The Project Gutenberg eBook of Aus tiefem Schacht

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Title: Aus tiefem Schacht

Author: Fedor von Zobeltitz

Release date: May 15, 2010 [eBook #32391]

Language: German

Credits: Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS TIEFEM SCHACHT ***

Aus tiefem Schacht

Roman von

Fedor von Zobeltitz

Stuttgart 1915

Verlag von J. Engelhorns Nachf.

Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart

[5] Erstes Kapitel

Hedda stand mitten unter dem Hühnervolk und sah mit andächtiger Miene zu, wie die Magd das Futter auswarf. Der Hühnerhof war ihre besondere Vorliebe, und für ihn verschwendete sie reuelos, was von den Erträgnissen der kleinen Wirtschaft übrig blieb. Es gab da allerhand sonderbares Getier, das mit unserm braven deutschen Haushuhn nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit hatte und das Hedda aus weither bezogenen Eiern hatte ausbrüten lassen: ganz kleine, zierliche Geschöpfe mit bronzefarbenem Gefieder und wieder riesengroße, mit breiten Federlappen an den Füßen und buschigem Kamme, Perlhühner und solche aus Cochinchina, Liliputaner aus Java und ähnliche Arten, die sich nicht leicht züchten ließen und zärtlich behandelt sein wollten.

Dörthe streute die Körner mit der rechten Hand unter das gackernde Volk, während sie mit der Linken die Futterschwinge hielt. Die Verehrung für das Hühnervolk hatte sie von ihrer Herrin geerbt; das frische, sonnenbraune, bildhübsche Gesicht der Dirne strahlte vor Vergnügen.

„Der große Gottlieb frißt uns noch tot,“ sagte sie, lachend ihre blanken Zahnreihen zeigend. „Nee gnä’ges Fräulein – was der fressen kann!! Und den Zwerghühnern nimmt er immer ihr bißchen Futter weg; man merkt, daß er ausländ’sch ist.“

Hedda nickte. „Er ist nur gegen die eigne Art galant,“ erwiderte sie; „die Menschen machen’s nicht anders.“

Dann fragte sie nach dem Vater Dörthes. Der war Stellmacher unten im Dorfe und hatte sich kürzlich eine leichte Lungenentzündung geholt. Aber es ging ihm schon besser; der Doktor war dreimal dagewesen – nun brauchte er nicht mehr zu kommen. [6]Morgen oder übermorgen konnte der alte Klempt wieder an die Arbeit gehen.

„Hat er denn viel zu tun?“ fragte Hedda.

„O ja, gnä’ges Fräulein,“ entgegnete Dörthe lebhaft und klappte die Futterschwinge aus, damit auch nicht das letzte Körnlein verloren gehe. „Seit Kommerzienrats drüben wohnen, könnte er sechs Arme haben. Da gibt’s immerwährend was!“

Sie trieb die Hühner davon, die sie noch immer umringten und an ihr emporzuflattern versuchten.

Hedda schritt quer über den Wirtschaftshof und trat in den kleinen Vorderpark, in dem das Rosenrundell in voller Blüte stand. Es war in der fünften Nachmittagsstunde und noch ziemlich heiß. Aber das junge Mädchen spürte von der Hitze nicht viel. Hedda behauptete, ihr kühles Herz temperiere sie so völlig, daß sie gegen jede sommerliche Bosheit geschützt sei. Sie gehörte zu jenen blonden Schönheiten, die in der Tat eine beständige Frische auszuströmen scheinen. Obwohl sie erst Anfangs der Zwanzig war, machte sie doch einen reiferen Eindruck. Mit ihrer großen, stattlichen Gestalt und der vollen Büste hätte man sie für eine junge Frau halten können.

Auf der glasüberdachten Veranda des Herrenhauses blieb sie stehen und schaute hinab auf das Dorf. Der Baronshof lag auf einer Anhöhe. Man erzählte sich, der Großvater des jetzigen Besitzers, des Freiherrn von Hellstern, habe ihn auf derselben Stelle erbaut, auf der ehemals das alte Schloß gestanden habe. Das kannte man freilich nur noch der Sage nach. Den Hellsterns war es ergangen wie manch anderm alten Geschlechte. Die Ahnen hatten nichts übrig gelassen für die Nachkömmlinge. Freilich – der Letzte im Mannesstamme hatte sich lange und bitter genug gewehrt gegen den Untergang, mit Kraft und mit Zähigkeit, mit hartem Schädel und beiden Fäusten. Aber schließlich hatte er doch den aussichtslosen Kampf aufgeben und die Waffen strecken müssen. Das war mit vollen Ehren geschehen, und die Leute [7]sagten, er könne noch froh sein, daß Kommerzienrat Schellheim ihm seinen Landbesitz abgekauft habe, und daß der Baron nun in Frieden seine alten Tage auf der Scholle seiner Väter verleben könne. Denn Herrenhaus und Hof hatte er behalten; der Kommerzienrat legte keinen Wert auf die halbverfallenen Baulichkeiten – er wohnte drüben in seinem neuen Schloß, das mit glänzenden Fensterreihen vom Auberge hinab zum Tale grüßte.

Hedda hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Im Sonnendunst des Tages verschwamm der kaum eine Wegstunde entfernte Auberg mit seiner modernen Ritterburg in bläulich-grauen Nebelschleiern. Die ganze Umgebung war reich an Wald und Höhen. Die Landschaft erinnerte mehr an Thüringen als an die vielgeschmähte Streusandbüchse des heiligen römischen Reichs. Dunkle Linien begrenzten in unregelmäßigen Kurven den Horizont: weit ausgedehnte Kiefernforsten, die mit wunderschön gepflegten, unter fiskalischer Verwaltung stehenden Buchen- und Eichenwaldungen wechselten. Durch die breite Talmulde, in deren Mitte das Dorf Oberlemmingen lag, rann ein Nebenfluß der Oder, die kleine Barbe, die aber zur Zeit der Schneeschmelze gar stattlich anwachsen konnte. Sie trennte das Tal in zwei ziemlich gleiche Hälften, und hüben und drüben wuchsen aus flacher Sohle zwei Anhöhen empor, der Auberg und der Lemminger Zacken, auf dem der Baronshof lag.

Hedda trat in das Haus. Es war ein alter, viereckiger Kasten mit hohem, schrägem Ziegeldach, so wie man zu friderizianischer Zeit auf dem Lande zu bauen pflegte. Und es war schon richtig: man spürte überall, daß das Gebäude arg vernachlässigt worden war. Ställe und Scheunen hatte der Freiherr stets in sauberster Ordnung gehalten, aber für das Herrenhaus tat er nicht viel. Er war nicht verwöhnt, war mehr eine soldatische Natur. Es war ihm herzlich gleichgültig, daß die alten Ledertapeten im Speisezimmer [8]immer schwärzer wurden, und daß in den Korridoren der Putz von der Decke fiel – auch jetzt noch, wo er durch den Verkauf seines Landbesitzes wenigstens ein sorgenloses Auskommen hatte. Es gab immer einen kleinen Kampf zwischen ihm und Hedda, wenn die letztere Handwerker ins Haus bestellte, um die notwendigsten Ausbesserungen vornehmen zu lassen.

Das Zimmer, das Hedda bewohnte, war das freundlichste auf dem ganzen Baronshofe. Es lag im ersten Stockwerk, nach hinten hinaus, mit dem Ausblick auf den schönsten Teil des Parks, war groß, luftig und sonnig und mit dem bunten Komfort eines Backfischchens eingerichtet, das sich sein Heiligtum nach Möglichkeit hübsch zu machen sucht.

Die ganze Seite einer Wand nahm ein breites, tannenes Büchergestell ein. Auf diese ihre Bücher war Hedda stolz. Es waren die Reste einer stattlichen Sammlung, die einst ihr Urgroßvater, einer der Generale des großen Friedrich, zusammengebracht hatte, meist französische Geschichts- und Memoirenwerke, in die sich Hedda in ihren freien Abendstunden zu vertiefen pflegte, ohne Kritik und mit kindlicher Naivität über die tollsten und albernsten Klatschgeschichten fortlesend. Zuweilen schaffte sie sich auch von ihren Ersparnissen einiges Neue an, aber sie hatte wenig Sinn für das Moderne; die Ritterromane Florians interessierten sie mehr als die Belletristik der Zeitgenossen.

Hedda war müde. Den halben Tag über hatte sie im Hofe gewirtschaftet. Der Haushalt war nur klein, aber auch die wenigen Kühe, der Hühnerhof und der Gemüsegarten verlangten Pflege, und sie hatte nur zwei Mägde und einen alten Diener, der zugleich Knecht und Gärtner war, zur Hand. Sie hatte viel zu tun, um alles in Ordnung zu halten. Heute früh war sie schon vor fünf Uhr auf dem Posten gewesen; die „schwarze Marie“, ihre Lieblingskuh, hatte ein Kälbchen zur Welt gebracht, [9]früher, als man erwartet, und darum hatte die Dörthe ihre Herrin so zeitig geweckt.

Ja, sie war müde. Sie wollte ein wenig ausruhen. Das große Fenster auf der Südseite reichte mit seinen Glasscheiben nach italienischer Art bis auf den Fußboden und war draußen halb mannshoch mit Eisen umgittert. Es stand weit offen; schräg davor der Schreibtisch, sehr ordentlich gehalten, mit den Photographieen der verstorbenen Mutter und einiger Pensionsfreundinnen und einer Glasvase, die einen großen Buschen gelber Rosen enthielt. Hedda tauchte ihr Gesicht in die Rosen, atmete tief deren Duft ein und ließ sich dann in den mit licht geblümtem Cretonne überzogenen Lehnstuhl fallen.

Herrgott, war sie müde! Das kam nicht oft vor. Mit blinzelnden, halb geschlossenen Augen schaute sie auf den Park hinaus. Die Glut der Nachmittagssonne brütete über den Wipfeln der Bäume. Kein Windhauch ging. Auf dem fahlgrünen Rasenfleck dicht unter dem Fenster stand ein geborstener Sandsteinpfeiler mit einer Marmorplatte, auf der eine Sonnenuhr eingraviert war. Jetzt gluckte ein dickes, weißes Huhn darauf und schlief. Weiter hinten schimmerten helle Silbereschen durch das dunkle Grün der Buchen; dort senkte sich mählich das Blättermeer. Der Park fiel zum Tale ab; ein Zaun aus Eichenholz umgab ihn hier. Vom Fenster aus konnte man über Wiesen und Felder sehen. Alles war in bester Kultur; der Kommerzienrat besaß eine tätige Hand. Die Ernte stand vor der Tür; das gelbe Getreide zitterte in der Sonne.

Ein breiter, staubgrauer Landweg durchschnitt das Gelände. Dort rollte ein offener Wagen daher, der Hedda aufmerksam werden ließ. Sie stand auf, trat dicht an das Fenstergitter und spähte scharf in die Ferne.

Wahrhaftig, sie täuschte sich nicht: es war der Wagen Schellheims, – der Kommerzienrat, der erst vor wenigen Tagen aus Karlsbad zurückgekehrt war, wollte auf dem Baronshof seinen Besuch machen.

[10]Das war zu erwarten gewesen. Trotzdem fürchtete sich Hedda ein wenig davor. Ihr Vater konnte den Mann nicht leiden; man durfte kaum dessen Namen in seiner Gegenwart nennen. Es war lächerlich – Hedda nahm in dieser Beziehung dem alten Herrn gegenüber kein Blatt vor den Mund –, aber mit der Tatsache mußte gerechnet werden. Es galt, den Vater vorzubereiten.

Sie warf einen Blick in den Spiegel, ordnete hastig ihr Haar und eilte dann flinken Fußes in das Erdgeschoß hinab.

Der Baron saß bei der Arbeit – in einem großen, kahlen, gewölbten Gemach, vor einem riesenhaften Tische aus weißem Tannenholz, in dessen Platte ein Halbkreis eingeschnitten war, in den der Lehnsessel Hellsterns weit hineingeschoben wurde, wenn der Alte Platz nehmen wollte. Hellstern litt seit einigen Jahren an periodisch wiederkehrender Ischias, die ihm die Bewegung erschwerte. Er hatte sich deshalb den merkwürdigen Tisch bauen lassen, in dessen Ausschnitt er saß, ringsum von Bergen uralter Akten, Folianten und Pergamentrollen umgeben, vor sich ein Buch Papier, dessen einzelne Blätter er mit großen, groben Schriftzügen bedeckte.

Baron Hellstern war ein Sechziger mit rotbraunem, gesundem Gesicht, kurz geschorenem weißem Haar und langem, grauem Vollbart. Augenblicklich trug er eine Brille; dunkelblaue, sehr klare Augen blickten durch ihre Gläser. Trotz mäßigen Lebens und vieler, erst in letzter Zeit durch sein Leiden beeinträchtigter Bewegung hatte er schon frühzeitig das leibliche Erbe der männlichen Hellsterns übernehmen müssen: eine lästige Korpulenz. Der Baron war, wenn er aufrecht stand, eine kolossale Erscheinung – sehr groß, mit der Schulterbreite eines Enaksohns und falstaffischem Leibesumfang. In früherer Zeit hatte man Wunderdinge von seiner Körperkraft erzählt; jetzt nagte der Wurm an der nordischen Eiche.

[11]Er arbeitete. Seit er die Landwirtschaft aufgegeben, hatte er sich mit Leidenschaft auf ein andres Steckenpferd geworfen. Er schrieb im Auftrage eines Lehnsvetters, seines letzten männlichen Verwandten von der schwedischen Linie der Familie, an einer Chronik seines Geschlechts.

Schon als junger Offizier, als sein Vater noch lebte und den Baronshof bewirtschaftete, hatte er sich lebhaft für die Familiengeschichte interessiert und an Quellen dafür zusammengebracht, was er nur fand. Nach dem Verkauf seiner Ländereien begann ihn die Langweile zu packen; anfänglich nur, um seine Mußestunden auszufüllen, ging er an das Sichten und Ordnen des im Laufe der Zeit gewaltig angewachsenen Materials. Die lateinischen Codices übersetzte ihm der Pastor, bei den französischen und schwedischen Schriftstücken half ihm Hedda. Die Hellsterns oder Hellstjerns, wie sie sich ehemals schrieben, waren allerdings schwedischer Abstammung, aber seit dem Großen Kurfürsten seßhaft in der Mark. Mit den Wrangels und Sparres und Crusenstolpes waren sie dazumal nach dem Brandenburgischen gekommen. Und in der Dauer dreier Jahrhunderte hatten sie ihre Muttersprache vergessen. Nun lernten die beiden letzten Abkömmlinge jenes ersten Hellstjern, der unter dem brandenburgischen Roten Adler gedient hatte, aus Liebe zu ihrem Geschlecht noch nachträglich die einschmeichelnd klingende, melodiöse Sprache der Ahnen. Sie lernten tapfer – Hedda sowohl wie der alte Brummbär, ihr Vater, dessen Ausdauer und Zähigkeit gleich bewunderungswürdig waren wie sein ausgezeichnetes Gedächtnis. Die Akten vergangener Jahrhunderte, Ritter- und Lehnsbriefe mit ihrem antiquierten Schwedisch, machten ihnen unendlich viel Mühe; aber sie rangen sich durch und freuten sich wie die Kinder, wenn sie wieder einmal einen Berg staubiger Faszikel bewältigt hatten.

Eines Tages war der Baron auf einen guten Gedanken gekommen. Das vorhandene Material genügte [12]ihm noch nicht. Da fiel ihm ein, daß im Freiherrnkalender neben seinem Namen noch ein andrer stand, der folgendermaßen lautete: Axel Freiherr von Hellstjern, geboren 18. Juni 1865 (Sohn des Geheimen Konferenzrats Frederik Jasper v. H., Gesandten zu Kopenhagen, dann in Paris, und der Leontine, Gräfin von Hetfried), Königl. schwed. Kammerjunker, Erbherr auf Jarlsberg, Valö und Brennwolde.... Dieser junge Mann war der letzte Hellstjern von der schwedischen Linie, wie der Besitzer des Baronshofs der letzte der märkischen Linie war. Jarlsberg – das wußte der Baron – hieß das uralte Stammschloß des Geschlechts; es lag hoch oben an der Felsküste Schwedens, von weißem Meeresgischt umspült, ein Denkmal aus grauer Zeit, da man mit der Baronskrone auf dem blonden Haupt noch ungestraft seeräubern konnte. In den Archiven der Burg schlummerte vielleicht auch noch mancher litterarische Schatz, der für die Geschichte des aussterbenden Hauses von Wichtigkeit war.... Der Freiherr schrieb an den jungen Vetter. Lange blieb die Antwort aus. Dann trafen große Kisten ein, mit Büchern, Papieren und Dokumenten bis obenhin vollgestopft, und dazu ein liebenswürdiger Brief des Herrn Axel: er habe alles zusammengesucht, was er im Interesse der Chronik habe auftreiben können, und stelle es dem werten Herrn Vetter mit Freuden zur Verfügung. Ja, noch mehr: er nehme selbst einen so großen Anteil an der Familiengeschichte, daß er den Herrn Vetter bitte, irgend eine geeignete Kraft ausfindig zu machen, die jene Chronik zu Ehren des Hauses Hellstjern verfassen könne. Gern willige er in ein Honorar von zehntausend deutschen Reichsmark.

Das konnte der Axel von Jarlsberg, denn er war ungeheuer reich. Und nun gedachte der Baron, sich jene Summe selbst zu verdienen. Er hätte sich unter andern Verhältnissen sicher gegen die „Soldschreiberei“ gesträubt, aber der Gedanke an Hedda [13]und ihre Zukunft unterdrückte seinen törichten Stolz. Zudem war er mit ganzer Seele an der Sache. Er saß von früh bis zum späten Abend an seinem wunderlichen Schreibtisch, beständig rauchend und halblaut vor sich hinsprechend, blätternd, studierend, prüfend und ordnend. Das Fenster vor ihm stand immer offen, und wenn ihn draußen ein piepsendes Sperlingspaar oder ein gackerndes Huhn störte, so warf er zuweilen mit dem Wörterbuche danach; dann scholl seine Klingel durch das Haus, und August, der Diener, mußte den Sprachschatz wieder ins Zimmer holen.


„Puh,“ sagte Hedda, als sie bei dem Alten eintrat, „Vater, dein Tabak ist furchtbar! Die Pfeife qualmt ordentlich und – ich weiß nicht, riecht denn jeder Tabak so stark?“

„Der vom Kommerzienrat drüben wohl nicht,“ antwortete der Baron, ruhig weiterschreibend; „aber der hat’s auch dazu, sich Havannazigarren leisten zu können.... Hederle, es ist gut, daß du kommst. Ich werde aus der Verwandtschaft nicht klug. Die Leute heißen alle Axel, und bei den meisten folgt nicht mal ein zweiter Vorname hinterher. Hilf mir ein bißchen!“

„Nachher gern – jetzt geht’s nicht! Zupf dich ein wenig zurecht, Väterchen – Schellheims sind auf der Visitentour. Ich habe ihren Wagen vom Fenster aus erkannt ...“

Der Baron spritzte den Gänsekiel aus, dessen er sich bediente, warf ihn hin und lehnte sich im Sessel zurück.

„Sind nicht zu Hause, mein Kind,“ sagte er ruhig, nachdem er einen neuen, tiefen Zug aus seiner Pfeife genommen hatte; „August soll’s den Herrschaften melden – damit sela.“

„Nein – nicht sela,“ widersprach Hedda, setzte sich auf den Schreibtischrand und strich ihrem Vater über die Stirn. „Du wirst vernünftig sein, lieber [14]Alter. Es liegt gar kein Grund vor, die kommerzienrätliche Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen.“

„Ich kann sie nicht leiden,“ grunzte der Freiherr und zog die Nase kraus.

„Warum nicht? Weil Schellheim dir dein Gut abgekauft hat?“

„Er hat geschachert wie ein Mühlendammer!“

„Das gehört zu seinem Beruf. Er ist nun mal Kaufmann.“

„Hemdenfritze!“

„Ob einer Hemden verkauft oder Rohtabake oder goldene Manschettenknöpfe, ist gleichgültig; jeder ehrliche Erwerb verdient Achtung.“

„Ach, fang mir nur nicht wieder mit Moralpredigten an, Hederle!“ rief der Alte halb ärgerlich, halb lachend. „Was du immer für grüne Weisheit im Schnabel führst! ...“ Er rückte an seinem Stuhl. „Also meinetwegen! Um deinetwillen! Kommt er mit Gattin?“

„Weiß nicht. Aber jedenfalls! Die Dörthe erzählte, es sei Besuch auf dem Auberg. Vielleicht sind die Söhne da.“

Ein neues Grunzen des alten Herrn.

„Wappnen wir uns mit Geduld! Schick mir den August! Muß ich mich erst umkleiden?“

„Ich würde es schicklich finden, wenn der Baron Hellstern seine Gäste in –“

„Im Bratenrock empfangen wollte!“ fiel der Baron ein. „Ich lass’ schon alles über mich ergehen. Gott, diese Umstände!“

Er stöhnte, ächzte und grunzte noch lange. Aber es half ihm nicht viel. Hedda verstand, mit dem Alten umzugehen, und August auch. Der letztere war dreißig Jahre im Hause und dem Baron unentbehrlich geworden. Er stöhnte, ächzte und grunzte genau soviel wie sein Herr und konnte auch ebenso grob werden. Aber er war dabei die beste, treueste und ehrlichste Seele, eines der aussterbenden Exemplare des dienenden Geschlechts.

[15]Auf seinen beiden Krückstöcken humpelte der Baron, von Hedda gestützt, in sein Schlafzimmer. Das war ein merkwürdiger Raum, ein wahrer Tanzsaal, aber fast ohne Möbel. In der Mitte stand ein schmales, eisernes Bettgestell mit einigen Decken. An den Fenstern hingen keine Gardinen; in der Nacht schloß man die Läden von draußen, die herzförmige Öffnungen hatten und die Spuren von Schrotladungen zeigten.

August zog seinem Herrn die Flauschjoppe aus.

„Nicht so reißen, du Esel!“ brummte Hellstern.

„Das Ding ist zu eng,“ gab August unwirsch zurück. „Ich kann nicht davor, daß der Herr Baron immer dicker werden! Das Marienbader hat auch nichts genützt.“

„Weiß ich allein. Halt keine Reden!“

„Wenn der Herr Baron fragen, muß ich antworten.“

„Ich frage gar nichts! Her mit dem Rock! Es ist wahr – ich werd’ immer dicker. Hedda muß die Knöpfe noch ein Stück weiter vorsetzen. Ich kriege das Ding nicht mal mehr zu.“

„Lassen ihn der Herr Baron doch man offen stehen,“ meinte August. „Es sieht ja besser aus. Aber die gestrickte Weste würd’ ich nicht anbehalten –“

„Ich tu’, was ich will. Die Weste bleibt drunter. Ich bin kein Popanz und kein Modegigerl. Drück mal von hinten ein bißchen nach, dann geht der Rock schon zu ... Hupla – na, siehst du wohl!“

Der Alte trat vor den kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Er gefiel sich ganz gut. Aber in Wahrheit sah er weniger hübsch als grotesk aus. Der lange, schwarzblaue Rock hatte eine eigentümliche Biedermaierfasson, umspannte den Oberkörper und den mächtigen Leib in ängstlicher Faltenlosigkeit und strebte von den Hüften an wie das Kleid einer Bäuerin nach auswärts. Dazu trug der Baron dunkle, gestreifte Beinkleider von außerordentlicher Weite und bequeme Filzstiefel.

[16]Hellstern lächelte, als er sein Ebenbild im Spiegel erschaute.

„Wie ein Elefant,“ meinte er schmunzelnd; „man kann auch Dickhäuter sagen. Aber dennoch ganz stattlich. Das Halstuch, August!“

„Erst setzen!“ antwortete dieser und schob dem Baron einen massiven eisernen Stuhl zu, auf dem sich Hellstern wuchtig niederließ. Dann schlang August seinem Herrn das sauber gefaltete schwarze Tuch um den Hals und steckte vorn eine goldene Busennadel hinein; Hedda hatte sie aus einem Ohrring der seligen Mutter anfertigen lassen.

Indessen rollte unten die Viktoria des Kommerzienrats vor die Veranda. August beeilte sich, den Schlag öffnen zu helfen. Er trug einen verschossenen blauen Rock mit versilberten Knöpfen. Der reich galonnierte Diener des Kommerzienrats, der neben dem Kutscher gesessen hatte, war ihm bereits zuvorgekommen und schaute ihn ein klein wenig von der Seite an. Das ärgerte August. Er gab dem Livreekollegen einen kräftigen Schubbs und stellte sich neben den Schlag.

Auf der Veranda erschien Hedda. Zwei junge Herren sprangen zuerst aus dem Wagen, Hagen und Gunther, die Söhne des Kommerzienrats, beide in Gehröcken und blanken Zylinderhüten. Dann kam die Mutter, eine zierliche, kleine Dame von sympathischem Äußern – dann der Rat selbst, untersetzt, mit gefälligem Embonpoint, das kluge Gesicht nach englischer Sitte bis auf einen kurzen, auf der halben Backe wie über einem Lineal abgeschnittenen grauen Bart glatt rasiert.

Die Begrüßung seitens Schellheims war lebhaft und herzlich, seitens seiner Frau liebenswürdig reserviert. Die Söhne hielten sich zurück, die Zylinder im Arm, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt. Hedda gab jedem die Hand und führte den Besuch sodann in das Wohnzimmer.

Hellstern war noch nicht anwesend, aber man [17]hörte im Korridor bereits das gleichförmige Geräusch, das das Aufstoßen seiner Stöcke auf dem Fußboden hervorrief.

Als er eintrat, ging ihm der Kommerzienrat mit strahlendem Gesicht und rascher, pendelnder Armbewegung entgegen.

„Mein sehr verehrter Herr Baron – ich freue mich herzlich – ich freu’ mich von ganzem Herzen ...“

„Lieber Herr Kommerzienrat!“ Hellstern drückte Schellheim so kräftig die Rechte, daß dieser am liebsten mit einem energischen Donnerwetter geantwortet hätte, küßte sodann der tief herniederrauschenden Rätin die Hand und sagte den jungen Herren „Guten Tag“.

Man setzte sich, und rasch war die Unterhaltung im Fluß. Schellheim war ein weltgewandter Mann, bei dem nur zuweilen, in seltenen Ausnahmefällen, die Protzigkeit des Parvenus, der sich aus kleinen Anfängen emporgearbeitet, hervorbrach. Aber die große Lebhaftigkeit, mit der er, von ausdrucksvollem Gebärdenspiel unterstützt, sprach und agierte, ließ dies nicht sonderlich auffallen.

Seine Frau war ziemlich still. Nur auf direkte Anrede hin pflegte sie etwas zu sagen, mit einer Stimme, die wunderbar einschmeichelnd, weich und melodiös klang. Auf Hedda machte die Rätin einen sehr angenehmen Eindruck. Sie war nicht hübsch, aber chic und vornehm. Sie mußte auch bedeutend jünger als ihr Gatte sein. Er hatte sie geheiratet, als er bereits ein gemachter Mann war und seine Verhältnisse es ihm gestatteten, in eine „gute Familie zu kommen“. Er war immer liebenswürdig zu ihr, aber nie gütig. Ihre Bescheidenheit mißfiel ihm zuweilen; er hätte sich eine glänzendere Repräsentantin für sein Hauswesen gewünscht. Ihrer feinen musikalischen Bildung und ihrer Verehrung für Wagner zuliebe war er auf den schnurrigen Einfall gekommen, seinen Söhnen die Namen Hagen und Gunther geben zu lassen.

[18]„Aber der grimme Hagen macht durchaus keinen blutdürstigen Eindruck,“ bemerkte Herr von Hellstern lächelnd, als das Gespräch sich dem Wagnerianismus zuwandte; „im Gegenteil ...“

Gunther, der jüngere der Brüder, errötete leicht, obschon nicht von ihm die Rede war. Er war schlank und schmächtig und ähnelte der Mutter. Ein Paar sehr schöne und kluge, sammetbraune Augen belebten das etwas blasse Gesicht.

Der „grimme Hagen“ schlug mehr dem Vater nach. Er war ebenso lebhaft wie dieser in Sprache und Bewegungen und zog den Mund ein wenig schief, wenn er lächelte. Er war auch der ganze Stolz seines Erzeugers, der Leiter der Fabrik und Träger der Firma, ein tüchtiger Kaufmann trotz seiner Lebemannsallüren. Gunther war aus der Rasse gefallen. Er hatte keinerlei merkantile Neigungen und galt für einen Gelehrten. Er war Literarhistoriker.

Das interessierte Hedda. Sie fragte, wo er studiere, und befand sich bald in angeregter Unterhaltung mit ihm. Gunther erzählte, daß er es bereits bis zum Dozenten an der Berliner Universität gebracht habe, und daß seine Spezialität die höfische Dichtung des Mittelalters sei. Insofern mache er auch seinem „ihm wider Willen“ gegebenen Vornamen Ehre, als er sich mit besonderem Eifer auf die Erforschung des Nibelungenliedes geworfen habe. Er führte noch einige Lyriker und Didaktiker aus der Blütezeit des Minnesangs an, Namen, die Hedda ziemlich fremd an das Ohr klangen; nur von Walter von der Vogelweide, von Tannhäuser und Ulrich von Lichtenstein hatte sie schon gehört.

Aber es gefiel ihr alles, was der junge Gelehrte sagte. Er hatte so eine nette Art, sich auszudrücken, und das weiche, sympathische Organ seiner Mutter. Er sprach bescheiden und ruhig und schien sichtlich erfreut zu sein über das Interesse, das Hedda ihm und seinem Studium entgegenbrachte. Unwillkürlich [19]hatten die beiden während ihrer Unterhaltung sich ein wenig von den übrigen zurückgezogen. Sie standen in einer Fensternische, während die andern sich um den Sofatisch gruppierten.

Der Kommerzienrat führte im Augenblick das Wort.

„Ja, denken Sie sich, mein verehrter Herr Baron,“ sagte er, den ausgestreckten Zeigefinger seiner Rechten hoch in der Luft, „die Quelle soll in der Tat Mineralgehalt haben. Hören Sie mal, das könnte ’ne große Sache werden! Was meinen Sie, wenn wir aus Oberlemmingen ein Bad machten?!“

„Bleiben Sie mir vom Leibe!“ rief der Baron zurück. „Ein Bad – na, das fehlte noch! Bin froh, daß wir hier so in der Stille und Ruhe sitzen! Übrigens glaub’ ich das noch nicht recht – das mit der Quelle. Wo soll sie sein – an der Grauen Lehne?“

Schellheim nickte eifrig.

„Ja – an der Grauen Lehne, im Möllerschen Gehölz,“ antwortete er. „Man hat sie gar nicht beachtet – was versteht der Bauer vom Gurkensalat! Aber da hat sich ein Lehrer aus Frankfurt während der großen Ferien bei Möller im Gasthof eingemietet, und dem ist die Gaseentwicklung aufgefallen, mit der die Quelle aus dem Boden sprudelt, – wissen Sie, ich habe mir das Dings angesehen, es moussiert förmlich – wie eine Pommery ... Und da hat er denn einen befreundeten Chemiker darauf aufmerksam gemacht, der hat das Wasser genauer untersucht. Was soll ich Ihnen sagen, mein bester Herr Baron, – der Mann hat Kohlensäure und Eisen konstatiert und Möller angeraten, die Quelle schleunigst fassen zu lassen.“

Der Baron schüttelte den Kopf und strich sich dann über den Leib.

„Das Marienbader hat mich nicht schlanker gemacht,“ meinte er; „vielleicht ist unser heimisches Wässerchen wirkungsvoller.“

[20]Schellheim lachte.

„Nun denken Sie mal an! Wenn wir nicht mehr in die Ferne zu schweifen brauchten, sondern gleich immer an Ort und Stelle unser alljährliches Gesundungsbad nehmen könnten! Alle Wetter, das wäre doch wirklich famos! Ich hätte große Lust, dem alten Möller das Quellenterrain abzukaufen. Allzu unverschämt wird er ja hoffentlich nicht sein.“

„Eh – na – warten Sie’s ab, Herr Kommerzienrat! Wie ich unsre Bauern kenne, lassen sie sich nicht so leicht die Butter vom Brote nehmen. Und namentlich der alte Möller, – der hat’s faustdick hinter den Ohren ... Offen gestanden, ich wünschte, die ganze Geschichte beruhte auf einem Irrtum. Mit unserm stillen Frieden ist’s aus, wenn wir erst Badegäste hierher bekommen. Ich gucke unsre paar Sommerfrischler schon immer unwirsch von der Seite an.“

„Das ist egoistisch, lieber Baron –“

„Ah was, jeder ist sich selbst der Nächste! Ich bin glücklich in meiner Einsamkeit. Hab’ neulich einmal irgend einen modernen Dichter gelesen, der nennt die Einsamkeit ein ‚vornehm’ Land‘. Und, weiß Gott, der Poet hat recht! Ich möchte mir nicht gern mein letztes Eckchen ‚vornehm’ Land‘ rauben lassen.“

Der Kommerzienrat verzog den Mund.

„Alle Achtung vor Ihrem Dichtersmann, Herr Baron – aber die Einsamkeit widerspricht dem Zeitgeist. Wer für die Menschheit lebt, muß mitten im Menschentreiben stehn.“

„Oho – haha – Kommerzienrat, fragen Sie mal den Jüngsten Ihrer Nibelungen, ob er im Trubel und Gewühl schaffen und arbeiten kann! Und lebt doch am Ende auch für die Menschen seiner Zeit.“

Die Rätin nickte, und der grimme Hagen warf ein, mit schiefen Mundwinkeln gleich seinem Herrn Vater, sich an der Krawatte zupfend: „Ach nein, [21]Herr Baron – den Gunther muß man als Sonderling beurteilen. Der ist am glücklichsten, wenn sich kein Mensch um ihn bekümmert, und selbst seine Forschungen hält er ängstlich geheim.“

„’s ist so,“ fiel Schellheim ein, während die beiden in der Fensternische sich nicht in ihrer Unterhaltung stören ließen, sondern nur zuweilen mit leichtem Lächeln zu den andern herüberschauten; „ich bin kein Banause, lieber Baron, und schätze Wissenschaft und Kunst – ah, nun ja – ganz gewiß! Aber ich frage dennoch: was gewinnt die Menschheit, wenn irgend ein Gelehrter nach unendlichen Mühen herausgekriegt hat, daß Heinrich von Ofterdingen möglicherweise ein paar Strophen des Nibelungenliedes gedichtet habe? – Ich bitte Sie, die ganzen gelehrten Wissenschaften, die nicht praktischen Zwecken dienen, sind doch eigentlich nur Füllsel im Dasein, pikante Zutaten zu der Pastete, aber keine Kost, die den Hunger der Lebenden stillt! Den Hunger der Lebenden,“ wiederholte er nochmals, als gefalle ihm der Ausdruck besonders, und dann fuhr er raschen Wortes fort, da er sah, daß seine Frau unruhig wurde und verschiedenfach nach dem Fenster blickte: „Ich hätte ja am liebsten gehabt, Gunther hätte gleichfalls die kaufmännische Karriere ergriffen. Er wollte nicht – schön – ich bin kein Rabenvater. Aber nun ausgesucht Literarhistoriker! Warum nicht Jurist? Warum nicht Mediziner? Meinethalben bloß Theoretiker – Anthropologe, Bazillenmensch – die haben doch feste Ziele im Auge, ich bitte Sie, und ihre Untersuchungen nützen der Gesamtheit.... Nein – er wollte partout ein Bücherwurm werden –“

„Und fühlt sich recht wohl dabei,“ warf Gunther ein. Er war aus der Nische getreten. Sein blasses Gesicht hatte sich leicht gerötet. Er lächelte, aber es zuckte doch auch ein wenig bitter um seine Mundwinkel. „Papa ist nun mal ein Fanatiker der sogenannten praktischen Berufe, Herr von Hellstern,“ [22]wandte er sich wie entschuldigend an den Baron; „ich begreife es auch. Wer, wie er, sich nur in rastloser produktiver Tätigkeit wohl fühlt, der kann einer stillen Gelehrtenarbeit schwerlich Geschmack abgewinnen. Ich höre übrigens, daß Sie mit einer Geschichte Ihres Geschlechts beschäftigt sind, Herr Baron, und sich in umfangreiches Quellenmaterial zu vertiefen haben. Wenn ich Ihnen irgendwie dienlich sein kann –“

„Merci, Herr Doktor – sehr liebenswürdig,“ entgegnete Hellstern; „das Lateinische macht mir ja manchmal Kopfzerbrechen; und wenn mir etwas besonders Verzwicktes unter die Finger kommen sollte, will ich mich gern an Sie wenden. Bleiben Sie noch einige Tage hier?“

„Leider nein,“ erwiderte die Rätin seufzend, und ihr Gatte fiel ein: „Sie fahren alle beide schon morgen abend wieder zurück, die Jungen ...“ Er klopfte Gunther auf die Schulter. „Ich hab’s nicht böse gemeint – de gustibus und so weiter. Mir würde das Herumwühlen in alten Scharteken den Appetit verderben. Da lob’ ich mir noch die Musik. Gnädigste Baronesse sind gewiß auch Wagnerschwärmerin?“

Das war sie wirklich, und nun erfolgte eine kurze Zwiesprache zwischen ihr und der Rätin über den vergötterten Meister und seine Musik. Da wurde Frau Schellheim warm. Sie konnte sich gar nicht beruhigen, daß Hedda ihren Liebling nur aus den Klavierpartituren kannte und noch keins seiner Bühnenwerke gesehen hatte. Ihr drittes Wort war Bayreuth und Frau Cosima. In der Villa Wahnfried kannte sie jeden Raum.

Der Baron beobachtete scharf, während er ungezwungen plauderte. Sein Urteil über die Familie Schellheim stand fest. Der Rat ein intelligenter Emporkömmling, wie man seinen Typus in allen Großstädten hundertfach findet; die Frau unterdrückt, nicht uneben; aber von sklavischer Ergebenheit; [23]der grimme Hagen ein modernes Kaufmannsgigerl, das nach Abschluß der Geschäftszeit den Lebemann und Kulissenjäger spielt – und Gunther der aus der Art geschlagene Idealist. Gunther gefiel dem Baron noch am besten, obschon auch er für grüblerische Gelehrtentüftelei wenig übrig hatte.

Man sprach von guter Nachbarschaft und dergleichen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Hellstern, daß der Kommerzienrat beabsichtigte, sich gänzlich auf der „Auburg“ – so hatte er sein Schloß getauft – festzusetzen. Hagen sollte die Fabrik allein weiterführen.

„Ich möchte mich gern einmal etwas intimer mit der Landwirtschaft befassen,“ sagte Schellheim, schon zum Aufbruch gerüstet. „Es macht mir Spaß – möchte mal versuchen, ob dem Boden nicht doch ganz gute Erträgnisse abzuringen sind.... Also wegen der Quelle, – stehen Sie mit dem Möller auf gutem Fuß, Herr Baron, wenn ich fragen darf?“

„Auf gar keinem,“ erwiderte Hellstern ziemlich kurz. „Aber, falls Sie mit ihm in Verbindung treten sollten – attention! Es ist ein brutaler Schlaukopf.“

Schellheim lachte.

„Mich führt niemand so leicht hinters Licht, bester Herr Baron,“ sagte er. Dann empfahl man sich. Auf der Veranda blieb der Kommerzienrat noch einen Augenblick stehen und pries die Lage des Baronshofes. Auch das alte Herrenhaus gefalle ihm sehr. Er habe für diese alten Landhäuser viel mehr übrig als für die modernen Luxusbauten. Er sei überhaupt nicht für den Luxus, wenn er sich nicht mit solider Gediegenheit vereine ...

August stand wieder am Wagenschlag. Er sah sehr schäbig aus neben den frisch livrierten Dienern Schellheims und dem lackierten Glanz der Viktoria. Aber er machte ein hochmütiges Gesicht; die Leute vom Auberg imponierten ihm durchaus nicht.

Der Wagen rollte davon. Der Kommerzienrat [24]winkte noch wiederholt mit seinem abgezogenen Handschuh aus dem Fenster.

Hellstern sah dem unter seinem silbergeschmückten Geschirr sich sehr stattlich ausnehmenden Fuchsgespann lange nach.

„Solche Karrossiers hab’ ich mir mein Lebtag nicht gegönnt,“ sagte er zu Hedda. „Hübsche Gäule und gut eingefahren ... Es ist merkwürdig, wie es im Leben auf und nieder geht. Jetzt sind die Krämer die Sieger und wir vom Adel die Besiegten. Das war ehemals anders.“

„Freilich,“ entgegnete Hedda mit leichtem Seufzer, „’s ist leider immer so in der Weltgeschichte. Hammer und Amboß wechseln. Aber allzu schlimm sind die Schellheims noch nicht.“

„Na, es geht,“ erwiderte der Baron etwas mürrisch.

Zweites Kapitel

Am Westausgange des Dorfes wohnte der Vater Dörthes, der Stellmacher Klempt. Man mußte einen kleinen Garten durchschreiten, ehe man zu dem mit Schindeln gedeckten Häuschen des Alten kam. Das heißt, es war eigentlich kein richtiger Garten, denn es blühten nur wenige Blumen darin – ein paar Georginen und Pechnelken, die dicht am Staketzaun standen –, alles übrige war Wiese und Kartoffelland. Dicht am Hause hatte Klempt sich eine kleine Baumschule angelegt. Das war seine besondere Freude. Er zog allerdings keine Seltenheiten, sondern nur einige Reihen echter Kastanien, Edelakazien und Pfirsiche und ein paar hochstämmige Rosen, seine Sorgenkinder, die er im Winter durch Moosumhüllung und eine Panzerung von stachligem Wacholderbuschwerk vor den Angriffen hungriger Hasen schützte.

[25]Klempt war ein stiller und ruhiger Mensch, der sich durch mancherlei Ungemach des Lebens zu einer gewissen philosophischen Resignation durchgerungen hatte. In der Tat, er war ein Bauernphilosoph von eigentümlicher Prägung; dadurch, daß er sich von den andern zurückhielt und auch den abendlichen Zusammenkünften in der Krugwirtschaft fernblieb, daß er ein ziemlich einsames Leben führte und fast beständig auf sich selbst angewiesen war, hatte er sich in eine sonderliche Gedankenwelt eingesponnen, die er mit Emsigkeit pflegte, und in der er mit ganzem Sein aufging. Er hatte seine Frau und vier blühende Kinder hinsterben sehen. Die Dörthe war seine Letzte, aber er hatte es nicht gelitten, daß sie ihm die Wirtschaft führte. Sie sollte „die Welt kennen lernen“, wie er sich ausdrückte, und das fing damit an, daß sie auf dem Baronshofe in Dienst trat. Da Klempt indessen in seinem Haushalt der weiblichen Hand nicht völlig entbehren konnte, so nahm er seine einzige, unverheiratete Schwester Pauline zu sich. Das war ein langes, hageres Weibsbild, fast an die Sechzig, aber noch schwarzhaarig und mit glänzenden Augen in dem die Spuren einstiger großer Schönheit tragenden Gesicht. Die Pauline paßte zu ihrem Bruder; sie führte ein ähnliches Traumleben wie er, denn sie war völlig taub und pflegte sich nur durch ein eigenartiges Gebärdenspiel mit ihm zu verständigen. Sie war eine brave Person, etwas mystisch veranlagt, ewig in Punktierbüchern und Traumdeutungen kramend, männerscheu und von nervöser Empfindlichkeit, aber auch fleißig und sorgsam im Haushalt.

Das war die Rechte für den Stellmacher. Auch er liebte es nicht, viel Worte zu machen. Dafür las er gern, besonders an den Winterabenden, und zwar am liebsten Geschichtswerke oder Geographiebücher, doch nie Romane, für die er nichts übrig hatte. Baron Hellstern, der Pastor und der Kantor liehen ihm, was sie auf ihren Repositorien hatten; [26]bei der Arbeit verdaute der alte Klempt sodann seine Lektüre. Das war ein Genuß für ihn. Saß er draußen im Hofe auf seiner Hobelbank oder schlug die Speichen eines Rades ein, daß es weithin dröhnte durch das stille Dorf, so arbeitete nicht nur seine fleißige Hand, sondern auch seine Phantasie. Da war er mit Stanley in Afrika, unter den schwarzen Heiden und Menschenfressern, oder mit irgend einem Missionar an den Ufern des Ganges, oder oben am Nordpol, oder er schüttelte den grauen Kopf über die Greuel des Dreißigjährigen Krieges und berauschte sich an dem Freiheitsdurst der Griechen. In seinem groben Bauernhirn blieben naturgemäß nur die außerordentlichen Ereignisse haften, aber die Lust am Reflektieren, auf die ihn sein einsames Leben hinwies, hatte doch allgemach seine Anschauungsweise geläutert; er verglich gern, kritisierte auch und zog naive Schlüsse aus der Vergangenheit auf die Gegenwart.

Jetzt saß er auf der hölzernen Bank rechts von der Tür seines Häuschens, hatte die Hände gefaltet im Schoß und schaute stumm auf das Spatzenheer, das sich vor ihm im heißen Sande des Hofes zankte. Man sah ihm die kaum überstandene Krankheit an. Er war recht hager geworden, und noch stärker und zottiger als vorher erschien der weiße Zimmermannsbart, der seine Wangen umrahmte. Aus dem braunen Gesicht blickten zwei hellblaue, treuherzige Augen; die von zahlreichen kleinen Falten durchzogenen Lippen waren fest aufeinandergepreßt; der linke Mundwinkel, in dem gewöhnlich die Pfeife hing, senkte sich ein wenig. Das Rauchen hatte ihm der Arzt strengstens verboten, und unter diesem Verbot litt der Alte am meisten. Er konnte ohne Pfeife nicht sein.

