die Familie, das Eigentum, die allgemeine Wehrpflicht oder sonstige Grundlagen der staatlichen Ordnung in einer die Sittlichkeit, den Rechtssinn oder die Vaterlandsliebe untergrabenden Weise angreift, oder Handlungen, welche das Gesetz als strafbar bezeichnet, als nachahmungswert, verdienstlich oder pflichtmäßig darstellt, oder Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise erörtert, wird mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft. Wer die im § 166 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich (Vergehen wider die Religion) vorgesehenen Handlungen mittels der Presse verübt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bis vier Jahren bestraft. Nach § 21 sollte der verantwortliche Redakteur einer periodischen Druckschrift mit der Strafe des Täters belegt werden.

Diese diabolischen Bestimmungen, die eine Aenderung des Strafgesetzes in wichtigen Materien enthielten, die jede wissenschaftliche Erörterung der mit Strafe bedrohten Fragen unmöglich machten und außerdem gegen alle Parteien Anwendung finden konnten, waren denn doch nebst anderen Bestimmungen der Mehrheit des Reichstags zu bedenklich. Der Entwurf fiel.

Mit seinem Preßgesetzentwurf hatte aber Bismarck nicht genug. Er beantragte in derselben Session auch eine Abänderung und Verschärfung des § 153 der Gewerbeordnung, wonach unter Umständen statt der bisherigen Maximalstrafe von drei Monaten Gefängnis eine solche bis zu sechs Monaten, eventuell bis zu einem Jahre erkannt werden konnte. Ferner schlug er eine Aenderung des § 108 der Gewerbeordnung vor, wonach die Streitigkeiten zwischen Unternehmern und den von ihnen beschäftigten Arbeitern durch Gewerbegerichte entschieden werden sollten, deren Vorsitzender von der obersten Justizaufsichtsbehörde des betreffenden Bundesstaats, deren Beisitzer durch die Gemeindevertretungen gewählt werden sollten. Wegen Schluß der Session blieben die Gesetzentwürfe unerledigt.

Im folgenden Jahre folgte der Entwurf eines Kontraktbruchgesetzes und ein neuer Preßgesetzentwurf, und in der Session von 1875/76 ein Entwurf für die Abänderung des Strafgesetzbuches, und endlich nach den Attentaten des Frühjahres 1878 das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Da vom Jahre 1874 ab die Sozialdemokratie wieder durch ihre Vertreter im Reichstag zum Worte kam, komme ich noch auf die Behandlung dieser Vorlagen ausführlicher zu sprechen.

Die Einigungsfrage vor den beiden Fraktionen.

Der Charakter, den die Verfolgungen seit 1872 gegen beide Fraktionen der Sozialdemokratie annahmen, hätte bei ihnen das Bedürfnis nach festem Zusammenhalten und nach Vereinigung hervorrufen sollen. Davon war aber vorläufig wenig zu merken. In den Jahren 1872 und 1873 waren sogar die gegenseitigen Angriffe in der Presse der beiden Fraktionen heftiger als je zuvor, und der Ton in der Presse übertrug sich auf die Versammlungen. Da um jene Zeit Auer neben York unser eifrigster und sehr wirksamer Agitator war, bekamen sie die Folgen dieser Kampfmethode besonders zu genießen, Auer noch speziell in seiner Agitation in Berlin, worüber sich beide öfter in Briefen, die sie an mich nach Hubertusburg richteten, beschwerten. Auer sprach nur noch von den Schülern Tölckes und von Tölckianern. Aus diesen Vorgängen erklärt sich der bittere Ton, den Auer einige Male auf den Parteikongressen anschlug, sobald die Einigungsfrage zur Erörterung kam, und sein Verhalten auf dem Einigungskongreß in Gotha. Das schloß aber nicht aus, daß er ehrlich die Vereinigung wollte, und als sie endlich unter seiner Mithilfe kam, keiner mehr als er bemüht war, die mancherlei persönlichen Gegensätze, deren Vorhandensein nach jahrelanger erbitterter Bekämpfung nur natürlich war, auszugleichen.

Die Frage der Vereinigung wurde zum ersten Male offiziell auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu Berlin (22. bis 25. Mai 1872) erörtert, auf der das Mitglied Harm, der sich schon auf dem allgemeinen deutschen Webertag sehr versöhnlich gezeigt hatte, im Namen seiner Elberfelder Genossen den Antrag stellte: „Die Generalversammlung möge Mittel und Wege suchen, um die verschiedenen Fraktionen der deutschen Arbeiterpartei zu vereinigen.“ Dieser Antrag wurde heftig bekämpft unter starken Ausfällen gegen unsere Partei und schließlich Uebergang zur Tagesordnung beschlossen.

* * * * *

Vom 7. bis 11. September 1872 hielt die sozialdemokratische Arbeiterpartei ihren vierten Kongreß in Mainz ab. Den Vorsitz führten Motteler und Vahlteich. Unter den Gästen befand sich Hartung-Wien, der jetzt die schweizer Gewerkschaften vertrat. Hartung war es 1869 gelungen, sich der Verhaftung zur Einleitung des Wiener Hochverratsprozesses auch wider ihn durch die Flucht zu entziehen. Er war eine Reihe von Jahren in Zürich und der schweizer Bewegung tätig, zog sich aber dann zurück und wurde als Inhaber einer großen Schreinerei in Zürich ein wohlhabender Mann. Der mit Hartung eng befreundete Oberwinder verblieb in Oesterreich und war Redakteur des „Volkswille“. Die gegen ihn ausgesprochene Ausweisung war zurückgenommen worden. Die Rolle, die er aber jetzt in der österreichischen Arbeiterbewegung spielte, wurde immer mehr eine zweideutige und führte schließlich zur Spaltung. Aber auch seines Bleibens war auf die Dauer nicht in Oesterreich. In der Zeit des Sozialistengesetzes lebte er in Paris und kam hier bei unseren Parteigenossen in den Verdacht, im Dienste der preußischen Polizei zu stehen. Der Partei hatte er Valet gesagt. Später kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm die Chefredaktion des „Dresdener Anzeigers“, eines magistratlichen Amtsblattes. Oberwinder setzte sich im Jahre 1911 in seiner Heimat Weilburg an der Lahn zur Ruhe.

Ich erwähne dieses hier im Anschluß an meine Bemerkungen über Hartung,
nachdem ich in dieser meiner Arbeit Oberwinders wiederholt gedachte.
Andreas Scheu, auch einer der Führer der damaligen österreichischen
Bewegung, der mit Oberwinder in Konflikt geriet, ging nach schweren
Verfolgungen außer Landes, und zwar nach England.

Unter den 51 Delegierten auf dem Mainzer Kongreß befand sich zum ersten Male der junge Karl Grillenberger, der sich um jene Zeit die ersten Sporen in der Nürnberger Arbeiterbewegung erworben hatte und deshalb in der Cramer-Klettschen Fabrik, in der er als Schlosser arbeitete, gemaßregelt worden war.

In den Verhandlungen des Kongresses kam auch die Vereinigungsfrage zur Erörterung. Es lag zunächst ein langer Antrag von Bruno Geiser vor, der die Redaktion des „Volksstaat“ scharf tadelte wegen ihrer Polemik gegen den „Neuen Sozialdemokrat“. Er verlangte, daß die Redaktion des „Volksstaat“ unverzüglich die Polemik einstelle und eine solche nur dann aufnehme, wenn der Parteiausschuß eine solche billige. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Es standen dann weiter drei Anträge zur Verhandlung, die sämtlich die Vereinigung befürworteten. Schließlich fand folgender Antrag Annahme, wodurch die anderen Anträge erledigt waren:

„Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ist seinen sozialistischen Prinzipien gemäß der einzige natürliche Bundesgenosse der sozialdemokratischen Arbeiterpartei; der Kongreß beauftragt demgemäß den Ausschuß, ein prinzipielles Zusammengehen mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein immer von neuem zu versuchen; ferner dafür Sorge zu tragen, daß die Haltung aller dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein abgeneigten Mitgliedschaften eine versöhnliche werde und die Redaktion des ‚Volksstaat‘ unverzüglich jede Polemik gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und seine Leiter einzustellen, sowie etwa neu eintretenden Anfeindungen von seiten des letzteren mit Schweigen zu beantworten, falls der Ausschuß nicht ausnahmsweise eine sachgemäße Erwiderung für unbedingt geboten erachtet.“

Kurze Zeit darauf, am 20. September 1872, veröffentlichte der „Neue Sozialdemokrat“ einen Artikel mit der Ueberschrift: „Ein ernstes Wort an die Arbeiter der Eisenacher Partei“, eine Anrede, in der er seiner ständigen Taktik uns gegenüber den Namen der Partei verschwieg und einen Gegensatz zwischen den Arbeitern und Nichtarbeitern in der Partei konstruierte. In dieser Ansprache, die der „Volksstaat“ wörtlich abdruckte, führte er bittere Beschwerde über angebliche Angriffe, die der „Volksstaat“ und einzelne Mitglieder der Partei trotz jener in Mainz beschlossenen Resolution gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein richteten. Auf seiner Seite habe man stets nur in der Verteidigung gestanden, wohingegen der „Volksstaat“ der Angreifer gewesen sei. Daraufhin erwiderte der „Volksstaat“ unter dem 28. September in einem Artikel mit der Ueberschrift „Eine Antwort“ und unterzeichnet „Die Redaktion“, in der jene Angriffe zurückgewiesen wurden. Am Schlusse des Artikels, den Liebknecht und ich auf Hubertusburg verfaßt und der Redaktion zugesandt hatten, hieß es: „Wir wollen von nun an alle Polemik gegen den ‚Neuen Sozialdemokrat‘ einstellen unter der Bedingung, daß er 1. unsere Partei ausdrücklich und unzweideutig als eine sozialdemokratische anerkennt und sie, wenn er von ihr spricht, stets bei ihrem richtigen Namen nennt, und 2. daß er die Angriffe gegen die Internationale Arbeiterassoziation unterläßt.

Wir unsererseits erklären, wie wir das schon des öfteren getan haben, 1. daß wir die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins als unsere Parteigenossen ansehen, was nicht ausschließt, daß wir gegen gewisse Persönlichkeiten im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein so lange ein entschiedenes Mißtrauen hegen werden, bis die von unserer Seite geltend gemachten Verdachtsgründe konklusiv widerlegt sind; 2. erklären wir uns bereit, einen Vorschlag zu unterstützen, der dahin ginge, einen gemeinschaftlichen Kongreß der beiden Fraktionen einzuberufen, auf welchem die Differenzpunkte behufs einer Einigung besprochen werden. Sollte eine Einigung respektive Verschmelzung nicht möglich sein, dann müßte wenigstens ein gemeinsames Programm aufgestellt und die Formen festgesetzt werden, innerhalb denen eine gemeinsame Aktion (bei Wahlen, der Agitation usw.) sich zu bewegen hätte. Ein von beiden Teilen gleichmäßig zu wählender Ausschuß hätte die Ausführung der vereinbarten Punkte zu überwachen. Ferner möchten wir noch die Niedersetzung eines aus beiden Fraktionen gleichmäßig zu wählenden Schiedsgerichts befürworten, das die gegen verschiedene Mitglieder einer der beiden Fraktionen von der anderen Seite erhobenen Anklagen zu untersuchen und zu richten hat. Bemerken wollen wir, daß ähnliche Vorschläge, wie die soeben angedeuteten, privatim schon wiederholentlich Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins von uns unterbreitet und von diesen auch gebilligt worden sind.“

Auf dem Mainzer Kongreß habe die sozialdemokratische Arbeiterpartei offiziell in feierlichster Form ihrer versöhnlichen Stimmung Ausdruck gegeben; am Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei es jetzt, die dargebotene Hand zu ergreifen und der deutschen Arbeiterwelt den Frieden zu geben.

Auf diesen Vorschlag antwortete der „Neue Sozialdemokrat“ durch nichtssagende Ausflüchte. Als dann kurze Zeit darauf die Lassalleaner eine Versammlung unserer Parteigenossen in Berlin gewaltsam sprengten, veröffentlichte der „Volksstaat“ eine Art Kriegserklärung gegen den „Neuen Sozialdemokrat“, die mit den Worten schloß: „Die offenbaren Verräter der Arbeitersache müssen unschädlich gemacht werden.“

Damit war der Kampf zwischen den beiden Fraktionen aufs neue entbrannt, man schoß in den beiden führenden Blättern herüber und hinüber und klagte sich gegenseitig mit einer Heftigkeit an, daß es schien, als stehe eine Vereinigung weiter denn je im Felde. Schließlich mußte es als ein Fortschritt in der Stellung der beiden Fraktionen zueinander angesehen werden, als der „Neue Sozialdemokrat“ anläßlich der Wahl am 20. Januar 1873 im 17. sächsischen Wahlkreis seine Parteigenossen dort aufforderte, nichts gegen meine Wiederwahl zu unternehmen.

Einen sehr unangenehmen Eindruck machte es auf unserer Seite, daß F.W. Fritzsche, der 1869 die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Eisenach mit gegründet hatte, jetzt plötzlich wieder auf die andere Seite schwenkte und Stellung gegen uns nahm.

In diesem gegenseitigen Kampfe glaubte die Kontrollkommission, die in
Breslau ihren Sitz hatte, unter Führung Geisers einen Rüffel der
Redaktion des „Volksstaat“ erteilen zu sollen, daß sie auf eigene Faust
Versöhnungsvorschläge gemacht und dabei den Kampf wider den „Neuen
Sozialdemokrat“ abermals aufgenommen habe.

Die Antwort gab der Kontrollkommission die nächste Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins.

* * * * *

Bei den polizeilichen Verfolgungen, die in jener Zeit in Betracht kamen, suchte der Leipziger Polizeidirektor seine Kollegen im übrigen Deutschland in den Schatten zu stellen. Der Auflösungs- und Ausweisungswut fügte er ein Verbot des Besuchs des Internationalen Arbeiterkongresses im Haag hinzu mit Androhung von vier Wochen Gefängnis im Falle der Zuwiderhandlung. Ebenso verbot er die Mitgliedschaft, die Anwerbung von Mitgliedern und die Geldsammlung für die Internationale. Als dann Hepner trotz des Erlasses eines Verbots den Haager Kongreß besuchte, erreichte ihn das angedrohte Geschick. Er bekam seine vier Wochen Gefängnis und wurde im nächsten Frühjahr auf Grund dieser Bestrafung aus Leipzig ausgewiesen, eine Maßregelung, die ihm nachher in der Umgebung Leipzigs wiederholt widerfuhr. Da er aber auch mit dem Parteiausschuß in Konflikt gekommen war, entschloß er sich, nach Breslau zu übersiedeln und dort einen Buchverlag zu gründen.

Die Animosität, die Hepner gegen den Parteiausschuß und speziell gegen York als Parteisekretär empfand, in dem er nur den verbissenen Lassalleaner, den bösen Geist in der Partei sah, veranlaßten ihn, an Marx und Engels Mitteilungen gelangen zu lassen, wonach es in der Partei sehr trübe aussehen sollte. Bei dem übertriebenen Mißtrauen, das Marx und Engels gegen alles Lassallesche empfanden, genügten diese Hepnerschen Schilderungen, um Engels zugleich im Namen von Marx zu einem Warnungsbrief an Liebknecht zu veranlassen. Da mir Liebknecht den Inhalt dieses Briefes mitteilte, nahm ich Veranlassung, an Marx folgendes zu schreiben:

„Hubertusburg, den 19. Mai 1873.

Geehrter Freund!

… Es sind mehr als 5 Jahre, daß ich Ihnen zum letztenmal geschrieben und jener Brief betraf Schweitzer. Dieser ist nun glücklich gestürzt und vieles andere seit jener Zeit ebenfalls. Unsere Partei hingegen hat einen mächtigen Aufschwung genommen und ich hoffe in weiteren 5 Jahren ist sie so weit, daß sie ein ernsthaftes Wörtchen mitreden kann. Hepner hat allem Anschein nach Ihnen und Freund Engels unsere Parteiverhältnisse sehr düster gemalt, sehr mit Unrecht. Ich habe darüber Freund Engels ausführlicher geschrieben, der Ihnen Mitteilung davon machen wird. Im großen und ganzen halte ich die Parteiverhältnisse für durchaus zufriedenstellend; was noch mangelhaft ist, wird in nicht allzulanger Zeit sich beseitigen lassen, allerdings ist da auch notwendig, daß man sich leidlich verträglich hält und nicht mit Gewalt Krakeel haben will. Was mich zu dieser Verträglichkeit bestimmt, ist, daß ich genau weiß, daß der beste und ehrlichste Wille für das Wohl der Partei auch bei den Andersmeinenden vorhanden ist. In einem solchen Falle halte ich es für unrecht, Meinungsverschiedenheiten schroff zu behandeln und zum Bruch zu reizen. Glauben Sie aber nicht, daß wir deshalb die Verträglichkeit zur Schwäche treiben, es gibt eine Grenze, wo sie aufhört; die Mittel und die Macht fehlen dann auch nicht, um unseren Willen durchzusetzen …

Dem Wunsche Liebknechts, daß Sie Lassalles Schriften mal zum Gegenstand einer kritischen Abhandlung machen möchten, schließe ich mich vollkommen an. Eine solche ist durchaus notwendig, und damit sie die nötige Wirkung erzielt, müßten Sie und kein anderer sie veröffentlichen. Eine solche Kritik würde der Partei in Deutschland nach verschiedenen Seiten hin den Boden ebnen.

Mit Liebknecht habe ich schon mehrere Male gesprochen wegen neuer Herausgabe des Kommunistischen Manifestes; wir können es aber in Rücksicht auf den Schluß nicht riskieren. Dieser würde uns sofort einen Hochverratsprozeß auf den Hals laden. Das Manifest ist zwar in einem Heft des Leipziger Hochverratsprozesses als Aktenstück abgedruckt, es sind auch einige Separatabzüge gemacht worden, aber das genügt nicht, es müßte nachdrücklich empfohlen und öffentlich verkauft werden können. Diese Schrift, mit einem passenden Vorwort verbunden, würde vielen die Augen öffnen, sie würde beweisen, wie unendlich schwächlich die Lassalleschen Vorschläge sind. Ueberlegen Sie sich die Sache einmal.

Mit freundlichem Gruß Ihr Bebel.“

In meinem Brief an Engels lauteten die entscheidenden Stellen:

„Ihr Brief, den Sie am 17. v. M. an Liebknecht sandten und von dessen Inhalt ich Kenntnis genommen, gibt mir Veranlassung, ebenfalls einige Zeilen an Sie zu richten. Hepner hat augenscheinlich die Farben über den Stand unserer Parteiverhältnisse sehr dick aufgetragen und namentlich den Einfluß und die Absichten Yorks recht schwarz gemalt. Wundern tut mich das von Hepner nicht, er ist ein durchaus braver und treuer Genosse, aber leicht verbissen, und gegen den Ausschuß und speziell gegen York hat er infolge einer ganzen Reihe von Streitigkeiten einen solchen Zorn, daß er das Schlechteste von ihnen glaubt und jedes Wort aufs strengste auslegt.“

Ich setzte dann im Detail auseinander, warum Hepner und York verbissene
Gegner seien, und fuhr fort:

„Neben den schlimmen hat York auch entschieden gute Eigenschaften, dahin gehört, daß er mit großem Eifer die Agitation und regelmäßige Steuerzahlung betreibt, zwei Dinge, die sehr notwendig sind und die seit den Wirren des Jahres 1870 — Verhaftung des Braunschweiger Ausschusses — im argen gelegen haben. Hier ist sein Feld und hier hat er allerdings auch Verdienste aufzuweisen.

Ein zweiter Punkt ist unsere Stellung zu Lassalle und dem Lassalleanismus. Da sind Sie wie Hepner entschieden im Unrecht, wenn sie meinen, wir könnten rücksichtslos vorgehen, ohne erheblichen Schaden in der Partei zu haben. Der Lassallekultus muß ausgerottet werden, damit bin ich ganz einverstanden, auch die falschen Ansichten Lassalles müssen bekämpft werden, aber mit Vorsicht. Sie können von dort aus unmöglich unsere Verhältnisse genau beurteilen, und Hepner ist zu wenig praktisch.

Sie dürfen nicht vergessen, daß die Lassalleschen Schriften tatsächlich — das läßt sich nicht wegdiskutieren — durch ihre populäre Sprache die Grundlage der sozialistischen Anschauung der Massen bilden. Sie sind zehnfach, zwanzigfach mehr wie irgend eine andere sozialistische Schrift in Deutschland verbreitet, Lassalle genießt so eine bedeutende Popularität. Diese Popularität ist durch die Ihnen hinlänglich bekannten Mittel der Gräfin Hatzfeldt, Schweitzers und anderer zum Kultus potenziert worden, und wenn letzterer auch, dank dem gesunden Gefühl der Massen und unserer eigenen Tätigkeit, schon bedeutend abgenommen hat und täglich mehr abnimmt, so wäre es doch unklug, durch rücksichtsloses Vorgehen diese Gefühle zu verletzen.

In unserer eigenen Partei ist der Lassallekultus so gut wie verschwunden, aber immerhin gibt es einige Gegenden, wie das Rheinland und Schlesien, in denen er Anhänger zählt, und, was uns namentlich veranlassen muß, nicht allzu schroff vorzugehen, ist, daß sehr viele Arbeiter im früheren Hatzfeldtschen Lager und im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sich mehr und mehr uns nähern und teilweise schon angeschlossen haben. Daß je der Lassalleanismus in Deutschland wieder Oberwasser bekommt, daran ist nicht entfernt zu denken; lassen wir also den Dingen ruhig ihren Lauf und wo sich Gelegenheit bietet, dem spezifischen Lassalleanismus einen Klaps zu versetzen, da wird es geschehen. Das hat, glaube ich, auch der „Volksstaat“ bisher getan, und wenn darüber York und einige andere sich ereifern, so läßt man sie eben gewähren.

Ein vernichtender Schlag für den Lassallekultus würde es sein, wenn Freund Marx dem Wunsche Liebknechts — den ich vollständig teile — nachkäme und in einigen objektiv gehaltenen Artikeln im „Volksstaat“ wissenschaftlich die Fehler und Mängel der Lassalleschen Theorien nachwies. Marx' wissenschaftliche Autorität auf ökonomischem Gebiet ist so unbestritten, daß die Wirkung einer solchen Arbeit eine kolossale sein würde. Helfen Sie uns, daß Freund Marx diesen Dienst der Partei leistet.

Das oben Gesagte kurz resumiert, steht die Sache also so: Yorks Einfluß ist unbedeutend, er selbst nichts weniger als gefährlich, der Lassalleanismus in der Partei ist ebenfalls wenig verbreitet, Schonung nur in Rücksicht auf zahlreiche ehrliche, aber mißleitete Arbeiter, die bei geschickter Behandlung uns sicher sind, geboten.

Ich hoffe, daß nach diesen Auseinandersetzungen Sie nicht anstehen werden, Ihre Mitarbeiterschaft dem „Volksstaat“ zu erhalten. Eine Zurückziehung (womit Engels gedroht) wäre das Allerverkehrteste, was Sie tun könnten, dadurch würden Sie dem oppositionellen Element eine Bedeutung beilegen, die es absolut nicht hat, und die Partei schädigen….

Mit freundlichem Gruß Ihr Bebel.“

An Hepners Stelle trat Wilhelm Blos als leitender Redakteur. Blos war zuvor an mehreren süddeutschen demokratischen Blättern Redakteur gewesen, dann wurde er Mitarbeiter an unserem Parteiblatt, dem „Fürther demokratischen Wochenblatt“, dessen Hauptleserkreis aber in Nürnberg war. Blos war 1872 der Partei wie der Internationale beigetreten und wurde an Stelle des verhafteten Kokosky Redakteur des „Braunschweiger Volksfreund“, alsdann des „Volksstaat“, den er, nachdem Liebknecht freigekommen war, Herbst 1874 verließ, um auf dessen Wunsch die Redaktion der Mainzer „Süddeutschen Volksstimme“ zu übernehmen.

In jenen Jahren waren die gerichtlichen Verfolgungen gegen den „Volksstaat“ so nachdrücklich, daß beständig zwei, manchmal drei seiner verantwortlichen Redakteure im Gefängnis zubrachten. Aehnlich erging es den meisten anderen unserer Parteiorgane, zu denen damals außer dem „Volksstaat“ der „Braunschweiger Volksfreund“, der „Dresdener Volksbote“, die „Chemnitzer freie Presse“, der „Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund“, das „Fürther demokratische Wochenblatt“, der „Münchner Zeitgeist“, die „Hofer Zeitung“, die Mainzer „Süddeutsche Volksstimme“ und der „Thüringer Volksbote“ zählten.

Die führenden Persönlichkeiten jener Zeit hatten mit wenigen Ausnahmen
alle mehr oder weniger oft mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht. In
Sachsen fügte man hierzu noch die Ausweisungen aus Orten und ganzen
Bezirken, von der neben Most und Hepner unter anderem Auer, Daschner,
Lyser, Muth, Rüdt, Ufert, später auch Max Kayser betroffen wurden.

Der Parteikongreß zu Eisenach 1873.

Zu jener Zeit marschierte auch Bayern in den Reihen der Reaktion. Der Parteiausschuß hatte für den 24. August 1873 und die folgenden Tage den Parteikongreß nach Nürnberg einberufen. Am 31. Juli erfolgte durch den königlichen Kommissar der Stadt Nürnberg das Verbot des Kongresses mit Hinweis auf Artikel 17 des bayerischen Vereins- und Versammlungsgesetzes. Auch sei zu befürchten, daß die §§ 110, 130, 131 und 360 Ziffer 11 des Reichsstrafgesetzbuches durch die Abhaltung des Kongresses verletzt würden. Eine Beschwerde gegen dieses merkwürdige Verbot wurde nicht erhoben, weil der Ausschuß sofort den Kongreß nach Eisenach einberief. Nun glaubte der Leipziger Polizeidirektor Rüder hinter dem Nürnberger Kommissar nicht zurückgehen zu sollen. Er verbot nunmehr auch den Besuch des Eisenacher Kongresses bei Strafe von vier Wochen Gefängnis im Falle der Zuwiderhandlung. In der Tat blieb infolge dieses Verbots Leipzig auf dem Eisenacher Kongreß unvertreten.

Auf diesem waren 71 Delegierte anwesend, die 9224 Mitglieder aus 132 Orten hinter sich hatten. Demselben präsidierten Geib und Motteler. Im Laufe der Verhandlungen kam auch die leidige Angelegenheit Memminger, die schon jahrelang die Nürnberg-Fürther Parteigenossen zerklüftet hatte, zur Sprache. Auf der Seite Memmingers stand Grillenberger, gegen ihn Auer und Löwenstein. Mit großem Mehr beschloß der Kongreß, daß Memminger sich ein parteischädigendes Verhalten habe zuschulden kommen lassen und durch eine Reihe von Handlungen sich außerhalb der Partei gestellt habe.

Die Verhandlungen über die Einigungsfrage, die ebenfalls auf der Tagesordnung stand, wurden sehr ungünstig beeinflußt durch die Haltung, die der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein auf seiner Generalversammlung im vorhergehenden Mai in Berlin eingenommen hatte. Auf dieser hatten sich Frohme, Hasenclever, Hasselmann und andere Redner sehr entschieden gegen einen Antrag, der die Vereinigung forderte, ausgesprochen. Schließlich war mit allen gegen 3 Stimmen ein Antrag Richter-Wandsbeck, den Tölcke, Harm-Elberfeld, Dasbach-Hanau usw. unterzeichnet hatten, angenommen worden, der lautete:

„In Erwägung: 1. daß die sogenannte ‚Sozialdemokratische Arbeiterpartei‘ ursprünglich auf dem Verbandstag der Schulze-Delitzschen Arbeiterbildungsvereine zu Nürnberg im Jahre 1868, beziehentlich auf dem Kongreß zu Eisenach im Jahre 1869, lediglich in der Absicht gegründet worden ist, die Arbeiterbewegung in Deutschland zu schädigen dadurch, daß neben dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein eine zweite angeblich sozialdemokratische Fraktion geschaffen wurde, welche nur deshalb ein anscheinend mehr politisch-revolutionäres Programm aufstellte, um durch dasselbe die Arbeiter anzuziehen und so die Spaltung der deutschen Arbeiter herbeizuführen;

in Erwägung: 2. daß das jetzige Zusammenwirken des Herrn v. Schweitzer mit den Führern der sogenannten ‚Sozialdemokratischen Arbeiterpartei‘ zum gemeinsamen Unterwühlen und zur Beseitigung der Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins den schlagendsten Beweis liefert, daß die Vernichtung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der Hauptzweck der Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ist, die sich nicht scheuen, sich zur Erreichung dieses Zweckes mit unstreitig reaktionären Elementen zu verbinden;

  in Erwägung: 3. daß das Programm, die Organisation und die Taktik der
  Sozialdemokratischen Arbeiterpartei durchaus unvereinbar sind mit dem
  Programm und der Organisation des Allgemeinen Deutschen
  Arbeitervereins,

tritt die Generalversammlung dem Beschluß des Vorstandes des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vom 5. Januar d.J. bei, welcher also lautet:

In Erwägung, daß für die Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in prinzipieller und formeller Beziehung durchaus keine Veranlagung vorliegt, an der Organisation des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zum Zwecke einer Vereinigung mit der Eisenacher Partei eine Aenderung vorzunehmen, in fernerer Erwägung, daß es den Mitgliedern jener Partei freisteht, in Gemäßheit des Statuts des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in diesen einzutreten, welcher eben durch seine starke Organisation sowie durch seine viel bedeutendere Mitgliederzahl die beste Grundlage zur Einigkeit der Arbeiter bietet,

geht der Vorstand über die sogenannten Einigungsvorschläge der Eisenacher Partei zur Tagesordnung über.“

Dem Kongreß lagen eine Anzahl Anträge, die Vereinigungsfrage betreffend, vor, die sich teils für, teils gegen eine solche aussprachen, teils unter bestimmten Bedingungen Kandidaten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bei den bevorstehenden Reichstagswahlen unterstützen wollten.

In der Debatte nahm auch Auer das Wort. Er führte aus: Nach den gemachten Erfahrungen wäre es unserer Partei unwürdig, noch Kompromisse mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein einzugehen. In demselben Sinne sprach sich Blos aus, der weiter verlangte, daß man auch mit der Volkspartei sich auf kein Kompromiß einlassen solle, von der im umgekehrten Falle kein Mitglied für einen Arbeiterkandidaten stimme. Schließlich zog Auer einen Berliner Antrag zugunsten eines Antrags Albert-Glauchau zurück, der lautete:

„Die Sozialdemokratische Partei betrachtet die Reichstagswahl nur als Agitationsmittel und als Prüfung für die Verbreitung ihrer Prinzipien, jeden Kompromiß mit anderen Parteien ablehnend.“

Dieser Antrag wurde nebst einem Antrag der Ronsdorfer Genossen angenommen, der aussprach:

„Da von seiten unserer Partei bereits Schritte zur Einigung der gesamten deutschen Sozialdemokratie gemacht wurden, von der diesjährigen Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins aber fast einstimmig zurückgewiesen worden sind, erklärt der Kongreß, jedweden Versuch mit obiger Fraktion, sei er auf die Einigung der Partei oder auf Wahlen gerichtet, einzustellen.“

Als dann infolge dieses Beschlusses unsere Parteigenossen mich in Altona gegenüber Hasenclever als Kandidat zur Reichstagswahl aufstellten und der „Neue Sozialdemokrat“ sich darüber beschwerte, verhöhnte ihn Auer in einer Korrespondenz aus Dresden in Nr. 123 des „Volksstaat“, die mit den Worten endete: „Ich schließe, indem ich dem Herrn Hasselmarat und Strohpuppe Hasenclever das Sprüchlein zu bedenken gebe: Vorgetan und nachbedacht, hat manchen in groß' Leid gebracht.“ Das ist zugleich eine Probe, wie damals zeitweilig polemisiert wurde.

Ueber den Ausfall der Wahlen vom 10. Januar 1874 habe ich schon berichtet. Von Interesse dürfte sein, mit welch finanziellen Mitteln zu jener Zeit eine Reichstagswahl von unserer Seite gemacht wurde. Die Ausgaben der Parteikasse für ganz Deutschland betrugen 1300 Taler. Das sächsische Landeskomitee hatte für die 91000 Stimmen, die in Sachsen auf unsere Kandidaten fielen, eine Ausgabe von 780 Taler. Die Wahlen in Leipzig Stadt und Land, einschließlich der Nachwahl in Leipzig Land, erforderten 733 Taler, die Chemnitzer Wahl 345 Taler, Freiburg-Oederan (Geibs Wahlkreis) 165 Taler, Stollberg-Schneeberg (Liebknechts Wahlkreis) 350 Taler. Das sind Beträge, die im Vergleich zu den heutigen Ausgaben für die gleichen Zwecke winzig genannt werden müssen. Zwischen damals und jetzt besteht aber ein Unterschied. Jetzt opfern die Parteigenossen mehr Geld und bezahlen die Wahlarbeit. Damals opferten die Parteigenossen weniger Geld — weil sie weniger hatten und auch gegen heute gering an Zahl waren —, aber sie leisteten die Wahlarbeit meist umsonst. Der einzelne mußte damals durchschnittlich weit größere persönliche Opfer bringen als heute, sollten Resultate erzielt werden. Uebersehen darf allerdings nicht werden, daß gegenwärtig die Wahlagitation in Deutschland namentlich auch seitens der Gegner in ganz anderem Maße betrieben wird wie früher und schon deshalb unsererseits weit größere Anstrengungen und Aufwendungen erfordert.

Die erste Session des neuen Reichstags 1874.

Diese wurde im Februar 1874 eröffnet. Seitens unserer Vertreter wurde den Vertretern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins der Vorschlag gemacht, eine Fraktion zu bilden. Das lehnten diese ab. Dagegen kam man überein, sich gegenseitig bei Stellung von Anträgen zu unterstützen, auch wolle man dahin wirken, daß in der Presse und in den Versammlungen die gegenseitigen Angriffe unterblieben. Das war nicht viel, aber das andere mußte folgen. Eine große Anzahl Parteigenossen auf beiden Seiten hatte allmählich die gegenseitige Bekämpfung, die nur den Gegnern zustatten kam, satt und wünschte, wenn eine Vereinigung noch nicht möglich sein sollte, eine Verständigung zu gemeinsamem Vorgehen.

In unserer Partei war man mit der Haltung der gewählten Vertreter unzufrieden. Man fand, daß sie zu selten das Wort ergriffen und dann nicht scharf genug geredet hatten. Der Unmut darüber kam auch mehrfach in der Parteipresse zum Ausdruck. Liebknecht wohnte keiner Sitzung mehr bei, da die Session kurz nach seiner Freilassung geschlossen wurde. Ich erhielt von den verschiedensten Seiten Zuschriften, worin die Verfasser sich über die Haltung der Parlamentsgenossen beklagten. So schrieb mir nach Schluß der Session Robert Schweichel, der seit seiner Uebersiedlung nach Berlin die Redaktion der „Romanzeitung“ übernommen hatte und daher öffentlich politisch nicht tätig sein konnte: die Haltung der sozialdemokratischen Abgeordneten habe allgemein enttäuscht. Nach dem glänzenden Ausfall der Wahlen habe man eine andere Haltung erwartet. Diese fördere die Partei nicht. Rübner, der Expedient der „Chemnitzer Freien Presse“, schrieb mir: „Die Vertreter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins haben unseren Genossen im Reichstag geschickt den Rang abgelaufen. Darüber sind unsere Leute wütend.“ Die Abgeordneten selbst beschwerten sich lebhaft darüber, daß der Präsident bei Wortmeldungen die Vertreter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bevorzugt habe. An dieser Behauptung war etwas Wahres. An Simsons Stelle war Forckenbeck getreten, der, wie ich schon einmal erwähnte, der parteiischste Präsident war, den der Reichstag je gehabt hat. Erleichtert wurde ihm diese Parteilichkeit durch die Abschaffung der Rednerliste, die erfolgt war, um die sozialdemokratischen Abgeordneten möglichst am Redenhalten hindern zu können. Die Abgeordneten mußten von jetzt ab durch ein Zeichen dem Präsidenten bekunden, daß sie das Wort zu haben wünschten, ungefähr so wie die Kinder in der Schule, wenn sie dem Lehrer bemerklich machen wollen, daß sie eine Antwort auf eine Frage geben können. Damit lag es in der Willkür des Präsidenten, ob er eine solche Wortmeldung sehen und ob und wann er sie berücksichtigen wollte. Und Forckenbeck machte von seiner Vollmacht rücksichtslos Gebrauch. Das veranlaßte später Windthorst und seine Freunde, den Antrag zu stellen, die Rednerliste wieder einzuführen. Der Antrag, zu dem von unserer Seite Vahlteich sprach, wurde abgelehnt. Darauf sah sich Most veranlaßt, noch kurz vor Schluß der Session die Parteilichkeit des Präsidenten öffentlich im Reichstag zu denunzieren. Er habe trotz zahlreicher Meldungen das Wort nur einmal erhalten. Ihm gegenüber lag allem Anschein nach ein Racheakt vor. Most hatte sich verleiten lassen, bei Beginn der Session, bevor er nach Berlin reiste, in der „Chemnitzer Freien Presse“, deren Redakteur er war, eine Art Kriegserklärung an den Reichstag zu veröffentlichen, in der er demselben den Kampf bis aufs Messer ansagte. Dafür mußte er offenbar jetzt büßen. Die einzige Rede, die er halten konnte, betraf den Entwurf zum Impfgesetz, und diese mißglückte ihm. Er schloß die kurze Rede mit den Worten: „Vorläufig verlangen wir die öffentlichen Badeanstalten, und wenn wir diese haben, werden wir auch mit dem Normalarbeitstag kommen.“ Kein Wunder, daß dieser Schluß in Mosts Munde die Heiterkeit der Gegner hervorrief.

Aber es machte sich von dieser Session ab noch ein anderer Unfug mit Forckenbecks Unterstützung breit, der später immer schlimmer wurde. Es fand sich in einem Mitglied der nationalliberalen Partei, dem Abgeordneten für Hildburghausen, Valentin, der seines Zeichens Rechtsanwalt gewesen war, ein stets bereiter Schlußantragsteller. Sobald Forckenbeck den Schluß der Debatte wünschte, gab er Valentin das verabredete Zeichen, worauf dieser gehorsam den Schlußantrag stellte, dem alsdann wie auf Kommando die Mehrheit — Nationalliberale und Konservative — Folge leistete. Für diese Methode der Wortabschneidung bildete sich im Reichstag die Bezeichnung: der redenwollende Abgeordnete sei valentiniert, das heißt geistig guillotiniert worden. Dieser Unfug ging schließlich so weit, daß auf dem Bureau Valentinsche Schlußanträge auf Vorrat lagen, deren sich der Präsident nach Belieben bediente. Valentin wurde für seine Tätigkeit von seiner Fraktion dadurch geehrt, daß diese ihm, wie im Reichstag erzählt wurde, zu seinem Geburtstag ein Kistchen mit gedruckten Schlußanträgen schenkte.

Bezeichnend für die damalige Situation im Reichstag war auch, daß der Abgeordnete Bamberger es wagen konnte, die sozialistischen Abgeordneten als geduldete Gäste zu bezeichnen, denen man das Hausrecht verweigern könne. Kleinlich war auch, daß man Liebknecht und mich während unserer Haft bei namentlichen Abstimmungen stets als „unentschuldigt“ in den Listen geführt, ein Unfug, der erst auf eine energische Beschwerde Vahlteichs in öffentlicher Sitzung ein Ende nahm.

Unter den Vorlagen, die den Reichstag beschäftigten, befanden sich mehrere von besonderer Wichtigkeit. So eine neue Militärvorlage, die eine erhebliche Erhöhung der Präsenzziffer, auf über 401000 Mann, ausschließlich der Einjährig-Freiwilligen, forderte, und zwar für die Dauer von sieben Jahren. Damals hatten die Liberalen einschließlich der Nationalliberalen noch konstitutionelle Bedenken gegen eine derartige Festlegung auf viele Jahre. Es kam zu scharfen Debatten, aber schließlich fügten sich die Nationalliberalen und nahmen an, nachdem Bismarck mit Niederlegung seines Amtes drohte. In der ersten Lesung nahm Hasenclever, in der Generaldebatte der dritten Lesung Motteler das Wort. Beide forderten die Miliz. In diesen Debatten äußerte Moltke zur Verteidigung der Vorlage die später oft zitierten Worte:

„Was wir in einem halben Jahre mit den Waffen in der Hand errungen haben, das mögen wir ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen, damit es uns nicht wieder entrissen wird. Darüber, meine Herren, dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben: wir haben seit unseren glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen.“

Damit wurde bestätigt, was wir wiederholt in den Jahren 1870/71 vorausgesagt hatten. Nicht der Krieg an sich, aber seine Folgen, die Annexion von Elsaß-Lothringen, hatte in Europa eine Situation geschaffen, die die Lage immer gespannter machte, Rußland eine dominierende Stellung verschaffte und immer neue Rüstungen hervorrief. Zu unseren Milizvorschlägen äußerte Moltke: Meine Herren! Die Gewehre sind bald ausgeteilt, aber schwer wieder zurückzubekommen! (Heiterkeit.)