Den Himmel überstrahlte bereits das Abendrot. Die weißen Lämmerwölkchen am Firmament waren rosig durchleuchtet, selbst der breite Schatten des alten Birnbaumes, der mitten im Hofe stand, hatte eine violette Umsäumung. Vom Anger herüber klang ein [27]leises, melodisches Läuten; der Schäfer des Krugwirts trieb seine kleine Herde heim.

Pauline trat in die Haustür, blieb einen Augenblick stehen und schaute nach dem Himmel, um zu sehen, ob während der Nacht ein Gewitter zu gewärtigen sei, und sagte sodann mit der etwas monoton klingenden Stimme, die allen Tauben eigen ist:

„Komm ’rein, August; es fängt an, kühle zu werden.“

Klempt nickte und erhob sich gehorsam. Aber er ging doch nicht, sondern wies hinüber nach der Gartenpforte, wo eine frische Mädchenstimme das Lied von den wandernden Schwalben sang. Die Dörthe kam. Sie hatte Urlaub erhalten, den Vater und den Bräutigam zu besuchen, trug ihr Feiertagskleid aus geblümtem Kattun und ein buntes Tüchlein um den Hals.

„Holla, Vater,“ rief sie schon von weitem, „bist du noch draußen? Und hat nicht der Doktor gesagt, du sollst vor Sonnenuntergang wieder in der Stube sein?“

„’s ist ja so schöne,“ antwortete Klempt lächelnd, und als er den Sonntagsstaat Dörthes sah, fügte er fragend hinzu: „Ist denn heute Kirmes, daß du dich so fein gemacht hast?“

Dörthe gab dem Vater und der Tante die Hand.

„Ich will mal zu Fritzen gehn,“ entgegnete sie. „Heut ist ’was los im Kruge. Das Springelchen an der Grauen Lehne soll ein Heilquell sein, hat ein Professor aus Frankfurt an den Kantor geschrieben. Da kommen sie alle zusammen.“

„Hab’s auch schon gehört,“ meinte Klempt; „ein Wunderwasser, das Kranke gesund machen soll. ’s käm’ mir zunutze.“ Er schüttelte den Kopf. „’s wird bloß wieder so ein Gerede sein,“ fuhr er fort; „die Leute reden viel ...“

Pauline tupfte ihrem Bruder auf die Schulter und zeigte nach der Tür.

„Ja, ich komme,“ sagte er nickend. „Hast du’s [28]so eilig, Dörthe? Wirst schon noch frühe genug im Kruge sein; bleib noch ein Huschchen!“

„Aber nicht lange,“ antwortete Dörthe. Doch sie trat mit den beiden in das Stübchen, das vom Glanze des Sonnenrots völlig durchstrahlt zu sein schien.

Pauline bereitete das Abendbrot, während sich Dörthe, die Hände auf die Hüften gestemmt, vor ihren Vater stellte.

„Wie fühlst du dich denn?“ fragte sie.

Er winkte mit der Hand.

„So gesund wie früher, Dörthe, verlaß dich drauf! ’s ist ’ne Narretei vom Doktor, daß er mir noch immer das Rauchen verbieten tut. Das ist das einzigste, was mir noch fehlt.“

„Solange du noch hustest, darfst du’s nicht,“ erklärte Dörthe. „Vater, ich riech’s, ich rieche gleich, wenn du geraucht hast. Du mußt doch parieren. Der Doktor kostet Geld, und wenn du nicht tust, was er befiehlt, ist das schöne Geld reinweg zum Fenster hinausgeworfen.“

Sie sagte das sehr ernst. Klempt nickte grämlich.

„Na, ja doch,“ sagte er. „Es dauert alles so lange. Und dabei hab’ ich mehr zu tun, als mir lieb ist!“

„So nimm dir doch noch ’nen Gesellen, Vater! Ich hab’ dir’s schon ein paarmal gesagt!“

„Ach was, daß er bloß ’rumlungert! Was tut denn so ’n Junge! Bis jetzt bin ich alleine fertig geworden und werd’s auch noch länger werden! Kotzschock, ich bin doch erst sechzig! ... Es war wohl Besuch auf dem Baronshof?“

„Ja, die von drüben. Die Söhne auch ...“ Dörthe schnitt eine Grimasse und lachte schelmisch. „Paß einmal auf, unser Fräulein heiratet den ältesten! Da soll’s hinaus!“

„Da käm’ wieder mal Geld ins Haus! Die drüben messen’s nach Scheffeln. Aber ob der Baron will?“

„Warum denn nicht?“

„Na, er ist doch so stolz!“

[29]„Ist er nicht,“ erklärte Dörthe kopfschüttelnd. „Und dann macht das Fräulein doch, was sie will. Aber ich will nichts gesagt haben. Die Hanne meint auch, das würde was werden.“

„Was sagt denn August?“

„Den hab’ ich gefragt. Da ist er mir aber grob gekommen. Der ist grob wie Bohnenstroh, Vater. Zum Baron geradeso wie zu uns, und dem scheint’s noch zu gefallen.“

„Hast du ihm meine Rechnung gegeben?“

„Nee, Vater, das eilt ja nicht so. Sie ist ziemlich hoch, da wart’ ich lieber bis zum Ersten und geb’ sie dem Fräulein. Am Ersten kriegt der Alte seine Pension und Zinsen und so was. Da wart’ ich lieber.“

„Wart ruhig,“ stimmte der Stellmacher zu. „Die gehn mir nicht durch. Sind sie denn immer noch gut zu dir?“

„Ja, sehr! Das Fräulein besonders – na, die ist ja immer gut! Den Alten kriegt man kaum zu Gesicht. Er hat’s wieder so schlimm in den Füßen, sagt August. Aber nu geh’ ich, Vater! Ich muß doch hören, was es im Kruge gibt.“

„Verzähl’s mir morgen! Adjö, Dörthe! ... Du, Dörthe, und bedenk’s dir mit Möllers Fritze ...“

Sie gab ihm einen herzhaften Kuß auf den Mund, so daß er den Satz nicht beenden konnte, und sprang aus dem Zimmer, der Tante beinahe in die Arme, die ihr im Hausflur mit einer Schüssel voll weißen Käses und der Leinölflasche entgegenkam.

„Herrjeses,“ sagte Pauline, „so sieh dich doch vor! Hast du letzte Nacht was geträumt?“

Dörthe nickte.

Die Tante wurde wißbegierig.

„Von was denn?“

Dörthe tippte auf die Flasche.

„Von Leinöl?“ fragte die Tante verwundert.

Dörthe nickte wieder und tippte auf die Käseschüssel.

[30]Die Augen Paulinens wurden immer größer.

„I – auch von Quark?“

Dörthe machte mit der Hand eine wirbelnde Bewegung in der Luft.

„Ach so,“ sagte die Tante, „zusammengerührt – Leinöl und Quark ...“

Nun wies Dörthe auf die Lampe, die auf der Futterkiste in der Ecke stand.

„Bei Licht?“ fragte die Tante.

Dörthe tippte an das Bassin.

„Was?“ rief Pauline. „Mit Petroleum? Leinöl und Quark und Petroleum? Wo soll ich denn das im Traumbuche finden! I – du willst mich wohl bloß zum Narren haben?! Dörthe, hör mal, Dörthe, du machst dich immer lustig über mich, aber ich will dir was sagen: ich habe vor ein paar Tagen von einem Gewitter geträumt, und es hätte eingeschlagen. Das gibt Unfrieden im Hause. Sieh dich vor mit dem Fritze. Ich rede sonst nicht davon ...“

Das hatte die Dörthe nun so oft gehört, daß sie ärgerlich wurde.

„Laß mich in Frieden, Tante!“ rief sie zurück, gar nicht daran denkend, daß Pauline sie nicht verstehen könne, und eilte hinaus, den Gartenweg hinauf, auf den Dorfplatz.

Erst hier mäßigte sie ihren Schritt. Sie war ganz rot im Gesicht, und auf ihrer Stirn, von der das braune Haar glatt gescheitelt zurückgestrichen war, lag eine schwere Falte.

Sie ärgerte sich. Zu dumm, diese ewigen Mahnungen und Warnungen! Sie war doch klug genug, auf sich selbst Obacht zu geben! Aber der Vater hatte von jeher im Streit mit den Möllers gelegen, und von der Tante erzählte man sich, daß sie einstmals der Schatz des alten Möller gewesen sei. Der aber hatte sie sitzen lassen. Daher ihr grimmiger Haß gegen alles, was im Kruge wohnte ...

Der Abend sank über das Dorf herab. Auf dem Anger spielte noch eine Schar Kinder. Sie hatten sich [31]an den Händen gefaßt, drehten sich im Kreise und sangen dazu mit ihren dünnen Stimmen:

„Ich steh’ auf einem hohen Söller,
Ich steh’ in einem tiefen Keller,
Heisa dusematee!
Fängst du mich,
Lieb’ ich dich,
Aber nee, du kriegst mich nich –
Heisa dusematee!“

Von der Chaussee aus rollten ein paar Ackerwagen in das Dorf, und ein Viehjunge trieb seine Herde zum Stall. Vereinzelte Bauern hatten schon mit der Ernte begonnen, aber sie machten heut frühzeitig Feierabend, denn es hatte sich herumgesprochen, daß der Kantor am Abend im Kruge sein wolle, um nähere Mitteilungen über den Heilquell an der Grauen Lehne zu machen. Und da waren sie neugierig geworden.

Als Dörthe am Gehöft des Lehnschulzen vorüberschritt, hörte sie ihren Namen rufen. Albert Möller trat mit dem Schulzen aus dem Hause.

„Willst du auch in den Krug, Kleine?“ fragte er.

„Versteht sich,“ entgegnete sie, „so gut wie du. Bist du mal wieder in Oberlemmingen?“

„Heut früh angekommen, von wegen der Quelle. Da muß ich doch dabei sein ...“ Er gab Dörthe die Rechte und faßte sie dann schäkernd unter das Kinn. Sie gab ihm einen Klaps auf die Hand und lief davon.

Den Albert konnte sie nicht leiden. Es ärgerte sie schon, daß er sie immer „Kleine“ nannte. Er bildete sich viel darauf ein, daß er ganz städtisch geworden war, und schaute die Bauern über die Achseln an. Seit drei Jahren lebte er gänzlich in Frankfurt und kam nur dann und wann zu Besuch nach der Heimat. Er war Maurerpolier, nannte sich aber Bauunternehmer, und man erzählte von ihm, daß er schon einmal unter der Anklage der Begünstigung betrügerischen Bankerotts in Untersuchungshaft genommen [32]und nur aus Mangel an Beweis freigesprochen worden sei. Er war übrigens ein sehr hübscher Mann: groß, schlank und blondbärtig, und wenn er einen mit seinen hellen blauen Augen anschaute, hätte man darauf schwören können, daß er der beste und treuherzigste Bursche unter der Sonne sei.

Dörthe ging nicht durch den Haupteingang in den Krug, sondern hinten herum, durch die Küche. Hier brannte schon Licht, und die alte Möllern hantierte geschäftig am Herd, denn der Förster Damke aus dem nahen Vorwerk hatte sich seiner Gewohnheit gemäß Grog bestellt. Die Möllern war eine große und starke Frau mit vollem grauen Haar und trotz ihrer Siebzig noch ungemein rüstig. Das Herdfeuer überstrahlte mit roter Glut ihre harten, ausgearbeiteten Züge.

„’n Abend, Mutter Möllern,“ sagte die Dörthe beim Eintritt in die Küche. „Ist der Fritz nicht hier?“

Die Alte zog eine Schulter hoch.

„Im Keller,“ antwortete sie, „er zappt ab; ’s is ja heute wie eine Volksversammlung da drinne’!“

Sie war immer mürrisch und unfreundlich, insonderheit Dörthe gegenüber, der sie es nicht vergeben konnte, daß sich ihr Fritz in sie verliebt hatte. Denn die alten Möllers waren stolz, und obwohl Fritz die Krugwirtschaft bereits übernommen hatte, meinten sie, es sei nicht nötig, daß er sich nach einer Frau umschaue, solange sie selbst noch mit Hand anlegen könnten. Die Dörthe paßte ihnen vollends nicht; ein Mädel ohne Geld war nicht nach ihrem Geschmack. Fritz konnte Besseres haben.

Dörthe schwankte, ob sie in das Gastzimmer gehen sollte, als sie den dicken, blonden Wirrkopf Fritzens aus der Kellerluke auftauchen sah. Eine Falltür führte von der Küche aus direkt in den Keller, und wenn sie offen stand, wie jetzt, roch es immer nach Hefe und schalem Bier.

Fritz trug unter jedem Arm einen mächtigen [33]Henkelkorb mit Bierflaschen. Er war ein riesiger Kerl und hatte auch riesige Kräfte. Die Bauern fürchteten seine Fäuste. Den kleinen Lemmert hatte er einfach einmal aus dem Fenster geworfen; wer in der Betrunkenheit Krakeel bei ihm anfangen wollte, mit dem fackelte er nicht lange. Aber auch auf seinem dicken und gesunden Gesicht lag der den Möllers eigne Zug von Treuherzigkeit und gutmütiger Gesinnung.

„Ach, Dörthe, du bist’s,“ sagte er, stellte einen Korb hin, wischte mit der Handfläche seiner Rechten rasch über seine blaue Schürze und begrüßte sodann seine Braut. „Möchtst wohl auch wissen, wie’s wird?“

„I nu ja,“ erwiderte das Mädchen lächelnd. „Es wird ja so viel davon gesprochen. Der Albert ist auch schon hier.“

„Weil er der einzige is, der was davon versteht,“ bemerkte die Alte. „Er hat auch schon ’ne Bank hinter sich, sagt er ...“

Dörthe dachte darüber nach, warum der Albert „’ne Bank hinter sich“ habe, aber Fritz ließ ihr zum Grübeln nicht lange Zeit.

„Trag immer ’rein,“ sagte er und schob ihr einen der Körbe unter den Arm; „heut könnte man zwanzig Hände haben!“

Und er folgte ihr mit dem zweiten Korbe.

So voll war das Krugzimmer allerdings selten. Aus der Mitte der weißgekalkten Decke hing eine alte Petroleumlampe herab, die den großen Raum nur notdürftig erleuchtete, so daß in allen Ecken und Winkeln schwarze und dämmergraue Schatten lagen. Nur auf dem Schenktische stand noch eine zweite Lampe. Hier machte sich der alte Möller zu schaffen, ein Siebziger, der aussah, als könne er das Hundertste noch erleben. Rastlos liefen die scharfblickenden Augen unter den buschigen weißen Brauen umher, und immer war er zur Hand, wenn er verlangt wurde. Er fühlte gewissermaßen, wo ein Glas leer war, und er hatte genau im Kopfe, wieviel ein jeder getrunken [34]hatte. Er brauchte nichts anzuschreiben, seine Rechnung stimmte doch.

Alle Tische waren besetzt. Die paar Großbauern, die reichsten im Dorfe, hielten zusammen. Da war zuerst der dicke Braumüller, dessen Gehöft der Krugwirtschaft gegenüber an der Chaussee lag, dann der einäugige Langheinrich, der einzige in Oberlemmingen, der weder schreiben noch lesen konnte; ferner der kleine Raupach, ein ungemein bewegliches, leicht aufbrausendes Männchen, und der Bauer Tengler, der seiner käsigen Gesichtsfarbe wegen gewöhnlich „Schlippermilch“ genannt wurde. Noch einer saß am Tische der Großbauern: der dritte Sohn des alten Möller, der Bertold. Der war Kaufmann geworden und betrieb ein Kurzwarengeschäft in der benachbarten Kreisstadt Zielenberg. Er war nicht von der Möllerschen Art, kein Riese wie die übrigen, sondern ein wenig verwachsen und trug auch eine Brille, hinter der ein Paar dunkle Augen listig und lebhaft funkelten.

An den sonstigen Tischen hatten die kleineren Leute Platz genommen: der Krämer Thielemann, die Kossäten Bachert, Maracke und Klauert und eine Anzahl Taglöhner, Häusler und Knechte. Nebenan im Extrazimmerchen saß der Förster Damke allein in seiner Sofaecke, trank Grog und las dazu die Inserate im „Zielenberger Kreisblatt“.

Es ging, trotzdem viel getrunken wurde, nicht allzu lebhaft zu. Die meisten unterhielten sich mit nur halblauter Stimme. Erst als die Tür aufging und Wittke, der Lehnschulze, mit Albert Möller ins Zimmer trat, wurde es lauter. Bertold rief seinen Bruder sofort an den Tisch heran, wo Albert jedem der Bauern die Hand reichte.

„Warst du beim Kantor?“ fragte Bertold, an seiner Brille rückend, eine ihm eigentümliche Bewegung.

„Ja,“ entgegnete der andre nickend. „Der Professor hat geantwortet. Es hat seine Richtigkeit. Die Quelle ist großartig, sage ich dir, Bertold ...“

[35]Er brach mit einem Seitenblick auf die Bauern mitten im Satze ab. Es schien, als wolle er seine Zukunftshoffnungen nicht so vor allen Leuten preisgeben.

„Wie ist’s denn eigentlich ans Licht gekommen mit der Quelle?“ fragte Langheinrich.

„Ganz einfach,“ und Albert erzählte zum zwanzigstenmal die Geschichte der Entdeckung. Der Lehrer aus Frankfurt, der sich vorjährig mit Frau und Kindern während der großen Ferien im Kruge eingemietet hatte, um hier eine billige Sommerfrische zu genießen, war häufig in dem Buchenwäldchen auf der Grauen Lehne spazieren gegangen. Und da hatte er denn eines Tages mitten im Geröll und ganz verborgen unter Brombeerranken und Wacholdergestrüpp ein Wässerchen entdeckt, das mit auffallend starkem Geräusch zutage trat und zugleich Tausende von kleinen zierlichen Perlen und Bläschen bildete, – „so wie beim Selterswasser, Langheinrich, verstehst du?“ erläuterte Albert das Phänomen. Jedenfalls erschien dem Lehrer die kleine Quelle interessant genug, um den ihm befreundeten Professor Statius darauf aufmerksam zu machen. Der Professor analysierte das Wasser denn auch und sandte seinen Bericht dem Lehrer ein, der ihn wiederum an Herrn Feilner, den Kantor von Oberlemmingen, schickte.

„Da is er schunst!“ rief Tengler, der gewöhnlich platt sprach, und deutete nach der Tür. Feilner trat ein, ein langer Mensch mit einem um die Wangen gebundenen Taschentuch. Man kannte ihn gar nicht ohne Zahnschmerzen.

Die vier Möllers gingen ihm entgegen und begrüßten ihn höflicher, als es sonst ihre Art war; der Alte brachte sogar ein Glas Bier herbei und fragte, ob der Herr Kantor vielleicht etwas zu essen wünsche. Aber Feilner dankte; er habe nicht viel Zeit und wolle sich nur rasch seines Auftrags entledigen.

Dann nahm er am Mitteltische unter der Hängelampe Platz und zog den Brief des Professors hervor. [36]Im Zimmer hatte sich alles erhoben und bildete einen Kreis um den Kantor. Eine aufmerksame Spannung lag auf den Gesichtern. Der alte Maracke hatte die Augen weit aufgerissen und hielt das linke Ohr umgeklappt, um besser hören zu können. Auch Dörthe hatte sich herangeschlichen und reckte sich auf den Zehen empor.

„Also paßt auf,“ sagte Herr Feilner. „Nämlich zuerst kommt, was die Quelle alles enthält. Hauptbestandteile: kieselsaurer Kalk, schwefelsaurer Kalk, Chlornatrium, Chlorkalium, Ferrokarbonat, schwefelsaure Magnesia.“

Er schaute auf und begegnete auf allen Seiten mordsdummen Gesichtern. Der alte Maracke schüttelte vor sprachlosem Erstaunen den Kopf und Braumüller fragte:

„Wat denn? Das ist alles drin?“

„Es kommt noch mehr,“ sagte Feilner, und Albert Möller rief „Ruhe“, obschon niemand sprach, und drängte den dicken Braumüller unsanft vom Tische zurück.

Der Kantor nahm wieder den Brief zur Hand und las weiter:

„Temperatur 8,07 Grad R. R. heißt nämlich Réaumur, womit das Wasser gemessen worden ist, und weil’s auch noch andre Thermometer gibt, zum Beispiel Celsius, der mißt höher, und Fahrenheit, den braucht man aber nur manchmal. Nun geht’s weiter. Geschmack leicht bitter, kristallhell, dem Rakoczy ähnlich, aber an Bestandteilen quantitativ geringer. Habt ihr verstanden?“

Den Mienen der Anwesenden sah man dies nicht an. Maracke schüttelte noch immer den Kopf und kratzte sich dabei hinter den Ohren. Braumüller wollte etwas fragen, aber der wißbegierige kleine Raupach kam ihm zuvor und schrie aufgeregt:

„Kinder, nu denkt mal, und das haben wir alles gar nicht gewußt? Dem Ra—, dem Ra—, wie war’s denn gleich? Wem soll das Wasser ähnlich sein?“

[37]„Dem Rakoczy,“ erwiderte Bertold Möller, „das ist ’ne Quelle in Kissingen – auch eine Heilquelle ...“

„Und was ist denn nun so gesund da dran?“ fiel Langheinrich ein.

„Wartet mal,“ sagte der Kantor, „davon hat Professor Statius auch etwas geschrieben.“ Und er suchte in seinem Briefe. „Aha – da – hier steht’s: ‚Beschleunigung des Stoffwechsels, Ausscheidung anormaler Stoffe, gesteigerte Oxydation.‘“

Er schwieg wieder und steckte den Brief in die Tasche zurück.

„Was hat er gesagt?“ fragte Maracke, der noch immer sein Ohr umgeklappt hielt. Sein Nachbar zuckte mit den Achseln, doch der kleine Raupach schrie lebhaft:

„Stoffwechsel hat er gesagt! Das ist doch ganz einfach!“ – und Maracke nickte dankend und war so klug wie zuvor.

Der Kantor nippte an seinem Bier und erhob sich; er wollte wieder gehen. Aber zuvor faßte er den alten Möller noch einmal an einem Rockknopf.

„Hören Sie mal, Herr Möller,“ sagte er, „was da der Herr Professor noch geschrieben hat: er läßt Ihnen raten, Sie möchten doch die Quelle fassen lassen.“

„Schön, schön, Herr Kantor,“ erwiderte Albert anstatt des Alten rasch, „wird alles gemacht werden,“ – und leise flüsterte er seinem Vater zu: „Ich weiß schon Bescheid – nachher! ...“

Als der Kantor gegangen war, kehrte alles auf die verlassenen Plätze zurück. Man bestellte sich neues Bier und neuen Schnaps. Der Heilquell an der Grauen Lehne bildete das einzige Thema der Unterhaltung. Allerhand Meinungen wurden ausgetauscht. Man war sich noch nicht recht klar über das neue Wunder. Raupach geriet mit Braumüller in Streit, weil ersterer behauptete, die heilende Wirkung des Wassers liege im Trinken, und letzterer, nein, im Baden. Schließlich schlichtete „Schlippermilch“ den [38]Zank durch die salomonische Erklärung, es sei beides richtig; erst baden, dann trinken, worauf Maracke meinte, das sei eine Schweinerei.

Der alte Möller hatte seine Frau gerufen, damit sie die Gäste bediene. Dörthe sollte ihr dabei helfen, denn die vier Möllers zogen sich zu einer „Familienrücksprache“, wie Albert sagte, in das Extrazimmer zurück. Der Förster Damke war nach Hause gegangen, aber das ganze Stübchen roch noch nach dem schlechten Grog, den er getrunken hatte. Albert öffnete einen Fensterflügel. Draußen rauschte mit leisem, einförmigem Murmeln die Barbe vorüber. Der Himmel war ausgesternt: es gab gutes Erntewetter.

Die drei Brüder hatten sich an den mit Wachstuch überzogenen Tisch gesetzt, der mit klebrigen Flecken übersät war, und auf dem ein flacher Teller mit gezuckertem Spiritus und Fliegengiftpapier stand.

„Wollt ihr Bier, Jungens?“ fragte der Alte.

„Danke,“ erwiderte Bertold, und Albert schüttelte naserümpfend den Kopf. Er war verwöhnt. Das Lemminger Bier war nicht zu trinken. Aber es würde ja alles anders kommen.

„Nun hört einmal zu,“ sagte er. „Setz dich, Vater, ich kann das zwecklose Herumstehen nicht leiden. Die Tatsache, daß wir in dem Wasser an der Grauen Lehne einen Heilquell besitzen, ist erwiesen. Ich will euch gestehen, daß ich extra deswegen zu einem berühmten Arzte in Berlin gefahren bin. Ich wollte mir Gewißheit schaffen. Der hat das Wasser ebenfalls genau analysiert und stimmt in allem mit Professor Statius überein. Er sagte mir, das sei etwas sehr Wichtiges, daß wir in der Mark so ’ne Art Kissinger hätten; das fehlte uns, und Oberlemmingen würde eine große Zukunft haben.“

„Also wahr und wahrhaftig?“ fragte der Alte, seine Pfeife aus dem Munde nehmend. Er brachte der Sache noch immer ein gewisses Mißtrauen entgegen. Bertold stieß ihn leicht von der Seite an; [39]Albert sollte erst aussprechen. Nachher konnte man fragen.

Aber Albert sprach nicht gleich weiter. Er zündete sich zunächst eine Zigarre an, während die andern ihn aufmerksam betrachteten. Er war der Klügste in der Familie und hatte als Großstädter seine Verbindungen. Endlich hub er etwas zögernd und mit schwerer Stimme wieder an:

„Erst wollen wir uns mal über das Eigentumsrecht einigen, Kinder,“ sagte er, und sofort fiel Bertold ein:

„So ist’s! Man muß doch wissen, woran man ist. Eher rühr’ ich auch nicht ’nen Finger in der Sache!“

Fritz wühlte mit beiden Händen in seinem Flachshaar. Er hatte genau gewußt, daß das so kommen würde. Aber er mußte sich fügen; ohne Albert war nichts anzufangen.

„Vater hat ja doch schon geteilt,“ entgegnete er. „Und alles gerichtlich und schwarz auf weiß. Ihr habt bar Geld gekriegt und ich die Krugwirtschaft. Das ist doch längst in Ordnung.“

„Es handelt sich um die Quelle,“ bemerkte Albert ernst, „das ist ein neues Objekt ...“

„Aber die Quelle liegt auf meinem Grund und Boden, dagegen ist nichts zu sagen,“ antwortete Fritz. Er wollte wenigstens versuchen, die Position zu verteidigen.

„Schön,“ erwiderte Albert und erhob sich. „Bist du der Meinung, so geh’ ich. Dann kümmre ich mich nicht weiter darum. Nehmt euch ’ne andre Beihilfe.“

Der Alte hielt ihn am Rockschoß fest.

„Hier bleiben!“ befahl er. Er sprach in grollendem Tone. Wenn er gereizt war, schob er die Oberlippe ein wenig empor und zeigte die breiten, gelben Zähne. Dann wurde sein von kurzen, grauen Stoppeln umrahmtes Gesicht böse, und das Auge begann zu funkeln.

[40]Er nahm, während Albert achselzuckend am Tische stehen blieb, noch ein paar Züge aus seiner Pfeife und fuhr sodann in kurzen, knurrend hervorgestoßenen Sätzen fort:

„Es ist klar, daß die Quelle uns allen gehört. Nicht bloß einem. Freilich, die Graue Lehne gehört zur Krugwirtschaft. Aber der Quell hat sich jetzt erst gefunden. Und ich habe bei der Verteilung besonders ausmachen lassen, daß bei neuen Funden im Boden der Wirtschaft, sei’s Mergel, seien’s Kohlen oder sei’s Alaun, gedrittelt werden soll. So ist’s auch gerecht!“

Albert und Bertold nickten, und Fritz verzog den Mund. Richtig war’s; man hatte diese Bestimmung getroffen, vor allem in Rücksicht auf den Alaun, den man in letzter Zeit vielfach in der Gegend entdeckt, allerdings ziemlich unrein, so daß sich eine Förderung bisher nicht gelohnt hatte.

„Ich will nicht streiten,“ entgegnete Fritz schließlich; er wie die andern hatten einen gewaltigen Respekt vor dem Vater, der die erwachsenen Männer zuweilen noch wie Schulbuben behandelte. „Setzt’s auf und dann wollen wir’s vor dem Notar schriftlich machen: alles, was die Quelle bringt, geht in drei Teile.“

„In vier,“ sagte der Alte bestimmt.

Die drei Söhne schauten erstaunt auf. Was hieß denn das nun wieder? Wollte der Alte, der seit fünf Jahren bequem und ruhig in seinem Ausgedinge lebte, auch noch an den Einnahmen partizipieren?

„Warum denn in vier?“ fragte Albert endlich zaghaft.

„Weil ich auch meinen Teil haben will,“ erwiderte der Alte fest. „Ich bin sechsundsiebzig, aber will’s Gott, so leb’ ich noch zwanzig Jahr’. Und bringt uns die Quelle Glück, so bau’ ich mir ein Extrahäuschen und zieh’ mit Muttern hinein. Denn wenn der Fritze wirklich heiraten tut ...“

[41]„Es ist noch nicht so weit,“ fiel Albert ein, und Bertold setzte, an seiner Brille rückend, hinzu: „Das mit der Dörthe wird er sich auch noch überlegen.“

Fritz erwiderte nichts; doch der Alte sagte, die Pfeife zwischen den Zähnen behaltend, in trotzigem Tone: „Ganz gleich. Es bleibt dabei. In vier Teile.“

Darauf war nichts zu erwidern. Die Brüder kannten den Alten. Machten sie Schwierigkeiten, so konnten sie auf endlose Prozesse gefaßt sein. Und verlor der Alte auch wirklich, der Ruf des Unternehmens stand in Gefahr.

Albert setzte sich wieder.

„Also abgemacht: in vier Teile,“ wiederholte er. „Ich werde morgen mit Rechtsanwalt Felitz sprechen. Und nun zur Sache selbst. Es muß Reklame gemacht werden. Professor Statius will in der ‚Medizinischen Wochenschrift‘ über seine Analyse berichten. Den Artikel lass’ ich an alle großen Zeitungen schicken. Klappern gehört zum Handwerk. Dann das nötige Geld, um alles instand zu setzen ...“

„Ja, das Geld,“ warf Bertold nickend ein.

„Wir brauchen etwa 300000 Mark ...“

„Ihr seid wohl verrückt!“ fuhr der Alte auf.

„Das ist noch nicht einmal hoch gerechnet,“ entgegnete Albert lächelnd. „Laß man, Vater, darin hab’ ich meine Erfahrung! Das Geld wird beschafft werden. Ich habe die Frankfurter Produktenbank hinter mir, will auch mal zu Schellheim gehen. Es muß ein Konsortium gebildet werden – mit guten Namen –, ein paar Finanzleute, einige Ärzte und ein Adliger an der Spitze. Ich will morgen auf den Baronshof. Hellstern wird leicht zu kriegen sein. Und dann muß ein Sanatorium begründet werden ...“

„Ein –?“ fragte der Alte.

Albert winkte mit der Hand. „Du wirst schon verstehen lernen, Vater. Warte man ab. Ich entwickle nur so meine Ideen. Der ‚Krug‘ muß ausgebaut werden – zu einem Hotel. Dann brauchen wir Logierhäuser, neue Wege, Pflasterung, eine Brauerei, [42]vielleicht auch Gas. Aus der Buchhalde muß der Kurpark werden. Ein großes und vornehmes Kurhaus bauen wir späterhin. Rings um die Quelle wird eine Art Tempelbau errichtet, mit Säulen, das muß elegant aussehen. Bertold kann hier einen Basar errichten; dann müssen wir einen Fleischer heranziehen, Bäcker, Konditor und andre Professionisten. Das wird sich alles entwickeln ...“

Er steckte die Zigarre wieder in den Mund und schaute einen Augenblick sinnend den im Halbdunkel des Zimmers zerrinnenden Rauchwölkchen nach. Er war ein geborener Spekulant. Seine kühne Phantasie und seine wagmutige Frechheit ergänzten, was ihm an Bildung fehlte. Er war ein schlechter Arbeiter gewesen, als er nach Frankfurt gekommen, aber er besaß ein gewisses Organisationstalent, und er hatte auch Glück. Seine Häuser vermieteten sich schnell. Er baute unsolid, stattete jedoch die Wohnungen mit oberflächlicher Eleganz aus, mit Stuck an den Decken, Kassettierungen, hübschen Öfen und Tapeten. Es war ihm sogar gelungen, sich am Bau der neuen Kaserne für die Albrecht-Dragoner beteiligen zu dürfen, und er hatte ein gutes Stück Geld dabei verdient. Aber all das waren nur vorbereitende Kleinigkeiten für ihn. Er wollte viel höher hinaus. Er plante unausgesetzt, er baute in Gedanken – im Traume selbst – Riesenpaläste und halbe Städte. Oberlemmingen stand in der Zukunft schon fix und fertig in seiner Phantasie. Kein Dorf mehr, sondern ein moderner Kurort. Die kleinen Häuschen und Lehmbaracken mit ihren gelbgrauen Strohperücken waren verschwunden – eine ganze Reihe von Villen erhob sich an ihrer Stelle: niedliche Chalets im Schweizerstil, dazwischen ein paar holländische Bauernhäuser, ein norwegisches Blockhaus, eines nach russischem Muster, mit gemalten Balken. Albert sah das alles schon vor sich. Er sah auch den Quellentempel inmitten blühender Anlagen, im Grün des Kurparks, und das Möllersche Hotel an der Chaussee, die in [43]einer halben Fahrtstunde nach Zielenberg führte, wo sich drei Bahnstränge kreuzten. Die Lage war günstig. In fünf Jahren, taxierte Albert, mußten die Möllers sich Oberlemmingen erobert haben.

Bertold hatte schweigend zugehört. Er war, wie Albert, längst der Bauernsphäre entwachsen, und auch er war ein heller Kopf. Geldverdienen war seine Losung. Seit er sich mit der ältesten Tochter des Getreidehändlers Ring in Zielenberg verheiratet, die ihn zweimal hintereinander mit Zwillingen beschenkt hatte, war sein Erwerbsfieber noch gewachsen. Man mußte doch für die Seinigen sorgen! Er lieh auch Geld auf Pfänder und machte dann und wann kleine Wuchergeschäfte mit den Inspektoren der Umgegend. Er begriff schon, was Albert wollte, und glaubte an dessen Stern. Aber eine heimliche Angst peinigte ihn dennoch: die, daß Albert ihn betrügen könne.

Auch Fritz und der Alte sagten nichts. Doch man sah es ihnen an, daß der Zukunftsgalopp Alberts nicht nach ihrem Sinne war. Sie steckten bei aller natürlichen Gerissenheit doch noch zu tief im Bäurischen, um sich mit den Spekulationsideen Alberts befreunden zu können. Vor Schuldenmachen hatten sie eine grimmige Angst; man gab das Geld fort und hatte auch noch die Zinsen zu bezahlen. Und sie fürchteten, daß die ungeheuern Summen, die Albert aufnehmen wollte, sie alle ersticken und erdrücken würden.

Ein Lärm in der Schenkstube, die schimpfende Stimme der alten Möllern und das laute Weinen Dörthes störten die Konferenz. Fritz erhob sich, um nachzusehen, was es gebe. Dörthe hatte eine Flasche mit Himbeerlikör vom Schenktisch gestoßen; die Flasche war zerbrochen, und der rote Saft floß träge über die schwarzen, mit Sand bestreuten Dielen. Und da hatte die Möllern der Dörthe in ihrer zügellosen Heftigkeit eine derbe Ohrfeige gegeben und schimpfte in unflätiger Weise auf sie los.

Dörthe stand an der Wand und hielt den Zipfel ihres Kleides vor das Gesicht. Sie schluchzte so, daß [44]ihre ganze Gestalt zitterte – nicht aus Schmerz, sondern aus Scham, vor allen Leuten gezüchtigt worden zu sein. Jeder schaute zu ihr hinüber. Braumüller, Raupach und Tengler, die „Schafskopf“ spielten, hielten im Spiel inne, und der alte Maracke schritt gutmütig auf sie zu und sagte:

„Nanu, flenn man nich, Dörthe – es is doch nich so schlimm! Bis du heiratst, is die Backe wedder gutt! ...“

Aber auch Fritz schimpfte. So was Ungeschicktes wie die Dörthe sei noch nicht dagewesen. Als ob der Himbeerlikör kein Geld koste. Und das wolle einmal eine tüchtige Hausfrau werden! Nee – da werde er es sich doch noch lieber bedenken ...

Dörthe schlich, ohne zu antworten, hinaus. Sie weinte noch immer, während sie langsam die paar Steinstufen hinabstieg, die zu der Haustür führten, und dann durch die Dorfstraße schritt. Sie weinte ganz leise vor sich hin. Daß die Möllern grob und roh war, wußte sie ja – das war ihr nichts Neues. Die wollte überhaupt nichts von der Heirat wissen. Aber das Benehmen Fritzens tat ihr weh; ihr Herz sprang und zuckte. Sie liebte den großen Burschen mit seinem wirren Blondkopf und den blauen Augen doch so sehr.

Der Abend war wundervoll. Die Sterne flimmerten hell am Himmel; die Milchstraße leuchtete wie Opal. Und durch das ganze Dorf wehte der frische Duft der Wiesen, die sich dreißig Morgen weit längs der Barbe hinzogen.

Plötzlich, gegenüber dem Pastorhause, durch dessen Fenster helles Licht schimmerte, blieb Dörthe stehen. Ihr fiel auf einmal ein, was Tante Pauline von ihrem letzten Traum erzählt hatte. Ein Gewitter war heraufgezogen, und dann hatte es eingeschlagen. Das bedeutete Unfrieden und Ärger. Und so war’s auch gekommen.

Beim Lehnschulzen schlug der Hofhund an. Ein zweiter antwortete, der große Köter Marackes mit [45]seinem heiseren Baß. Aus der Ferne, vom Dorfende her, kläffte die helle Stimme des Nachtwächterhundes dazwischen. Ein vierter und fünfter fiel ein. Alle Hunde im Dorfe begannen zu bellen.

Drittes Kapitel

Auf dem Auberg hatte früher ein Pächterhaus gestanden, ein merkwürdiger Bau. Das untere Stockwerk stark massiv, mit mächtigen Mauern, eine Halle mit hohen und schönen Wölbungen, von Strebepfeilern gestützt. Das war der Kuhstall gewesen. Und auf ihm hatte sich ein schwächliches Fachwerk erhoben, ziemlich dünnwandig und einfach weiß abgeworfen: die Wohnung des Pächters. Er war ein närrischer Kauz gewesen; man erzählte sich im Dorfe noch allerhand wunderliche Geschichten von ihm. Seine Leidenschaft war die Rindviehzucht, und deshalb hatte er dem geliebten Viehzeug die schönsten Räume im Hause angewiesen, und deshalb wollte er seine Tiere auch immer in unmittelbarer Nähe haben. Er war lange in England gewesen und hatte dort alle möglichen Kreuzungen kennen gelernt, auch eine neue Art der Fütterung, von der er viel hielt. Aber er hatte kein Glück; sein Kreuzungssystem schlug nicht an, und bei seiner neuen Fütterungsmethode verhungerten die Rinder. Eines Nachts hing er sich im Kuhstall auf.

Als Kommerzienrat Schellheim die Auherrschaft gekauft hatte, brachte er einen Baumeister aus Berlin mit, der ihm auf dem Auberge ein Schloß bauen sollte. Der Mann war ganz begeistert von der Anlage des Kuhstalls und schlug Schellheim vor, die kolossalen Fundamente beizubehalten und aus dem Stalle eine Halle, eine englische Halle, zu machen. Die Mauern wären so riesig, daß sich leicht noch zwei Stockwerke auf ihnen aufführen ließen. Schellheim [46]war einverstanden, und der Baumeister baute los. Ein stattliches Herrenhaus entstand, aber der Kommerzienrat wollte ein Schloß haben, und zu einem Schlosse gehörte unbedingt ein Turm. So wurde denn rechtsseitig ein runder Turm angeklebt, mit einem grünen Kupferhute als Dach. Das gefiel Schellheim immer noch nicht recht: die Erker fehlten noch, von denen aus man zu Tal schauen konnte, und auf der Südseite eine weite Glasveranda, die zur kalten Zeit als Wintergarten benutzt werden konnte. Auch das wurde geschaffen und noch mehr, und schließlich machte das neue Schloß einen schauderhaft stillosen Eindruck. „Es sieht wie zerkaut aus,“ meinte der alte Hellstern. Der hübscheste Raum blieb nach wie vor der ehemalige Kuhstall, die jetzige Halle.

Von seiner früheren Bestimmung merkte man dem weiten Saal natürlich nichts mehr an. An den Pfeilern hing allerhand Waffenschmuck, Hellebarden, Schilde, Morgensterne, nägelgespickte Streitkolben und dergleichen mehr, und an den Wänden eine Reihe tiefdunkel gewordener alter Ölporträts von stark dekolletierten Damen in Reifröcken und gepanzerten Herren mit strichähnlichen dunkeln Schnurrbärten auf der Oberlippe. Schellheim hatte die ganze Galerie einmal im Ramsch bei einem Trödler in Venedig gekauft und nannte sie deshalb seine „italienischen Ahnen“. Er spottete nicht ungern über sich selbst; er war vernünftig genug, stolz auf sein Emporkömmlingstum zu sein.

Sein Vater hatte das Geschäft begründet, aber erst unter ihm war es zur Blüte gekommen. Jetzt gab er zwölfhundert Arbeitern und Arbeiterinnen Verdienst und Brot, und seine Fabriken in Berlin, Breslau und Manchester hätten, zusammengestellt, allein einen kleinen Stadtteil bilden können. In allen diesen Fabriken wurde nichts hergestellt als Hemden – Hemden in vieltausendfacher Auswahl, Abstufung und Variation, für die elegante Welt, [47]für die einfachen Leute und für das Proletariat, und zwar nur Männerhemden. Diese Hemden gingen über die ganze Welt. Man fertigte sie in den Schellheimschen Fabriken unter jeder gewünschten Marke und jedem beliebigen Firmenstempel an und versandte sie dann an die Kunden in allen Teilen der zivilisierten Erde. So trug sie der Herzog von Sagan in Paris, der sie aus den Ateliers von Dudevant Frères entnommen, gerade so gut wie Ohm Krüger in Johannesburg, der Nabob in Bombay und der Dockarbeiter in Wilhelmshaven – selbst bis Siam und China und bis in die Eisfelder Kanadas wanderte das Schellheimsche Hemd.

Und diese Hemden ließen Gold zurück. Schellheim war Millionär. Freilich hatten drei Generationen an den Millionen gearbeitet. Der Großvater war noch mit dem Bündel auf dem Rücken durch das Land gezogen, und der Vater hatte manche schwere Krisis zu überwinden gehabt. Aber nun stand der Bau felsenfest; keine Krisis konnte ihn mehr erschüttern. Es war Schellheim nicht leicht geworden, sich vom Geschäft zurückzuziehen; die Arbeit war das Lebenselixir, das ihn jung erhielt. Aber er mußte an seine Kinder denken. Der unpraktische Jüngste war für die Fabrik nicht zu gebrauchen; ihm waren die Bücher alles. Doch Hagen, der Älteste, trat mit sicheren Schritten in die Fußstapfen des Vaters. Er hatte zwei Jahre in Manchester gelernt, dann einige Zeit die Breslauer Filiale geleitet, und nun konnte er getrost an die Spitze des Ganzen treten.

Schellheim sorgte sich nicht um das Weiterblühen des Geschäfts. Es lag bei Hagen in guten Händen. Allerdings hatte der Junge auch seine Nebenpassionen: für Theaterpremieren und dergleichen mehr, aber das lag nun einmal in der „Mode der Zeit“ – so meinte der Rat –, und deshalb blieb er doch ein tüchtiger Kaufmann. An Schellheim trat jedoch nun die Frage einer anderweitigen Beschäftigung heran. Untätig [48]konnte und wollte er nicht sein. Und da kam ihm der Gedanke, sich anzukaufen. Zwar die Landwirtschaft lag darnieder, aber er gab sich auch schon mit einer dreiprozentigen Verzinsung seines Anlagekapitals zufrieden. Dann dachte er auch an seinen Jüngsten. Der sollte das Gut einmal übernehmen, wenn er des Studierens müde geworden. Denn es schien dem Kommerzienrat undenkbar, daß ein Mensch, der es nicht nötig hatte, zeit seines Lebens tagein, tagaus und von früh bis spät immer nur zwischen Büchern sitzen, grübeln, vergleichen, schreiben könne. Zudem mußte der Wert des Landbesitzes wieder steigen; der tote Punkt mußte erreicht sein. Es handelte sich ja nicht um eine verfehlte Spekulation.

Man nahm das zweite Frühstück gewöhnlich in der großen Halle. Die Glastüren standen weit offen. Auf der Terrasse wärmten sich die Palmen in der Sonnenglut. Durch das Grün der Orangenbäume, deren blank lackierte große Kübel die Sonnenstrahlen reflektierten, schimmerte das helle Weiß zweier Statuen, die den Treppenabstieg zur zweiten Terrasse flankierten. Es waren zwei Göttinnen, Pomona und Flora; Hagen, der die Spottsucht seines Vaters geerbt hatte, bevorzugte sie wegen ihrer Hemdenlosigkeit. Die ganze Westseite des Aubergs fiel in Terrassen zum Tal ab, die teils durch Balustraden, teils durch Spaliere mit Wein und selteneren Obstsorten begrenzt wurden. Im Süden erstreckte sich der Park zirka zwölf Morgen weit in das sich hier mählich senkende Land hinein. Er war ursprünglich Buchenforst gewesen und stieß bis dicht an die Graue Lehne, die der Kommerzienrat gleichfalls hatte ankaufen wollen. Aber die Möllers sagten nein. Das ärgerte Schellheim nunmehr, nach Entdeckung des Heilquells, doppelt.