Der Abgeordnete Malinckrodt hatte den Antrag auf zweijährige Dienstzeit gestellt, dafür stimmte Vahlteich, dagegen Geib, der Abstimmung enthielten sich Most und Motteler. Hasenclever, Hasselmann und Reimer hatten den Antrag gestellt, 540000 Mann für zwei Monate und 18000 Mann für die weiteren zehn Monate zu bewilligen, ferner sollte die militärische Jugenderziehung vom 14. bis 20. Jahre eingeführt werden. Für diesen Antrag stimmten nur die Antragsteller. Diese Abstimmungen gaben kein erhebendes Bild von der Tätigkeit der sozialdemokratischen Abgeordneten.

Eine zweite für die Arbeiterklasse wichtige Vorlage war eine Novelle zur Gewerbeordnung, die in etwas abgeänderter Form die Vorlage aus der vorigen Session wiederbrachte. Man begnügte sich diesmal, den § 153 dahin zu verschärfen, daß Verletzung desselben statt wie bisher mit höchstens drei Monaten künftig mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden sollte. Dagegen hatte man in einem neuen § 153a die Bestrafung des Kontraktbruchs vorgeschlagen, dieser sollte mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder Haft geahndet werden. Die Streiks, die in den Gründerjahren häufig unter Kontraktbruch vorkamen und nach ausgebrochener Krise wegen Lohnherabsetzungen und Arbeitszeitverlängerungen Abwehrstreiks unter Nichtbeachtung der Kündigungsfristen hervorriefen, hatten das Unternehmertum in die höchste Aufregung versetzt. Es inszenierte einen Petitionssturm an die verbündeten Regierungen und den Reichstag, um die kriminelle Bestrafung des Kontraktbruchs zu erlangen. Diesem Verlangen waren die verbündeten Regierungen durch den Vorschlag des § 153a nachgekommen. Im weiteren wurden die früher schon vorgeschlagenen Bestimmungen betreffend die gewerblichen Schiedsgerichte wieder in Vorschlag gebracht mit der kleinen Abänderung, daß die höhere Verwaltungsbehörde bestimmen könne, ob eine Wahl der Beisitzer durch die beteiligten Arbeiter und Arbeitgeber erfolgen solle. Zu dem Gesetzentwurf hielt Hasselmann eine gute Rede. In die Kommission wurde von unserer Seite Motteler gesandt, der sich aber an den Verhandlungen nicht beteiligte, sondern stummer Zuhörer blieb, was ihm von verschiedenen Seiten verdacht wurde. Die Kommission strich den Kontraktbruchparagraphen, ebenso wurde die Verschärfung des § 153 abgelehnt; sie beschloß ferner, daß die Wahl der Beisitzer in den Gewerbegerichten nur durch allgemeine Wahlen der Interessenten zu erfolgen habe. Der Entwurf wurde indes im Plenum nicht zu Ende beraten. Man war vorläufig seitens der Mehrheit des Reichstags zu Ausnahmebestimmungen oder Verschärfung der bestehenden Gesetze noch nicht geneigt.

Die dritte wichtige Vorlage war der Entwurf eines Preßgesetzes. In diesem hatte der vorjährige § 20 folgenden Wortlaut erhalten:

„Wer mittels der Presse den Ungehorsam gegen die Gesetze oder die Verletzung von Gesetzen als etwas Erlaubtes oder Verdienstliches darstellt, wird mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft. Wer die im § 166 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich vorgesehenen Handlungen mittels der Presse verübt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten und bis zu vier Jahren bestraft.“

Auch zu diesem Gesetzentwurf hielt Hasselmann eine gute Rede, außer ihm sprach Geib. Der § 20 fiel in der Kommission und im Plenum. Im übrigen beseitigte das Gesetz die Kautionen und verbot die Zeitungsstempel und die Inseratenabgaben, wo solche noch bestanden. Wirkliche Verbesserungen gegen den bisherigen Zustand brachte das Gesetz nur Preußen, Braunschweig und den beiden Mecklenburg, für Sachsen, die mitteldeutschen und süddeutschen Staaten schuf es hingegen verschiedene zum Teil erhebliche Verschlechterungen, so daß seine Annahme anfangs zweifelhaft war. Es ging hier wie bei allen wichtigen Gesetzen des Reichs, den Verbesserungen standen stets Verschlechterungen gegenüber; zu einem politischen Gesetz, das für alle eine wesentliche Besserung bedeutete, konnte sich der Reichstag nicht erheben, stets gab er dem Druck der Regierungen, das heißt Preußen nach, dem Stimmführer für alles Rückschrittliche.

Erwähnt sei, daß bei Beginn der Session auch wieder der Antrag auf meine Freilassung für die Dauer der Session gestellt worden war, jedoch mit demselben negativen Erfolg wie früher. Redner für den Antrag waren Vahlteich und Hasenclever. Die Fortschrittspartei verweigerte die Unterstützung des Antrags, weil es zwecklos sei, ihn zu stellen.

* * * * *

Die Tatsache, daß die Vertreter der beiden sozialdemokratischen Fraktionen im Reichstag genötigt wurden, öfter gemeinsame Sache bei den Beratungen zu machen, war für alle jene, die eine Vereinigung wünschten, ein neuer Anstoß zum Handeln. Der erste Schritt hierzu wurde auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins unternommen, die vom 26. Mai bis 5. Juni 1874 in Hannover tagte. F.W. Fritzsche, Hartmann-Hamburg, Meister-Hannover und andere stellten den Antrag, zu erklären: Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins hält die Vereinigung aller sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands für erforderlich, um die Endziele der Sozialdemokratie zu erreichen, und empfiehlt, um eine solche Vereinigung anzubahnen, daß dieselben in allen öffentlichen Versammlungen sowie in der Parteipresse sich nicht mehr bekämpfen und anfeinden. Bestimmte Vorschläge zur Vereinigung können nicht eher gemacht und diskutiert werden, bevor der Kongreß der Eisenacher konstatiert, daß auch er eine Einigung aufrichtig anstrebt.

Der Antrag wurde zwar nach längerer Debatte mit 50 gegen 19 Stimmen abgelehnt, aber die Debatte wurde in einem merklich anderen Tone als bei früheren ähnlichen Gelegenheiten geführt.

Die Sozialdemokratie Arbeiterpartei hielt ihren Kongreß im folgenden Monat, vom 18. bis 21. Juli, in Koburg ab, auf dem seit 1871 zum erstenmal Liebknecht wieder auf einem Parteikongreß erschien. Die Vereinigungsfrage kam hier ebenfalls zur Verhandlung, zu der verschiedene Anträge gestellt worden waren. In dem Bericht, den Geib im Namen des Ausschusses erstattete, hatte dieser bereits ausgeführt: „Wenn wir schließlich noch unsere Stellung zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein erwähnen, so geschieht es nur, um zu konstatieren, daß seit der Reichstagswahl der alte Hader im Wanken begriffen ist. Viel trägt dazu die Tatsache bei, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein jetzt von oben herab mit gleichem Maße gemessen wird wie unsere Partei. Daß die Stellung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins tatsächlich doch noch eine zurückhaltende ist, geht aus der Abstimmung über den auf der Generalversammlung dieses Vereins gestellten Einigungsantrag, für welchen unter 69 Delegierten nur 19 stimmten, deutlich hervor. Wir haben uns demgemäß zu reservieren und vor allem auf die prinzipielle Haltung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins zu achten, da hierin ein wesentliches, wenn nicht das wesentlichste Moment zur Richtschnur unserer Einigungstaktik zu suchen ist.“ In der später folgenden Debatte über die Einigungsanträge nahm auch Auer das Wort, der noch immer der Frage kühl gegenüberstand und pessimistisch äußerte: Im großen und ganzen sind wir alle mit der Einigung einverstanden, aber solange auf beiden Seiten die prinzipiellen Unterschiede ins Gewicht fallen, kann an eine wirkliche Einigung nicht gedacht werden. Die Aussichten, die uns in dieser Hinsicht der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein eröffnet, sind gering, dies zeigt schon sein neuester Entschluß, sich sektenmäßig „Lassalleaner“ zu nennen. Unser Versöhnungsdusel hat bis jetzt wenig geholfen. Das einzige Mittel zur Einigung heißt: die Lassalleaner unsere Macht fühlen lassen und uns stärken. Stellen wir uns auf den Standpunkt der Einigungsvorschläge, die vor zwei Jahren im „Volksstaat“ veröffentlicht wurden. (Siehe Seite 289 und 290.) Mag ein allgemeiner Kongreß zur Beratung der Einigungsfrage berufen werden. Bernstein stand der Frage optimistischer gegenüber als Auer. Im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein seien bereits viele Mitglieder für eine Vereinigung. Der Verlauf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins bestätige seine Auffassung. Er erklärte sich ebenfalls für einen Kongreß behufs Verständigung. Liebknecht sprach sich in längerer Rede dafür aus, daß, wenn zunächst die Vereinigung nicht möglich sei, die Einigung erstrebt werden müsse, die Vereinigung werde nachher von selbst kommen, dafür sorge Herr Tessendorf und die Logik der Tatsachen, wenn nicht mit, dann den Führern zum Trotz. Motteler berichtete über Besprechungen, die in Berlin zwischen Hasenclever und Hasselmann auf der einen und unseren Vertretern auf der anderen Seite stattgefunden hatten. Hasenclever und Hasselmann hätten erklärt: an eine Vereinigung sei nicht zu denken, da der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein unbedingt die bessere Organisation habe. Ein friedliches Nebeneinandergehen in Presse und Versammlungen sei ja vereinbart. Zum Schlusse wurde mit großer Mehrheit ein Antrag Geibs angenommen, lautend:

„Der Kongreß erklärt, der Einigung der beiden deutschen Arbeiterfraktionen geneigt zu sein. Ueber den Modus einer solchen Einigung werden zum nächsten Kongreß seitens des Ausschusses und den der Partei angehörigen Reichstagsmitgliedern Vorschläge erwartet. Im übrigen geht der Kongreß zur Tagesordnung über.“

* * * * *

Auf dem Koburger Kongreß kam es auch zu lebhaften Debatten über den oft unzeitigen Eifer der Parteigenossen, in den größeren Orten Lokalblätter zu gründen, die ungenügend finanziell fundiert, alsdann der Partei große Verlegenheiten bereiteten, weil sie nunmehr um jeden Preis am Leben erhalten werden sollten. Klagen, die sich bekanntlich bis in die Neuzeit wiederholten. Nicht wenige dieser Blätter führten eine prekäre Existenz und machten der Parteileitung schwere Sorge. Es war fast für das eine und das andere eine Wohltat, unter dem Sozialistengesetz totgeschlagen zu werden; sie starben wenigstens auf dem Felde der Ehre, im Kampfe mit einem übermächtigen Gegner.

Auch die Frage der Programmänderung beschäftigte den Koburger Kongreß. Es lagen für dieselbe, unter anderen auch von Bracke, eine Anzahl Anträge vor. Nach längerer Debatte fand alsdann ein Antrag Kokosky-Grillenberger und Genossen Annahme, wonach der Kongreß die Reformbedürftigkeit des Programms anerkannte, jedoch in der Erwägung, daß die Frage im Augenblick noch nicht spruchreif sei, die Aenderung des Programms bis zum nächsten Kongreß vertage. Die Programmänderung solle in der Presse zur Diskussion gestellt werden.

Des weiteren wurden öffentliche Vorträge veranstaltet, wobei Liebknecht und Motteler über die politische Stellung der Sozialdemokratie, York und Grillenberger über die industrielle und ländliche Arbeiterfrage sprachen. Grillenberger, der über das letztere Thema sprach, hielt zu dieser Frage eine gute instruktive Rede.

Tessendorf als Bahnbrecher der Einigung.

Einigungsverhandlungen.

Geib und Liebknecht hatten recht, als sie ausführten, die Neigung zu einer Vereinigung mit uns werde im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gefördert werden durch die Behandlung, die ihm jetzt gleich uns von oben zuteil wurde. Als vornehmster Träger dieser Verfolgungen erwies sich Staatsanwalt Tessendorf, der im Sommer 1873 von Magdeburg an das Berliner Stadtgericht berufen wurde. Er fand in der siebenten Deputation des Berliner Stadtgerichtes in den Herren Reich als Vorsitzender, v. Ossowsky und Giersch als Beisitzer drei kongeniale Geister, die seinen staatsretterischen Eifer nach jeder Richtung unterstützten und in einer längeren Reihe von Jahren in den Prozessen gegen eine große Anzahl Parteigenossen als wahre Blutrichter sich erwiesen.

Tessendorf hatte sich seinen Ruf als Sozialistentöter schon in Magdeburg erworben, allerdings mit der Wirkung, daß die von ihm verfolgte und gehaßte Partei nach jedem Schlage, den er gegen sie führte, immer stärker und kräftiger wurde. Er war einer der schlimmsten Streber in unserer an Strebern so reichen Zeit. Tessendorf zeigte schon im Jahre 1871, wie unglücklich er darüber war, daß er in unseren Hochverratsprozeß nichts hineinzureden hatte. Dafür zeugt folgender Vorfall, den ich etwas ausführlicher erwähne, weil er diesen fanatischsten aller Sozialistenfresser im rechten Lichte zeigt. Die „Magdeburger Zeitung“ hatte damals wiederholt in Leipziger Korrespondenzen uns, die wir hinter Schloß und Riegel saßen und uns nicht wehren konnten, in unqualifizierbarer Weise beschimpft. Als es dann in Zürich im März 1871 zu einem großen Krawall gekommen war anläßlich einer Siegesfeier, welche die in Zürich lebenden Deutschen in der dortigen Tonhalle veranstaltet hatten, sollten wir nach der Leipziger Korrespondenz in der „Magdeburger Zeitung“ die Urheber jenes Krawalls sein und unsere Züricher Parteigenossen die Täter. Nebenbei bemerkt, wurde später gerichtlich festgestellt, daß unsere Züricher Parteigenossen zu jenem Krawall in gar keiner Beziehung standen. Unser Anwalt Otto Freytag sah sich darauf veranlaßt, bei dem Magdeburger Stadt- und Kreisgericht einen Strafantrag gegen die „Magdeburger Zeitung“ zu stellen. Zu seiner nicht geringen Verwunderung meldete sich in einem langen Schreiben der Staatsanwalt Tessendorf, der es ablehnte, gegen die „Magdeburger Zeitung“ vom Amts wegen einzuschreiten. Dabei erging er sich in langen und gehässigen politischen Betrachtungen über unser Tun und Lassen. Freytag antwortete: es sei ihm nicht eingefallen, die Hilfe einer königlich preußischen Staatsanwaltschaft für uns anzurufen, wie der Wortlaut seines Strafantrags beweise. Im übrigen müsse er seine, Tessendorfs, Einmischung in politische Angelegenheiten, die ihn nichts angingen, als eine Anmaßung zurückweisen. Nach Verlauf eines Monats kam Tessendorf abermals in einem Schreiben an Freytag auf den Vorgang zurück, worin er das taktlose Geständnis machte, daß er bis jetzt vergeblich auf die Veröffentlichung seines Schreibens im „Volksstaat“ gewartet habe. Sollte die Veröffentlichung in Rücksicht auf seine Person unterblieben sein, so wolle er mitteilen, daß man diese Rücksicht nicht zu nehmen brauche. Freytag erteilte ihm unter dem 28. April eine gepfefferte Antwort, deren Schlußsätze lauteten:

„Ihr ganzes Verhalten in der vorliegenden Sache gibt mir den Beweis, daß Sie Ihre Karriere als königlich preußischer Staatsanwalt und Polizeimann machen werden, auch wenn Ihr strammes Auftreten gegen die Herren Bebel und Liebknecht nicht an die Glocke der Oeffentlichkeit gehängt wird. Vielleicht finden Sie noch einen anderen Weg, Ihre Zufertigung gedruckt zu sehen.

Und Tessendorf machte Karriere. Er wurde schließlich Oberreichsanwalt bei dem Reichsgericht zu Leipzig. Er starb aber, ohne seine Hoffnung und seine Sehnsucht, preußischer Justizminister zu werden, erfüllt zu sehen. Ein anderer streberischer Staatsanwalt lebte zu jener Zeit in Bielefeld, der unter dem 26. April 1871 sogar eine öffentliche Warnung an die Bevölkerung ergehen ließ, auf den „Volksstaat“ zu abonnieren. Eine Unverschämtheit sondergleichen.

Tessendorf entsprach in vollem Maße den Erwartungen, die seine Vorgesetzten und speziell Bismarck auf ihn gesetzt hatten. Die Zahl der Verurteilungen, die in den nächsten Jahren in Berlin auf seinen Antrag durch die berüchtigte siebente Deputation vorkamen, ist Legion, und die Urteile wurden immer härter und grausamer. Aber mit der Verfolgung wuchs auch der Widerstand der Parteigenossen, und wenn Tessendorf und die Richter der siebenten Deputation am Ende ihres Lebens sich ehrlich Rechenschaft über ihr Tun und Treiben abgelegt haben, mußten sie sich sagen: wir arbeiteten ohne Erfolg; wir haben viele Existenzen vernichtet, viel Familienglück zerstört und manchen durch harte Verurteilung in ein frühzeitiges Grab gebracht, aber die Bewegung, die wir meistern wollten, meisterte uns. Wir sind die Unterlegenen. Die wir vernichten wollten, blieben Sieger.

Im Jahre 1874 wurde von der erwähnten Deputation Most in Berlin wegen einer Rede über die Pariser Kommune mit anderthalb Jahren Gefängnis bedacht. Der Schriftsetzer Genosse Heinsch, einer der besten Organisatoren Berlins, wurde wegen Abdrucks eines Gedichtes zu einem Jahre Gefängnis verurteilt. A. Kapell vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein erhielt neun Monate, die das Kammergericht auf drei Monate reduzierte, Frohme erhielt ebenfalls neun Monate, die das Kammergericht auf sechs herabsetzte. Eine ganze Reihe anderer Parteigenossen wurde mit gleich hohen und zum Teil noch höheren Strafen belegt, und in fast allen diesen Prozessen handelte es sich um Nichtigkeiten, die vor einem anderen Gericht mit wenigen Wochen Gefängnis oder einer Geldstrafe bedacht worden wären. Die Nervosität nahm in gewissen Kreisen immer mehr zu. In ganz Preußen wurden im Jahre 1874 in 104 Prozessen 87 Lassalleaner zu 211 Monaten und 3 Wochen Gefängnis verurteilt. Aehnlich war es in Sachsen, in dem ebenfalls die Urteile immer härter wurden. Wo sonst Monate genügten, wurden jetzt Jahre verhängt. Das Hauptkontingent der Verurteilten stellte unsere Partei.

Mit den gerichtlichen Verurteilungen gingen die polizeilichen Maßregelungen und Auflösungen Hand in Hand. In Berlin wurde Ende Juni der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein polizeilich geschlossen. Als dann Hasenclever, als Präsident des Vereins, den Sitz desselben nach Bremen verlegte, wurde er wegen Verletzung des Vereinsgesetzes zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Weiter verfielen in Berlin der Auslösung die Mitgliedschaft der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der Arbeitermädchen- und -frauenverein, der Allgemeine Deutsche Schuhmacherverein, der Allgemeine Deutsche Tischlerverein und der Allgemeine Deutsche Maurerverein. In Frankfurt a.M. folgte die Polizei ihrer Berliner Kollegin und löste gleichfalls die meisten der dort bestehenden Arbeiterorganisationen auf. Auch in Hannover, Königsberg i. Pr. und an anderen Orten verfielen sowohl der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein wie die Mitgliedschaften der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei der polizeilichen Auflösung. Sachsen und Bayern blieben hinter dem preußischen Beispiel nicht zurück. So fielen die Arbeiterorganisationen in München, Nürnberg, Erlangen, Hof. In München wurde gleichzeitig eine Reihe gewerkschaftlicher Organisationen aufgelöst, so der Allgemeine Deutsche Schneiderverein, die Gewerkschaft der Maler, Lackierer und Vergolder, der Allgemeine Deutsche Metallarbeiter- und der Allgemeine Deutsche Holzarbeiterverein.

Alle diese Vorgänge trugen sehr wesentlich dazu bei, selbst den widerstrebendsten Elementen klarzumachen, daß diesen Gewaltmaßregeln gegenüber, die beide Fraktionen ohne Unterschied trafen, erhöhter Widerstand nur in der Vereinigung gefunden werden könne.

Da, am 11. Oktober 1874, schrieb mir Liebknecht nach dem Zwickauer
Landesgefängnis einen Brief, in dem es hieß:

„Gestern war Tölcke hier; er will Vereinigung mit uns. Im selben Sinne schrieb mir heute Fritzsche. Auch Reimer und Hasselmann wollen, so schreibt Fritzsche, mindestens Verbündung; Verschmelzung sei noch unmöglich. Mehr mündlich — acht Tage vor Eröffnung des Reichstags besuche ich Dich. Nur so viel! Feststeht, daß die Deutschen Allgemeinen vollständig en deroute (in Auflösung) sind; Tölcke — das Zusammentreffen mit ihm war zum Malen — gab zerknirscht zu, daß die heilige Organisation sich nicht bewährt habe…. Daß wir nicht gleich einen Einigungskongreß auf den 15. November berufen wollten, war ihm eine bittere Enttäuschung und noch mehr meine Erklärung, daß wir unmöglich den Rückschritt zu dem Lassalleschen Programm, auch einem reformierten, machen könnten. Tölcke meinte, man brauche ja Lassalle gar nicht zu nennen, überhaupt sei der Lassallekultus rein aus taktischen Gründen getrieben worden usw. usw. Tölcke kam im Auftrag Hasenclevers — der in Zeitz sitzt — und im Einverständnis mit Wode. Das ist die eine Clique — die andere ist Hasselmann-Reimer. Dazwischen als would be (sogenannter) Schiedsrichter Fritzsche. Tölcke hat eine furchtbare Wut auf Hasselmann. Auf meine Frage, ob Hasselmann mit seinem, Tölckes, Schritt einverstanden sei, erwiderte er: Nein, aber er muß! Und auf meinen Einwurf: Wenn Ihr gegen Hasselmann, der den ‚Neuen Sozialdemokrat‘ hat, vorgeht, werdet Ihr einfach in die Luft gesprengt, ähnlich wie Schweitzer es seinerzeit mit der Opposition tat, antwortete Tölcke: Hasselmann könne nichts machen, juristischer Eigentümer des Blattes sei Hasenclever.“

Liebknecht schrieb weiter, er habe Tölcke erklärt, Definitives könnten wir in Leipzig nicht abmachen, er solle zunächst nach Hamburg, dem Sitz des Parteivorstandes, reisen und dort mit Geib, Auer usw. Rücksprache nehmen. Vor Weihnachten sei ein Kongreß unmöglich, auch müsse vorher erst eine Konferenz stattfinden, doch müsse man vorsichtig sein. „An Verschmelzung ist nicht zu denken,“ schrieb Liebknecht zum Schlusse; aber einmal A gesagt, treiben die Dinge weiter.

In Hamburg kam man überein, vorzuschlagen, zu gleichen Teilen eine Kommission aus beiden Fraktionen zusammenzusetzen, die die Bedingungen einer Einigung beraten und formulierte Vorschläge machen sollte. In unserer Partei wurden diese Einigungsversuche, sobald sie bekannt wurden, allgemein begrüßt. Als der Genosse Dotzauer-Zwickau mir am 15. Oktober ins Gefängnis schrieb, er habe gehört, es seien Vereinigungsverhandlungen im Gange, antwortete ich: Das sei mir bekannt. Es freue mich, daß jetzt die Leute vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein an uns herankämen und die Hand zur Versöhnung reichten. Er (Dotzauer) sei falsch unterrichtet, wenn er angebe, Liebknecht solle den Antrag „kurzerhand“ abgelehnt haben, seine Schritte in Hamburg bewiesen das Gegenteil. Dieses Friedensanerbieten hätten Liebknecht und ich mit Genugtuung begrüßt. „Der Kampf, der acht Jahre gedauert, hat mich ein gut Teil meiner besten Kräfte, sehr viel Zeit und andere Opfer gekostet. Gut, daß er ein für allemal und siegreich zu Ende ist.“

Ueber die Treibereien von Hasselmann und Reimer schrieb Tölcke an das Vorstandsmitglied Wode — der während der Haft Hasenclevers Vizepräsident des Vereins war — unter dem 22. Oktober 1874 aus Iserlohn einen Brief, in dem es hieß:

„Nach Annoncen im ‚Volksstaat‘ gehen die ‚Eisenacher‘ mit der Besprechung des Einigungsprojekts flott vorwärts. Wenn wir nicht von ihnen überflügelt werden wollen, dann ist auch bei uns — zumal mit Rücksicht auf die Abneigung der Herren Hasselmann und Reimer — die rastloseste Tätigkeit erforderlich. Ich mache Dich darauf besonders aufmerksam, daß Hasselmann und Reimer durch ihre Ansprache in Nr. 119 des ‚Neuen Sozialdemokrat‘ offenbar die Absicht kundgeben, in betreff der Agitation durchaus selbständig vorgehen zu wollen, ohne sich um die Vereinsleitung irgendwie zu kümmern; für die Herren scheint der Vizepräsident gar nicht zu existieren.

Es ist also nach allen Seiten hin ein rasches Handeln unerläßlich und halte ich es deshalb für notwendig, daß wir in folgender Weise vorgehen:

1. Weil nach der Ansicht Hasenclevers weder von ihm, noch von Dir oder von Vorstandsmitgliedern in der Angelegenheit amtlich Schritte getan werden können, und weil man allerwärts von mir Benachrichtigung über den Erfolg meiner Reise erwartet, wird es zweckmäßig sein, daß ich auf unserer Seite die Korrespondenz wegen des Zusammentritts der gemischten Kommission und bis zu deren Zusammenkunft führe….

2. Um gewisse Gegenagitationen unschädlich zu machen, muß ich schleunigst eine Konferenz sämtlicher Bevollmächtigter in Rheinland und Westfalen ins Wuppertal einberufen….“

Tölcke schlug dann eine solche auch für den Süden einschließlich Kassel vor und erbot sich, die Reisen nach Frankfurt, Offenbach, Hanau und Kassel zu übernehmen. Er fuhr dann fort in seinem Briefe:

  „Mit dem Leitartikel in der gestrigen Nummer des ‚Neuen
  Sozialdemokrat‘, besonders am Schluß desselben, hat Hasselmann seine
  Agitation gegen den Kongreß bereits begonnen.“

Tölcke schloß seinen Brief mit dem Ersuchen um sofortiges und rastloses
Handeln.

Hasenclever war mit dem Vorgehen Tölckes einverstanden, doch wurde in einer Besprechung, die er mit Liebknecht und einigen anderen bei sich im Gefängnis zu Zeitz hatte, vereinbart, mit weiterem Vorgehen bis zu seiner Entlassung, die anfangs Dezember erfolgte, zu warten. Alsdann traten Vertreter der beiden Fraktionen in Berlin zusammen, um weitere Schritte zu beraten. Dort beschloß man, daß jede Fraktion eine gleiche Zahl Mitglieder wähle, und jede Fraktion ihrerseits einen Programm-und Organisationsvorschlag ausarbeiten sollte. Nachher sollten die Vertreter der beiden Fraktionen zusammentreten und auf Grund der beiden Entwürfe einen solchen ausarbeiten, der dann dem Kongreß als Grundlage der Beratung zu unterbreiten sei.

Die erste Kunde von den im Gange befindlichen Vereinigungsbestrebungen erhielt die weitere Oeffentlichkeit durch eine Bekanntmachung Hasenclevers an die Mitglieder seines Vereins, die er unter dem 11. Dezember 1874 im „Neuen Sozialdemokrat“ veröffentlichte und die der „Volksstaat“ abdruckte. Er teilte darin mit, daß, nachdem er wisse, daß die große Mehrheit der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins für die Vereinigung sei, die Unterhandlungen mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die ebenfalls den Wunsch einer Vereinigung hege, aufgenommen worden seien. Der Wunsch der Lassalleaner, daß die Anschauungen und Forderungen Lassalles in das gemeinsame Programm aufgenommen werden sollten und eine einheitliche straffe Organisation geschaffen werde, würden Berechtigung finden, doch solle keine Ueberstürzung der Beratungen stattfinden, darin seien die Vertreter der beiden Parteien einig.

Die erste Massenkundgebung für die Vereinigung sah Berlin. In der betreffenden Versammlung waren die sieben auf freiem Fuße befindlichen Reichstagsabgeordneten anwesend. Eine Einigungsresolution wurde einstimmig angenommen, auch beschlossen, Most in Plötzensee und mich in Zwickau von dem Vorgang zu unterrichten.

Zu einer zweiten Einigungsdemonstration wurde die Leichenfeier Borks in Hamburg, der, wie ich schon berichtete, in der Nacht auf den 1. Januar 1875 gestorben war. Fünftausend Arbeiter beider Fraktionen folgten mit zwanzig Fahnen dem Sarge des Mannes, der sowohl einer der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, wie später der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war und mit Leib und Seele der Bewegung gedient hatte.

Am 19. Januar schrieb mir Eduard Bernstein einen Brief, worin er sich entschuldigte, daß er als Schriftführer der großen Volksversammlung, die in Berlin tagte und ihn beauftragte, Most und mir die herzlichste Sympathie der Versammlung zu übermitteln, erst jetzt nachkomme:

„Ich weiß nicht, wie Sie über die Einigung denken, doch glaube ich, daß wir insoweit einverstanden sind, daß die Idee einer solchen so lange als möglich festzuhalten ist. Illusionen mache ich mir gar nicht, doch weiß ich, daß das Einigungsbedürfnis auch unter den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins groß ist. Leider sind die Leute so verstockte Lassalleaner, daß wir in dieser Hinsicht Konzessionen machen müssen.“

Die niedergesetzte Kommission bestand aus je acht Mitgliedern jeder Fraktion. Die Lassalleaner hatten Hasenclever, Hasselmann, R. und O. Kapell, Wode, Reinders, Hartmann und Walther, die Eisenacher Auer, Bernstein, Bock-Gotha, Geib, Liebknecht, Motteler, Ramm und Vahlteich delegiert. Am 14. und 15. Februar 1875 trat alsdann die Kommission in Gotha zusammen, um aus den beiden stark abweichenden Programm- und Organisationsentwürfen einen einzigen zu schmieden. Die Arbeit war keine leichte, schließlich wurden Geib, Hasenclever, Hasselmann und Liebknecht als Redaktionskommission niedergesetzt. Die Kommission konnte alsdann verkünden, daß das Werk zur vollständigen Zufriedenheit der Teilnehmer ausgefallen sei. Das war in der Partei nicht überall der Fall. Als Liebknecht mir am 5. März den Programmentwurf ins Gefängnis sandte mit dem Bemerken, mehr sei nicht zu erreichen gewesen, war ich wie aus den Wolken gefallen. Bemerken muß ich, daß ich bereits wochenlang in großer Aufregung und ärgerlicher Stimmung darüber war, daß weder Liebknecht, wie er versprochen, sich bei mir hatte sehen lassen, noch weder er noch Motteler es der Mühe wert erachtet hatten, mir irgendwelche Mitteilungen über den Gang der Verhandlungen zu machen. Das glaubte ich erwarten zu dürfen. Ich setzte mich nunmehr hin, schrieb einen mehrere Bogen langen, sehr gereizten Brief, in dem ich das Programm scharf kritisierte und einen Gegenentwurf machte, der allerdings übermäßig lang und detailliert ausfiel. Ich hatte wieder einmal eine Probe geliefert, wie die Abgeschlossenheit von der Außenwelt das Spintisieren begünstigt. Liebknecht entschuldigte sich, daß er mich nicht besucht und Rücksprache mit mir genommen habe. Aber er sei mit Arbeit überlastet, außerdem habe er sich gesagt, daß eine Unterhaltung über heikle Dinge in Gegenwart eines Beamten keine angenehme Sache sei. Das war richtig. Aber der Gefangene, der weiß, daß draußen über Dinge verhandelt wird, die sein ganzes Denken und Fühlen umfassen, sehnt sich nach einer Aussprache und sei sie noch so beengt. Liebknecht hatte meinen Brief an den Parteiausschuß nach Hamburg gesandt, wo er natürlich ebenfalls eine ablehnende Aufnahme fand. Wenn ich schließlich meine eigenen Vorschläge preisgab, so war damit meine Unzufriedenheit mit dem Programmentwurf nicht beseitigt. Außer mir befand sich auch Bracke in heftiger Opposition gegen den Entwurf. Als er mich zu meiner endlichen Befreiung am 1. April beglückwünschte, sprach er sich in der erregtesten Weise gegen das Programm aus. Bracke war in den letzten Jahren gezwungen worden, sich eine gewisse Zurückhaltung aufzuerlegen. Er kränkelte unausgesetzt und mußte wiederholt Erholungsreisen unternehmen. Andererseits zwangen ihn geschäftliche Rücksichten — er war der Leiter des väterlichen Geschäfts und hatte mit der Gründung eines Druckerei- und Verlagsunternehmens sich so schwere finanzielle Lasten auferlegt, daß nur die umsichtigste Tätigkeit ihn vor schweren Verlusten schützen konnte —, manchem wichtigen Vorgang in der Partei fern zu bleiben. So war es gekommen, daß Bracke nicht zu der Vereinigungskommission gehörte, was lebhaft zu bedauern war. Er teilte mir mit, er habe unter anderem Geib geschrieben, das Programm sei in III geradezu unsinnig. Es sei ein Skandal, die Parteigenossen mit diesem Blödsinn zu infizieren, den Widerspruch dagegen aus den Parteikreisen zu verbannen und die Parteimitgliedschaft von der Zustimmung zu demselben abhängig zu machen usw. Es entspann sich zwischen uns eine Korrespondenz, in der Bracke mir am 19. April schrieb:

  „Diesmal ist das Entschuldigen auf meiner Seite. Aber auch ich habe
  eben so wenig Zeit und muß gestehen, daß dieser … Entwurf mir alle
  Freudigkeit genommen hat, für den Gegenstand einmal mit Gewalt eine
  Stunde herauszureißen.

Ich bin ganz Deiner Meinung, daß dieser Entwurf gar nicht verbessert werden kann, sondern ein ganz neuer Entwurf gemacht werden müßte; ich bin nun gern bereit, mit Dir in Magdeburg zusammenzutreffen, werde aber schwerlich einen Entwurf machen können, denn woher die Zeit nehmen?“

Schließlich meinte er, da wir keine Zeit zu gründlicher Beratung hätten und keiner auch die Zeit, einen Entwurf zu machen, es sich empfehle, den Kommissionsentwurf als provisorisches Programm anzunehmen, nachdem man durch Kritik denselben möglichst erschüttert habe. Mit der Detailmalerei in meinem Entwurf könne er sich auch nicht einverstanden erklären, das gehöre in eine Broschüre. Außer mit mir stand Bracke mit Marx und Engels wegen des Programm-Entwurfs in Korrespondenz und veranlaßte Marx, seine bekannte Kritik zu schreiben, die im Band IX, Seite 385 der „Neuen Zeit“ veröffentlicht wurde.

Ich hatte Veranlassung genommen, in einem Privatbrief an Engels unter dem 23. Februar 1875 zu fragen: Was sagen Sie und Marx zu der Einigungsfrage? Ich habe kein vollgültiges Urteil, denn ich bin außer aller Kenntnis, ich weiß nur, was die Zeitungen berichteten. Ich bin gespannt, zu hören und zu sehen, wie die Dinge liegen, wenn ich den 1. April frei komme. Darauf antwortete mir Engels folgendes:

„London, 18./28. März 1875.

Lieber Bebel!

  Ich habe Ihren Brief vom 23. Februar erhalten und freue mich, daß es
  Ihnen körperlich so gut geht.

Sie fragen mich, was wir von der Einigungsgeschichte halten? Leider ist es uns ganz gegangen wie Ihnen. Weder Liebknecht noch sonst jemand hat uns irgendwelche Mitteilung gemacht, und auch wir wissen daher nur, was in den Blättern steht, und da stand nichts, bis vor zirka acht Tagen der Programmentwurf kam. Der hat uns allerdings nicht wenig in Erstaunen gesetzt.

Unsere Partei hatte so oft den Lassalleanern die Hand zur Versöhnung oder doch wenigstens zum Kartell geboten und war von den Hasenclever, Hasselmann und Tölckes so oft und so schnöde zurückgewiesen worden, daß daraus jedes Kind den Schluß ziehen mußte: wenn diese Herren jetzt selbst kommen und Versöhnung bieten, so müssen sie in einer verdammten Klemme sein. Bei dem wohlbekannten Charakter dieser Leute ist es aber unsere Schuldigkeit, diese Klemme zu benutzen, um uns alle und jede mögliche Garantien auszubedingen, damit nicht jene Leute auf Kosten unserer Partei in der öffentlichen Arbeitermeinung ihre erschütterte Stellung wieder befestigen. Man mußte sie äußerst kühl und mißtrauisch empfangen, die Vereinigung abhängig machen von dem Grade ihrer Bereitwilligkeit, ihre Sektenstichworte und ihre Staatshilfe fallen zu laufen und im wesentlichen das Eisenacher Programm von 1869 oder eine für den heutigen Zeitpunkt angemessene verbesserte Ausgabe desselben anzunehmen. Unsere Partei hätte von den Lassalleanern in theoretischer Beziehung, also in dem, was fürs Programm entscheidend ist, absolut nichts zu lernen, die Lassalleaner aber wohl von ihr; die erste Bedingung der Vereinigung war, daß sie aufhörten, Sektierer, Lassalleaner zu sein, daß sie also vor allem das Allerweltsheilmittel der Staatshilfe wo nicht ganz aufgaben, doch als eine untergeordnete Uebergangsmaßregel unter und neben vielen möglichen anderen anerkannten. Der Programmentwurf beweist, daß unsere Leute theoretisch den Lassalleanerführern hundertmal überlegen — ihnen an politischer Schlauheit ebensowenig gewachsen sind; die „Ehrlichen“ sind einmal wieder von den Nichtehrlichen grausam über den Löffel barbiert.

Zuerst nimmt man die großtönende, aber historisch falsche Lassallesche Phrase an: gegenüber der Arbeiterklasse seien alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse. Dieser Satz ist nur in einzelnen Ausnahmefällen wahr, zum Beispiel in einer Revolution des Proletariats, wie die Kommune, oder in einem Land, wo nicht nur die Bourgeoisie Staat und Gesellschaft nach ihrem Bilde gestaltet hat, sondern auch schon nach ihr das demokratische Kleinbürgertum diese Umbildung bis auf ihre letzten Konsequenzen durchgeführt hat. Wenn zum Beispiel in Deutschland das demokratische Kleinbürgertum zu dieser reaktionären Masse gehörte, wie konnte da die sozialdemokratische Arbeiterpartei jahrelang mit ihm, mit der Volkspartei Hand in Hand gehen? Wie kann der „Volksstaat“ fast seinen ganzen politischen Inhalt aus der kleinbürgerlich-demokratischen „Frankfurter Zeitung“ nehmen? Und wie kann man nicht weniger als sieben Forderungen in dies selbe Programm aufnehmen, die direkt und wörtlich übereinstimmen mit dem Programm der Volkspartei und kleinbürgerlichen Demokratie? Ich meine, die sieben politischen Forderungen 1 bis 5 und 1 bis 2, von denen keine einzige, die nicht bürgerlich-demokratisch.

Zweitens wird das Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung praktisch für die Gegenwart vollständig verleugnet, und das von den Leuten, die fünf Jahre lang und unter den schwierigsten Umständen dies Prinzip auf die ruhmvollste Weise hochgehalten. Die Stellung der deutschen Arbeiter an der Spitze der europäischen Bewegung beruht wesentlich auf ihrer echt internationalen Haltung während des Kriegs; kein anderes Proletariat hätte sich so gut benommen. Und jetzt soll dies Prinzip von ihnen verleugnet werden im Moment, wo überall im Ausland die Arbeiter es in demselben Maß betonen, in dem die Regierungen jeden Versuch seiner Betätigung in einer Organisation zu unterdrücken streben. Und was bleibt allein von Internationalismus der Arbeiterbewegung übrig? Die blasse Aussicht — nicht einmal auf ein späteres Zusammenwirken der europäischen Arbeiter zu ihrer Befreiung — nein, auf eine künftige „internationale Völkerverbrüderung“ — auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ der Bourgeois von der Friedensliga!

Es war natürlich gar nicht nötig, von der Internationale als solche zu sprechen. Aber das mindeste war doch, keinen Rückschritt gegen das Programm von 1869 zu tun und etwa zu sagen: obgleich die deutsche Arbeiterpartei zunächst innerhalb der ihr gesetzten Staatsgrenzen wirkt (sie hat kein Recht, im Namen des europäischen Proletariats zu sprechen, besonders nicht etwas Falsches zu sagen), so ist sie sich ihrer Solidarität bewußt mit den Arbeitern aller Länder, und wird stets bereit sein, wie bisher auch fernerhin die ihr durch diese Solidarität aufgelegten Verpflichtungen zu erfüllen. Derartige Verpflichtungen bestehen auch ohne daß man gerade sich als Teil der „Internationale“ proklamiert oder ansieht, zum Beispiel Hilfe, Abhalten von Zuzug bei Streiks, Sorge dafür, daß die Parteiorgane die deutschen Arbeiter von der ausländischen Bewegung unterrichtet halten, Agitation gegen drohende oder ausbrechende Kabinettskriege, Verhalten während solcher wie 1870 und 1871 mustergültig durchgeführt usw.