Man war beim Dessert. Ein junger Diener in ziemlich einfacher Livree wartete auf. Die Rätin hatte eine Melone zerlegt und reichte sie ihrem Gatten.

„Ich will dir was sagen, Gunther,“ fuhr Schellheim in der Unterhaltung fort, eine der goldgelben [49]Scheiben auf seinen Teller legend, „du hast ja recht: die Hellsterns sind liebenswürdige Leute. Aber die Art bleibt dieselbe. Der alte Hochmut ist unausrottbar. Er bricht aus jeder Äußerung, aus jedem Worte hervor. Die Tradition sitzt zu fest in ihnen. Sie erfassen den Zeitgeist nicht. Zum Beispiel: das mit der Quelle. Hellstern ist gegen ihre Ausnützung, weil der Fortschritt in der Kultur ihm unbequem ist. Das stört ihn in seinem Behagen. Nun frag’ ich den Menschen: ist das nicht verrückt?“

„Natürlich,“ entgegnete Hagen; „du wirst mit den Hellsterns nicht warm werden.“

Gunther widersprach. Man müsse die Leute nehmen, wie sie seien. Ansicht gegen Ansicht.

„Ich glaube auch, daß dem Widerstreben des Barons noch andre Befürchtungen zugrunde liegen. Er ist zu klug und zu weltreif, um der Kultur Dämme zu wünschen. Nein, das ist es nicht! Seine persönlichen Empfindungen mögen ja auch mitsprechen. Er liebt es nun einmal nicht, von einem Schwarm fremder Sommergäste umgeben zu sein. Was aber die Hauptsache ist: sein alter Besitz liegt ihm noch immer sehr am Herzen, und er fürchtet, daß die Bauern sich den Segnungen der Kultur, in diesem Falle der Heilquelle, noch nicht reif genug erweisen werden.“

Der Rat schüttelte, einen ironischen Zug um den Mund, den Kopf, und der grimme Hagen lachte fröhlich auf.

„Nimm mir’s nicht übel, Gunther,“ rief er, „das ist eine absonderliche Idee! Was heißt denn das: noch nicht reif? Soll die Kultur vor der Türe warten, bis auch der letzte Schafskopf ihr gütigst den Eintritt erlaubt? Als die Eisenbahnen aufkamen, wetterte und wütete der damalige Verkehrsminister gegen die neue Erfindung, weil er fürchtete, sie würde die Postinstitution ruinieren. Was schadet es denn schließlich, wenn wirklich ein paar Bauern zugrunde gehen, wo auf der andern Seite der ganzen Menschheit gedient wird?“

[50]„Gewiß,“ fügte der Rat hinzu und faltete seine Serviette zusammen. „Jeder Fortschritt ist im Grunde genommen brutal. Er reißt nieder, um neu aufzubauen.“

Gunther errötete leicht. Er sah ein, daß er sich in der Verteidigung der Insassen des Baronshofs vergaloppiert hatte, daß seine Argumente nicht stichhaltig waren. Aber er wollte es nicht zugestehen.

„Ich bin nicht ganz eurer Ansicht,“ erwiderte er. „Nur der stetige Fortschritt bringt Segen. Selbst Guttaten wie die Emanzipation der Bauern und die Aufhebung der Leibeigenschaft haben unsägliches Unglück im Gefolge gehabt, weil sie zu unvorbereitet kamen.“

„Das ist das, was ich sagte,“ bemerkte Schellheim. „Die Kultur reißt Löcher, schließt sie aber auch wieder.“

„Deshalb kann man immerhin die Opfer der Kultur bedauern,“ entgegnete Gunther etwas kleinlaut. „Es tut mir leid, daß der Besitz der Quelle nicht in verständigen Händen ruht. Vor allen Dingen kann ich aus persönlichem Empfinden Herrn von Hellstern nur zustimmen; ich würde es auch lieber sehen, wenn ich bei meinen Besuchen in Oberlemmingen nicht auf Schritt und Tritt auf Kranke und Sommerfrischler stieße.“

„Mahlzeit,“ sagte der Rat und erhob sich. Der Diener zog den Stuhl seines Herrn zurück. Man trank den Kaffee stets gleich nach dem zweiten Frühstück auf der ersten Terrasse. Dort war bereits der Tisch unter einer blauweiß gestreiften Markise gedeckt. Ein Licht und zwei Zigarrenkisten standen zwischen Tassen und Tellern. Das Licht brannte, aber man sah die Flamme kaum in der blendenden Helle des Tages.

Während Schellheim sich eine Zigarre anzündete, nahm er das Thema von vorhin wieder auf. Er wandte sich direkt an Gunther, dem Hagen soeben eine Papyrus aus seinem Tulaetui anbot.

[51]„Ich will dir was sagen, mein Junge,“ begann er – das war eine stehende Redewendung von ihm –, „wenn sich die Quellengeschichte wirklich günstig entwickelt und sich nicht noch nachträglich als Mumpitz herausstellt – ich fürchte es beinah’, ich trau’ der Sache nicht so recht –, na, das wäre auch für uns nicht so übel. Durchaus nicht. Denk mal, wie Grund und Boden steigen wird, wenn hier erst die Leute zusammenströmen und Obdach und Nahrung haben wollen! Auch die Produktenpreise werden in die Höhe gehen – ich meine, liebe Jenny“ – er wandte sich an seine Frau –, „wir könnten ganz gut noch die sechs Morgen Wiesenland an der Barbe zum Gemüsegarten schlagen.“

Und ohne die Antwort der Rätin abzuwarten, die nur den Kopf neigte und dann weiter die Tassen füllte, fuhr er lebhaft fort:

„Was mich grimmt, ist lediglich die Dickköpfigkeit der Möllers. Zwölftausend Mark ist ein Stück Geld für die paar Buchenkuscheln. Ich glaube, die Möllers witterten damals schon die Heilkraft der Quelle – kann mir’s sonst nicht erklären, warum sie so stätisch blieben! Na, ich bin neugierig, was sie machen werden! Ich habe mir’s überlegt: ich misch’ mich nicht ’rein. Sie können mir kommen, wenn sie wollen ... Wie ist’s, Kinder, wollt ihr wirklich mit dem Abendzuge zurück?“

Die Brüder bejahten. Sie hätten beide zu tun. Hagen erzählte von großen Aufträgen aus Amerika, deren Effektuierung Beschleunigung verlange. So kam „das Geschäft“ auf die Tagesordnung; der Rat wollte Einzelheiten wissen, und Hagen zog sein Notizbuch aus der Tasche.

Inzwischen erhob sich Gunther und trat an die Sandsteinbalustrade heran. Der Ausblick von der Höhe bot seltene Reize, und sie wechselten je nach der Beleuchtung. Jetzt, im prallen Glanze der Mittagssonne, war die ganze Landschaft in ein weißliches Gelb getaucht. Ein blonder Schimmer lag über den [52]Ährenfeldern, in die Kolonnen von Schnittern weite, zackige Lichtungen schnitten, denn heute früh hatte man auch auf dem Augute mit der Ernte begonnen. Auf den Wiesen tönte sich das weißgelbe Licht zu einem ganz hellen und zarten Grün ab, und an der waldbesetzten Bergreihe am Horizont mischte sich noch ein leichter blauer Ton hinein.

Gunther schaute nach der Seite hinüber, wo der Baronshof lag. Man sah aus dem Dunkel der alten Bäume nur einen kleinen Dachteil des Herrenhauses hervorlugen, ein paar hundert braunrote und geschwärzte Ziegel. Aber vor dem Auge Gunthers öffnete sich der Vorhang aus grünem Laub, und es schien ihm, als sehe er das ganze alte Haus vor sich liegen und oben auf der Veranda eine große Mädchengestalt in hellem Gewande, die ihm mit freundlichem Lächeln zunickte. Hedda hatte ihm sehr gefallen. Er war noch nicht auf die Idee gekommen, sich ein weibliches Idealbild zu konstruieren, aber er meinte, so wie Hedda, so ungefähr müsse sein Ideal wohl ausschauen. Und er warf plötzlich mit ärgerlicher Gebärde den Rest seiner Zigarette über die Balustrade. Wirklich, er ärgerte sich über seine dummen Gedanken!

Hinter ihm ertönte eine fremde Stimme. Der Diener hatte Herrn Bauunternehmer Möller angemeldet.

Der Kommerzienrat horchte auf, als er den Namen vernahm. Einer von den Möllers – aha, man „kam“ ihm schon! Ein breites Lächeln trat auf sein Gesicht.

„Führen Sie den Herrn hierher,“ befahl er.

„Entschuldigen der Herr Kommerzienrat,“ erwiderte der Diener, „es sind drei Leute –“

„Drei?“ Und Schellheim lachte fröhlich auf. Also gleich drei – man wollte ihm durch eine Phalanx imponieren. „So lassen Sie alle drei herkommen, Friedrich,“ entschied er.

Die Rätin fragte bescheiden, ob es nicht besser [53]sei, wenn sie sich mit den Kindern entferne. Aber ihr Mann verneinte; man wisse ja noch nicht einmal, was die Herren überhaupt wollten.

Das Trio trat an. Voran Albert, dann Bertold und zuletzt Fritz Möller, hintereinander und mit dem Ausdruck des Respekts im Gesicht, von dem ihr Herz in dieser Atmosphäre des Reichtums erfüllt war. Der dicke Fritz hatte sich gleich den andern beiden sonntäglich angekleidet, doch der schwarze Rock paßte nicht recht und schlug an ungehörigen Stellen Falten, und über dem topfförmigen Zylinderhut lag ein rosiger Bronzeton. Der Zylinder gehörte ihm auch nicht, sondern dem Alten, der ihn nur zu Hochzeiten und Kindtaufen trug. Dann bügelte Mutter Möller ihn auf, das heißt sie plättete ihn mit einem heißen Bolzen. Davon hatte er seine anmutige Färbung erhalten.

Albert und Bertold blieben stehen und verbeugten sich. Aber Fritz hatte nicht aufgepaßt und ging weiter, rannte erst gegen Bertold an und machte dann auch sein Kompliment. Bertold war wütend, rückte an seiner Brille und flüsterte, während Albert bereits zu sprechen begann, dem jüngeren Bruder zu:

„Nimm doch den Hut ab, Tolpatsch!“

Nun entblößte auch Fritz den Flachskopf. Er war rot geworden vor Verlegenheit.

„Nehmen Sie es nicht übel, Herr Kommerzienrat,“ sagte Albert inzwischen, „daß wir Sie inkommodieren. Wir möchten Sie um eine Rücksprache bitten. Es handelt sich nämlich um die Quelle ...“

Schellheim hatte sich erhoben und reichte jedem der drei die Hand. Es war sein Bestreben, sich kordial zu zeigen. Die Leute da unten sollten ihn lieben lernen.

„Ich dacht’ es mir beinah’, meine Herren,“ erwiderte er. „Dürfen die Meinen dabei sein, oder ist es Ihnen angenehmer, unter vier Augen –“

Albert wehrte ab. Ihre Sache sei durchaus kein Geheimnis.

[54]Der Rat bot ihnen Stühle und Zigarren an. Fritz betrachtete die seine mit Ehrfurcht. Sie hatte ein Bändchen um den schlanken Leib und sah nach viel Geld aus.

Dann entwickelte Albert seine Ideen und Absichten. Er sprach recht gewandt, erzählte zunächst von der Analyse des Professors Statius und von der Auskunft, die er persönlich über die Heilkraft des Wassers erhalten hatte, und ging hierauf auf die Finanzierungsfrage über. Man wollte ein Konsortium bilden, das die vorbereitenden Arbeiten ausführen solle, und dann das ganze Unternehmen in eine Aktiengesellschaft verwandeln.

Schellheim erkannte sofort, daß dieser lange Maurerpolier eine nicht gewöhnliche kommerzielle Begabung besaß. In der Darlegung der Einzelheiten verriet sich sogar eine so schlaue, zuweilen überraschend raffinierte Berechnung, wie der Kommerzienrat sie dem einfachen Manne kaum zugetraut hätte.

Die Rätin hatte sich mit ihren Söhnen absichtlich zurückgezogen. Die drei promenierten im Laubengang der zweiten Terrasse auf und ab, während oben Albert Möller mit lauter Stimme weitersprach. Die beiden andern Brüder saßen stumm neben ihm und nickten nur zuweilen mit dem Kopfe, um ihre Zustimmung zu allem zu bekunden, was der Wortführer sagte.

Plötzlich hörten die Promenierenden, daß Schellheim den Sprecher unterbrach. Der Rat wußte nun, wohinaus die Möllers wollten, aber es war unnötig, noch weiter über die Sache zu reden, ehe er sie selbst nicht klar überschauen konnte.

„Sie wünschen, daß ich mich Ihres Unternehmens annehme,“ sagte er, „daß ich mich theoretisch und praktisch daran beteilige – nicht wahr, das wollen Sie doch? Ich soll Ihnen sozusagen helfen, die Geschichte in Gang zu bringen, die Kapitalien zu schaffen, die geeigneten Repräsentations- und Arbeitskräfte [55]zusammenzutrommeln.... Nun schön, ich bin dazu bereit –, die Sache interessiert mich, denn eure Quelle fließt mir sozusagen an der Nase vorbei. Aber erst muß ich mich selber orientieren. Eure Analysen genügen noch nicht. Man muß offizielle Persönlichkeiten heranziehen, Berühmtheiten ersten Ranges.... Und dann: eine kurze Frage. Sie wissen, lieber Herr Bau –“ er zögerte einen Moment, weil ihm der Titel Bauunternehmer zu lang erschien, und fuhr dann rascher fort: „Sie wissen, lieber Baumeister, daß ich Ihrem Vater schon vor Jahresfrist anbieten ließ, die Graue Lehne mit der Buchwaldparzelle zu kaufen. Ich bin noch immer dazu geneigt. Nun haben sich durch die Auffindung der Quelle die Preisverhältnisse natürlich wesentlich geändert. Allein vielleicht würden wir doch noch einig werden. Überlegen Sie einmal daheim, ob wir nicht von neuem über das Terrain in Verhandlung treten können ...“ Er schaute aufmerksam auf seine Fingernägel.... „Ich will Ihnen was sagen, meine Herren: die Heilquelle ist ja ganz schön, aber erstens ist es doch noch sehr die Frage, ob aus ihr wirklich etwas zu machen ist. Solche Säuerlinge gibt es zu Tausenden im Lande – die meisten sind nicht viel wert. Und zweitens wird Ihnen die Geschichte unendlich viel Scherereien und Schwierigkeiten machen, – ach du lieber Gott, Sie haben ja gar keine Ahnung, was es heißt, solch ein weitausschauendes Unternehmen ins Leben zu rufen! Ob es sich überhaupt lohnen wird?“ Der Kommerzienrat zog die Schultern hoch. „Ich glaub’s eigentlich nicht. Nein, ich glaub’s nicht! Wir haben kleine Badeorte, die nicht leben und sterben können. Geschäfte werden da kaum zu machen sein – an eine Dividende ist vorläufig gar nicht zu denken.... Na – man muß abwarten! Jedenfalls überlegen Sie sich den Verkaufsgedanken noch einmal. Wenn ich die Graue Lehne im Besitz hätte – ich glaube – ich glaube, ich würde die Quelle ruhig [56]weiter fließen lassen. Das Risiko ist zu groß – zu groß ...“

Die drei Brüder hatten Schellheim mit keinem Wort unterbrochen. Aber von einem zum andern flog ein rascher Blick des Einverständnisses herüber, der zu sagen schien: nicht angst machen lassen, immer ruhig bleiben! Und nun antwortete Albert in respektvollem Tone:

„Verzeihen Sie, Herr Kommerzienrat, aber wir verkaufen die Graue Lehne bestimmt nicht. Und wenn Sie uns hunderttausend Mark auf den Tisch legen wollten, wir tun es nicht. Der Vater denkt gerade so. Und wenn Ihnen eine Beteiligung an der Ausbeutung der Quelle zu unsicher dünkt, dann müssen wir eben weiter gehen, so leid uns das tun würde. Die Frankfurter Produktenbank hat sich schon bereit erklärt –“

Schellheim fuhr auf. Solcher Unsinn! Man solle sich nur ja die Bankinstitute fern halten. Es gebe genug kapitalkräftige Leute.

„Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, meine Herren,“ schloß er. „Senden Sie mir die Analyse und das sonstige Material über die Quelle zu. Wenn Sie noch zu Herrn von Hellstern gehen wollen – es soll mir recht sein. Solche Leute braucht man.... Also auf Wiedersehen!“

Das war das Zeichen zum Aufbruch. Der Kommerzienrat reichte wieder jedem der drei die Hand und führte sie selbst nach dem Parkausgang. Dabei plauderte er ununterbrochen, berührte aber die Quellenfrage mit keinem Wort mehr. Er sprach über die Ernte, das Wetter, die Getreidepreise, über alles mögliche. Und während die drei Brüder die breite Fahrstraße einschlugen, die vom Auberge nach der Chaussee führte, blieb er noch eine geraume Weile am eisernen Parkportal stehen und schaute den Möllers nach. Der rötliche Bronzeton von Fritzens altväterischem Zylinderhut leuchtete fröhlich im Sonnenschein.

[57]„Geriebene Gesellschaft,“ murmelte der Kommerzienrat halblaut vor sich hin. Dann kehrte er auf die Terrasse zurück.

„Nun, Papa?“ rief ihm Hagen entgegen. „Abgemacht?“

„I bewahre,“ entgegnete Schellheim, und der Sohn spürte am Tone, daß etwas wie eine leichte Gereiztheit herausklang. „Hellstern hat recht: mit den Leuten ist schwer verhandeln. Ich mache auch nicht mit – ich werde mich hüten. Es ist nichts mit der Quelle – nichts! ...“ Er griff nach einer neuen Zigarre. „Wann geht euer Zug, Hagen? Um neun, nicht wahr?“

„Ja, um neun, Papa.“

„Schön, da könnt ihr mich noch gegen sechs auf die Felder begleiten. Ich will eine Umfahrt halten. Das ist so Sitte am ersten Erntetage – ich habe mich erkundigt. Und bei dieser Gelegenheit wollen wir einmal an der Grauen Lehne aussteigen. Man kann sich das – das Dings wenigstens mal ansehen.“

Der kluge Hagen lächelte. Er wußte ganz genau, daß sich der Vater die Beteiligung an dem Quellenunternehmen nicht entgehen lassen würde.


Die drei Möllers wendeten sich kurz vor der Chaussee rechts ab; sie schlugen den schmalen Fußweg nach dem Baronshof ein. Anfänglich sprachen sie wenig; stumm schritten sie nebeneinander her. Fritz rauchte noch immer die Zigarre, die ihm der Kommerzienrat angeboten hatte, obwohl ihm der kurze, glühende Stummel fast die Finger verbrannte. Bertold rückte nervös an seiner Brille und nahm als erster das Wort.

„Das ist ein Schlauer, der Kommerzienrat,“ meinte er.

Nun wurde Albert plötzlich sehr lebhaft. Er begann ohne Ursache auf Schellheim zu schimpfen. Das seien alles Betrüger, die reichen Berliner [58]Herren. Man müßte gewaltig auf der Hut sein, sonst zögen sie einem das Fell über die Ohren. Alles schwarz auf weiß und notariell, was man mit denen abmache – nicht anders. Schellheim ärgere sich nur, daß man ihm die Graue Lehne nicht verkauft habe; Millionen würde der aus der Quelle herausschlagen. Aber man wolle die Millionen allein verdienen. „Wenn man das Pack nur nicht brauchte!“ schloß er.

„Wir brauchen es aber,“ erwiderte Bertold. „Da hilft alles Schimpfen nicht. Wir haben doch lange genug darüber gesprochen. Was uns ungeheure Mühen machen würde, erreicht so einer im Umsehen. Aber über die Ohren hauen lassen wir uns deshalb schon lange nicht.“

„Wir sind auch helle,“ sagte Albert.

Fritz warf seinen Stummel fort. „Die Zigarre war gut,“ bemerkte er.

Auf dem Baronshofe mußten die drei erst August suchen, um sich anmelden zu lassen. In der Mittagshitze lag das Gehöft wie ausgestorben da. Selbst das Hühnervolk hatte den Schatten aufgesucht und sich unter den Akazien im warmen Sande eingekuschelt. Lord, der Hofhund, kläffte die drei Männer ununterbrochen an und raste an seiner klirrenden Kette bald in die Hütte hinein, bald wieder heraus.

Endlich fand man August, der in einem Winkel der Häckselkammer Siesta zu halten pflegte. Mit verschlafenen Augen begrüßte er die drei als gute Bekannte und machte zunächst seine Witzchen mit ihnen. Er glaube übrigens nicht, daß der Herr Baron schon zu sprechen sei; um diese Zeit halte er noch seinen Mittagsschlummer. Aber er wolle jedenfalls nachsehen.

Indessen gingen die Möllers in der Prallsonne auf und ab. Unter dem schweren Zylinder Fritzens rannen große Tropfen und perlten dem Burschen über die dicken Backen. Das verteufelte Ding schien immer schwerer werden zu wollen. Fritz nahm den [59]Hut auf ein paar Minuten ab, aber da brannte ihm die Sonne stechend auf den Flachskopf, und mit einem Fluch setzte er das Ungetüm wieder auf.

Albert war mit überlegender Miene vor der Veranda stehen geblieben. Er hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und die Augen halb geschlossen, wie immer, wenn er in Gedanken war.

„Was grübelst du denn, Albert?“ fragte Bertold.

„Ach,“ entgegnete dieser lächelnd, „ich dachte so ’n bißchen nach. Das alte Herrenhaus ist gut gebaut. Mauern wie Festungswälle und Balken von Eisen. Das wäre leicht auszubauen. Die Lage ist wie geschaffen für das Sanatorium.“

„Der Baron wird dir was pusten,“ meinte Fritz, und Albert erwiderte trocken: „Bar Geld lacht!“

August kehrte zurück. Der Herr Baron säße schon wieder am Schreibtisch, aber er hätte nicht viel Zeit; es wäre ihm lieb, wenn es rasch ginge. Und dann führte er das Dreiblatt in das große, kahle, gewölbte Gemach, in dem der Baron zu arbeiten pflegte.

Er saß in dem ausgeschnittenen Halbkreis seines Tisches, mitten unter Haufen von alten Folianten und Papieren, die ihn wie eine Palisadierung umgaben. Und rechts von ihm saß Hedda, aber auf keinem gewöhnlichen Stuhl, sondern auf einem halben Dutzend übereinandergestapelter Foliobände von Merians Topographie, und vor sich auf dem Schoße hatte sie ein aufgeschlagenes lateinisches Lexikon und suchte für den Alten Vokabeln auf. Es war wundervoll kühl im Zimmer, und ein angenehmes Dämmerlicht herrschte, da die Läden vor den Fenstern geschlossen waren. Hellstern rauchte wieder seine Pfeife, doch es war nicht so schlimm wie sonst, und in die Tabaksatmosphäre mischte sich ein zarter Rosenduft, der dem großen Buschen entströmte, den Hedda auf eine Ecke des Schreibtisches gestellt hatte: ein hübsches Symbol blühender Gegenwart mitten unter dem Moderhauch der Vergangenheit, der aus den alten [60]Chroniken, Pergamenten und Briefschaften aufzusteigen schien.

Hedda nickte den Männern freundlich zu, und Hellstern rief ihnen gleich entgegen:

„Tag, Möllers! Ich weiß schon! Wegen der Quelle – nicht wahr? Kinder, laßt mich mit der Geschichte in Ruhe! Ich will nichts davon wissen!“

Albert war sehr betroffen; Bertold rückte an seiner Brille, und Fritz machte ein dummes Gesicht und glättete mit dem Ärmel seinen Zylinderhut.

„Herr Baron,“ begann Albert endlich, „Sie werden uns doch wohl wenigstens anhören wollen –“

„Anhören – meinetwegen,“ grunzte der Freiherr. „Aber bitte, kurz, Kinder – ich habe den Kopf voll. Ihr hättet’s auch, wenn ihr euch mit dem schindludermäßigen alten Latein ’rumärgern müßtet –“

„Papa,“ fiel Hedda mit leisem Vorwurf ein.

„Ach so – entschuld’ge – du bist ja auch da! – Nanu vorwärts, ihr Herren!“

Er paffte aus Mund und Nase. Und Albert begann abermals seinen Vortrag – dasselbe, was er Schellheim erzählt hatte, und Bertold und Fritz nickten wieder an denselben Stellen, genau so wie oben auf der Terrasse des Auschlößchens.

Hellstern hörte geduldig zu und grunzte nur zuweilen leise auf, wenn ihm irgend etwas nicht gefiel. Schließlich fragte er, seine Pfeife aus dem Munde nehmend:

„Was erzählt ihr mir das denn eigentlich alles?! Soll ich vielleicht auch ein paar Aktien nehmen, wenn ihr erst so weit seid? Und wovon, wenn ich fragen darf? Ihr seid reiche Leute gegen mich, meine lieben Herren; ich habe kein Geld – gar keins – und für eure Quellenspekulation erst recht keins!“

„Wir wollen ja auch kein Geld von Ihnen, Herr Baron,“ antwortete Albert. „Wir wollen bloß Ihren Namen – nichts weiter.“

[61]„Namen?! Wozu – was heißt das – Namen?!“

„Ich versteh’ schon,“ fiel Hedda ein, und nun wandte sich Albert mit Lebhaftigkeit an die Baronesse.

„Das ist doch ganz einfach, gnädiges Fräulein,“ sagte er, sich zu ihr hinabneigend. „Es ist eine große Sache, die der ganzen Menschheit nützen soll – nichts Schlechtes dabei, nichts Unreelles, nichts Schwindelhaftes. Aber der Welt muß man das klar machen, sonst glaubt sie’s nicht. Und wenn der Name des Herrn Barons an der Spitze des ersten Konsortiums prangt –“

Er kam aber nicht weiter. Hellstern stieß ihn mit der Spitze des Pfeifenkopfs in die Seite.

„Sie, lieber Möller,“ fiel er ein, „bemühen Sie sich nicht weiter! Ich mache so ’ne Geschichte nicht. Mein Name ist kein Aushängeschild – meiner nicht! Aber wenn’s schon ein Adeliger sein soll – ’s gibt ja leider genug adeliges Proletariat im Lande –, vielleicht finden Sie sogar ’nen Grafen –“

„Aber, Herr Baron,“ schnitt ihm Albert das Wort ab und hob die Hände, was der dicke Fritz ihm nachmachte, um sich wenigstens pantomimisch an der Debatte zu beteiligen, „es handelt sich ja doch um Ihren Namen, nicht um einen beliebigen – und auch um Ihre Person! Ihr Geschlecht sitzt hier ja hundert Jahre oder länger, was weiß ich – und Sie sind überall beliebt, bei Bauern und Gutsbesitzern, sind mit dem Herrn Landrat befreundet und mit beiden Abgeordneten, haben noch immer Sitz und Stimme im Herrenhause, im Provinziallandtag, bei den Synoden, den Kreisverhandlungen – du lieber Gott, das ist alles sehr wichtig für uns! Und wir wollen das ja auch nicht umsonst haben – Sie sollen mit bei der Sache verdienen –, wir kaufen Ihnen Ihr Haus ab und machen ein Sanatorium daraus ...“

Der Freiherr schlug mit der Hand auf den Tisch, daß es dröhnte.

[62]„Sie sind wohl des Teufels, Möller?!“ schrie er. „Ich bin froh, daß ich meine vier Wände behalten konnte, – hier will ich auch sterben! Bauen Sie sich Ihr Sanatorium, wo Sie wollen, aber auf den Baronshof kommt mir kein fremdes Volk! Ich lasse eine Tafel am Parkeingang anbringen mit der Inschrift: ‚Kurgästen ist der Eintritt verboten.‘ Oberlemmingen war immer ein gesunder Ort, – aber mit eurer verdammten Quelle zieht ihr die Krankheiten mit Gewalt her. Es ist kein Vergnügen, lauter leidende Menschen um sich zu sehen. Die ganze Luft wird verpestet werden, und die Bazillen werden nur so umherschwirren. Hübsche Aussichten – ich danke ergebenst! Und zu dem allem soll ich euch auch noch helfen, meinen Namen hergeben als Köder, als Lockvogel – prost Mahlzeit, da seid ihr an den Falschen gekommen!“

Die drei Möllers schauten verdutzt vor sich nieder. Eine so rücksichtslose Abweisung hatte keiner von ihnen erwartet. Ihre unglücklichen Gesichter erweckten ein gewisses Mitleid in Hedda. Sie klappte ihr Lexikon zu und sagte:

„Ich denke mir, die Sache eilt noch nicht so. Es muß doch überlegt werden. Vielleicht kommen die Herren noch einmal wieder –“

„Nein!“ schrie der Alte erbost. „Ich will nichts mehr hören! Ging’ es nach mir, so würde die Quelle wieder zugestopft. Ich glaub’ nicht an ihren Segen!“

„Das ist jedermanns Sache, Herr Baron,“ erwiderte Albert, „zu glauben, was er selbst will. Wir hoffen etwas von der Quelle –“

„Ein gutes Geschäft hofft ihr – das lockt euch!“

„Das auch, freilich! Jeder Mensch will verdienen. Aber wir gewinnen nicht allein. Ganz Oberlemmingen wird aufblühen –“

„Oder zugrunde gehen!“ rief der Baron dazwischen. Sein braunes Gesicht war noch dunkler geworden. „Ich kenn’ euch doch, Kinder, – mir macht ihr nichts weis! Ihr kümmert euch den Geier [63]um die andern, wenn ihr nur eure Taschen füllen könnt! Und ich sehe kommen, wie’s werden wird – ganz genau! Will’s Glück euch wohl und die Quelle wirft wirklich Geld ab – ’s fließt doch nur zu euch! Ihr werdet einen Ring bilden, den keiner durchbrechen kann, und die kleinen Leute bleiben draußen stehen und lassen die Zunge aus dem Halse hängen und hungern weiter!“

Hedda machte eine unmutige Bewegung mit dem Kopfe. Sie fand, daß der Vater unnötig hart sei, und dies Wort sprach Albert auch aus.

„Das klingt sehr hart, Herr Baron,“ sagte er, „und ich glaube auch, daß dazu kein Grund vorliegt. Wir haben Sie ja doch aufgefordert und den Herrn Kommerzienrat drüben auch –“

„Und soundsoviel andre dito – nämlich die, die ihr zuvörderst braucht, ohne die ihr die Sache nicht in Szene setzen könnt. Denn ihr allein seid hilflos. Aber wozu noch das lange Parlamentieren! Ihr seid mit einer Anfrage zu mir gekommen, und ich lehne dankend ab. Dixi. Im übrigen – ich habe keinen von euch kränken wollen – aber ihr kennt ja meine Art. Und nun adje, Kinder!“

Er streckte den Möllers die Rechte entgegen. Hedda nickte ihnen zu und rief Fritz noch nach:

„Wann soll denn Hochzeit sein, Krugwirt? Noch nichts bestimmt?“

Fritz hatte seinen Zylinder schon wieder aufgesetzt, riß ihn aber schleunigst vom Kopf. Er wurde rot und lächelte breit. „Nein, gnäd’ges Fräulein,“ antwortete er, „noch nichts. Es hat ja noch Zeit.“

Und dann wendete sich auch Albert noch einmal herum und fügte hinzu: „Wir woll’n mal erst abwarten, gnäd’ges Fräulein.“

Sie gingen.

„Grobian,“ sagte Bertold draußen.

„Der Kommerzienrat ist anders,“ bemerkte Fritz. „Mir schmeckt noch seine Zigarre.“

Albert war wieder vor der Veranda stehen geblieben. [64]Er packte die Brüder mit beiden Händen an den Rockklappen.

„Das merk’ ich mir,“ sagte er halblaut, in verbissener Wut. „Und wenn’s mir ein Vermögen kosten sollte, – das Herrenhaus bring’ ich an mich. Hier soll der Alte nicht sterben – oder der Teufel müßt’ ihn gerade schon in den nächsten drei Jahren holen!“ –

Hedda hatte wieder ihr Lexikon zur Hand genommen.

„Immer gleich bullern, Vater,“ meinte sie. „Man kann doch auch in Ruhe mit den Leuten sprechen.“

Hellstern schleuderte ein zusammengerolltes Pergament quer über den Tisch.

„Kann man nicht!“ schrie er zurück; „sonst tät’ ich’s!“

„Gut. Aber überlegen kann man.“

„Wieso? Was überlegen?“

„Ob die Ausbeutung der Quelle nicht doch Gemeinnütziges schaffen kann.“

Der Alte gab darauf keine Antwort. Er beugte sich nieder über den Folianten rechter Hand. „Steck die Nase ins Buch,“ befahl er grob. „Was heißt myrobalanum?“

Hedda schlug nach, antwortete aber nicht.

Der Alte schrieb eine Zeile weiter und schaute auf. „Nun – hast du’s?“

„Ja,“ erwiderte Hedda, „aber ich sag’ es nicht.“

„So behalt’s für dich!“

Und wieder schrieb er weiter und wieder stockte seine Feder. „Hedda, ich will wissen, was myrobalanum heißt! Das muß ein blödsinniges Wort sein – ich finde keine Bedeutung heraus.“

„So laß es doch, Vater,“ erwiderte Hedda gleichmütig.

„Gib mir das Lexikon ’rüber, zum Schwerenot!“

„Nein, Vater, – erst mußt du mich ganz sanft um einen Kuß bitten.“

Da flog ein seliges Leuchten über das gerbbraune Gesicht des Brummbärs; er warf die Feder hin und breitete beide Arme aus.

[65] Viertes Kapitel

Die Ernte war eingebracht worden, und zugleich mit dem Sedantage wurde das Erntefest gefeiert. Es sollte diesmal ganz besonders großartig zugehen, da es das erste unter dem Regiment des Kommerzienrats war, von dessen freigebiger Hand man sich viel versprach. Auf dem Baronshof hatte man nie viel Wesens von derartigen Feiern gemacht. War die Ernte gut ausgefallen, so gab es ein paar Achtel Bier und Schnaps, waren die Zeiten schlecht, so gab es gar nichts. Und seit Jahren hatte es in der Tat gar nichts gegeben.

Die halbe Nacht über hatten Frauen und Mädchen an ihrem Putz und am Erntekranz gearbeitet. Das war eigentlich kein Kranz, sondern eine Krone: Ähren, Blumen und bunte Bänder über ein Holzgestell geflochten, das der alte Klempt mit vieler Kunst zurechtgebaut hatte.

Daneben hatten die Musikanten viel mit den Proben zu tun. Sie probten unter der Leitung des Kantors in der Schulstube, daß man es durch das ganze Dorf hören konnte. Es waren freilich nur fünf Mann: Fritz Möller, der das Bombardon blies, dann Anton Tengler, der Sohn von „Schlippermilch“, der junge Raupach und zwei Knechte vom Augut. Noten kannte keiner; sie spielten alle zusammen nach dem Gehör, und zwar so lange, bis es einigermaßen klang. Und da der Kantor das feinste Ohr im Dorfe besaß, so mußte er immer die Entscheidung fällen. Die beiden Knechte waren unter seiner Fuchtel aufgewachsen und ließen sich demzufolge auch leicht belehren. Sie waren zudem die musikalischsten der Banda. Sie bliesen des Sonntags die Posaunen in der Kirche, die der hochselige Baron, der Vater Hellsterns, bei seiner Verheiratung der Gemeinde geschenkt hatte. Das hörte sich ganz hübsch [66]an, mitten unter dem Orgelspiel, und wenn sie einmal falsch bliesen, so störte es auch nicht, weil es keiner merkte.

Diese beiden Posaunenengel waren, wie gesagt, am leichtesten zu regieren, aber die drei andern wollten sich durchaus nichts sagen lassen. Der Kantor schwur jedesmal Stein und Bein, daß er sich um diese Mordsmusik nie wieder kümmern werde, doch bei der nächsten Gelegenheit war er gutmütig genug, abermals „die Direktion“ zu übernehmen. Am störrigsten war der dicke Fritz. Er stampfte den Takt gewöhnlich mit dem rechten Fuße mit und zählte dabei in Gedanken so lange, bis die Reihe an ihn kam. Und rechnete er einmal falsch und blies den andern in die Musik hinein, so behauptete er, Tengler habe nicht aufgepaßt, oder Raupach sei zu spät eingefallen, oder ihm sei eine Motte in das Bombardon geflogen. Ausreden hatte er immer. Man hatte übrigens nur drei Stücke auf dem Repertoire: „Heil dir im Siegerkranz“, „Nun danket alle Gott“ und einen Marsch. Das genügte auch. Zum Tanze am Abend kam doch der alte Vietz aus Wallwitz mit noch einem Geiger.

Fritz hatte sich diesmal bitten lassen, ehe er zugesagt hatte. Die freien Bauern beteiligten sich an der Cour vor dem Herrn nicht, sondern wohnten nur dem Tanze bei, währenddessen auch sie zuweilen einen Taler für ein neues Achtel springen ließen. Aber als Bläser hatte Fritz schon seit Jahren mitgewirkt. Man meinte, ohne ihn ginge es gar nicht, und es war auch wahr: es hatte niemand die Kraft, das ungeheure alte Bombardon so zu meistern wie der starke Fritz. Das Bombardon war gleich den Posaunen Gemeindeeigentum; man wußte nicht recht, wo es herkam. Jedenfalls mußte es bereits hoch an Jahren sein und war wahrscheinlich französischen Ursprungs, denn es hatte nur zwei Ventile. Ein Mensch mit gewöhnlichen Lungen entlockte dem gelben Ungetüm keinen Ton, höchstens einen leisen, kreischenden [67]Wimmerlaut. Aber wenn Fritz mit geblähten Backen hineinblies, dann klang es gewaltig und mauernerschütternd. Und deshalb sollte er auch dieses Mal wieder dabei sein. Doch er sperrte sich; er war plötzlich stolz geworden und meinte, das schicke sich nicht mehr für ihn. Aber der Alte redete ihm zu: man mußte gewisse Rücksichten auf den Kommerzienrat nehmen.

Gewiß, die Möllers hatten allen Grund dazu. Schellheim hatte Albert eines Tages die ihm übergebenen Schriftstücke in bezug auf die Quelle zurückgeschickt und ihm kurzerhand geschrieben, die Sache interessiere ihn doch nicht so, wie er anfänglich gemeint hätte, auch erfordere sie zu große Opfer, und was der ablehnenden Redewendungen mehr waren. Das war schlimm. Albert war ganz verzweifelt. Er nahm zwar immer noch den Mund voll und wiederholte jedem, der es hören wollte, daß er eine „Bank hinter sich“ habe. In Wahrheit aber hatte die Frankfurter Produktenbank, ein kleines Institut unter ängstlicher Oberleitung, ihn bereits abgewiesen, nachdem sie sich nach seinem Ruf und seinem Vorleben erkundigt hatte. Und in Berlin war es Albert ähnlich ergangen; es war ersichtlich, man traute dem einfachen Manne nicht. Das grimmte Albert furchtbar; er war wütend. Er sah ein, daß er die Sache unmöglich allein durchführen konnte, daß er eines kreditschaffenden Namens bedurfte. Und so wandte er sich von neuem an den Kommerzienrat, hatte aber bisher noch keine Entscheidung erhalten.

Dieser zweite September war ein wundervoller Tag. Es lag schon etwas wie ein leiser Herbsthauch in der Luft; in dämmernder Frühe sah man über dem Grün des Dorfangers und an den Brombeerbüschen schneeweißen Altweibersommer hängen, und der Tau war über Nacht so stark gefallen, daß die Leute meinten, es habe geregnet. Doch der frischherbstliche Odem hatte etwas Erquickliches. Die Atmosphäre war wonnig rein; man sah die Oderberge [68]in vollster Klarheit am Horizonte liegen und sogar das Johanniterkreuz auf dem Kirchturm von Alt-Reuthen.

Um acht Uhr sollte sich der Zug auf dem Anger sammeln. Die Musikanten waren die ersten, nur Fritz Möller fehlte noch. Dann kamen die Knechte und Mägde und Kleinbauern, die zugleich Handwerker waren und in Lohn und Arbeit bei Schellheim standen. Auch einige Bauerntöchter beteiligten sich, die nicht auf dem Augute bedienstet waren; allerseits waltete das Bestreben vor, dem diesjährigen Erntefest einen großartigen Anstrich zu geben.

Die Mädel hatten sich schön gemacht; es flatterte und leuchtete von bunten Bändern. Und dies Bandwerk, das beliebteste Putzmittel, das man für wenige Groschen beim Krämer kaufte, verlieh selbst den ältesten und verwaschensten Kleidern das Aussehen heiterer Neuheit. Hinter der Musik schritt der Älteste von Langheinrich mit der Erntekrone, die er auf langer Stange trug, und ihn umgaben die Erntejungfern. Braumüllers Liese sollte den Vers sprechen; sie war ein dickes Mädchen mit hübschem, dummem Gesicht und hatte schreckliche Angst, daß sie beim Aufsagen der Reime stecken bleiben würde. Hundertmal hatte die Mutter sie überhören müssen, aber über die Stelle: „Wünschen wir einen heiligen Lohn“ stolperte sie immer. Deshalb hatte sie ihre Freundin Dörthe Klempt gebeten, ihr zu soufflieren, und Dörthe hatte auch von Hedda Erlaubnis erhalten, sich am Zuge beteiligen zu dürfen.

Nun waren alle da, nur Fritz Möller fehlte noch mit seinem Bombardon. Im Glanze der Morgensonne rangierte sich der Zug. Auch die Burschen trugen Bänder an Hüten und Mützen und ein jeder einen Strauß Ähren im Knopfloch. Überall ruhte heute die Arbeit. Am Zaune des Kantorgartens stand Feilner mit umwundenem Kopfe, die lange Pfeife im Munde, neben ihm seine Frau, an jeder Hand ein kleines Mädchen. Selbst der Pastor war [69]neugierig geworden. Sein schneeweißer Kopf mit den dunkeln, eigentümlich leuchtenden Augen wurde am Fenster sichtbar. Mitten auf dem Platze hatte eine Gruppe Frauen Aufstellung genommen; man sah die Thielemann, das Weib des Krämers, die alte Maracken, deren zahnloser Mund noch böse klatschen konnte, die ungeheuer dicke Braumüllern, die Bacherten und die Frau von Langheinrich, eine reiche Witwe aus Kerbitschau, die sehr dünkelhaft war und gern klagte, wie unglücklich sie sich fühle, weil sie einen so ungebildeten Mann geheiratet habe. Auch die Schwester von Klempt, Tante Pauline, stand dabei, mit ihrem geisterhaften Gesicht und den schwarzen Traumaugen.

Plötzlich schrie Luise Braumüller über den Platz:

„Sieh doch mal nach, Mutter, wo Möllers Fritze bleibt! Es wird doch nu Zeit!“

Auf der Stelle erhob sich in der Weibergruppe ein eifriges Klatschen.

„Dem sitzt die Quelle im Kopf,“ meinte die Thielemann, und die Maracken nickte und fügte hinzu: „Paßt emoal uff, die schnappen oalsamt noch über, die ganzen Möllersch ...“ Und dann ließ man kein gutes Haar an den Möllers. Aber die Braumüllern hatte sich schon auf den Weg gemacht; ihre Tochter pantoffelte sie – jedes Wort von der Liese war Befehl für sie. Sie lief, was sie konnte, und ihre fettstrotzende Körperlichkeit schwankte förmlich.

Doch die Liese hatte sich schon wieder anders besonnen. Sie schlug vor, man sollte ruhig anrücken und vor dem Kruge auf Fritz warten. Damit war alles einverstanden; Dörthe konnte Fritzen holen.

So setzte sich der Zug denn in Bewegung. Die Musik schwieg, weil das Bombardon noch fehlte, aber die Burschen jubelten und schwenkten ihre Hüte und machten derbe Witze mit den Mädeln.

Es ging die Dorfstraße hinab, vorüber an Kirche und Friedhof, an den Gehöften von Langheinrich, Tengler und Raupach, die alle vor der Tür standen, [70]vom Lehnschulzen und von Thielemann. Und dazu läuteten die Kirchenglocken weithin; ihr Klang füllte die Luft mit schwingenden Akkorden.

Am Kruge, dicht vor der hölzernen Barbebrücke, stockte der Zug. Dörthe hob ihre Kleider auf und sprang die Steintreppe hinauf. Die Braumüllern war ihr schon zuvorgekommen. Sie schimpfte auf Fritz, der eben erst dabei war, sich ein reines Hemd anzuziehen. Er stand mitten in der Schankstube, und die Mutter half ihm beim Ankleiden. Jedesmal kam er zu spät.

Als die Möllern Dörthe erblickte, begann sie zu räsonnieren. „Was stehst du denn da und hältst Maulaffen feil?“ eiferte sie. „Immer faß zu! Hole das Halstuch – ’s liegt obenauf in der Kommode – im zweiten Schubfach!“

Auch Fritz räsonnierte, während er eiligst in die Weste fuhr, zuerst natürlich verkehrt, was ihn noch wütender machte.

„Vater, mein Bombardon!“ schrie er. „Draußen in der Küche – ich hab’ es geputzt! Und bring meinen Hut mit! – Heiliges Donnerwetter, ich habe ja nicht gedacht, daß es schon so spät ist! – Nun hab’ ich die Weste schief zugeknöpft! Gib das Halstuch her, Dörthe!“

Während er das Tuch vor dem Spiegel knüpfte, trat Albert ein. Er lebte jetzt halb in Oberlemmingen, halb in Frankfurt. Seinem blassen, brummigen Gesicht sah man die Fehlschläge seiner Hoffnungen an.

„Du, Fritz,“ sagte er, „wenn der Kommerzienrat von der Quelle anfangen sollte – sei vernünftig! Red keinen Unsinn! Überlege jedes Wort!“

„Werd’ schon,“ erwiderte Fritz, sein Haar bürstend. Liese Braumüller und Anton Tengler kamen auch, um zu sehen, wo Fritz bleibe. Ein paar der alten Weiber folgten. Die halbe Stube war gefüllt. Die Maracken schaute neugierig durch den Türspalt.

[71]Fritz brüllte, das Weibsvolk möge sich hinausscheren. Dann schimpfte er wieder, weil ihm der Scheitel nicht gelingen wollte. Schließlich stürmte er, unter beständigem Fluchen, in die Küche, tauchte den Kopf in eine Schüssel voll Wasser, rieb ihn mit dem ersten besten Tuche ab, das ihm in die Hände fiel, und scheitelte sich nun das Haar. Das ging.

Dörthe stand schon hinter ihm, mit beiden Armen das riesenhafte Bombardon haltend, über das sie den Zylinderhut mit dem Bronzeton gestülpt hatte.

Fritz war glücklich, daß er endlich fertig war. Er nahm das Bombardon und blies mächtig hinein, um den draußen Wartenden zu verstehen zu geben, nun sei es so weit. Ein paar Hunde in der Nähe begannen anzuschlagen; die große Katze, die neben dem Kochherd lag, sprang ob des entsetzlichen Tons mit einigen gewaltigen Sätzen davon, und der ganze Zug schrie „Hurra!“

„Ein langweiliger Peter!“ sagte Albert unter der Haustür zu seiner neben ihm stehenden Mutter. „Aus dem wird nie was!“

„Glaub’s auch nicht,“ antwortete die Alte.

Die Musikanten bliesen nunmehr ihren Reitermarsch, und das große Bombardon klang wie eine Stimme des jüngsten Gerichts dazwischen. Langsam bewegte sich der Zug den Auberg hinan, und alle Kinder aus Oberlemmingen folgten ihm, schreiend, johlend und singend.

Im Schlosse war man auf das Kommende vorbereitet. Schellheim und die Rätin hatten bereits auf der letzten Terrasse Aufstellung genommen, mit ihnen der Oberinspektor Bandemer und zwei Eleven. Über die Balustrade der ersten Terrasse lugten die neugierigen Gesichter der Dienerschaft.

Über das stille Antlitz der Rätin glitt etwas wie ein leichtes Schmerzempfinden, als die Musik näher und näher kam; ihrem feingebildeten Ohr dünkte der kriegerische Marsch wie ein ungeheurer Korybantenlärm. Dann aber zog ein Lächeln über ihr Gesicht. [72]Der Zug nahte. Die Bläser transpirierten außergewöhnlich; man sah, wie über die den Luftstrom aufnehmenden und wieder fortstoßenden dicken Backen das Wasser strömte. Namentlich Fritz gewährte einen unfreiwillig-komischen Eindruck. Der schöne Zylinder, über dessen sanften Bronzeton die Sonne glitt, saß ihm tief im Nacken. Das ganze Gesicht glühte purpurn vor Hitze und Anstrengung und erschien wie gebadet. Er war so im Eifer, daß er das Schlußzeichen übersah, das Tengler gab, und so stieß er noch ein paar schmetternde Töne aus, während die andern schon schwiegen, und setzte das Instrument erst ab, als der junge Raupach ihn ärgerlich in den Rücken puffte. Und dann machte er ein ganz erstauntes Gesicht; er hatte nicht gedacht, daß es schon zu Ende wäre.

Liese Braumüller deklamierte ihren Spruch, die Augen zu Boden gesenkt, voll brennender Verlegenheit, monoton sprechend, wie sie es beim „Aufsagen“ in der Schule gelernt hatte, und mit gefalteten Händen. Zweimal stockte sie, aber Dörthe half ihr immer wieder aus. An der Stelle: „Wir wünschen der Herrschaft einen heiligen Lohn“ versprach sie sich mehrfach, sagte erst „leiligen Hohn“ und raspelte dann noch längere Zeit an den Worten herum, ehe sie das rechte fand. Dabei schossen ihr die Tränen in die Augen.

Als sie geendet hatte, trat der Gutsvogt vor, der mit im Zuge war, ein stämmiger Mann, der Markuse hieß und deshalb immer „Jüd“ genannt wurde, obschon er aus altsässiger Bauernfamilie stammte. Der brachte ein Hoch auf die gnädige Herrschaft aus, worauf die Musikanten einen Tusch bliesen und dann merkwürdigerweise „Heil dir im Siegerkranz“ anstimmten.

Das brachte den Kommerzienrat, der etwas verlegen war, wie er nach Landesbrauch die Ovation beantworten sollte, auf einen guten Gedanken. Er gab den Nächststehenden die Hand, dankte allerseits [73]und ließ sodann, an den Sedantag und seine glorreichen Erinnerungen anknüpfend, in einer geschickten Schlußwendung Seine Majestät den Kaiser leben. Wieder fielen die Musikanten ein und bliesen hierauf, ihrem Repertoire getreu, „Nun danket alle Gott“.

Der Kommerzienrat sah ein wenig verwundert aus. Eine Predigt konnte er doch nicht halten. Er nahm sein Portefeuille aus der Tasche und reichte dem Gutsvogt einen Fünfzigmarkschein: die Leute möchten sich einen vergnügten Abend machen. Und dann zog er diesen und jenen ins Gespräch, während die Rätin mit liebenswürdiger Miene ein paar freundliche Worte an Liese Braumüller richtete.

Fritz Möller stand in vorderster Reihe. Als Schellheim ihn sah, stutzte er und fragte:

„Herr Möller – nicht wahr?“

„Jawohl, Herr Kommerzienrat,“ antwortete dieser.

Schellheim zupfte an seiner Weste.

„Hören Sie mal, mein lieber Herr,“ fuhr er fort, „Ihr Bruder – der ältere ist es, glaub’ ich – hat mir da mehrfach wieder geschrieben – wegen der Quellengeschichte. Er drangsaliert mich ein bißchen. Na – um ihm einen Gefallen zu erweisen, will ich mich der Sache annehmen, aber – aber ich muß freie Hand haben. Verstehen Sie, freie Hand!?“

„Jawohl, Herr Kommerzienrat,“ erwiderte Fritz, vollständig überzeugt, „freie Hand –“

„Sonst kann ich nämlich nichts machen, so gut wie gar nichts. Sagen Sie Ihrem Bruder, er möchte mal zu mir kommen. Wenn er gerade Zeit hat – es eilt ja nicht.“

„O, der hat schon Zeit,“ sagte Fritz unklug, mit strahlendem Gesicht, überglücklich darüber, daß die Angelegenheit nun ins Rollen kommen werde. „Der lauert nur drauf, Herr Kommerzienrat!“

„So!“ entgegnete dieser kurz und ging weiter.

Fritz war in so großer Aufregung, daß er den Heimweg kaum erwarten konnte. Er galt als der „dumme Junge“ in der Familie, wurde von allen [74]von oben herab behandelt und trotz seiner physischen Kräfte bei jeder Gelegenheit unterdrückt. Und nun war er es, der die frohe Botschaft ins Haus bringen konnte, daß der Kommerzienrat eingewilligt habe, sich der Quellenangelegenheit anzunehmen. Er beschloß, den Angehörigen vorzulügen, daß er den Kommerzienrat überredet und „breitgeschlagen“ habe. Oho, so dumm, wie die andern glaubten, war er denn doch nicht; er wollte sich schon Respekt verschaffen.

Der Rückmarsch in das Dorf währte ewig lange für den Ungeduldigen. Er blies in sein Bombardon, daß man es noch in Kerbitschau hören konnte, eine Viertelmeile von Oberlemmingen. Seinen ganzen Jubel blies er in die alte Tuba, die sich geschmeichelt zu fühlen schien und das jauchzende Herz ihres Trägers in eine donnernde Tonfülle übersetzte. Die drei Repertoirestücke kamen hintereinander an die Reihe. Auf dem Dorfanger schwenkte der Zug in Frontstellung ein, und dann ging man auseinander.

Dörthe suchte ihren Vater auf.

„Das gnäd’ge Fräulein hat mir deine Rechnung bezahlt, Vater,“ sagte sie. „Mach die Hand auf! Einundzwanzig Mark achtzig – aber die Deichsel am gelben Wagen mußt du noch mal nachsehen, die klappert noch immer.“

„Ein altes Stück Holz kann ich nicht mehr neu machen,“ entgegnete Klempt und steckte das Geld ein. „Gehst du am Abend zu Tanze?“

„Ja – ich darf, aber ich soll um Mitternacht wieder zu Hause sein.“

„Recht so. Du brauchst dir nicht die ganze Nacht um die Ohren zu schlagen. Sei vernünftig, Dörthe – daß du mir keine Dummheiten machst! Ich weiß, wie’s beim Erntefest zugeht.“

Dörthe lachte. „Habe doch keine Bange, Vater! Nee – ach du lieber Gott! So bin ich nicht wie die Liese! ... Vater, du siehst immer noch blaß aus. Du hätt’st nicht bei der Hitze mitlaufen soll’n!“

[75]„Ich weiß, was richtig ist. Der Kommerzienrat ist mein Brotherr. Nun geh – vielleicht springst du noch mal zu uns ’ran, eh’ du in den Krug machst!“

„Werd’ sehen!“ rief Dörthe und eilte davon, daß ihre Röcke flogen. Es war Mittagszeit, und sie mußte auf dem Baronshof in der Küche helfen. –

Sein Bombardon im Arm, war Fritz mit großen Schritten nach dem Kruge zurückgekehrt. Hier stand der alte Möller auf einer Leiter und nagelte zur Feier des Tages eine Girlande an, die mit Bändchen aus rotem und blauem Seidenpapier durchflochten war.

„Nu sind wir so weit, Vater!“ rief Fritz dem Alten entgegen.

„Was hast du gesagt?“ fragte dieser von der Leiter herunter, drei große Nägel zwischen den Zähnen haltend.

„Nu sind wir so weit,“ wiederholte Fritz. „Mit der Quelle. Der Kommerzienrat ist dabei. Ich habe ihn breitgeschlagen. Albert soll zu ihm kommen.“

Der Alte wäre vor freudigem Schreck beinahe von der Leiter gefallen. Er nahm die Nägel aus dem Munde und sagte dreimal hintereinander: „Donnerwetter!“ Dann kletterte er rasch herab und stürzte Fritz in das Haus nach.

Albert wollte die Siegesnachricht noch gar nicht glauben. Es schien ihm unfaßlich, daß der dumme Junge, der Fritz, Schellheim „breitgeschlagen“ habe. Er wollte Genaueres wissen. Und nun log Fritz los. Er erzählte unsinniges Zeug, aber das Endresultat blieb dasselbe: Albert sollte auf das Auschloß kommen – bei Gelegenheit – „es eile nicht“....

Albert überlegte. Ihm eilte es. Er wollte sogleich hinauf. Nein, nicht sogleich, riet der Alte, das sehe zu pressiert aus. So gegen Abend vielleicht – und Albert sollte so tun, als ob ihm an der Beteiligung Schellheims eigentlich gar nichts mehr liege.

Der Erstgeborene nickte lächelnd. Solche gute Ratschläge brauchte er nicht. Er nahm sich vor, am [76]Spätnachmittag auf das Auschloß zu gehen. Fritz brüstete sich. „Ich habe ihn breitgeschlagen,“ war sein drittes Wort.

Gegen Abend fand sich auch Bertold mit seiner Frau ein, einer kleinen, mageren, schwarzen Person von scheuem und geducktem Wesen. Bertold war in nicht minder großer Aufregung als Albert. Er war zu sehr Geschäftsmann, um es nicht schmerzlich zu empfinden, daß das geplante Unternehmen sich nicht entwickeln wollte. Er versprach sich viel von der Sache und träumte Tag und Nacht davon. Besonders das eine Traumbild: ein großer Basar in dem neuen Badeort, in dem alles zu bekommen sein würde, und der schon durch seine ganze Anlage jede Konkurrenz ausschließen sollte – ein Basar mit blitzenden Spiegelscheiben und großstädtischen Auslagen und der weithin leuchtenden Firma: „Maison Mœller“. Jawohl – „Maison Mœller“ wollte Bertold künftighin firmieren; das gab der Sache einen internationalen Schliff und lockte auch die Ausländer an, die das Bad besuchen würden.

Um sechs Uhr begann das Fest im Kruge. Die Schankstube war frisch mit Sand bestreut worden. Rings um die Wände zog sich eine große Girlande aus Eichengrün, gleichfalls mit Rosabändchen aus Seidenpapier verziert. Ebenso hatten die Bilder des Königspaares Kränze erhalten. Freilich stellten diese Bilder – ein paar gelb gewordene, mit Rostflecken übersäte Lithographieen – noch Friedrich Wilhelm IV. und die Königin Elisabeth dar; aber der alte Möller meinte, das schade nichts. König bleibt König. Wenn Fritz einmal heiratet, kann er sich ein Kaiserbild kaufen; vorläufig genügt Friedrich Wilhelm IV. Wenn das Gespräch darauf kam, vergaß Möller nie zu erzählen, daß er Friedrich Wilhelm IV. einmal persönlich gesprochen hatte. Damals war gerade die Chaussee nach Posen eröffnet worden, und der König fuhr mit dem Minister von Selchow einige Dörfer ab, die der neue Verkehrsweg [77]berührte. Und so kam er auch nach Oberlemmingen. Möller, derzeit ein stattlicher junger Mann, war Schulze und empfing ihn an der Barbebrücke, den berühmten Zylinderhut, den nun der Fritz geerbt hatte, auf dem Kopfe und in der Rechten den langen, mit schwarz-weißem Band umflochtenen Schulzenstab. Der König ließ halten und sprach einige Worte mit Möller, und schließlich fragte er auch, ob Acker und Feld ihre Schuldigkeit täten, und ob man zufrieden sei. Möller erwiderte furchtlos: „O ja, Majestät, das schon, aber wenn man bloß die Steuern nicht wären!“ Und da hatte der König gelacht und war weitergefahren.

Wenn der Alte davon erzählte, wurde er stolz. „Das hab’ ich dem König gesagt,“ erklärte er, „und wenn er auch gelacht hat, gemerkt hat er sich’s doch. So ’n König weiß ja gar nicht, was wir für Steuern zahlen müssen, wenn man’s ihm nicht mal sagt ...“ Die Steuern waren das Klagelied Jeremiä der Bauern. Sie hatten noch von 1806 her Beiträge für die Kriegskosten von damals zu zahlen. Und dann die Gemeindelasten: Kirche und Schule und vor allem der Wegebau. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätten die Wege grundlos werden und Kirche und Schule verfallen können. Die Steuern fraßen einen langsam auf ...

Zuerst kamen die Burschen, Knechte, Taglöhner und Bauernjungen, die sich an dem arbeitslosen Tage langweilten und nicht wußten, wie sie die Zeit totschlagen sollten. Die Tische waren in der Schankstube beiseite gerückt worden, dicht an die Stühle und Bänke längs der Wände heran, so daß der Mittelraum für den Tanz frei blieb. Man forderte Bier. Dörthe war auch schon da; Fritz hatte sie gebeten, etwas früher zu kommen, damit sie mithelfen könne. Und das tat sie gern. Sie fühlte sich dann schon halb und halb als Hausfrau auf dem Platze, den sie einmal einnehmen würde. Heute sollte es übrigens zur Entscheidung kommen. Die Verlobung war noch [78]nicht veröffentlicht worden, das kirchliche Aufgebot noch nicht erfolgt. Die alten Möllers sprachen noch immer dagegen und, wie es Dörthe schien, auch Albert und Bertold. Nun wollte sie aber aus dem Ungewissen heraus. Alle Mädel im Dorfe neckten und foppten sie bereits, Liese Braumüller vorweg, die es auch auf Fritz abgesehen hatte und sich nun Hoffnungen auf Albert machte. Das ging nicht so weiter. Und deshalb war Dörthe, ehe sie nach dem Kruge gegangen, noch einmal zu ihrem Vater herangesprungen und hatte ihn gebeten, noch an diesem Abend die Entscheidung herbeizuführen. Klempt wollte anfänglich nicht; er war nicht gern im Kruge; bei seiner Menschenscheu ängstigte er sich auch, der Gesamtfamilie Möller entgegenzutreten. Und sicher waren sie heute alle zusammen. Aber Tante Pauline unterstützte Dörthe. Es müsse zum Klappen kommen, erklärte sie; es liege sowieso genug Unheil in der Luft. Drei Nächte hintereinander hatte sie von einer schwarzen Henne geträumt, die wild mit den Flügeln schlug; das bedeute sicher nichts Gutes. Und so sagte der alte Klempt denn zu; er wollte gegen sieben im Kruge sein.

Dörthes Herz hämmerte stark, während sie in geschäftiger Eile dem alten Möller die Gläser abnahm, in die dieser das Bier zapfte. Fritz hatte den Schnapsschank, und Mutter Möller machte sich in der Küche zu schaffen, während Bertold mit dem Förster und einem Eleven Schellheims im Extrazimmer politisierte. Dörthe merkte, daß der Alte guter Laune war. Er hatte sie einmal um die Taille gefaßt und ihr gesagt, das Kleid mit den roten Punkten kleide sie gut, – er werde ihr, wenn er das nächste Mal nach Zielenberg komme, ein dazu passendes Halstuch mitbringen. Das machte das Mädchen ganz glücklich. Ihre Liebe zu dem dicken Fritz war der Inhalt ihrer Tage. Um seinetwillen hielt sie sich von den andern fern und vermied es, sich zur Erntezeit, an den lauen Sommerabenden, [79]wenn die Arbeit vorüber, zwischen den Heuhaufen auf den geschorenen Wiesen und den Buchen an der Grauen Lehne herumzutreiben, wo man bei Mondschein gewöhnlich das Kichern der Dirnen und das helle Lachen der Liese Braumüller hören konnte, die überall dabei sein mußte. Ihr, der Dörthe, konnte kein Mensch etwas nachsagen, und bei aller sonstigen Naivität ihrer sittlichen Anschauung war sie doch stolz darauf.

Das Zimmer war schon voll, aber der alte Vietz mit seinem Geiger hatte sich verspätet. Man schimpfte auf ihn; sicher lag er wieder irgendwo betrunken im Graben. Es war dumm, daß die heimische Banda nur ihre drei Stücke konnte und nicht einmal einen Tanz darunter; sonst hätte man es mit Blechmusik versucht. Man rief Fritz zu, er solle sein Bombardon holen; ein paar junge Leute stellten sich in eine Ecke und begannen eine Polka zu pfeifen. Liese Braumüller und Anton Tengler tanzten danach; einige andre folgten, schreiend und lachend; aber es ging nicht recht – man kam immer wieder aus dem Takt. Da erhob sich draußen Kindergebrüll. Vietz kam endlich. Der alte Kerl mit seinem blassen Gesicht, in dem nur die große Kartoffelnase rötlich schimmerte, war in der Tat so betrunken, daß er sich kaum aufrecht halten konnte. Sein Partner, der Geiger, hatte ihn unter dem Arm gepackt und schleppte ihn vorwärts. Das war keine Kleinigkeit, denn der Geiger, ein schmächtiges Kerlchen, schleppte auch noch den Baß seines Patrons. Alle Kinder waren hinter den beiden her und johlten und jubelten. Vietz schien das zu amüsieren; sein ganzes Gesicht lachte. Aber plötzlich wurde er ernst, blieb stehen und hielt eine drohende Anrede an den schreienden Schwarm, fuchtelte mit beiden Fäusten und griff schließlich in den Sand, um den Kindern eine Handvoll Erde auf die Köpfe zu werfen. Und alles stob unter erneutem Geheul auseinander.

Fritz erschien unter der Haustür. Er machte [80]kurzen Prozeß, denn er wußte, wie Vietz zu behandeln war. Er packte ihn einfach an Kragen und Rockschoß, trug ihn in das Schankzimmer und setzte ihn hier in eine Ecke. Dann wurde ihm der Baß zwischen die Beine geschoben, und der Geiger nahm neben ihm Platz.

„Nu feste gespielt, Vietz,“ sagte Fritz ernst; „immer nach drei Tänzen kriegt Ihr ein Glas Bier. Aber wenn Ihr’s schlecht macht, gibt’s gar nichts!“

Vietz nickte; er kannte das. Und dann ging es los. Der Geiger fiedelte, und Vietz kratzte auf seinem Baß herum: es war eine höllische Musik. Der Alte hatte offenbar das Bestreben, stets möglichst schnell zu Ende zu kommen, während sein Partner eine behagliche Natur war und sich Zeit ließ. So kamen die beiden niemals zusammen. Doch auf das Vergnügtsein der Tanzenden hatte das verschiedene Tempo keinen Einfluß. Die Paare wirbelten im Zimmer umher; man stieß sich, man stolperte, man drängte sich und chassierte aneinander vorüber, lachte, lärmte und tollte und unterhielt sich königlich dabei. Der Staub schwirrte auf, die Luft wurde schwül, ein trüber Dunst stieg zu der niedrigen Decke auf. Die Möllern öffnete ein Fenster.

Draußen im Garten spielten Braumüller, der Schulze, Raupach, Langheinrich und noch ein paar eine Partie Kegel. Man hörte durch das offene Fenster trotz des Lärmens der Tanzenden das dumpfe Rollen der Kugeln und das polternde Geräusch der stürzenden Kegel.

Die Möllern schaute zum Himmel auf, schnüffelte in der Luft herum und zog die Nase kraus.

„Braumüller,“ rief sie zum Fenster hinaus, „das gibt wohl noch was – he?!“

„Alle neune!“ schrie in diesem Augenblick der Angerufene. „Dundersaxen, Langheinrich, du bist ein verflixter Kerl!“ ... Und dann schaute er gleichfalls zum Himmel und nickte der Möllern zu. „Ja, [81]das gibt noch was, Mutter Möllern! Das wird ’n bißchen brummlich da hinten!“ ...

Albert war schon vor zwei Stunden nach dem Auschloß gegangen. Es war merkwürdig, daß er noch nicht zurück war. Dörthe überlegte, ob es nicht zweckmäßig sei, daß der Vater seine Abwesenheit benutzte, um mit dem alten Möller und Fritze zu reden. Sie hatte so viel zu tun, daß sie nur dann und wann einmal zum Tanze kam. Und mitten im Herumschwenken hörte sie zuweilen den Ruf der Möllern aus der Küche oder das kurze, befehlende „Dörth’!“ des Alten, der, in jeder Hand ein paar frischgefüllte Biergläser, hinter dem Schanktische stand. Mit heißem Gesicht und wogender Brust stürzte sie dann von ihrem Tänzer fort, um wieder die Gäste bedienen zu helfen.

Jetzt war eine Pause eingetreten. Man öffnete noch ein zweites Fenster, denn die Luft war zum Ersticken schwül geworden, und in den dicken Dunst warfen die drei in der Stube aufgehängten Laternen nur ein verschleiertes Licht. Eine Gruppe von Mädeln und Burschen hatte sich um Vietz geschart, der ihnen mit heiserer Stimme das Lied vorsang:

„Hans mit de Krusekragen
Stieg up de Kachelawen –
Bautz, fiel hinunger,
War des kee’ Wunger –
Wär’ he nich hinuppestegen,
Hätt’ he nich hinunnelegen!“

Zwischen jedem Verse strich er den Baß, verdrehte dabei die Augen und ließ zuweilen die Stimme überschnappen – und das Volk um ihn wollte sich ausschütten vor Lachen.

„Vater, nu mach doch man!“ flüsterte Dörthe Klempt zu, der ruhig in einem Winkel saß und seine Pfeife schmauchte. „Jetzt paßt’s gerade!“

Klempt schaute nach Möller aus. Der hatte sich ermüdet hinter dem Schanktische niedergelassen. Neben ihm hatten Fritz und die Alte auf zwei [82]Schemeln Platz genommen; man sprach davon, daß Albert noch immer nicht da sei.

Klempt erhob sich, öffnete die Klappe seines Pfeifenkopfes und drückte mit dem Daumen den Tabak fester. Dann schritt er langsam nach dem Schanktisch.

„Es wird noch ’n Wetter geben, Möller,“ begann er die Unterhaltung.

„’s soll mir recht sein,“ entgegnete der Angeredete; „ich hab’ alles ’reingebracht.“

Klempt spuckte auf die Erde und zündete aus Verlegenheit ein Streichholz an, obwohl seine Pfeife noch brannte. „Viel Arbeit heute,“ meinte er; „’s ist gut, daß sich die Dörthe freimachen konnte ...“ Und einen plötzlichen Entschluß fassend fügte er hinzu: „Habt ihr denn schon überlegt, wann das Aufgebot sein soll?“

Die Alte schaute Klempt mit ihren dunkeln Augen böse an, und Möller tat sehr erstaunt.

„Was denn für ein Aufgebot?“

„Na, zur Hochzeit,“ erwiderte Klempt, schon wieder etwas kleinlaut.

Nun lachte Möller. „Ach so,“ sagte er; „na, ich dächte, bis jetzt wären die beiden noch gar nicht mal so recht versprochen!“

„Dächt’s auch,“ fügte die Mutter hinzu. „Das ist so ’ne Liebelei, wie sie schon vorkommen kann –“

Doch nun fiel Fritz den Eltern in das Wort. Er hatte zuweilen das Herz auf der Zunge.

„Nein, Mutter,“ sagte er; „du weißt recht gut, daß es mir Ernst ist. Ich habe die Dörthe immer haben woll’n. Wir könnten wenigstens regelrechte Verlobung feiern, damit sich das Mädel nicht unnötig necken zu lassen braucht.“

„So ist’s,“ setzte Klempt hinzu. „Von heute zu morgen kann niemand die Hochzeit verlangen, aber eine ordentliche Verlobung muß sein.“

„Wir woll’n mal mit Albert darüber sprechen,“ sagte Möller; „ich weiß nicht, wo der Junge bleibt!“

[83]Klempt hatte sich gleichfalls einen Stuhl an den Schanktisch herangezogen. Er hatte sich nie so recht gut mit den Möllers gestanden, und nach seinem Herzen war eine Heirat zwischen Dörthe und Fritz auch nicht. Aber ihr Lebensglück hing doch nun einmal davon ab, und das machte den sonst so schweigsamen Alten beredt.

„Ihr müßt nicht immer so tun, als paßte die Dörthe nicht in eure Familie,“ hub er von neuem an. „Die Klempts sind gerade so ein guter Bauernschlag. Jawohl, Möller, und du brauchst auch nicht zu glauben, daß ich die Dörthe arm wie ’ne Kirchenmaus in die Ehe gehen lasse. Sie hat ihre gute Ausstattung, und ein paar Taler habe ich mir ja auch sparen können, die sie nach meinem Tode kriegen soll. Die Ersparnisse von Tante Pauline kommen dazu, und schließlich das Gehöft – ist denn das nichts wert? So ’n ordentliches Haus find’st du lange nicht, und wie fest das noch alles steht! Und der Garten und die fünfzehn Morgen Acker und dann vor allem der schöne Wiesengrund, der bis an die Graue Lehne heranreicht, der beste im ganzen Dorfe?! Wir sind doch keine Bettelpackasche, Möller! Ich dränge mich euch nicht auf, aber das Mädel ist doch nun mal so verrückt nach dem Fritz, und –“

Der Tanz hatte wieder begonnen. Fritz erhob sich und legte seine Hand auf die Schulter Klempts.

„Laßt’s gut sein, Vater Klempt,“ meinte er, „die Alten sind schon vernünftig. Wenn Albert zurückkommt, woll’n wir noch mal in der Familie darüber sprechen ...“

Mutter Möller war längst in ihre Küche zurückgekehrt und warf dort mit den Eisenringen des Herds umher, daß man es im Schankzimmer hören konnte. Das paßte ihr alles nicht; die Dörthe war keine Partie. Aber sie schwieg und wurmte sich heimlich. Die Eisenringe des Herds sprachen für sie.

Dörthe hatte aus der Entfernung die kleine Szene beobachtet. Nun stand Fritz vor ihr. „Rasch einmal [84]’rum,“ sagte er und faßte sie um die Taille. „Die Verlobungspolka, Dörthe! Morgen soll’s das ganze Dorf wissen!“

Er tanzte mit ihr. Sie war selig und hing mit glückstrahlendem Gesicht in seinen Armen.

Geige und Baß kreischten wieder. Das ganze Haus schien unter den Schwingungen der tanzenden Paare zu dröhnen. Da klirrten auf einmal die Fenster. Ein furchtbarer Donnerschlag erscholl, dann prasselte ein Regenschauer, mit Schloßen gemischt, zur Erde. Schreiend stoben die Tanzenden auseinander. Die draußen kegelnden Bauern, die von der Plötzlichkeit des Gewitters überrascht worden waren, stürmten in das Zimmer, triefend vor Nässe, mit dampfenden Kleidern.

Alles drängte sich an den Fenstern zusammen. Von Zeit zu Zeit erleuchtete ein greller Blitz die Nacht, und dann sah man den dicht fallenden Regen. Hatte es irgendwo eingeschlagen, so mußte das vom Himmel strömende Wasser den Brand auf der Stelle löschen. Man war sehr vergnügt bei dem Unwetter. Die meisten hatten ihre Ernte geborgen, nur ein kleiner, verhungert aussehender Kossät, Priestegall mit Namen, ächzte und jammerte: er hätte seinen Hafer noch nicht einfahren können.

Die Bauern von der Kegelbahn wollten tanzen, um sich warm zu machen. Aber Vietz war eingeschlafen. Man wollte ihn wecken, doch es war nicht möglich, den Trunkenbold zur Besinnung zu bringen. Da nahm Langheinrich den Baß zwischen seine mageren Beine und begann ihn zu bearbeiten, während auch der Geiger sein Spiel aufnahm. Das gab neuen Spaß, und bald wirbelten wieder die Paare durch das Gemach, unbekümmert um die diabolische Musik.

Auf einmal hieß es, der Kommerzienrat sei vorgefahren. In der Tat, eine geschlossene Equipage vom Augut hielt vor der Tür. Aber nicht der Rat stieg aus, sondern Albert Möller. Allgemeines Erstaunen; [85]Schellheim hatte Albert in eignem Wagen nach Hause fahren lassen, – das hatte ganz gewiß etwas zu bedeuten!

Der alte Möller, Bertold und Fritz eilten Albert bis auf den Hausflur entgegen. Er zog sie in die Küche. „Es ist alles abgemacht,“ sagte er hastig, mit vergnügtem Schmunzeln um den Mund; „der Kommerzienrat schießt uns das Nötige aus eigner Tasche vor. Morgen fahre ich mit ihm nach Berlin zu seinem Anwalt ...“

Fritz sprang wie ein Besessener in der Küche umher. „Seht ihr wohl – hurra!“ schrie er; „ich hab’ ihn breitgetreten!“

Die alten Möllers und Bertold wollten Näheres wissen. Sie rückten Albert dicht auf den Leib und bestürmten ihn mit Fragen. Aber er war erschöpft und wollte zuerst etwas zu essen und zu trinken haben, erklärte auch, vom Geschäftlichen verständen sie ja doch nichts. Die Hauptsache sei, daß der Stein nun ins Rollen käme.

„Natürlich ist das die Hauptsache,“ bemerkte Fritz, „alles übrige wird sich schon finden. Und wie ist’s nun mit der Verlobung? Grade jetzt, wo wir alle so vergnügt sind, könnten wir auch gleich meine Verlobung feiern!“

„Sei doch man still,“ fuhr die Alte auf, und Albert fragte: „Deine Verlobung? – Ach, mit der Dörthe?!“

„Na, mit wem denn sonst! Vielleicht mit der alten Maracken?!“

Albert zog die Brauen zusammen, doch schon im nächsten Augenblick nickte er lebhaft mit dem Kopfe. „Schön,“ meinte er, „ich hab’ nichts dagegen ...“ Und dann nahm er Fritz an der Rockklappe und führte ihn etwas abseits. „Sag mal, du,“ fuhr er im Flüstertone fort, „Klempts Wiesenbucht grenzt doch an die Graue Lehne?“

„Dichte ’ran, Albert – dichte ’ran!“

„Na, und wenn der Alte mal stirbt, dann erbt doch die Dörthe das Ganze als einziges Kind?“

[86]„Alles – i nu selbstverständlich, – Vater Klempt hat’s uns vorhin erst wieder auseinandergesetzt, daß die Dörthe noch gar nicht die schlechteste Partie ist.“

Albert nickte wieder. „Ich glaube, der Klempt wird’s nicht mehr allzu lange machen, Fritz. Er sieht schwindsüchtig aus. Das heißt, meinetwegen kann er hundert Jahre alt werden! Aber mit der Wiesenbucht – na, verlob dich nur erst! Meinen Segen hast du!“

Und wirklich wurde noch an diesem Abend die Verlobung Fritz Möllers mit Dörthe Klempt öffentlich verkündet. Fritz kletterte während der nächsten Tanzpause auf einen Stuhl und schrie seine Verlobung mit Stentorstimme in das Zimmer, und wer sich jetzt noch einmal unterstehe, so fügte er hinzu, seine Braut zu necken und zu ärgern, der werde ein paar hinter die Ohren kriegen, es sei ihm gleich, ob Bursche oder Mädel. Und nachdem er dies versprochen hatte, brachte er ein Hoch auf das Brautpaar, das heißt auf sich selbst und Dörthe, aus, und die Musik mußte einfallen, und alles brüllte mit, umringte ihn und die Dörthe, gratulierte, lachte und witzelte. Es war ein geräuschvolles, unaufhörliches Schnattern, während draußen noch immer mit leisem Plätschern der Regen fiel und das abziehende Wetter den Horizont erhellte.

Dörthe war so froh, daß ihr hübsches Gesicht wie von Sonnenschein überflutet war. Selbst die Möllern schien sich fügen zu wollen. Dörthe mußte ihr helfen, zu backen und zu schmoren, denn es sollte „in Familie“ gegessen werden. Der alte Möller stieg selbst in den Keller, ein paar Flaschen Rheinwein heraufholend, von denen er behauptete, die könne „jeder Vater mit seinem Sohne trinken“. Klempt wurde genötigt, im Extrazimmer auf dem grünen Sofa Platz zu nehmen. Er wußte gar nicht, wie ihm geschah; er hatte sich auf einen harten Kampf mit den Möllers gefaßt gemacht, und nun wickelte sich die Sache so glatt und rasch ab.

[87]In der Schankstube wurden inzwischen die fünfzig Mark vertrunken, die der Kommerzienrat gespendet hatte. In eine der Fensternischen hatte sich Liese Braumüller mit ihrer Freundin Guste Thielemann zurückgezogen. Beide wisperten eifrig miteinander.

„Das hat lange gedauert, eh die Dörthe Fritzen ’rumgekriegt hat,“ flüsterte Liese. „Aber ’s wird wohl auch Zeit gewesen sein. Ich könnt’ was erzählen, wenn ich wollte. Und weißt du, Guste, in der Kirche seh’ ich die beiden noch nicht. Ich möchte wetten, daß da noch was darmang kommt –“

„Dörthe!“ erscholl in diesem Augenblick die Stimme der Möllern aus der Küche.

Das Verlobungsessen war fertig: ein kolossaler Schweinebraten in braun glänzender, knusperiger Schale, die quadratisch durchkerbt war. Und auch die Beilagen konnten aufgetragen werden: rote Rüben, Preiselbeeren und Milchreis mit Zimmet.

Fünftes Kapitel

Es war am Neujahrstage, als Hedda, in der Pelzjacke, die Pelzkappe auf dem Kopfe und den Muff in der Hand, zu ihrem Vater ins Arbeitszimmer trat. „Ich will zum Pastor, Papa,“ sagte sie, „ihm meinen Glückwunsch bringen. Hast du etwas zu bestellen?“

„Schöne Grüße, nichts weiter,“ antwortete der Baron. „Und warum er sich denn gar nicht mehr sehen ließe. Seine Beine sind noch flotter als meine.“

„Werd’s ausrichten. Hat die Post nichts Neues gebracht?“

Jetzt schlug sich der alte Herr mit der Hand vor den Kopf. „Sapperment,“ schalt er, „ich fang’ wirklich an, tranig zu werden! Die Hauptsache vergess’ ich!“

[88]Er nahm einen Brief vom Tisch. „Weißt du, wer geschrieben hat?“

„Dein Verleger?“

„Gott bewahre! Rat mal!“

Sie riet, aber das Richtige traf sie nicht.

„Dummerle,“ rief der Alte endlich, „Axel hat geschrieben!“

Das kam Hedda allerdings so überraschend, daß sie sich setzen mußte.

„Axel?“ wiederholte sie. „Der Jarlsberger?“

„Ja, ja – unser vielgetreuer Herr Vetter, der Nordlandsrecke, der Wikinger! Er ist nach Berlin zur Botschaft kommandiert worden und will uns im Frühjahr auf dem Baronshof besuchen!“

Hedda sah noch immer maßlos erstaunt aus.

„Ich ahnte ja gar nicht, daß Axel in diplomatischen Diensten steht,“ sagte sie. „Ich glaubte, er täte gar nichts – lebte von seinen Reichtümern – reiste in der Welt umher – als Globetrotter –“

„Glaubte ich auch alles, aber du hörst doch, daß dem nicht so ist. Über den angekündigten Besuch kann ich nicht gerade Rad schlagen vor Freude. Das gibt allerhand Unbequemlichkeiten – und der junge Herr wird verwöhnt sein.“

Jetzt erwachten auch die Sorgen in Hedda.

„In der Fremdenstube regnet’s durch,“ klagte sie. „Auch muß da neu tapeziert werden, und, ach, du lieber Gott, das Waschservice sieht erst recht nicht nach dem Fortschritt der Zeit aus! Wer besucht uns denn einmal?! Ich habe mich um die Fremdenstube seit Ewigkeiten nicht bekümmert.“

„Der Axel ist noch nicht einmal in Berlin,“ versetzte der Freiherr begütigend; „wir haben also noch Zeit genug, unsern Schlachtplan zu entwerfen. Außerdem weiß er, daß wir nicht auf Rosen gebettet sind – und überdies soll mir’s sehr gleichgültig sein, ob es ihm in Jarlsberg besser gefällt als auf dem Baronshof.“

„Puh!“ machte Hedda, „hier ist’s aber fürchterlich heiß, Papa. Hältst du das denn aus?“

[89]„Ich schmore am liebsten – da spüre ich meine Ischias am wenigsten.“

„Im nächsten Sommer gehst du mir unbedingt nach Gastein, Papa –“

„Wohin denn noch?! Nach Paris und dann ein bißchen an die Riviera, nicht wahr? Wir haben ja das Geld dazu!“

„Für die Badereise werd’ ich’s schon schaffen. Vielleicht versuchst du es auch einmal mit unsrer Quelle –“

„Nicht um die Welt, Hedda! Das hab’ ich mir vorgenommen: diese ekelhafte Quelle existiert für mich nicht! Am liebsten hörte ich gar nichts von ihr.“

Hedda stand achselzuckend auf.

„Ich streite nicht mehr, Vater. Ich richte ja doch nichts aus. Tu mir die Liebe und laß dich um die Mittagszeit anziehen. Ich habe August schon Auftrag gegeben. Die Herrschaften vom Auschloß kommen sicher zur Gratulation.“

Der Alte streckte beide Hände zur Decke empor.

„Ob sie mich nicht ruhig arbeiten lassen können!“ stöhnte er.

„Nein,“ erwiderte Hedda, „denn sie wissen, was sich schickt.“

„Papperlapapp – die Unsitte der Neujahrsgratulation ist längst aus der Mode gekommen!“

„In Oberlemmingen noch nicht.“

„Opponiere nicht ewig!“

„Ich bin dein Fleisch und Blut.“

„Dann gib mir ’nen Kuß!“

Hedda tat es lachend und eilte hierauf hinaus ins Freie.

Das war ein herrlicher Neujahrstag. Stahlschimmernd wölbte sich der Himmel über der Landschaft. Der Schnee lag dicht, aber nicht allzu hoch, und die Sonne gleißte über die weiße Pracht. Es flimmerte und glitzerte, wohin sich das Auge wandte.

Hedda schritt durch den Garten und über den Dorfplatz, wo ein Dutzend Kinder sich mit Schlittern [90]belustigte. Jedes einzelne trug ein Pelzkäppchen und einen roten Schal um den Hals. Als Hedda dies sah, lächelte sie. Es waren ihre Weihnachtsgeschenke, die sie sich von den Erträgnissen des Hühnerhofs abgespart hatte. Die Jungen zogen ihre Kappen ab und grüßten höflich, als Hedda vorüberschritt, und der kleinste und frechste rief ihr „Prost Neujahr!“ nach, und dann jubelten allesamt wild durcheinander ihr „Prost Neujahr!“

Der Verkehr zwischen Baronshof und Pastorat war von jeher ein herzlicher und intimer gewesen. Namentlich den derzeitigen Pfarrer hatte der Freiherr in sein Herz geschlossen. Es war dies eine eigentümliche Erscheinung, der Seelenhirt von Oberlemmingen, der Doktor von Eycken. Er stammte aus einem alten und angesehenen westfälischen Adelsgeschlecht. Sein Vater war General der Kavallerie und eine Zeitlang Gouverneur von Berlin gewesen, und auch der Sohn sollte, nachdem er sein Abiturientenexamen bestanden, die militärische Laufbahn einschlagen. So trat der junge Eycken denn in ein am Rhein garnisonierendes Husarenregiment ein, in dem fast das ganze Offizierkorps gleich ihm selbst katholisch war. Bald nachdem er Offizier geworden, erkrankte er am Typhus und wurde zu seiner Genesung für längere Zeit nach dem Süden beurlaubt. Während dieses Urlaubs verlebte er einige Monate in dem damals noch päpstlichen Rom, und gerade hier, in der Siebenhügelstadt, dem Sitze klerikaler Macht, vollzog sich ein merkwürdiger Umschwung seines seelischen Empfindens. Eycken sprach sich niemals über die Gründe aus, die ihn zu einer Zeit, da er noch ein halber Jüngling war, zur Konversion veranlaßt hatten. Sein Vater erfuhr nur, daß er in Rom in vertrautem Verkehr mit einem preußischen Edelmann gestanden hatte, der Monsignore und Kämmerer des Papstes war, und über dessen Lebensführung man sich in der Klatschgesellschaft der Ewigen Stadt allerhand erzählte. Tatsache war jedenfalls, daß [91]Eycken nach seiner Rückkehr gegen den Willen seiner Familie, mit der er in der Folge auch vollständig zerfiel, zum Protestantismus übertrat, seinen Abschied erbat und noch nachträglich Theologie studierte.

Seit etwa fünfzehn Jahren war er Pfarrer von Oberlemmingen. Er liebte die Stille des Landlebens und hatte sich deshalb nie um eine städtische Stellung bemüht. Es schien auch, als besitze er keinen Ehrgeiz, denn sonst hätte es ihm leicht werden müssen, bei der Vornehmheit seines Namens, bei seinem tiefen Wissen und seiner hervorragenden rednerischen Begabung Karriere innerhalb seines Berufs zu machen. Nun stand er am Ausgange seines Lebens. Er war ein hoher Sechziger, freilich noch immer eine überaus stattliche Erscheinung: groß und von breiten Schultern, mit frischfarbigem Antlitz und leuchtenden Augen. In dichten weißen Locken umwallte das Haar sein Haupt; Schnurrbart und Vollbart waren ebenfalls schneeweiß und lang; so sah er wie einer jener alten Patriarchen aus, von deren das gewöhnliche Menschenalter überragendem Leben voll Wohltun und Köstlichkeit die Bibel erzählt.

Eycken war nie verheiratet gewesen. Eine alte Haushälterin führte ihm die Wirtschaft. Man erzählte sich, daß er sehr reich sei. Seinem bescheidenen und anspruchslosen Wesen und der Einfachheit seiner Lebensführung merkte man das nicht an. Dagegen half er immer und mit vollen Händen aus, wenn die Bedürftigkeit sich hilfesuchend an ihn wandte. Zuwider war ihm nur der Formalismus des Beamtenwesens; die Führung der Kirchenlisten, die Instandhaltung seiner Bücher und Rechnungen, und was dergleichen noch mehr war, besorgte ihm der Kantor gegen eine Entschädigung; mit dem Konsistorium hatte er am liebsten gar nichts zu tun. Er war denn auch „oben“ nicht sonderlich gut angeschrieben.

Die Wirtschafterin öffnete Hedda und gratulierte mit tiefem Knicks zum neuen Jahre.

[92]„Danke, Frau Stege,“ antwortete das junge Mädchen; „so Gott will, gehen Ihre guten Wünsche in Erfüllung. Ist der Herr Pastor da?“

„Jawohl, gnädiges Fräulein, aber es ist Besuch bei ihm, – einer von den jungen Herren aus dem Auschlosse.“

Also die Nibelungenrecken waren auch wieder da. Hedda bat, sie trotzdem anzumelden.

Eycken hatte ihre Stimme schon gehört und erkannt. Er öffnete die Tür rechtsseitig des Flurgangs und rief: „Immer herein, Fräulein Hedda! Sie stören nicht! Doktor Schellheim ist bei mir und stöbert meine Bücher durch.“

Hedda trat ein und brachte ihre Glückwünsche vor. Dann begrüßte sie Gunther mit freundlichem Handschlag. „Seit wann wieder hier, Herr Doktor?“ fragte sie.