Drittens haben sich unsere Leute das Lassallesche „eherne Lohngesetz“ aufoktroyieren lassen, das auf einer ganz veralteten ökonomischen Ansicht beruht, nämlich daß der Arbeiter im Durchschnitt nur das Minimum des Arbeitslohnes erhält, und zwar deshalb, weil nach Malthusscher Bevölkerungstheorie immer zuviel Arbeiter da sind (dies war Lassalles Beweisführung). Nun hat Marx im „Kapital“ ausführlich nachgewiesen, daß die Gesetze, die den Arbeitslohn regulieren, sehr kompliziert sind, daß je nach den Verhältnissen bald dieses, bald jenes vorwiegt, daß sie also keineswegs ehern, sondern im Gegenteil sehr elastisch sind, und daß die Sache gar nicht so mit ein paar Worten abzumachen ist, wie Lassalle sich einbildete. Die Malthussche Begründung des von Lassalle ihm und Ricardo (unter Verfälschung des letzteren) abgeschriebenen Gesetzes, wie sie sich zum Beispiel „Arbeiterlesebuch“ Seite 5 aus einer anderen Broschüre Lassalles zitiert findet, ist von Marx in dem Abschnitt über „Akkumulationsprozeß des Kapitals“ ausführlich widerlegt. Man bekennt sich also durch Adoptierung des Lassalleschen „ehernen Gesetzes“ zu einem falschen Satz und einer falschen Begründung desselben.

Viertens stellt das Programm als einzige soziale Forderung auf — die Lassallesche Staatshilfe in ihrer nacktesten Gestalt, wie Lassalle sie von Buchez gestohlen hatte. Und das, nachdem Bracke diese Forderung sehr gut in ihrer ganzen Nichtigkeit aufgewiesen; nachdem fast alle, wo nicht alle Redner unserer Partei im Kampf mit den Lassalleanern genötigt gewesen sind, gegen diese „Staatshilfe“ aufzutreten! Tiefer konnte unsere Partei sich nicht demütigen. Der Internationalismus heruntergekommen auf Amand Gögg, der Sozialismus auf den Bourgeoisrepublikaner Buchez, der diese Forderung gegenüber den Sozialisten stellte, um sie auszustechen!

Im besten Fall aber ist die „Staatshilfe“ im Lassalleschen Sinne doch nur eine einzige Maßregel unter vielen anderen, um das Ziel zu erreichen, was hier mit den lahmen Worten bezeichnet wird: „um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen“, als ob es für uns noch eine theoretisch ungelöste soziale Frage gäbe! Wenn man also sagt: Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittels der Durchführung der genossenschaftlichen Produktion in Industrie und Ackerbau und auf nationalem Maßstab; sie tritt ein für jede Maßregel, welche geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen! — so kann kein Lassalleaner etwas dagegen haben.

Fünftens ist von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse vermittels der Gewerksgenossenschaften gar keine Rede. Und das ist ein sehr wesentlicher Punkt, denn dies ist die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult, und die heutzutage bei der schlimmsten Reaktion (wie jetzt in Paris) platterdings nicht mehr kaput zu machen ist. Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation auch in Deutschland erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offen zu lassen.

Das alles haben unsere Leute den Lassalleanern zu Gefallen getan. Und was haben die anderen nachgegeben? Daß ein Haufen ziemlich verworrener rein demokratischer Forderungen im Programm figurieren, von denen manche reine Modesache sind, wie zum Beispiel die „Gesetzgebung durch das Volk“, die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, wenn sie überhaupt was anrichtet. Verwaltung durch das Volk, das wäre noch etwas. Ebenso fehlt die erste Bedingung aller Freiheit: daß alle Beamte für alle ihre Amtshandlungen jedem Bürger gegenüber vor den gewöhnlichen Gerichten und nach gemeinem Recht verantwortlich sind. Davon, daß solche Forderungen wie: Freiheit der Wissenschaft — Gewissensfreiheit, in jedem liberalen Bourgeoisprogramm figurieren und sich hier etwas befremdend ausnehmen, davon will ich weiter nicht sprechen.

Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt. Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit despotischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallen lassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der „Volksstaat“ ist uns von den Anarchisten bis zum Ueberdruß in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx' gegen Proudhon und nachher das Kommunistische Manifest direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist ist es purer Unsinn, von freiem Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf, zu bestehen. Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat „Gemeinwesen“ zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische „Kommune“ sehr gut vertreten kann.

„Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit“ ist auch eine sehr bedenkliche Phrase statt: „Aufhebung aller Klassenunterschiede“. Von Land zu Land, von Provinz zu Provinz, von Ort zu Ort sogar wird immer eine gewisse Ungleichheit der Lebensbedingungen bestehen, die man auf ein Minimum reduzieren, aber nie ganz beseitigen können wird. Alpenbewohner werden immer andere Lebensbedingungen haben als Leute des flachen Landes. Die Vorstellung der sozialistischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, eine Vorstellung, die als Entwicklungsstufe ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren sozialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten, und präzisere Darstellungsweisen der Sache gefunden sind.

Ich höre auf, obwohl fast jedes Wort in diesem dabei saft- und kraftlos redigierten Programm zu kritisieren wäre. Es ist der Art, daß, falls es angenommen wird, Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen können und uns sehr ernstlich werden überlegen müssen, welche Stellung wir — auch öffentlich — ihr gegenüber zu nehmen haben. Bedenken Sie, daß man uns im Auslande für alle und jede Aeußerungen und Handlungen der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. So Bakunin in seiner Schrift „Politik und Anarchie“, wo wir einstehen müssen für jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit Stiftung des „Demokratischen Wochenblattes“ gesagt und geschrieben. Die Leute bilden sich eben ein, wir kommandierten von hier aus die ganze Geschichte, während Sie so gut wie ich wissen, daß wir uns fast nie im geringsten in die inneren Parteiangelegenheiten gemischt, und auch dann nur, um Böcke, die nach unserer Ansicht geschossen worden, und zwar nur theoretische, wieder nach Möglichkeit gutzumachen. Sie werden aber selbst einsehen, daß dies Programm einen Wendepunkt bildet, der uns sehr leicht zwingen könnte, alle und jede Verantwortlichkeit mit der Partei, die es anerkennt, abzulehnen.

Im allgemeinen kommt es weniger auf das offizielle Programm einer Partei an, als auf das, was sie tut. Aber ein neues Programm ist doch immer eine öffentlich aufgepflanzte Fahne, und die Außenwelt beurteilt danach die Partei. Es sollte daher keinenfalls einen Rückschritt enthalten, wie dies gegenüber dem Eisenacher. Man sollte doch auch bedenken, was die Arbeiter anderer Länder zu diesem Programm sagen werden; welchen Eindruck diese Kniebeugung des gesamten deutschen sozialen Proletariats vor dem Lassalleanismus machen wird.

Dabei bin ich überzeugt, daß eine Einigung auf dieser Basis kein Jahr dauern wird. Die besten Köpfe unserer Partei sollten sich dazu hergeben, auswendig gelernte Lassallesche Sätze vom ehernen Lohngesetz und der Staatshilfe abzuleiern? Ich möchte zum Beispiel Sie dabei sehen! Und täten sie es, ihre Zuhörer würden sie auszischen. Und ich bin sicher, die Lassalleaner bestehen gerade auf diesen Stücken des Programms wie der Jude Shylock auf seinem Pfund Fleisch. Die Trennung wird kommen; aber wir werden Hasselmann, Hasenclever und Tölcke und Konsorten wieder „ehrlich gemacht“ haben; wir werden schwächer und die Lassalleaner stärker aus der Trennung hervorgehen; unsere Partei wird ihre politische Jungferschaft verloren haben und wird nie wieder gegen Lassallephrasen, die sie eine Zeitlang selbst auf die Fahne geschrieben, herzhaft auftreten können; und wenn die Lassalleaner dann wieder sagen: sie seien die eigentlichste und einzige Arbeiterpartei, unsere Leute seien Bourgeois, so ist das Programm da, um es zu beweisen. Alle sozialistischen Maßregeln darin sind ihre, und unsere Partei hat nichts hineingesetzt als Forderungen der kleinbürgerlichen Demokratie, die doch auch von ihr in denselben Programm als Teil der „reaktionären Masse“ bezeichnet ist!

Ich hatte diesen Brief liegen lassen, da Sie doch erst am 1. April zu Ehren von Bismarcks Geburtstag frei kommen und ich ihn nicht der Chance des Abfassens bei einem Schmuggelversuch aussetzen wollte. Da kommt nun gerade ein Brief von Bracke, der auch wegen des Programms seine schweren Bedenken hat und unsere Meinung wissen will. Ich schicke ihn daher zur Beförderung an ihn, damit er ihn lese und ich den ganzen Kram nicht noch einmal zu schreiben brauche. Uebrigens habe ich Ramm ebenfalls klaren Wein eingeschenkt, an Liebknecht schrieb ich nur kurz. Ich verzeihe ihm nicht, daß er uns von der ganzen Sache kein Wort mitgeteilt (während Ramm und andere glaubten, er habe uns genau unterrichtet), bis es sozusagen zu spät war. Das hat er zwar von jeher so gemacht — und daher die viele unangenehme Korrespondenz, die wir, Marx sowohl wie ich, mit ihm hatten — aber diesmal ist es doch zu arg, und wir gehen entschieden nicht mit.

Sehen Sie, daß Sie es einrichten, im Sommer herzukommen, Sie wohnen natürlich bei mir, und wenn das Wetter gut, können wir ein paar Tage seebaden gehen, das wird Ihnen nach dem langen Brummen recht nützlich sein.

Freundlichst Ihr

F.E.

  Marx ist eben ausgezogen, er wohnt 41 Maitland Park Crescent NW,
  London.“

Unter dem 10. Mai schrieb alsdann Bracke an Marx mit Bezug auf meine nunmehrige Stellung:

„Ich hatte erst geglaubt, Bebel würde zu einem entschiedenen Vorgehen geneigt sein, aber einesteils seine angegriffene Gesundheit und die notwendige geschäftliche Rehabilitierungsarbeit, anderenteils dringende Bitten von Liebknecht scheinen ihn abgehalten zu haben.“

Es waren nicht allein Liebknechts Bitten, die mich veranlaßten, meiner
Unzufriedenheit über den Programmentwurf keinen öffentlichen Ausdruck zu
geben, es war das Drängen von allen Seiten: ich möge durch mein
Auftreten es nicht zu einem Eklat treiben und damit vielleicht die
Vereinigung unmöglich machen.

Diesem Verlangen gab ich nach, denn die Vereinigung lag auch mir am Herzen. Ueberdies war das Drängen nach Vereinigung in der Partei so stark, daß alle Rücksichten auf programmatische Bedenken schweigen mußten. Schließlich konnten die gemachten Fehler später repariert werden.

* * * * *

Die Einigungsbestrebungen unter der Führerschaft wurden wesentlich gefördert durch den Wiederzusammentritt des Reichstags, der die längere Anwesenheit der Abgeordneten in Berlin gebot. Die Session wurde am 29. Oktober 1874 eröffnet, aber schon am 30. Januar geschlossen. Die Beteiligung unserer Vertreter an den Verhandlungen war keine lebhafte. Die Verhandlungen über die Einigung der Partei nahmen das Interesse der Abgeordneten mehr in Anspruch als die Beratungen des Reichstags, obgleich denselben wichtige Vorlagen beschäftigten. So war unter anderen der Entwurf eines Gerichtsverfassungsgesetzes, einer Straf- und einer Zivilprozeßordnung vorgelegt worden und ein Gesetzentwurf über den Landsturm, zu dem später Liebknecht und Hasselmann das Wort nahmen.

Selbstverständlich wurde wieder der Antrag auf unsere Beurlaubung aus der Haft während der Dauer der Session eingebracht, der diesmal Hasenclever, Most und mich umfaßte. Zu der Begründung des Antrags nahm Liebknecht das Wort, der sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, die Prozesse, die unsere Verurteilung herbeigeführt, unter die Lupe zu nehmen und die Urteile gründlich zu zerzausen. Besonders nachdrücklich sprach er sich über die unwürdige Behandlung aus, die damals Most in Plötzensee zuteil wurde.

Nach Liebknecht nahm Windthorst das Wort, der sich ebenfalls lebhaft über die Behandlung politischer Gefangener aus dem Lager der Althannoveraner beklagte. Dem Antrag auf unsere Freilassung könne er aber in Rücksicht auf den Inhalt des Artikel 31 der Verfassung nicht zustimmen, er wünsche aber, daß, wenn ein in Gefangenschaft befindlicher Abgeordneter einen Antrag auf seine Beurlaubung stelle, die Regierungen auf einen solchen Antrag bereitwillig eingingen und der Herr Reichskanzler dafür eintrete. Bismarck nahm darauf das Wort und bemerkte spöttisch, der „Herr Reichskanzler“ werde im vorliegen den Falle dafür eintreten, daß der Verhaftete beurlaubt werde, wenn er darum bitte, denn Reden wie die der beiden Vorredner habe man lange nicht im Reichstag gehört, sie seien außerordentlich lehrreich und fehlten uns seit langem. (Heiterkeit.) Der Reichstag ahnte nicht, daß er auf Grund des ablehnenden Beschlusses, den er, ähnlich wie früher, faßte, in Bälde in eine unangenehme Situation gebracht wurde. Die Verhandlungen über den Antrag Liebknecht und Genossen waren am 21. November gewesen, aber bereits am 12. Dezember sah sich der Abgeordnete Lasker, unterstützt durch die Abgeordneten v. Bennigsen, Schenk v. Stauffenberg, v. Forckenbeck, Dr. Hänel, Windthorst, v. Denzin, Dr. Schwarze und Fürst Hohenlohe-Langenburg — also den Vertretern sämtlicher bürgerlichen Parteien —, genötigt, den Antrag zu stellen:

„Mit Rücksicht darauf, daß die am gestrigen Tage erfolgte Verhaftung des Reichstagsmitglieds Herrn Majunke infolge eines rechtskräftigen Strafurteils glaubhaft berichtet wird, die Geschäftsordnungskommission mit schleuniger Berichterstattung darüber zu beauftragen: 1. Ob nach Artikel 31 der deutschen Reichsverfassung die Verhaftung eines Reichstagsmitglieds während der Session des Reichstags ohne Zustimmung des letzteren verfassungsmäßig zulässig ist; 2. ob und welche Schritte zu veranlassen sind, um einer Verhaftung von Mitgliedern des Reichstags infolge eines rechtskräftigen Strafurteils während der Session des Reichstags ohne Zustimmung desselben vorzubeugen.“

Der Antrag, in dessen Beratung das Haus sofort eintrat, war lächerlich. War, wie das Haus wiederholt und zuletzt erst am 21. November entschieden hatte, der Artikel 31 der Verfassung auf die Strafhaft von Abgeordneten nicht anwendbar, dann hatten die zuständigen Behörden auch das unbestreitbare Recht, einen Abgeordneten während der Session in Strafhaft zu nehmen. Nun hatte der Fall des Abgeordneten Majunke, der als Redakteur der „Germania“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden war, ungeheures Aufsehen erregt. Es war auch unzweifelhaft, daß seine Verhaftung kurz vor Beginn einer Reichstagssitzung nicht ohne Bismarcks Zustimmung erfolgte. Denn tatsächlich war das Urteil schon seit dem 23. September rechtskräftig, man konnte also mit der Verhaftung Majunkes ohne Schaden für die Rechtspflege auch bis zum Schluß der Session, Ende Januar, warten, nachdem man es unterlassen, ihn vor Beginn der Session in Haft zu nehmen. Aber das wollte Bismarck nicht. Er wollte offenbar dem Zentrum für die Debatte am 4. Dezember einen Denkzettel geben; daß damit auch der Reichstag moralisch geohrfeigt wurde, der sich diesen Streich auf Grund seiner eigenen Beschlüsse gefallen lassen mußte, war ihm sehr gleichgültig. Er fand es auch nicht einmal der Mühe wert, sich zur Verhandlung einzustellen. Der Antrag Lasker wurde also der Geschäftsordnungskommission überwiesen, die aber, wie vorauszusehen war, sich über keinen Antrag zu einigen vermochte und in einigen Tagen mit leeren Händen vor das Haus trat. Hier nahm die Debatte denselben kläglichen Verlauf. Eine Reihe Anträge, die gestellt wurden, lehnte stets irgend eine Mehrheit ab. Der Ausgang der Sache war für den Reichstag so blamabel wie möglich.

Ich erwähnte die Debatte vom 4. Dezember als Grund für den Racheakt Bismarcks gegen Majunke. In jener Sitzung hielt der katholische Sozialpolitiker Jörg eine Rede über Bismarcks auswärtige Politik und die Nichteinberufung des Bundesratsausschusses für die Kontrolle dieser Politik. Bismarck, erbittert über einen Hirtenbrief der französischen Bischöfe, von denen mehrere zu jener Zeit auch elsaß-lothringische Reichsangehörige zu ihren Diözesanen zählten, worin die Bischöfe sich über die deutschen Kulturkampfmaßregeln mißbilligend äußerten, hatte eine Zirkulardepesche an die Gesandten des Reiches versendet, in der er ausführte: Sollte sich herausstellen, daß es für das Deutsche Reich nicht möglich sei, mit dem westlichen Nachbarn in einem dauernden Frieden zu leben, dann werde man nicht abwarten, bis die Franzosen vollkommen zum Losschlagen gerüstet seien, sondern werde den geeigneten Moment selbst wählen und die Initiative ergreifen. Das war eine Drohung mit Krieg, die große Beunruhigung hervorrief. Nach einem Bismarckschen Wort in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ erhielt die Depesche die historische Bezeichnung: die Kaltwasserstrahldepesche. Jörg sah in diesem Vorgehen Bismarcks eine unverantwortliche Handlungsweise, die leichtherzig das Reich großen Gefahren aussetzte. Auch beschwerte er sich darüber, daß man das Zentrum für das Attentat Kullmanns, das dieser an Bismarck im verflossenen Sommer in Kissingen begangen hatte, verantwortlich mache. Jörg bezeichnete Kullmann als einen Halbverrückten, für den das Zentrum keine Verantwortung übernehme. Bismarck ging darauf in einer sehr aggressiven Rede gegen das Zentrum los. Mit Hinweis auf das Geständnis, das Kullmann ihm, Bismarck, im Gefängnis gemacht, daß er durch Lesen der Zentrumspresse zu dem Attentat bestimmt worden sei, erhob er die Beschuldigung, das Zentrum trage an dem Attentat die Mitschuld, Kullmann hänge ihm an den Rockschößen. Diese Worte riefen einen ungeheuren Lärm hervor, aus dem wiederholte Pfuis ertönten, die man aus der Mitte des Zentrums Bismarck entgegenschleuderte. Der Hauptrufer im Streit war der spätere Präsident des Reichstags, Graf Ballestrem.

Diesen Vorgang hatte Bismarck nicht vergessen, denn eine
Haupteigenschaft seiner Berserkernatur war, ein guter Hasser zu sein.
Mit seinem Hasse hat er mir immer imponiert, dagegen mißfiel mir im
höchsten Grade die kleinliche und gehässige Art, wie er seinem Hasse
Befriedigung verschaffte. Hier war ihm jedes Mittel recht.

In dieser Session trugen wir unerwartet einen Erfolg davon. Most hatte sich in einer Petition beschwerdeführend über seine Behandlung in Plötzensee an den Reichstag gewendet und eine gesetzliche Regelung der Strafhaft beantragt. Die Petitionskommission, die darüber Bericht zu erstatten hatte, konnte sich der Berechtigung der Mostschen Klagen nicht entziehen. Bei der Verhandlung im Plenum, in der Liebknecht ebenfalls das Wort nahm, wurde der folgende Antrag der Kommission mit großer Mehrheit angenommen:

„Die Petition dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu überweisen, dahin zu wirken, daß in denjenigen Bundesstaaten, in welchen die Strafvollstreckung bislang nicht durch Gesetz geregelt ist, insbesondere im Königreich Preußen, von den Bundesregierungen schleunigst der Strafvollzug und das Gefängniswesen in einer Weise geordnet wird, daß dadurch der Vollzug der Strafen, namentlich der Gefängnisstrafen, im Sinne des Strafgesetzbuchs, insbesondere des § 16 desselben, sichergestellt wird;

den Herrn Reichskanzler ferner zu ersuchen, bei der königlich preußischen Regierung dahin zu wirken, daß der § 23 der Instruktion vom 24. Oktober 1837, der Justizministerialerlaß vom 24. November 1851 (5c) und § 37 der Hausordnung für das Strafgefängnis bei Berlin, als mit dem § 16, Alinea 2, des Strafgesetzbuchs in Widerspruch stehend beseitigt werden.“

Meine Freilassung am 1. April 1875 — dem Geburtstag Bismarcks — nach einunddreißigmonatiger Haft, war nicht nur ein Freudentag für meine Familie und mich. Es gingen mir von allen Seiten aus der Partei eine solche Menge Glückwünsche in Briefen und Depeschen zu, daß ich sagen darf, auch ein großer Teil der Partei betrachtete den Tag als einen Freudentag.

Für den 11. April hatte mein Wahlkreis eine große Empfangsfeier in Glauchau veranstaltet, die ich mit meiner Familie besuchte. In der Rede, die ich hielt, sagte ich mit Bezug auf die bevorstehende Vereinigung: „Ich begrüße mit voller Freude die Mitglieder der anderen Fraktion, die uns oft von dieser Stelle aus als Gegner gegenüberstanden; wir gehen fortan nicht nur friedlich nebeneinander, wir kämpfen jetzt schon gemeinsam miteinander für das hohe Ziel, dem wir zustreben. In Bälde werden wir aber vereinigt sein in einem gemeinsamen Verband. So heftig wir uns früher bekämpft, nunmehr werden wir um so gestärkter, mutiger und furchtloser gegen den gemeinsamen Feind vorgehen. Der Erfolg wird nicht ausbleiben.“ Die Stimmung auf dem Feste war die denkbar beste, alle waren im Hinblick auf die stattgehabte Versöhnung wie von einem Alp befreit. Im Juli folgten die Meeraner Genossen ebenfalls mit einem großen Feste und später Hohenstein-Ernstthal.

Moritz Heß erlebte die Vereinigung nicht mehr. Er starb im April in Paris. Karl Hirsch hielt die Leichenrede. In demselben Monat starb auch Georg Herwegh, der sich seit Lassalles Tod der Partei ferngehalten hatte, und zwar in Baden-Baden. In demselben Jahre sah sich die „Frankfurter Zeitung“ veranlaßt, eine Sammlung für den ehemaligen „Zuchthäusler“ August Röckel zu veranstalten, der in größter Not in Wien lebte.

Vom Vereinigungskongreß zu Gotha bis zum Vorabend des
Sozialistengesetzes.

Das Einigungswerk

Der Vereinigungskongreß war auf den 25. Mai 1875 und die folgenden Tage von dem vorberatenden Komitee einberufen worden. Nach jahrelangen gegenseitigen erbitterten Kämpfen standen sich jetzt die bisher feindlichen Brüder zu gemeinsamem Werke Auge in Auge gegenüber. Daß man sich nicht gleich brüderlich umarmte, sondern zum Teil noch immer mißtrauisch betrachtete, wer wird sich darüber wundern? Es bedurfte noch großer gegenseitiger Rücksichtnahme und gegenseitig einer Behandlung, als habe man es mit rohen Eiern zu tun, sollte es nicht zum Aufeinanderplatzen der noch vorhandenen persönlichen und sachlichen Gegensätze kommen. Neugierig und gespannt blickten unsere gemeinsamen Gegner in jenen Tagen nach Gotha, ob das Vereinigungswerk gelinge. Und es gelang nach einigen kleinen Reibereien über Erwarten und trug seine Früchte.

Auf dem Kongreß waren 25659 Parteigenossen durch 127 Delegierte vertreten. Davon entfielen auf den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein 16538 Mitglieder mit 71 Delegierten, auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei 9121 Mitglieder mit 56 Delegierten.

Die Versammlung eröffnete W. Bock-Gotha im Namen des Lokalkomitees und begrüßte die Anwesenden. Bock war einer der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach, und nun legte er zum zweiten Male mit Hand ans Werk zur Gründung der neuen, größeren Partei.

Zu Vorsitzenden des Kongresses wurden Geib und Hasenclever gewählt. Bei der Mandatprüfung erklärte ich mich für die Zulassung einer kleinen Vereinigung von Lassalleanern in Leipzig, die sich vom Hauptverein abgesplittert hatte. Solle Vereinigung sein, so ganze. Auer widersprach. Mein Antrag fiel, doch ließ man den Vertreter der Sekte mit beratender Stimme zu. Ich hatte also halb gesiegt. Weiter war von Breslau der Antrag gestellt, die beiden Fraktionen sollten vor Eintritt des Gesamtkongresses in die Beratung ihre Separatkongresse abhalten, um ihre inneren Angelegenheiten zu ordnen. Dagegen erklärte sich Auer. Diese könnten ebensogut nach dem allgemeinen Kongreß abgehalten werden. Die Eisenacher brauchten dazu einen Tag. Deren Abrechnungen stimmten, wie die anwesenden Delegierten bezeugen würden. Der Kongreß finde nach getroffenen Vereinbarungen der Vertreter der beiden Parteien statt. Hintergedanken habe niemand gehabt. Bei den Eisenachern gelte die Parole: Wir sind arm, aber ehrlich. Wir könnten den Kongreß nicht in die Länge ziehen, daher seien wir gegen den Breslauer Antrag. Diese Ausführungen Auers verletzten erklärlicherweise die andere Seite, und so nahm Fritzsche am folgenden Tage das Wort, um sich über die Aeußerung Auers: „Wir sind arm, aber ehrlich“, zu beschweren. Diese Worte erweckten den Verdacht, als gehe es im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein unehrlich zu. Geib beruhigte Fritzsche. Auer erklärte: Er halte die Aeußerung unter den gegebenen Verhältnissen für gerechtfertigt. Die Lassalleaner hätten selbst solche Angriffe erhoben und dabei von „beiden Seiten“ gesprochen.

Dieses war der einzige ernstliche Mißton, der in den Verhandlungen zum
Vorschein kam.

In der Programmfrage war Liebknecht Referent. Im Programm war der Satz enthalten: Die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiterklasse sein, „der gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind“. Ich beantragte, an Stelle des letzten Satzes zu sagen: Der gegenüber alle anderen Klagen reaktionär sind. Vahlteich ging weiter und beantragte die Streichung des ganzen Abschnittes. Sein Antrag wurde mit 12 gegen 111 Stimmen, der meine mit 58 gegen 50 Stimmen abgelehnt. Bei der Spezialberatung der nächsten Forderungen beantragte ich, das Wahlrecht für Staatsangehörige beiderlei Geschlechts zu fordern. Hasselmann erklärte sich gegen, Auer für meinen Antrag. Derselbe wurde mit 55 gegen 62 Stimmen abgelehnt. Nachträglich gab Hasenclever die Erklärung ab: Viele Delegierte hätten gegen meinen Antrag gestimmt, weil sie die Forderung durch den Ausdruck Staatsangehörigen gedeckt hielten; ähnlich äußerte sich Liebknecht, er habe aus stilistischen Gründen (beiderlei Geschlechts) gegen meinen Antrag gestimmt, in der Sache selbst sei er mit mir einverstanden. Es wurden alsdann noch eine Reihe kleinerer Verbesserungsanträge, die wir gestellt, angenommen. In der Endabstimmung fand das Programm einstimmig Annahme. In seinen prinzipiellen Sätzen lautete nunmehr dasselbe:

1. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Gesellschaft, das heißt allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen.

  In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der
  Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der
  Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in
  allen Formen.

  Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel
  in Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der
  Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung
  des Arbeitsertrags.

  Die Befreiung der Arbeit muß das Werk der Arbeiterklasse sein, der
  gegenüber alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.

2. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeutung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.

Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewußt und entschlossen, alle Pflichten, welche dieselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen.

  3. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die
  Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von
  sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der
  demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die
  Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem
  Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische
  Organisation der Gesamtarbeit entsteht.
Im weiteren folgten die Forderungen für die Demokratisierung des Staates
und die nächsten sozialen Forderungen.

Wie aus dem Programm hervorgeht, war der Name der vereinigten Partei: „Sozialistische Arbeiterpartei.“ Ueber die vorgeschlagene Organisation berichtete Hasenclever, die mit einigen Aenderungen ebenfalls nach der Vorlage einstimmig angenommen wurde. Danach stand an der Spitze der Partei ein Vorstand aus fünf Personen, die der Kongreß wählte. Für die Kontrolle der Geschäftsführung des Vorstandes wurde eine Kontrollkommission aus sieben Personen eingesetzt, deren Sitz der Kongreß bestimmte und deren Wahl durch die Mitglieder der Partei an dem Sitz der Kontrollkommission vorgenommen wurde. Außerdem wurde ein Ausschuß von achtzehn Personen, über Deutschland verteilt wohnend, gewählt, der als vorläufig richtende Instanz über den Parteivorstand zu entscheiden hatte und bei besonders wichtigen Vorgängen zur Beratung von seiten des Vorstandes eingeladen werden sollte. Die Leitung der örtlichen Geschäfte wurde einem Agenten übertragen, den auf Vorschlag der Mitglieder eines Ortes der Parteivorstand einsetzte. Man hoffte damit einer Anklage wegen gesetzwidriger Verbindung von Vereinen aus dem Wege zu gehen. Wie sich bald ergab, vergeblich.

Als Sitz des Parteivorstandes wurde auf meinen Vorschlag Hamburg bestimmt. Weiter wurden die von mir vorgeschlagenen Gehälter für die fünf Vorstandsmitglieder angenommen, wonach der geschäftsführende Vorsitzende monatlich 65 Taler, sein Stellvertreter 15 Taler, die beiden Schriftführer je 50 Taler, der Kassierer 35 Taler erhalten sollten. Diese Sätze waren vorher unter uns vereinbart worden; ebenso schlug ich im Namen der Eisenacher vor, in den neuen Vorstand drei Lassalleaner und zwei Eisenacher zu wählen, was ebenfalls Annahme fand. Darauf wurden Hasenclever als erster, Hartmann-Hamburg als zweiter Vorsitzender, Auer und Derossi als Schriftführer, Geib als Kassierer gewählt. Sitz der Kontrollkommission wurde Leipzig und ich deren Vorsitzender.

Offizielle Organe der Partei wurden der „Neue Sozialdemokrat“ in Berlin und der Leipziger „Volksstaat“. Beide Blätter gingen in Parteieigentum über.

Am 27. Mai abends halb 12 Uhr waren die Beratungen zu Ende und wurde der Kongreß mit einem Hoch auf die Arbeiter aller Kulturstaaten und nachfolgendem Gesang der Arbeitermarseillaise geschlossen.

* * * * *

Bracke, der dem Kongreß aus Gesundheitsrücksichten fernbleiben mußte, war am Schlusse desselben durch die erzielten Resultate in günstigerer Stimmung. So schrieb er am 27. Mai an Engels:

„Ich persönlich kann Ihnen noch keine Mitteilung sagen, da man das, was beschlossen ist, erst vor sich haben muß, ehe man urteilt. Sind diese Beschlüsse nicht unsinnig, werden wir auch keinen Unsinn machen. (Anspielung auf einen Brief Liebknechts an Bracke.) Jedenfalls war bei Liebknecht, Geib usw. der ernste Wille vorhanden, den begangenen Fehler wieder gutzumachen. Der Verlauf des Kongresses hat gezeigt, daß die Konzessionen des Entwurfes weit weniger wegen der Arbeiter nötig waren als aus persönlicher Rücksicht gegen Hasenclever usw. Soweit bis jetzt ein Urteil möglich ist, bin ich mit dem Kongreß zufrieden, denn derselbe hat gezeigt, daß die Arbeiter tatsächlich viel weiter sind als ich glaubte.“

Ich kam erst im Herbst dazu, Engels auf seinen Brief von Ende März zu antworten. Ich schrieb:

„Leipzig, den 21. Sept. 1875.

Lieber Engels!

Ich muß recht sehr um Entschuldigung bitten, daß ich Sie auf Ihren Brief von Ende März ohne alle Antwort gelassen. Ich kann Ihnen aber versichern, daß ich in den ersten drei bis vier Monaten nach meiner Freilassung keine ruhige Stunde gehabt, in der ich den Brief hätte beantworten können, und selbst heute fällt es mir schwer, die nötige Muße aufzutreiben.

Mit dem Urteil, das Sie über die Programmvorlage fällten, stimme ich, wie das auch Briefe von mir an Bracke beweisen, vollkommen überein. Ich habe auch Liebknecht über seine Nachgiebigkeit heftige Vorwürfe gemacht, aber nachdem einmal das Malheur geschehen war, galt es, sich so gut als möglich herauszuziehen. Was der Kongreß beschlossen, war das Aeußerste, was zu erreichen war. Es zeigte sich auf der anderen Seite eine entsetzliche Borniertheit und teilweise Verbissenheit, man mußte mit den Leuten wie mit Porzellanpüppchen umgehen, wollte man nicht, daß der mit soviel Lärm in Szene gesetzte Einigungskongreß zum Jubel der Gegner und zur größten Blamage der Partei resultatlos auseinanderging. Schließlich gelang es aber dennoch, namentlich in der Personenfrage, derart zu operieren, daß wir mit dem Resultat zufrieden sein konnten. Es wird allerdings noch manchen Kampf gegen die Borniertheit und den persönlichen Egoismus zu kämpfen geben, aber ich zweifle nicht, daß auch diese Kämpfe, wenn wir geschickt operieren, ohne Schaden für das Ganze ausgefochten werden, und daß in zwei Jahren ein ganz anderer Geist die jetzt teilweise noch widerhaarigen Elemente durchdringt.

  Das Ganze ist eine Erziehungsfrage. Nachdem die Leute acht bis neun
  Jahre in Lassalle-Schweitzerschem Geiste erzogen worden sind, wollen
  sie sich nicht sofort an die andere Methode gewöhnen, hier gilt's,
  Geduld haben.

Die von mir bezeichnete Erziehungsmethode würde sich vielleicht erheblich abkürzen lassen, wenn wir hier den von allen Seiten herbeiströmenden Einladungen zu Versammlungen und Festreden genügen könnten. Im persönlichen Verkehr mit den Leuten ließen sich Vorurteile und Voreingenommenheiten rascher beseitigen, aber wir können nicht entfernt leisten, was verlangt wird.

Ich speziell bin durch mein Geschäft ganz bedeutend lahm gelegt, und der Durchkrach bei der Landtagswahl hat niemand mehr gefreut als mich. Liebknecht und Motteler geht es, trotzdem sie in der Partei ihre ganze Stellung haben, nicht viel besser; denn ihre laufende Arbeit verträgt sich schlecht mit dem vagabundierenden Agitatorenleben, und dann haben wir in diesem Punkte auch schon zuviel geleistet, um noch große Sehnsucht danach zu empfinden. Lunge und Stimmorgane sprechen ja auch ein Wörtchen mit.

Im allgemeinen können wir mit dem Gang der Partei sehr zufrieden sein, jetzt sieht man erst, wie die frühere Bekämpfung die Kräfte zersplitterte, die Partei ist jetzt finanziell so gestellt, wie nie zuvor, und die Steuern gehen, trotz der schlechten Geschäftszeit, sehr pünktlich und regelmäßig ein.

Ihrer freundlichen Einladung nach London konnte ich natürlich unter den oben geschilderten Umständen nicht nachkommen; ich möchte gerne einmal hinüber nach Old-England, aber vorläufig ist nicht daran zu denken. Vielleicht muß ich nächstes Jahr nach dem Rheinland, eventuell nach Holland in Geschäften, und dann ist der Weg zu Ihnen nicht mehr allzuweit.

Wie ich gehört, ist Marx in Karlsbad, wahrscheinlich werde ich ihn aber nicht zu sehen bekommen; wie mir Liebknecht sagte, will er durch Bayern zurück. In ungefähr 14 Tagen werde ich nach Karlsbad kommen, ich will eine Geschäftstour nach Böhmen machen, dann wird er aber nicht mehr dort sein. Grüßen Sie Marx, wenn er zurückkehrt. Wollen Sie denn nicht Deutschland mal heimsuchen? Sie sitzen in England wie eingerostet.

Freundschaftlichst grüßt Ihr ergebener

Bebel.“

Die Antwort, die ich von Engels erhielt, bewies, daß er und Marx meinen Brief in einem Sinne aufgefaßt hatten, der mit dem Inhalt desselben nicht recht in Einklang zu bringen war. Engels schrieb:

„London, 12. Oktober 1875.

Lieber Bebel!

Ihr Brief bestätigt ganz unsere Ansicht, daß die Einigung unsererseits überstürzt ist und den Keim künftigen Zwiespalts in sich trägt. Wenn es gelingt, diesen Zwiespalt bis über die nächsten Reichstagswahlen hinauszuschieben, wäre es schon gut….

Das Programm, wie es jetzt ist, besteht aus drei Teilen:

1. Den Lassalleschen Sätzen und Stichworten, die aufgenommen zu haben eine Schmach unserer Partei bleibt. Wenn zwei Fraktionen sich über ein gemeinsames Programm einigen, so setzen sie das hinein, worüber sie einig und berühren nicht das, worüber sie uneinig sind. Die Lassallesche Staatshilfe stand zwar im Eisenacher Programm, aber als eine aus vielen Uebergangsmaßregeln, und nach allem, was ich gehört habe, war sie, ohne die Einigung, ziemlich sicher, im diesjährigen Kongreß auf Brackes Antrag an die Luft gesetzt zu werden. Jetzt figuriert sie als das eine unfehlbare und ausschließliche Heilmittel für alle sozialen Gebrechen. Das „eherne Lohngesetz“ und andere Lassallesche Phrasen sich aufoktroyieren zu lassen, war für unsere Partei eine kolossale moralische Niederlage. Sie bekehrte sich zum Lassalleschen Glaubensbekenntnis. Das ist nun einmal nicht wegzuleugnen. Dieser Teil des Programms ist das kaudinische Joch, unter dem unsere Partei zum größeren Ruhm des heiligen Lassalle durchgekrochen ist;

2. aus demokratischen Forderungen, die ganz im Sinn und im Stil der Volkspartei ausgesetzt sind;

3. aus Forderungen an den „heutigen Staat“ (wobei man nicht weiß, an wen denn die übrigen „Forderungen“ gestellt werden), die sehr konfus und unlogisch sind;

4. aus allgemeinen Sätzen, meist dem Kommunistischen Manifeste und den Statuten der Internationale entlehnt, die aber so umredigiert sind, daß sie entweder total Falsches enthalten oder aber reinen Blödsinn, wie Marx das in dem Ihnen bekannten Aufsatz im einzelnen nachgewiesen.

Das Ganze ist im höchsten Grad unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und blamabel. Wenn unter der Bourgeoispresse ein einziger kritischer Kopf wäre, er hätte dies Programm Satz für Satz durchgenommen, jeden Satz auf seinen wirklichen Inhalt hin untersucht, den Unsinn recht handgreiflich auseinandergelegt, die Widersprüche und ökonomischen Schnitzer (zum Beispiel: daß die Arbeitsmittel heute „Monopol der Kapitalistenklasse“ sind, als ob es keine Grundbesitzer gäbe, das Gerede von „Befreiung der Arbeit“ statt der Arbeiterklasse, die Arbeit selbst ist heutzutage ja gerade viel zu frei!) entwickelt und unsere ganze Partei greulich lächerlich gemacht. Statt dessen haben die Esel von Bourgeoisblättern dies Programm ganz ernsthaft genommen, hineingelesen, was nicht darin steht und es kommunistisch gedeutet. Die Arbeiter scheinen dasselbe zu tun. Es ist dieser Umstand allein, der es Marx und mir möglich gemacht hat, uns nicht öffentlich von einem solchen Programm loszusagen. Solange unsere Gegner und ebenso die Arbeiter diesem Programm unsere Ansichten unterschieben, ist es uns erlaubt, darüber zu schweigen.

Wenn Sie mit dem Resultat in der Personenfrage zufrieden sind, so müssen die Ansprüche auf unserer Seite ziemlich tief gesunken sein. Zwei von den Unseren und drei Lassalleaner! Also auch hier die Unseren nicht gleichberechtigte Alliierte, sondern Besiegte und von vornherein überstimmt. Die Aktion des Ausschusses, soweit wir sie kennen, ist auch nicht erbaulich: 1. Beschluß, Brackes und B. Beckers zwei Schriften über Lassallesches nicht auf die Parteischriftenliste zu setzen; wenn dies zurückgenommen, so ist es nicht die Schuld des Ausschusses und auch nicht Liebknechts; 2. Verbot an Vahlteich, die ihm von Sonnemann angetragene Korrespondenz für die Frankfurter Zeitung anzunehmen. Dies hat Sonnemann dem durchreisenden Marx selbst erzählt. Was mich noch mehr dabei wundert als die Arroganz des Ausschusses und die Bereitwilligkeit, womit Vahlteich sich gefügt hat, statt dem Ausschuß etwas zu pfeifen, ist die kolossale Dummheit dieses Beschlusses. Der Ausschuß sollte doch lieber dafür sorgen, daß ein Blatt, wie die Frankfurter, von allen Orten aus nur durch unsere Leute bedient wird. —

… Daß die ganze Sache ein Erziehungsexperiment ist, das auch unter diesen Umständen einen sehr günstigen Erfolg verspricht, darin haben Sie ganz recht. Die Einigung als solche ist ein großer Erfolg, wenn sie sich zwei Jahre hält. Aber sie war unzweifelhaft weit billiger zu haben.“

Man sieht, es war kein leichtes Stück, mit den beiden Alten in London sich zu verständigen. Was bei uns kluge Berechnung, geschickte Taktik war, das sahen sie als Schwäche und unverantwortliche Nachgiebigkeit an, schließlich war doch die Tatsache der Einigung die Hauptsache. Diese trug logisch die Weiterentwicklung in sich selbst, dafür sorgten auch nach wie vor unsere Freunde, die Feinde. Daran konnten auch Beschränktheiten und Engherzigkeiten, wie sie der Parteivorstand in den von Engels gerügten Fällen sich zuschulden kommen ließ, nichts ändern. Erwähnt muß werden, daß damals die „Frankfurter Zeitung“ der von uns vertretenen Richtung freundlich gegenüberstand, dagegen hatte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit Sonnemann manchen Span auszufechten gehabt. Daher war auf dieser Seite die Animosität gegen ihn und seine Zeitung erklärlicherweise eine sehr starke.

Nachwehen.

So glatt, wie ich in meinem Briefe an Engels die Sachlage dargestellt hatte, verlief indes die Einigung nicht überall. Namentlich platzten in Hamburg, wo Hasselmann und Richter-Wandsbeck und ihr Anhang schürten, die Geister oft heftig aufeinander. Auer, der als Parteisekretär in Hamburg wohnte, sah diese Vorgänge als ziemlich bedenklich an. So schrieb er mir am 15. September 1875: In der Parteimitgliedschaft sei nach wie vor große Uneinigkeit, es sei fraglich, ob aus all dem Teufelsquark nicht noch eine Spaltung hervorgehe. Und in einem Briefe vom 25. September an mich wiederholte er seine Klagen. Auf dem Parteikongreß 1876 wurde dann Richter-Wandsbeck wegen seines parteischädigenden Treibens aus der Partei ausgestoßen.

* * * * *

In Leipzig hatte der zum Reichstag gewählte Abgeordnete Dr. Stephani im Frühjahr 1875 sein Mandat niedergelegt. Es kam zu einer Nachwahl, bei der ich wieder als Kandidat der Partei aufgestellt worden war. Bei der Wahl am 11. Mai erhielt ich 4018 Stimmen, 367 mehr als das Jahr zuvor bei den allgemeinen Wahlen, mein nationalliberaler Gegner erhielt über 1000 Stimmen weniger, die auf einen Konservativen fielen. Ich war auch als Landtagskandidat für den sächsischen Landtagswahlkreis Meerane-Hohenstein-Ernstthal aufgestellt worden. Ich unterlag hier gleichfalls, und zwar mit 694 gegen 899 Stimmen, die mein nationalliberaler Gegner erhielt. Ich war über diese Niederlage, wie ich in meinem oben abgedruckten Briefe an Engels bereits andeutete, sehr zufrieden. Die Partei hatte sich um jene Zeit noch wenig mit den Landtagswahlen befaßt. Das Wahlgesetz war zwar im Vergleich zu dem heute bestehenden ein sehr günstiges, es forderte für den Wähler einen Zensus von 3 Mark direkter Staatssteuer, die sächsische Staatsangehörigkeit und ein Alter von 25 Jahren. Für das Recht, als Abgeordneter gewählt zu werden, das sogenannte passive Wahlrecht, wurde ein Zensus direkter Staatssteuer von mindestens 30 Mark, ein Alter von 30 Jahren und dreijährige Staatsangehörigkeit verlangt. Trotzdem war die Zahl unserer Wähler gering, da zu jener Zeit viele Arbeiter die Staatssteuer von 3 Mark, die mit einem Jahreseinkommen von 600 Mark verknüpft war, nicht bezahlten. Erst mit der Einführung eines neuen Einkommensteuergesetzes im Jahre 1876 änderte sich dieses zu unseren Gunsten infolge der höheren Einkommeneinschätzung. Von jetzt ab begannen wir mit Erfolg uns an den Wahlen zum Landtag zu beteiligen.

Um die stattgehabte Vereinigung immer mehr in Fleisch und Blut der früher feindlichen Brüder überzuleiten, kamen wir überein, daß die bekanntesten Persönlichkeiten aus den ehemaligen beiden Lagern hauptsächlich in den Bezirken Versammlungen abhalten sollten, die ihnen früher mehr oder weniger unzugänglich waren. So gingen Liebknecht und Motteler nach Norden und Westen, Hasenclever, Dreesbach und andere nach dem Süden und nach Sachsen, ich nach Altona-Hamburg, woselbst meine Versammlungen ungemein stark besucht wurden, ebenso in Berlin, woselbst ich im Tivoli eine Riesenversammlung abhielt. In Hamburg, Altona und Umgegend erhielt die Bewegung einen neuen Stützpunkt in der Gründung des „Hamburg-Altonaer Volksblattes“, das mit dem 1. Oktober 1875 ins Leben trat. Hasenclever zog es jetzt vor, aus dem Vorstand aus-und in die Redaktion des „Hamburg-Altonaer Volksblattes“ einzutreten.

* * * * *

Für mich persönlich war damals die Situation keine angenehme. Unter dem Widerspruch der Interessen zwischen Geschäft und Partei litt ich schwer, darüber klagte auch Bracke in einem Briefe an mich Ende August. Es sei schrecklich, Sklave eines Geschäftes zu sein. Aber wie loskommen? Er trage sich mit dem Gedanken, sein Druck- und Verlagsgeschäft an die Leipziger Genossenschaftsdruckerei zu verkaufen, aber andererseits habe er wieder Bedenken. Er habe erdrückende Arbeit und ein schweres Defizit zu tragen, das ihm Verlag und Druckerei verursache. Ich bewunderte bei ihm die Heiterkeit des Gemüts, die er trotz aller Sorgen behielt. Da ich um jene Zeit meinen späteren Associé gewonnen hatte, eine Verbindung, die erst im nächsten Herbste durchgeführt werden konnte, wovon aber Nachricht sich blitzschnell in Leipzig verbreitet hatte, entstand das von den Gegnern genährte Gerücht, ich werde mich alsdann aus dem Parteileben zurückziehen. Die erste Nachricht von diesem Geschwätz erhielt ich durch einen Altenburger Genossen, der mir am 30. August schrieb: Er habe bei seiner kürzlichen Anwesenheit in Leipzig von verschiedenen Seiten gehört, daß ich einen Kompagnon erhielte, Großindustrieller würde und dann mich langsam aus der Partei zurückziehen wolle. Das habe er bei einem Arbeiterfest in Schmölln auch Meeraner und Gößnitzer Genossen mitgeteilt und ihnen gesagt, sie müßten diesen schmerzlichen Schlag, den sie von mir erhielten, überwinden. Da sei es aber rührend gewesen, mit welch felsenfestem Vertrauen die betreffenden Genossen geantwortet, das glaubten sie nicht, das hielten sie für unmöglich. Mittlerweile habe er auch vernommen, daß es nicht wahr sei. Er habe ihnen aber versprechen müssen, an mich wegen der Sache zu schreiben, er bitte wegen seiner Zudringlichkeit um Verzeihung, ich möchte aber dem Gerücht öffentlich entgegentreten, ein Verlangen, das zu erfüllen ich meiner unwürdig hielt.

Um diese Zeit — September 1875 — befand sich Most noch immer im Gefängnis zu Plötzensee. Ich schrieb ihm zur Tröstung einen längeren Brief und erkundigte mich, wie es ihm gehe. Daß seine Behandlung gegen früher eine anständigere geworden war, hatte ich vernommen. Darauf schrieb er mir am 27. September:

„Lieber Bebel! Wenn ich Dir sage, daß ich oft monatelang weder von der Partei noch von Parteigenossen ein Sterbenswörtchen höre, so kannst Du Dir denken, daß mich Dein Brief freute. Du mußt Dir meinethalben keine Sorge machen, es steht zwar (lediglich wegen meiner kärglichen Lebensweise) faul genug mit mir, aber flöten gehe ich deshalb doch nicht. Mir geht es von Kindheit an, namentlich aber seit den letzten sieben Jahren, so nichtswürdig, daß ich immerhin ungemein viel aushalten kann…. Alle Nachrichten, die Du mir betreffend unsere Partei übermittelst, beweisen mir aufs neue, daß alle gegen uns inszenierten Verfolgungen fruchtlos waren und sind. Komme ich erst heraus, hoffe ich meine Freude zu haben. Und was meine Stimmbänder betrifft, so werden sie wohl noch ein Weilchen aushalten…. Was ich tue? Nun, ich ochse! Erstens schreibe ich für Geib, zweitens büffle ich französische Uebersetzungen und drittens löffle ich tüchtig Materialismus…. Man muß ja heutzutage entsetzlich viel gelesen haben, will man nicht als Schafskopf gelten…. Die Zeit vergeht mir verhältnismäßig sehr rasch. Geib meint, ich solle beantragen, daß man mich vorläufig entlasse, aber dieses habe ich nun schon dreimal abgelehnt, da solche Betteleien prinzip- und zwecklos sind.“

Reichstagsarbeit.

Ende Oktober 1875 wurde die neue Session des Reichstags eröffnet. Nach einer Pause von fast dreieinhalb Jahren nahm ich zum erstenmal wieder an dessen Beratungen teil. Es war auch die erste Session, in der die Vertretung der Partei als die der geeinigten Partei vor die Oeffentlichkeit trat. Das Auftreten der Fraktion war denn auch sofort lebhafter, selbstbewußter und energischer als in irgend einer früheren Session. Die Natur des Beratungsstoffs trug ebenfalls zu einem lebhafteren Eingreifen bei.

Dem Reichstag war ein Gesetzentwurf zugegangen betreffend die Abänderung des Titels 8 der Gewerbeordnung in Verbindung mit einem Gesetzentwurf über die gegenseitigen Hilfskassen. Die Debatte über den Gesetzentwurf in den verschiedenen Stadien seiner Beratung wurde von uns mit allem Nachdruck geführt. Fast die gesamten Mitglieder der Fraktion beteiligten sich zum Teil wiederholt an den Debatten und begründeten auch eine größere Zahl Anträge zu den verschiedenen Paragraphen. In der Arbeiterwelt hatte der Entwurf lebhafte Mißstimmung erzeugt und eine Anzahl Petitionen hervorgerufen, unter denen namentlich die Petition der Kommission der Krankenkassenvorstände Berlins sehr ausführlich auf die einzelnen Bestimmungen des Gesetzentwurfes einging.

Seitens der Fraktion war ich zum Redner in der Generaldebatte bestimmt worden. Die Verhandlungen begannen am 6. November und wurden noch an demselben Tage zu Ende geführt. Die Mehrheit liebte es, möglichst wenig zu diskutieren und raschen Schluß zu machen. Ich nahm gegen den Entwurf in der vorliegenden Fassung entschieden Stellung. Fraktion und Partei standen damals auf dem Standpunkt, daß die Krankenkassen ausschließlich den Arbeitern gehörten, daß sie allein die Beiträge zahlen und die volle Selbstverwaltung besitzen sollten. Die Haftpflicht beziehungsweise Unfallpflicht in allen ihren Konsequenzen sei ausschließlich den Unternehmern zu übertragen. Die Invaliditäts- und Altersversicherung sei auf die Beiträge beider Teile zu begründen. Ich führte aus: Der Entwurf stelle die Arbeiter unter die Vormundschaft der Behörden und der Unternehmer. Er verweigere den Arbeitern das Recht, das jede andere Klasse für die Verwaltung ihres eigenen Vermögens besitze, das Recht der unumschränkten Selbstverwaltung. Was würde der Reichstag sagen, machten wir in einem Aktien- oder Genossenschaftsgesetz solche bevormundende Vorschriften! Statt von großen des Reiches würdigen Gesichtspunkten sei man von kleinlichen und kleinlichsten Gesichtspunkten ausgegangen. Namentlich in Verbindung mit dem § 4 des Haftpflichtgesetzes sei der Entwurf sehr bedenklich, da er den Arbeitern in den Hilfskassen Lasten auferlege, die die Haftpflichtversicherung der Unternehmer zu tragen habe. Behalte der Gesetzentwurf im wesentlichen seinen jetzigen Charakter, werde er statt Zufriedenheit große Unzufriedenheit in der Arbeiterwelt hervorrufen, also das Gegenteil von dem, was er bezwecken solle. Der Entwurf wurde an eine Kommission von 21 Mitgliedern verwiesen. Nachdem dieser Beschluß gefaßt war, trat der Abgeordnete Miguel an mich heran und stellte die Frage, ob ich bereit wäre, Mitglied der Kommission zu werden. Nach erfolgter Umfrage bei den Fraktionsgenossen erklärte ich mich dazu bereit. Als aber die Wahl erfolgen sollte, kam Miguel abermals zu mir: er müsse zu seinem Bedauern mir mitteilen, daß die große Mehrheit seiner Fraktion meine Wahl nicht wünsche. Er riet mir, mich mit dem Zentrum zu verständigen. Ich lehnte dieses ab; es sei unserer unwürdig, bei einer anderen Fraktion um einen Sitz in einer Kommission zu petitionieren. Der Seniorenkonvent bestand damals schon, der die Verteilung der Mitglieder der Kommissionen nach der Stärke der Fraktionen vornahm. Wir mit unseren neun Mitgliedern wurden aber als Fraktion nicht anerkannt, dazu waren mindestens fünfzehn erforderlich. So unterblieb meine Teilnahme an der Kommission. Wir stimmten schließlich gegen das Gesetz, da wir mit unseren Verbesserungsanträgen kein Glück hatten; sie wurden sämtlich abgelehnt.

Eine zweite Vorlage, die unsere Beteiligung an den Verhandlungen herausforderte, war die Strafgesetznovelle, durch die nicht weniger als 53 Paragraphen des Strafgesetzes, das erst fünf Jahre in Wirksamkeit war, geändert oder neu eingeführt werden sollten. Die verbündeten Regierungen wollten mit der Vorlage 14 neuen Vergehen die strafrechtliche Verfolgung sichern. Bismarck war allezeit ein Gewaltmensch; jede ihm unbequeme oder unangenehme Zeitströmung glaubte er durch Anwendung von staatlichen Gewaltmitteln aus der Welt schaffen zu können. So die katholische, die Polen-, die sozialistische Bewegung. Und er ist von dieser Auffassung auch nicht bekehrt worden, obgleich am Ende seines Lebens das gründliche Fiasko dieser Politik auf der flachen Hand lag und er der Besiegte und nicht der Sieger war. Die Strafgesetznovelle sollte im großen zuwege bringen, was bisher durch Polizei und Richter mißlungen war. Es waren also insbesondere die sogenannten politischen Paragraphen des Strafgesetzbuches, zum Beispiel die §§ 95, 103, 110, 111, 113, 114, 117, 128, 130, 130a, 131 usw., die entsprechend verschärft werden sollten. So sollte der § 130 folgende Fassung erhalten: Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung gegen einander öffentlich aufreizt, oder wer in gleicher Weise die Institute der Ehe, der Familie, des Eigentums öffentlich durch Rede oder Schrift angreift, wird mit Gefängnis bestraft. Aehnlich erweitert wurde der § 131. Es wurde an seine Stelle etwas modifiziert der berüchtigte ehemalige preußische Haß- und Verachtungsparagraph vorgeschlagen. Wir beobachteten die Taktik, uns zunächst zurückzuhalten und den Liberalen, die mit dem Regierungsentwurf sehr unzufrieden waren, den Vortritt zu lassen. Diese Taktik erwies sich als richtig. Nicht nur Dr. Hänel von der Fortschrittspartei, sondern selbst die Nationalliberalen Bamberger und Lasker entwickelten Anschauungen über die Freiheit der öffentlichen Meinung, denen wir nichts hinzuzusetzen brauchten, die aber sehr abstachen gegen die Haltung, die sie einige Jahre später dem zweiten Sozialistengesetzentwurf gegenüber einnahmen. Ein Teil der Vorlage ging an eine Kommission, der andere sollte im Plenum beraten werden. Unsere eigentliche Beteiligung begann mit der Beratung des § 130, der am 27. Januar 1876 auf der Tagesordnung stand. Graf Eulenburg, der Minister des Innern für Preußen, begann seine Rede mit den Worten: Meine Herren, der § 130 ist gegen die Sozialdemokratie gerichtet. Der übrige Inhalt seiner Rede bestand vorzugsweise in langen Zitaten aus dem „Sozialdemokrat“ und „Volksstaat“ und aus einer Lassalleschen Rede aus dem Jahre 1863, wodurch er unsere Staatsgefährlichkeit nachzuweisen suchte. Schließlich bat er, den verbündeten Regierungen die geforderten Machtmittel gegen uns zu bewilligen, sonst müsse man sich mit den jetzigen unzulänglichen Gesetzesparagraphen begnügen, „bis die Flinte schießt und der Säbel haut“. Die Rede verlief vollständig eindruckslos, und so hatte es Hasselmann, der nach Eulenburg sprach, leicht, ihn zu widerlegen. Die Regierung stehe verständnislos der sozialdemokratischen Bewegung gegenüber, die doch nur die naturgemäße Frucht der bestehenden wirtschaftlichen Mißstände sei. Die Forderungen im sozialdemokratischen Programm seien die Heilmittel, die wir gegen die vorhandenen Uebel in Vorschlag brächten. Auf die Anklage, wir reizten die Arbeiter in den Volksversammlungen auf, stellte er die Frage, warum man nicht in diese Versammlungen komme, um uns zu widerlegen? Den Klassenkampf hätten die Gegner begonnen, und wie grausam und blutig sie ihn eventuell führten, habe die Pariser Kommune gezeigt. Er erklärte schließlich, wir würden den Kampf auf gesetzlichem Boden weiterführen, möge er noch so schwere Opfer kosten. Das Ende der Debatte war, daß, nachdem ein Amendement der Konservativen abgelehnt worden war, sich keine Stimme für den Antrag der Regierung erklärte, was große Heiterkeit hervorrief.

Die Parteipresse beantwortete die Rede Eulenburgs durch Abstattung ihres Dankes für die agitatorische Wirkung derselben zugunsten der Partei, und der Parteivorstand beschloß ihre Massenverbreitung. Auch der § 131 fand in der neuen vorgeschlagenen Fassung im Reichstag keine Gegenliebe und flog ebenfalls sang- und klanglos in den Orkus. Zum sogenannten Arnimparagraph (§ 353a) hielt Liebknecht eine kurze, aber sehr wirkungsvolle Rede, die den lebhaften Widerspruch der Mehrheit des Reichstags hervorrief.

Bei der dritten Lesung der Novelle empfand Bismarck das Bedürfnis, noch einmal zum § 130 der Vorlage zu sprechen. Da dieser aber nicht mehr existierte, nahm der Abgeordnete Freiherr von Nordeck zur Rabenau den Antrag wieder auf. Bismarck ging darauf sofort aufs schärfste gegen uns los. Er verlange, daß man den sozialistischen Agitationen auch im Reichstag gebührend entgegentrete. Spreche im Hause ein sozialistischer Abgeordneter, so sei es hergebracht, ihm zuzuhören, als spreche er aus einer anderen Welt, mit der sich der Reichstag nicht zu befassen habe. Man müsse den Gegengründen gegen den utopistischen Unsinn der Sozialisten die weiteste Verbreitung geben; sei es doch so weit gekommen, daß die Mörder und Mordbrenner der Pariser Kommune hier im Reichstag eine öffentliche Lobeserhebung bekommen hätten, ohne daß eine entgegengesetzte Ansicht ausgesprochen worden sei. Es seien das Gebilde, die von den Verführten nur im Dunkel der Blendlaterne der Verführer gesehen würden; wenn sie aber hinreichend an die Luft und Sonne gebracht würden, so müßten sie in ihrer Unausführbarkeit und verbrecherischen Torheit erkannt werden.

Diese Bismarckschen Anklagen richteten sich zweifellos gegen meine Rede in der Session von 1871 zur Verteidigung der Kommune, denn seitdem waren Reden über die Kommune im Reichstag nicht gehalten worden, und so meldete ich mich zum Wort. Nachdem dann Windthorst und Bismarck noch einmal gesprochen, zog der Freiherr v. Nordeck zur Rabenau seinen Antrag mit der Motivierung zurück, Fürst Bismarck, der bei der zweiten Lesung habe fehlen müssen, sei jetzt zum Worte gekommen, damit sei der Zweck seines Antrags erreicht. Als Windthorst auf der Fortsetzung der Debatte bestand, bestritt Simson, der kurze Zeit als Präsident den verhinderten Forckenbeck vertrat, daß dieses möglich sei, und als nunmehr Sonnemann, um mich zu Worte kommen zu lassen, den Antrag v. Nordecks zur Rabenau wieder aufnahm, erklärte Simson, alsdann habe der Abgeordnete Valentin den Schluß der Debatte beantragt. Ein Schlußantrag Valentins lag also bereits wieder einmal auf dem Bureau zu geeigneter Verwendung vorrätig vor. So schnitt man mir das Wort zur Entgegnung auf die Angriffe Bismarcks ab. Ich versuchte nunmehr, in einer persönlichen Bemerkung mich zu verteidigen. Ich tadelte, daß man mir nach den heftigen Angriffen des Reichskanzlers auf meine Person das Wort zur Entgegnung verweigert habe. (Wiederholte Zwischenrufe.) Es sei kein Zweifel, daß die Angriffe des Reichskanzlers sich gegen mich persönlich richteten, wie ich das mit Hinweis auf meine Reden im Jahre 1871 nachwies. Der Reichskanzler habe sich über die häufigen Beleidigungen seiner Person beschwert, da hätte er den guten Rat, den er dem Hause gab, zunächst mir und meiner Partei gegenüber befolgen sollen. Seine Anklage, ich hätte Mörder und Mordbrenner verteidigt, wies ich als eine mir zugefügte Beleidigung zurück. Ich hätte die Männer der Kommune verteidigt, weil sie nicht als Mörder und Mordbrenner angesehen werden könnten, sondern als Männer, denen man bitter unrecht getan habe. Daß sie keine Mörder und Mordbrenner gewesen seien, dafür spreche, daß drei hochangesehene Regierungen, der Schweizer Bundesrat, die belgische und die englische Regierung, verweigert hätten, die Flüchtlinge der Pariser Kommune, weil sie keine Verbrecher seien, auszuliefern. Hier unterbrach mich der Präsident: Meine Ausführungen seien nicht mehr persönlich, ich machte sachliche Ausführungen, und da stünde Ansicht gegen Ansicht, das gehe aber nicht innerhalb des Rahmens einer persönlichen Bemerkung. So mußte ich auf weitere Ausführungen verzichten. Ich revanchierte mich aber in einer Versammlung in Leipzig, in der ich meinem Herzen Luft machte.

Auch die Verhaftungsfrage der Abgeordneten kam durch einen fortschrittlichen Antrag wieder zur Verhandlung, dem wir, da er eine Halbheit war, einen weitergehenden korrekten Antrag gegenüberstellten. Unser Antrag, den ich motivierte, fiel, aber auch der fortschrittliche Antrag wurde mit 142 gegen 127 Stimmen abgelehnt. Lasker, der nach seiner Haltung in der vorigen Session für den Antrag hätte stimmen müssen, enthielt sich der Abstimmung, v. Bennigsen fehlte als entschuldigt.

Ein Vorgang, der auf dem nächsten Parteikongreß zur Sprache kam und angegriffen wurde, betraf unsere Abstimmung über den Antrag von Schulze-Delitzsch und Genossen, betreffend Zahlung von Diäten. Liebknecht und ich hatten uns bei der zweiten Lesung über diesen Antrag der Abstimmung enthalten, Hasenclever hatte dafür gestimmt und die übrigen Kollegen, von denen Most in Hast war, waren bei der Abstimmung nicht anwesend. Bei der dritten Lesung nahm ich im Namen der Gesamtheit das Wort und erklärte, daß wir uns sämtlich der Abstimmung enthalten würden. Wir hätten es satt, beständig für den Papierkorb des Bundesrats zu arbeiten, der Reichstag nehme jede Session mit stets steigender Mehrheit den Antrag auf Diätenzahlung an, der Bundesrat werfe ihn ebenso regelmäßig in den Papierkorb. Meine es der Reichstag ernst mit der Diätenzahlung, dann solle er auch die ihm zu Gebote stehenden Machtmittel anwenden, um sie zu erlangen. Er solle alsdann zunächst dem Reichskanzler das Gehalt verweigern. Es sei eine Schande, dem Reichstag zu verweigern, was alle anderen Parlamente in Deutschland erhielten. Wir wollten dieses Spiel nicht weiter mitmachen und würden uns der Abstimmung enthalten, da wir gegen den Antrag nicht stimmen könnten. Die kurze Rede brachte mir zwei Ordnungsrufe ein. Den 10. Februar wurde die Session geschlossen.

Meine Stellung zur Kommune.

Am 10. März 1876 hatte ich in Leipzig eine Disputation mit Bruno Sparig, einem Hauptagitator der Leipziger Nationalliberalen, der in seiner Rede über meine Stellung zur Kommune alle die Angriffe vorbrachte, die man damals gegen die Kommune machte. Jene Versammlung war von beiden Parteien gemeinsam einberufen, jede Partei bekam gleichviel Eintrittskarten zur Verteilung, jede Partei wählte auch einen Vorsitzenden, der den Vorsitz führte, während der Gegner redete. Von unserer Seite war Julius Motteler dieser Vorsitzende, von seiten der Gegner ein Direktor Peucker.

Ich erweise manchem meiner Leser einen Dienst, wenn ich meine damalige
Leipziger Rede, wenn auch gekürzt, hier zum Abdruck bringe:

  Direktor Peucker: Herr Bebel hat jetzt das Wort. (Der Redner wird
  beim Betreten der Tribüne mit stürmischem Beifall empfangen.)

Bebel: Ich knüpfe an die letzten Worte des Herrn Sparig an. (Unruhe.) Herr Sparig erklärte, er habe noch so viel Tatsachen gegen die Kommune anzuführen, daß er noch zehn Abende damit zubringen könnte. (Unruhe.) Meine Herren, ich habe Herrn Sparig gleich anfangs die Offerte gemacht, daß, wenn die Disputation an einem Abende nicht beendigt sei, sie am nächsten oder an einem späteren Tage fortgesetzt werden solle. Wir könnten also morgen oder nächsten Montag die Debatte fortsetzen, wozu ich bereit bin. (Große Unruhe, Zischen.) Herr Sparig hat aber erklärt, es sei an einem Abende genug, die Sache würde dabei zum Austrag gebracht werden. (Bravo! Zischen.)

Meine Herren, zunächst eine persönliche Erklärung meinen Parteigenossen gegenüber, die mir zum Teil heftige Vorwürfe gemacht haben, daß ich auf die Bedingung eingegangen bin, daß zu dieser Versammlung Karten ausgegeben wurden, weil dies gegen das Prinzip der Volksversammlungen verstößt. Meine Herren, ich würde nimmer auf diesen Vorschlag eingegangen sein, wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß im anderen Falle die Versammlung gar nicht stattgefunden hätte. Ich bin einzig und allein aus diesem Grunde darauf eingegangen, ich werde aber ein zweites Mal nicht darauf eingehen, weil, obgleich bei unserer Abmachung Herr Sparig sagte, man wolle, um nicht „unanständig“ zu erscheinen, bei dem Eingang nicht sammeln, um kein Geldgeschäft daraus werden zu lassen, dennoch von seiten des Herrn Sparig das Versprechen nicht gehalten, sondern der Vertrag verletzt und die Karten gegen Geld ausgeboten wurden. (Große Unruhe. Rufe: Das ist nicht wahr!) Bebel: Wie können Sie da rufen, das ist nicht wahr? (Bravo! Zurufe.)

  Meine Herren! Zunächst bitte ich vor allem meine Parteigenossen, mich
  nicht durch Beifallsbezeigungen zu unterbrechen, aus dem einfachen
  Grunde, weil mir diese zu viel Zeit wegnehmen. Ich habe nur anderthalb
  Stunden Zeit. (Unterbrechung, Zischen.)

  Vorsitzender Direktor Peucker: Meine Herren, ich muß Sie ersuchen,
  alle derartigen Ausrufe wie „Das ist nicht wahr“ usw. zu unterlassen.
  Herr Bebel hat laut eingegangenem Kontrakt das Wort. Ich ersuche beide
  Parteien, Herrn Bebel ruhig reden zu lassen.

  Bebel: Meine Parteigenossen haben Herrn Sparig mit der größten Ruhe
  angehört, obgleich sie häufig Ursache gehabt hatten, ihr Mißfallen
  kund zu geben. (Fortgesetzte Unruhe seitens der Liberalen.)

  Ich glaube, meine Herren, wir haben der liberalen Partei heute den
  Beweis geliefert, daß ihre Behauptung unwahr ist, daß ein Gegner in
  einer sozialdemokratischen Versammlung nicht sprechen könne; Herr
  Sparig hat im Gegenteil ganz ruhig sprechen können, während
  Sie — (Große Unruhe. Rufe: Raus! Lärm seitens der Liberalen.)

Bebel: Meine Herren! Ich hoffe, daß die Herren Gegner nicht provozieren wollen, daß die Versammlung polizeilich aufgelöst werde. Fast komme ich zu dieser Ueberzeugung. Herr Sparig hat ausgeführt, daß wir uns über die Mundtotmachung im Reichstag beschwert hätten, und er hat weiter erklärt, er nähme es den Reichsboten nicht übel, wenn sie nicht immer wieder die sozialdemokratischen Phrasen anhören wollten.

Wir sind im Reichstage Volksvertreter so gut wie jeder andere, der dort sitzt, und wir haben nicht bloß das Recht, sondern auch die Pflicht, unsere Parteianschauungen dort zu vertreten, wo sich die Gelegenheit bietet. Sind wir einmal in einer Sitzung des Reichstags nicht zugegen, dann führt die liberale Presse und besonders das „Leipziger Tageblatt“ gewissenhaft Buch und man liest am nächsten Tage: Bei der und der Abstimmung haben die und die sozialdemokratischen Abgeordneten gefehlt. Reden die sozialdemokratischen Abgeordneten, dann heißt es: Sie sind unverschämt! Und schneidet man uns das Wort ab, auch wenn wir zum Reden herausgefordert wurden, so heißt die liberale Presse und Herr Sparig ein solch nichtswürdiges Verfahren gut….

Herr Sparig ist dann auf die Verhandlungen des deutschen Reichstags im Jahre 1871 eingegangen und erwähnte dabei zuerst die Sitzung vom 25. Mai, in der es sich um die Annexion von Elsaß und Lothringen handelte. Hier hat nun Herr Sparig einen chronologischen Schnitzer begangen: er läßt meine Rede vom 10. April hinter der Rede vom 25. Mai kommen. In der Rede vom 10. April war es, wo ich erklärte, daß ich die Handlungen der Kommune zwar nicht in allen Stücken billige, und zwar aus Zweckmäßigkeitsgründen, daß ich aber nichtsdestoweniger die Kommune verteidige, und daß ich mich dazu um so mehr für verpflichtet halte, als selbst die liberale Presse, nachdem sie zuvor gewisse Handlungen der Kommune als Gewalttaten gebrandmarkt harte, nach wenig Tagen ihre Beschuldigungen als unwahr zurücknehmen mußte….

… Herr Sparig hat die Tätigkeit der Kommune als eine lange, ununterbrochene Kette von Verbrechen und Scheußlichkeiten hinzustellen versucht. Als Hauptschandtaten führte Herr Sparig die Erschießung der Generale Klement Thomas und Lecomte an, ferner die Erschießung der Geiseln und den Befehl zur Inbrandsetzung des Finanzministeriums, den er Ferré imputiert. Sonstige „Schandtaten“ hat er nicht anzugeben vermocht.

Wie steht es aber nun mit diesen angeblichen Schandtaten? Am 18. März, dem Tag der Erschießung der Generale Klement Thomas und Lecomte, hat die Kommune, nach dem eigenen Geständnis des Herrn Sparig, noch nicht bestanden. Man kann sie also dafür unmöglich verantwortlich machen.

An dem Tage, an dem die Geiseln erschossen worden sind — als welchen Tag Herr Sparig selbst den 24. Mai angibt —, hat die Kommune offiziell nicht mehr bestanden; der Kommunerat hat am 22. Mai die letzte sehr schwach besuchte Versammlung abgehalten, was Herr Sparig gleichfalls bestätigte. Wenn wirklich, wie Herr Sparig behauptet, was aber nicht erwiesen ist, Ferré und Raoul Rigault am 24. den Befehl zur Erschießung der Geiseln gegeben hätten, so würde es sich also nur um zwei Personen von 90 handeln, welche den Kommunerat bildeten, und diese zwei, nicht aber die Kommune, könnten verantwortlich gemacht werden.

(Redner gibt hierauf einen kurzen geschichtlichen Abriß des Entstehens der Kommune, der Belagerung von Paris, des Mißtrauens der Bevölkerung gegen Trochu, der Uebergabe von Paris, des Ausschreibens der Wahlen zur Nationalversammlung, welche den Frieden ratifizieren sollte.)

Die Wahlen wurden ausgeschrieben in einem Moment, wo zwei Drittel von Frankreich von den Deutschen besetzt waren, wo ein großer Teil des Landes im Belagerungszustand war, wo bei der Kürze der Frist von einer Verständigung über die zu Wählenden keine Rede sein konnte, wo endlich der größte Teil der bonapartistischen Präfekten und Beamten, die mehrere Jahrzehnte die niederträchtigste Wahlkorruption betrieben hatten und darauf eingeübt waren, noch im Amte saß. Unter solchen Umständen konnte unmöglich von freien Wahlen die Rede sein.

Die Wahlen fielen auch danach aus. War auch die Majorität nicht bonapartistisch gesinnt, so war sie doch royalistisch und der Republik feindlich. Die Folge war, daß Gambetta zurücktrat und Herr Thiers an die Spitze der Regierung kam. Die Nationalversammlung, die damals bekanntlich in Bordeaux tagte und die ausdrücklich nur zu dem Zweck gewählt worden war, über die Friedensbedingungen zu beschließen, maßte sich jetzt an, über das Geschick Frankreichs zu entscheiden, und beging damit eine schwere Verletzung ihres Mandats. Die Regierung war jämmerlich genug, auf solche Anmaßungen einzugehen. Ja es kam in kurzer Zeit so weit, daß selbst die blauen Republikaner wie Jules Favre und Konsorten gänzlich aus der Regierung verdrängt wurden.

Mit dieser Haltung der Versammlung in Bordeaux gingen weitere Schritte der Regierung gegen Paris Hand in Hand. Die Regierung verlangte von der Pariser Nationalgarde, und zwar im Widerspruch mit den Stipulationen des Friedensvertrags, daß sie die Waffen ausliefere. Der Belagerungszustand, der seit der Revolution vom 4. September in Paris aufgehoben war, wurde wieder eingeführt. Der als ein Feind der Republik bekannte Jesuiten-General d'Aurelles de Paladine wurde zum Oberkommandanten der Nationalgarde, der verhaßte bonapartistische General Vinoy zum Gouverneur von Paris ernannt. Diesen gegen Paris feindseligen Schritten schlossen sich eine Reihe anderer an. Infolge der Belagerung von Paris und des vollständigen Daniederliegens von Geschäften und Verkehr war früher eine Aufschiebung der fälligen Wechselzahlungen ausgesprochen worden. Die Regierung, die mittlerweile von Bordeaux nach Versailles übergesiedelt war, bestimmte jetzt, daß, obgleich Handel und Wandel noch gleich sehr daniederlagen, alle fälligen Wechselzahlungen sofort bezahlt werden müßten. Es wurde ferner befohlen, daß die fälligen Mieten — die bis dahin ebenfalls gestundet worden waren — sofort bezahlt werden müßten. Gleichzeitig wurde eine Stempelsteuer von 2 Centimes auf jedes Zeitungsblatt eingeführt. Die Folge von allem diesem war, daß nicht nur die Sozialisten, sondern daß der größte Teil der Pariser Bevölkerung, die kleinen Kaufleute, die Krämer, die Handwerker mit den revolutionären Elementen gemeinsame Sache machten. Sie erklärten, unter keinen Umständen auf die Bedingungen und Zumutungen eingehen zu können, welche die gegenwärtige Regierung stelle. Als die Regierung die Stimmung in Paris sah, wurde ein Handstreich von ihr versucht. Man wollte sich Paris mit Gewalt bemächtigen. In der Nacht vom 17. auf den 18. März rückte der General Lecomte auf Befehl des Generals d'Aurelles de Paladine mit einer Anzahl Linienbataillone gegen den Montmartre, um sich der dorthin gebrachten mehreren hundert Geschütze, welche sich die Nationalgarde aus eigenen Mitteln während der Belagerung beschafft hatte, zu bemächtigen. Die Nationalgarde hatte tags zuvor von diesem Plane Kunde erhalten, sie war infolgedessen auf dem Posten. Als die Truppen heranrückten, fanden sie alle Zugänge sorgfältig besetzt. Lecomte sah die Unmöglichkeit ein, die Kanonen, wie er gehofft, ohne Schwertstreich wegzunehmen; er kommandierte Feuer. Wie es bei solchen Gelegenheiten geht, hatten sich neben der Nationalgarde auch eine Menge Volks, Männer, Frauen und Kinder, eingefunden, die bei dem Feuern notwendig wären mitgetroffen worden. Da erklärte die Linie: Wir schießen nicht. Statt das Gewehr auf die Nationalgarde zu richten, wandte sie die Gewehrkolben nach oben und fraternisierte mit dem Volk. Viermal forderte der General zum Feuern auf und viermal verweigerten die Soldaten den Gehorsam.

Jetzt begann der General wütend zu schimpfen. Dies erbitterte seine Soldaten, und darauf wurde er von seinen eigenen Leuten verhaftet und im Laufe des Nachmittags erschossen. Dabei war kein Mitglied des Zentralkomitees der Nationalgarde zugegen, und die Kommune wurde erst wenige Tage später proklamiert.

In diese Affäre mengte sich nun der General Klement Thomas, der in Zivilkleidern als Spion sich unter das Volk gemischt hatte und, als er auf das Benehmen der Soldaten schimpfte, erkannt wurde. Herr Sparig sagt, Klement Thomas sei ein Republikaner gewesen.

Meine Herren! Es gibt in Frankreich eine Menge Leute, die sich Republikaner nennen, im Grunde aber nichts anderes sind wie bei uns die Nationalliberalen. Klement Thomas war einer von dieser verwässerten republikanischen Richtung. Früher Offizier, der den Dienst quittiert hatte, war er anfangs 1848 bei dem Journal „National“ als Sitzredakteur beschäftigt, dem zugleich die Stelle des Duellanten bei den Streitigkeiten mit den Redakteuren anderer Blätter zufiel. Von der Februarregierung wieder in die Armee eingereiht und zum General erhoben, spielte er vor und während der Junischlacht 1848 die infamste Henkerrolle und setzte sich durch seine Barbarei gegen die Arbeiter ein trauriges Denkmal.

Dieser selbe General wurde von Trochu zum Kommandanten der Pariser Nationalgarde ernannt, als der General Tamisier im November 1870 wegen des nicht gehaltenen Versprechens, daß Paris seine Kommuneregierung wählen solle, das Kommando niederlegte. Das war eine direkte Provokation. Klement Thomas hatte nach Antritt seines Kommandos nichts Eiligeres zu tun, als in allen seinen Handlungen die offenbarste Feindschaft gegen die Nationalgarden aus den Arbeiterquartieren zu zeigen. Und in dem Moment, wo die Aufregung über das Benehmen des Generals Lecomte aufs Höchste gestiegen war, erschien der verhaßte Mann auf der Bühne und nahm für Lecomte Partei. Er wurde festgenommen und gleich Lecomte von den ergrimmten Soldaten erschossen.

Meine Herren! Das war eine Gewalttat, und ich bin weit entfernt, sie gut zu heißen; aber man muß sich die Lage vergegenwärtigen, und wenn man dies tut, wird man diese Handlungen entschieden entschuldigen müssen. Es sind von seiten der Reaktion ganz andere und größere Grausamkeiten begangen worden, und zwar nicht in einer Zeit der Aufregung und Leidenschaft, unter welcher die Kommune existierte, sondern man hat sie in ruhiger Zeit und mit kaltem Blute begangen. Man denke nur an die entsetzliche Behandlung der Kommunedeportierten in Neukaledonien, welche alles bisher Dagewesene an Grausamkeit übertrifft, und Jahre lang nach dem Kampfe fortgesetzt wurde. Solche Greuel fordern die Empörung und Verurteilung jedes Menschenfreundes heraus.

Als die in Paris anwesenden Regierungsbehörden am 18. März sahen, wie die Stimmung der Stadt und der Soldaten war, fanden sie es für gut, sich eiligst aus dem Staube zu machen. Das Zentralkomitee der Nationalgarde nahm jetzt die Leitung der Verwaltung in die Hand.