„Erst seit vorgestern, Baronesse,“ erwiderte Gunther unter leichtem Erröten; „aber ich will den Winter über aushalten, vielleicht sogar bis in den Mai hinein –“

„Ah – Sie bleiben längere Zeit?“

„Ja, gnädiges Fräulein. Ich habe eine Arbeit zu vollenden, die mich sehr in Anspruch nimmt, und zu der ich Ruhe und Stille brauche.“

„Nibelungenforschung?“ fragte Hedda lächelnd.

„Nein, diesmal nicht. Ich habe durch Zufall eine ganz interessante Entdeckung gemacht, die ich ausbeuten möchte ...“

Der Pastor nötigte zum Platznehmen. Hedda knüpfte ihr Pelzjackett auf. Es war warm im Zimmer. Das Gemach war geräumig, und alle vier Wände waren bis zur Decke hinauf mit Büchern gefüllt, auf einfache tannene Regale gereiht. Vor einem dieser Repositorien stand eine Leiter, und unten am Boden, am Fuße der Regale, lagen in unregelmäßigen Abständen weitere Bücher verschiedenen Formats aufgeschichtet. Die durfte die Wirtschafterin beim Reinigen des Zimmers nicht anrühren; der Pastor pflegte vor [93]Beginn einer Arbeit die dazu nötigen Nachschlagewerke auszuwählen und ließ sie am Boden liegen, bis er sie brauchte. Übrigens beherbergte das Gemach noch nicht die Gesamtbibliothek Eyckens; das eigentliche Studierzimmer lag nebenan und war gleichfalls mit Büchern gefüllt. Der Pastor besaß an zehntausend Bände.

Hedda schlug erstaunt in die Hände.

„Was studieren und schreiben Sie nur alles zusammen, Herr Pastor!“ sagte sie naiv. „Ihre Predigten können Sie doch unmöglich so stark in Anspruch nehmen!“

„Nein, mein Kind,“ erwiderte Eycken, „das tun sie in der Tat nicht. Ich studiere zu meinem Vergnügen, wie andre Leute ins Theater gehen, Konzerte, Bälle und Soireen besuchen. Es ist eine Angewohnheit.“

„Eine verständliche,“ fügte Gunther hinzu, und sein Auge flog über die Bücherreihen.

Hedda interessierte das. „Weshalb lassen Sie aber Ihre Studien nicht veröffentlichen, Herr Pastor?“ forschte sie weiter.

Eycken zuckte mit den Schultern.

„Ich bin ein merkwürdiger Mensch, liebe Hedda,“ entgegnete er. „Für mich hat eine Arbeit, wenn sie fertig und abgeschlossen vor mir liegt, den Reiz des Interesses verloren. Oben auf dem Boden stehen ganze Kisten voll Manuskripte, die ich seit Jahren nicht mehr angeschaut habe. Sterbe ich einmal, so werden sie wahrscheinlich als Makulatur verkauft, eingestampft und zu neuem Papier verarbeitet werden, auf dem vielleicht ein Besserer unsterbliche Werke schreibt. Und das ist auch ein Trost.“

Hedda schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht,“ sagte sie. „Wenn ich etwas schaffe, von dem ich annehme, daß es nicht nur mich selbst, sondern auch einen Teil der Mitwelt interessiert, dann ist es doch in gewisser Weise egoistisch – Pardon, Herr Pastor –, es den andern vorzuenthalten.“

[94]„Richtig, Hedda,“ erwiderte Eycken. „Es wäre egoistisch, wenn ich mir von meinen Studien für Mit- und Nachwelt etwas verspräche. Aber das tue ich nicht. Ich arbeite nur für mich; ich will auch in die Polemiken, mit denen die zünftigen Gelehrten sich gegenseitig überschütten, nicht hineingezogen werden.... Ich habe da vor langen – ach, vor langen Jahren“ – und ein wehmütiger Zug flog über sein schönes Greisenantlitz – „in Neapel einmal einen Komponisten kennen gelernt. Der Mann war reich, und wenn er eine Oper oder ein Orchesterstück vollendet hatte, so mietete er sich ein Theater oder einen Konzertsaal und ließ sich sein Werk allein aufführen. Nur er selbst, kein Zuhörer sonst durfte dabei sein. Und niemals befriedigte ihn eins seiner Werke völlig. Und dann packte er seine Partituren zusammen, beschwerte sie mit Steinen, ließ sich in schöner Mondnacht in den Golf hinausrudern und versenkte sie in das Meer.... Sehen Sie, das begreife ich. Ich bin auch nie zufrieden mit dem, was ich geschaffen habe, und wenn ich dann an einen Punkt komme, von dem aus ich nicht weiter kann, wo die Forschung aufhört und die Hypothese beginnt – da breche ich ab und lege das Manuskript zu den übrigen ...“

Man sprach noch hin und her über das Thema. Auch Gunther verfocht die Ansicht Heddas, daß die ernsthafte Forschung gewissermaßen die Pflicht habe, vor die Öffentlichkeit zu treten. Und dann sprach er von seiner interessanten Entdeckung, die ihn gegenwärtig ganz in Anspruch nahm. Er hatte auf der Königlichen Bibliothek in Berlin in einem handschriftlichen Faszikel von Abhandlungen Melanchthons aus dem Jahre 1560 eine Sammlung alter Anekdoten gefunden, die auch fünfzehn zum Teil noch unbekannte Faustgeschichten enthielten. Der Schreiber des Manuskripts war ein früherer Mönch gewesen, nannte seinen Namen und gab auch einzelne Daten aus seinem Leben, führte vor allen Dingen als Datum [95]der Niederschrift seines Handbuchs das Jahr 1565 an. Damit war ein neuer Beweis dafür erbracht, daß man schon lange vor der Drucklegung des ersten Faustbuchs von 1587 Faustanekdoten zu sammeln pflegte. Aber auch auf die Entstehungsgeschichte der Faustsagen und auf das Historische der Persönlichkeit Fausts warfen diese Aufzeichnungen ein neues Licht, die geeignet schienen, eine kleine Revolution in der gelehrten Welt hervorzurufen.

Gunther war bei seiner Erzählung in Eifer gekommen. Die Freude an dem Funde teilte sich seiner ganzen äußeren Wesenheit mit. Hedda sagte sich, daß er eigentlich ein hübscher Mensch sei. Er besaß ungemein lebhafte, braune Augen unter einer hohen und klugen Stirn und einen schön geformten Mund. Haar und Schnurrbart waren dunkelblond; auch die Figur war hübsch, schlank und elegant. Typisch Gelehrtenhaftes hatte er nichts an sich. Als er merkte, daß er fast allein mit Eycken sprach und Hedda nur Zuhörerin war, errötete er wieder – das passierte ihm häufig – und wandte sich mit einem Entschuldigungswort an das Fräulein zurück.

„Ich langweile Sie, Baronesse,“ sagte er. „Mehr oder weniger sind wir Leute von der Feder allesamt Egoisten. Und da ich weiß, daß der Herr Pastor ein guter Melanchthonkenner und es erwiesen ist, daß Melanchthon den historischen Faust –“

Er unterbrach sich und lachte.

„Sehen Sie, nun komme ich wieder in das Vortragende hinein, und ich wollte doch von etwas anderm reden! Was sagen Sie dazu, daß Papa sich an der Quellengeschichte beteiligt hat? Im Mai soll die feierliche Weihe stattfinden.“

Eycken war Feuer und Flamme für die Sache. Er war ein begeisterter Anhänger der Ferienkolonieen, für die er große Summen spendete, und trug sich mit der Absicht, aus eignen Mitteln ein Krankenhaus für bedürftige Kinder in Oberlemmingen zu errichten. Es war merkwürdig, daß gerade dieser Mann, [96]der unverheiratet durch das Leben gegangen, der Kinderwelt eine so heiße Liebe und eine so große Barmherzigkeit entgegentrug. Es war, als erschöpfe sich den Kleinen gegenüber die Güte seines einsamen Herzens.

Er kannte die Bedenken des Freiherrn gegen eine praktische Ausbeutung der Quelle und versuchte Hedda zu beweisen, daß ihr Vater im Unrecht sei. Zumal dadurch, daß der Kommerzienrat das Geschäftliche der Angelegenheit in der Hand halte, sei Gewähr für eine solide Entwicklung des Unternehmens gegeben. Für die Möllers hatte er auch nicht viel übrig.

Hedda und Gunther verabschiedeten sich gemeinsam. Als sie sich vor der Gartentür die Hand reichten, fragte der junge Mann:

„Laufen Sie Schlittschuh, gnädiges Fräulein?“

„Leidenschaftlich gern,“ antwortete Hedda, „und der Döbbernitzer See bietet auch eine prachtvolle Bahn. Aber allein ist es langweilig.“

Gunther verneigte sich. „Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, Sie begleiten zu dürfen,“ sagte er. „Darf ich Sie gegen drei Uhr abholen? Es ist heute so wunderbares Wetter.“

Sie zögerte einen Augenblick und bejahte dann dankend. Zu Fuß ging er nach dem Auschlosse zurück, während Hedda noch nebenan den Kantor aufsuchte, dessen Frau seit einigen Tagen bettlägerig war.

Beim Mittagessen sprach sie dem Vater gegenüber beiläufig von ihrer Verabredung mit Gunther. Der Alte schwieg anfänglich und begann dann zu räsonieren. Das sei unschicklich; man gebe sich nicht Rendezvous mit jungen Herren. Er verstehe Hedda nicht – sie wisse doch sonst, was Takt sei.

Sie verteidigte sich lebhaft.

„Ich weiß nicht, was du hast, Papa,“ antwortete sie. „Ich bin kein Backfisch mehr und fühle mich durch die Anwesenheit des Doktor Schellheim eher [97]geschützt als gefährdet. Allein Schlittschuh zu laufen, verbietest du mir auch. Ich kann doch nicht das Leben einer Nonne führen!“

Der Freiherr brummte etwas halb Unverständliches vor sich hin. Es klang so, als sage er, er könne nun einmal die Schellheims nicht leiden. Hedda schwieg, aber sie war verstimmt und verärgert. Sie hatte zum ersten Male das Gefühl, als laste die Einsamkeit des Baronshofs wie ein Alp auf ihr.

Gunther war pünktlich. Er kam im Schlitten, mit einem Schimmelgespann, das der Kommerzienrat erst vor kurzem gekauft hatte und dessen silberbeschlagenes Geschirr hell blitzte. Hellstern ließ sich nicht sehen, aber er hatte von seinem Arbeitszimmer aus die Auffahrt beobachten können. Und er hieb wütend mit der geballten Faust auf den Tisch.

Hedda war beim Nahen des Schlittens auf die Veranda getreten. Gunther half ihr beim Einsteigen und hüllte sie mit diskreter Sorglichkeit in das weiße Bärenfell, das als Decke diente.

Mit neidischer Miene schaute August dem eleganten Gefährt nach. Dann glitt ein zustimmendes Schmunzeln über sein Gesicht. Er hatte gehört, daß die Klingel im Zimmer des Freiherrn stark läutete, aber er beeilte sich nicht. Vorsichtig klopfte er den Schnee von seinen Stiefeln ab, ehe er in das Haus zurücktrat.

„Hast du keine Ohren?!“ schrie der Freiherr ihn an.

„Ich kann doch nicht hexen, Herr Baron! Erst mußte ich dem gnädigen Fräulein helfen!“

„Feuer in den Ofen!“ kommandierte der Alte. „Soll ich vielleicht hier erfrieren?“

August schaute auf das Thermometer, das am Pfeiler zwischen den Fenstern hing.

„Sechzehn Grad,“ sagte er. „Der Herr Baron werden sich noch so verpimpeln, bis Sie nachher kein Lüftchen mehr vertragen können.“

[98]„Halt ’s Maul und feure!“ schrie Hellstern grob.

August wurde immer freundlicher; die Schnauzerei des Alten tat ihm sichtlich wohl. Er kniete vor dem Ofen nieder und begann langsam die eiserne Tür aufzudrehen. Sie quietschte und kreischte, daß Hellstern aufstöhnte.

„Schmier doch die verdammte Tür einmal ein!“ rief er.

August nickte nur, steckte erst ein paar Kiensplitter in Brand und schob dann einige Scheite Holz hinterher. Schließlich blies er mit dicken Backen in das Ofenloch, um die Flamme wach zu halten.

„Herr Baron,“ sagte er plötzlich in fragendem Tone.

„Was ist los?!“

„Haben Herr Baron den Schlitten gesehen?“

„Ja – was sonst noch?!“

„Ach – ich meinte man bloß – die gnädige Baronesse sahen so stattlich drin aus – und der Herr Doktor auch – ein hübsches Paar –“

Jetzt fuhr Hellstern im Ausschnitt seines Tisches herum, zornrot und prustend vor Grimm. Seine Hand suchte nach irgend einem Gegenstande, um ihn August an den Kopf werfen zu können. Aber er fand keinen.

„Raus!“ schrie er. „Mach, daß du rauskommst! Wie kannst du dich unterstehen, vom gnädigen Fräulein und dem – und dem da per ‚hübsches Paar‘ zu sprechen?! Ich verbitte mir deine Vertraulichkeiten! Ich habe sie lange satt! Du kannst dich zum Teufel scheren! Am liebsten gleich! Pack deine Sachen zusammen – pascholl!“

August blies noch ein paarmal in das Ofenloch und erhob sich dann ächzend. Sein Gesicht sah überaus freundlich aus.

„Ich fang’ nu auch an, alt zu werden, Herr Baron,“ erzählte er, ohne die letzten Äußerungen seines Herrn irgendwie zu beachten. „Nämlich – wenn ich mir bücke, dann knackt’s mir in allen [99]Knochen. Und das Rheuma kommt auch wieder. Na – nu kriegen wir ja die Quelle –“

Hellstern hob die geballten Hände hoch empor und schnaufte förmlich.

„Hat jemand je ein solches Untier gesehen!“ rief er. „Die Quelle! Jetzt fängt der auch noch davon an! Ersäuf dich in ihr! Mir soll’s recht sein! Mach, was du willst! Aber geh nur ’raus! Ich kann dich nicht mehr sehen! Du bist mir greulich –“

„Ich geh’ schon,“ sagte August und nickte freundlich. Wenn der Herr ihm nicht monatlich wenigstens dreimal kündigte, fehlte ihm etwas. Es mußte alles seine Ordnung haben. Und dann ging er wirklich, zufrieden und glücklich, und Hellstern machte sich wieder, noch immer schimpfend, schnaufend und stöhnend, an seine Arbeit.

Der Schlitten sauste über die Schneebahn. Mancher im Dorfe, der zufällig am Fenster stand, schaute ihm mit ähnlichem Lächeln wie August nach. Die Bauern waren leicht geneigt, Paare zusammenzubringen; man munkelte schon lange davon, daß das Fräulein vom Baronshof einen der beiden jungen Herren vom Auschlosse heiraten würde.

Eine Viertelstunde hinter der Chaussee begann der Wald. Das war etwas Köstliches. Ein Märchenwald – ein verzauberter Hain, der aus leuchtendem Silber geschaffen zu sein schien. Auf jedem Ast und jedem Zweige und jeder Tannennadel lag der Kristallreif des Winters. Es flimmerte und glitzerte überall. Dicht am Wege standen, die Einfassung bildend, in langer Reihe hochstämmige Birken. Ihre Kronen waren wie mit Eis inkrustiert; ein glänzender Panzer hüllte sie ein. Dahinter dehnte sich Tannenforst aus, und auf dem dicken Gezweige mit seinem schweren, schwarzgrünen Nadelwerk lag noch der Schnee. Und wenn ein leiser Wind kam, dann perlte der Schnee gleich tausendfachem Edelgestein zur Erde. Hie und da hingen noch Eistropfen am Geäst, feine, dünne und zierliche, die sich langsam [100]auflösten zu fallenden Tropfen, und schwere, armdicke, die wie aus Glas geformt erschienen. Selbst über die Moosschicht unter den Tannen spann sich ein gleißendes Spitzenwerk von Reif und Eis. Dazu heller Sonnenschein und blauender Himmel und eine köstliche Friedensstimmung: ein tiefes, heiliges Schweigen ringsum.

Das Wiehern der Pferde und das Geläute der kleinen silbernen Glöckchen am Geschirr schienen einzig und allein diese Stille zu stören. Aber auch in dem lustig tönenden Klingklang lag etwas Harmonisches; es war die Musik zu dem Waldmärchen. Die Schneedecken auf den Rücken der Pferde blähten beim eiligen Laufe sich auf wie Segel im Winde. Eine helle Dunstwolke umgab die Gäule, und der heiße Brodem, der ihren Nüstern entströmte, jagte vor ihnen her.

Die beiden im Schlitten sprachen wenig. Das gleiche Gefühl der Naturbewunderung hieß sie schweigen, bei beiden kam auch noch das instinktive Empfinden dazu, durch den Kutscher gestört zu sein. Der brave Mann ahnte das freilich nicht. Er saß in der ganzen gemächlichen Fülle seiner Persönlichkeit hinten auf der Pritsche, bis obenhin in seinen langen, hellgrauen Paletot geknöpft, einen mächtigen Pelzkragen um den Hals. Das Gesicht war völlig regungslos; er war gut gezogen.

Und seltsam genug – während dieser Fahrt durch den Wald stieg in Hedda mehrfach die Frage auf: war es vielleicht doch nicht in der Ordnung gewesen, daß sie der Aufforderung ihres gefälligen Nachbars nachgekommen war? An übertriebener Prüderie litt sie ebensowenig wie an zopfigem Konventionalismus. Sie hätte nichts dabei gefunden, mit Gunther allein meilenweit spazieren zu gehen. Und nun saß, eine merkwürdige dame d’honneur, zur Schutzwehr auch noch der Kutscher hinter ihnen. Und gerade das genierte sie so, daß sie gar nicht recht wußte, was sie sprechen und welchen Ton sie anschlagen sollte. Sie fand selbst, daß das lächerlich [101]war, und fügte in Gedanken hinzu: aber es ist dennoch so.

„Der See,“ sagte Gunther und wies nach rechts hinüber. Durch eine Lichtung, durch die in breitem Strome der Sonnenschein wie eine Goldflut floß, sah man eine Ecke des Sees, ein großes Stück blendendes Weiß.

„O weh,“ gab Hedda zurück, „wir haben an den Schnee nicht gedacht! Werden wir da überhaupt laufen können?“

Er nickte und lächelte dabei. „Die Bucht an der Försterei ist gefegt worden,“ entgegnete er. „Ich habe über Mittag zwölf Mann hingeschickt. Es war nicht leicht, heute am Neujahrstage die Leute aufzutreiben.“

Hedda rümpfte unwillkürlich ein klein wenig die Nase. Das gefiel ihr nun wieder nicht. Es klang so, als hätte er sagen wollen: mit Geld kann man alles machen. Und dann ärgerte sie sich wieder über sich selbst; es war klar, daß sich Doktor Schellheim bei dieser Bemerkung gar nichts gedacht hatte.

Nun senkte sich der Weg und beschrieb einen kurzen Bogen nach links. In der Schlucht lag der Schnee noch zu dichten Haufen. Der Sturm hatte mit mächtigem Odem hineingeblasen, ihn hier fußhoch geschichtet und dort wieder die braune Erde reingefegt.

Dann lichtete sich der Forst. Drüben lag, inmitten überschwemmter Wiesen, die Försterei, und in lang geschwungener Kurve dehnte der See sich aus. In der Ferne sah man die niedrigen Häuserreihen von Döbbernitz, und auf der Höhe dahinter das Schloß, ein burgartiges altes Gebäude, das noch aus der Zeit der Templer stammte und in dem jetzt der Baron Zernin mutterseelenallein hauste, immer auf der Hut vor seinen Gläubigern und den Gerichtsvollziehern, die ihm bös zusetzten.

Der Schlitten hielt. Gunther gab dem Kutscher den Befehl, langsam im Walde umherzufahren und [102]sich nach einer Stunde wieder einzufinden. Dann wandte er sich an Hedda. „Darf ich Ihnen helfen?“ fragte er und deutete auf die Schlittschuhe, die sie am Arm trug.

Sie dankte und begann sich selbst die Schlittschuhe anzuschnallen. Gunther hatte die Pelzdecke aus dem Wagen genommen und sie über einen Baumstumpf am Seeufer gebreitet. Hedda setzte sich, aber sie war ungeschickt.

„Ich werde doch helfen müssen!“ rief Gunther lachend. Und schon kniete er vor ihr; die Arbeit war schnell gemacht.

Ein eigentümliches Empfinden überschlich Hedda. Sie sah zum ersten Male einen Mann zu ihren Füßen. Es war ein gewisser pikanter Reiz, der sie durchströmte, aber dabei schalt sie sich töricht, wie vorhin, als die Gegenwart des Kutschers sie genierte.

Beide flogen über das Eis. Sie waren gewandte Läufer. Unter dem Stahl ihrer Sohlen klang die glitzernde Fläche leise metallisch; es war wie ein fernes Singen. Das Eis war in weitem Umkreise blitzblank gefegt; es lief sich prächtig.

Gunther hatte Hedda den Arm geboten, doch sie schlug vor, sich zunächst einmal allein „auszutoben“. Es war ein entzückendes Bild, wie sie über den hellen Spiegel sauste, in dem die Sonnenstrahlen sich leuchtend brachen. Gunther, der sie in weit ausholenden Kurven umkreiste, wurde nicht müde, sie anzuschauen. Sie hatte die Arme über der Brust verschränkt und den Kopf ein wenig zurückgeworfen. Auf dem dunkelblonden Haar saß die Pelzkappe; das Antlitz war lebhaft gerötet von der kalten Luft, und die Augen blitzten im Wonnegefühl der eignen Kraft.

Ringsum lagen die Waldhänge unter weißer Schneedecke. Ein Schwarm Krähen strich durch die Luft. Vom stählernen Blau des Himmels hob sich ihr Gefieder haarscharf ab. Der See buchtete sich nach Döbbernitz zu in schlankem Bogen ein. Man [103]konnte nicht sehen, wo er endete; er verlor sich zwischen den Bergen, die im Westen höher wurden. Eine weiße Wolkenschicht hatte sich hier gebildet, dicht über dem Horizont, und so sah es aus, als steige der kleine märkische Höhenrücken in weiter Ferne zu ragenden Gletschern empor.

„Aufgepaßt!“ rief Hedda plötzlich. Aber es war zu spät. Die Bogen der beiden Läufer kreuzten sich; Hedda und Gunther sausten sich in die Arme. Beide stürzten. Gunther war außer sich; er bat „tausendmal“ um Entschuldigung und wollte Hedda aufhelfen. Dabei fiel er zum zweiten Male hin. Nun lachte Hedda fröhlich auf. Sie stand schon wieder auf ihren Füßen und reichte Gunther die Hände.

„Halten Sie fest!“ rief sie, – „so!“ – und nun stand auch er.

„Wie war das gekommen?“ fragte er verlegen, und sie lachte abermals.

„Mein Gott, wie soll es gekommen sein?“ gab sie harmlos zurück. „Ich taxiere, wir waren beide schuld. Aber was schadet es? – Haben Sie sich verletzt?“

Er fühlte einen leichten Schmerz am Knöchel; eine Sehne mochte sich gezerrt haben.

„Nur unbedeutend,“ antwortete er; „es wird sich geben, wenn ich erst wieder in Bewegung bin.“

Nun bat sie ihn, ihren Arm zu nehmen. So flogen sie von neuem über das Eis.

„Geht es besser?“ fragte Hedda.

„Ja – danke; ich fühle mich sogar außerordentlich wohl.“

Das Rot ihrer Wangen verdunkelte sich.

„Treiben Sie viel Sport?“ fuhr sie fragend fort, mit Absicht das Thema wechselnd. „Man findet das sonst nicht häufig bei Gelehrten – die Herren pflegen nur ungern ihren Arbeitstisch zu verlassen.“

„Das ist bei mir allerdings auch der Fall,“ entgegnete er; „aber ich begann vor zwei Jahren, wie ich glaube, infolge von Überarbeitung, zu kränkeln, [104]und da raffte ich mich denn mit einem energischen Entschlusse zu einer zweckmäßigeren Tageseinteilung auf. Das wurde mir anfänglich schwer; sportliche Neigungen sind im Grunde genommen eine aristokratische Domäne; sie liegen im Blut. Aber heute möchte ich sie nicht mehr entbehren; ich behaupte, daß sie auch den Geist reger und frischer erhalten.“

„Reiten Sie auch?“

„Ja – aber speziell zum Reiten komme ich weniger. Sie sind natürlich eine begeisterte Amazone, Baronesse?“

„Ich kann es nicht leugnen. Es ist mir schwer geworden, mein Reitpferd aufgeben zu müssen. Aber ich habe mich über so viel getröstet, daß mir auch das keinen Kummer mehr macht.“

Sie kreisten in schwingenden Kurven nach dem Ufer zurück.

„Ich denke mir,“ begann Gunther von neuem, „daß es Ihnen zuweilen recht einsam auf dem Baronshof werden muß. Die Umgegend bietet meines Wissens nicht allzuviel Verkehr.“

„Nein, sehr wenig. Papa ist das recht, – er ist ein Fanatiker der Einsamkeit. Und ich muß sagen, daß ich das Wohlempfinden des Alleinseins verstehe. Ich habe auch genug im Hause zu tun und kann über Langeweile nicht klagen. Aber zuweilen sehne ich mich doch stark in die Welt hinaus, vor allem nach neuen Anregungen; mir ist dann und wann, als verengere sich mein Gesichtskreis mehr und mehr. Möglicherweise reise ich im Februar oder März auf ein paar Wochen nach Berlin; ich freu’ mich darauf.“

„Haben Sie Verwandte in Berlin?“

„Eine Tante, die mich alljährlich einladet, und der ich bisher alljährlich abgeschrieben habe. Ich habe immer Sorge, den Papa allein zu lassen. Aber nun kommt auch noch ein Vetter von mir nach der Hauptstadt.“

Das interessierte Gunther besonders. Er horchte [105]auf, als Hedda von Herrn Axel auf Jarlsberg zu erzählen begann; sie sei neugierig, ihn kennen zu lernen – er habe schon früher einmal dem Papa sein Bild geschickt: ein schmales, vornehmes Gesicht mit einer kleinen Hiebnarbe auf der rechten Wange.

Gunther biß die Zähne zusammen. Da sie von dem Vetter sprach, tat ihm das Herz weh. Warum, warum? fragte er sich – sie kennt den Herrn Axel ja noch gar nicht! Wie lieb mußte er das Mädchen gewonnen haben, daß ihn schon die Erwähnung eines gleichgültigen andern mit Eifersucht erfüllte!

Aber nein, sagte er sich, dieser Vetter ist kein „gleichgültiger andrer“. Ganz gewiß nicht! Er ist reich und gehört mit zur Sippe – das fällt beides in die Wagschale.... Es war wie ein Angstgefühl, das dem jungen Manne plötzlich die Kehle zuschnürte. Man hatte auch ihn schon mit Heiratsplänen bestürmt. Wie es hie und da in Kaufmannskreisen Sitte zu sein pflegt, war er auf dies und jenes Mädchen aufmerksam gemacht worden, „gute Partieen“ und meist hübsche und wohlerzogene Fräulein, bereit, ohne nachzudenken dem die Hand zu reichen, den die Eltern erwählt hatten. Aber er dankte für eine „gute Partie“ in kaufmännischem Sinne; er hatte das nicht nötig. Es war sein Traum, einmal in eine wirklich vornehme Familie hineinzuheiraten. Das war seltsam genug bei einer so ruhigen, verhältnismäßig abgeklärten Verstandesnatur wie Gunther, bei einem Manne, der sich gut bürgerlich fühlte und im Adel durchaus keine Menschenklasse sah, die höher stand als jene, der er zugehörte. Und doch kam er nicht über diesen Gedanken hinaus; es war eine Idee, an der er mit gleicher Zähigkeit festhielt wie seinerzeit an dem Plane, studieren zu wollen. Denn auch der hatte schwere Kämpfe gekostet; der Vater wollte, daß er die Fabrik in Manchester übernehme, deren Betrieb dringend einer Vergrößerung bedurfte, und war unglücklich darüber gewesen, daß Gunther sich einen so völlig aus der [106]Sphäre fallenden Beruf erwählte. Und vielleicht war es gerade das Bedürfnis, aus dieser Sphäre herauszukommen, das ihn an dem Gedanken einer „vornehmen“ Partie festhalten ließ. Er war viel zu klug und zu rechtschaffen vor sich selbst, um nicht die Tüchtigkeit und alle die andern guten Eigenschaften der Kreise seiner Eltern billig anzuerkennen. Aber es war immer dasselbe; die Interessengemeinschaft verdichtete sich gewissermaßen zu bleierner Langeweile; sie wurde zu Fesseln, unter denen man sich nicht zu regen vermochte.

So wenigstens erschienen Gunther die Verhältnisse. Er hielt sich deshalb auch gesellschaftlich ziemlich zurück – schon um den immer wiederkehrenden Fragen, wann er sich zu verheiraten gedenke, zu entgehen. Und dann lernte er Hedda kennen. Er sträubte sich zunächst gegen das Gefühl seines Herzens, obwohl er sich beim ersten Begegnen zugestanden hatte: das wäre eine Frau, wie du sie dir wünschest. Aber die Liebe erwachte stärker und wurde größer in der Zeit, da er Hedda nicht sah. Er überlegte, ob er eine Werbung wagen dürfe. Und weshalb nicht? sagte er sich. Über kleinlichen Adelsstolz ist man in unsern Tagen hinaus; ich habe eine gute Karriere vor mir, bin wohlhabend und jedenfalls kein Monstrum von Häßlichkeit.... Doch da er Hedda abermals gegenübertrat, verlor er den Mut. Vielleicht lag es nur an ihrer äußeren Erscheinung, daß sie einen so unnahbar stolzen Eindruck machte ...

Während er weiter an ihrer Seite über die Eisfläche glitt und zerstreut mit ihr über hunderterlei plauderte, überlegte er nochmals und ernsthaft. Der nahende Vetter hatte ihn erschreckt. Es war das beste, ihm zuvorzukommen. Aber – nun kam die Verlegenheit. Was war richtiger: ein Fußfall, ein rasches Geständnis, so eine Art Überrumpelung – oder eine ruhige Aussprache der Väter. Das letztere war in Kaufmannskreisen üblich; da hatten gemeinhin die Väter das entscheidende Wort zu sprechen. [107]Und auch hier, in seinem Falle, erschien es Gunther als das würdigste. Er konnte unmöglich in Schnee und Eis vor ihr niederknieen und ihr in der Kälte des Tages von der Glut seines Herzens sprechen. Das dünkte ihm lächerlich. Die Situation eignete sich nicht zu intimen Geständnissen – nein, ganz gewiß nicht. Ja, wenn es Sommer gewesen wäre und er allein mit ihr im Walde, bei Sonnenuntergang und Vogelsang – da hätte sich leichter der rechte Augenblick gefunden. Aber nicht jetzt; auch abseits von sentimentaler Romantik gibt es Momente, in denen die Poesie ihr unbedingtes Recht fordert ...

An all dies dachte Gunther mit der Peinlichkeit eines gewissenhaften Gelehrten. Er war sogar stolz darauf, daß er sein Herz zu zügeln und abzuwarten verstand. Er zwang sich, korrekt zu sein. Noch eins hielt ihn davon ab, sich auf der Stelle auszusprechen. Er begann plötzlich heftig zu niesen. Er mußte sich erkältet haben; er nieste ein dutzendmal hintereinander, und nach einem kleinen Weilchen begann er von neuem; ein Riesenschnupfen war da. Wäre es nicht schrecklich gewesen, wenn dieser dämonische Niesreiz ihn mitten in seinem Geständnis überfallen hätte? – Gunther legte sich diese Frage allen Ernstes vor; der Gedanke, komisch zu wirken, war entsetzlich für ihn.

„Prosit!“ sagte Hedda nach dem letzten Dutzend Nieser; „ich habe noch immer die bäuerliche Angewohnheit, Gesundheit zu wünschen, und Papa freut sich jedesmal darüber. Er niest oft und gern; er behauptet, das befreie ihm den Kopf. Prosit, Herr Doktor! Sie haben sich einen hübschen Schnupfen geholt.“

Gunther antwortete zunächst durch eine kleine Salve von Niesern. Dann atmete er tief auf.

„Es ist gräßlich,“ antwortete er. Und wirklich, es war ihm gräßlich, dieses plebejische und prosaische Niesen, wo es in seinem Herzen frühlingswarm war.

Hedda riet, nach Hause zu fahren. Doch noch [108]war der Schlitten nicht wieder zurück. Der Himmel verdunkelte sich langsam. Die stählerne Bläue ging allgemach in ein sanftes Schwarz über. Nur im Westen war es noch hell. Da hatte die Sonne einen Purpurmantel über den Horizont gehängt, der mit goldenen Flocken verbrämt war. Er reichte bis an die weißgraue Wolkenschicht, deren unterer Teil völlig durchleuchtet war und den Flammenkragen dieses königlichen Mantels zu bilden schien.

Es war ein herrlicher Anblick. Gunther machte Hedda darauf aufmerksam, und beide blieben, noch immer Arm in Arm, auf dem Eise stehen und schauten in den Sonnenuntergang hinein. Ganz allgemach veränderte sich das Bild. Der Wolkenrand zerfloß, als löse die glühende Lohe ihn auf. Nun schoß das Goldlicht in langen Feuergarben in das Wolkengrau hinein und spaltete es. Es strömte in hundert verschiedenen Farbentönen über den ganzen westlichen Himmel und verlor sich nach dem Zenit zu in einem zarten, langsam erlöschenden Violett ...

Gunther wurde es weich um das Herz. Der Dualismus in seiner Seele drängte sich wieder vor: über den nüchternen Forscher gewann zuweilen der leicht schwärmende Poet die Überhand. Jetzt hätte er sprechen können.

„Wie schön,“ sagte er halblaut. „Ist es nicht wahr, daß die Natur zuweilen ganz neue, uns selbst unbekannte Harmonieen in uns erklingen läßt? Daß sie uns neues Empfinden lehrt und ein eigentümliches rhythmisches Denken?“

Hedda nickte. Sie wollte bejahend antworten, denn es dünkte sie richtig, was Gunther sagte: auch ihr schien es bisweilen in der Versunkenheit eines schönen Naturspiels, als formten sich ihre Gedanken unbewußt zu gebundenem Ausdruck, und als spüre sie etwas Ungeahntes in den Tiefen der Seele. Aber da wollte die Bosheit des Schicksals, daß der arme, verschnupfte Gunther abermals niesen mußte, und zwar gewaltig, den ganzen Menschen erschütternd, [109]vier-, fünfmal und tränenden Auges. Und diese Explosion verlegte die Gedankenreihen Heddas; sie entgegnete an Stelle des Gewollten mit energischer Stimme:

„Lieber Doktor Schellheim, – ich denke augenblicklich gar nichts weiter, als daß Sie schleunigst nach Hause fahren und einen heißen Tee trinken müssen. Da kommt der Schlitten! Machen wir kehrt!“

Entgeistert und mit betrübtem Gesicht gehorchte Gunther. Heimlich verfluchte er seinen Schnupfen; er war ein Unglücksmensch.

Unter fröhlichem Läuten ging es durch den Wald zurück. Der schaute jetzt anders aus als bei der Herfahrt im Sonnenschein. Die tiefer fallende Dämmerung ließ den Schnee einförmig und grau erscheinen. In der Wiesentrift rechter Hand brodelten die Nebel auf und zogen wie zerrissene Schleier zwischen den Stämmen hindurch. Und obwohl am Himmel sich nur ein kleiner Schwarm heller Wölkchen gesammelt hatte, perlte doch ein zarter Schnee durch die Luft und näßte die Gesichter der beiden.

Gunther ließ erst auf den Baronshof fahren und setzte Hedda ab. Sie rief ihm ein freundliches: „Schön’ Dank und gute Besserung!“ zu und stieg die Treppe zur Veranda hinauf. Dann klingelte das Gespann weiter. Gunther nieste und ärgerte sich; er war aus der Stimmung gekommen.

Sechstes Kapitel

Der zweite Tag im neuen Jahre war ein Sonntag. Seit der Frühe hatte es stark geschneit. Auf dem Anger lag das weiße, flockige Naß fußtief. Trotz des Feiertags war die halbe Gemeinde am Platze, Schnee zu schippen, damit wenigstens der Weg zur Kirche frei war. Es ging lebhaft und [110]heiter zu bei der Arbeit. Die Schnapsflasche des alten Maracke kreiste in der Runde, und dann mußte Anton Tengler nach dem Kruge springen, sie neu füllen zu lassen.

Mitten in der Arbeit hielt man plötzlich inne und blickte auf. Albert Möller schritt über den Dorfplatz, in hohen Wasserstiefeln und Pelz, und neben ihm ein Fremder, ein großer Herr mit einem Zwicker auf der Nase und in langem Kaisermantel. „Schlippermilch“ wollte wissen, daß das ein Baumeister aus Frankfurt sei, der Kompagnon Alberts. Man zerbrach sich den Kopf, was der Fremde wolle. Seine scharfen grauen Augen spähten unter den goldumränderten Gläsern rastlos umher. Von Zeit zu Zeit blieben die beiden stehen und sprachen halblaut miteinander, lebendig gestikulierend, hierhin und dahin weisend. Und dann schritten sie an den arbeitenden Büdnern vorüber; der Baumeister grüßte tief und höflich, Albert nickte nur.

Sicher handle es sich wieder um die Quelle, meinte der junge Raupach, und alle stimmten zu. Noch im Herbst war die Quelle „gefaßt“ worden, ohne sonderliche Feierlichkeit; Albert hatte dies mit einigen Leuten allein besorgt. Aber man sprach davon, daß zu der Einweihung im Mai auch der Regierungspräsident kommen wolle, für die meisten Bauern eine mystische Persönlichkeit, vor der sie großen Respekt hatten. Und dann hatte das Dorf den ganzen Winter hindurch eine Unzahl fremder Leute gesehen. Eines Tages waren drei Ärzte erschienen, die ihre Nase überall hinstecken mußten, und später wieder ein jüdisch aussehender Herr, der mit dem Kommerzienrat durch Oberlemmingen fuhr, und schließlich eine ganze Kommission, die unter Anführung von Albert im Buchenhain auf der Grauen Lehne allerhand Abmessungen vornahm, Pfähle einschlagen und Wegstreifen durch Pflöcke bezeichnen ließ.

An den Sonntagabenden, wenn das Schankzimmer [111]im Kruge sich zu füllen begann, wurde fast nur von der Quelle gesprochen. Eine brennende Neugier erfüllte alle, zu wissen, was denn nun eigentlich werden würde. Aber die Möllers waren zurückhaltend; sie sprachen nur in Andeutungen, und höchstens sagte Fritz dann und wann, man solle nur abwarten, Oberlemmingen würde reich werden, oder, das mit der Quelle sei eine große Sache, und was der schmunzelnd hingeworfenen Bemerkungen mehr waren. Mit dem Reichwerden waren die Bauern sehr einverstanden; geldgierig waren sie alle. Doch wie ihnen die Quelle zu diesem Reichtum verhelfen sollte, darüber zerbrachen sie sich die Köpfe.

Eines Tages versammelten sie sich vergeblich vor dem Kruge; sie wurden nicht eingelassen. Fritz trat lachend vor die Tür und erklärte ihnen, die Wirtschaft sei für ein paar Tage geschlossen, er wolle das Haus renovieren lassen. Das erregte einen förmlichen Aufstand im Dorfe. Aus den „paar Tagen“ wurden ein paar Wochen. Die Bauern hatten keine Kneipe mehr. Da die Möllers sie aber nicht gänzlich als Kunden verlieren wollten, so wurde ein leerstehender alter Stall als Schankstube eingerichtet. Und wenn die Bauern fragten: „Sind die Handwerker denn immer noch im Hause?“ so nickte Fritz und erwiderte, es sei gar zu viel zu tun. Tatsächlich war aber bald nach Weihnachten schon wieder alles in Ordnung; Fritz wollte nur nicht, daß die Bauern ihm die neutapezierte, gedielte und gebohnerte Schankstube wieder verschmutzten – der Stall war für sie ebenso gut. Da konnten sie spucken, wohin sie wollten, und wenn einer einmal ein Glas Bier umwarf, so kam es auch nicht darauf an. –

Auf dem Auschlosse kam es an diesem Sonntag schon beim Morgenfrühstück zu einer erregten Szene.

Gunther erschien etwas blaß und übernächtig in der Halle, setzte sich mit kurzem Gruße zu den Eltern an den Tisch und schickte den Diener hinaus.

[112]„Entschuldigt,“ sagte er, „aber ich möchte ein paar Worte allein mit euch sprechen!“

Der Kommerzienrat zog die nach dem Gebäck ausgestreckte Hand wieder zurück, und auch die Rätin schaute erstaunt auf.

„Ja,“ meinte Schellheim, „was gibt’s denn? Hoffentlich nichts Fatales!“

„Nein, Papa,“ erwiderte Gunther, „ich will nur euern Rat hören. Es handelt sich um eine Lebensfrage für mich, um meine Zukunft ...“

Das Mutterauge sieht immer scharf. Die Rätin reckte den schmächtigen Oberkörper, und mit forschendem und sorgendem Ausdruck ruhte ihr Blick auf dem Sprechenden.

„Eine Ehrensache?“ fragte Schellheim ängstlich.

„Ich glaube eher – eine Herzenssache,“ fügte seine Frau hinzu.

Gunther nickte. „Ja, Mutter, so ist’s. Ich – ich habe noch nie an das Heiraten gedacht, ihr wißt’s ja selbst, und gelacht, wenn mir der und jener mit Plänen und Anerbietungen kam. Ich hasse den Eheschacher. Ich möchte frei wählen können –“

„Mach’s kurz,“ fiel der Vater ein; „wer ist’s?“

„Fräulein von Hellstern, Papa.“

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen am Tische, dann sprang der Rat erregt empor und warf seine Serviette auf den Stuhl.

„Daß du einmal irgend eine Verrücktheit begehen würdest, wußte ich ja,“ sagte er hart. „Praktischen Erwägungen bist du niemals zugänglich gewesen. Aber sich nun gerade –“

Er brach ab. „Bist du mit der Dame schon einig?“ fragte er, vor Gunther stehen bleibend.

„Nein, das nicht, Papa, aber ich habe die Hoffnung, daß Fräulein Hedda meine Werbung annehmen wird – sonst würde ich es nicht wagen. Indessen – ich wollte zunächst einmal mit euch sprechen.“

[113]„Da hast du sehr recht getan. Und wenn du meinen Rat hören willst, Gunther, so schlag dir die Sache aus dem Kopf. Das ist nichts für dich – und erst recht nichts für uns. Das –“

Er wühlte mit den Händen in seinem Haar und lief erregt in der Halle auf und ab.

Nun nahm auch die Rätin das Wort.

„Ich habe nur wenig zu sagen,“ bemerkte sie mit ihrer weichen, zart klingenden Stimme. „Wenn Gunther das Mädchen liebt, soll er’s versuchen. Ich müßte lügen, wollte ich nicht offen gestehen, daß mir Fräulein von Hellstern sehr sympathisch ist.“

„Sympathisch!“ schrie der Rat. „Was das nun wieder heißen soll?! Bei einer solchen Frage ist doch wahrhaftig mehr zu überlegen! Ich bitte dich, liebe Frau, sieh ein, daß es sich in gewissem Sinne auch um uns handelt. Jawohl, um uns! Würde es dir lieb sein, wenn dich deine Frau Schwiegertochter über die Achsel ansieht? Wenn sie eine meilenweite Kluft zwischen Mutter und Sohn legt?“ Und Schellheim breitete beide Arme aus, als wolle er das Unermeßliche dieser Kluft andeuten.

Gunther widersprach ernsthaft. Davon könne gar keine Rede sein. Wenn Hedda Mitglied der Familie geworden wäre, so würden ihr gütiges Herz und ihr feiner Takt schon den rechten Ton des Verkehrs mit den Eltern finden.

„Ich bitte dich, Papa, laß solche Bemerkungen,“ schloß er und erhob sich gleichfalls. Eine schwere Falte zeigte sich auf seiner Stirn.

„Ah was,“ entgegnete der Rat unwirsch, „du wirst mir schon erlauben müssen, das auszusprechen, was ich denke! Sei vernünftig, Gunther! Ich glaube gleich dir, daß die Hellsterns deine Werbung nicht zurückweisen würden. Sie sind arm, und der Baronesse fehlt jede Gelegenheit zu einer passenden Partie. Ich habe ja auch wirklich nichts gegen die Leute! Es ist nichts weiter gegen sie zu sagen, als daß sie adelsstolz und unbemittelt sind. Beides sind keine [114]Vorwürfe. Ihr Name ist gut, glänzend, geachtet; sie haben ein Recht, darauf stolz zu sein. Für ihre Armut aber können sie nichts. Und dennoch muß dies beides bei der geplanten Verbindung mit in Betracht gezogen werden. Bitte – ich rede noch – ich will aussprechen! In Betracht gezogen werden, sagte ich. Zunächst die Geldfrage. Du wirst einmal reich – dem Anschein nach ist diese Frage also minderwertiger Natur. Aber doch nur dem Anschein nach. Denke an die Zukunft! Ihr könnt eine ganze Herde Kinder kriegen, und wie zersplittert sich da das Vermögen! Fräulein Hedda bringt ja nichts mit! Den Baronshof – na, was ist denn der wert?!“

„Papa, ich bitte dich –“ und Gunther hielt es für gut, den Zukunftsperspektiven des Rats gegenüber ein heiteres Gesicht zu machen. Aber Schellheim war noch nicht zu Ende; er winkte abwehrend mit der Hand.