Herr Sparig glaubt der Versailler Regierung den Vorwurf machen zu müssen, daß sie am 18. März nicht zuverlässige Truppen nach Paris gesandt. Es gab aber für die Regierung überhaupt keine zuverlässigen Truppen. Die ganze französische Armee, soweit sie im Lande war, war empört über die Haltung der Regierung und sympathisierte mit dem Volk. Die einzig zuverlässigen Truppen: die Garden Napoleons, die Zuaven und Turkos und die ultramontanen bretonischen Regimenter, befanden sich in der deutschen Gefangenschaft. Und erst als Herr Thiers und Herr von Bismarck sich verständigt hatten, erwies der letztere dem ersteren die Gefälligkeit, ihm mehr als 80000 Mann der bezeichneten Truppen zur Verfügung zu stellen, welche jetzt wie Bestien und als wollten sie die Niederlage, die sie von den Deutschen erlitten, an ihren Landsleuten rächen, über Paris herfielen und in ihrer schauerlichen Blutarbeit über 30000 Menschen niedermetzelten. Diese Truppen haben sich für ewig gebrandmarkt, und sie haben später von ihren Kameraden in der Armee häufig es anhören müssen, daß es eine Schande und eine Schmach für sie sei, sich zu Würgern und Henkern des Pariser Volks hergegeben zu haben.

Veranlaßt durch das Zentralwahlkomitee der Nationalgarde, wählte das Pariser Volk am 25. März die Kommune. Herr Sparig erklärte, es habe dabei eine große Wahlenthaltung stattgefunden, und scheint daraus schließen zu dürfen, daß alle, die nicht gewählt, Gegner der Kommune gewesen seien.

In bezug auf die Wahl der Kommune kann ich mich auf einen Gewährsmann berufen, der ein wütender Sozialistenfeind ist, nämlich auf Herrn Johannes Scherr, der gegenwärtig in der „Gartenlaube“ eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, die an Schimpfereien gegen die Kommune wahrhaftig nichts zu wünschen übrig lassen.

Nun, in diesen Artikeln teilt Herr Scherr mit, daß von 490000 Wählern am 25. März 277300 zur Urne kamen und für die Kommune stimmten. Das sind 57 Prozent. Haben wir etwa eine solche Wahlbeteiligung in Leipzig einmal bei der Reichstagswahl oder gar bei der Stadtverordnetenwahl gehabt? Bei der letzteren haben bei der neuesten Wahl kaum 33 Prozent gewählt. Und was würde Herr Sparig sagen, wenn wir seine Logik akzeptieren wollten und erklärten, die übrigen 67 Prozent, die sich der Wahl enthielten, sind Sozialdemokraten? Er würde uns auslachen und mit vollem Recht. Dasselbe aber gebührt ihm mit seinem Urteil über die Kommune.

Es ist eine Tatsache, daß die große Mehrheit der Bevölkerung von Paris sich für die Kommune erklärt hat; ja Herr Scherr geht sogar so weit, zu erklären, daß die Kommunewahl am 25. März mit einer Einmütigkeit, mit einer Freudigkeit ohne gleichen seitens der Bevölkerung begangen wurde, daß der Tag zu den schönsten gerechnet werden müsse, die Paris gesehen. Das Volk von Paris habe sich an diesem Tage in seinem vollen Glanze und von seiner besten Seite gezeigt, wie kaum bei einem anderen historischen Ereignis. So muß ein Gegner der Sozialdemokratie über die Kommune urteilen!

Herr Sparig hat weiterhin die „Gesetzesmacherei“ der Kommune kritisiert. Er sagte, daß ein Dekret das andere gejagt, das eine das andere wieder aufgehoben oder verschärft habe.

Aber war denn das anders möglich, wenn man einen solchen Augiasstall auszumisten hatte, wie es das kaiserliche Paris war? (Heiterkeit.) Da hatte man allerdings sehr viel zu dekretieren. Und es versteht sich von selbst, daß in einer solchen Situation nicht alles wie am Schnürchen geht. Der Krieg von 1870 war seitens der Deutschen sicher sehr gut vorbereitet, fragen Sie aber einmal den Generalstäbler Moltke, ob alles so glatt gegangen ist, und er wird Ihnen sagen, daß es da und dort gehapert hat. Wie viel mehr muß dies der Fall sein, wenn es sich um eine revolutionäre Bewegung handelt, wenn an Stelle des alten ein neuer Staat geschaffen werden soll, inmitten von Hunderttausenden von Feinden — der deutschen Armee und der Versailler, die mit aller Kraft und all ihren Mitteln darauf hinarbeiteten, der neuen Institution den Garaus zu machen.

Die Dekrete aber, die Herr Sparig anführte, war er selber nicht imstande, als solche zu qualifizieren, die geeignet wären, die Kommune zu kompromittieren. Wenn er beispielsweise bezüglich des Dekrets der Kommune, betreffend die Nachtarbeit der Bäcker, sagt: er glaube nicht, daß auch die Sozialisten geneigt wären, morgens zum Kaffee mit einem altbackenen Dreierbrötchen vorlieb zu nehmen, so ist das ein so flacher Witz, daß ich es unterlasse, näher darauf einzugehen. Es handelte sich bei dieser Maßregel nicht darum, ob der verwöhnte Gaumen der Bourgeoisie ein Bedürfnis befriedigen konnte oder nicht, sondern darum, ob eine zahlreiche Klasse von Arbeitern permanent der aufreibenden und ruinierenden Nachtarbeit ausgesetzt sein sollte oder nicht. Jeder, der sich mit diesen Dingen einigermaßen beschäftigt hat, weiß, daß die Bäckergesellen infolge der Nachtarbeit und der ungemein langen Arbeitszeit überhaupt, die häufig 16, ja 18 Stunden beträgt, meist einem frühen Tode entgegengehen.

Die Kommune hat nun allerdings auf solche Zustände ihr Augenmerk gerichtet, und das gereicht ihr zur Ehre. (Zustimmung.)

Weiter führt Herr Sparig an, daß die Kommune zwar die Todesstrafe abgeschafft habe, aber das Erschießen eingeführt, und er bezog sich dabei auf ein Dekret, welches die Strafe des Erschießens allen denen androhte, die sich dem Dienste in der Nationalgarde, also der Verteidigung der Stadt entzögen.

Die Kommune, von der Anschauung ausgehend, daß jedes stehende Heer ein Werkzeug in den Händen der Regierung sei, um das Volk zu unterdrücken, verlangte die Abschaffung des stehenden Heeres und führte die allgemeine Volksbewaffnung ein. Es war demgemäß jeder waffenfähige Mann verpflichtet zur Verteidigung der Stadt.

Das benachteiligte keinen und war für alle gerecht, was von unserem Wehrsystem, das trotz der Phrasen von allgemeiner Wehrpflicht nur einen Teil des Volkes bewaffnet, allerdings nicht gesagt werden kann. Nun gab es freilich einen Teil, der für die Kommune nicht eintreten wollte, obgleich sie ringsum von Feinden umgeben war, die mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln sie vernichten wollten.

Die Kommune, von allen Seiten angegriffen und zum Kriegführen gezwungen, mußte in dieser Lage diejenigen Mittel anwenden, die in einem solchen Falle jeder kriegführenden Partei zu Gebote stehen und stehen müssen. Sie bedrohte jeden mit dem Tod durch Erschießen, der sich weigerte, die Waffen zur Verteidigung zu tragen.

Es hat Tausende meiner Parteigenossen 1870 gegeben, die mit dem Kriege nicht einverstanden waren und die man nicht frug, ob sie mitgehen wollten. Sie mußten mitgehen und sie würden, im Falle der Weigerung, vor ein Kriegsgericht gestellt und ohne Gnade erschossen worden sein.

Herr Sparig verwechselt also die Abschaffung der Todesstrafe in Zivilstrafrechtsfällen mit der militärischen Todesstrafe im Falle eines Krieges, was doch ein himmelweiter Unterschied ist. Die Todesstrafe zur Aufrechterhaltung der Disziplin im Kriege wird es geben, solange es Krieg gibt.

Herr Sparig hat weiter ein Kommunedekret hervorgehoben, wonach diejenigen Werkstätten und Fabriken, die seitens der Arbeitgeber verlassen worden waren, von der Kommune in Beschlag genommen und denjenigen Arbeitern, welche bisher darin gearbeitet, zum Betrieb übergeben werden sollten. Ferner, daß eine Kommission gewählt werden sollte, um die Werkstätten abzuschätzen, damit die früheren Besitzer entschädigt werden könnten. Er hat sehr richtig hervorgehoben, daß die Kommune dies allgemein durchgesetzt haben würde, wenn sie die Macht dazu gehabt hätte. Ja, er hat auch recht, wenn er vermutet, daß wir allerwärts ähnlich vorgehen würden, wenn wir könnten. Wir wollen den Gegensatz zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ausgleichen, da die Interessen von Arbeitern und Arbeitgebern sich heute feindlich gegenüberstehen. Die Arbeitgeber wollen möglichst geringen Lohn zahlen und möglichst lange arbeiten lassen; der Arbeiter will möglichst hohen Lohn bei möglichst geringer Arbeitszeit. Mit jeder Maschine, die erfunden wird, mit jeder neuen Fabrik wird dieser Klassengegensatz schärfer. Jede Bahn, die gebaut, jeder Telegraphendraht, der gelegt wird, trägt die Erkenntnis in weitere Kreise, verschafft uns neue Anhänger. Jeder Schritt zur Konzentration des Kapitals, zur Vernichtung der kleinen Unternehmer vermehrt die Spaltung und drängt zur Lösung, indem Produktion und Distribution assoziativ betrieben werden, das heißt alle Werkstätten, alle Fabriken, alle Arbeitsmittel müssen in den Händen der Gesellschaft sein und von dieser im Interesse und bei Gleichberechtigung aller Staatsbürger verwaltet werden. Jeder muß arbeiten und jeder hat seinen vollen Anteil am Gewinn, wie selbstverständlich auch am Verlust. An Stelle der Privatindustrie, an Stelle der wilden, unorganisierten Produktionsweise — die uns die gegenwärtige Krise auf den Hals gebracht hat — soll eine sozialistisch, das heißt gesellschaftlich organisierte Produktionsweise treten, wo einer für alle und alle für einen einstehen. Dazu hat die Kommune den ersten Schritt getan, und er war ein solcher, wobei die in Frage kommenden Arbeitgeber durchaus reinen Nachteil hatten, denn sie sollten den vollen Wert für ihre Werkstätten und Fabriken vergütet erhalten.

Nach unserer Auffassung hat die Gesellschaft die Pflicht, sich so zu organisieren, daß für das Wohl aller ihrer Mitglieder gleichmäßig gesorgt ist, daß jedes ihrer Mitglieder in immer höherem Grade an den Errungenschaften der Kultur und Zivilisation auf allen Gebieten des menschlichen Lebens teilnehmen kann. Die Gegner behaupten zwar, dem Fortschritt zu huldigen, aber sobald es sich um eine Besserstellung der Gesamtheit handelt, schreien die, die im Fette sitzen und die Macht in Händen haben: Wir leben in der besten der Welten, es ist ein Verbrechen, wenn diese umgestaltet werden soll.

Mit allen Mitteln verteidigen sie die Vorrechtsstellung, die sie inne haben, und dies geht so weit, daß Männer, die bei einem ganz untergeordneten Gesetz, das mit dem Sozialismus gar nichts zu tun hat, wie zum Beispiel das Hilfskassengesetz, sich herausnehmen zu sagen, daß das Gesetz gegen die Arbeitgeber ein Unrecht sei, und wer dafür ist, sich den Vorwurf entgegenschleudern lassen muß — denn als Vorwurf betrachtet man es —, du bist Sozialist. Wir haben das erst heute im „Tageblatt“ gelesen. Damit wird aufs deutlichste ausgesprochen: Wir sind nicht geneigt, den Unterdrückten auch nur die geringsten Konzessionen zu machen.

Wenn überall, im kleinen wie im großen, in der Gesetzgebung wie im sozialen Leben dieser Klassengegensatz hervortritt, so versteht es sich von selbst, daß Revolutionen entstehen, wie in Paris. Und es ist meine feste Ueberzeugung — wie ich dieses auch in der hier angezogenen Reichstagsrede ausgesprochen habe —, daß, ehe wenig Jahrzehnte vergehen, alles was in Paris geschah, sich in ganz Europa wiederholt. An der Gesellschaft ist es, zur Einsicht zu kommen und sich zu bemühen, auf dem Wege der Gesetzgebung die vorhandenen Klassengegensätze auszugleichen.

Was hat nun die Kommune weiter getan? Sie hat eine alte liberale Forderung, die seit Jahrzehnten im Programm der liberalen Partei gestanden, aber seitdem sie zur Herrschaft gelangt ist, in die Rumpelkammer geworfen wurde, verwirklicht. Die Kommune hat die Trennung der Kirche von Schule und Staat beschlossen und durchgeführt, und sie hat weiter beschlossen, das Kircheneigentum zu konfiszieren.

Mich wundert nur, daß Herr Sparig dieses nicht erwähnt und eine Anklage auf Verletzung des Eigentums erhoben hat. Zum Vorwurf hat man es der Kommune vielfach gemacht. Da es Herr Sparig nicht erwähnte, so erwähne ich's, um ihn zu ergänzen. (Heiterkeit.)

Schade nur, daß das, was die Kommune getan, andere längst vor ihr getan haben. Wenn in der Reformation, die 1517 begann, viele Fürsten auf die Seite Luthers traten, so geschah das nicht aus idealem Interesse, sondern weil sie sich mit dem reichen Kircheneigentum ihre großen Taschen füllen konnten. (Heiterkeit, Beifall.)

Und als in den Vereinigten Staaten von Nordamerika vor 15 Jahren der große Krieg zwischen dem Süden und dem Norden ausbrach und schließlich der Norden die Sklaverei abschaffte, so war das ein solcher Eingriff in das Eigentum der Sklavenhalter, wie man sich ihn ärger nicht denken kann. Unsere Gegner finden, das, was ihnen nützt, sei recht und billig; tut es aber das Volk zu seinen Gunsten, dann ist es Verbrechen und Diebstahl.

Dieselbe Partei, welche gegen die Kommune wegen Antastung des Eigentums die Anklage erhebt, hat noch zu Anfang der 60er Jahre, als sie auf Oesterreich noch gut zu sprechen war, ihm den Rat gegeben, die Kirchengüter zu konfiszieren, um seine kolossale Schuldenlast zu decken, und sie hat jubelnd Beifall geklatscht, als Italien in dieser Richtung vorging. Nun, die kirchlichen Korporationen haben ihr Eigentum auf Grund derselben Rechtstitel erworben, wie irgend ein Bourgeois sein Haus oder sein Grundstück. Wo bleibt da die Konsequenz? Nachdem die Kommune die Trennung der Kirche vom Staat und von der Schule ausgesprochen, dekretierte sie den obligatorischen und unentgeltlichen Unterricht, und nicht bloß in bezug auf das Schulgeld, sondern auch in bezug auf die Lehrmittel. Arme und Reiche sollten gleiche Erziehung genießen, und dadurch, daß der Staat für alle in gleicher Weise eintrat, sollte vermieden werden, daß der Neid und der Haß zwischen arm und reich schon in die jugendlichen Herzen gepflanzt werde. Zeigen Sie mir doch einen liberalen Staat, der auch nur entfernt etwas Aehnliches geleistet. (Beifall.)

Herr Sparig hat sich weiter hämische Bemerkungen darüber erlaubt, daß die Kommune erklärt, ihre Politik und ihre Bestrebungen beruhten auf Wissenschaft. Die Kommune hat damit sagen wollen, daß sie alle Errungenschaften der modernen Wissenschaft in bezug auf Nationalökonomie, in bezug auf Rechtspflege und Volkswohlfahrt überhaupt für die Gesetzgebung möglichst allgemein nützlich zu verwenden gedenke und sich nicht an bestimmte Theorien und Axiome binde. Sie hat sich damit allerdings auf den Standpunkt der modernen Wissenschaft gestellt, auf jenen Standpunkt, der nicht von bestimmten Voraussetzungen und vorgefaßten Meinungen ausgeht, sondern an der Hand der Prüfung und Erfahrung das Beste ausfindig zu machen sucht.

Wenn die Kommune nur Stückwerk geleistet hat, so erklärt sich das aus der Lage und aus den Verhältnissen, in denen sie sich befand. Bedenken Sie, daß die Kommune während ihrer ganzen Dauer nicht einen ruhigen Augenblick gehabt, daß sie fortwährend im Kriegszustand und Kampf sich befand — wie konnte es anders sein?

Herr Sparig hat der Kommune einen besonderen Vorwurf daraus gemacht, daß sie, die angeblich die vollste Preßfreiheit gewollt habe, die Preßfreiheit aufhob, indem sie gegnerische Journale unterdrückte. Auch diese Handlungsweise erklärt sich sehr leicht aus der Zwangslage, in welcher sich die Kommune befand. Von allen Seiten angegriffen, mitten im Kampfe und in der Revolution, gebot ihr die Not, neben dem vor den Toren stehenden Feind nicht auch noch den Feind in den eigenen Mauern zu dulden. Sie mußte Journale unterdrücken, die Tag für Tag die heftigsten Angriffe und Verleumdungen gegen sie schleuderten, die mit dem vor den Toren stehenden Feind in Verbindung standen und auf ihren Sturz hinarbeiteten.

Als 1870 der Krieg ausbrach, wurde in Deutschland in allen Provinzen, die man für gefährdet hielt, der Kriegszustand proklamiert. Die oppositionellen Blätter wurden unterdrückt und alle Persönlichkeiten, von denen man glaubte, daß sie dem Kriege feindlich seien, gefangen gesetzt. Wohlan, dasselbe Recht nehmen wir auch für die Kommune in Anspruch.

Auch findet es Herr Sparig absurd, daß sich die Kommune über die Wegnahme des Oktrois seitens des Herrn Thiers beschwerte, sie, die doch eine Feindin der indirekten Steuern hätte sein wollen. Zu dieser Beschwerde hatte sie ein Recht. Das Oktroi gehörte der Stadt, und die Kommune war nicht in der Lage, mitten im Kampf ein neues Steuersystem einzuführen. Das Oktroi bildete die einzige regelmäßig fließende Steuerquelle, und sie mußte diese benutzen, wenn sie die Verteidigung und die Verwaltung im Gang erhalten wollte.

Da Herr Thiers der Kommune die Steuern wegnahm, mußte sie zu Anleihen bei der Bank von Frankreich und bei Rothschild ihre Zuflucht nehmen, um ihre Bedürfnisse zu decken, und diese Anleihen wurden unbeanstandet, und zwar mit Zustimmung des Herrn Thiers, gewährt. Eins aber ist bei der Finanzverwaltung der Kommune zutage getreten, was auch Herr Sparig nicht anzugreifen vermochte. Das ist die große Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Kommune, der selbst aus gegnerischem Munde die größte Anerkennung gezollt worden ist.

Mit vollem Recht konnte der Finanzminister der Kommune, Jourde, vor seinen Versailler Richtern sagen. „Ich habe ärmer das Finanzministerium verlassen, als ich es betreten habe!“ (Hört!) Man zeige mir doch die monarchischen Finanzminister, die gleiches von sich sagen können! (Heiterkeit, Zustimmung.) Herr Thiers, der 1830 als armer Advokat und Schriftsteller unter Louis Philippe ins Ministerium trat, verließ es 1836 als Millionär.

Der erste Schritt der Kommune war, die hohen Gehälter abzuschaffen, ihre Mitglieder sollten für gute Arbeitslöhne arbeiten. Der erste Beamte sollte nicht mehr als jährlich 6000 Franken, das sind 4800 Mark, erhalten. Der erste Bürgermeister von Leipzig bekommt jährlich 15000 Mark. (Heiterkeit, hört!) Der erste General der Kommune erhielt ebenfalls nur 6000 Franken, aber als Herr Thiers kaum Präsident geworden war, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich eine Zivilliste von 3 Millionen Franken auswerfen zu lassen. (Hört!)

  Die Kommune hat ein Beispiel von Sparsamkeit gegeben, das allen
  Regierungen als Muster dienen könnte. Das hat sogar der
  Sozialistenfeind Herr Scherr anerkannt. Herr Sparig hat das freilich
  nicht erwähnt, drum erwähne ich's. (Heiterkeit.)

Ich komme nun auf die Erschießung der Geiseln und die Brandstiftungen. Herr Sparig bemerkte in bezug auf letztere, er sei vierzehn Tage nach dem Fall der Kommune in Paris gewesen und habe die Verwüstungen mit eigenen Augen gesehen. Er hat uns sogar von einem Privathaus erzählt, das man habe anzünden wollen und das nicht in der Verteidigungslinie gelegen. Er hat uns nun freilich nicht gesagt, daß man das Haus wirklich angezündet hat. Und wie kann er, der während des Kampfes nicht dort war, überhaupt beurteilen, was zur Verteidigung nötig war oder nicht? Er beruft sich auf mündliche Versicherungen, die ihm geworden. Diese gelten in meinen Augen gar nichts. Die Verfolgungswut der Versailler und ihr bestialisches Wüten war so groß, daß nicht bloß Wochen, sondern noch Monate und Jahre lang nach dem Fall der Kommune jeder verfolgt wurde, der ein Wort der Sympathie für sie hatte. Die Furcht war so groß, daß nicht nur niemand sie in Schutz zu nehmen wagte, sondern viele auf sie schimpften, um jeden Verdacht von sich abzulenken. Und dabei zeigte sich die Erbärmlichkeit der Bourgeoisie im vollsten Lichte. Binnen wenig Tagen nach dem Fall der Kommune sind bei den Versaillern nicht weniger als 370000 Denunziationen eingereicht worden. Die Pariser Bourgeoisie hat sich damals gerade so nichtswürdig benommen, wie 1866 die Leipziger Bourgeoisie, die damals bei dem preußischen General so viele Denunziationen vorbrachte, daß dieser voll Ekel erklärte, er wolle davon nichts mehr wissen.

Und wenn Herr Sparig hier nun kommt mit einem angeblich von Ferré unterzeichneten Brandbriefe, der das Siegel des Kriegsministers trägt, das ebensogut der Kriegsminister des Herrn Thiers darauf gesetzt haben kann, so ist dies in meinen Augen ein Wisch, der verdient, daß ich ihn zerreiße. (Redner zerreißt das Papier. Bravo. Unruhe.) Meine Herren, es sind eine Menge von Aktenstücken, betreffend die Brandstiftungen, die Erschießung von Geiseln, die angebliche Wegnahme von Eigentum usw. als Fälschungen vor Gericht konstatiert worden.

Ferré, der Inbrandlegung des Finanzministeriums auf Grund des hier vorgezeigten Aktenstücks angeklagt, hat die Echtheit desselben bis zum letzten Augenblick bestritten; er hat an gewissen Buchstaben nachzuweisen gesucht, daß dasselbe gefälscht sei; aber da der seitens der Versailler angestellte Handschriftenvergleicher die Echtheit behauptete, wurde Ferré verurteilt. Ebenso wurde Ferré der Erschießung der Geiseln angeklagt. Er selbst sagt aus, daß er nicht den Befehl zu deren Erschießung, sondern zu deren Freilassung gegeben habe. Damit stimmen auch andere Berichte, namentlich der eines englischen Arztes, überein, und ebenso ist festgestellt, daß Geistliche, die als Geiseln verhaftet waren, später vor Gericht zeugten, also nicht erschossen sein konnten. Wohl ist ein Teil der 60 Geiseln erschossen worden, aber es wird behauptet, erst in dem Moment, wo dieselben das Gefängnis verließen und, von den Barrikadenmännern zur Unterstützung der Verteidigung aufgefordert, sich dessen weigerten. Da habe man sie mit Flintenschüssen verfolgt. Auch Raoul Rigault ist der Erschießung der Geiseln angeklagt worden. Nun, Raoul Rigault ist tot, er hat wie ein Mann gekämpft und ist mitten im Kampfe wie ein Mann gestorben; ihn kann man leicht anklagen, er ist tot und kann nicht antworten.

Was haben die Geiseln für einen Zweck? Die Deutschen haben 1870 in Frankreich viele Geiseln genommen, und zwar weil die Franktireurs oder sonstige Bewohner Frankreichs den Deutschen auf Weg und Steg Abbruch zu tun bestrebt waren, indem sie die Proviantkolonnen überfielen, die Eisenbahnen, Brücken und Straßen zerstörten, einzelne Posten überfielen und niedermachten, kurz, schadeten, wo sie konnten. Die Franktireurs taten damit, was 1813 der preußische Landsturm gegenüber den Franzosen tat, und zwar bin ich in der Lage, Ihnen die damaligen Landsturmverordnungen vorlesen zu können, die vorschrieben, dem Feinde zu schaden und ihn zu vernichten, wie und wo sich die Gelegenheit biete.

Die Deutschen wollten diese Kriegführung nicht als kriegsrechtlich anerkennen und alle Offiziere bekamen den Befehl, wo Soldaten auf die bezeichnete Weise geschädigt würden, Geiseln zu nehmen und diese ohne Gnade zu erschießen, wenn man die Schuldigen nicht ausfindig machen könne. Es sollten ferner von den Bewohnern der Dorfschaften Kontributionen erhoben, die Häuser oder die Dörfer, aus denen Schüsse auf die Gruppen gefallen, ohne Rücksicht auf Schuldige oder Unschuldige niedergebrannt werden. Diese Befehle sind oft vollzogen worden. Hunderte und aber Hunderte sind so ums Leben gekommen, Häuser und ganze Ortschaften wurden angezündet, ich habe darüber in der liberalen Presse keinen Tadel, sondern nur Billigung gefunden.

Die Kommune befand sich den Versaillern gegenüber in einer ähnlichen Lage, und mindestens ebenso im Recht, wie die Deutschen gegenüber der irregulären Kriegführung der Franktireurs. Die Versailler haben während des wochenlangen Kampfes gegen Paris die ihnen in die Hände fallenden Gefangenen wider alles Kriegsrecht niedergemetzelt. Auf solche Weise sind die Kommune-Generale Duval und Flourens und viele andere Offiziere ums Leben gekommen. Ja, die Versailler haben sich nicht entblödet, auf die Verbandplätze zu schießen und die gefangenen Krankenpflegerinnen, nachdem sie dieselben geschändet, zu füsilieren. Das konnten nur Bestien tun, wie sie Herrn Thiers durch die Hilfe der Deutschen in den gefangenen Soldaten zur Verfügung gestellt wurden.

Auf diese Schandtaten hin beschloß die Kommune, Geiseln zu nehmen und für jeden Nationalgardisten, der niedergemacht würde, drei Geiseln zu erschießen. Aber es blieb bei dem Beschluß, und als die Geiseln zum Teil schließlich erschossen wurden, da bestand, wie Herr Sparig selber zugegeben hat, die Kommune nicht mehr, sie kann also dafür auch nicht verantwortlich sein.

Als nun die Versailler durch die Unterstützung der Deutschen, die ihnen den Weg dazu frei gaben, in Paris eindrangen — was ihnen ohne diese Hilfe kaum gelungen wäre —, da begannen sie in den Straßen der Stadt ein Gemetzel und ein Blutbad, wie es in der Geschichte fast unerhört ist. Alles, was den Versaillern in die Hände fiel, Männer, Weiber und Kinder, wurde niedergemacht, die Gefangenen wurden zu Hunderten, wie auf dem Kirchhof Père Lachaise, in Reihen aufgestellt, mit Mitrailleusen niederschmettert und die noch zuckenden Leichname, mit Kalk und Petroleum begossen, in die Gruben geworfen.

Wie die Versailler gewütet, beweist die Tatsache, daß keine Verwundeten vorhanden waren. So kamen in wenig Tagen nach übereinstimmenden Aussagen 15-20000 Menschen ums Leben.

In einer solchen Lage gab es für die Kommune kein Mittel, als sich auf jede mögliche Art ihrer Haut zu wehren; daß man durchaus berechtigte Handlungen der Besiegten als Schandtaten hinstellt, daran sind wir gewöhnt. Lesen Sie einmal das Buch Röckels über seine Gefangenschaft in Waldheim, worin er auch den Dresdener Maiaufstand von 1849 schildert, dort werden Sie finden, daß man den Maikämpfern genau dieselben Verleumdungen seitens der Reaktion nachsagte, die man heute der Kommune nachsagt, nur war die Mairevolution in Dresden eine bürgerliche Revolution. Und lesen Sie weiter die Geschichte des Wiener Oktoberaufstands von 1848, nach dessen Niederwerfung Robert Blum erschossen wurde; die Proklamation, die damals Fürst Windischgrätz über die Zustände in Wien in die Welt sandte, sie gleicht auf ein Haar jener, welche die Versailler über die Zustände in Paris während der Kommune der Welt vekündeten.

Ich habe hier aus Blums Feder einen Aufsatz, worin er sich in der entschiedensten Weise über jene Proklamation des Windischgrätz ausspricht und entrüstet ausruft. „Was muß die Welt über Wien denken, von dem sie nichts erfahren kann, wenn man uns, die wir die Dinge kennen, solches zu sagen wagt!“

  Hierbei will ich aber auch erwähnen, wie Blum zu jener Zeit die
  Revolution auffaßte und wie er in einer Rede in der Aula erklärte:
  „Bleiben wir nicht auf halbem Wege stehen, führen wir den Kampf gegen
  unsere Gegner bis zu Ende und ohne Erbarmen.“ Und heute noch wird das
  Andenken Robert Blums von den Liberalen gefeiert, und mit Recht.

Ganz wie damals in Wien Bürgertum und Reaktion, so standen sich in Paris die Kommune und die Versailler gegenüber. Die Kommune mußte bis zum letzten Atemzuge kämpfen, und sie hat heldenmütig gekämpft. Das können ihre grimmigsten Gegner nicht bestreiten. Und wie man 1848 und 49 unsere besten Männer in Wien, Rastatt und Mannheim standrechtlich erschossen hat, so fielen auch die Männer der Kommune, die meisten mit dem Rufe: „Es lebe die Republik! Es lebe die Kommune!“

Jetzt komme ich zu den Brandlegungen.

Die Versailler haben den Kampf gegen Paris viele Wochen lang geführt und sie haben nicht mit Zuckererbsen geschossen; daß es dabei Verwüstungen absetzt, ist selbstverständlich. Aber während der letzten 8 Tage, als sie mit Hilfe der Deutschen den Montmartre mit 50 schweren Geschützen besetzen konnten, haben sie mit glühenden Kugeln und selbst mit Petroleumbomben auf die Häuser geschossen und, wie nicht anders zu erwarten, viele davon in Brand gesteckt. So sind die meisten Brände durch die Versailler entstanden, die sie der Kommune in die Schuhe schieben. Als nun der Kampf in den Straßen entbrannte und seitens der Versailler mit wilder Grausamkeit geführt wurde, war die Kommune genötigt, einzelne Gebäude zu Verteidigungszwecken anzuzünden, um die Versailler für eine Weile zurückzuhalten. Ist denn diese Handlungsweise so ungerecht und unerhört, daß man sie als Mordbrennerei bezeichnen darf? Die Deutschen haben bei der Belagerung von Straßburg 500 bis 600 Häuser demoliert, nur um die Stadt zur Uebergabe zu zwingen, obgleich sie mit der Zivilbevölkerung keinen Krieg führten. Als die Festung Soissons übergeben wurde, betätigten die verschiedensten Berichterstatter, daß fast kein Haus in der Stadt unversehrt sei, daß ganze Straßen vernichtet, fast alle Dächer zerschossen, aber die Wälle der Festung intakt seien. Man beschoß die Privathäuser und verwundete und tötete die Bevölkerung, damit diese in ihrer Not die Offiziere zur Uebergabe zwang. Ich habe nicht gelesen, daß die liberale Presse diese Art der Kriegführung mißbilligt hätte. Und wie die Deutschen gegen die Festungen, so handelte Thiers gegen Paris, und da will man es der Kommune als Verbrechen anrechnen, wenn sie sich, so gut es ging, wehrte! Bei dem Aufstand 1849 in Dresden verlangte Herr von Beust von den zu Hilfe gerufenen Preußen, sie sollten die Stadt in Brand schießen, und das wäre geschehen, wenn nicht der kommandierende Graf von Waldersee erklärte, er hoffe auch ohne das mit den Insurgenten fertig zu werden. Allerdings hat man es aber dann an anderen Barbareien nicht fehlen lassen. So hat man zum Beispiel eine Anzahl Gefangene von der großen Elbbrücke in das Wasser gestürzt, und wenn sie versuchten, sich an dem Geländer festzuhalten, hackte man ihnen mit Säbeln die Finger ab. Aehnliche und schlimmere Grausamkeiten begingen die Versailler Ordnungsbanditen wochenlang in Paris.

Der größte Teil der Brände entstand also durch die Beschießung von Paris seitens der Versailler, wie das auch ein Augenzeuge, der eben in jener Zeit in Paris war und sich schon seit 20 Jahren dort aufhielt, der italienische Abgeordnete Patrucelli della Gattinea, in der „Gazetta d'Italia“ öffentlich erklärt hat. Derselbe schrieb, man müsse annehmen, daß von zehn in Brand geratenen Häusern sicher neun durch die Versailler Bomben in Brand geschossen worden seien. Die Brandstiftungen der Kommune seien zu Verteidigungszwecken geschehen. Da nun die Zahl der angezündeten und niedergebrannten Häuser sich auf zirka zweihundert belief, so träfe hiernach die Kommune ein verhältnismäßig geringer Teil.

Meine Herren, die Zeit, die mir gewährt ist, ist bereits weit vorgeschritten, ich habe nur noch wenige Minuten, ich werde aber die Belege für das von mir Angeführte entweder in der Duplik oder in einer zweiten Versammlung, die abzuhalten nötig sein wird, beibringen. Ich kann alles, was ich gesagt, durch gegnerische Aussagen als wahr beweisen….

Ich kam dann nochmals auf die Erschießung der Geiseln, die angeblich
Ferré veranlaßt habe, zu sprechen und fuhr fort:

Die Kommune hat gehandelt, wie sie nach Lage der Dinge handeln mußte, und wer ihr Verfahren nicht billigt, wird es wenigstens erklärlich finden und entschuldigen.

Mit der Anklage gegen Ferré schloß Herr Sparig, ich muß jetzt ebenfalls schließen. Sicher steht fest, daß die Kommune nichts getan hat — und ich hoffe, noch Gelegenheit zu haben, dies weiter zu beweisen —, dessen sie sich zu schämen brauchte, und daß sie an Gewalttaten nichts begangen hat, was nicht in Europa die monarchischen Regierungen in ähnlichen Momenten hundert- und tausendmal ärger getan haben. (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

Vorsitzender Motteler: Meine Herren, wir müssen die Sache kurz machen; soeben hat mir der Herr Polizeidirektor mitgeteilt, daß er nur bis 12 Uhr die Versammlung tagen lassen könne.

Nachdem dann Sparig kurz, aber völlig belanglos geantwortet, nahm ich nochmals das Wort:

Meine Herren, Herr Sparig hat auf meine Rede nicht geantwortet, er hat sich auch nicht bereit erklärt, eine zweite Versammlung abzuhalten, obgleich wir bei der vorgeschrittenen Zeit heute nicht fertig werden können. Ich bin nun genötigt, auf einige der letzten Bemerkungen des Herrn Sparig kurz einzugehen. Herr Sparig hat seinen eigenen Mut gepriesen, daß er uns entgegen getreten ist. Ob ein großer Mut dazugehört, einer Partei entgegenzutreten, von der man behauptet, daß sie nur aus einem Häuflein phantastischer Köpfe besteht, will ich dahingestellt sein lassen.

Herr Sparig hat dann die Hoffnung ausgesprochen, daß die heutige Versammlung zu einer lebhafteren Beteiligung bei den Wahlen beitragen werde; das hoffen auch wir. (Heiterkeit.) Wir werden dabei keinen Schaden haben. (Zustimmung.) Bisher hat jeder Wahlkampf gezeigt, daß wir einige hundert Stimmen mehr erhielten als vorher, und ich hoffe, die heutige Versammlung hat dazu beigetragen, daß dies bei der nächsten Reichstagswahl erst recht der Fall sein wird. (Heiterkeit, Bravo!)

Herr Sparig hat sich auch für verpflichtet erachtet, im Namen der Nachkommen Blums dagegen zu protestieren, daß ich denselben in Verbindung mit der Kommune gebracht. Ich weiß nicht, woher Herr Sparig die Vollmacht hat, gegen etwas zu protestieren, was nicht geschehen ist. (Heiterkeit.) Ich weiß so gut wie irgend jemand, daß Robert Blum kein Sozialist war, aber er war ein guter Demokrat und ein echter Republikaner, und das ist mehr, als Herr Sparig ist. (Beifall. Herr Sparig verneigt sich. Stürmische Heiterkeit.) Ich habe nur erklärt, daß die Kommune sich in einer ähnlichen Lage befand, wie 1848 in den Oktobertagen Wien. Und daß Robert Blum, der damals in Wien war, sich mit einer Entschiedenheit für die Fortsetzung der Revolution ausgesprochen, wie das seitens der Kommune nicht entschiedener geschehen konnte. Und da ich vorhin auf eine Rede von Robert Blum aus jenen Tagen Bezug nahm, so will ich hier bemerken, daß dieselbe sich in einem Buche befindet, das ein Herr Artur Frey zu Ehren Blums herausgegeben hat und in welchem er sich bemüht, Robert Blum als Mensch, Schriftsteller und Politiker darzustellen. Die betreffende Stelle der Rede lautet:

„Keine halbe Revolution! Fortschreiten, wenn auch blutiges, auf der eingeschlagenen Bahn, vor allem — keine Schonung gegen die Anhänger des alten Systems, die Ruhe aus selbstsüchtigen Absichten begehren; gegen diese werde ein Vernichtungskrieg geführt.“

  Kann der entschiedenste Sozialist sich entschiedener ausdrücken, als
  es hier von Robert Blum gegen die Gegner der Revolution geschah?
  (Beifall.)

  Und nun hören Sie auch eine Stelle aus der Proklamation, welche
  Windischgrätz an die Wiener erließ:

  „Die Stadt ist befleckt worden durch Greueltaten, welche die Brust
  jedes Ehrenmannes mit Entsetzen erfüllen! … Wien befindet sich in
  der Gewalt einer kleinen, aber verwegenen, vor keiner Schandtat
  zurückschaudernden Faktion; Leben und Eigentum sind einer Handvoll
  Verbrecher preisgegeben!“

Stimmt das nicht bis aufs Wort mit den Erklärungen überein, die Herr
Thiers über Paris und die Kommune erließ? (Zustimmung)

Herr Sparig hat weiter gesagt: solange die Sozialdemokratie der Phantasie des Internationalismus huldige, könne sie seitens seiner Partei keine Beachtung finden. Auf das letztere verzichten wir. (Heiterkeit.) Aber ist denn die Idee der Internationalität wirklich etwas Phantastisches? Aus der Familie wurde der Stamm, aus mehreren Stämmmen der Staat und die Nation, und schließlich entwickelt sich aus der engen Verbindung der Nationen die Internationalität. Das ist der historische Verlauf. Und indem der Sozialismus sich auf den Standpunkt der allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit stellt, indem er dafür kämpft, daß die nationalen Kriege und Verhetzungen aufhören, daß die Nationen in friedlicher Arbeit und Kulturförderung zusammengehen, vertritt die Sozialdemokratie die höchste Kulturidee, die überhaupt denkbar ist. (Beifall.)

Indem man nun unsere Partei, weil sie den engherzigen nationalen Standpunkt bekämpft, weil sie gegen die Rassenkämpfe Front macht und die Idee der Völkerverbrüderung vertritt, beschimpft, verleumdet und verfolgt, geschieht ihr nur, was zu allen Zeiten den Vorankämpfenden geschah. Meine Herren! Gehen Sie beispielsweise heute noch in ein gut katholisches Land und hören Sie einmal, mit welcher Unkenntnis über Luther geurteilt wird! So ist es allen Parteien in der Welt gegangen, die den Fortschritt vertraten, und so erging es auch der liberalen. Heute, wo die liberale Partei am Ruder ist und die Herrschaft hat, betrachtet sie ihre Welt für die beste der Welten, und wir, die wir dies nicht anerkennen wollen, wir werden von ihr heute behandelt, wie sie selbst von der feudalen Partei vor kaum zwanzig Jahren behandelt wurde. Ganz natürlich das!

Wir lassen uns durch solche Anschuldigungen nicht beirren, wir wissen, daß unsere Zeit kommt, daß die Verhältnisse uns in die Hände arbeiten, daß mit der Zunahme des Klassengegensatzes, mit dem Verschwinden der Mittelschicht, des Kleinbürgertums, das in die Reihen der Lohnarbeiter geschleudert wird, die Sozialdemokratie immer stärker wird, bis sie endlich die Macht in Händen hat. (Lebhafter Beifall.)

Herr Sparig hat sich gefreut, daß bei der letzten Landtagswahl in Chemnitz kein Sozialdemokrat in den Landtag gekommen ist. Die Freude dürfte ihm bald zu Wasser werden. (Heiterkeit.) Es ist aber bezeichnend für ihn, daß er damit sein Wohlgefallen an einem Wahlgesetz kundgibt, das nur durch seine reaktionären Bestimmungen eine Volkswahl verhindert. (Beifall.) Indes der Sozialdemokrat wird doch in den Landtag kommen, wenn auch dieses Jahr nicht, so im nächsten Jahre gewiß (Bravo, Heiterkeit), und hätte der Chemnitzer Stadtrat die Wahlliste ebenso geführt, wie er die Steuerliste führt — zwei Dinge, die bekanntlich auch in Leipzig nicht harmonieren —, so wäre er schon drinnen. (Große Heiterkeit und Beifall.)

Endlich hat Herr Sparig, indem er sich an die hier anwesenden Vertreter der konservativen Presse wandte, gemeint, die konservative Presse werde jetzt wohl einsehen, daß die Nationalliberalen mit der Sozialdemokratie nichts zu schaffen haben. Das hat sicherlich noch kein Mensch wirklich geglaubt, und die, welche es geschrieben haben, am allerwenigsten. (Heiterkeit.)