„Weiter,“ sagte er, „die zweite Frage. Zugestanden, daß Fräulein Hedda das Herz auf dem rechten Fleck hat. Da ist aber noch der Alte. Vor dem graul’ ich mich geradezu. Er wird auch nicht nein sagen, wenn ich für dich anhalte – i, wo wird er denn –, aber ich fürchte, wir werden nicht gut zueinander passen. Ich habe das jetzt schon gemerkt. Er hat etwas gegen uns Kaufleute – weniger gegen das Bürgertum im allgemeinen, wie gerade gegen uns Kaufleute. Ah bah – ich sage dir, Gunther, es ist so! Der alte Groll der Landwirtschaft gegen die Industrie! Er kann auch nicht verwinden, daß ich ihm seine Klitsche abgekauft habe. Und – und – kurzum, ich will dich nicht beeinflussen, aber ich rate dir: sei vernünftig und überlege!“

Die Rätin hatte sich nicht wieder in die Unterhaltung gemischt. Sie saß schweigend am Teetisch und rührte mit dem Löffel in ihrer Tasse. Aber plötzlich legte sie den Löffel hin und wandte sich auf dem Stuhle um.

„Da ich die Mutter bin, so ist mir vielleicht auch [115]noch ein Wort gestattet,“ sagte sie. „Ich kann deine Gegengründe nicht anerkennen, Alfred; ich will dich nicht beleidigen, ich muß dir aber sagen, daß ich sie lächerlich finde. Wenn es sich um das Glück eines unsrer Kinder handelt, kommen wir immer erst in zweiter Reihe. Nimm wirklich an, Fräulein Hedda und ihr Vater seien hochmütig und adelsstolz: wenn ich weiß, daß Gunther glücklich ist, lass’ ich mich schon über die Achsel anschauen, und ich werde die Hand auf das Herz pressen, wenn es dabei gar zu sehr zuckt. Im übrigen stimme ich aber der Ansicht Gunthers zu: das Fräulein hat viel zu viel Takt, um zwischen uns und den Ihren gesellschaftliche Unterschiede zur Betonung zu bringen. Und schließlich das Geld. Gunthers Kinder werden auch einmal erwerben lernen! Willst du bis in das dritte und vierte Glied hinein sorgen?“

Als sie ausgesprochen hatte, erschrak sie fast über ihre Kühnheit. Sie war an das Sich-beugen und -ducken gewohnt. Ein flammendes Rot huschte über ihre Wangen; sie wandte sich wieder dem Tische zu und griff abermals nach dem Teelöffel.

Gunther war hinter sie getreten und drückte einen Kuß auf ihren Scheitel. „Ich danke dir, Mutter,“ sagte er; „du hast recht.“

Der Rat zuckte mit den Schultern.

„Es fällt mir nicht ein, den Tyrannen spielen zu wollen,“ bemerkte er, mit Absicht ein wenig leichthin. „Auch mir steht das Glück meiner Kinder über der eignen Person – jawohl, teure Gattin, und ich bitte, daß du davon Notiz nimmst! ... Bleibst du nach reiflicher Überlegung bei deinem Vorhaben, Gunther, so teile es mir am Nachmittag mit. Langes Fackeln liebe ich nicht. Hellsterns sind heute abend hier – da wird sich Gelegenheit finden, mit dem Alten ein Wörtlein unter vier Augen zu sprechen.“

Er ging, aber man merkte an dem heftigen Zuschlagen der Tür, daß sein leichter Ton Komödie war.

[116]Die Rätin war still sitzen geblieben. Sie rührte noch immer mit dem Löffel in ihrem erkalteten Tee herum, als wolle sie durch diese Bewegung das leise Zittern ihrer Hände verdecken. Doch Gunther sah, wie es um ihre Mundwinkel zuckte, und sah auch die schwere Träne, die über ihre Wange rann.

„Mutterchen,“ fragte er leise, „warum weinst du denn?“

Sie blickte zu ihm auf, und es lag ein so schmerzlich weher Ausdruck in ihrem Auge, daß Gunther ein eisiges Schauern in seinem Rücken zu spüren meinte. Es war ihm, als habe er zum erstenmal in die Seele dieser armen Frau geschaut, die das Herzensglück, das sie für ihre Kinder erwünschte, nie selbst kennen gelernt hatte.

Er ließ sich vor ihr nieder, küßte ihre Hände und gab ihr alte, liebe, fast vergessene Schmeichelnamen aus seiner Kinderzeit. Fest drückte sie ihren Liebling an sich, aber die Tapferkeit, die sie auf dem langen, öden und traurigen, staubgrauen Wege ihrer Ehe aufrecht erhalten hatte, brach: sie konnte den Tränen nicht mehr wehren, die unaufhaltsam flossen.


Die Kirchglocken läuteten noch immer. Der Schneefall hatte nachgelassen, und in der reinen, sonnendurchströmten Winterluft tönte der Klang der Glocken fast durch das ganze Tal.

Auch der Freiherr hatte sich entschlossen, einmal wieder das Gotteshaus zu besuchen. Er war, obwohl ihm eine gewisse naive, von Skrupeln und Grübeln freie Frömmigkeit eigen, niemals ein eifriger Kirchgänger gewesen, und in letzter Zeit hatte er sich seiner Ischias wegen so wie so kaum vom Platze rühren können.

Heute aber fühlte er sich wohler. Der alte Klempt hatte ihm vor einigen Tagen eine Einreibung gebracht, die Tante Pauline nach einem Rezept ihrer Großmutter zurechtgebraut, das sie zufällig zwischen allerhand alten Sachen beim Aufräumen [117]ihrer Truhe gefunden hatte. Es waren Ingredienzien dabei, die man heute kaum noch dem Namen nach kennt, wie zum Beispiel „Bleygötte, ein halb Pfund fein gepulvert“, und „ein Viertelpfund geschälte Alantwurzel“, aber Tante Pauline wußte schon Bescheid, und sie entsann sich auch, daß ihr Großvater, der schon völlig gelähmt gewesen war, kraft dieses Mittels wieder hatte gehen lernen. Und da hatte sie gemeint, es könne nicht schaden, wenn der Herr Baron es auch einmal probiere, und hatte sich an die Arbeit gemacht. Schwer war nur eins zu beschaffen gewesen, nämlich das Weiße eines Eis von einer schwarzen Henne. Die Langheinrichen besaß allerdings ein schwarzes Huhn, aber das legte derzeitig nicht. Glücklicherweise hieß es in dem Rezept: „oder wenn du dies nicht hast, nimm statt dessen Bofist und menge ihn mit ein klein wenig halb verbrannter Brotrinde in einem viertel Quart starkem Branntwein; doch muß der Branntwein vierundzwanzig Stunden vorher an einem warmen Ort gestanden haben, in einer Flasche, die du mit einer Blase zubinden mußt, in welche du eine Stecknadel steckst.“ Das hatte Tante Pauline denn auch getan.

Der Freiherr hatte Klempt sehr schön gedankt, und als August des Abends mit der Einreibung kam, hatte er den braven Diener hinauswerfen wollen. Er verbäte sich, ihm mit dem „Geschmurgel“ an den Leib zu kommen. Indessen ein paar Tage später, als die Schmerzen gerade sehr heftig waren, hatte Hellstern von selbst von der Klemptschen Einreibung angefangen. „Hol mal den Jux her,“ sagte er zu August; „hilft’s nichts, ist’s noch so!“ Und freudestrahlend lief August davon, um die kostbare Mixtur zu holen. Er rieb den Alten so kräftig ein, daß Hellstern gewaltig schimpfte, fluchte und wetterte, was für August aber eine wahre Wohltat zu sein schien, denn sein Gesicht wurde währenddessen immer freundlicher. Und dann packte er den [118]Baron in das Bett, wickelte ihn gehörig ein und legte zwei Wärmflaschen in die Kissen, denn Klempt hatte betont, daß der gnädige Herr nach der Einreibung gehörig schwitzen müsse.

Und merkwürdig genug – als Hellstern am andern Morgen aufstand, fühlte er sich erheblich wohler. Vielleicht hatte nur die kräftige Massage Augusts gewirkt, vielleicht auch die Schwitzkur – Tatsache war, daß der Baron sich freier und ohne starke Schmerzen bewegen konnte. Das machte ihn ganz glücklich. Dörthe mußte zu ihm kommen; die Einreibung von Vatern sei zwar nicht viel wert, aber für den guten Willen wolle er der Dörthe einen Taler schenken, und zwar einen mit der Inschrift: „Segen des Mansfelder Bergbaus“. Dörthe war so gerührt, daß sie erst dem Alten die Hand küßte und dann zu Hedda lief, ihr die Geschichte zu erzählen und ihr gleichfalls die Hand zu küssen. Schließlich erfuhr auch August von der Sache, und sie betrübte ihn; wenn der Alte einen Taler verschenke, meinte er, so werde er sicher nicht mehr lange leben. –

Hellstern schritt am Arme Heddas zur Kirche. Es hatte bereits zum dritten Mal geläutet, und von allen Seiten strömten die Leute herbei, grüßten den Baron mit einer gewissen freundlichen Unterwürfigkeit, blieben wohl auch, Front machend, vor ihm stehen und verbeugten sich ungeschickt. Vor der Kirchhofstür hielt der Schlitten des Kommerzienrats. Die Herrschaften waren bereits ausgestiegen und sprachen mit einem hochgewachsenen Herrn in schwarzbraunem Ulster und Zylinderhut.

Hellsterns Fuß stockte plötzlich. „Was Teufel,“ sagte er halblaut, „ist das nicht Klaus?!“

Er schaute zu Hedda auf, schien aber nicht zu bemerken, daß sie erblaßt war.

„Ja,“ erwiderte sie nickend, „es ist Klaus.“

Der Alte unterdrückte einen Fluch.

„Skandalös, daß der sich überhaupt noch sehen [119]läßt!“ murrte er. „Wir grüßen, Hedda, doch ohne ihn anzusprechen!“

Und sie gingen vorüber. Aber der Vorsatz des Alten war unausführbar. Kaum hatte Schellheim ihn gesehen, so schoß er auf ihn zu.

„Mein Kompliment, lieber Baron! Freu’ mich von Herzen, Sie so rüstig zu sehen.... Denken Sie, ich wußte ja gar nicht, daß Sie mit Herrn von Zernin verwandt sind –“

„Doch – ja, mein verehrter Herr Rat –“

„Über einen Scheffel Erbsen, pflegt man bei uns zu sagen, wenn man eine weitläufige Verwandtschaft bezeichnen will,“ warf der Herr im Zylinderhut lachend ein. Dann bot er Hellstern die Hand. „Tag, Onkel! Was macht die Chronika derer von Hellstern?“ Und schon stand er vor Hedda. „Tag, gnädigste Cousine – seit Ewigkeiten nicht gesehen! Freilich, ich sitze wie ein Maulwurf in meinem Bau und schleiche mich höchstens einmal nachtsüber auf den Anstand, wenn du längst in seligem Schlummer liegst. Wie geht’s?“

„Ich danke dir, gut,“ antwortete sie und wandte sich an Gunther, der mit abgezogenem Hute an sie herangetreten war.

Aus der Kirche ertönte bereits Orgelklang. Man schritt über den Friedhof, und bis zur Kirchentür sprach der Kommerzienrat in seiner lebhaften Art in Hellstern hinein. Hedda war ängstlich geworden. Sie hörte nur vereinzelte Brocken, vernahm aber wiederholt das Wort „Quelle“, und sie sah, daß das Gesicht ihres schweigsam zuhörenden Vaters immer röter wurde. ‚Diese Quelle wird uns allen noch Unglück bringen,‘ dachte sie.

Die Hellsterns besaßen in der Kirche ein Chor, hatten es aber der Familie des Kommerzienrats überlassen und dafür die Sitze unten neben der Sakristei genommen, die für die Besitzer des Auguts reserviert waren. Der Baron vermied es seines Leidens wegen gern, Treppen zu steigen.

[120]Die Kirche war groß, doch kahl und dürftig im Innern. In dieser mehr als einfachen Ausstattung fiel der neue rote Behang über Altar, Kanzel und Taufbecken, den Schellheim gestiftet hatte, um so mehr auf. Er leuchtete weithin, wie das Wort der Verheißung, das von dieser heiligen Stelle ausging.

Von den Sitzen der Hellsterns aus konnte man das Augutchor übersehen. Die Rätin saß zwischen ihrem Gatten und Gunther, dann blieben drei Stühle frei, und in der Ecke hatte sich Herr von Zernin niedergelassen.

Sein Erscheinen in der Kirche erregte Aufsehen. Aller Blicke richteten sich auf ihn. Besonders die jungen Mädel schienen sehr interessiert zu sein; Liese Braumüller schielte über ihr Gesangbuch fort alle Augenblick nach dem Chor hinauf.

Hedda sang mit ihrem schönen Alt das Einleitungslied mit. Ihr Blick wagte sich nicht von dem Buche fort. Eine leichte Röte lag auf ihren Wangen; sie fühlte, daß Zernin sie beobachtete. Innerlich grimmte sie das; seine unverfrorene Keckheit schien die alte geblieben zu sein – trotz allem. Dieses „trotz allem“ fand Widerhall in ihrer Seele. Während ihre Lippen das Lied sangen, war es ihr, als wiederhole sie immer und immer wieder das „trotz allem“. Sie war nervös, und um sich abzulenken, schaute sie auf den Altar, vor den soeben der Pastor trat.

Eycken neigte das graue Patriarchenhaupt und betete, das Gesicht dem Kruzifix zugeneigt, dessen weißer Marmor sich lichthell von dem roten Untergrunde abhob, mit dem Rücken gegen die Gemeinde. Dann wandte er sich um und blieb aufrecht stehen, wartend, bis das Eingangslied zu Ende sein werde. Und jetzt schweifte seiner Gewohnheit gemäß sein Auge mit raschem Prüfen durch das Kirchenschiff. Die Gemeinde schien vollzählig versammelt zu sein – Eycken nickte befriedigt. Plötzlich glitt über sein Gesicht ein Ausdruck von Erstaunen; Hedda senkte [121]wieder den Blick auf das Gesangbuch, denn nun wußte sie, daß das Auge des greisen Pfarrers im nächsten Moment sie selbst treffen würde. Und so war es in der Tat, doch Eycken schaute nur flüchtig, einen leichten Wolkenschatten auf der Stirn, zu Hedda hinüber und öffnete dann sein Buch zum Beginn der Liturgie ...

Es war kalt in der Kirche. Die Sonne wärmte nicht, sie leuchtete nur. Sie füllte den kahlen Raum mit einem weißgelben Schimmer, der in den Winkeln der Sakristei zu verwischtem Graugrün wurde. Auf einer der hell getünchten Wände lagen die Schatten der Bleiumfassung in den Fenstern, ein leise zitterndes Gitterwerk von unbestimmten Konturen.

Während der Liturgie versuchte Hedda, sich andächtig zu sammeln. Aber es war vergebene Mühe. Das unerwartete Wiedersehen mit dem, der kaum eine Wegstunde vom Baronshof entfernt wohnte und für sie dennoch so gut wie verschollen war, hatte sie stark erregt. Gegen ihren Willen rechnete sie nach: wann hatte sie Klaus Zernin zum letztenmal gesehen? Es war lange her – über ein Jahr. Und als reiße plötzlich ein Vorhang vor ihren Augen, so deutlich trat die Abschiedsstunde in ihr Gedächtnis zurück. Mit allen Einzelheiten, auch den rein äußerlichen der Szenerie: der Eichenschonung am Forsthause, die im ersten Grün des jungen Lenzes prangte, dem Blättermoder am Boden, in dem der Fuß bis an die Knöchel versank, und dem Nebelmeer, das über die Wiesen brodelte. Und sie glaubte auch seine Stimme zu hören.... Sie hatten „vernünftig“ miteinander gesprochen und ruhig und leidenschaftslos. So schien es. Sie waren sich klar darüber geworden, daß sie sich nicht angehören konnten – aus hundert stichhaltigen Gründen. Und deshalb wollten sie sich nicht mehr sehen. Das war um so weniger schwer durchzuführen, als Hellstern dem leichtsinnigen Neffen längst seine Schwelle verboten hatte; er wollte mit dem, der „seinen Namen schändete“, keine Gemeinschaft [122]haben und ahnte dabei nicht einmal, wie tief sich das Bild des wilden Junkers in das Herz seiner Tochter gegraben hatte.... Mit einem Händedruck waren sie voneinander geschieden, und Klaus wie Hedda hatten vermeint, das würde der letzte gewesen sein. Denn damals schon trug sich Zernin mit dem Gedanken, auszuwandern. Er konnte sich auf dem verwüsteten Erbe nicht länger halten; um ihn und über ihm brach alles, alles zusammen ...

Hedda hatte seit jener Abschiedsstunde in der Tat nichts mehr von ihm gehört. Selbst der Klatsch fand in die Einsamkeit des Baronshofs keinen Eingang. Aber daß Klaus sich so unerwartet wieder unter den Menschen zeigte, schien zu beweisen, daß es ihm besser gehen mußte. Auch sein Äußeres sprach dafür: das Selbstbewußtsein, mit dem er auftrat, der alte Ausdruck übermütiger Keckheit auf seinem Gesicht. Wie alt war er jetzt? Und wieder rechnete Hedda nach, während die dünnen Stimmen der Kinder auf dem Orgelchor das Kyrie eleison sangen. Sechsunddreißig; sein Geburtstag fiel in den gleichen Monat wie der ihre, in den Mai. Aber er sah jünger aus mit seiner eleganten, geschmeidigen und elastischen Figur und dem bildhübschen Gesicht, auf dem weder das tolle Leben noch die Sorgen um die Existenz Spuren des Verfalls zurückgelassen hatten. Es war glatt, rosig und heiter wie immer, dieses vornehme Junkergesicht mit der intelligenten Stirn und der wunderschön gezeichneten Nase, dem sorgsam gepflegten blonden Schnurrbart und dem etwas zurücktretenden Kinn. Und auch die hellen blauen Augen sprühten noch immer in unverminderter Lebenslust – trotz allem. Das war sein Lieblingsausdruck, dieses „trotz allem“ ...

Hedda schreckte aus ihren Erinnerungen empor. Sie hörte die Stimme des Pastors, der die Kanzel bestiegen hatte und mit seinem schönen, sonoren Organ die Epistel verlas. Der alte Mann dort oben hatte ihr in jenen Zeiten schwerer Herzensbedrängnis [123]mit lindem Wort und warmem Gemüt die verzweifelnde Seele gerettet. Ihm allein hatte sie sich anvertraut, da sie des Vaters rauhe Art fürchtete, die schon damals Klaus von Zernin vom Baronshof verjagt hatte. Und Eycken konnte um so besser die Vermittlungs- und Verständigungsrolle übernehmen, da er der intimste Freund des alten Baron Zernin, des verstorbenen Vaters von Klaus, gewesen war, durch dessen Beihilfe der Pastor auch seinerzeit die Stelle in Oberlemmingen erhalten hatte. Mit milder Freundlichkeit, aber entschiedener Energie hatte Eycken seinen ganzen Einfluß auf Hedda aufgeboten, um sie von ihrer unseligen Liebe für den verbummelten Junker zu bekehren. Denn besser als sie glaubte er Klaus von Zernin zu kennen. Oft genug war er zu nächtlicher Stunde und zu Fuß, um nicht gesehen zu werden, durch den Wald nach Döbbernitz geeilt, um mit Klaus Rücksprache zu nehmen, wenn wieder einmal einer seiner unsinnigen Streiche zu seinen Ohren gekommen war – irgend eine tolle Weibergeschichte, die die ganze Umgegend in Aufruhr brachte, ein wildes Gelage in Zielenberg oder in Kölpin, wo die Königindragoner standen, oder eine gesetzwidrige Vergewaltigung der Gläubiger.... Und bei solchen Rücksprachen schwand die christliche Milde bei Eycken, da wurde er zum zornigen Eiferer, und die Stimme schwoll an, und seine Augen blitzten. Aber was half das alles?! Es kam eine Zeit, da auch er sich sagen mußte, Klaus sei nicht mehr zu helfen, eine Zeit, da der ehrliche Zorn des alten Mannes zu flammendem Ingrimm wurde. Hedda erfuhr niemals Einzelheiten aus dem Leben von Klaus; sie wußte nur, daß er ein leichtsinniger Wirtschafter war – alle Welt wußte das. Aber an jenem Tage, da Eycken sich mit ihr einschloß, um sie beim Andenken an ihre Mutter zu beschwören, dem wilden Burschen für immer zu entsagen, da kam doch etwas wie ein Ahnen über sie, daß Klaus nicht nur leichtsinnig, sondern auch schlecht sein mußte ...

[124]Die Predigt hatte begonnen. Nur das wohllautende Organ Eyckens war hörbar und hin und wieder ein leise raschelndes Geräusch, wenn der Wind die schneebepackten Zweige des alten Maulbeerbaumes, der draußen vor einem der Fenster stand, gegen die Scheiben warf. Hedda schaute mit andachtsvollem Blick zur Kanzel empor, und der Alte neben ihr schnaufte leise. Es saß sich unbequem in dem engen Kirchenstuhl. Oben auf dem Chor hatte der Kommerzienrat die Hände über dem Bauche gefaltet und kämpfte sichtlich mit einer ihn überkommenden Müdigkeit; die Rätin saß, vor Frost zeitweilig erschauernd, mit groß offenen Augen neben ihm. Herr von Zernin ließ den Blick im Kirchenschiff umherschweifen; er hatte Liese Braumüller entdeckt, und ein rasches Lächeln flog um seinen Mund.

Nun Hedda die gesuchte Andacht gefunden hatte, blieb sie auch in Sammlung bis zum Schlusse des Gottesdienstes. Beim Endchoral bliesen die beiden Posaunen mit. Die Rätin hatte das noch nie gehört und schaute verwundert nach dem Orgelchor hinüber, von dem die gewaltigen Töne drangen. Es war eine vollendete Disharmonie, doch sie störte keinen – höchstens den kleinen Raupach, der um diese Zeit aus seinem Kirchenschlummer erweckt zu werden pflegte.

Dann läuteten wieder die Glocken, und die Gemeinde strömte hinaus, durch die beiden Türen, vor denen hölzerne Schemel mit Tellern für die Missionskollekte standen. Aber die wenigsten gaben; ein paar Pfennige lagen auf den Tellern, dazwischen ein Fünfzigpfennigstück von Hedda und ein blanker Taler als Spende des Kommerzienrats.

Hellstern wollte am Arme seiner Tochter rasch an der kleinen Gruppe vorüberhumpeln, die sich vor dem Schlitten Schellheims gebildet hatte, doch der Kommerzienrat rief ihm nach:

„Auf Wiedersehen heute abend, lieber Baron!“

„Auf Wiedersehen!“ gab Hellstern etwas brummig [125]zurück und tappste weiter. Aber vor der Parktür entlud sich sein Zorn.

„Schellheim scheint den Klaus an sich ziehen zu wollen,“ grollte er. „Ein Baron mehr – das angelt nach uns! Er muß doch gehört haben, wes Geistes Kind unser sauberer Herr Vetter ist! Er muß doch wissen, daß wir das Tischtuch zwischen ihm und uns zerschnitten haben! Himmeldonnerwetter, Hedda, wenn der Kommerzienrat vielleicht auf die wahnsinnige Idee verfallen ist, den Klaus gleichfalls zu heute abend zu laden – ich mache auf der Stelle kehrt! Ich mache kehrt, sage ich dir!“

„Das würde nur unhöflich sein, Papa,“ erwiderte Hedda ruhig. „Vorderhand glaube ich noch nicht, daß Klaus im Auschlosse sein wird. Und wenn dennoch – dann muß es auch ertragen werden. Wir leben nun einmal in der Welt.“

Der Alte stampfte wütend mit seinen Krückstöcken auf den gefrorenen Schnee.

„Das Blut steigt mir zu Kopf, wenn ich den Burschen nur sehe!“ rief er. „Mit welcher Frechheit er uns begrüßte! Lächelnd und gleichmütig, als ob gar nichts geschehen sei.... Vielleicht will ihm Schellheim wieder auf die Beine helfen – haha! Da ist Hopfen und Malz verloren – nicht einmal die Winterung hat er mehr bestellen können – die Tagelöhner sind ihm davongelaufen – im November war wieder einmal Subhastationstermin angekündigt! Ich verstehe nicht, daß Klaus nicht längst zum Teufel ist! Hätte er Ehrgefühl im Leibe, so hätte er sich schon vor drei Jahren nach Amerika scheren müssen! Pah – Ehrgefühl – der?! ...“

Hedda schwieg. Ihre Wangen brannten, aber der Vater konnte nicht ahnen, wie tief ins Herz sie jedes seiner Worte traf. Dennoch machte es ihn stutzig, daß sie keine Antwort gab. Sie opponierte sonst gern. Er blieb stehen und schaute sie an. „Was sagst du?!“ fragte er.

„Nichts, Papa.“

[126]„Warum nicht?! Ich glaube, du nimmst immer noch die Partei dieses ehrlosen Patrons?!“

Eine Flamme schlug über das Gesicht Heddas.

„Ich bitte dich, Papa – bitte dich herzlich: wäg deine Worte ab! Noch immer zählt Klaus zu unsrer Verwandtschaft –“

„Längst nicht mehr!“

„Und wenn du ihn hundertmal von deiner Schwelle jagst – er bleibt unser Vetter! Vergiß das nicht! Und vergiß auch nicht, daß Leichtsinn noch keine Ehrlosigkeit ist –“

„Halt mal, Hedda –“ und Hellstern erhob seine Krücken. „Ich war auch jung und ein Brausewind wie der da. Aber ich hielt mein Wappenschild rein. Er hat das seine besudelt. Du weißt nicht, was er alles gemacht hat, um – aber nein, dein Ohr, mein Kind, ist zu keusch, um diese Dinge zu hören. Nur eins laß dir sagen: ich hätte ihm nicht wie einem Banditen mein Haus verschlossen, wenn er nur leichtsinnig gewesen wäre. Und auch nicht der Pastor, der mit dem alten Zernin so treu befreundet war wie ich. Wir hatten unsre guten Gründe, ihn abzuschütteln.... Nun gib mir einen Kuß!“

Er neigte den Kopf, und die Lippen Heddas berührten seine borstige Wange. Doch es war kein Kuß wie sonst. Ein heimliches Angstgefühl begann Hedda zu quälen. Fragen und Zweifel stiegen in ihr auf und noch ein andres quälendes Etwas – das Gefühl, den doch nicht vergessen zu haben, den sie hatte vergessen wollen.

Siebentes Kapitel

Es war die erste größere Gesellschaft, die man auf dem Auschlosse gab. Der Kommerzienrat hatte Herbst und Winterbeginn dazu benutzt, auf den meisten Gütern im Kreise Besuch zu machen, und man hatte [127]den reichen Mann fast überall mit offenen Armen empfangen. Der Grundbesitz in unmittelbarer Umgebung von Oberlemmingen befand sich fast gänzlich in bürgerlichen Händen. Nur Döbbernitz und Kleeberg, letzteres das Gut des Landrats von Wessels, waren Adelssitze. Aber auch aus weiterer Entfernung war eine Anzahl von Gästen eingetroffen: die Familie von Klitzingk auf Wernochow, der Kammerherr von Ponteck auf Klein-Güster, die Nehringens auf Schönwaide und schließlich auch – der Stolz Schellheims – Exzellenz von Usen-Karst auf Karstedt.

Es war zum Diner – zu sechs Uhr – eingeladen worden, eine für ländliche Verhältnisse ziemlich ungewöhnliche Zeit. In langer Reihe fuhren Wagen und Schlitten den Auberg hinauf. Das halbe Dorf war auf den Beinen, um die Auffahrt anschauen zu können. Man stand dicht gedrängt längs des Weges und machte zu jedem Gefährt seine Bemerkungen. Die aus der Umgegend kannte man an den Pferden, den Wagen, dem Kutscher. Da kam zuerst der riesige Verdeckschlitten des Oberförsters, dessen Kasten, die Arche Noah genannt, eine zahlreiche Familie beherbergte: Vater Tornow, die Mutter und drei Töchter, niedliche Dinger, die Auguste, Berta und Constance hießen, von dem die Kürze liebenden Oberförster aber nur A, B und C genannt wurden. Dann die Viktoriachaise des Hauptmanns Biese von Grochau, eines riesigen Menschen mit Bulldogggesicht, der eine ganz kleine, unendlich verschüchterte Frau besaß, – der Schlitten der Frau Necker, einer reichen Rittergutsbesitzerswitwe, unförmlich dick und stets wie ein Puthahn gebläht, – und der Klapperkasten des Doktor Stramin, des Kreisphysikus aus Zielenberg, den man eigentlich nie anders als auf der Landstraße sah: wenn die Praxis ihn nicht unterwegs hielt, reiste er als fanatischer Politiker im Auftrage des konservativen Wahlkomitees umher und hielt seine donnernden Reden, wo es nur angängig war.

[128]Plötzlich ging eine Bewegung durch die Reihen der Zuschauer. Ein merkwürdiges Gefährt raste den Weg hinauf – ein Schlitten in Schwanenform, in dem eine einzelne Dame saß. Sie mußte noch jung sein; ein dunkles Augenpaar leuchtete durch den weißen Schleier, der über die pelzbesetzte Konföderatka gebunden war. Ein kostbarer Pelz hüllte auch die ganze Gestalt ein; die Adjustierung der Pferde zeugte von Reichtum – was aber am meisten auffiel, war die scharlachrote Livree des Kutschers. Einer aus der Menge, Anton Tengler, wußte Bescheid: die Dame war Frau Rittmeister Woydczinska aus Seelen. Nun rasselte ein großer Landauer heran: die Klitzingks aus Wernochow – das breite, rote Gesicht des alten Freiherrn mit dem weißen, auseinandergewirbelten Katerschnurrbart glänzte durch die Fensterscheiben. Hinter ihm zügelte Herr von Wessels, der Landrat, ein noch junger Herr, eigenhändig sein feuriges Rappengespann; dann kam der Schönwaider Schlitten – den Major von Nehringen konnte man schon von weitem an seiner großen Hakennase erkennen, die in glänzender Röte aus dem hochgeschlagenen Pelzkragen hervorlugte. Und abermals rasselte es auf dem hartgefrorenen Fahrdamm, – Donnerwetter, wer war denn das?! Nichts Vornehmes, ganz gewiß nicht, denn der Schlitten bestand nur aus einem einfachen Korbgeflecht, das auf ein Kufenpaar gesetzt worden war, und der Kutscher trug nicht einmal Livree, sondern einen alten Schafpelz. Und der Kutscher saß auch nicht auf der Pritsche, weil keine vorhanden war, sondern neben seinem Herrn, der dicht in einen ehemaligen Militärmantel gewickelt war und die verschossene Jagdmütze so tief in die Stirn gerückt hatte, daß man von dem ganzen Gesicht fast nur den buschigen, graugrünen Schnauzbart sehen konnte. Sicher nichts Vornehmes – nein, diesmal war’s Täuschung: etwas außerordentlich Vornehmes sogar, nämlich Exzellenz von Usen-Karst, ehemals bevollmächtigter Minister [129]und außerordentlicher Gesandter des Reichs bei der Hohen Pforte, Besitzer der Herrschaft Karstedt und, wie man wissen wollte, ein vielfacher Millionär....

Vom Auberge aus grüßte das Schlößchen mit achtzig leuchtenden Augen zu Tal. Es war wie eine Illumination. Die Leute blieben auch nach beendeter Auffahrt noch lange am Wege stehen und schauten hinauf. Trotz der Winterkälte waren die hohen Flügeltüren, die durch eine kleine Entree in die Halle führten, weit geöffnet, und von hier aus strömte eine ganze Flut gelben Lichts ins Freie und mischte sich in die rote Glut, die die beiden mit brennendem Pech gefüllten, auf schlankem eisernen Unterbau ruhenden Pfannen zu seiten des Portals ausströmten.

Der Kommerzienrat hatte alles aufgeboten, seine Gäste würdig zu empfangen. Auch die Zahl der Dienerschaft war vermehrt worden. Drei Galonnierte halfen den Herrschaften aus Schlitten und Wagen, und in der Entree warteten zwei Kammerzofen, um die Damen in die Garderobe zu geleiten. Es ließ sich nicht leugnen: alles hatte Chic. Der Kommerzienrat war zu weltklug, bei dieser Gelegenheit der leichten Neigung zur Protzigkeit, die dem intelligenten Parvenü zuweilen noch anhaftete, nachzugeben.

Flankiert von Gattin und Sohn – Hagen hielten die Geschäfte in Berlin zurück –, empfing er die Gäste in der Halle, die eine angenehme Wärme durchströmte, und in deren großem Kamin ein helles Feuer flackerte. Man schüttelte sich die Hände, und immer wieder kehrten dieselben Begrüßungsphrasen zurück.

„Herr Oberförster – freue mich sehr, sehr.... Gnädigste Frau! ... Meine verehrten jungen Damen! ... Ah – Herr von Nehringen – freue mich sehr, sehr – meine gnädige Frau! ... Exzellenz – freue mich sehr, sehr ...“

Und diesmal verbeugte sich Schellheim ganz besonders tief. Der alte Usen, der mit seinem weißen [130]Schnauzbart in dem weinroten Gesicht und den schweren Tränensäcken unter den kleinen, listig funkelnden Augen und mit dem burgunderfarbenen Fes, den er auf dem haarlosen Scheitel trug, wie ein Pascha aussah, grunzte etwas Unverständliches vor sich hin und schielte dabei lüstern zu der schönen Frau Woydczinska hinüber, die Herr von Wessels, ihr Gutsnachbar, soeben in die Salons führte. Diese drei Salons hatte der Kommerzienrat durchweg neu einrichten lassen, und da gerade der Empirestil in der Mode war, so prangten in allen drei Gemächern die geradlinigen steifen Sofas und Sessel der napoleonischen Zeit; auch eine Bronzebüste Bonapartes und ein Ölbild des Königs von Rom fehlten nicht. In den Kronleuchtern brannten Wachskerzen und die Tapeten zeigten ein modernisiertes Grecquemuster. Es war alles stilgerecht.

Die Gäste fluteten in den Empirezimmern hin und her. Noch immer begrüßte man sich oder ließ sich vorstellen. Ein Summen und Rauschen ging durch die Gemächer. Baron Hellstern hatte ein paar gute alte Bekannte wiedergefunden und plauderte mit ihnen in einer Fensternische, fest auf seine Krückstöcke gestützt, denn er fühlte sich unsicher auf dem blanken Parkett und getraute sich nicht, sich auf einem der zierlichen Stühle mit ihren vergoldeten Füßen niederzulassen. Hedda stand mitten unter den jungen Mädchen, die einen Kreis um sie bildeten; fröhliches Lachen klang aus dieser Gruppe, besonders das A, B, C des Oberförsters kicherte beständig und gewöhnlich unisono, in drei Tonlagen. Exzellenz Usen hielt die tief dekolletierte Frau Woydczinska fest und schmunzelte dabei über das ganze Paschagesicht. Sie war die Witwe eines Polen und selbst Polin, eine schöne, kokette Frau, der man allerhand nachredete, die sich aber um keinen Klatsch der Welt kümmerte und ihre emanzipierten Allüren frei zur Schau trug. Auch Pastor von Eycken war gekommen; er war den meisten fremd – Gunther besorgte die Vorstellung.

[131]Ziemlich zuletzt erschien Klaus von Zernin, mit heiterem Gesicht und einem etwas spöttischen Zug um den Mund. Er war boshaft genug, sich über die Überraschung zu freuen, die sein Auftauchen hervorrufen würde; er verkehrte seit Jahren nicht mehr in den Familien der Umgegend. Die Mütter schilderten ihn als verworfenen Wüstling, und sämtliche Backfische zitterten in süßem Schaudern vor ihm. Als er eintrat, stockte plötzlich die Unterhaltung; es wurde ängstlich still. Die Oberförsterin glitt in instinktiver Aufwallung ihres mütterlichen Herzens wie schützend an ihr rosenwangiges A, B, C heran. Hellstern, der neben dem Landrat stand, wollte aufbrausen, begegnete aber dem warnenden Blicke Heddas und schluckte seinen Groll mit verbissenem Gesicht in sich hinein. Im übrigen wich die allgemeine Bestürzung rasch wieder einer um so lebhafteren Unterhaltung, mit der man glättend über das auffallende Geschehnis hinweggehen wollte. Herr von Zernin war allen bekannt; mit der Eleganz eines vollendeten Weltmannes verneigte er sich nach allen Seiten, immer mit gleich liebenswürdigem Lächeln, ohne die eisigen Gesichter der Herren, die frostigen Mienen der Damen und die Purpurglut auf den Wangen der Backfische zu beachten. Zu allgemeinem Entsetzen streckte ihm Frau Rittmeister Woydczinska unbefangen die Hand entgegen.

„Grüß Gott, lieber Baron,“ sagte sie freundlich; „wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht gesehen!“

Und dann geschah noch etwas Überraschendes. Auch Exzellenz Usen reichte Zernin die Hand, vielleicht nur aus Gefälligkeit für seine schöne Nachbarin, vielleicht auch, um deren Unbegreiflichkeit ein wenig zu verdecken, – aber jedenfalls stand die Tatsache fest: er begrüßte den Verfemten in sehr herzlicher und entgegenkommender Weise. Und das wirkte wie ein Zauberschlag auf die ganze Gesellschaft. Unwillkürlich wurden die Mienen freundlicher, und der Landrat flüsterte Hellstern erstaunt und fragend ins [132]Ohr: „Der Zernin rappelt sich wohl allmählich wieder in die Höhe?“

Hellstern antwortete nicht, sondern begnügte sich mit einem Achselzucken. Die Diener hatten die Türen zum Eßzimmer geöffnet; der Alte war neugierig, wen man dem Klaus als Tischnachbarin gegeben haben würde. Er vermutete, die Woydczinska, denn die beiden paßten in mancherlei Beziehungen zu einander – aber sein Gesicht färbte sich dunkel, als er sah, daß während des allgemeinen Aufbruchs Zernin auf Hedda zuschritt und ihr den Arm reichte.

Der Kommerzienrat hatte sich dies beim Entwurf zur Tafelordnung wohl überlegt. Er hatte gehört, daß Herr von Zernin seines Leichtsinns und seiner brouillierten Verhältnisse wegen in schlechtem Rufe stand, – da er indessen seine Pläne mit ihm hatte, so lag ihm daran, ihn langsam wieder in die Gesellschaft einzuführen. Es war schwer, für ihn eine passende Tischdame auszuwählen, aber da fiel Schellheim zum guten Glück ein, daß die Baronesse Hellstern ja eine entfernte Cousine Zernins war. ‚Die beiden Verwandten werden sich schon vertragen,‘ sagte er sich und schrieb die Namen nebeneinander.

Das Diner war vortrefflich. Exzellenz Usen konnte nicht umhin, seiner Nachbarin zur Rechten, der langen und mageren Frau von Ponteck, zuzuraunen, daß alles einen recht vornehmen Eindruck mache. Und so war es in der Tat. Der Kommerzienrat hatte Geschmack. Das Menü war nicht übertrieben, das Service tadellos. Lautlos huschten die Diener hinter den Stühlen der Gäste entlang; es ging alles wie am Schnürchen. Dabei war der Anblick der Tafel ein glänzender. In den kostbaren Aufsätzen aus Silber und Vieux Saxe blühte ein ganzer Frühlingsflor. Die Mitte des Tisches nahm eine Art Pyramidenbau aus Silberfiligran ein, der zahllose schräg gestellte Kristallbecher trug, aus denen eine Fülle köstlicher Rosen in allen Farbennuancen hervorquoll. Und der Duft dieser Rosen flutete in [133]den Geruch der Speisen hinein, der großen Fleischstücke, die von den Dienern auf Riesenschüsseln präsentiert wurden, geschmackvoll angerichtet, die Fasane in rotem Federschmuck, gleichsam lebendig, und die breiten Rehrücken so ausgezeichnet tranchiert, daß man kaum die Schnittlinien sah. Das gefiel Exzellenz Usen-Karst besonders; er tat sich auf seine Tranchierkunst etwas zu gute und hatte schon lange die Absicht, ein Handbuch darüber zu schreiben, obwohl er genau wußte, daß er es nie tun würde.

Solch ein Diner war auf den märkischen Landsitzen nicht üblich; da gab man’s einfacher, wenn man Gäste bei sich sah. Aber es schmeckte allen ganz ausgezeichnet. Der dicke Hauptmann Biese aus Grochau ließ keinen Gang vorüber und nahm jedesmal zweimal; er hatte sich die Serviette um den Hals gebunden, sprach wenig, aß den Fisch mit dem Messer und tupfte die Soße mit kleinen Brotstückchen auf. Die jungen Mädchen wurden bei den Gemüsen interessierter; Artischocken und Trüffeln in der Serviette hatten bisher die wenigsten gegessen. Auch Fräulein Gerlinde noch nicht, die Tochter des Kammerherrn von Ponteck, die demnächst bei Hofe vorgestellt werden sollte, aber sie tat wenigstens so, und da sie gegen diese Genüsse vollendet gleichgültig erscheinen wollte, zerstach sie sich den Finger an einer Artischockenspitze. Exzellenz Usen hielt sich hauptsächlich an die Präsentierweine; sein martialisches Gesicht glühte förmlich, und der buschige Schnauzer leuchtete schneeweiß.

Gunther hatte das kleine C des Oberförsters zu Tische geführt, eine niedliche Brünette, die aus dem Entzücken nicht herauskam und sich jedesmal auf dem Stuhle geraderückte, wenn ein Blick der Mutter sie traf, denn das Geradesitzen war ihr besonders vorgeschrieben worden. Gunther gab sich alle Mühe, seine kleine Nachbarin gut zu unterhalten, doch er fühlte selbst, daß es ihm nicht so recht gelingen wollte. Er war zerstreut. Sein Auge flog zuweilen [134]mit ängstlichem Aufblick zwischen das flimmernde Gläsermeer auf dem Tische hindurch und suchte Hedda. Auch sie war zerstreut – vielleicht langweilte sie sich auch. Sie sprach wenig, und Gunther schien es, als sei sie heute blasser als sonst.

Das war sie. Der Schrecken, von Klaus zur Tafel geführt zu werden, hatte jeden Blutstropfen aus ihren Wangen vertrieben. Aber sie verstand es, sich zu beherrschen. „Man lebt doch einmal in der Welt,“ hatte sie ihrem Vater gesagt. Und dieser Philosophie schien sich selbst der Alte gefügt zu haben. Er sah noch immer sehr brummig aus, aber er machte wenigstens keine Dummheiten.

Auch Zernin schickte sich mit Anstand in die Situation. Das war zu erwarten gewesen. Er tat, als sei niemals etwas zwischen ihm und der Cousine geschehen; es gab keine himmelhohe Mauer und keine abgrundtiefe Kluft – heiter und freundschaftlich begann er mit ihr zu plaudern.

„Wir haben uns lange nicht gesehen, gnädigste Cousine –“

„Lange nicht – wie ist es dir inzwischen ergangen?“

„Nicht besser als einem, der auf einem Pulverfasse sitzt und jeden Augenblick auf die Explosion wartet. Aber das ist eine Situation, die auch ihre Reize hat – bis einem schließlich das Nervenprickeln zu viel wird und man allmählich abstumpft. Du hast deine Tage auf dem Baronshofe vermutlich friedlicher verbracht.“

„So friedlich, daß ich mich nicht beklagen kann.“

Er dämpfte seine Stimme ein wenig; im lauten Geräusch der auf und nieder wogenden Unterhaltung vermochten sich übrigens nur die nebeneinander Sitzenden zu verstehen.

„Du mußt mir verzeihen,“ sagte er, „daß ich mein Versprechen nicht halten konnte. Anderthalb Jahre hindurch habe ich die Grenzlinie zwischen Oberlemmingen und Döbbernitz respektiert. Ob es mir [135]leicht wurde, tut nichts zur Sache – jedenfalls hab’ ich mein Wort eingelöst. Aber nun ging es nicht anders; ich stehe wieder einmal an der Wende. Döbbernitz wird im Frühjahr endgültig subhastiert werden.“

Das war neu für Hedda und schmerzlich. „Also mußte es doch dahin kommen,“ sagte sie leise.

Er nickte. „Ich habe seit drei Jahren darauf gewartet. Ein Dutzend Termine wurden angesetzt, und immer schaffte ich noch im letzten Augenblick Hilfe. Jetzt sind alle Quellen versiegt – bis auf eine, die erst zu sprudeln beginnt, die auf der Grauen Lehne –“

„Was hat die mit dir zu tun?“

„Viel. Schellheim spekuliert auf Döbbernitz. Ein unternehmender Geist, sozusagen der Typus der neuen Zeit, die im Zeichen der Industrie steht, und vor der wir Landjunker die Segel streichen müssen. Das ist nun mal nicht anders. Enfin – unser liebenswerter Gastgeber hat mir vorgeschlagen, Kurdirektor von Oberlemmingen zu werden. Was sagst du zu dieser Idee?“

Hedda antwortete nicht sofort. Das, was Klaus erzählte, kam so überraschend für sie, daß sie sich Mühe geben mußte, ihr Erstaunen zu verbergen. Sie schüttelte den Kopf. War das nicht einfach verrückt? Wollte der Kommerzienrat denn die ganze Umgegend gegen sich erbittern? Nein, dazu war er zu klug; er mußte seine besonderen Absichten mit Klaus haben. Aber es war doch verrückt. Klaus paßte im Leben nicht in eine solche Stellung, die großes administratives Geschick erforderte. Und schließlich mußte es für ihn selbst demütigend sein, sich einen neuen Wirkungskreis in unmittelbarster Nähe des durch eigne Schuld verlorenen zu schaffen. Und endlich – dieser letzte Gedanke trieb Hedda das Blut in die Wangen –, war es denn nicht qualvoll, sich nach alledem, was geschehen war, täglich sehen, begrüßen und sprechen zu müssen?