Tatsache ist, daß der Streit zwischen Konservativen und Nationalliberalen nur als ein Streit wie zwischen zwei unzufriedenen Eheleuten betrachtet werden kann. Mischt sich ein dritter hinein, so sind sie einig. (Heiterkeit.) … Vor einigen Wochen stand im „Leipziger Tageblatt“ ein Artikel, in dem allen Gegnern der Sozialdemokratie zugerufen wurde: „Bilden wir allesamt eine einzige große Ordnungspartei.“ Nun, wir gratulieren Ihnen dazu, Sie werden's nötig haben. (Heiterkeit.) Wir haben es auch kürzlich in Chemnitz gesehen. Anfangs lagen sich dort Konservative und Nationalliberale in den Haaren und beide Parteien wollten einen Kandidaten aufstellen, weil keine der anderen das Feld gönnte, doch als es hieß, ein Sozialist würde aufgestellt, da hörte der Streit auf, da hieß es. „Alle gegen Bebel.“ (Große Heiterkeit und Beifall.)

Mit meinen Ausführungen schloß die glänzend verlaufene Versammlung.

Neue Verfolgungen.

Anfang Januar 1876 hielten die sächsischen Parteigenossen eine sehr gut besuchte Landesversammlung in Chemnitz ab, in der man sich bereits mit der Aufstellung der Kandidaten für die nächste Reichstagswahl beschäftigte, die man Januar 1877 erwartete. Die Stimmung war trotz aller Verfolgungen vorzüglich. Mit Beginn des Jahres hatten die Berliner Genossen in der „Berliner freien Presse“ sich ein Lokalblatt geschaffen, das sich allmählich eine bei Freund und Feind angesehene Stellung eroberte. Jetzt wurden auch die ersten Zeichen einer Wandlung der gesamten Politik des Reiches bemerkbar. Mit der Entlassung des Präsidenten des Reichskanzleramtes Delbrück, die Ende April erfolgte, wurde die offizielle Schwenkung nach der schutzzöllnerischen Seite eingeleitet. Der preußische Handelsminister v. Camphausen, der noch kurz zuvor im Reichstag die Lohnherabsetzungen durch die Unternehmer als Mittel, aus der Krise herauszukommen, gerechtfertigt hatte und dafür von Eugen Richter das Lob erntete: Alle Hochachtung vor einem Minister, der es wagt, so unpopuläre Wahrheiten auszusprechen, folgte ihm später in die Wüste nach. Unterdessen nahmen die Verfolgungen gegen die Parteigenossen ununterbrochen ihren Fortgang, ganz besonders wegen Beleidigungen des Reichskanzlers. Bismarck hatte die Gewohnheit angenommen, daß er seine Strafanträge en masse hektographieren ließ und denjenigen Staatsanwälten zur Anklageerhebung zusandte, die ihm einen Beleidiger namhaft gemacht hatten.

Diese Strafanträge wurden von ihm unausgesetzt bis zum Ende seines
Amtes — Februar 1890 — gestellt. Dieselben gingen in die Tausende, und die
Verurteilten halfen die Gefängnisse bevölkern. Von Charaktergröße legte
dieses Verfahren kein Zeugnis ab, es wurde selbst von vielen seiner
Verehrer mißbilligt.

Getreu den Intentionen Bismarcks setzte ferner Tessendorf seine Verfolgungen der Arbeiterorganisationen fort. Hatte er bei seiner Anklage gegen die Leiter des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins wegen Vergehens gegen das preußische Vereinsgesetz März 1875 den Antrag auf dessen Unterdrückung mit den Worten begründet: „Zerstören wir die sozialistische Organisation, und es existiert keine sozialistische Partei mehr“, Worte, die sein ganzes Unverständnis der Bewegung bewiesen, so sah er sich jetzt zu weiteren ähnlichen Maßregeln veranlaßt. Die Unterdrückung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins war durch die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei in Gotha wettgemacht worden. Diese sollte jetzt an die Reihe kommen. Es gelang ihm auch, bei der Ratskammer des Berliner Stadtgerichtes einen Beschluß zu erlangen, wonach sowohl die Berliner Mitgliedschaft der Partei wie die Partei selbst für ganz Preußen für vorläufig geschlossen erklärt wurden. Der Parteivorstand antwortete auf diesen Beschluß mit einer Ansprache an die Parteigenossen, sie sollten unbekümmert um denselben in die Agitation für die nächsten Reichstagswahlen eintreten. Die Partei solle zeigen, daß sie sich durch Beschlüsse, wie jenen der Ratskammer des Berliner Stadtgerichtes, nicht einschüchtern lasse. Es sei nunmehr erst recht notwendig, daß jeder einzelne Genosse seine volle Schuldigkeit für die Partei tue. Dem Trumpf Tessendorfs „Vernichtung der Sozialdemokratie“ müsse durch den Gegentrumpf „Es lebe die Sozialdemokratie“ geantwortet werden. Nunmehr wurden überall in Preußen an Stelle der aufgelösten Parteiorganisation lokale Organisationen ins Leben gerufen, die allerdings jeden Schein einer Verbindung mit der für das übrige Deutschland fortbestehenden Zentralorganisation vermeiden mußten. Das Vorgehen Tessendorfs erwies sich buchstäblich als ein Schlag ins Wasser, denn für die Anwerbung von Parteigenossen, die Verbreitung der Parteipresse und die Sammlung von Geldmitteln leisteten diese Lokalorganisationen mindestens so viel wie die aufgelöste Zentralorganisation.

Freilich war unter diesen Verhältnissen ein Parteikongreß im früheren Sinne nicht mehr möglich. Da wir aber einen solchen nicht entbehren wollten und konnten, traten Reichstagsfraktion und Parteivorstand zusammen, um zu beraten, was geschehen solle. Man einigte sich sehr rasch auf den von mir gemachten Vorschlag, daß die Reichstagsfraktion einen allgemeinen Sozialistenkongreß einberufen solle, und zwar für die Tage vom 20. bis 23. August nach Gotha, wozu die Delegierten in öffentlichen Versammlungen gewählt werden sollten. Um andererseits den preußischen Parteigenossen die Leistung von Parteibeiträgen in unanfechtbarer Form zu ermöglichen, wurde beschlossen, monatlich ein ungefähr handgroßes Blättchen unter dem Titel „Der Wähler“ herauszugeben, das zum Preise von 20 Pfennig sich eines guten Absatzes erfreute.

Tessendorfs Verfolgungseifer begnügte sich aber nicht mit der Auflösung der Parteiorganisation in Preußen. Er ging alsbald auch gegen eine Anzahl Zentralverbände der Gewerkschaften vor, um diesen als „politischen Organisationen“ das Schicksal der Partei zu bereiten. Das gelang ihm auch bei vier derselben. Die aufgelösten Zentralleitungen siedelten nunmehr nach Hamburg über, dessen Vereinsgesetz ein Verbindungsverbot für politische Vereine nicht kannte.

* * * * *

Am 28. Juni war Most endlich nach 26 Monaten Haft aus Plötzensee entlassen worden. An demselben Tage kündigte Bracke öffentlich das Erscheinen einer von Most verfaßten Broschüre an, betitelt: „Die Bastille am Plötzensee“, in der er seine Erlebnisse erzählte und die Art und Weise schilderte, wie er und andere hinter dem Rücken der Beamten sich allerlei Vorteile beschafft und die Beamten hinter das Licht geführt hatten. Diese Veröffentlichung war eine Unklugheit. Kaum war die Schrift erschienen, so verlangte der Minister des Innern von dem nichts ahnenden Direktor des Gefängnisses Plötzensee Auskunft über die geschilderten Vorgänge. Das Resultat war, daß mehrere Beamte bestraft und entlassen wurden und von jetzt ab eine weit strengere Handhabung der Gefängnisordnung Platz griff. Auch wurden von jetzt ab — mit mir machte man, als ich ebenfalls in Plötzensee Quartier beziehen mußte, worüber weiter unten mehr, noch eine Ausnahme — die meisten politischen Gefangenen im sogenannten Maskenflügel interniert. Als Most im Jahre 1878 abermals auf sechs Monate in Plötzensee seinen Einzug halten mußte, vergalt man ihm seine Indiskretionen. Er wurde jetzt in strenge Isolierhaft genommen, und so oft er die Zelle verließ, mußte er, wie die anderen Insassen des Zellenhauses, eine schwarze Maske vorlegen, damit ihn niemand erkenne.

Entsprechend den um jene Zeit einen immer aggressiveren Charakter annehmenden Verfolgungen der Partei wurden auch die verhängten Strafen bemessen. Wo man vordem Wochen oder wenige Monate verhängte, erhielt jetzt der Verurteilte eine drei- und vierfach höhere Strafe zuerkannt. Urteile, die zwölf, fünfzehn, achtzehn und mehr Monate diktierten, wurden Regel. Einzelne Parteiblätter, wie der „Vorwärts“ und die „Berliner Freie Presse“, hatten ständig mehrere Redakteure in Haft. So erhielt zum Beispiel Saeweke-Chemnitz wegen Majestätsbeleidigung und was man als Gotteslästerung ansah zwei Jahre Gefängnis; vom Augsburger Schwurgericht wurden wegen verschiedener Preßvergehen R. Franz zu drei, E. Rottmanner und E. Köber zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt, eine Verurteilung, die in der ganzen Partei einen Sturm der Entrüstung hervorrief. In anderen Prozessen wurde Thomas-Augsburg zu zwei Jahren, Loof-Chemnitz zu einem Jahre vier Monaten verurteilt. Vahlteich erhielt im folgenden Jahre wegen verschiedener Preßvergehen achtzehn Monate Gefängnis, und zu der gleichen Strafe wurde im nächstfolgenden Jahre G.v.Vollmar, der Redakteur der „Dresdener Volkszeitung“ war, verurteilt. Diese Verurteilungen erregten schließlich in der Partei kaum noch Aufsehen; wer Redakteur oder Agitator war, mußte mit dem Gefängnis als einem unumgänglichen Attribut seiner Stellung rechnen. Mit Vollmar war ich infolge seiner Stellung als Redakteur der „Dresdener Volkszeitung“ in lebhafteren brieflichen Verkehr gekommen. Die verschiedenen Preßvergehen, in die er verwickelt war, legten ihm die Frage nahe, ob bei einer Verurteilung ihm die Pension, die er als schwer verwundeter Teilnehmer im Deutsch-Französischen Kriege bezog, nicht entzogen werden könne, und er ersuchte mich darüber um meine Meinung. Darauf antwortete ich ihm unter dem 17. Juni 1877 unter anderem:

„…Bezüglich Ihrer Pensionsangelegenheit habe ich mit Freytag noch nicht sprechen können, glaube auch kaum, daß er Ihnen mehr als ich wird sagen können.

Ich habe mir die Reichstagsverhandlungen angesehen. § 32 des Gesetzes, die Pensionierung und Versorgung der Militärpersonen, bestimmt unter b), daß durch rechtskräftige gerichtliche Verurteilung der Pensionsverlust herbeigeführt werden könne, und bestimmt dann weiter:

Die Pensionserhöhungen können jedoch durch gerichtliches Erkenntnis nicht entzogen werden.

Aus den Verhandlungen ergibt sich nun mit keinem Wort, in welchem Falle ein solches Aberkenntnis eintreten dürfe. Es wurde bei der Beratung darauf aufmerksam gemacht, daß im Reichsstrafgesetzbuch, das ja auch für Bayern gilt, alle Bestimmungen gestrichen wurden, wonach die Pension aberkannt werden könne. Im Gegensatz hierzu besteht aber das alte preußische Militärstrafgesetzbuch aus dem Jahre 1845, das solche Bestimmungen enthält. Da dieses aber meines Wissens für Bayern nicht gilt, so fragt es sich, welche bezüglichen Bestimmungen das bayerische Militärstrafgesetz enthält, diese kommen alsdann in Betracht und dieses Gesetz werden Sie sich wohl leicht verschaffen können.

Ich empfehle Ihnen äußerste Vorsicht in der Schreibweise, ich fürchte, man läßt Sie tüchtig hereinfallen. Da aber die Verurteilung auf keinen Fall den Verlust der Ehrenrechte nach sich ziehen kann, so fragt es sich, ob diese Entziehung nicht eine Bedingung für die Aberkennung der Pension ist, in welchem Falle Sie gedeckt wären. Daß gegen Sie als einen „Apostaten“ die herrschende Gewalt eine besondere Animosität besitzt, ist sicher…“

Große Genugtuung rief es hervor, als um jene Zeit in der Partei bekannt wurde, daß der oberste Gerichtshof im Herzogtum Braunschweig den General Vogel v. Falckenstein wegen der Lötzener Affäre verurteilt habe, an die Herbst 1870 von ihm gefangen gesetzten Genossen Entschädigung zu zahlen, und zwar an Bracke 2100 Mark, an Gralle 108 Mark, an Bonhorst 105 Mark, an Ehlers als selbständigen Gewerbetreibenden pro Tag 7,50 Mark, an Kühn als Arbeiter pro Tag 3 Mark.

Der Parteikongreß in Gotha 1876.

Für den Parteikongreß in Gotha — 19. bis 23. August — hatten wir als
Tagesordnung festgesetzt:

„1. Die Tätigkeit der sozialistischen Abgeordneten; 2. Gang und Stand der sozialistischen Organisation in Deutschland; 3. die bevorstehenden Reichstagswahlen; 4. Feststellung der sozialistischen Kandidaturen; 5. die sozialistische Organisation in Deutschland; 6. die Parteipresse.“

Die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ lärmte gewaltig über diese Veranstaltung und drohte, man werde festzustellen suchen, ob dieser Kongreß nicht eine Gesetzesumgehung mit Hinblick auf die erfolgten Schließungen und Auflösungen sei. Indes an diese Drohungen kehrten wir uns nicht. Wir mußten zeigen, daß wir uns nicht einschüchtern ließen und entschlossen waren, jedes Mittel zu benutzen, das die Umstände uns zu ergreifen ermöglichten, um die gegen uns gerichteten Schläge zu parieren.

Geib und Hasenclever führten auf dem Kongreß wieder den Vorsitz. Anwesend waren 98 Delegierte, die aus 291 Orten 38254 Mandanten zu vertreten hatten. Liebknecht und ich konnten aus privaten Gründen erst am zweiten Tage der Verhandlungen erscheinen. Aus dem von Auer vorgetragenen Bericht ging hervor, daß die Einnahmen der Parteileitung vom 8. Juni 1875 bis 19. August 1876 sich auf 53973 Mark beliefen, denen eine Ausgabe von 54432 Mark gegenüberstand. Es war also ein kleines Defizit vorhanden, das durch den Ueberschuß des „Wähler“ in Höhe von 4330 Mark gedeckt wurde. Die Partei besaß zu jener Zeit 23 politische Organe und das neu gegründete Unterhaltungsblatt „Die Neue Welt“. Von den Organen erschienen acht sechsmal, acht drei-, vier zwei- und drei einmal wöchentlich. Zum erstenmal liefen auf einem deutschen Parteikongreß eine Reihe Zuschriften von sozialistischen Organisationen des Auslandes ein, in denen die Partei wegen ihrer tapferen Haltung beglückwünscht wurde. Ich war in der Lage, die Grüße einer internationalen Konferenz in Bern zu überbringen, der ich gelegentlich einer Geschäftsreise in der Schweiz beigewohnt hatte. Zum Zeichen brüderlicher internationaler Solidarität wurde beschlossen, für die in großer Not befindlichen Kommunards in geeigneter Weise Geld aufzubringen. Karl Hirsch erschien als Delegierter Pariser Arbeiter auf dem Kongreß. Ueber die Tätigkeit der Fraktion im Reichstag berichtete Hasenclever. Ich ergriff die Gelegenheit, um unsere Stimmenthaltung in der Diätenfrage zu rechtfertigen, die mehrfach angegriffen worden war. Molkenbuhr, der namens der Gegner unserer Abstimmung das Wort ergriff, behauptete, die Abstimmung habe uns in der Agitation geschadet, diese Taktik habe bei den Parteigenossen befremdend gewirkt. Die Fraktion müsse stets klare Stellung nehmen für oder gegen eine Vorlage und geschlossen stimmen. Nach längerer Debatte brachten A. Kapell und Dreesbach einen Antrag ein, wonach unsere Abstimmung in der Diätenfrage als unpraktisch erklärt werden sollte. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Dagegen wurde ein Antrag Löwenstein angenommen, der vorschlug, über die Frage zur Tagesordnung überzugehen, denn es sei selbstverständlich, daß die sozialistischen Abgeordneten für Diätenzahlung seien und in vorliegendem Falle mit der Stimmenthaltung nur der Schwindel hätte konstatiert werden sollen, dessen sich ein Teil der liberalen Abgeordneten schuldig machte.

Die weiteren Verhandlungen zeigten, daß noch starke persönliche und sachliche Gegensätze in der neu geeinten Partei vorhanden waren, die jetzt zum Ausbruch kamen. So rief Frohme dadurch eine heftige Diskussion hervor, daß er die Anschuldigung erhob, verschiedene Parteiblätter und ebenso Liebknecht und ich hätten von Sonnemann-Frankfurt Geldunterstützungen bezogen. Es wurde festgestellt, daß kein Blatt genannt werden konnte, das von Sonnemann Geldunterstützung erhalten hatte, das gleiche galt von Liebknecht. Ich teilte mit, daß Sonnemann, der während meiner Haft sich wiederholt bereit erklärt habe, mir mit einem Darlehen zu helfen, falls ich solches für die Rehabilitierung meines Geschäfts nach meiner Haftentlassung bedürfe, mir ein solches in Höhe von 600 Taler gewährt habe, das ich mit 5 Prozent verzinste und in Raten zurückzahlte. Das sei um so unbedenklicher, da ich seit 1865 mit Sonnemann befreundet und die ganze Angelegenheit eine rein private sei. Sonnemann selbst hatte durch eine Indiskretion gegen einen Frankfurter Genossen den Fall in weitere Kreise getragen. Das Endresultat der Debatte war, daß ein Antrag von Bracke — der zum erstenmal seit Jahren wieder einen Kongreß besuchte — mit allen gegen sieben Stimmen angenommen wurde, der das gegen mich beliebte Vorgehen tadelte. Ich nahm Veranlassung, noch im Laufe des Jahres das Darlehen an Sonnemann zurückzuzahlen.

Eine weitere Debatte, die zeitweilig ebenfalls einen heftigen Charakter annahm, wurde durch die Frage herbeigeführt, ob fernerweit zwei offizielle Organe („Der Neue Sozialdemokrat“ in Berlin und „Der Volksstaat“ in Leipzig) bestehen sollten oder eines und welches dazu ernannt werden sollte. Schließlich wurden 49 Stimmen für Leipzig und 38 Stimmen für Berlin abgegeben, 6 Delegierte enthielten sich der Abstimmung. Darauf wurde weiter beschlossen, das Zentralorgan solle vom 1. Oktober ab unter dem Namen „Vorwärts“ erscheinen, und zwar dreimal wöchentlich. Lebhafte Erörterung rief alsdann die Wahl der beiden Redakteure hervor. Hasselmann, der der Vereinigung nie grün war, erklärte, unter keinen Umständen nach Leipzig überzusiedeln und verzichtete auf eine Redakteurstelle. Auf Vorschlag Geibs erklärte sich Hasenclever bereit, neben Liebknecht die Redaktion zu übernehmen. Des weiteren kam man überein, nachdem die Partei in Preußen aufgelöst war, an Stelle des Parteivorstandes in Hamburg ein Zentralkomitee zu setzen, in das Auer, Brasch, Derossi, Geib und Hartmann eintraten. Auf meinen Antrag wurde das Gehalt des Sekretärs auf 150 Mark, des Kassiers auf 105 Mark und der beiden Beisitzer auf je 45 Mark monatlich festgesetzt.

Im weiteren beschäftigte sich zum erstenmal ein Parteikongreß mit der Stellungnahme zu wirtschaftlichen Tagesfragen. Die industrielle Krise, die mit dem Jahre 1874 einsetzte und sich mit jedem Jahre mehr verschärfte, hatte einen vollständigen Umschwung in den Kreisen der Industriellen über die Frage: Schutzzoll oder Freihandel? herbeigeführt und schließlich auch in den landwirtschaftlichen Kreisen, die seit Jahrzehnten die Hauptstützen des Freihandelssystems bildeten, Anhang gefunden. In erster Linie waren es die Eisenindustriellen, die über die beschlossene Aufhebung der Eisenzölle, die vom 1. Januar 1877 ab eintreten sollte, schon Jahre zuvor in Aufregung gerieten und dagegen kämpften. Ihnen schlossen sich andere Industrielle, namentlich die Baumwollindustriellen an. Und da durch die jetzt sich immer bemerkbarer machende amerikanische Getreidekonkurrenz auch die Getreidepreise nicht die erwünschte Höhe behielten, sondern sanken, schwenkten die ostelbischen Getreideproduzenten, die ihren Absatz nach dem Ausland unter der amerikanischen Konkurrenz immer mehr einbüßten und diese Konkurrenz selbst im eigenen Lande verspürten, ins schutzzöllnerische Lager ab. Diese Umwandlung in den Anschauungen weiter Kreise über Freihandel und Schutzzoll mußte notwendig auch in den Parteikreisen Beachtung finden. So erklärten sich im Laufe der Jahre namentlich Auer, Fritzsche und Max Kayser für eine mehr oder weniger ausgeprägte Schutzzollpolitik. Der Kongreß konnte also nicht umhin, zu der veränderten Strömung Stellung zu nehmen; er tat dies allerdings in einer Weise, die unbefriedigend war und eine gewisse Unklarheit verriet. Auf Antrag von Bracke, Frick, Fritzsche, Grillenberger, Hasselmann, Liebknecht und Most nahm der Kongreß ohne jede Debatte eine Resolution an, in der es hieß: Die Sozialisten Deutschlands stehen dem innerhalb der besitzenden Klassen ausgebrochenen Kampfe zwischen Schutzzoll und Freihandel fremd gegenüber; die Frage, ob Schutzzoll oder nicht, ist nur eine praktische Frage, die in jedem einzelnen Falle entschieden werden muß; die Not der arbeitenden Klassen wurzelt in den allgemeinen wirtschaftlichen Zuständen, doch sind die bestehenden Handelsverträge seitens der Reichsregierung ungünstig für die deutsche Industrie abgeschlossen und erheischen eine Aenderung. Die Parteipresse wurde aufgefordert, die Arbeiter davor zu warnen, für die unter dem Verlangen nach Schutzzoll eine Staatshilfe erstrebende Bourgeoisie die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Und da zu jener Zeit auch die Frage aufgetaucht war, ob Privat- oder Staatseisenbahnen, und Bismarck die Monopolisierung der Bahnen durch das Reich erstrebte, nahmen die beantragten Resolutionen auch zu dieser Frage Stellung. Der Kongreß sprach sich für die Verstaatlichung der Eisenbahnen aus, aber gegen das Reichseisenbahnprojekt, weil dieses letztere bestimmt sei, die Interessen des Klassen- und Militärstaats zu fördern, und die Einnahmen zu unproduktiven Zwecken verwendet werden sollten, wodurch das Reich ein neues Gewicht im volksfeindlichen Sinne erlangte und den Börsenjobbern große Summen vom Volkseigentum zugespielt würden.

Ueber den Verlauf des Kongresses schrieb der weiche und gemütvolle Bracke, der die mancherlei Unbill, die man ihm nach seinem Austritt aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von jener Seite hatte angetan, noch nicht vergessen konnte, in einem Briefe vom 31. August an Friedrich Engels:

„Die Verhandlungen waren famos, die Angelegenheit Frohme-Sonnemann, dann die Abstimmung über die Diäten, dann die Frage, ob das Zentralorgan nach Berlin oder Leipzig kommen solle, das waren die drei Hauptpositionen; die Lassalleaner hatten ernstlich geglaubt, die Bewegung in ihre Hände zu bekommen, jedenfalls waren sie ihres Sieges in der Organisation sicher. Und dazu hatten sie allen Grund. Auf einer in Berlin stattgehabten Konferenz hatte Ramm-Leipzig (der Leiter der Leipziger Parteibuchdruckerei. A.B.) der Verlegung nach Berlin zugestimmt, und Geib, der sich allein sah, machte dann keine Opposition mehr. Bebel aber und ich, sowie Auer erklärten die Verlegung für ganz unmöglich, wir fanden auch viele Zustimmung und erweckten Liebknecht und Geib und andere zu neuem Leben. Die Schlacht wurde dann auch glorreich geschlagen. Nachdem in der Angelegenheit Sonnemann und in der bezüglich der Diäten der Sieg auf unserer Seite gewesen, setzten die Lassalleaner, denen nun doch das wirtschaftliche Interesse des Berliner Unternehmens zu Hilfe kam, alles daran. Die Erregung auf beiden Seiten war groß; es wurde eine regelmäßige parlamentarische Schlacht geschlagen. Zuerst waren 42 Redner eingezeichnet, voran außer Bebel lauter Berliner. Wir brachten durch passende Anträge diese Liste zu Fall, kamen, da die Gegner das nicht erwartet, dann unsererseits zuerst auf die Liste und konnten nun großmütig sein, wobei uns schließlich Richter-Wandsbeck noch einen großen Dienst leistete. Die Erregung war außerordentlich, jedes Mittel wurde von beiden Seiten benutzt. Die Gegner aber ließen sich von ihrer Erregung hinreißen, polterten hitzig hervor, um die fünfminutige Redezeit auszunutzen, während wir ruhig blieben und durchweg langsam und gemessen sprachen. Das Resultat ist Ihnen begannt. Liebknecht und Bebel waren famos.

Daß Hasenclever sich schließlich von Geib breitschlagen ließ, ans Zentralblatt nach Leipzig zu gehen, vollendete den Sieg, da man sonst mit Frick-Bremen gesagt habe würde: Das neue Blatt ist nur das Organ der Herren Bebel und Liebknecht. Damit ist die Einheit besiegelt….“

Hasselmann gab zum 1. Oktober 1876 seine Stellung an der „Berliner Freien Presse“ auf und zog sich nach Barmen-Elberfeld zurück, woselbst er die Redaktion der „Bergischen Volksstimme“ übernahm und ein neues Organ, „Die rote Fahne“, das angeblich nur als Flugblatt erscheinen sollte, ins Leben rief. Es zeigte sich aber bald, daß Hasselmann mit der Gründung dieses Blattes separatistische Ziele verfolgte, was ihn in eine schiefe Stellung zur Partei und zum Zentralwahlkomitee brachte und auf dem nächstjährigen Parteikongreß wieder zu unerquicklichen Debatten führte.

Der Wahlkampf 1876 bis 1877

Mit einem Aufruf, datiert vom 12. Oktober 1876, eröffnete das Zentralwahlkomitee den Wahlkampf. Auf seinen und vieler Genossen Wunsch hatte ich wiederum eine Broschüre, betitelt: „Die parlamentarische Tätigkeit des deutschen Reichstags und der Landtage von 1874 bis 1876“, verfaßt. Die Schrift erschien diesmal unter meinem Namen in der Genossenschaftsbuchdruckerei zu Berlin, also unter den Augen Tessendorfs, der diesen Umstand, wie ich bald genug zu meinem Schaden erfuhr, gebührend ausnützte.

Am 30. Oktober trat der Reichstag zu seiner letzten Session zusammen. Diese konnte aber nur kurz sein, und da Gesetzentwürfe von besonderem Interesse für uns nicht vorlagen, befaßten wir uns mit den parlamentarischen Verhandlungen nur wenig, aber um so mehr mit der Wahlagitation, die mich in jenen Wochen von Leipzig nach Köln, von dort nach Königsberg i.Pr. und von hier nach Breslau usw. führte. In Königsberg mußte ich an zwei Abenden in überfüllten Versammlungen sprechen, weil die Diskussion, die mein Vortrag hervorgerufen hatte, erst am zweiten Abend zu Ende geführt werden konnte. In der ersten Versammlung war auch Johann Jacoby anwesend, den man zum Ehrenvorsitzenden der Versammlung ernannt hatte. Ich lernte erst jetzt Jacoby persönlich kennen. Der kaum mittelgroße Mann, der offensichtlich in seinem ganzen Wesen zurückhaltender Natur war und nur durch die Verhältnisse gezwungen sich zu einem demonstrativen Eingreifen in die öffentlichen Angelegenheiten herbeiließ, machte auf mich einen ungemein günstigen Eindruck. Ich hatte ihn vor der ersten Versammlung in seiner Wohnung besucht, wobei er mich in seinem sehr geräumigen Arbeitszimmer empfing, dessen Regale und Schränke bis an die Decke mit Büchern vollgepfropft waren. Ich beneidete ihn um diesen ideal ausgestatteten Raum, der in seiner behaglichen Einrichtung zum Arbeiten geradezu einlud. Jacoby starb im nächsten Frühjahr infolge einer Steinoperation; im Oktober des vorhergehenden Jahres war ihm Franz Ziegler im Tode vorausgegangen.

* * * * *

Nach Leipzig zurückgekehrt, ließ ich eine Volksversammlung einberufen mit der Tagesordnung: „Die Stellung der Frau im heutigen Staat und zum Sozialismus.“ Obgleich wir den größten Saal Leipzigs zur Verfügung hatten, faßte er nicht die Masse der herbeiströmenden Zuhörer, von denen viele wieder wegen Mangel an Raum umkehren mußten. Die Frauen waren sehr zahlreich vertreten. Ich setzte ihnen unter anderem auseinander, welch lebhaftes Interesse auch sie an den bevorstehenden Reichstagswahlen nehmen müßten; da sie aber vorläufig kein Wahlrecht besäßen, sei es ihre Aufgabe, agitatorisch in den Wahlkampf einzugreifen und ihre Männer und wahlberechtigten männlichen Verwandten für die Beteiligung an der Wahl anzutreiben, und zwar zugunsten der Sozialdemokratie, die für ihre volle politische und soziale Gleichberechtigung eintrete. Die Versammlung verlief nach Wunsch; es war die erste Versammlung, in der die Frauen zur politischen Beteiligung bei einer Wahl aufgefordert wurden.

Von Leipzig eilte ich nach Dresden zur Agitation, woselbst ich als Kandidat der Partei aufgestellt worden war. Die organisierten Genossen im 17. sächsischen Wahlkreis Glauchau-Meerane, in dem ich ebenfalls wieder kandidierte, hatten bereits im voraus erklärt, sollte ich auch in einem zweiten Wahlkreis gewählt werden, so seien sie zu einer Neuwahl an meiner Stelle bereit, denn daß sie im 17. Wahlkreis wieder siegen würden, sah alle Welt als selbstverständlich an. Und so geschah es.

In Dresden erhielt ich zunächst die relative Mehrheit unter den aufgestellten drei Kandidaten. Ich kam mit dem Kandidaten der Liberalen, Professor Maihoff, in engere Wahl und siegte über diesen mit 10837 gegen 9920 Stimmen. Als mir am Tage nach der Wahl die Depesche, die meinen Sieg meldete, zuging — ich hatte gebeten, am Wahltagabend mir das Wahlresultat nicht zu telegraphieren —, fragte ich meine Frau, ob wir noch eine Flasche Wein im Keller hätten, und als sie dies bejahte, äußerte ich: Gut, dann wollen wir sie heute mittag auf das Wohl meiner Dresdener Wähler trinken. Darauf meinte mein Töchterchen, das dieser Unterhaltung beigewohnt hatte: Papa, wird Herr Professor Maihoff heute mittag auch eine Flasche Wein trinken? Ich gab lachend zur Antwort: Das wüßte ich nicht, ich kennte nicht den Geschmack des Herrn Professors. An meine Stelle im 17. Wahlkreis wurde nunmehr Wilhelm Bracke gewählt.

Der Ausfall der Wahlen war für uns ein sehr günstiger. Hasselmann war zwar in Barmen-Elberfeld mit 14245 gegen 14485 Stimmen unterlegen, aber der benachbarte Solinger Kreis schickte Rittinghausen mit 10636 gegen 7453 Stimmen in den Reichstag, und beinahe wäre auch Grillenberger in Nürnberg gewählt worden, der mit 12089 gegen 12625 Stimmen seinem Gegner unterlag. Die Partei war bei 24 Stichwahlen beteiligt. Gewählt wurden 12 Abgeordnete: Auer, Blos, Bracke, der Hofbaurat Demmler-Schwerin im 13. sächsischen Wahlkreis Leipzig-Land, Fritzsche, Hasenclever, A. Kapell, Liebknecht, Most, Motteler, Rittinghausen und ich.

Wie der alte Demmler uns gelegentlich erzählte, hatte er die Gepflogenheit, wenn er auf längere Zeit Schwerin verließ, sich bei dem Großherzog von Mecklenburg, als dessen ehemaliger Hofbaumeister er das prachtvolle Schweriner Schloß gebaut hatte, zu verabschieden. So auch dieses Mal, als er die Reise nach Berlin zum Reichstag antrat. Bei dieser Gelegenheit hatte der Großherzog geäußert: „Ich wünsche Ihnen glückliche Reise, aber lieber Demmler — und dabei erhob er lächelnd drohend den Finger —, machen Sie es in Berlin nur nicht zu arg.“ Hier sei bemerkt: Demmler hatte den Schweriner Schloßbau ohne Meister allein durch Vertrag mit den Arbeitern gebaut und war mit dem erzielten Resultat sehr zufrieden.

Am 2. Februar schrieb ich an den Parteigenossen Schlüter in Dresden, der Expedient unseres dortigen Parteiorgans war, daß ich dem Wahlkommissar die Annahme der Dresdener Wahl mitgeteilt hätte, und bemerkte dazu:

„Es amüsiert mich, daß es gerade neunzehn Jahre waren, seitdem ich als Handwerksbursche in die Fremde ging, natürlich ohne eine Ahnung, daß ich neunzehn Jahre später auf denselben Tag an einen Wahlkommissar meine Erklärung für die Annahme des Reichstagsmandats für die sächsische Residenz abschicken würde. Der alte Napoleon äußerte einmal, jeder Soldat hat den Marschallstab im Tornister, heute könnte man sagen: jeder Handwerksbursche trägt ein Reichstagsmandat im Berliner. Es geht vorwärts. Unsere Freunde, die Feinde, sollen leben.“

Und die letzteren machten zu dem Wahlausfall böse Gesichter, denn weit mehr als die paar gewonnenen Mandate lag ihnen das starke Wachstum der gewonnenen Stimmen in den Gliedern. Die Stimmenzahl der Partei war von 351670 im Jahre 1874 auf 493447 gestiegen, die wir jetzt im Januar 1877 auf unsere Kandidaten vereinigten. Das war ein Mehr von 141777 Stimmen gleich 36 Prozent. In Sachsen hatten wir die relative Mehrheit der Stimmen erhalten, 124600 von 318740.

Das System Tessendorf, das allmählich über die Grenzen Preußens hinaus in den meisten Mittel- und Kleinstaaten Schule gemacht hatte, war also, wie der Wahlausfall zeigte, elend zusammengebrochen. Und wenn nunmehr auch das Wüten gegen die sozialdemokratische Presse und die sozialdemokratischen Organisationen von neuem losging und gegen die Vertreter der Partei Urteile gefällt wurden eins drakonischer als das andere, auch das half nicht. Es half auch nichts, als Bismarck, vom Glück begünstigt, endlich erhielt, wonach er lange gelechzt, ein schneidiges Ausnahmegesetz gegen die ihm verhaßte und doch so gefürchtete Partei.

Der Reichstag 1877.

In der am 22. Februar eröffneten Reichstagssession spielten die sozialen Fragen eine hervorragende Rolle. Das ständige Steigen der sozialdemokratischen Stimmen hatte namentlich das Zentrum beunruhigt, das jetzt zum ersten Male unter der Firma des Grafen Galen und Genossen einen Gesetzentwurf einbrachte, der ganz dem sozialpolitischen Eiertanz entsprach, dem von jetzt ab das Zentrum in immer stärkerem Maße huldigte. Bisher hatte sich das Zentrum den sozialen Fragen gegenüber durchaus zurückhaltend benommen. Der Gesetzentwurf sollte sowohl den Kleingewerbetreibenden wie den Arbeitern eine Verbesserung ihrer Lage bringen. Fritzsche und ich hatten diesem gegenüber einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der eine Aenderung wichtiger Bestimmungen in den Titeln 1, 2, 7, 9 und 10 der Gewerbeordnung zugunsten der Arbeiter verlangte, dem die Fraktion ihre Zustimmung erteilte. Der Gesetzentwurf forderte eine Regelung der Gefängnisarbeit, wonach diese auf Arbeiten für den Staat beschränkt werden sollte. Weiter wurde gefordert: Verbot der industriellen Sonntagsarbeit; wo ein solches Verbot unmöglich sei, sollte dem Arbeitspersonal ein freier Tag in der Woche gewährt werden müssen; ein Normalarbeitstag von neun Stunden; für Arbeiterinnen, Arbeiter unter achtzehn Jahren und Lehrlinge ein solcher von acht Stunden; Verbot der Nachtarbeit; wo solches durch die Natur des Betriebs unmöglich sei, solle ein achtstündiger Schichtwechsel eingeführt werden. Die Schonzeit der Schwangeren und der Wöchnerinnen sollte entsprechend verlängert werden. Für jede Arbeitsstätte sollte eine Arbeitsordnung eingeführt werden, deren Bestimmungen zwischen Unternehmern und Arbeitern zu vereinbaren seien. Ferner wurde gefordert: die Aufhebung der Arbeitsbücher auch für die Bergarbeiter; die Ausfüllung von Zeugnissen sollte nur auf Verlangen des Arbeiters erfolgen können; Festsetzung gleicher Kündigungsfristen für beide Teile, Truckverbot, strengere Schutzmaßregeln für Arbeiterinnen und Lehrlinge; die Einführung von Gewerbekammern und Gewerbegerichten; eine Reichsarbeitsinspektion sollte unter Leitung und Kontrolle des Reichsgesundheitsamts eingeführt werden. Endlich verlangten wir Sicherung und Erweiterung des Koalitionsrechts.

Die Debatte über die gleichzeitig zur Beratung gestellten Gesetzentwürfe des Zentrums und unserer Partei leitete von seiten der Fraktion Fritzsche ein. Die Debatte wuchs sich zu einer Sozialistendebatte aus, die mir Gelegenheit gab, die erhobenen Vorwürfe mit aller Schärfe zurückzuweisen und die von den Zentrumsrednern vertretene sogenannte christliche Weltanschauung gebührend zu kritisieren. Meine Rede machte großen Eindruck. Der Leipziger Buchdruckergehilfenverein ließ mir in einem besonderen Abdruck ein Exemplar derselben in einem feinen Einband überreichen.

Ein praktisches Resultat hatte die Beratung der Anträge nicht.

In der Sitzung vom 24. April erklärte der Reichstag Hasenclevers Wahl im sechsten Berliner Wahlkreis, die mit dreißig Stimmen Mehrheit erfolgt war, für ungültig, weil seltsamerweise eine Wählerliste aus Versehen in einem Wahlbezirk verheftet gewesen sei, so daß eine Anzahl Wähler nicht hätten wählen können. Die Fortschrittspartei hoffte bei einer Nachwahl den sechsten Wahlkreis wieder erobern zu können; sie täuschte sich. Wir warfen uns mit aller Energie in die Wahlagitation, und so siegte jetzt Hasenclever mit einem Mehr von über tausend Stimmen.

Bei einer Verhandlung über die Eisenzollfrage hielt Bracke eine gute Rede über Schutzzoll und Freihandel, als es aber zur Abstimmung kam, stimmte die Fraktion geteilt, eine Minorität stimmte für den Zoll.

Der Versuch, eine andere Fassung des § 46 der Geschäftsordnung herbeizuführen, um der fortdauernden Willkür bei der Stellung von Schlußanträgen ein Ende zu machen, mißlang. Der Antrag kam nicht mehr zur Verhandlung. Dagegen genehmigte der Reichstag den Antrag auf Einstellung eines Strafverfahrens gegen mich. Tessendorf hatte bei dem Berliner Stadtgericht wegen meiner Reichstagsbroschüre die Erhebung der Anklage gegen mich beantragt, und zwar wegen mehrfacher Beleidigung des Reichskanzlers und Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuches. Dieser Paragraph lautet: „Wer erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.“ Bei einer Haussuchung, die auf Antrag Tessendorfs am 12. Januar in der Expedition der „Berliner freien Presse“ vorgenommen wurde, waren nur noch 12 Exemplare meiner Schrift gefunden worden, die beschlagnahmt wurden.

Der Kongreß in Gotha 1877.

Wie schon im vorhergehenden Jahre, so berief auch für das Jahr 1877 die Reichstagsfraktion einen allgemeinen deutschen Sozialistenkongreß für den 27. bis 30. Mai nach Gotha. Auf der Tagesordnung stand: 1. Bericht der Reichstagsabgeordneten über ihre Tätigkeit; 2. Bericht über Gang und Stand der sozialistischen Bewegung in Deutschland; 3. Die sozialistische Organisation in Deutschland; 4. Die Parteipresse; 5. Das Parteiprogramm.

Aus dem wieder von Auer erstatteten Bericht ging hervor, daß die Partei in 175 Wahlkreisen von 397 eigene Kandidaten aufgestellt hatte. Die Zahl der Parteiblätter war auf 41 gestiegen. Es bestanden weiter vierzehn Parteidruckereien. Die Parteieinnahmen ergaben 54217 Mark, die Ausgaben betrugen 50635 Mark.

Den Bericht über die Tätigkeit der Fraktion erstattete an Stelle von Liebknecht, der wegen Krankheit in der Familie noch nicht eingetroffen war, Fritzsche. Ich traf wegen geschäftlicher Behinderung mit Liebknecht erst am 28. Mai in Gotha ein.

Ueber die Organisationsfrage berichtete Tölcke, der im Namen der gewählten Organisationskommission beantragte, folgender Resolution die Zustimmung zu geben:

„Mit Rücksicht auf die von preußischen Behörden mit unerhörter Dreistigkeit förmlich proklamierte völlige Rechtlosigkeit sozialistischer Vereine in Preußen nimmt der Kongreß von der Herstellung einer Organisation der Partei Abstand, auf welche die in Deutschland, besonders in Preußen bestehenden Vereinsgesetze angewendet werden können; der Kongreß überläßt es den Parteigenossen in den einzelnen Orten, sich je nach den örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen zu organisieren.“

Diese Resolution wurde ohne Diskussion einstimmig angenommen.
Hervorgehoben zu werden verdient, daß damals fast die gesamte liberale
Presse, die fortschrittliche nicht ausgenommen, den Scherereien,
Plackereien und Gewalttätigkeiten der Behörden gegen die sozialistischen
Organisationen mit stoischem Gleichmut zusah und selten ein Wort der
Kritik hören ließ. Darin sahen natürlich die Behörden nur eine
Ermutigung ihres ungesetzlichen und gewalttätigen Vorgehens.

Eine unerquickliche Debatte rief wieder das Verhalten Hasselmanns hervor. Hasselmann hatte das von ihm mit Zustimmung des Zentralwahlkomitees Januar 1877 herausgegebene Blatt unter dem Titel „Die Rote Fahne“ nur als Flugblatt für die Unterstützung der Wahlen erscheinen lassen wollen. Dagegen war nichts einzuwenden. Er hatte aber dasselbe förmlich hinter dem Rücken des Zentralwahlkomitees als regelrecht erscheinendes Wochenblatt behördlich angemeldet, und nun benutzten seine Anhänger dasselbe überall, um den „Vorwärts“ zu verdrängen. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß Hasselmann auf Spaltung der Partei hinarbeitete. Das kam auch in der Debatte durch die Mehrzahl der Redner zum Ausdruck. Schließlich wurde ein Antrag von mir gegen fünf Stimmen angenommen, dahin lautend: Der Kongreß ersucht den Genossen Hasselmann, die „Rote Fahne“ eingehen zu lassen, sobald die „Bergisch-Märkische Volksstimme“ — deren Redakteur er war — sich deckt. Aber er mußte bereits Anfang Oktober das Eingehen der „Roten Fahne“ ankündigen. Das Blatt deckte nicht seine Kosten, und so war ihm seine Fortführung unmöglich.

Nicht minder unerquicklich wie die Debatte über Hasselmann war die Debatte, die Most über Friedrich Engels' Artikelserie im „Vorwärts“ über Professor Dühring hervorrief. Dühring war es gelungen, fast die gesamten Führer der Berliner Bewegung für seine Theorien einzunehmen. Auch ich war der Ansicht, daß jede schriftstellerische Leistung, die, wie die Dühringschen Arbeiten, dem bestehenden Sozialzustand scharf zu Leibe ging und sich für den Kommunismus erklärte, aus agitatorischen Gründen unterstützt und für uns ausgenutzt werden müsse. Von diesem Standpunkt aus hatte ich schon 1874 von der Festung aus zwei Artikel unter der Ueberschrift „Ein neuer Kommunist“ im „Volksstaat“ veröffentlicht, in denen ich Dührings Arbeiten besprach. Die betreffenden Bücher hatte mir Eduard Bernstein zugesandt, der damals mit Most, Fritzsche und anderen zu Dührings begeisterten Anhängern gehörte. Daß Dühring bald darauf wegen seiner Lehren mit den Staats- und Universitätsbehörden in Konflikt kam, ein Konflikt, der im Juni 1877 zu seiner Maßregelung an der Berliner Universität führte, erhöhte noch sein Ansehen in den Augen seiner Anhänger. Das alles veranlaßte Most, auf dem Kongreß eine Resolution einzubringen, lautend:

„Der Kongreß erklärt, Artikel, wie beispielsweise die in den letzten Monaten von Engels gegen Dühring veröffentlichten Kritiken, die für die weitaus größte Mehrheit der Leser des ‚Vorwärts‘ völlig ohne Interesse oder gar höchst anstoßerregend sind, haben künftighin aus dem Zentralorgan fernzubleiben.“

Das Ansehen Dührings erlitt allerdings nicht lange nachher in den Augen seiner sozialistischen Anhänger gründlich Schiffbruch. Das Benehmen des Mannes wurde so autokratisch und an Größenwahn grenzend, daß sich einer nach dem anderen von ihm zurückzog.

Auf demselben Kongreß wurde von Vollmar — der damals zum erstenmal auf einem Parteikongreß erschien — der Antrag gestellt und angenommen:

  „Um der Solidarität der Sozialisten aller Länder Ausdruck zu geben,
  beschließt der Kongreß, den diesjährigen internationalen
  Sozialistenkongreß zu Gent durch einen Delegierten zu beschicken. Das
  Zentral-Wahlkomitee bestimmt den Delegierten.“

Grillenberger unterstützte den Antrag, dagegen mahnte Liebknecht zur Vorsicht im Hinblick auf die in Belgien vorhandene bakunistisch-anarchistische Strömung, die versuchen werde, den Kongreß zu beherrschen.

Ob der Kongreß zustande kam, ist mir nicht erinnerlich, jedenfalls wurde er von uns nicht beschickt; der Partei erwuchsen mittlerweile im Innern ernstere und kostspieligere Aufgaben.

Landtagswahl in Sachsen. — „Die Zukunft.“

Im September 1877 gelang es uns in einem der Landtagswahlkreise Leipzig-Land — 36. ländlicher Wahlkreis —, Liebknecht zum Abgeordneten zu wählen. Die Parteigenossen hatten zunächst mir die Kandidatur angeboten, ich lehnte aber ab, da ich unmöglich meinem Associé und meinem Geschäft zumuten konnte, neben dem Reichstagsmandat auch ein Landtagsmandat zu übernehmen. Bei der Prüfung der Wahl durch den Wahlkommissar stellte sich heraus, daß Liebknecht noch nicht drei Jahre sächsischer Staatsangehöriger war und somit zum Abgeordneten nicht gewählt werden konnte. Die Wahl wurde für ungültig erklärt. Darauf stellten die Parteigenossen des Wahlkreises den Parteigenossen Rechtsanwalt Otto Freytag in Leipzig auf, der auch gewählt wurde. —

Den 1. September trat Vahlteich seine achtzehnmonatige Haft in Zwickau an, dem im nächsten Jahre Vollmar folgte. Am 1. Oktober erschien in Berlin eine Monatschrift unter dem Titel „Die Zukunft“, zu deren Erscheinen Karl Höchberg, der Sohn eines Frankfurter Bankiers, die Mittel hergab. Höchberg hatte sich, ich möchte sagen aus gefühlsphilosophischen Beweggründen der Bewegung angeschlossen; sein Privatsekretär wurde Eduard Bernstein, der infolgedessen seine Stellung in einem Berliner Bankgeschäft aufgab. Die unklare Stellung, die die Zeitschrift sowohl in Anbetracht der Anschauungen ihres Gründers und des Kreises ihrer Mitarbeiter, in dem alle Richtungen in der Bewegung vertreten waren, zum wissenschaftlichen Sozialismus, wie ihn Marx und Engels begründet hatten, einnahm, hatten von vornherein das Mißtrauen der beiden Alten in London geweckt, ein Mißtrauen, das um so lebhafter wurde, als der Gang der Ereignisse und die finanzielle Not, in die dabei die Partei geriet, die finanzielle Opferwilligkeit Höchbergs nach vermiedenen Richtungen in hohem Grade in Anspruch nahm. Marx und Engels, die die Dinge nur aus der Ferne sahen, Personen und Verhältnisse nicht näher kannten, sahen in dieser Opferwilligkeit Höchbergs schlaue Berechnung, einen kaltblütig ausgeheckten Plan, die Partei auf Abwege zu bringen, sie ihrer Aufgabe zu entfremden.

Das war eine durchaus irrige Auffassung. Höchberg hat nie den Versuch gemacht, seine finanziellen Mittel im Sinne der befürchteten Bestrebungen anzuwenden oder die Unterstützung derselben zur Bedingung seiner Hilfsleistungen zu machen. Er gab aus gutem Herzen und aus Interesse für die Sache, und nie, ohne mich oder andere Freunde, Geib, Liebknecht usw., zu Rate zu ziehen. Aber der Versuch, das Mißtrauen gegen Höchberg bei den Londonern zu beseitigen, gelang erst, als ich mich entschloß, mit Bernstein nachmals den in der Partei berühmt gewordenen „Kanossagang“ im Spätherbst 1880 anzutreten, um Marx und Engels klaren Wein einzuschenken. Darüber im nächsten Bande.

Ich selbst schrieb mehrere Artikel für die „Zukunft“, so einen über das Proportionalwahlrecht, eine Frage, die damals in der Partei noch wenig erörtert worden war. Die für mich selbstverständliche Art, wie dieses Wahlsystem ausgeführt werden müsse und tatsächlich auch nachher in der Praxis angewendet wurde, fand anfangs bei dem Hauptvertreter dieses Wahlsystems in der Schweiz, unserem altbewährten Genossen Karl Bürkli, einigen Widerspruch. Aber als ich mich im Herbst 1901 nach einem Mittagessen bei Professor Dodel in Zürich von ihm verabschiedete, äußerte Bürkli: Bebel, wir werden uns nicht mehr wiedersehen — er ging ins 79. Lebensjahr —, aber eins will ich Ihnen noch sagen, Ihr Vorschlag, den Sie seinerzeit in der „Zukunft“ machten über die Ausführung des Proportionalwahlrechts, ist der richtige. Wenige Monate später starb Bürkli; er hatte sein baldiges Ende richtig vorausgesehen.

Wieder reif fürs Gefängnis.

Am 12. Juni 1877 stand endlich auch ich vor der berüchtigten siebenten Deputation des Stadtgerichts in Berlin als Angeklagter. Tessendorf hatte in meiner Broschüre nicht weniger als drei Bismarckbeleidigungen entdeckt, außerdem, wie ich schon erwähnte, eine Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs gefunden. Bismarck hatte bereitwillig den Strafantrag gestellt. Es war richtig, ich hatte den Reichskanzler etwas unsanft angefaßt. Als ich die Broschüre schrieb, wurmte mich noch immer die beleidigende Rede, die er mir Anfang 1876 im Reichstag ins Gesicht geschleudert hatte, auf die zu antworten mich die Mehrheit durch Annahme eines Schlußantrags verhindert hatte. Wäre ich damals ausführlich zum Wort gekommen, höchst wahrscheinlich wäre mir die Reichskanzlerbeleidigung erspart geblieben, denn es waren die Vorgänge im Reichstag, auf die ich in den Angriffen auf Bismarck in meiner Broschüre Bezug nahm. Außerdem hatte ich in einem Angriff auf die Nationalliberalen diese gehöhnt, daß sie sich vom Reichskanzler hausknechtmäßig behandeln ließen, und dachte gar nicht daran, damit eine Beleidigung Bismarcks begehen zu wollen. Es war eben die Zeit, in der der Abgeordnete Bamberger in einem Augenblick anerkennenswerter Selbsterkenntnis wegen seiner und seiner Freunde Behandlung durch den Reichskanzler das Wort geprägt hatte: Hunde sind wir ja doch!

Die Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs wurde in der scharfen Kritik gefunden, die ich dem Militarismus hatte angedeihen lassen, die aber ganz den von uns vertretenen Anschauungen entsprach. Ich empfand es als eine persönliche Beleidigung, daß man mich anklagte, erdichtete oder entstellte Tatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet und verbreitet zu haben, um damit die Einrichtungen des Militarismus verächtlich zu machen; denn was ich geschrieben hatte, entsprach meinem Standpunkt und meiner Ueberzeugung.

Tessendorf als öffentlicher Ankläger machte sich sein Amt sehr leicht, er kannte ja genügend die siebente Deputation. Nonchalant, als pflege er eine private Unterhaltung, stand er vor dem Gerichtshof, die eine Hand in der Tasche einer hellgestreiften Sommerhose — die heute übliche Amtskleidung wurde erst später eingeführt —, angetan mit einem schäbigen schwarzen Frack, und beantragte nach einer kaum fünf Minuten langen Rede 9 Monate wegen Beleidigung des Reichskanzlers und 5 Monate wegen der Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs, also 14 Monate Gefängnis, die er auf ein Jahr Gefängnis zusammenzuziehen vorschlug.

Die Art, wie Tessendorf die Sache behandelte, brachte mich noch mehr in Erregung, als es ohnedem schon der Fall war. Ich verteidigte mich selbst. In anderthalbstündiger Rede suchte ich die Anklage Punkt für Punkt zu widerlegen. Wolle man aus meiner Broschüre eine Beleidigung des Reichskanzlers herauslesen, dann müßten die Umstände berücksichtigt werden, unter denen ich zu meinen Ausführungen gekommen sei, und in Anbetracht dieser sei das beantragte Strafmaß viel zu hoch. Eine Verletzung des § 131 liege aber in allewege nicht vor. Ich betrachtete es als unerhört, mich auf diesen Paragraphen hin anzuklagen, da es doch gerichtsnotorisch sein müsse, daß die obendrein mit Tatsachen und Zitaten wissenschaftlicher und militärischer Autoritäten begründeten Ausführungen nur meinem Parteistandpunkt und meiner Ueberzeugung entsprächen.

Ich glaube, ich hielt eine sehr gute Rede, aber sie würde auch keinen Eindruck auf die Richter gemacht haben, wenn deren Aufmerksamkeit nicht durch ein ausgebrochenes Hagelwetter, dessen Körner gegen die Fensterscheiben trommelten, in Anspruch genommen gewesen wäre. Die Frage, in welchem Augenblick wohl die Fensterscheiben durch die Hagelkörner zertrümmert würden, war den Richtern offenbar wichtiger als meine schönen Ausführungen. Der Gerichtshof zog sich zurück, da Tessendorf es nicht der Mühe wert fand, mir zu antworten, und verkündete nach kurzer Beratung in allen Fällen meine Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis.

Ich appellierte, und die Sache kam am 28. Oktober vor dem Kammergericht zur Verhandlung. Hier führte Staatsanwalt Groschuff die Anklage. Im Laufe seiner Rede machte er geltend, daß ich schon wegen meiner Vorstrafen keine milde Verurteilung verdiente; er beantragte Bestätigung des Urteils der ersten Instanz.

Ich verteidigte mich wiederum selbst. In einstündiger Rede wendete ich mich gegen die Ausführungen des Staatsanwalts. Seine Bemerkung, daß ich quasi wegen Rückfälligkeit härter bestraft werden müßte, hatte mich besonders gereizt. Ich protestierte, daß man einen Angeklagten, der im Kampfe für seine Ueberzeugungen wiederholt mit dem Strafrichter Bekanntschaft gemacht habe, mit einem gemeinen Verbrecher — einem Diebe oder Betrüger im Rückfalle — auf gleiche Stufe stelle. Der gemeine Verbrecher handle gegen das Gesetz, um einen persönlichen Vorteil zu erlangen, also aus Eigennutz, der politische „Verbrecher“, der, geschehe es in Verteidigung oder Propagierung seiner Ansichten, gegen das Gesetz verstoße, handle aus Idealismus. Ihm gebühre für die unentwegte Vertretung seiner Anschauungen nicht verschärfte Strafe, sondern Anerkennung. Kein politischer „Verbrecher“ werde wegen der Vertretung seiner Ueberzeugungen, die ihn mit dem Strafgesetz in Konflikt brächten, gesellschaftlich mißachtet, wie das mit dem gemeinen Verbrecher wohl die Regel sei. Der politische Verbrecher gewinne sogar an Ansehen in den Augen seiner Gesinnungsgenossen.

In meiner weiteren Rede legte ich den Schwerpunkt auf die Anklage wegen Verletzung des § 131 des Strafgesetzbuchs. Ich erreichte damit, daß der Vorsitzende des Gerichtshof sieben Seiten meiner Schrift, die Urteile über den Militarismus enthielten, vorlesen ließ. Das Endresultat war: ich wurde von der Anklage, den § 131 verletzt zu haben, freigesprochen, aber wegen Beleidigung Bismarcks zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Hinzufügen möchte ich hier, daß, als einige Monate später, im Dezember, der konservative Sozialpolitiker Dr. Rudolf Meier ebenfalls wegen Bismarckbeleidigung von dem Kammergericht zu einem Jahre Gefängnis verurteilt wurde, derselbe Staatsanwalt Groschuff, der die Anklage auch gegen mich geführt hatte, jetzt äußerte: er hege den Wunsch, dieses möge der letzte Bismarckbeleidigungsprozeß sein. Diese hörten aber erst auf, als Bismarck aufhörte, Reichskanzler zu sein, das heißt dreizehn Jahre später.

Da es mir sehr darum zu tun war, in Rücksicht auf meine Familie und mein Geschäft, meine Haft in Leipzig zu verbüßen, hier aber nach den ministeriellen Vorschriften nur Haftstrafen bis zum Höchstmaß von fünf Monaten erledigt werden konnten, wandte ich mich an die zuständige Stelle mit der Frage: ob ich eventuell für die Verbüßung einer fünfmonatigen Haft im Leipziger Gefängnis zugelassen würde. Nachdem dieses bejaht worden war, begab ich mich nach Berlin zu dem Vorsitzenden der siebenten Deputation, Reich, und ersuchte diesen, zu gestatten, daß ich nach Verbüßung einer einmonatigen Haft in Plötzensee die restlichen fünf Monate im Leipziger Bezirksgerichtsgefängnis verbringen könne. Zu meiner nicht geringen Verwunderung empfing er mich mit ausgesuchter Höflichkeit und erklärte seine Zustimmung zu meinem Antrag.

Darauf trat ich am 23. November meine Haft in Plötzensee an. Die Prozedur der Aufnahme war eine sehr umständliche und widerwärtige. Als ich dem Arbeitsinspektor vorgeführt wurde, empfing mich dieser mit den Worten: Nun, Herr Bebel, wie es in der Bastille am Plötzensee aussieht, werden Sie aus Mosts Schrift ersehen haben. Ich antwortete: Ich hätte zwar die Schrift gelesen, aber das sei schon längere Zeit her, ich bäte ihn, mich zu informieren. Nun brach bei ihm der offenbar schon lange verhaltene Grimm gegen Most los. Er verstehe, daß der Gefangene in den Beamten seine Feinde sehe und sich hinter deren Rücken an Vorteilen zu verschaffen suche, was ihm möglich sei, aber dann sich nachher auf den Markt zu stellen und auszuschreien, wie man die Beamten hintergangen oder diese zu Konzessionen verleitet habe, sei eine Gemeinheit und eine Dummheit. Er erzählte alsdann, welche Wirkung und welche Folgen die Mostsche Schrift nach ihrer Veröffentlichung unter den Beamten in Plötzensee hervorgerufen habe. Er schloß seine erregten Auseinandersetzungen mit den Worten: Most soll uns nur mal wieder zwischen die Finger kommen, dem wollen wir seine Indiskretionen eintränken.

Und er kam ihnen bald genug wieder zwischen die Finger, und sie habend ihm tüchtig eingetränkt. Einen Vorgeschmack bekam Most von dem, was ihn gegebenenfalls erwartete, daß, als er mir in Plötzensee einen Besuch machen wollte, er kurzerhand abgewiesen wurde.

Ich erlangte das Recht, mich literarisch beschäftigen zu dürfen und bis abends 10 Uhr Licht zu brennen. Marx' „Kapital“ und verschiedene andere sozialistische Schriften wurden mir fortgenommen, als wenn an mir noch etwas zu verderben gewesen wäre. Und da der Arbeitsinspektor absolut verlangte, daß ich mich nicht bloß mit dem Studium von Büchern abgeben dürfe, sondern auch irgendeine literarische Arbeit vorzeigen müsse, setzte ich mich hin und schrieb ein kleines Broschürchen, das unter dem Titel erschien: „Frankreich im achtzehnten Jahrhundert.“

Selbstbeköstigung gab es nicht, die war Börsenjobbern, die wegen Gaunereien in Plötzensee Quartier bezogen hatten, gewährt worden, politischen Gefangenen nicht. Was aber dem Gefangenen die magere Kost noch besonders verleidete, um nicht zu sagen verekelte, war der feststehende Küchenzettel, das heißt die in einer Woche morgens, mittags und abends verabreichte Kost kehrte fast in derselben Reihenfolge Woche für Woche, Tag für Tag wieder. Ich verlor in den nahezu zwei Monaten, die ich in Plötzensee verbrachte, erheblich an Gewicht. Ich begriff nicht, wie Anstaltsärzte eine solche Verpflegungsordnung zulassen konnten. Auf meinen Antrag bewilligte mir der Arzt die sogenannte Krankenkost. Danach erhielt ich dreimal in der Woche zu Mittag einen Teller wirklich gute Fleischbrühsuppe, einen Sperling Fleisch, das auf ein spitzes Holzstäbchen gespießt war, da man Messer und Gabel dem Gefangenen nicht anvertraut, und Kartoffeln und Gemüse. Die Bezeichnung Sperling rührte daher, daß das Stückchen Fleisch nach Form und Größe einem gerupften Sperling ähnlich sah.

Ich hatte darauf gerechnet, unmittelbar vor Weihnachten von Plötzensee nach Leipzig übersiedeln und alsdann die Weihnachtsfeiertage bei meiner Familie verbringen zu können. Von den acht Weihnachtsfesten, die bis dahin mein Töchterchen erlebt hatte, hatte ich vier in den Gefängnissen zugebracht. Ich hoffte, nicht das fünfte Mal die Weihnachtsfeier im Gefängnis verbringen zu müssen. Es kam aber doch so. Auf meine Anfrage bei der Leipziger Gefängnisverwaltung, ob ich nach den Weihnachtsfeiertagen die Haft dort antreten könne, kam die Antwort, daß dieses vorläufig nicht möglich sei, die Räume seien alle besetzt. Erst am 18. Januar 1878 konnte ich nach Leipzig übersiedeln.

Während meiner Haft in Plötzensee besuchte mich wiederholt der Gefängnisgeistliche, um sich mit mir über die politischen Vorgänge zu unterhalten. Mir war das Halten der „Vossischen Zeitung“ bewilligt worden, deren sämtliche Tagesnummern ich aber regelmäßig erst am Ende der Woche, am Sonntag, zugestellt erhielt. Most hatte um jene Zeit mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Temperaments eine öffentliche Agitation für den Austritt aus der Landeskirche begonnen. Die von ihm veranlaßten Volksversammlungen waren überfüllt und von leidenschaftlicher Erregung getragen. Diese wuchs, als jetzt die neu erstandene christlich-soziale Partei unter Führung des Hofpredigers Stöcker ebenfalls Versammlungen abhielt und Redner dieser Partei auch in den Mostschen Versammlungen erschienen, dort aber, wie vorauszusehen war, unter dem Jubel der Massen den kürzeren zogen. Diese Agitation rief bei den Frommen im Lande eine ungeheure Aufregung hervor, die auch den Gefängnisgeistlichen ergriffen hatte. Selbst der alte Kaiser sah sich veranlaßt, als ihm zu seinem Geburtstag im März 1878 das Präsidium des Landtags gratulierte, in seiner Antwort zu betonen: Die Religion muß dem Volke erhalten werden.

Innere Vorgänge.

Während ich hinter den Gefängnismauern Zeit zu allerlei Betrachtungen hatte, spielten sich in und außerhalb der Partei eine Reihe Vorgänge ab, die von besonderer Bedeutung waren. Im November hatten die Berliner Genossen an Stelle der aufgelösten Organisationen einen Verein zur Wahrung der Interessen der werktätigen Bevölkerung gegründet. Die christlich-konservativen Staatssozialisten gründeten eine Wochenschrift, „Der Staatssozialist“, an der als Mitarbeiter Professor Schäffle, Professor v. Scheel, Bankier Samter, Professor Ad. Wagner, Pastor Tod, Dr. Petermann-Dresden und andere tätig sein sollten. Die evangelischen Sozialpolitiker wollten den katholischen nicht allein das Feld überlassen, sondern unter den evangelischen Arbeitern vor der Sozialdemokratie retten, was noch zu retten war.

Auch in der großen Politik schienen Veränderungen bevorzustehen. Die fortgesetzt steigenden Ausgaben des Reiches erforderten neue Einnahmen. Die wachsenden Matrikularumlagen, durch die die Einzelstaaten das Reichsdefizit zu decken hatten, wurde diesen angesichts des eigenen steigenden Geldbedarfes für ihre innere Verwaltung immer lästiger. Die gesteigerten Ausgaben aber auf dem Wege direkter Besteuerung zu decken, davon wollte Bismarck am wenigsten wissen. Er haßte die direkten Steuern und suchte sich persönlich nach Möglichkeit der Zahlung derselben zu entziehen. Er hatte schon am 22. November 1876 im Reichstag sein Steuerideal entwickelt, wobei er ausführte:

„Ich erkläre mich von Hause aus wesentlich für Aufbringung aller Mittel nach Möglichkeit für indirekte Steuern, und halte die direkten Steuern für einen harten und plumpen Notbehelf, nach Aehnlichkeit der Matrikularumlagen, mit alleiniger Ausnahme, ich möchte sagen einer Anstandssteuer, die ich von der direkten Steuer immer aufrecht erhalten würde; das ist die Einkommensteuer der reichen Leute … wohlverstanden, der wirklich reichen Leute…. Ich kann die Zeit kaum erwarten, daß der Tabak höhere Summen steuere, so sehr ich jedem Raucher das Vergnügen gönne. Analog steht es auch mit dem Bier, dem Branntwein, dem Zucker, dem Petroleum und allen diesen großen Verzehrungsgegenständen, gewissermaßen den Luxusgegenständen der großen Masse.“

Ein großer Teil der Liberalen war geneigt, auf dem gleichen Wege die Deckung der Mehrausgaben zu suchen. Da Bismarck um jene Zeit mit einem Teil der konservativen Partei ein starkes Zerwürfnis hatte, andererseits mit dem Zentrum noch immer in Fehde lebte, kam er auf den Gedanken, die Nationalliberalen, die damals noch mit ihren nächsten Affiliierten die stärkste Partei im Reichstag bildeten, dadurch an seine Politik zu ketten, daß er mit ihrem Führer Herrn v. Bennigsen wegen dessen Eintritt in das preußische Ministerium in Unterhandlungen trat. Bennigsen war dazu geneigt, aber er hielt die Zustimmung der führenden Parteigenossen zu diesem Schritt für notwendig. Unter dem Einfluß Laskers kam man überein, dem Eintritt Bennigsens in das Ministerium nur zuzustimmen, wenn neben Bennigsen auch der Bayer Freiherr v. Stauffenberg und Herr v. Forckenbeck in das Ministerium Aufnahme fänden. Bennigsen allein würde der wachsenden reaktionären und schutzzöllnerischen Strömung gegenüber nicht gewachsen sein. Bismarck brachten diese Bedingungen namentlich gegen Lasker in hellen Zorn, dem er vorwarf, ihm einmal wieder in die Suppe gespuckt zu haben. Als dann der alte Kaiser von der Kombination mit Bennigsen hörte, in dem er wegen seiner Haltung im Jahre 1866 gegen das hannoversche Herrscherhaus einen halben Hochverräter sah und sich entschieden gegen Bennigsen als preußischen Minister erklärte, fiel der ganze Plan ins Wasser. Bismarck vergaß den Nationalliberalen nicht, was sie nach seiner Meinung gegen ihn gesündigt hatten, er nahm bald darauf Rache an ihnen.

* * * * *

Ende des Jahres 1877 siedelte Auer von Hamburg nach Berlin über, um neben Most und anderen in die Redaktion der „Berliner Freien Presse“ einzutreten. August Geib bemühte sich, an Auers Stelle Julius Motteler zum Eintritt als Sekretär in das Zentralwahlkomitee zu gewinnen. Motteler, der aus privaten Gründen 1876 aus der Leitung der Leipziger Genossenschaftsbuchdruckerei ausgetreten war, lehnte aber ab.

Bald darauf erlebte Berlin zwei Vorgänge, die die gesamte Oeffentlichkeit in Spannung versetzten. Am 7. März 1878 starb der Faktor der Berliner Assoziationsbuchdruckerei August Heinsch und wurde am 10. März beerdigt. Heinsch war kein Redner, aber er war ein vorzüglicher Organisator, in dessen Händen alle Fäden der Berliner Bewegung zusammenliefen, und er hatte sich wegen seiner Unermüdlichkeit, trotz seines leidenden Zustandes — er starb an der Schwindsucht — zu helfen und zu raten, wo er konnte, die allgemeinste Sympathie der Berliner Arbeiter erworben. Das Leichenbegängnis gestaltete sich zu einer großen sozialdemokratischen Demonstration, wie sie bis dahin Berlin noch nicht gesehen hatte. Der Polizeipräsident bewies sein Verständnis für die Bewegung dadurch, daß er die Mitnahme von Fahnen im Zuge, auch wenn sie verhüllt waren, verbot.

Die Demonstration hatte durch die Ruhe und Ordnung, mit der sie verlief, den Gegnern so imponiert, daß der „Kladderadatsch“ sich zu folgendem Gedicht verstieg.

  „Für die Sozialdemokratie.
  Daß neulich Zucht und Ordnung sie gehalten
  Bei ihrem Aufzug, laßt es uns gestehn.
  Ein gleicher Geist der Ordnung möge walten
  Bei uns, wenn wir in solchen Massen gehn!
  Wir wollen gern den Beifall ihnen zollen,
  Der ungerecht nur scheint den Toren.
    Es sind verloren,
  Die nicht vom Gegner lernen wollen.“

Wenige Wochen später sah Berlin ein zweites, womöglich noch größeres Leichenbegängnis. Paul Dentler, der verantwortliche Redakteur der „Berliner Freien Presse“, war ebenfalls an der Schwindsucht, aber unter so empörenden Umständen gestorben, daß ein Sturm der Entrüstung die Partei in Berlin und in ganz Deutschland ergriff. Dentler war wie Heinsch ein noch junger Mann, der mir in meiner Prozeßangelegenheit bereitwilligst eine Reihe kleiner Dienste erwiesen hatte. Eine hoch aufgeschossene schlanke Gestalt mit der bleichen Gesichtsfarbe und der zarten durchsichtigen Haut, wie sie Schwindsüchtige öfter zu haben pflegen, war er in seinem ganzen Wesen die personifizierte Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit.

Dentler war am 18. Januar unter der Anklage, mehrere Majestätsbeleidigungen und sonstige Vergehen in der „Berliner Freien Presse“ begangen zu haben, in schwer krankem Zustand in Untersuchungshaft genommen und am 7. Februar von der siebten Deputation zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt worden, wogegen er die Berufung anmeldete. Dentler beantragte alsdann mit Hinweis auf seinen schwer kranken Zustand seine Entlassung aus der Untersuchungshaft, die infolge der Berufung fortdauerte. Das Gericht forderte den Gefängnisarzt zur Begutachtung des Falles auf. Woche um Woche verging; Dr. Lewin, so hieß der Ehrenmann, ließ sich ab und zu einmal in der Zelle sehen, fragte Dentler, wie es ihm gehe, und verschwand wieder. Alles, was Dentler schließlich erreichte, war, daß er kurz vor seinem Tode aus der Stadtvogtei in die Gefangenenabteilung der Charité gebracht wurde.

Von hier schrieb Dentler der Redaktion der „Berliner Freien Presse“:

„Mein Zustand verschlimmert sich jeden Tag, nach Verlauf einer Woche erinnere ich (an den Antrag auf Entlassung) — vergebens. Eine zweite Woche bricht an, geht zu Ende und am letzten Tage derselben — vierzehn Tage nach meinem Antrage — erscheint der Medizinalrat Wolff…. Nach einer sehr sorgfältigen Untersuchung geht Herr Wolff, nachdem er sich sehr bedenklich über meinen Zustand ausgesprochen hat. — Seit jener Untersuchung sind wiederum volle acht Tage verflossen, ich bin nach wie vor im unklaren über mein Schicksal, die siebte Deputation hat seitdem drei Sitzungen gehalten und ich — nun ich habe heute nachmittag in der Spazierstunde Blut gespien, nach meinen bisherigen Erfahrungen ein Vorbote starker, in kurzer Zeit darauf folgender Lungenblutungen. Daß ich jetzt eine Lungenblutung vom Schlage der beiden erlebten überstehen würde, halte ich einfach für unmöglich.“

Und der vorausgesagte Blutsturz kam. Am 24. April war Dentler eine Leiche. Am 28. April fand seine Bestattung unter immenser Beteiligung statt; sie war ein flammender Protest gegen die ihm widerfahrene Behandlung. Wiederum war das Bürgertum erstaunt und erschreckt über die Massen, die Dentler zu Grabe geleiteten. Dieser Ueberraschung gab jetzt die „Magdeburger Zeitung“ mit den Worten Ausdruck:

„Wer spricht noch von Arbeiterbataillonen Berlins angesichts dieses Leichenaufgebots? Das sind Regimenter, Brigaden, Divisionen, ja mehr, das sind ganze Armeekorps, welche ihrem sicherlich um die Sache hochverdienten Toten die letzte Ehre erwiesen.“

Seitdem hat Berlin noch manchen sozialdemokratischen Leichenzug gesehen, größer als jenen der Heinsch und Dentler, die der bürgerlichen Welt ein mene tekel upharsin zuriefen.

Der Reichstag Frühjahr 1878.

Mittlerweile war der Reichstag zum 6. April 1878 einberufen worden. Ich war durch meine Haft wieder von seinen Beratungen ausgeschlossen. Ein Antrag auf meine Beurlaubung hatte wie früher einen negativen Erfolg.

Die Fraktion war sehr fleißig in der Stellung von Anträgen. Sie beantragte die Abänderung des Artikels 31 der Verfassung — Freilassung der Abgeordneten auch aus der Strafhaft —, Aenderung des Reichstagswahlgesetzes: Einführung der Kuverts, Wahltag am Sonntag, gesetzliche Festlegung der Zahl und des Umfanges der Wahlkreise nach jeder Volkszählung, Aenderung der Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in bezug auf Wahlbeeinflussungen; einen Gesetzentwurf betreffend das Vereins- und Versammlungsrecht, Antrag auf Aenderung des Freizügigkeitsgesetzes — Einschränkung der Ausweisungen —, Anträge zu dem Bericht der Kommission über die Einführung der Gewerbegerichte, Anträge zu dem von den Regierungen eingebrachten Gesetzentwurf betreffend Aenderung der Gewerbeordnung.

Bei einer der in jener Zeit öfter vorkommenden Sozialistendebatten erlaubte sich Bismarck den Scherz: er wolle mir einen polnischen Bezirk zum Musterversuch für sozialistische Experimente überlassen. Da ich hinter Schloß und Riegel saß, konnte ich ihm auf diesen Scherz nicht gebührend antworten.

Als ich vernahm, daß Motteler zur Frage der Fabrikarbeit der Kinder sprechen wolle, schrieb ich ihm am 12. Februar:

„Gestern sagte mir Dr. Glattstern, daß Du ihn wegen Beschaffung von Material in bezug auf Kindersterblichkeit angegangen habest. Wenn Du dies in Rücksicht auf die Einschränkung der Kinderarbeit durch die Gewerbeordnungsnovelle getan, dürfte es sich empfehlen, von Zahlenmaterial, da es meines Wissens in brauchbarer Weise nicht vorhanden ist, abzusehen. Die große Kindersterblichkeit ist notorisch, auch in den späteren Jahren, aber es muß beachtet werden, daß neben der Fabrikarbeit auch elende Wohnung, elende Nahrung und elende Pflege während der Krankheiten sehr ins Gewicht fallende Faktoren sind. Willst Du dagegen die große Kindersterblichkeit in den ersten Lebensjahren auf die Beschäftigung der Mütter in den Fabriken mit zurückführen, so ist das unzweifelhaft gut und hierfür kein besseres Beispiel anzuführen als die Zeit der Baumwollenkrise in England, während des amerikanischen Bürgerkriegs, in der die Kinder bedeutend weniger starben, weil sie jetzt infolge der mangelnden Arbeit für die Mütter die Mutterbrust erhalten konnten (siehe Marx' Kapital).

Ich glaube, Du tust am besten, hier einfach auf die physischen und moralischen Nachteile dieser Arbeit an und für sich und in Verbindung damit auf die Zerrüttung des Familienlebens hinzuweisen, das die Fabrikarbeit der Mütter hervorruft, und appellierst an das Gefühl der Gegner, was sie sagen würden, wenn ihren Frauen und Kindern solche Zumutungen gemacht würden. Daneben wäre die perfide Art, wie die Reichsregierung im Interesse der Fabrikanten die größere Ausbeutung ermöglicht, gebührend zu brandmarken.

Hierbei wäre aber ein neuer guter Gedanke in aller Form zum Austrag zu bringen. Mache das gänzliche Verbot der Kinder- und eine wesentliche Einschränkung der Frauenarbeit den Fabrikanten die Konkurrenz des Auslandes schwer, so solle das Mittel ergriffen werden, das die Regierung auch schon auf anderen Gebieten mit Erfolg ergriffen hat, der Abschluß bezüglicher internationaler Verträge. Sie würde hierbei nicht nur die öffentliche Meinung Deutschlands wie in kaum einer anderen Frage auf ihrer Seite haben, sondern auch die Sympathien der arbeitenden Klassen des Auslandes. Der moralische Druck eines solchen Vorgehens würde so groß, daß jede Regierung gezwungen würde, auf solche Vorschläge einzugehen.

Ich glaube, mit diesem Trumpf könnten wir sehr viel gewinnen.

  Ihr könntet zu dem Antrag von Schulze-Delitzsch, Nr. 11 der
  Drucksachen, betreffend das Genossenschaftsgesetz, einige weitere
  Anträge bringen, zum Beispiel auf Einführung der beschränkten
  Haftpflicht, analog dem früheren sächsischen Genossenschaftsgesetz.
  Auch müssen einige Schulzesche Anträge entschieden bekämpft werden.
  Ich stelle mein Exemplar des Berichts zur Verfügung, worin ich zu den
  Materien die Bemerkungen, die weiter ausgesponnen werden könnten,
  angebracht habe. Auer oder wer sonst Lust hat, könnte dieses Kapitel
  übernehmen.

  Ich werde gelegentlich den Bericht (Aktenstück Nr. 11) hinausgeben,
  bitte aber mir ihn aufzubewahren und zurückzugeben.“

Im Leipziger Gefängnis und was währenddem geschah.

Die Muße im Gefängnis benutzte ich, um unter anderem im „Vorwärts“ einen
Artikel für die Gründung einer allgemeinen Parteibibliothek (Archiv)
Stimmung zu machen. Die Ereignisse der nächsten Monate verhinderten, den
Plan weiter zu verfolgen. Ich habe dann den Gedanken später im Züricher
„Sozialdemokrat“ aufs neue angeregt und jetzt nahm sich der
Parteigenosse Schlüter, der in der Buchhandlung des „Sozialdemokrat“
beschäftigt war, der Ausführung des Gedankens an. Die Gründung des
Parteiarchivs erfolgte.

Des weiteren arbeitete ich an der Vollendung meines Buches „Die Frau und der Sozialismus“, das im folgenden Jahre in der ersten Auflage erscheinen konnte. Auch schrieb ich ein Broschürchen „Das Reichsgesundheitsamt und sein Programm“, in dem ich die sozialhygienischen Aufgaben erörterte, die nach meiner Ansicht das Reichsgesundheitsamt lösen müsse, wolle es seinem Namen und seiner Stellung gerecht werden.

Meine diesmalige Leipziger Haft gab mir auch die Gelegenheit, einem Teil meiner Mitgefangenen zu einer kleinen Verbesserung ihrer Lage zu verhelfen. Zu jener Zeit hatte noch die Oberleitung im Gefängnis ein alter Inspektor, von dem die Sage ging, daß er in seiner Stellung ein reicher Mann geworden sei dadurch, daß er den Gefangenen, die im Besitz von Geld waren, Eßwaren und Getränke zu einem Preise verkaufte, der ihm einen hohen Nutzen abwarf. Weiter erfuhr ich in der Privatunterhaltung mit meinem Aufseher, der froh war, wenn ich mit ihm eine Weile plauderte, daß der Inspektor auch nach anderer Richtung sich an den Gefangenen verging. So sparte er an Handtüchern und Seife, mit denen die Gefangenen doppelt so lange aushalten mußten, als vorgeschrieben war. Die Gefangenen erhielten ihr Mittagessen in Steinkrügen. Daß ab und zu einer derselben zerbrach, war selbstverständlich. Der Inspektor sorgte aber nicht für Ersatz, sondern ein Teil der Gefangenen mußte warten bis der andere Teil gegessen hatte, und dann wurde die mittlerweile kalt gewordene Speise in den unausgewaschenen Krügen dem anderen Teil überreicht.