[136]Zernin neigte sich etwas tiefer über den Teller.

„Du scheinst nicht der Ansicht zu sein, daß das changement de la position sonderlich beglückend für mich ist,“ fuhr er fort. „Nein, Hedda, das ist es wahrhaftig nicht. Aber was soll der Mensch machen? Mein letzter Ausweg war die Fremde – Amerika, der Sammelplatz der verkrachten Existenzen. Hans Zesingen ist auch schon drüben – ich glaube, er ist Barkeeper in New York und mischt für andre Porter und Sekt, seinen alten Lieblingstrunk. Da bleib’ ich schon lieber daheim. Man muß sich in die Verhältnisse zu schicken suchen. Der Junkerschädel hält nicht mehr stand. Die Handelsverträge und das römische Recht sind unser Unglück –“

Er sprach weiter und weiter, immer halbleise, vom Ruin der Landwirtschaft und Niedergang des alten Adels. Aber Hedda hörte nur den Schall der Worte – sie achtete kaum auf den Sinn. Seltsam, wie sehr sich Klaus verändert hatte. Er war doch nicht der alte geblieben, er hatte sich „in die Verhältnisse geschickt“. Es war wohl das beste für ihn, und trotzdem war sich Hedda klar darüber: der wilde, trotzige Bursche von ehemals, der auf die Welt „pfiff“ und mit grimmigem Lachen aller Zucht und Sitte spottete, hatte mehr Charakter gezeigt als der sich glatt fügende Diplomat von heute.

Das Diner näherte sich seinem Ende. Da rasch serviert worden war, so hatte es kaum über eine Stunde gedauert. Die Diener reichten Dessert und Früchte herum, und die Backfische des Oberförsters machten glückliche Gesichter: sie knabberten gar zu gern Süßigkeiten. Der dicke Hauptmann Biese hatte seine Serviette abgebunden und sah sehr zufrieden aus; so ausgezeichnet hatte es ihm lange nicht geschmeckt. In der Tat, das Diner war sehr gelungen, und der Kommerzienrat nickte in einer Aufwallung ehelicher Liebenswürdigkeit seiner Gattin über den Tisch herüber freundlich lächelnd zu.

Plötzlich klinkte Exzellenz Usen-Karst an sein [137]Glas. Man hatte schon längst darauf gewartet. Tiefe Stille trat ein, die nur einmal durch das Aufkichern des oberförsterlichen B unterbrochen wurde. Die dicke Exzellenz wuchtete vom Stuhle empor, stemmte die Hände mit den Knöcheln fest auf den Tisch, atmete tief auf, dabei einen pfeifenden Luftstrom durch die Nase stoßend, und begann dann zu sprechen. Der alte Diplomat, dem die böse Welt nacherzählte, daß er seine Millionen in Konstantinopel mit Hilfe eines griechischen Bankiers durch ganz raffinierte Spekulationen verdient hätte, und daß er auch auf seiner Herrschaft Karstedt ein tolles Serailleben führe, war ein geistreicher Mann und ein vorzüglicher Sprecher. Man wußte, daß er die Extravaganzen liebte, und erwartete auch bei dieser Gelegenheit etwas Ähnliches, zumal die Rede mit einer humoristischen Lobhymne auf die Industrie anfing. Sie beginne langsam auch hier, in diesem verlorenen märkischen Winkel, an Boden zu gewinnen, wo bisher der Menschengeist sich höchstens bis in die Regionen von Kartoffelspiritus und Schlempe verstiegen habe. Und dann ging es weiter, in buntem und lustigem Durcheinander – ein ganzes Feuerwerk guter Einfälle sprühte auf.

Usen sprach von allem möglichen: von der Notwendigkeit einer Aussöhnung zwischen Industrie und Landwirtschaft, vom Wetter, von seinen Weinbergen und von schönen Frauen, von Lukullus und von seiner Freude darüber, daß ein so tüchtiger Vertreter des kaufmännischen Standes, wie der Kommerzienrat Schellheim, sich im Kreise angekauft habe. Und dann berührte er auch die neue Quelle, von der bereits die ganze Gegend spreche, und deren Ausbeutung in die Hände des scharmanten Gastgebers gelegt worden sei. Ein Heilquell sei es, und dem Heil der Menschheit solle sein Wasser dienen, ein Getränk, das er im allgemeinen verabscheue, dem er als Mittel zum Zweck aber seine Anerkennung nicht versagen könne. Daran schloß sich ein Passus, [138]der auf aller Mienen die mannigfachsten Variationen von Erstaunen hervorrief. Usen sagte nämlich:

„... Daß Oberlemmingen einer neuen, zukunftsfrohen Ära entgegengeht – ja, ja, mein alter, verehrter Freund Hellstern –, daran zweifle ich nicht. Ich höre, daß mit unserm liebenswürdigen Wirt noch ein andrer Eingesessener des Kreises an die Spitze des Unternehmens treten will, – und ich hoffe, daß das frisch sprudelnde Wasser in der Buchenhalde auch für ihn ein Heilquell werden wird. Nach Heilung dürsten wir schließlich alle, und wenn es uns noch so gut ergeht. Denn jede Heilung ist ein Besserwerden, und wen gibt’s, der selbstlos genug wäre, es sich nicht besser zu wünschen, als er es hat! Ach nein, gestehen wir es uns: wir sind Egoisten, und auch ein Stück Pharisäertum schlummert in unsrer Brust. Neben der Hoffnung auf das Besserwerden wohnt Tür an Tür das Besserdünken. Und so kommt es leicht, daß der Pharisäer in uns sich gewaltig reckt, wenn einmal der Mitmensch gefehlt und geirrt hat. Ich hatte einen Freund unten im Orient, der war weise und gut, aber er trank Wein und nicht wenig, und das durfte er nicht, denn er war Mohammedaner. Und wenn man ihm sagte, daß er sündige, so antwortete er: ‚Geh hin nach Chanimbaïri und sieh, ob du nicht sündig bist.‘ Dort liegt nämlich ein Brunnen, von dem die Sage erzählt, daß im Wasserspiegel sich Flecken zeigen, wenn ein sündhafter Mensch hineinschaut. Und so mein’ ich auch – ehe wir verdammen und verurteilen, gehen wir nach Chanimbaïri ...“

Der Schluß war kurz; er galt den Gastgebern. Man nahm fröhlich das Hoch auf, dann aber zog, während auch die dicke Exzellenz wieder Platz genommen hatte, ein ganz leiser Hauch von Verstimmung oder wenigstens von Befremdung durch die Gesellschaft. Man hatte verstanden. Herr von Usens Blick hatte bei seinen Worten deutlich den [139]Döbbernitzer Zernin gestreift. Der war gemeint. Der sollte im Verein mit dem Kommerzienrat die Quellengeschichte „entrieren“ – gerade der, der dem Bettelstab nahe war –, gerade der. Und unzweifelhaft war die Rede Usens ein Rehabilitationsversuch für Klaus von Zernin gewesen. Wie kam Usen dazu? Er hatte schon vorher dem verlotterten Döbbernitzer so merkwürdig herzlich die Hand geschüttelt – was sollte das alles heißen?! Herr von Wessels, der Landrat, lächelte sein feinstes diplomatisches Lächeln, und der Kammerherr von Ponteck flüsterte seiner Nachbarin zu: „Prost, meine Gnädigste – also gehen wir nach Kaminbirrira, oder wie das Ding heißt ...“

Zernins Gesicht hatte sich gar nicht verändert. Er spielte zuerst mit der Nelke, die neben seinem Teller lag, und hierauf mit einem kleinen goldenen Crayon, den er aus der Westentasche genommen hatte. Und auf einmal zog er seine Tischkarte näher und kritzelte ein paar Worte auf deren Rückseite. Dann schob er die Karte unbemerkt seiner rechten Nachbarin zu.

Hedda, die durch die Rede Usens eigentümlich berührt wurde, und auf deren Wangen Röte und Blässe wechselten, warf einen raschen Blick auf die Schrift und preßte die Zähne zusammen. Sie las: „Kann ich dich morgen nachmittag fünf Uhr auf wenige Minuten allein sprechen? – Am alten Platz.“

Wie in mechanischer Spielerei nahm sie die Karte und zerriß sie.

„Nein!“ sagte sie kurz.

Nur einer am Tische schien die kleine Episode bemerkt zu haben: der Pastor. Er sah sehr ernst aus; etwas wie eine folternde Sorge lag auf seinem schönen, alten Gesicht.

Der Kommerzienrat winkte seiner Gattin; man erhob sich. Die ganze Gesellschaft flutete in die Salons zurück, und wieder schwirrte, während man [140]sich „Gesegnete Mahlzeit!“ wünschte, die Unterhaltung lebhaft auf. Jetzt drückte nicht mehr von allen Gästen Usen allein Herrn von Zernin die Hand; drei, vier, fünf andre folgten. Auch die Oberförsterin lächelte, als Klaus sich stumm vor ihr verneigte. Die Woydczinska strich dicht an ihm vorüber.

„Kommen Sie übermorgen abend,“ flüsterte sie ihm zu; „eine Cousine aus dem Polnischen ist bei mir zu Besuch. Wir wollen eine neue Sektmarke proben ...“

Als Herr von Usen dem Kommerzienrat die Hand drückte, fragte er halblaut:

„So war es gut, dächt’ ich –“

„Ganz ausgezeichnet, Exzellenz – tausend Dank, tausend Dank –“

„Aber nun eine Zigarre als Belohnung –“

Schellheim nahm Usen unter den Arm und führte ihn in das Rauchzimmer. Die meisten Herren hatten sich bereits hierher zurückgezogen; Hauptmann Biese rauchte schon eine kolossale Upmann, die das Werk des Abends krönen sollte. Die Diener brachten Kaffee und Liköre; man fühlte sich sehr behaglich.

Es war selbstverständlich, daß das Thema von der Quelle nicht abriß. Aber der Kommerzienrat wich geschickt aus; es machte den Eindruck, als wolle er nicht vor der Zeit von der Sache sprechen. An seiner Stelle gab der Landrat einige Einzelheiten. Gewiß, die Graue Lehne war Bauernterrain – die Quelle gehörte den Möllers, aber der Kommerzienrat war der Geldmann. Er war sozusagen der treibende Faktor. Die Formalitäten waren bereits abgeschlossen: Kommanditgesellschaft – eine Bank beteiligte sich nicht. Und im Mai sollte die Einweihung sein, das stand fest.

Hauptmann Biese, der mit seiner Upmann im Munde in einem Fauteuil neben dem Kamin lag, sah sich im Kreise um. Nur der Landrat, der Kammerherr von Ponteck, der Wernochower Klitzingk, [141]Oberförster Tornow und der Schönwaider waren im Augenblick im Zimmer – da konnte man schon ein bißchen klatschen.

„Aber hören Sie mal, meine Herren,“ sagte Biese mit seiner fetten Stimme, „das mit dem Döbbernitzer – unter uns – ist doch ein Wagnis. Das ist doch eine verfluchte Geschichte – nicht?“

Der Landrat zuckte die Achseln.

„Warum denn, lieber Herr Nachbar? Es wär’ ja recht gut, wenn der arme Kerl wieder ein bissel in die Höhe käme!“

Aber der alte Baron Klitzingk strich seinen weißen Katerbart und schüttelte den Kopf.

„Nein, Herr von Wessels,“ erwiderte er, „ich kann Ihnen in diesem Falle nicht recht geben. Exzellenz Usen meint zwar, wir sollten nach – Dingsda gehen und sehen, ob wir nicht auch sündig wären – na, ich habe aus meinem Herzen nie eine Mörderhöhle gemacht, aber ich bin doch der Ansicht, daß Zernin besser getan hätte, sich nach Amerika zu drücken. Er hat’s zu toll getrieben –“

„Ach was – der alte Bismarck hat’s auch toll getrieben, als er noch auf Kniephof saß, und ist doch ein ganzer Mann geworden!“

„Wird sich der Zernin denn auf Döbbernitz halten können?“ warf der Oberförster ein.

Die Meinungen waren geteilt. Herr von Nehringen wollte wissen, daß Schellheim Döbbernitz im Interesse Zernins administrieren lassen werde. Herr von Ponteck vermutete, er wolle es kaufen – daher seine Bemühungen, Zernin eine neue Position zu schaffen.

Biese meinte, der Kommerzienrat sei eine „ganz schlaue Unke“. Er sprach von seinem Gastgeber nicht im freundlichsten Tone. Das ärgerte schließlich den Landrat.

„Erlauben Sie, Herr Nachbar,“ sagte er, „wir befinden uns noch immer unter dem Dache des Kommerzienrats ...“

[142]In der Halle hatte man Whisttische aufgestellt. Die Damen saßen im ersten Empiresalon und sprachen von häuslichen Dingen. Im Augenblick wurde die Frage erwogen, ob sich Eingemachtes besser in verlöteten Blechbüchsen oder in hermetisch verschlossenen Gläsern halte. Frau Necker aus Klotschow führte das Wort. Nebenan kicherten die Backfische. Sie unterhielten sich über Toilettefragen; im Februar sollte in Zielenberg der Landschaftsball stattfinden, und das war immer ein Ereignis.

Zernin hatte rasch ein paar Züge Zigarette geraucht und war dann in die Salons zurückgekehrt. Sein Herz klopfte ungestüm. Er fand selbst, daß er nicht mehr der alte war. Er war in grimmigster Laune und durfte sie nicht austoben lassen. Er wußte ganz genau, daß die Rede Usens eine abgekartete Sache war – so eine Art „Restitutionsedikt“ für ihn. Aber nichtsdestoweniger war sie brutal und taktlos gewesen. Er kam sich unglaublich lächerlich vor in der Rolle des reuigen Sünders. Im Grunde seines Herzens war ihm die ganze Gesellschaft der Umgegend heute genau so gleichgültig wie früher; heimlich „pfiff“ er noch immer auf die Welt. Aber es half alles nichts; er mußte katzbuckeln und ein frommes Gesicht machen, wenn die Wellen nicht über ihm zusammenschlagen sollten.

Er suchte Hedda. Er mußte noch ein Wort mit ihr sprechen. Sie hatte sich mit der Woydczinska unterhalten und fragte nun nach ihrem Vater.

„Der sitzt schon beim Whist,“ antwortete Klaus.

„Gut so. Da ist er untergebracht. Mit wem spielt er?“

„Mit dem Pastor und dem Kreisphysikus, – ungefährliche Leute, die sich widerspruchslos anschnauzen lassen ...“

Die beiden standen am Ofen, halb verdeckt von einem großen, kunstvoll gestickten Schirm mit goldenen Bienen, der aus St. Cloud stammen sollte. Kein Mensch war in ihrer Nähe. Von nebenan [143]hörte man die scharfe Stimme der Frau Necker-Klotschow, die von ungezuckerten Pfirsichen sprach.

Zernins Blick bohrte sich in die Augen Heddas. Er fand, daß sie noch schöner geworden war, reifer; sie stand im Sommer ihrer Jungfrauenschaft.

„Also nicht, Hedda?“ fragte er.

Sie verstand sofort. „Nein,“ antwortete sie, „ich will nicht.“

„Ich begreife dich nicht. Hast du Angst vor mir?“

„Die hatte ich nie; höchstens sorgte ich mich um dich.“

„Aber heute nicht mehr?“

„Was sollen diese Fragen, Klaus? Ich habe zu meiner großen Freude gehört, daß es mit dir wieder bergauf geht. Daß mich der Gedanke anfänglich erschreckt hat, dich künftighin häufig sehen zu müssen, war nur natürlich. Aber ich bin schon beruhigt. Mein Schreck war Torheit. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Wir sind uns ja auch klar darüber geworden, daß wir uns nichts mehr zu sagen haben, was nicht die ganze Welt hören könnte. Seit anderthalb Jahren sind wir uns darüber klar. Und es ist heute nicht anders als damals.“

Er klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. Die Ruhe, mit der sie sprach, brachte sein Blut in Wallung.

„Ich danke dir. Du findest immer den rechten Ton. Ist es dir denn so leicht geworden, dich von mir zu trennen? Soll ich dir erzählen, was ich gelitten habe? Soll es ganz aus sein zwischen uns? Hedda, hast du gar nichts mehr für mich übrig?!“

Sie fühlte, daß sie eine krankhafte Empfindung von Schwäche beschlich.

„Laß mich, Klaus,“ bat sie; „quäle mich nicht ...“

Er richtete sich straff auf.

„Also gut,“ sagte er. „Legen wir wieder die [144]Maske vor. Es geht weiter bergauf. Es geht im Galopp bergauf, Hedda. Du hast gesehen, wie man mir mit gütigen Händen die Bahn ebnet. Der dicke Usen und Schellheim sind mir als rettende Englein zur Seite gestellt worden – das Weltkind in der Mitte. Ich werde noch ein reicher Mann werden und ein sehr solider Philister. Der Kommerzienrat hat auch schon eine Frau für mich in petto – irgend ein Judenmädel mit märchenhafter Mitgift. Es geht in der Karriere bergauf, Hedda ...“

Sie starrte ihn an, als begreife sie nicht, was er sprach. Ein Ausdruck zynischen Hohns lag auf seinem Gesicht. Es war wie eine Erlösung für sie, daß in diesem Augenblick Gerlinde Ponteck in das Zimmer trat, um sie in einer wichtigen Angelegenheit zu Rate zu ziehen: Auguste, Berta und Constance Tornow wollten auf den Landschaftsball in Weiß, Blau und Rosa gehen, doch war Gerlinde der Meinung, daß die drei Schwestern gleichmäßig Weiß tragen sollten – ob Hedda das nicht auch hübscher finde?

„Natürlich,“ sagte Zernin, „alle drei weiß, wie die Tauben, oder nein, wie ein Schwanentrio. Denn Weiß ist die Farbe der Unschuld und schon aus diesem Grunde jungen Mädchen bestens zu empfehlen. Aber Halsbänder aus schwarzem Samt dazu, wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf. Das gibt eine angenehme Abwechslung und erzielt einen pikanten Kontrast, dieweil die weiße Unschuld doch manchmal langweilig wirkt ...“

Fräulein von Ponteck lächelte krampfhaft, weil sie nicht wußte, wie sie sich diesem schrecklichen Menschen gegenüber benehmen sollte, und war froh, daß Hedda sie in das Nebenzimmer zog, um dort das A, B, C über die strittige Frage zu belehren.

Gunther hatte im Verlaufe des Abends wenig Gelegenheit gefunden, sich Hedda zu nähern. Er litt an beständigem Herzklopfen. Er hatte seinen Vater gebeten, den alten Freiherrn mit größter Delikatesse auszuhorchen, aber es schien, als sei es [145]unmöglich, Hellsterns auf ein paar Minuten allein habhaft zu werden. In seiner fieberhaften Nervosität irrte Gunther von Zimmer zu Zimmer, langweilte sich bei den älteren Damen, scherzte mit den Backfischen, plauderte mit Zernin und setzte sich dann ein Viertelstündchen neben Frau Rittmeister Woydczinska, deren dunkle Schönheit auch auf ihn eine gewisse Anziehungskraft ausübte.

Mitten in der Unterhaltung aber versagte ihm das Wort. Er sah seinen Vater an der Seite Hellsterns durch die Zimmer schreiten. Der Kommerzienrat schien dem Alten die Räume zeigen zu wollen; er gestikulierte lebhaft, wies hierhin und dorthin, blieb zuweilen vor einem Bilde oder einer Statuette stehen und verschwand schließlich mit Hellstern im Speisesaal.

Jetzt wußte Gunther Bescheid. Jenseits des Speisezimmers lag das Arbeitskabinett seines Vaters. Dort waren die beiden ungestört – und stärker hämmerte das verliebte Herz.

Es war so. Der Baron hatte keine Lust mehr, weiterzuspielen. Der Kreisphysikus hatte gewöhnlich die Cinq Honneurs und er lauter Ladons in der Hand; der Pastor aber spielte wie im Traume – so etwas Schlafmütziges war noch gar nicht dagewesen. Da dankte man lieber.

Und diesen Moment hatte der Kommerzienrat abgepaßt. Hellstern sagte ihm ein liebenswürdiges Wort über die geschmackvolle Einrichtung des Schlosses, worauf Schellheim sich erbot, den Baron ein wenig herumzuführen. Im Arbeitszimmer hatte er ihn sicher.

Es war dies ein Turmgemach, ein runder Raum mit einem einzigen hohen Glasfenster in einer auf einen kleinen Balkon führenden Tür. Ein Hauch von Behaglichkeit wehte durch das Zimmer. Hellsterns Blick fiel zunächst auf einen großen eisernen Geldschrank und dann auf zwei Stahlstiche an der Wand: der Überfall reisender Kaufleute durch die [146]Quitzows und die Verbrennung der Schuldscheine Kaiser Karls V. durch Fugger.

Schellheim sah, daß der Freiherr die beiden Bilder mit einem gewissen Interesse betrachtete, und er lächelte.

„Es sind zwei Mahnungen, Herr Baron,“ sagte er. „Ein Appell an die Vorsicht und einer an die Generosität – „cave“ und „noblesse oblige“. Knöpfe die Taschen zu, sagt mir das eine Bild, und knöpfe sie auf, das andre. Jedes zu seiner Zeit. Ich liebe derartige kleine Denkzettel.“

„Allerdings,“ entgegnete der Freiherr, „sind sie zweckmäßiger als ein Knoten im Taschentuch. Aber bedürfen Sie denn eines solchen Mementos? Ein Charakter wie Sie?“

„O, lieber Baron, Sie schmeicheln mir! Wäre ich in der Tat ein ganzer Charakter, dann wäre ich auch ein besserer Kaufmann. Man hält mich allerdings für einen hervorragenden Industriellen, aber in Wahrheit bin ich es nicht. Wenigstens nicht ganz. Auf der einen Seite steckt noch zu viel vom Krämer in mir, auf der andern zu viel kaufmännischer Aristokratismus. Und das verträgt sich schlecht. Irgend ein bekannter Volkswirtschafter – war es nicht Friedrich List? – hat einmal gesagt, die Kraft, Reichtümer zu erwerben, sei mehr wert, als der Reichtum selbst. Das ist ein großes Wort, denn wirklich: klingendes Kapital kann zerrinnen, aber die Gabe des Erwerbens stiehlt uns niemand. Ich will nicht sagen, daß ich sie nicht auch besitze, denn sonst hätte ich es – immerhin – nicht so weit gebracht. Doch hundertmal stelle ich mein Licht unter den Scheffel – ach ja, es ist so. Wozu erwerbe ich Landgüter und lege meinen Besitz fest und zersplittere damit mein bürgerliches Erbe: die Kraft des Schaffens, die Möglichkeit des Gewinnens? Aus aristokratischer Neigung, die sich mit dem Geiste des kaufmännischen Bürgertums im Grunde genommen herzlich wenig verträgt. Und diese Neigung treibt mich noch weiter. Döbbernitz [147]soll verkauft werden; ich hätte nicht übel Lust, es an mich zu bringen und meinem Zweiten fideikommissarisch zu sichern ...“

Er schob den schweren Arbeitssessel, der vor dem Schreibtische stand, neben Hellstern.

„Nehmen Sie einen Augenblick Platz, bester Baron,“ sagte er, „Sie werden ermüdet sein.“

Hellstern ließ sich nieder und lehnte seine Krücken gegen den Stuhl.

„Ja,“ entgegnete er kopfnickend, „ich bin ein bißchen müde. Die verdammte Ischias dörrt einem das Mark aus den Knochen. Also Sie spekulieren auf Döbbernitz? Ich dacht’ mir’s beinahe, als ich Zernin bei Ihnen sah. Es mußte einen Zweck haben –“

„Ah ja“ – und Schellheim lachte kurz auf –, „so viel Kaufmann bin ich denn doch! Aber andrerseits reizt es mich auch, Herrn von Zernin wieder auf die Beine zu helfen. Es steckt ja doch eine ganze Portion Tüchtigkeit in ihm. Und es berührt immer tragisch, einen großen und berühmten Namen verschmutzen und versumpfen zu sehen –“

„Seine eigne Schuld,“ bemerkte Hellstern knurrig.

„Seine eigne Schuld – freilich, freilich! Aber darum nicht minder tragisch. Sein Vater hat am Ruhme Preußens und Deutschlands erheblich mitarbeiten helfen, und der Sohn steht vor dem Untergange. Durch eigne Schuld, ganz gewiß – Sie haben schon recht, Herr Baron. Aber ich erinnere Sie an die Worte Exzellenz Usens: seien wir nicht allzu pharisäisch! Aus Herrn von Zernin kann noch einmal etwas ganz Brauchbares werden, wenn er mit den alten Schulden aufgeräumt hat und man ihm ein klein wenig Beistand leistet.“

„Wird er Ihnen nicht zu viel für Döbbernitz fordern – fordern müssen, um seine Gläubiger befriedigen zu können?“

„Ah nein – ich kaufe nicht direkt, ich warte die Subhastation ab. Sie steht vor der Tür. Mit den [148]ausfallenden Gläubigern werde ich Herrn von Zernin zu arrangieren versuchen. Es wird sich schon machen lassen.“

„Wenn der gute Wille da ist und eine geschickte Hand – warum nicht. Übrigens, leicht wird es Ihnen nicht werden, auf Döbbernitz Ordnung zu schaffen. Der Junge hat alles verlottert. Seit Jahresfrist ist nichts mehr bestellt worden, wie mir Tornow erzählt. Auf den Wiesen wächst Schilf, und die Felder sehen wie eine Prärie aus.“

„Aber der Boden ist gut, und das Ausruhen wird ihm nicht viel geschadet haben.“

„Ist richtig. Und schließlich – mit Geld ist alles zu machen.“

Jetzt zog der Kommerzienrat die Brauen sehr hoch.

„In gewissem Sinne, ja,“ antwortete er. „Aber das Kapital, das ich in Döbbernitz hineinstecken muß, arbeitet nicht – wenigstens vorläufig nicht –, und wenn es zu arbeiten beginnt, wird es auch nur eine geringe Verzinsung abwerfen. Ich sagte Ihnen ja: ein vollendeter Kaufmann bin ich noch lange nicht. Trotz alledem – ich möchte dem Gunther ein behagliches Nest schaffen –“

„Sehr verständlich,“ warf der Freiherr ein; „er wird ja auch einmal an das Heiraten denken.“

Schellheim fing diese Bemerkung auf. Gott sei Dank, nun war die Anknüpfung gefunden! Er hatte schon Sorge gehabt, den rechten Faden nicht erwischen zu können. Ein wenig in Unruhe war er doch. Er zog sich gleichfalls einen Stuhl heran und setzte sich Hellstern gegenüber. Seine Hände zitterten leicht.

„Ja natürlich,“ entgegnete er, „an das Heiraten – nötig wär’s ja noch nicht – er könnte immer noch ein paar Jahre warten. Aber – na, er hat mich neulich ins Vertrauen gezogen, und da wir gerade unter uns sind, lieber Baron, möcht’ ich mir auch ein paar vertrauliche Worte gestatten. Der – der Junge ist nämlich in – ist nämlich bis über beide [149]Ohren verliebt, lieber Baron – und in wen? Wissen Sie, in wen?“

„Ahnungslos,“ sagte Hellstern, und dann schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. „Sapperlot – etwa in die Woydczinska? Das ist ein deubelsmäßiges Frauenzimmer mit ihren Kohlenaugen!“

„I Gott bewahre! Das sollte mir fehlen! Nein – in – in – in – na, es muß einmal heraus – in Baronesse Hedda!“

Hellstern war wie erstarrt.

„In Hedda?“ fragte er, maßlos erstaunt. „In meine Hedda?“

Der Kommerzienrat nickte.

„Ich verhehle Ihnen nicht, lieber Baron, daß ich eine ernsthafte Aussprache mit ihm gehabt habe. Eine sehr ernsthafte. Ich habe ihm die Sache ausreden wollen. Trotz neunzehntem Jahrhundert und allen gegenteiligen Versicherungen sind wir noch nicht über die Klippen und Untiefen gewisser gesellschaftlicher Vorurteile hinweggekommen. Der uralte Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum scheidet auch uns zwei. Sie haben den Ruhm des historischen Namens, ich nichts als das stolze Bewußtsein, ein Emporkömmling zu sein. Nun ja, auch darauf bin ich stolz, denn was ich erreicht habe, erreichte ich durch mich selbst. Plebejerstolz meinethalben, doch auch ihn soll man respektieren. Und das war’s, was mir Sorge machte, war der Grund, der mich dazu trieb, Gunther die Sache aus dem Kopfe zu reden: ich fürchtete, in meinem Stolze verletzt zu werden ...“

Der Freiherr hatte den Kopf in die Hand gestützt. Er war sehr ernst geworden. Er hatte in diesem Augenblick nur das eine Empfinden: sich so zu beherrschen, daß er den Kommerzienrat nicht kränkte, nicht beleidigte. Denn in der Tat – das wollte er nicht; es war doch etwas Respekteinflößendes in dem Wesen dieses Mannes, so meilenfern dessen Anschauungswelt auch der seinen lag.

Er ließ die Hand sinken.

[150]„Zunächst die Hauptsache,“ fragte er; „haben die beiden sich schon verständigt?“

Schellheim schöpfte tief Atem. Es flog sonnig über sein Gesicht. Eine strikte Absage hatte er nicht erwartet, aber ein langes Poltern. Und nun war Hellstern so ruhig, wie man ihn selten sah.

„Nein,“ antwortete der Kommerzienrat, „sie haben sich noch nicht ausgesprochen. Aber – Sie wissen, wie die Liebe forscht. Aus hundert kleinen Zügen hat Gunther die Berechtigung zur Werbung herleiten zu dürfen geglaubt.“

Hellstern schüttelte den Kopf.

„Hedda hat mir keinerlei Andeutungen gemacht, nicht die kleinste. Sie hat Gunther – hat Ihren Herrn Sohn –“

„Sagen Sie ruhig Gunther, lieber Baron –“

„Hat Ihren Herrn Sohn ja doch auch erst zwei- oder dreimal gesehen! Freilich, das will nichts bedeuten. Ich lernte meine gute Selige des Abends kennen, und am nächsten Abend waren wir Brautleute. Aber es frappiert mich doch, daß Hedda – nun, und Sie, Kommerzienrat? Abgesehen von Ihren prinzipiellen Bedenken: würde Ihnen die Heirat passen?“

Jetzt glaubte Schellheim seiner Sache sicher zu sein. Aber als kluger Mann triumphierte er nicht.

„Gott, Herr Baron,“ erwiderte er, „ich bin kein Komödienvater. Ich habe das Für und Wider reiflich erwogen und mit meinem persönlichen Empfinden nicht hinter dem Berge gehalten. Und ich würde die Sache noch erheblich ernster aufgefaßt haben, wäre Baronesse Hedda eine andre. Aber so! Ich muß Ihnen sagen, lieber Baron, daß ich vor Baronesse Hedda die allergrößte Hochachtung habe –“

„Der Teufel soll dich holen, wenn du es nicht hättest,“ dachte Hellstern.

„– und daß ich sie wahrhaft schätzen gelernt habe. Gerade die Anspruchslosigkeit ihres Wesens – das ist’s, was mir so gut an ihr gefällt. Und ich [151]meine, die hat sie von Ihnen gelernt, Baron, Sie sind auch so.“

„Wir sind alle so,“ erwiderte Hellstern. „Der märkische Adel hat sich immer nach der Decke strecken müssen. Er hat immer um Leben und Existenz gekämpft, und brach einmal einer zusammen, so geschah’s in Ehren, wie draußen auf dem Schlachtfelde. Mit Ausnahmen natürlich – die gibt’s überall. Und wenn die liberalen Zeitungen der Welt erzählen, daß unser Adel sein Geld verjuxt habe, so schwindeln sie einfach –“

Er hielt einen Augenblick inne. Sein Großvater fiel ihm ein, ein wilder Mann, von dessen unsinniger Verschwendungssucht ihm die Mutter oft genug erzählt hatte. Ein Schatten flog über seine Stirn, und er winkte mit der Hand.

„Und Ihre Gattin, Herr Kommerzienrat?“ fragte er. „Wie denkt sie über die Heirat?“

Schellheim lächelte. „Sie war von vornherein der Meinung, daß man dem Glücke unsres Sohnes keine Schwierigkeiten bereiten dürfe.“ Er seufzte. „Das ist es ja – im Grunde genommen ist ihr Standpunkt der einzig richtige. Ich möchte Gunther auch glücklich sehen. Er ist eine stille, bescheidene Natur, ein Ideologe, ein echter Gelehrter. Nun gut – ich habe nichts dawider, da er sich seinen Beruf doch einmal selbst gewählt hat und seine irdische Seligkeit von allerhand alten Scharteken abzuhängen scheint. Aber ich will ihm wenigstens den Weg ebnen helfen. Er kann seine Dozentenstellung aufgeben; als Privatgelehrter kann er sich seinen Studien noch besser widmen. Ich möchte wissen, wem es so bequem gemacht wird. Dann mag er ein paar Wintermonate in Berlin oder sonstwo verleben, meinetwegen auch auf Reisen, und im Sommer hat er Döbbernitz. Das ist auch für Sie von Wert, lieber Baron. Sie haben Ihre Tochter immer in der Nähe, können täglich ein Stündchen mit ihr zusammen sein, wenn Sie Lust haben –“

[152]„Und wenn aus der Heirat etwas wird,“ fiel Hellstern ein. Er erhob sich schwerfällig. „Nun hören Sie auch einmal meine Ansicht, lieber Kommerzienrat. Ich will ehrlich sein: ich bin nicht für die Heirat. Auch ich habe meine prinzipiellen Bedenken – genau so wie Sie. Kein Mensch kann aus seiner Haut. Hätt’ ich einen Jungen und Sie hätten ein Mädel – ich würde mit Freuden ja und Amen sagen, wenn die beiden sich liebten und haben wollten, denn dann würde Ihre Tochter und die Nachkommenschaft unsrer Kinder meinen Namen tragen. Nichts für ungut, Herr Schellheim. Auch Ihr Name ist gut, nicht schön, aber ehrlich und fleckenlos. Achtung vor ihm! Doch ich stecke wirklich noch etwas in Vorurteilen; ich würde es lieber sehen, wenn Hedda einen Edelmann heiratet. Keinen vom Schlage Zernins natürlich – Sie verstehen mich schon! Nennen Sie mich töricht, verbohrt, bettelstolz – ich lass’ mir’s gefallen. Ich kann nicht anders – ich muß Ihnen die Wahrheit sagen ...“

Schellheim war etwas blaß geworden, und Hellstern sah das. Er legte seine Hand auf die Schulter des Kommerzienrats.

„Denken Sie mal nach, lieber Freund,“ fuhr er fort; „wir haben uns nie verstanden – ich meine nicht wir zwei, sondern Adel und Bürgertum im allgemeinen. Die Feindschaft hat nie geruht, zur Zeit des Städtewesens so wenig wie heute. Sie lesen doch auch die Zeitungen. Die ganze liberale Presse paukt auf dem Junker herum –“

„Doch nicht auf dem Adel, Herr Baron. Sie unterscheidet zwischen dem Junkertum, das nur Prärogative und keine Pflichten kennt, und dem wahren Adel, der mit der Vornehmheit des Namens auch die der Gesinnung verbindet.“

„Ich will mit Ihnen nicht über die Verlogenheit unsrer Presse streiten, Herr Kommerzienrat. Die Adelshetze wird systematisch betrieben – das ist Tatsache. Offizierkorps, Diplomatie, Landräte, die adeligen [153]Beamten – alles Schufte, Schufte in den Augen des Liberalismus! Nur die paar, die zur gleichen politischen Fahne schwören, der Stauffenberg und Saucken-Tarputschen und Forckenbeck und wie sie sonst noch heißen mögen, – das sind leuchtende Ehrenmänner! Nee, lieber Freund, an dem Faktum, daß die Kluft zwischen Bürger und Edelmann immer mehr vertieft wird, ist nicht zu rütteln. Und auch ein paar Heiraten herüber und hinüber überbrücken sie nicht. Na – und nun wieder zur Sache! Meinen Standpunkt kennen Sie. Aber auch in andrer Beziehung geht’s mir wie Ihnen. Ich will gleichfalls das Glück meiner Tochter. Ich werde mit ihr sprechen, werde sie einfach fragen, ohne zu- oder abzureden, werde ihr sagen: ‚Hör mal, der Gunther Schellheim ist in dich verschossen, hast du auch etwas für ihn übrig, und wie denkst du über eine Ehe mit ihm?‘ Und nach ihrem Ja oder Nein werde ich handeln. Ich meine, das ist das Vernünftigste. Einverstanden, Schellheim?“

Er hielt ihm die Rechte hin, und der Kommerzienrat schlug ein. „Wie sollte ich nicht!“ antwortete er. Und sie schüttelten sich die Hände.

„Nun aber zurück zur Gesellschaft,“ sagte Hellstern. „Man glaubt sonst, ich wollte Aktionär Ihrer Quelle werden ...“ Er schob seinen Arm unter den des Rats. „Also ich denke, ich werde Ihnen schon morgen Antwort erteilen können.“

Achtes Kapitel

Als die Herren in die Salons zurückkehrten, rüsteten die Pontecks, Biese mit seiner Frau und die oberförsterliche Familie bereits zum Aufbruch. Gunther suchte nach seinem Vater, der sich von Hellstern getrennt hatte und den allgemeinen Aufbruch verhindern wollte.

[154]„Wo steckst du denn, Papa?“ fragte Gunther.

Schellheim klopfte ihm auf die blasse Wange.

„Ich habe für dich gewirkt, mein Junge,“ entgegnete er schmunzelnd. „Der Alte ist entgegenkommender als ich dachte, aber der Tick sitzt ihm doch im Kopfe. Es hängt alles von Hedda ab. Sagt sie ja, so könnt ihr schon morgen verlobt sein. Und ich fühl’ es: sie wird ja sagen ... Später mehr davon. Warum bricht denn schon alles auf? Es ist ja kaum zehn. Haben die Diener Bier präsentiert? Die Mama bekümmert sich nie um dergleichen – wenn ich nicht überall hinterher bin –“

„Es ist alles besorgt, Papa. Aber ich glaube, es ist im Rauchzimmer zu einer kleinen Streitigkeit gekommen –“

„Streitigkeit? Zwischen wem?“

„Zwischen Hauptmann Biese und Herrn von Zernin. Ich weiß nicht, um was es sich handelt. Ich hörte nur, daß der alte Usen zum Kammerherrn von Ponteck sagte: ‚Diesmal hat Zernin recht gehabt‘ – und der Kammerherr antwortete: ‚Es schadet gar nichts, wenn er dem dicken Schwadroneur einen kleinen Denkzettel gibt.‘“

Schellheim war außer sich.

„Also gar ein Duell! Donnerwetter, und das in meinem Hause – Donnerwetter – –“

Er stürmte fort. Sein Protektor, Exzellenz Usen, sollte ihm Rede stehen. Er erwischte ihn, als der alte Herr sich gerade einen Kognak von einem Diener reichen ließ.

„Was soll denn los sein, Bester!“ antwortete er, den Kopf in den gedrungenen Nacken werfend den Kognak hinuntergießend, „gar nichts ist los! Biese und Zernin haben sich ein bißchen gekabbelt, und Zernin hat sich dabei ganz anständig benommen. Vielleicht schießen sie morgen ein paar Kugeln in die Luft – vielleicht auch nicht. Das hat nichts auf sich. Tun Sie nur so, als hätten Sie gar keine Ahnung von dem Zwischenfall!“

[155]Das war maßgebend für Schellheim. Exzellenz Usen war wie das Evangelium für ihn.

Er mischte sich wieder unter die Gäste. Der Aufbruch der einen Partie versetzte die ganze Gesellschaft in Unruhe. Man rief nach den Dienern. „Der Schönwaider soll anspannen!“ – „Der Klein-Güstener auch!“ – „Der Wagen von Wernochow!“ Schellheim versuchte vergeblich, diesen und jenen noch ein halbes Stündchen zurückzuhalten. Alles empfahl sich mit größter Herzlichkeit. Es sei reizend gewesen, ganz reizend – auf baldiges Wiedersehen! – Auch Hauptmann Biese merkte man nichts von dem Streit im Rauchzimmer an, hinter dessen Geheimnis Schellheim noch immer nicht gekommen war. Er drückte dem Kommerzienrat warm die Hand und nannte ihn „lieber Nachbar“. Im allgemeinen Aufbruch empfahl sich auch Klaus, höflich, liebenswürdig, etwas zurückhaltend. Vor Hedda verbeugte er sich nur. Dicht hinter ihm sauste der phantastische Schwanenschlitten der Woydczinska den Abhang hinab.

Vor dem Portale hielt die lange Reihe der Wagen und Schlitten. Ihre Lichter glänzten durch die Schneenacht. In der kleinen Entree drängten sich die Gäste, bereits in Plaids gehüllt, in Pelze, Decken und Mäntel. Die Hakennase des Majors von Nehringen lugte wie ein Fanal aus dem hochgeschlagenen Kragen. Das kleine C des Oberförsters mußte sich noch den dicken Shawl des Papas um Hals und Mund wickeln lassen. „Aber, Mama,“ ächzte der Backfisch, „ich kriege ja gar keine Luft!“ – „Kriege keine,“ erwiderte die energische Mutter; „wenn du morgen hustest, mußt du im Bett bleiben und schwitzen“.... Exzellenz Usen sah in seinem verschossenen Militärmantel und der flauschigen Jagdmütze wie ein Riesenpilz aus vorsündflutlichen Zeiten aus. Doktor Stramin hatte rasch noch den Landrat in eine Ecke gezogen und erzählte ihm von zwei Sozialdemokraten, die sich in Zielenberg eingenistet hätten. „Ein Schuster und ein Klempner, Herr [156]von Wessels, und das wühlt von unten auf, das frißt sich in die Höhe, das vergiftet alles, wenn man nicht rechtzeitig einen Riegel vorschiebt ...“ Er schwatzte immer noch weiter, während draußen sein Wagen wartete.

In der Halle verabschiedete sich Eycken von den Gastgebern.

„Nein, ich habe keinen Wagen,“ sagte der Pastor auf eine Frage Schellheims und reckte seine hohe Patriarchengestalt, „ich geh’ die paar Schritte gern zu Fuß. Ich liebe die Winterlüftung. Wegen der Kinderheilanstalt sprechen wir noch, Herr Kommerzienrat. Wir sprechen noch über manches. Es ist vielerlei hin und her zu überlegen. Auch das mit dem Zernin.“

„Seien wir doch froh, wenn er noch einmal ein tüchtiger Mensch wird, lieber Herr Pastor!“ entgegnete Schellheim.

„Froh?! Du lieber Gott, wie würde ich dem Himmel danken! Aber – – nous verrons, lieber Herr Rat, ich tu’ vielleicht unrecht, daran zu zweifeln. Meine Empfehlungen, gnädige Frau!“

Er küßte ihr die Hand. Dann schritt er grüßend durch die Reihen der Gäste und trat ins Freie. Der Schnee knirschte nicht; es war lauer geworden. Zarte Flocken stäubten durch die Luft. Am Himmel glänzte die Sternenwelt; nur im Osten baute sich eine weiße Wolkenmauer auf, aus der phantastische Arabesken emporragten, wie geflügelte Untiere und greifende Riesenhände. Der Pastor schritt, in seinen leichten Havelock gewickelt, den Parkweg hinab. Auf seinem großen Rundhut bildeten die Schneeatome einen feinen, glänzenden Kranz. Wie der Greis so aufrecht einherging, kräftig ausschreitend und den schönen Kopf stolz erhoben, konnte man ihn für einen Mann in den besten Jahren halten, für einen Vierziger. Nur der lange Bart von der Farbe des Schnees, den der Wind auseinanderwehte, vereitelte die Täuschung.

An Eycken vorüber rollten die Wagen und klingelten die Schlitten. Er war schon außerhalb [157]des Parks, als er hastig zur Seite springen mußte. Der Schwan der Woydczinska fuhr dicht neben einem zweiten Schlitten, und beide Gespanne füllten die Breite des Fahrwegs aus.

Der Pastor hörte ganz deutlich die Stimme der Woydczinska:

„Also bestimmt übermorgen, nicht wahr? Nicht zu spät – so zwischen sechs und sieben ...“

Und eine Männerstimme aus dem zweiten Schlitten antwortete:

„Wenn ich es einrichten kann – aber ich hoffe ...“

Das war das klingende Organ Zernins. Der Pastor strich glättend über seinen zerflatternden Bart. Ein neues Mißtrauen regte sich in seiner Brust, doch ärgerte er sich darüber. Wahrlich, es war nicht christlich und nicht menschlich, immer das Schlechteste zu denken! –

Oben vor dem Schloßportal schrie Exzellenz Usen nach seinem Kutscher. Der Mann hatte zu viel getrunken; eine Wolke von Schnapsdunst umwogte ihn. Usen schimpfte fürchterlich.

„Köpfen müßte man dich lassen, Hundesohn, vierteilen, rädern!“ ... Und dann schob er dem schweigenden Kutscher seine eigne brennende Zigarre in den Mund, kletterte neben ihn und nahm selbst die Zügel in die Hand.

„Halt dich fest, Saufsack!“ schrie er. „Wenn du in den Graben fällst, laß ich dich liegen!“

Seine Peitsche knallte; die Gäule bäumten sich auf und rasten davon.

„Gott sei dem Kutscher gnädig,“ meinte Hellstern, vor die Tür tretend. „Wenn der Pascha selber fährt, geht’s wie der Deibel. Adjö, lieber Herr Schellheim!“

Auch Hedda reichte Gunther, der vor dem Portal die letzten Honneurs machte, die Hand. „Wenn Sie noch einige Tage bleiben,“ sagte sie freundlich, „so holen Sie mich doch wieder einmal zum Schlittschuhlaufen ab. Apropos, was macht der Schnupfen?“

„Danke, gnädiges Fräulein,“ erwiderte Gunther [158]heiter und drückte beseligt die ihm dargereichte Hand, „ich niese mich vorläufig noch weiter durch die Welt.“

Und er blieb draußen stehen, bis die schwerfällige alte Kalesche davongerasselt war.