Diese Mitteilungen erregten meinen Zorn. Ich faßte nunmehr einen Plan, um dem Inspektor sein Treiben zu legen. Ich setzte mich hin und schrieb eine Beschwerde an den Direktor des Gerichts, dem damals die Oberaufsicht über das Gefängnis oblag, worin ich die ganzen ungehörigen Vorgänge schilderte, aber in der Rolle eines Mannes, der eben als Gefangener das Gefängnis verlassen und die Ungehörigkeiten des Inspektors am eigenen Leibe zu spüren bekommen habe, denn ich wurde ja davon nicht betroffen. Natürlich mußte dieses Schreiben anonym abgehen.

Als meine Frau mir ihren nächsten Besuch machte, der nur in Gegenwart des Inspektors stattfinden konnte, drückte ich ihr heimlich einen Zettel in die Hand, in der ich sie bat, an einem bestimmten Abend Punkt 1/2-10 Uhr durch die Straße zu gehen, nach der mein Zellenfenster mündete, ich würde ihr alsdann einen Brief hinunterwerfen, den sie von unbekannter Hand solle abschreiben lassen und an den Gerichtsdirektor senden. So geschah es. Als meine Frau mit ihrem Töchterchen auf der Straße erschien, warf ich ihr aus dem dritten Stock das ziemlich stark gewordene Briefpaket hinunter, das bei der Stille in der Straße mit großem Geräusch auf das Pflaster klatschte. Meine Frau hob eilig das Paket auf und eilte fluchtartig mit ihrem Töchterchen von dannen, sie glaubten einen Mann hinter sich kommen zu hören und befürchteten, sie würden verfolgt. Einige Tage später stürzte der Aufseher in großer Aufregung in meine Zelle und erzählte: den Vormittag habe es zwischen dem Direktor und dem Inspektor einen heftigen Auftritt gegeben. Der Alte — wie er den Inspektor bezeichnete — sei zum Direktor befohlen worden und dieser habe ihm aus einem Briefe, den ein entlassener Gefangener geschrieben habe, alle seine Sünden vorgerückt und ihm furchtbar den Marsch geblasen. Der Alte sei ganz aufgeregt zu ihnen, den Aufsehern, gekommen und habe sofort Order für Abstellung der Uebelstände gegeben. Der Aufseher erzählte mir das mit großer Genugtuung, selbstverständlich hütete ich mich, ihn merken zu lassen, wer der Briefschreiber gewesen war.

* * * * *

Anfang Mai veröffentlichte das Zentralwahlkomitee einen Ausruf für die Abhaltung eines Sozialistenkongresses, der in der Zeit vom 15. bis 18. Juni abermals in Gotha stattfinden sollte. Unter den Punkten der Tagesordnung befand sich als Punkt 3: Beratung über die Stellung der Sozialdemokratie zum Staats- und Gemeindebetrieb, für den ich mit Rittinghausen als Berichterstatter angemeldet wurde. Den Anstoß zu diesem Beratungspunkt gab der Bismarcksche Plan, die Eisenbahnen in Reichsbesitz zu bringen, ferner das Tabakmonopol einzuführen, ein Plan, der damals zwar noch nicht öffentlich erörtert worden war, aber es war durchgesickert, daß in den Verhandlungen Bismarcks mit Herrn v. Bennigsen das Tabakmonopol eine Rolle gespielt habe. Auch hatte unser Parteigenosse Rittinghausen sich für die Verstaatlichung des Versicherungswesens öffentlich ausgesprochen und damit in der Partei nicht überall Zustimmung gefunden.

Der geplante Kongreß kam aber nicht mehr zur Ausführung, die eintretenden Ereignisse machten ihn unmöglich.

Das Hödel-Attentat und seine Folgen.

Am 12. Mai wurde mir in meine Zelle die Nachricht, die mich im höchsten Grad überraschte, überbracht, daß am Tage zuvor, nachmittags 3 Uhr, ein gewisser Hödel aus Leipzig, der Sozialdemokrat wäre, ein Attentat auf den alten Kaiser gemacht habe, der aber unverwundet geblieben sei. Mir erschien der Vorgang zunächst unerklärlich. Der Name Hödel alias Lehmann war mir bekannt. Hödel war das Jahr zuvor in Leipzig in der Partei aufgetaucht. Persönlich kannte ich ihn nicht. Da er keine Arbeit hatte, vielleicht auch keine nehmen wollte — er hatte als Klempner gelernt —, hatte er sich mit der Verbreitung unseres Leipziger Lokalorgans, „Die Fackel“, und mit dem Verkauf sozialistischer Schriften beschäftigt. Aber er erwies sich bald als Schwindler. Er unterschlug die eingenommenen Gelder, was die Expedition der „Fackel“ schon am 5. April veranlaßte, bekannt zu machen, daß Hödel der Vertrieb des Blattes entzogen worden sei. Ferner hatte einige Tage später die Leipziger Parteimitgliedschaft beschlossen, Hödels Ausschließung aus der Partei zu beantragen, und in der Tat hatte das Zentralwahlkomitee den Ausschluß Hödels aus der Partei am 9. Mai, also zwei Tage vor seinem Attentat, öffentlich im „Vorwärts“ bekannt gemacht.

Hödel hatte sich alsdann, nachdem er bei uns unmöglich geworden war, an den nationalliberalen Agitator Sparig und die Redaktion des nationalliberalen „Leipziger Tageblatts“ gewendet und lieferte diesen für Geld eine Reihe unwahrer und übertriebener Anklagen gegen die Partei, die das „Leipziger Tageblatt“ gegen uns ausschlachten versuchte. Nachdem er in Leipzig seine Mission gegen die Partei erfüllt hatte, suchten ihn Sparig und Konsorten los zu werden; sie gaben ihm das Geld zur Reise nach Berlin. Hier angekommen, hielt er es mit beiden Lagern. Er trat in einen sozialdemokratischen Verein und gleichzeitig in die christlichsoziale Partei des Hofpredigers Stöcker ein, um den sich damals eine große Zahl katilinarischer Existenzen aus den verschiedensten Schichten gesammelt hatte. So auch der Schneider Grüneberg, der zwei Jahre zuvor in Stuttgart und München von der sozialdemokratischen Partei wegen Betrügereien ausgeschlossen worden war. Grüneberg, der später auch von Stöcker gegangen wurde, verriet, daß neben Hödel auch Dr. Nobiling, der spätere zweite Attentäter auf den Kaiser, Mitglied der christlichsozialen Partei gewesen war. Er, Grüneberg, habe auf Geheiß des Hofpredigers eine neue Mitgliederliste anfertigen müssen, in der der Name Nobilings fehlte. In Berlin hatte Hödel sowohl sozialdemokratische wie christlichsoziale Blätter und Schriften, so den „Staatssozialist“ und ein Flugblatt „Ueber die Liebe zu König und Vaterland“ verbreitet. Als er verhaftet wurde, fand man auch Photographien von Liebknecht, Most und mir bei ihm, mit denen er handelte. Ueber die moralische Qualifikation dieses Menschen konnte wohl kein Zweifel bestehen.

Sobald Bismarck die Nachricht von dem Hödelattentat in Friedrichsruh erhielt, telegraphierte er nach Berlin: Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie, woraus ersichtlich war, wie gierig er auf irgend eine Gelegenheit wartete, der verhaßten Partei womöglich den Todesstoß zu versetzen. Anfangs nahmen die Oeffentlichkeit und die Presse die Nachricht von dem Attentat ziemlich kühl auf. Als einzelne Blätter den Versuch machten, die Sozialdemokratie für das Attentat verantwortlich zu machen, wies der offiziöse Hamburger Korrespondent in einem Artikel nach, daß binnen 78 Jahren 35 Meuchelmorde und Meuchelmordversuche gegen hervorragende politische Peinlichkeiten vorgekommen seien, und zwar von Angehörigen der verschiedensten Parteien. Die Anklage, der politische Meuchelmord sei am Holze der Sozialdemokratie gewachsen, sei unhaltbar. Auch im Reichstag faßte man den Vorgang zunächst noch so kühl auf, daß ein Antrag von uns auf Einstellung eines Strafverfahrens gegen Most am 14. Mai ohne jede Debatte angenommen wurde.

Bei seiner ersten Vernehmung bestritt Hödel, daß er auf den Kaiser habe schießen wollen, er habe vielmehr die Absicht gehabt, Selbstmord zu begehen als Zeichen der Erbärmlichkeit unserer Zustände, die ihn dazu genötigt hätten. Dafür sprach, daß, als er verhaftet wurde, er keinen Pfennig in der Tasche hatte und daß der Revolver, den er benutzte, ein elendes Ding war, der, wie der Büchsenmacher, der ihn untersuchte, feststellte, auf wenige Schritte sein Ziel verfehlen mußte. Es wurde weiter festgestellt, daß Hödel als uneheliches Kind seiner Mutter, die einen Lehmann geheiratet hatte, weshalb er sich auch zeitweilig Lehmann nannte, eine schlechte Erziehung genossen hatte. Man hatte ihm zwar das Hirn mit Katechismus- und Bibelsprüchen vollgepfropft, aber er konnte keinen Satz richtig schreiben. Außerdem wurde eine venerische Verseuchung bei ihm festgestellt. Als er zur Gerichtsverhandlung geführt wurde, betrat er blöde lachend den Gerichtssaal, und mit demselben Lachen verließ er ihn nach seiner Verurteilung. Einen Brief, den er an seine Eltern schrieb, unterzeichnete er: Max Hödel, Attentäter Sr. Majestät des Deutschen Kaisers. Festgestellt war auch worden, daß er von Jugend auf ein Lügner und Dieb war. Das ganze Benehmen des Mannes war, wie der Gerichtshof, der ihn nichtsdestoweniger zum Tode verurteilte, feststellte, das eines geistig und körperlich zerrütteten Menschen. Und wegen der Tat eines solchen Menschen sollte die deutsche Sozialdemokratie ans Kreuz geschlagen werden.

Hödel hatte den Rechtsanwalt Otto Freitag in Leipzig als Verteidiger gewünscht. Freitag erklärte sich auch bereit, die Verteidigung zu übernehmen, er verlangte aber die Zusendung der Akten und eine achttägige Frist zum Studium derselben und zur Vorbereitung der Verteidigung. Bezeichnenderweise wurde ihm beides abgeschlagen. Man hatte es sehr eilig mit Hödels Prozeß und Hinrichtung. Hödel erhielt jetzt einen Offizialverteidiger, der nichts Besseres zu tun wußte, als sich vor Gericht zu entschuldigen, daß ihn das Los getroffen habe, die Verteidigung eines Hochverräters übernehmen zu müssen. Hödels Kopf fiel unter dem Beil des Henkers. Als Professor Virchow bat, ihm den Kopf Hödels zur anatomischen Untersuchung zu überlassen, wurde ihm dieses verweigert.

Die Hinrichtungsurkunde mußte der Kronprinz Friedrich unterzeichnen, der die Stellvertretung des Kaisers übernommen hatte, nachdem dieser mittlerweile durch das am 2. Juni erfolgte Nobilingsche Attentat schwer verwundet worden war. Der Kronprinz hat dann während seiner Regentschaft kein einziges Todesurteil mehr unterzeichnet, obgleich sich unter den Verurteilten ein Doppelmörder befand. Auch noch andere Symptome sprachen dafür, wie anders er die ganzen Vorgänge auffaßte.

Das erste Ausnahmegesetz.

Das Verlangen Bismarcks nach einem Ausnahmegesetzentwurf gegen die Sozialdemokratie wurde bald erfüllt. Bereits am 12. Mai traf Bismarcks Entwurf für ein Ausnahmegesetz in Berlin ein, den 14. Mai war derselbe von seiner Kanzlei fertig gestellt worden und fand seine Zustimmung. Bereits am 16. wurde derselbe vom Bundesrat genehmigt — am eifrigsten plädierte die sächsische Regierung dafür — und am 20. Mai kam er mit den Motiven an den Reichstag, der ihn schon am 23. auf seine Tagesordnung setzte.

Den Nationalliberalen war bei diesen ganzen Vorgängen nicht wohl zumute; sie fühlten instinktiv, daß Bismarck noch andere Pläne im Hintergrund habe, die sich gegen sie selbst richteten. In der preußischen Regierung waren Wandlungen vor sich gegangen, die nichts Gutes ahnen ließen. Statt des Eintritts von Bennigsen und Forckenbeck in das Ministerium, waren zwei Hochkonservative, der Graf Botho zu Eulenburg und der Graf Udo zu Stolberg-Wernigerode, derselbe, der 1909 als Präsident des Reichstags starb, berufen worden. Der freihändlerische liberale Finanzminister v. Camphausen hatte ebenfalls seinen Abschied nehmen müssen und kam an seine Stelle der charakterschwache nationalliberale Hobrecht. Ebenso mußte der liberale Kultusminister Falk, der Verfasser der Maigesetze gegen das Zentrum und des einzig liberalen Gesetzes aus dem Kulturkampf, des Gesetzes über die Einführung der Zivilstandsregister, das Feld räumen, was eine große Konzession an das Zentrum bedeutete. Die Nationalliberalen hatten also alle Ursache zum Mißtrauen.

Nach der sechs Paragraphen umfassenden Sozialistengesetzvorlage konnten Drucksachen und Vereine, welche die Ziele der Sozialdemokratie verfolgten, vom Bundesrat verboten werden. Dem Reichstag mußte, sobald derselbe versammelt war, Mitteilung von den Verboten gemacht werden. Ein Verbot mußte außer Kraft gesetzt werden, wenn der Reichstag dies verlangte. Die Polizeibehörden konnten die Verbreitung von Druckschriften auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder anderen öffentlichen Orten vorläufig verbieten. Das Verbot sollte erlöschen, wenn nicht innerhalb vier Wochen die Druckschrift seitens des Bundesrats verboten wurde. Das Verbot und die Auflösung von Versammlungen war ganz und gar in die Hände der Polizei gelegt. Berufung sollte es hiergegen nicht geben. Die Zuwiderhandlungen gegen die Verbote sollten mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft werden. Die Beschlagnahme einer Druckschrift sollte ohne richterliche Anordnung vorgenommen werden können. Vorsteher von verbotenen Vereinen, Unternehmer und Leiter von verbotenen Versammlungen und diejenigen, die ein Lokal für einen verbotenen Verein oder eine verbotene Versammlung hergaben, sollten mit einer Mindeststrafe von nicht unter drei Monaten belegt werden. Das Gesetz sollte für einen Zeitraum von drei Jahren Gültigkeit haben.

In der Annahme, die Fraktion werde bei Beratung der Vorlage durch einen ihrer Redner gegen dieselbe scharf ins Zeug gehen, schrieb ich Motteler unter dem 20. Mai aus dem Gefängnis:

„Da die Einbringung der Ausnahmemaßregel Tatsache ist, so mag derjenige, der von unserer Seite dazu zum Wort kommt, nicht vergessen, daß seine Rede in einigen hunderttausend Exemplaren verbreitet werden muß. Auch ist zu beachten, daß im Falle der Ablehnung der Vorlage der Reichstag ausgelöst wird, wir also vor einer Wahlkampagne stehen und dann diese Rede ihre Dienste leisten muß. Also vor allen Dingen alles, was auf den Täter Bezügliches in unseren Händen ist, Punkt für Punkt erörtert.

  Das Sonntag-Morgenblatt der Frankfurter Zeitung bringt einen guten
  Leitartikel, den ich Euch zur Beachtung empfehle. Der Gesetzentwurf
  grenzt an Wahnsinn.“

Die Fraktion hatte aber nach längerer Beratung beschlossen, durch
Liebknecht eine Erklärung abgeben zu lassen und sich an den weiteren
Verhandlungen nicht zu beteiligen.

Die Beratung im Reichstag wurde eingeleitet mit einer kurzen Rede des
Grafen zu Eulenburg. Dann erhielt Liebknecht das Wort zu folgender
Erklärung:

„Der Versuch, die Tat eines Wahnwitzigen, noch ehe die gerichtliche Untersuchung geschlossen ist, zur Ausführung eines lang vorbereiteten Reaktionsstreichs zu benutzen und die „moralische Urheberschaft“ des noch unerwiesenen Mordattentats auf den deutschen Kaiser einer Partei aufzuwalzen, welche den Mord in jeder Form verurteilt und die wirtschaftliche und politische Entwicklung als von dem Willen einzelner Personen ganz unabhängig auffaßt, richtet sich selbst so vollständig in den Augen jedes vorurteilslosen Menschen, daß wir, die Vertreter der sozialdemokratischen Wähler Deutschlands, uns zu der Erklärung gedrungen fühlen:

Wir erachten es mit unserer Würde nicht vereinbar, an der Diskussion des dem Reichstage heute vorliegenden Ausnahmegesetzes teilzunehmen und werden uns durch keine Provokationen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, in diesem Beschluß erschüttern lassen. Wohl aber werden wir uns an der Abstimmung beteiligen, weil wir es für unsere Pflicht halten, zur Verhütung eines beispiellosen Attentats auf die Volksfreiheit das Unserige beizutragen, indem wir unsere Stimmen in die Wagschale werfen.

  Falle die Entscheidung des Reichstags aus wie sie wolle — die deutsche
  Sozialdemokratie, an Kampf und Verfolgungen gewöhnt, blickt weiteren
  Kämpfen und Verfolgungen mit jener zuversichtlichen Ruhe entgegen, die
  das Bewußtsein einer guten und unbesiegbaren Sache verleiht.“

Nach Liebknecht nahm Bennigsen das Wort. Er hielt eine Rede, die ich für die beste ansehe, die er bis dahin gehalten hatte; sie zeigte, daß er auch anders konnte und daß er vermochte, die Dinge auch von einem höheren Standpunkt, als er bisher bei den nationalliberalen Rednern zur Geltung kam, zu beurteilen. Es sei die Ansicht laut geworden, führte er unter anderem aus, die Regierung habe die Vorlage eingebracht, obgleich sie wisse, daß sie abgelehnt werde. Er erwarte, daß diese Ansicht dementiert werde. Er wies auf die Unsicherheit und die schwankenden Verhältnisse in der Regierung hin, die niemals so schlimm gewesen seien wie jetzt. In Preußen sei die Ministerkrise in Permanenz. Wolle man diktatorische Gewalt, müsse man vor allen Dingen wissen: wer übt sie aus? Seine Partei könne kein Ausnahmegesetz wie das verlangte bewilligen, die Geschichte zeige, wohin diese führten und daß sie nichts nützten. Er machte darüber längere historische Betrachtungen. Weiter sprach er sich im Laufe der Rede für das Aufhören des Kulturkampfes aus. Das war der müde Mann, der einen Kampf beendigt zu sehen wünschte, bei dem bisher die sogenannten Kulturkämpfer keine Seide gesponnen hatten, obgleich einstmals er und seine Freunde diesen Kampf unter Führung Bismarcks mit Jubel begrüßt und durchgefochten hatten. Schließlich erbot er sich, auf dem Boden des gemeinen Rechtes im nächsten Jahre eine Vorlage durchbringen zu helfen, die die bürgerliche Freiheit mit gesetzlicher Ordnung und fester Autorität im öffentlichen Leben für alle Klassen vereinige.

Er erbot sich also jetzt zu dem, was er und seine Freunde zwei Jahre früher mit guten Gründen abgelehnt hatten. Das war wieder ganz nationalliberal. Aber die Ereignisse schritten über diese Vorsätze hinweg und zwangen Bennigsen und seine Freunde, doch zu tun, was sie augenblicklich ablehnten.

Nach zweitägiger Verhandlung wurde § 1 der Vorlage mit 243 gegen 60 Stimmen bei 6 Enthaltungen abgelehnt. Noch stimmte das Zentrum geschlossen gegen die Vorlage; von den Nationalliberalen erklärten sich die Professoren Beseler, Gneist und v. Treitschke dafür. Nach diesem Resultat zog die Regierung die Vorlage zurück.

War das Ausnahmegesetz einstweilen gefallen, so veranlaßte nunmehr Graf zu Eulenburg durch einen Erlaß vom 1. Juni an die Polizeibehörden diese zu scharfem Einschreiten gegen die Partei. „Es sei Pflicht, der sozialdemokratischen Agitation entschieden entgegenzutreten und zu diesem Zwecke von den zu Gebote stehenden gesetzlichen Mitteln, unter sorgfältiger Einhaltung der durch die Gesetze gezogenen Schranken, innerhalb derselben aber bis an die Grenze des Zulässigen Gebrauch zu machen.“

Einer solchen Aufforderung bedurfte es nicht erst. Die Polizei zeigte überall den größten Eifer für ihre staatsretterische Tätigkeit und Staatsanwälte und Richter nicht minder.

Das Nobiling-Attentat und seine Wirkung.

Ich war Ende Mai aus der Haft entlassen worden. Am 2. Juni, einem Sonntag, machte ich mit Frau und Kind einen Spaziergang, von dem wir nach 7 Uhr abends zurückkehrten. Kaum waren wir zu Hause angekommen, so trat die Schwester des Rechtsanwalts Freytag in großer Eile in unsere Wohnung und fragte aufgeregt, ob wir nicht wüßten, was passiert sei? Wir wohnten in der äußeren Stadt, wohin Nachrichten, namentlich am Sonntag, nicht rasch drangen. Ich verneinte die Frage. Darauf stellte Fräulein Freytag weiter die Frage: „Kennen Sie einen Dr. Nobiling? Derselbe hat heute nachmittag auf den Kaiser geschossen und ihn schwer verwundet.“ Ich war sprachlos, wie vom Blitz getroffen. Ich antwortete, der Name Nobiling sei mir nicht bekannt, ich hielt für ausgeschlossen, daß er zur Partei gehöre. Beruhigt entfernte sich die junge Dame.

Am nächsten Morgen eilte ich auf die Redaktion des „Vorwärts“, um zu hören, was man dort wisse und wie man den Fall beurteile. Ein öffentlich angeschlagenes Telegramm enthielt kein Wort davon, daß Nobiling der Sozialdemokratie angehöre. Erleichtert atmete ich auf und trat in die Redaktion mit den Worten ein: „Na, den können sie uns nicht an die Rockschöße hängen.“ Liebknecht, Hasenclever und alle übrigen Anwesenden waren mit mir der gleichen Ansicht, niemand kannte den Attentäter, keiner hatte vorher auch nur seinen Namen gehört. In beruhigter Stimmung verließ ich die Redaktion, mußte aber nach wenigen Minuten wieder umkehren, weil mittlerweile ein zweites Telegramm veröffentlicht worden war, in dem es hieß: Nobiling habe in seiner ersten Vernehmung bekannt, er sei Sozialdemokrat und habe Mitschuldige. Wir alle waren sprachlos.

Diese Angaben des Wolffschen Telegraphenbureaus erwiesen sich nachher, wie viele andere Nachrichten gleicher Art, die damals mit größter Geflissentlichkeit verbreitet wurden, als grobe Unwahrheiten und Fälschungen. Aber sie erreichten im vollsten Maße ihren Zweck. Die öffentliche Meinung, die schon durch die am 1. Juni eingetroffene Nachricht aufs höchste erregt worden war, daß der „Große Kurfürst“, eines der größten Schiffe der damaligen deutschen Flotte, bei hellem Tage infolge einer Kollision mit einem anderen Schiffe mit fast fünfhundert Köpfen Besatzung angesichts der englischen Küste untergegangen sei, geriet über das zweite Attentat in Siedehitze.

Als bei Bismarck die Nachricht eintraf, rief er frohlockend: Jetzt habe ich die Kerle — die Nationalliberalen —, jetzt drücke ich sie an die Wand, daß sie quietschen; dann erst erkundigte er sich nach dem Befinden des durch die Nobilingsche Schrotflinte schwer verwundeten Kaisers. Die Auflösung des Reichstags und infolgedessen Neuwahlen standen nunmehr in sicherer Aussicht, durch die er eine Mehrheit zusammenzubekommen hoffen durfte, die ihm sowohl ein Ausnahmegesetz gegen uns wie neue Einnahmen durch die einzuführende Schutzzollpolitik gewährte.

Nobiling hatte den Schuß auf den Kaiser aus dem Fenster eines Hauses Unter den Linden, woselbst er sich eingemietet hatte, abgegeben. Er selbst hatte danach durch zwei Fehlschüsse einen Selbstmordversuch gemacht. Ein Offizier, der sich unter den Personen befand, die nach dem Schuß auf den Kaiser in Nobilings Wohnung eindrangen, hatte ihm mit einem Säbelhieb eine schwere Kopfwunde beigebracht. Nobiling war zunächst besinnungslos und vollkommen vernehmungsunfähig. Festgestellt wurde, daß er vor Jahren Landwirtschaft in Leipzig studiert hatte und dort im Seminar des Professors Birnbaum, eines unserer schlimmsten Gegner, sich bei den Debatten als heftiger Widersacher unserer Partei gezeigt hatte. Von Leipzig war er nach Dresden gegangen, wo er das Seminar des Professors Böhmert besuchte, der gleichfalls ein eifriger Gegner der Sozialdemokratie war. In Dresden zeigte sich Nobiling wiederholt in Versammlungen, in denen er als Gegner unserer Partei Reden hielt, wodurch ihn unsere Parteigenossen dort, wie Vollmar, Schlüter, Paschky usw., kennen lernten. Diese machten nachher in der Untersuchung wider Nobiling Zeugenaussagen, nach denen er ein unbedeutender Mensch und großer Wirrkopf war. Er hatte mit der Partei noch weniger zu tun gehabt als Hödel. Mehrfach wurden Stimmen laut, die die Ansicht vertraten, daß Nobiling zu seiner Tat erst angeregt worden sei durch die Art, wie ein großer Teil der Presse sich mit der Person Hödels beschäftigte, dessen Porträt zum Beispiel von einem Familienblatt in einem Prachtholzschnitt dargestellt wurde. Die Meinung, daß man es auch in Nobiling mit einem geistig kranken Menschen zu tun habe, war weit verbreitet. So schrieb selbst die freikonservative „Post“, allezeit eine der gehässigsten Gegnerinnen der Sozialdemokratie: Bei allen Antworten, die Nobiling gebe, umspiele ein eigentümliches Lächeln seine Lippen, das auf Geistesstörung schließen ließe. Und dem Redakteur der „Germania“, Majunke, gegenüber hatte der Untersuchungsrichter Nobilings geäußert: „Das Bild, das die Zeitungen über Nobiling ausmalen, ist ganz und gar unzutreffend, er ist nichts weniger als intelligent, er ist noch dümmer als Hödel.“ Als Nobiling am 10. September im Gefängnis starb, war nicht der geringste Beweis erbracht, daß die Sozialdemokratie direkt oder indirekt mit dem Attentäter in Verbindung gestanden oder sein Handeln beeinflußt hatte.

Für die Hetzer, die um jeden Preis die beiden Attentate für ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie ausnutzen wollten, waren alle diese Feststellungen nicht vorhanden. Bismarck mißbrauchte den gewaltigen Einfluß, den er mit Hilfe des Reptilienfonds auf einen großen Teil der Presse ausübte, um die Bevölkerung zum fanatischsten Hasse gegen die Sozialdemokratie aufzupeitschen. Und dieser Presse schlossen sich alle an, die an einer Niederlage der Sozialdemokratie ein Interesse hatten, insbesondere ein großer Teil der Unternehmerschaft. Die Partei hieß im gegnerischen Lager nur noch die Partei der Meuchelmörder, der Allesruinierer, die der Masse den Glauben an Gott, Königtum, Familie, Ehe und Eigentum raube. Diese Partei zu bekämpfen und sie, wenn möglich, zu vernichten, erschien diesen Gegnern als die glorreichste Tat. Tausende und aber Tausende von Arbeitern, die als Sozialdemokraten bekannt waren, wurden auf die Straße geworfen. In den Annoncenteilen der Zeitungen erschienen Erklärungen, wodurch die Arbeiter sich verpflichteten, fernerweit weder einer sozialdemokratischen Organisation anzugehören, noch sozialdemokratische Blätter zu halten und zu lesen, noch Geld für sozialdemokratische Bestrebungen zu opfern. Dieser Unternehmerterrorismus war so stark, daß unsere Parteizeitungen die Anhänger der Partei aufforderten, sie sollten jede gewünschte Erklärung unterzeichnen, sie könnten nachher doch tun, was sie wollten, einem solchen Terrorismus gegenüber gebe es kein Worthalten. Der Terrorismus und der damit verbundene Boykott gingen noch weiter: Patriotische Hausherren kündigten ihren sozialdemokratischen Mietern, Wirte, die jahrelang froh waren, Sozialdemokraten zu ihren Kunden zu zählen, forderten jetzt diese auf, ihre Lokalitäten zu meiden. In Leipzig hatten die Redakteure des „Vorwärts“ und der „Neuen Welt“ — Liebknecht, Hasenclever, Geiser — die Gewohnheit, nach Schluß der Redaktion am Nachmittag in einem bestimmten Lokal einen „Frühschoppen“ zu trinken. Der Wirt ließ ihnen nunmehr sagen, daß er auf ihren Besuch gern verzichte. Aehnliche Vorgänge wiederholten sich auch gegenüber den Redakteuren der „Berliner Freien Presse“ und anderwärts.

In Schwerin warf man dem alten Demmler an zwei Nächten hintereinander die Fenster ein, was den vierundsiebzigjährigen Mann so aufregte, daß er auf einige Zeit Schwerin verließ und die weitere Annahme einer Kandidatur für den Reichstag ablehnte. Alle diese Ausbrüche fanatischer Roheit und politischen Wahnsinns genügten aber den „Patrioten“ noch nicht, um ihre Verfolgungswut zu befriedigen. Es entstand eine Sintflut von Denunziationen wegen wirklichen und angeblichen Majestätsbeleidigungen. In zahlreichen Fällen wurde gerichtlich konstatiert, daß gemeine Rachsucht wegen verletzter Privatinteressen die Denunzianten zu ihrem Vorgehen leitete. Das hinderte aber nicht, daß die härtesten Bestrafungen ausgesprochen wurden. Ein großer Teil der Richter war ebenfalls vom Verfolgungsparoxysmus befallen, und so verkündeten sie Strafen von ein, zwei, drei bis zu fünf Jahren Gefängnis, der Maximalstrafe, die das Gesetz zuließ. Aeußerungen, die vordem keinen Staatsanwalt auch nur einen Augenblick aus seiner Ruhe aufgescheucht haben würden, wurden jetzt als Kardinalverbrechen angesehen und aufs härteste bestraft.

Anfang Juli schrieb die fortschrittliche „Vossische Zeitung“: „Nachdem wir über die auswärtigen Verurteilungen (wegen Majestätsbeleidigung) in einer Gesamthöhe der erkannten Strafen von 500 bis 600 Jahren berichtet haben, widerstrebt es uns, die traurige Liste weiterzuführen.“ Was sollte man aber zu Richtern sagen, die ganz und gar vergessen hatten, was sie ihrem Amte schuldig waren? In zwei Monaten wurden 521 Personen zu rund 812 Jahren Gefängnis verurteilt. Nur ein kleiner Teil der Verurteilten war sozialdemokratisch gesinnt. Auch die Polizeibehörden waren, wie immer bei solchen Gelegenheiten, wie von Sinnen und veranstalteten Haussuchungen und veranlaßten Verhaftungen auf jede vage Vermutung hin. Die allermeisten der Verhafteten mußten nach kurzer Zeit wieder entlassen werden.

Hatte bereits im Mai der Senat zu Hamburg die Abhaltung eines allgemeinen deutschen Gewerkschaftskongresses untersagt, so verbot Anfang Juni der Stadtrat zu Gotha die Abhaltung des deutschen Sozialistenkongresses, und ähnlich verfuhren die Behörden vielfach gegen Vereine und Versammlungen. Wiederholt wurden uns Aeußerungen aus maßgebenden Kreisen zugetragen, wie die: Die Sozialdemokratie müsse so geknebelt und an die Wand gedrückt werden, daß sie aufmucke und man schießen könne. Das veranlaßte die „Berliner Freie Presse“ zu der Ankündigung: „Seid vorsichtig und habt acht, man will schießen.“ Trotz alledem kündigten eine Anzahl Parteiblätter ihre Vergrößerung mit dem 1. Juli an. Die Zahl der Abonnenten der „Berliner Freien Presse“ war seit Neujahr von 10000 auf 14000 gewachsen. Ende September 1878 hatte aber auch die „Berliner Freie Presse“ sechs Redakteure hinter Schloß und Riegel, darunter Richard Fischer, der als junges Kerlchen die Aufnahme in den Bund der Geächteten mit sieben Monaten Gefängnis zu bezahlen hatte.

* * * * *

Für mich und unser Geschäft hatte die allgemeine Hetze ganz besonders mißliche Folgen. Ich war genötigt, nach meiner längeren Haft endlich eine Geschäftsreise zu unternehmen. Dieselbe sollte nach Nordwestdeutschland und dem Unterrhein vor sich gehen, Länderstrecken, die ich bisher zum größten Teil geschäftlich noch nicht besucht hatte. Das war im gewissen Sinne mein Glück. Ich war in jenen Gegenden persönlich nur sehr wenig bekannt und konnte es so riskieren, in den Hotels unter angenommenem Namen zu wohnen, da ich unter meinem eigenen Namen nirgends als Gast geduldet worden wäre. Tag für Tag war ich an der Wirtstafel Augen- und Ohrenzeuge, wie die Gäste in Ausdrücken grenzenlosen Hasses sich gegen die Partei und speziell auch gegen meine Person ergingen. Wäre ich erkannt worden, es wäre zu den schlimmsten Szenen gekommen. Aehnlich erging es mir aber auch bei dem Besuch der Geschäftsleute, denen ich unsere Fabrikate zum Kauf anbot. Den ersten Besuch machte ich bei einem Kaufmann in Halle a.S. Demselben gefielen unsere Artikel und er gab mir einen namhaften Auftrag. Sobald ich ihm aber unsere Geschäftskarte überreichte und er den Namen der Firma las, erklärte er schroff: Mit dieser Firma arbeite ich nicht, annullieren Sie meine Bestellung. Und so erging es mir häufig. Andere wieder lehnten, ohne irgendeine Bemerkung zu machen, eine Bestellung zu geben ab. Ich machte so schlechte Geschäfte, daß, als ich nach sechs Wochen nach Hause zurückkehrte, froh war, das Erlebte hinter mir zu haben, da ich aus den Verkäufen unserer Artikel nicht einmal die Reisespesen gedeckt hatte, obgleich ich diese aufs niedrigste zu halten suchte und zu diesem Zwecke in den einzelnen Orten selbst meinen neun Kilo schweren Musterkoffer Straße auf, Straße ab bei Regen und glühendem Sonnenschein trug, um keinen Trägerlohn ausgeben zu müssen.

Die Reichstagswahl von 1878.

Wieder nach Hause gekommen, stürzte ich mich in die Wahlagitation. Bismarck, der es auch hier wieder verstand, das Eisen zu rechter Zeit zu schmieden, und den die Attentate aus allerlei inneren Wirrnissen befreit hatten, hatte im Bundesrat den Antrag auf Auflösung des Reichstags gestellt, dem der Bundesrat am 12. Juni Folge leistete. Die Wahlen wurden auf den 30. Juli 1878 angesetzt.

Wenn es Bismarck nur um ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zu tun gewesen wäre, so hätte er dieses auch ohne Auflösung des Reichstags bekommen. Nach dem Nobilingattentat versicherte die gesamte nationalliberale Presse und bei den verschiedensten Gelegenheiten auch die Abgeordneten der Partei, daß sie jetzt bereit seien, ein scharfes Ausnahmegesetz gegen uns zu bewilligen.

Damit war aber Bismarck allein nicht mehr gedient. Er war entschlossen, die Macht der Nationalliberalen zu brechen; ihren Ansprüchen, erklärte er, könne keine Regierung gerecht werden. Und wie bescheiden waren diese Ansprüche doch immer gewesen. Er veranlaßte die Veröffentlichung einer förmlichen Programmerklärung, in der er mit der herrschenden, angeblich dem Freihandel dienenden Wirtschaftsordnung vollständig brach. Das bisherige Vorherrschen von Juristen, Beamten und Gelehrten, von Leuten ohne produktive Beschäftigung hätten dem Parlament eine unpraktische Richtung gegeben. Der Parteihaß, der Machtstreit der Fraktionen, der Ehrgeiz ihrer Führer veranlasse, daß die Zeit mit oratorischen Schaustellungen vergeudet werde. Die Mehrzahl habe keinen produktiven Beruf, sie treibe weder ein Gewerbe noch Handel, weder Industrie noch Landwirtschaft. Die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen läge in den Händen solcher, die von Gehalt, Honorar, von Diäten (die damals der Reichstag noch nicht erhielt. A.B.), vom Preßgewerbe oder von zinstragenden Papieren lebe. Usw.

Die Philippika ließ an Deutlichkeit, aber auch an Grobheit nichts zu wünschen übrig. Die Beamten, die den Wahlkampf beeinflussen konnten, wußten nun, woran sie waren, und handelten danach.

Der Wahlkampf entbrannte mit einer bisher nicht gekannten Heftigkeit. Die Bismarcksche Wahlparole verhinderte nicht, daß alle bürgerlichen Parteien den Kampf gegen uns als ihre vornehmste Pflicht ansahen. „Die Sozialdemokratie muß aus dem Reichstag hinaus. Kein Sozialdemokrat darf mehr gewählt werden“, wurde die Losung auch in der fortschrittlichen Presse. Und obgleich für jeden sichtbar war, was Bismarck im Schilde führte, und er nicht bloß unsere Vernichtung, sondern auch die Schwächung der Liberalen erstrebte, brachte es der Führer der Fortschrittspartei, Eugen Richter, fertig, als im Erfurter Wahlkreis der sozialdemokratische mit dem konservativen Kandidaten in engerer Wahl stand, seinen Parteigenossen die Wahlparole zu telegraphieren: Lieber Lucius (konservativ) als Kapell (der Sozialdemokrat). Sein Haß gegen uns machte ihn gegen die selbstverständlichsten Regeln der Wahltaktik blind, denn der Sozialdemokrat war so gut wie die Liberalen Gegner der Bismarckschen Wirtschaftspolitik, und der Zukunftsstaat stand nicht in Frage.

Ich kandidierte wieder in Dresden und in Leipzig. Mir gegenüber standen in Dresden der Freiherr v. Friesen, Minister a.D., und ein fortschrittlicher Kandidat. Ich erhielt im ersten Wahlgang 9855, v. Friesen 7266, Walther (Fortschrittler) 5410 Stimmen. Es kam zur engeren Wahl zwischen mir und v. Friesen, die der Wahlkommissär auf den 9. August, an welchem v. Friesen seinen siebzigsten Geburtstag feierte, ansetzte. Offenbar rechnete man mit meiner sicheren Niederlage. Aber ich siegte, und zwar mit 11616 über 10702 Stimmen. In Leipzig erhielt ich 5822 Stimmen, 600 mehr als bei der vorhergehenden Wahl. Außer mir waren schließlich von der Partei gewählt: Bracke-Glauchau-Meerane, Fritzsche-Berlin, Hasselmann-Barmen-Elberfeld, Kayser-Oederan-Freiberg (Sachsen), Liebknecht-Stollberg-Lugau, Reinders-Breslau, Vahlteich-Mittweida-Limbach, Wiemer-Annaberg-Zschopau (Sachsen). Also neun Abgeordnete, von denen nur zwei, Bracke und Liebknecht, in der Hauptwahl gewählt worden waren.

Mit dem Hinauswurf der Sozialdemokratie aus dem Reichstag war es also nichts. Aber auch in bezug auf die Stimmenzahl schnitten wir günstiger ab, als wir nach der furchtbaren Hetze gegen uns hoffen durften, denn in einer Anzahl Wahlkreise war der gegnerische Terrorismus so stark, daß wir keine Agitation betreiben konnten. Es wurden bei der Hauptwahl für die Partei 437158 Stimmen abgegeben, gegen 493447 bei der Wahl im Januar 1877. Das war ein Verlust von 56389 Stimmen und drei Mandaten. Die Gegner waren sehr unzufrieden mit diesem Resultat.

Das Gesamtresultat der Wahlen war, wie vorauszusehen, ein Sieg Bismarcks. Die Nationalliberalen sanken von 137 auf 106 Mandate, die Fortschrittspartei von 39 auf 26. Die Konservativen hatten ihre Mandate entsprechend vermehrt, das Zentrum erhielt ebenfalls einige Mandate mehr.

Bismarck hatte jetzt für seine Politik zwei Mehrheiten zur Verfügung. Eine nationalliberal-konservative Mehrheit für ein Ausnahmegesetz gegen uns und eine Mehrheit aus Konservativen und Zentrum, der sich der rechte Flügel der Nationalliberalen anschloß, für seine Zollpolitik. Die neue Aera mit der politischen Entrechtung der klassenbewußten Arbeiter und der Belastung der Massen durch die Zollpolitik konnte nunmehr in Szene gesetzt werden. Der neue Reichstag wurde zur Beschlußfassung über das Sozialistengesetz auf den 9. September nach Berlin berufen.

Das Spiel konnte seinen Anfang nehmen. Es sollte eine Tragödie werden, in der die Sozialdemokratie für die monarchisch-kapitalistischen Interessen als Opferstier bestimmt war, um den todsicheren Keulenschlag zu erhalten. Aber es kam auch diesmal, wie so oft schon, anders. Der Herkules, der uns mit seiner Keule erschlagen sollte, fiel selbst nach zwölf Jahren eines für ihn ruhmlosen Kampfes mit dem verhaßten Gegner und deckte mit seiner Leiche das Blachfeld.

End of Project Gutenberg's Aus meinem Leben - Zweiter Teil, by August Bebel