Im Schlosse erloschen die Lichter. Die Diener huschten aufräumend hin und her. Aus dem Speisesaal tönten das Klappern der Teller, die wieder in das Büffet gepackt wurden, und das helle Klirren des Silbers.

„Es war sehr gelungen,“ sagte der Kommerzienrat, der nach jeder Festlichkeit in seinem Hause Kritik zu üben pflegte. „Im allgemeinen wenigstens. Die Sauce zu den Artischocken hätte etwas sämiger sein können. Wenn man schon Sauce zu den Artischocken gibt, muß sie auch tadellos sein. Aber die meisten merkten es gar nicht; man ist hier doch noch etwas zurück. Und dann kam das Bier zu spät. Was zwischen Herrn von Zernin und dem dicken Biese vorgefallen ist, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen, und ihr“ – er meinte damit seine Frau und Gunther – „wißt es ebenfalls nicht, wenn ihr’s auch wirklich wüßtet. Denn über so etwas sieht man hinweg. Gunther, ich hoffe, der morgige Tag wird ein Freudentag für uns werden. Hellstern ist ein Ehrenmann; unter den Schlacken der Vorurteile sitzt doch ein wahrhaft adliges Herz. Und Hedda erst! Gunther, ich gestehe dir offen, ich bin besiegt.“

Er umarmte seinen Sohn und küßte auch die Rätin, der über so viel ungewohnte Liebe die Augen zu tränen begannen, auf die Stirn. Die Diener schlichen auf den Zehenspitzen an der Gruppe vorüber und wunderten sich.


Derweilen entschied sich das Schicksal des armen Gunther.

Hellstern hatte die Absicht gehabt, erst am nächsten Morgen beim Frühstück mit Hedda Rücksprache zu nehmen. Das war nämlich jene Stunde des Tages, in der alle beide am zugänglichsten waren. Sie [159]saßen sich dann gegenüber am Teetisch, der vor den einzigen Kamin des Hauses – im sogenannten Saal – geschoben war, und es war auch die einzige Zeit am Tage, da in diesem Kamin ein lustiges Feuer loderte. Er brauchte viel Holz und man mußte sparen. Am selben Platze hatte man auch schon zur Zeit, da die Baronin noch am Leben war, das Frühstück eingenommen, und es war immer, als sei der Geist der Verstorbenen um diese Stunde den beiden besonders nahe.

Aber der Entschluß Hellsterns änderte sich, als er neben Hedda im Wagen saß und den Auberg hinabfuhr. ‚Es ist besser, du machst die Geschichte kurzerhand ab,‘ sagte er sich. In Wahrheit brannte es ihm auf der Seele, zu erfahren, wie Hedda über die Werbung dachte. Er bildete sich ein, sein Töchterchen auf das genaueste zu kennen; wenn man verliebt ist, benimmt man sich nicht so wie alle Tage. Er räusperte sich in seiner lauten und derben Weise.

„Ja, Vater!“ fragte Hedda und zuckte in ihrem Winkel wie erschreckt zusammen. „Sagtest du etwas?“

„Herrjeses, Hedda, ich glaube wirklich, du fängst mir an, nervös zu werden! Wenn ich mal ‚hm‘ mache, erschrickst du, als ob es eingeschlagen hätte. Nein, ich sagte nichts, aber ich wollte etwas sagen. Nämlich – denke dir, da hat der Kommerzienrat mit mir gesprochen –“

„Wegen der Quelle?“

„Nein – deinethalben.“

Jetzt richtete Hedda sich verwundert auf. Sie schob die weiße gestrickte Kapuze, die sie bei winterlichen Fahrten über Land zu tragen pflegte, etwas weiter aus der Stirn und schaute den Alten mit ernsten Augen an.

„Meinetwegen?“ fragte sie. „Was heißt das, Papa?“

Hellstern haschte nach der rechten Hand Heddas.

„Kuschle dich mal ein bißchen enger an mich heran, Kind,“ entgegnete er. „So – und nun lege den Dickkopf an meine Schulter – so – und gib [160]mir auch noch das andre Pfötchen.... Sage mal, warum klopft denn dein Herz so stark?“

„O, es klopft nicht stärker wie sonst!“

„Doch – ich spüre es. August soll dir meine Baldriantropfen bringen.“

„Schön. Also, was wollte der Kommerzienrat?“

Hellstern drückte die Hände Heddas fest.

„Er wollte dich für seinen Jungen, den Gunther, haben.“

Es fuhr wie ein elektrischer Strom durch die Glieder Heddas.

„Das ist eine Unverschämtheit!“ rief sie empört. Aber sofort tat ihr dieser Ausruf leid. „Das ist naiv,“ fuhr sie, sich selbst beschönigend, fort. „Wie kommt der Rat auf eine so absonderliche Idee?“

„Gunther hat ihm sein Herz ausgeschüttet. Er meint, er liebe dich. Und es muß doch wohl die Hoffnung in ihm leben, du würdest seine Liebe nicht so ohne weiteres fortweisen.“

„Berechtigung zu dieser Hoffnung habe ich ihm nicht gegeben, Vater.“

„Wenn du es sagst, glaube ich dir’s aufs Wort. Aber man täuscht sich oft in so subtilen Empfindungen. Gunther mag in seiner Schwärmerei eine Liebenswürdigkeit deinerseits für Entgegenkommen gehalten haben. Ganz sicher war er seiner Sache zweifellos nicht; immerhin war es taktvoll von ihm, daß er durch seinen Vater sozusagen erst die Fühler ausstrecken ließ.“

Hedda schüttelte den Kopf.

„Mir ist es unklar, Papa ...“

„War es mir auch, Herzenskind. Ich kenne dich doch. Ich hätte schon gemerkt, wenn dein Herz lebendiger geworden wäre. Und ich gesteh’ dir offen, ich wurde ein klein bißchen eifersüchtig, als der Kommerzienrat mit mir sprach. Es kam auch ein Gefühl von Kränkung und Zurücksetzung dazu. Ich fragte mich: ‚Bist du denn nicht der Erste, dem sich dein Kind anzuvertrauen hat, wenn es sich um so wichtige Dinge, um Herzens- und Lebensfragen handelt?‘“

[161]Hedda antwortete nicht. Sie dachte an jene Zeit, da die Liebe zum erstenmal wie Frühlingsbrausen und Wettersturm durch ihr Herz gezogen war. Gleich einer Träumenden war sie damals umhergewandelt, war blasser geworden und abgemagert – und der Vater hatte nichts gemerkt. Und nach einer endlos langen und bangen Nacht war sie in ihrer Seelenqual schließlich zu dem alten Pastor hinübergelaufen, statt sich an der Brust des Vaters auszuweinen.

Hellstern räusperte sich wieder.

„Ich muß noch einiges sagen, Hedda,“ begann er von neuem. „Auch der Kommerzienrat hat die heikle Sache mit taktvollen Händen angefaßt – wie ein Mann von Welt, ich kann es nicht leugnen. Aber er setzte doch gleich mit Zukunftsmusik ein; es herrscht eine ausgesprochene Wagnersche Atmosphäre in dem Hause. Er will Döbbernitz kaufen und ein Fideikommiß für Gunther daraus machen; da solltet ihr denn im Sommer leben –“

„Auch das noch!“ murmelte Hedda.

„Und im Winter ein paar Monate in Berlin oder auf Reisen – ganz, wie es euch passen würde. Er sagte das alles eigentlich ohne Protzigkeit; er hat mir heute abend viel besser gefallen als sonst.... Sieh einmal, Hedda, wir sind arm, und ein andres, viel glänzenderes Leben würde ja zweifellos für dich beginnen, wenn du den Gunther heiratetest. Es ist auch kein unübler Mensch. Ich würde schließlich selbst nichts gegen das Bürgerliche sagen; um der Kinder willen ließe sich der Adel schon beschaffen, obwohl derlei frische Backware auch nicht nach meinem Geschmack ist. Aber die Hemdenindustrie gefällt mir nicht. Ich bin kleinlich in solchen Dingen – ich weiß es –“

Hedda entzog ihre Hände dem Vater und setzte sich wieder aufrecht in ihre Ecke.

„Das ist in der Tat kleinlich, Papa,“ erwiderte sie. „Wir haben schon einmal über den Punkt gesprochen. Ob Hemden oder Geschütze, was ist da der [162]Unterschied? Die Welt braucht beides, und Hemden vielleicht noch nötiger als Kanonen. Wenn irgend ein junger Krupp um mich anhielte, würdest du keine Bedenken haben. Aber wir wollen nicht von neuem streiten. Es handelt sich weder um Kanonen noch um Hemden, sondern um mein Herz.“

„Richtig, Hedda! Das ist der Punkt, um den sich alles dreht.“

„Was hast du Herrn Schellheim geantwortet?“

„Daß ich mit dir sprechen und ihm morgen Antwort geben würde.“

„So schreibe ihm, aber, bitte, in höflichster Form, daß sein Sohn sich in eine Täuschung hineingelebt habe, und daß ich es noch nicht – für an der Zeit hielte, über mein Herz zu entscheiden.“

Hellstern nickte.

„Gut; das werd’ ich ihm schreiben. In höflichster Form – ich will den Leuten ja nicht wehe tun.“

Er blieb noch einen Augenblick still sitzen. In einer raschen, heiß aufsteigenden Aufwallung nahm er dann Heddas Kopf zwischen die Hände. Er küßte sie stürmisch.

„Mein Liebling,“ stammelte er; es klang wie verhaltenes Schluchzen. Er tastete über ihre Wangen und streichelte sie. Er war so selig, daß er sein Kind noch behalten durfte.

Der Wagen hielt. August, mit einer Stalllaterne in der Hand, öffnete den Schlag. Auch Dörthe war noch auf. Sie fragte, ob die gnädigen Herrschaften vielleicht noch Teewasser wünschten.

„Nein, Dörthe,“ erwiderte Hedda; „wir gehen gleich zu Bett. Wir sind müde. Gute Nacht, Papa – schlaf wohl!“

Er küßte sie nochmals, und da er fühlte, daß ihre Hände kalt wie Eis waren, wandte er sich an Dörthe.

„Hast du dem gnädigen Fräulein eine Wärmflasche in das Bett gelegt?“

„Jawohl, Herr Baron.“

[163]Er war zufrieden. Hedda stieg die Treppe hinauf in ihr Zimmer, stellte das Licht auf den Nachttisch und begann sich langsam zu entkleiden. Es war merkwürdig – sie fühlte sich wirklich grenzenlos müde und dabei so zerschlagen in allen Gliedern, als ob sie einen weiten Marsch hinter sich habe. In Korsett und Unterrock setzte sie sich auf den Bettrand und faltete die Hände. Ein holdes Lächeln flog über ihr Gesicht. Der Gedanke, geliebt zu sein, ist immer süß für das Herz des Weibes. Aber das Lächeln erstarb rasch. Sie dachte an den zurück, den sie nicht vergessen konnte, und seufzte.

An der Tür klopfte es leise.

„Was gibt’s noch?“ rief Hedda.

Die Tür öffnete sich ein wenig; eine Hand, die ein Fläschchen hielt, und ein Arm wurden sichtbar. „Der Baldrian, gnädiges Fräulein,“ sprach Augusts Stimme, „und drei Stückchen Zucker. Zwanzig Tropfen, lassen der Herr Baron sagen, und wenn gnäd’ges Fräulein in der Nacht aufwachen sollten, dann nochmal zwanzig.“

Hedda nahm dankend die kleine Flasche und ging zu Bett. Sie löschte das Licht, betete und zog das Federkissen hoch. Aber was nützte der Baldrian! Unerträglich war die Hitze, die die Wärmflasche ausströmte, und Hedda schob die Bettdecke wieder weit zurück. Dörthe hatte auch das Zimmer geheizt – gegen ihren ausdrücklichen Befehl. Es war nicht auszuhalten. Eine krause Gedankenflut durchwirbelte des Mädchens Kopf. Sie wollte sich beruhigen und zündete abermals das Licht an. Dabei fiel ihr Blick auf das Pastellbild über ihrem Bette; es stellte die verstorbene Mutter dar.

Ihre Augen wurden naß. ‚O du liebes Mütterchen, wenn du doch noch lebtest!‘ dachte sie. ‚Dir wollte ich sagen, wie mir’s ums Herz ist! Und du würdest auch Rat und Trost finden und würdest mir helfen und mich aufrichten in all meinem Gram. Ich weiß ja, wie unrecht ich tue, daß ich mich dem [164]Papa gegenüber verschließe. Er liebt mich doch auch, aber er ist zu rauh, und er haßt – ihn. Und jedes Schmähwort gegen ihn ist mir wie ein Messerstich. Ich kann doch nicht anders ...‘

Sie hatte sich im Bette aufgerichtet und sprach so geraume Zeit in sich hinein. Dann fühlte sie einen leisen Frostschauer über ihre Schultern rinnen und kroch wieder unter die Decke. Mitten in der Nacht wachte sie auf. An den Fensterläden rüttelte und schüttelte es. Ein Sturm schien die schlafende Winternatur in Aufruhr bringen zu wollen. Der Wind pfiff; hin und wieder hörte Hedda auch das Geräusch eines losgerissenen und über das schräge Dach polternden Ziegelstückes. Aber sie hörte in ihrer erregten Phantasie noch mehr. Sie hörte sich rufen – klagend, schmerzend und schreiend. Und bald war es Gunthers Stimme, die nach ihr rief, bald die Stimme von Klaus. Mit zitternden Händen entzündete sie zum drittenmal das Licht. Der Baldrian stand noch immer auf dem Nachttisch. Aber was nützte der.


Der Sturm hatte gewaltig gehaust. Die Strohdächer der Kossätenhäuser unten im Dorfe sahen verstrobelt aus, als hätten Riesenfäuste sie zerzaust. Eine Anzahl Bäume war geknickt und entwurzelt worden. Den Schnee aber hatte die Windsbraut zu großen Haufen zusammengeweht, pyramidenförmig, hie und da auch in Schlangenlinien auseinandergequirlt und an den Stämmen und Wänden in die Höhe gebürstet, wo er dann in der Kälte der Morgenfrühe angefroren war und wunderliche Gebilde und Muster zeigte: schwere Spitzensäume und Lilien mit großen offenen Kelchen und tausendfach verschiedene Arabesken.

Auf dem Auschlosse war die Fahnenstange, die man vergessen hatte über Nacht zu kappen, gebrochen und auf die erste Terrasse geschleudert worden. Und dort hatte sie der Pomona den Kopf abgeschlagen, [165]zum höchsten Ärger des Kommerzienrats, der in der hemdenlosen Göttin ein Symbol für die Notwendigkeit seines Geschäftsbetriebs sah.

Es war dies überhaupt ein Tag des Ärgers und der Niedergeschlagenheit. Um zwölf Uhr kam August vom Baronshofe und brachte einen Brief. Die Familie saß gerade beim zweiten Frühstück. August erhielt eine Mark, und der aufwartende Diener wurde hinausgeschickt. Dann erst erbrach der Kommerzienrat mit einer gewissen Feierlichkeit das Schreiben; voll ängstlicher Spannung hingen die Blicke von Frau und Sohn an seinen Zügen. Sie sahen, wie über die Stirn Schellheims während der raschen Lektüre eine Wolke flog. Dann zuckte er mit den Achseln und reichte Gunther den Brief.

„Kopf hoch behalten, mein Junge,“ sagte er dabei. „Noch ist nicht aller Tage Abend. Ich habe eine andre Antwort erhofft – nein, erwartet – trotzdem: es ist nichts gegen sie einzuwenden ...“

Gunther las:

„Baronshof, 3. Januar.

„Mein verehrter Herr Kommerzienrat!

Ich habe mit meiner Tochter gesprochen. Es tut mir leid und wird mir schwer, Ihnen sagen zu müssen, daß sie der Ansicht ist, Ihr Herr Sohn sei von einer Täuschung befangen. Sie hält es noch nicht für an der Zeit, über ihr Herz zu entscheiden ...“ Das war genau so, wie Hedda es vorgeschrieben hatte. Nun kam eine philosophische Wendung: „Mädchenherzen sind unberechenbar, lieber Herr Kommerzienrat ...“ Dann ein Trostwort: „Die Zeit wird schon alles ausheilen ...“ Und schließlich die formelle Höflichkeit: „Ich hoffe, der kleine Zwischenfall wird Auberg und Baronshof nicht auseinanderbringen. Mit besten Empfehlungen allerseits

Ihr ganz ergebener

Freiherr von Hellstern.“

[166]Gunther gab den Brief an die Mutter weiter. Er war weiß wie Kalk geworden. Rasch trank er sein Glas Sherry aus, doch seine Hand zitterte heftig dabei. Die Mutter griff, die Augen feucht, nach der Rechten ihres Jungen und tätschelte sie wortlos.

Eine bange Stille war eingetreten.

Plötzlich sprang der Kommerzienrat wütend auf und stieß seinen Stuhl gegen den Boden.

„Mach nicht solche Leidensmiene, Gunther!“ rief er zornig. „Du hast dir einen Korb geholt – Schwerenot, was ist weiter dabei! Du kriegst noch andre als das hochnäsige Mädel von drüben!“

Nun erhob sich auch Gunther.

„Bitte, Papa,“ entgegnete er abwehrend und mit fester Stimme, „kein Wort weiter darüber! Vor allem keine Schmähung! Wer verdient eine solche? Die Sache ist tot und begraben. Wenn ihr mir eine Liebe erweisen wollt, erwähnt sie nicht mehr. Irrungen soll man abtun ...“

Seine Stimme brach. Er sah sich wie hilflos um, als suche er irgend etwas.

„Ich – ich will fort,“ fuhr er fort. „Es wäre auch nicht in der Ordnung, wenn ich unter den obwaltenden Verhältnissen hier bleiben wollte – gerade jetzt. Später – wird sich ja alles legen.... Wenn ihr nichts dagegen habt, reise ich auf ein paar Wochen nach Oberitalien oder dem Genfersee. Da kann ich in Ruhe meine Arbeit vollenden. Und dann kommt der Sommer und dann meine Offiziersübung in Lissa – das gibt Abwechslung genug. Das wird mir auch gut tun. Aber – ich möchte dann schon mit dem Abendzug fahren ...“

Die Eltern redeten in ruhigen und verständigen Worten von unnötiger Überhastung ab. Das Herz tat beiden weh. Sie fühlten, daß Gunther sehr litt. Aber sie konnten ihm wahrlich nicht helfen. Er blieb auch fest. Er wollte durchaus fort. Einen Augenblick schwankte er, ob er dem Pastor lebewohl sagen sollte. Doch er konnte sich nicht dazu entschließen, [167]noch einmal in das Dorf zu gehen. Er fürchtete sich davor, Hedda zu begegnen.

Der Kommerzienrat, sonst ziemlich bequem, ließ es sich nicht nehmen, Gunther nach der Station zu begleiten. Er war auch vernünftig genug, während der Schlittenfahrt durch den Wald mit keinem Wort auf die Herzensgeschichte zurückzukommen. Gunther dankte ihm im stillen dafür. Er sprach fast gar nicht. Wieder störte ihn der Kutscher hinten auf der Pritsche – wie damals. Ach, damals! Da glitzerte der Sonnenschein durch das Eisgezweige, und seine Brust war voller Hoffen. Und jetzt nächtete es.

Die Herren trafen in letzter Minute auf dem Bahnhof ein. Es war gerade noch Zeit ein Billett zu lösen.

„Grüße die Mama!“ rief Gunther aus dem offenen Coupéfenster.

„Danke, mein Junge! Und sei recht vernünftig! Und laß dir nichts abgehen! Wenn du noch Geld brauchst, so telegraphiere – hörst du, telegraphiere!“

Der Zug brauste davon. Als Schellheim an seinen Schlitten zurückkehrte, klingelte von der Chaussee aus ein zweiter Schlitten heran und hielt vor dem Stationsgebäude. Der Kommerzienrat sah Herrn von Wessels aussteigen und begrüßte ihn.

„Im Dienst, Herr Landrat?“ fragte er, auf die schwarze Ledermappe deutend, die der Angeredete unter dem Arm trug.

„Ja – sozusagen, – das ist eine verteufelte Geschichte, mein bester Herr Kommerzienrat. Der tolle Zernin und der dicke Biese haben sich heut früh duelliert, und Biese ist über den Haufen geschossen worden. Er kann froh sein, wenn er mit dem Leben davonkommt. Zernin ist unglücklich, er hat es nicht so gewollt – aber sechs Monate kostet ihm die Kugel doch. Und vor allen Dingen: ich fürchte, Sie werden ihn an Ihrem Quellenunternehmen nun auch nicht mehr beteiligen können. Merkwürdiges Pech! Es ist eigentlich schade um den Menschen ...“

[168]Schellheim starrte den Landrat an.

„I Gott bewahre – ein Duell – also wirklich ein Duell!“ stammelte er. „Ja, aber um Himmels willen, weshalb denn?! Was haben die beiden sich getan?“

Herr von Wessels lächelte verlegen.

„Das läßt sich schwer sagen,“ erwiderte er. „Sie sind gestern abend bei Ihnen zusammengeraten, aber Zernin hat sich in diesem Falle richtig und taktvoll benommen – jawohl. Biese – na, also kurzum, erfahren werden Sie es ja doch einmal: Biese hat die Dreistigkeit gehabt, sich über Sie als Gastgeber eine respektlose Bemerkung zu erlauben, und da ist Zernin scharf geworden. Das war der Anfang ... Aber ich muß weiter! Addio, mein verehrter Herr Kommerzienrat!“

Sie schüttelten sich die Hände, und ehe der Landrat in das Bahnhofsgebäude trat, wandte er sich noch einmal um und rief kopfnickend: „Es war gestern abend übrigens ganz reizend bei Ihnen!“

Schellheim kletterte in seinen Schlitten zurück. An seinen Sohn, an den Baronshof und an den Korb Heddas dachte er nicht mehr. Es ging ihm im Kopfe herum, daß man seinetwegen einen Zweikampf ausgefochten hatte. Der dicke Biese, ein Bürgerlicher wie er, freilich Landwehrhauptmann – und das sprach mit –, hatte eine beleidigende Äußerung über ihn fallen lassen. Irgend eine mokante Bemerkung wahrscheinlich, wie der Grochauer sie liebte – und da hatte Herr von Zernin Partei für ihn, den Kommerzienrat, genommen, und schließlich war es auf Tod und Leben gegangen – um seinetwillen. Merkwürdige Welt! Eigentlich ging die Sache doch nur ihn an als den Beleidigten; was schossen sich denn die beiden um seine Ehre?! – Und in halbem Selbstgespräch fügte er hinzu: „Es ist im Grunde genommen lächerlich und unverzeihlich. Mich kann ein Mann wie dieser dicke Biese gar nicht beleidigen!“

[169] Neuntes Kapitel

Als der Frühling in das Land zog, fand er Oberlemmingen in großer Erregung. Die feierliche Einweihung der Quelle stand nahe bevor. Aus Frankfurt war ein Kunstgärtner mit einem ganzen Schwarm von Gehilfen herübergekommen und hatte die „Säuberung“ des Buchenwäldchens auf der Grauen Lehne in Angriff genommen. Das war nun in der Tat eine gründliche Säuberung. Aus dem Buchenhain wurde ein regelrechter Park mit Gängen, Plätzen, Alleen und schattigen Wandelgängen. Ganze Baumpartieen wurden vollständig niedergelegt, und an ihre Stelle sollten Blumenparterres treten; vorläufig wurde allerdings nur Humus in Rundellform aufgeschüttet, und das sah aus, als lagerten zwischen dem ersten zarten Buchengrün große Schokoladentorten.

Aber das war noch lange nicht alles. Der Frühling trug auf seinen regenfeuchten Schwingen noch viel stärker das Wehen der neuen Zeit in Oberlemmingen hinein. Die ersten Logierhäuser wurden gebaut. Albert Möller hatte den beiden Kossäten Maracke und Klauert ihre Anwesen abgekauft. Diese lagen dem „Kurpark“ ungefähr gegenüber, und die beiden kleinen, strohbedeckten Häuschen mit den anschließenden Schweineställen und den ewigen Mistpfützen vor der Tür waren geeignet, den guten Eindruck des neuen Kurparks erheblich abzuschwächen. Übrigens paßte Albert, was Maracke und Klauert forderten; es war noch immer ein Spottgeld, aber die beiden armen Teufel hatten noch nie ein paar hundert Taler auf einem Haufen gesehen. Nachträglich ärgerten sie sich natürlich, daß sie nicht mehr verlangt hatten. Die alte Maracken heulte jämmerlich, als sie ihr verfallenes Häuschen verlassen mußte, und ihre fünf Kinder heulten mit. Die ganze [170]Familie zog nach Klein-Güster, Klauert aber nach Zielenberg, wo er einen verheirateten Sohn besaß.

Das geschah an einem der ersten Märztage. Es wehte warm und lenzlich. Der Schnee war überall geschmolzen; nur in den Gräben hielt sich noch längere Zeit eine grauweiße, schmutzige, halb flüssige Masse. Auf der Dorfau und auf Weg und Steg schillerten Wassertümpel; es tropfte von den Dächern, und wie ein Plätschern und Gluckern ging es durch die Luft. Die Erde schien zu dampfen; über die noch bräunlich getönten Wiesen sickerten Wasserlinien, und Baum und Strauch hingen voll Feuchtigkeit. Die Spiräen setzten bereits Knospen an, aber noch fehlte der grüne Frühlingsschimmer, der vierzehn Tage später die Natur mit seinem zarten Schleier umhüllen sollte.

Die Familien Maracke und Klauert zogen zur gleichen Zeit. Jede hatte sich einen Einspänner geliehen, auf welchen ihre Habseligkeiten hinaufgepackt worden waren, bunt durcheinander, gestreifte Betten, zerbrochene Stühle, ein Tisch, dessen Beine zum Himmel ragten, und andres Gerümpel mehr, alles mit dicken, vielfach durchknoteten Stricken verschnürt. Die alte Maracken lief, als der Wagen schon vor der Tür stand, jammernd und weinend nochmals durch Haus und Stall, ob auch nichts vergessen worden sei. Richtig – in einem Winkel der Kammer neben der Stube lag noch ein Häufchen Stroh, auf dem die weiße Henne ihr letztes Ei gelegt hatte, bevor sie geschlachtet worden war. Die Maracken raffte mit beiden Händen den armseligen Strohrest zusammen, trug ihn hinaus und stopfte ihn auf den Wagen. Dann ging sie in den Stall, und als Maracke ihr ein ungeduldiges „Mutter, nu’ mach aber!“ zurief, schleppte sie einen kleinen Schweinekoben ins Freie; der sollte auch noch mit. Sie hätte am liebsten Haus, Stall und Komposthaufen, wie alles stand und lag, auf den Einspänner gepackt.

In diesem Augenblick zog Klauert vorüber. Er [171]war ganz vergnügt, hatte sein Geld in der Tasche und freute sich auf das Ausgedinge, das sein Sohn in Zielenberg ihm angeboten hatte. Auch sein Wagen war schwer bepackt, und ganz oben, auf dem Berge von rot und weiß überzogenen Betten, war ein weidengeflochtener Korb angeschnürt, in dem vergnüglich ein paar Hennen gackerten. Das erregte den Neid und die Eifersucht der Maracken in hohem Grade. Sie überschüttete ihren Mann mit Schimpfreden und Vorwürfen; warum hatte man die dicke Weiße geschlachtet, die so fleißig Eier legte, und den prächtigen Hahn an Langheinrich verkauft? Hätte man das Viehzeug nicht ganz gut mit nach Klein-Güster nehmen können? – Die beiden jüngsten Kinder weinten und jammerten mit, während er, Maracke, sich in seiner philosophischen Ruhe nicht stören ließ und, die Pfeife im Munde, schweigend zuhörte. Als der Wagen schon anzog, lief die Frau noch einmal in die Hofecke hinter dem kleinen Düngerhaufen. Sie hatte da noch einen eisernen Reifen entdeckt, der schon ganz verrostet war, und da er nicht mehr auf dem Wagen unterzubringen war, so hing sie ihn sich über die Schultern. Dann ging es los, der Einspänner voran, den Maracke, daneben herschreitend, führte, und hinterher, gleichfalls zu Fuß, Mutter Maracken mit ihren fünf Kindern. Ein paar Bauernweiber standen am Wege und nickten und riefen den Abziehenden einige Grußworte zu; mitten in dem verlassenen Hofe, wo von dem Komposthaufen eine kleine Dunstwolke aufstieg, aber hatte sich Albert Möller breitbeinig aufgepflanzt, eine Zigarre rauchend und behaglich lächelnd. Mit dem Abbruch der alten Baracken sollte sofort begonnen werden; dann kam der Neubau an die Reihe. Das ging rasch.

An diesem Tage hatte Hellstern seine erste Frühlingsausfahrt unternommen. Der Übergang vom Winter zum Lenz war immer die schlimmste Zeit für ihn. Er hatte sich wochenlang nicht aus dem [172]Zimmer rühren können; selbst die Einreibung der Tante Pauline versagte ihre Wirkung. Nun aber ging es besser. Hedda saß neben ihm im Wagen und sah durch das Fenster den Abzug der beiden Kossäten. Sie machte den Vater darauf aufmerksam, der die Gelegenheit wahrnahm, wieder einmal nach Herzenslust auf die Quelle zu räsonieren.

„Siehst du, Hedda,“ sagte er, „das sind die ersten – die ersten Opfer der neuen Kultur. Und andre werden folgen. Du bist jung – vielleicht erlebst du noch den Tag, da dieses Dorf, zu dessen Insassen wir seit zweihundert Jahren gehören, völlig vom Erdboden verschwunden sein wird. Dann wird es auch keine Bauern mehr hier geben, die bei allen Sorgen und Mühen um das tägliche Brot doch frei auf ihrer kleinen Hufe leben und wirtschaften konnten, sondern nur ein Volk von Krämern und Spekulanten, immer auf der Lauer liegend, wie den Besuchern dieses neuen Badeorts das Geld am besten und schlauesten aus der Tasche zu ziehen sei....“ Er zeigte, während er weitersprach, aus dem Fenster hinaus über das Dorf. „Sicher – es wird prachtvoll werden. Exzellenz Usen hat es damals bei Schellheims prophezeit. Der Erzengel der Industrie hält seinen Einzug in unser Tal – oder wie sagte er gleich? ... Die alten Hütten mit ihren Strohkappen werden niedergerissen, neue, schöne Häuser entstehen, mit Balkon und Stuckklecksereien und allem Komfort der Neuzeit und dem dazu gehörigen Schwindel. Ein Sanatorium wird errichtet, in dem man nach physikalisch-diätetischen Grundsätzen die Menschen zu Tode kuriert, und auf allen Straßen und Wegen sieht man Blutarme und Magenleidende und Neurastheniker, Zucker-, Darm- und Hautkranke, daß man seine Freude daran hat. Der Pastor baut uns seine Kleinkinderbewahranstalt dicht auf die Nase, damit wir das Gequarre der Göhren den ganzen Tag über hören können; wahrscheinlich wird auch noch elektrisches Licht eingeführt, [173]denn der Spektakel der Motoren ist nicht gering anzuschlagen – überhaupt werden mancherlei Fabrikanlagen nötig sein als Wahrzeichen des Fortschritts, und ihr Rauch und Qualm wird uns die Luft verstänkern. Es wird ganz großartig werden ...“

Hedda lächelte und antwortete nicht, und der Freiherr fuhr fort:

„Im Ernst, liebes Kind, der Abzug der beiden Kossäten dünkt mich symptomatisch und ist, möchte ich sagen, so eine Art Symbol. Das Alte muß dem Neuen weichen. Ich scherzte vorhin, wenn auch bitter. Die kleinen Unbequemlichkeiten, die der Triumphzug der Kultur den Einzelnen auferlegt, müssen ertragen werden. Aber wie die Kultur hier das Dorf ruinieren und die Gemeinde auflösen wird, das kann einem doch nahe gehen. Ich weiß, daß du mir antworten wirst: das ist nicht anders, die Kultur fordert immer Opfer zum Besten der Allgemeinheit – aber sind nicht auch diese Opfer bedauernswert? Es ist ein ganz guter Menschenschlag in unsrer Gegend, doch paß auf, wie man ihn verpfuschen wird! Die Möllers, die nur noch halbe Bauern sind, haben den Anstoß gegeben; sie werden auch gewinnen, aber die andern nicht, denen es auf der einen Seite an Kapital und an Intelligenz mangelt, während sie auf der andern von der gleichen Erwerbsgier erfaßt werden, wenn erst das Spekulationsfieber in ihnen erweckt ist. Lehr mich doch die Bauern kennen! Und dann: jeder an seinem Platz! Der Bauer ist nun einmal kein Kaufmann, und wenn ihn der Kommerzienrat und die Möllers dazu machen wollen, so nehmen sie ihm das Beste seines Charakters, die Solidität. Jawohl, liebe Hedda, denn da die vernunftgemäßen Grenzen kaufmännischer Spekulation böhmische Dörfer für ihn sind, so wird er sich, neidisch zusehend, wie die andern ihre Taschen füllen, einem gewagten Glücksspiel ergeben und schließlich untergehen. Ceterum [174]censeo – ich sehe durchaus kein Heil für unser Dorf in der ganzen Quellengeschichte.“

Der alte Freiherr stand mit seinem „Ceterum censeo“ allein. Auch Hedda teilte seine Ansichten nicht. Sie war in den letzten Monaten häufig mit dem Pastor zusammengekommen, für dessen humanitäre Pläne sie sich lebhaft zu interessieren begann. Eycken schwelgte in seiner Idee. In seiner warmherzigen Kinderliebe sah er eine neue Ära für die arme und leidende kleine Welt anbrechen, der er Hilfe bringen wollte – mit weit offenen Armen, wie sein großes Vorbild Christus, als er sprach: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht....“ Die Bücher blieben liegen; Luther, Melanchthon, Hutten und Eobanus Hessus hatten Ruhe. Eycken hatte Wichtigeres zu tun; nicht der tote Buchstabe lockte ihn diesmal, sondern die lebendige Liebe. Wie oben auf der Auburg so fanden auch im Pfarrhause im Januar und Februar verschiedene Konferenzen statt, Ärzte und Architekten trafen ein; es wurde beratschlagt, erwogen und gerechnet. Eycken wollte das Unternehmen allein ins Leben rufen; er hatte zwar auch mit dem Kommerzienrat über die neue Kinderheilstätte gesprochen, aber Schellheim hatte seinem Empfinden nach den Geschäftsstandpunkt zu stark in den Vordergrund gerückt. Und verdienen wollte Eycken nichts – Gott bewahre; er war schon zufrieden, wenn sich die Anstalt im Laufe der Zeit durch sich selbst erhielt, denn daß sie anfänglich starke Zuschüsse beanspruchen würde, war klar. Doch das ängstigte Eycken nicht; er war so reich, daß er tatsächlich nicht wußte, was er mit seinem Gelde beginnen sollte. Er brauchte wenig; seit einem Menschenalter hatte sich sein Vermögen Zins auf Zins gehäuft. Übrigens war ihm auch der Fiskus entgegengekommen und hatte ihm für den Bau der Anstalt die zum Kirchenland gehörige Wiesenparzelle zur freien Verfügung gestellt. Schließlich hatte sich Eycken auch [175]noch an den Johanniterorden gewandt, der die Protektion übernahm, sich verpflichtete, ein paar Pflegerinnen zu stellen, und Herrn von Wessels, den Landrat, zum leitenden Ritter ernannte.

Anfangs April standen bereits die Fundamente der beiden Logierhäuser Albert Möllers. Das Parterregeschoß des einen Hauses war für einen großen Kaufladen bestimmt, den Bertold mieten wollte. Vorläufig nur, denn sein heimliches Sehnen stand nach dem Gehöft Braumüllers, das dicht an der großen Landstraße und in unmittelbarster Nähe des Kurparks lag. Braumüllers Wohnhaus war sehr solide gebaut, stark unterkellert und hatte gewölbte Zimmer. Mit wenigen tausend Mark konnte man es wunderschön ausbauen, und wie prächtig eigneten sich die gewölbten Stuben, deren Wände man einfach ausbrach, zu einem eleganten Basar! Natürlich sollte man da alles haben können – ein riesiges Warenhaus schwebte Bertold vor, der jede Nacht davon träumte, wie er die Schaufenster schmücken würde, ein jedes anders, aber immer gleich „schenial“, wie sein Lieblingsausdruck lautete.

Klempt hatte sich lange gewehrt, ehe er sich dazu entschließen konnte, seine, die Buchenhalde begrenzende Wiesentrift zu verkaufen; der Erlös des Heus brachte ihm eine jährliche Rente, mit der er rechnen mußte – außerdem hing er auch an diesem Stückchen grüner Wiese, auf der er sich schon als Kind getummelt hatte, und an deren Rain entlang er noch heute seine Sonntagsspaziergänge zu machen pflegte. Vergeblich hielten ihm die Möllers vor, daß ihm die Zinsen des Kapitals, das sie ihm für die paar Morgen zahlen wollten, mehr bringen würden als der Heuertrag; schließlich legte sich auch noch der Kommerzienrat ins Mittel, denn die Wiese war ihrer Lage wegen wichtig – aber was auch er nicht vermochte, das setzte Dörthe durch. Fritz hatte sich hinter sie gesteckt. Es war ja lächerlich. Starb der Vater, so gehörte die Wiese ja doch der [176]Dörthe, und was der Dörthe war, war auch sein, da sie sich heiraten wollten. Und nun drang Dörthe auf baldige Hochzeit. Gewiß, antwortete Fritz, sobald einigermaßen Ordnung geschafft und die Sache in Gang gebracht worden sei; denn jetzt habe man den Kopf zu voll, um an Heiraten denken zu können, das müsse sie doch einsehen. Das sah sie auch ein, aber sie wollte wenigstens einen bestimmten Termin wissen. Um Weihnachten, meinte Fritz, da würde man wohl so weit sein. Und dann gab es noch Liebesworte in Hülle und Fülle, und am nächsten Tag erklärte sich der alte Klempt einverstanden, die Wiese abzugeben. Das Geld wurde auf die Sparkasse gebracht und für Dörthe festgelegt.

Der wenig günstige Gesundheitszustand ihres Vaters hatte Hedda abgehalten, ihren Plan, einen Wintermonat in der Residenz zu verleben, zur Ausführung zu bringen; zum soundsovielsten Male hatte die Berliner Tante einen Absagebrief erhalten und zum soundsovielsten Male mit immer denselben Worten darauf geantwortet: „Es tut mir schrecklich leid, liebste Hedda, daß –“ und so weiter. Der Freiherr hatte allerdings gewünscht, Hedda solle auf ihn keine Rücksicht nehmen und sich auch einmal eine „Ausspannung“ gönnen; im Grunde genommen aber war er herzensfroh, daß sie dennoch blieb – sie war ihm unentbehrlich geworden, und auch die Arbeit ging ihm viel flotter von der Hand, wenn sie neben ihm saß.

Eines Tages erschien ein Telegraphenbote auf dem Baronshofe. Das war an sich schon ein Ereignis. Hedda entsann sich nicht, daß sie jemals ein Telegramm in Empfang genommen habe, der Freiherr aber hatte vor achtzehn Jahren das letzte erhalten, das ihm den Konkurs eines Berliner Finanzgeschäfts ankündigte, mit dem er in Verbindung gestanden, und das ihm deshalb in recht unangenehmer Erinnerung war. Am meisten regte jedoch August die Depesche auf, der die Botenfrau im [177]Vordergarten abfing, wo er mit Dörthe die Wege harkte.

„Eine Depesche für den Herrn Baron,“ sagte die Botenfrau.

„Allmächt’ger Gott,“ rief August, „eine Depesche! – Dörthe, eine Depesche!“

Dörthe trat näher und betrachtete mit Furcht und Erstaunen das zusammengelegte Papier mit der blauen Marke auf der Rückseite.

„Eine Depesche!“ stammelte sie und faltete unwillkürlich die Hände.

„Dörthe, das bedeutet ein Unglück,“ fuhr August mit Überzeugung fort. „Wie kommt denn eine Depesche hierher, frag’ ich dich bloß!“ Und er schaute Dörthe dabei fast drohend an, als ob sie ihm verheimlichen wolle, wie die Depesche hierher käme. Dann ging er unter beständigem Kopfschütteln in das Herrenhaus.

„Eine Depesche, gnädiges Fräulein,“ sagte er zu Hedda, die in der Speisekammer zu tun hatte.

Hedda fuhr erschreckt zu ihm herum: „Eine Depesche?!“ rief sie. „Nanu?!“

August nickte. „Das habe ich auch gesagt, gnädiges Fräulein. Wenn das man bloß kein Unglück gibt!“

Nun berieten sie, ob man das Telegramm öffnen solle, um dem Freiherrn die Aufregung zu ersparen. August war dafür. „Man kann nicht wissen, was drin steht, gnädiges Fräulein,“ meinte er. „Einer Depesche ist nicht zu trauen. Das kann alles mögliche sein.“ Aber Hedda schüttelte schließlich energisch den Kopf. Das Telegramm war an den Vater gerichtet, und da ging es nicht an, daß man es erbrach.

„Vater,“ sagte sie, von August gefolgt in das Arbeitszimmer des Alten tretend, „erschrick nicht: es ist eine Depesche angekommen.“

„Nanu?!“ erwiderte der Baron, genau so wie vorhin Hedda, und August nickte dazu: dieses „Nanu“ entsprach ganz seiner Auffassung.

[178]Hellstern erbrach das Papier und las erst die Unterschrift.

„Von Axel, Hedda. Und fünf Zeilen lang. Das soll was heißen ...“ Er las vor: „Bitte um die Erlaubnis, Euch auf ein Retourbillet besuchen zu dürfen. Wenn keine Antwort erfolgt, bin ich Sonnabend mittag in Zielenberg. Wagen unnötig, nehme dort Extrapost. Freue mich herzlich darauf, Euch kennen zu lernen, und grüße Dich und die Cousine.

Euer Vetter

Axel Hellstjern.“

Er ließ das Papier sinken. „Was sagst du dazu? – Sonnabend – das ist morgen.“

Hedda hatte einen roten Kopf bekommen.

„Aber, Papa, das ist ja ganz unmöglich,“ antwortete sie. „Morgen schon – und es ist nichts in Ordnung! Telegraphiere zurück, er möchte erst in acht Tagen kommen.“

„Ja, aber wohin denn?! Axel hat vergessen, seine Adresse anzugeben.“

„An die schwedische Gesandtschaft in Berlin.“

„Ach nein, Hedda, das geht nicht. Ich meine, das wäre unliebenswürdig. Ich bin Axel in gewisser Weise Dank schuldig. Lassen wir es nur bei morgen. Er muß sich sagen, daß er bei uns keinen weltstädtischen Komfort findet. Das Dach ist ja repariert – es regnet im Fremdenzimmer nicht mehr durch. Bringe die Stube in Ordnung und sorge für etwas opulentere Mahlzeiten in den nächsten Tagen. Wein ist noch genug da. Komm her, mein Kind, und gib mir einen Kuß! So – und nun sei verständig!“

Das war leicht gesagt: verständig sein. Herrgott, was war nicht noch alles zu tun bis morgen mittag! Aber Hedda behielt den Kopf oben; sie entwarf einen Feldzugsplan. Zunächst mußte Dörthe die Tante Pauline zum Helfen holen. Dann wurde im Fremdenzimmer „groß rein gemacht“ – das [179]heißt in dem einzigen der sogenannten Fremdenzimmer, das leidlich möbliert war. Es lag im ersten Stock, nach Süden hinaus, und war ein großer, freundlicher Raum. Ströme von Wasser flossen über die Dielen; Dörthe und Tante Pauline schrubberten und scheuerten, daß ihnen der Schweiß von der Stirn floß. Währenddessen beschäftigte sich Hedda damit, frische Gardinen anzustecken. Sie opferte auch ihr eignes Waschservice, das sehr hübsch war: weiß mit rosa Streublümchen und rotem Rande. Gottlob, daß das Bett gut war – ein altes, ungeheuer großes Bett, noch aus dem Anfang des Jahrhunderts stammend, mit geschweiften Beinen und naiver Schnitzerei. Zuletzt ging es an das Wohnlichmachen des Zimmers. Die Tische erhielten saubere Decken, das Sofa wurde mit einer Schlummerrolle geschmückt. Nur mit der Bilderzier war es eine schlimme Sache. Die eine Wand war noch ganz leer. Da entsann sich Hedda, daß in der früheren Räucherkammer, in der man allerhand altes Gerümpel aufzubewahren pflegte, noch ein Ölbild stand. Es schien dorthin zu gehören, denn es sah wirklich ganz verräuchert aus und stellte, soweit es erkennbar war, einen Herrn in ritterlicher Tracht dar. Der Papa glaubte, es sei irgend ein Vorfahre; das hatte gewiß Interesse für Axel. Das Bild wurde hervorgesucht, abgestaubt, gewaschen und geseift und an die leere Wand gehängt. Trotz aller Reinigungskünste sah es so dunkel wie vordem aus, aber es machte sich dennoch ganz hübsch. Nur Tante Pauline meinte, es sei ein „greuliches Gesicht“; sie würde in diesem Zimmer nicht schlafen können. Hedda war jedenfalls zufrieden; morgen früh kamen noch Veilchen, ein paar blühende Pirus- und Pfirsichzweige und etwas Grün in die Vasen und Gläser – dann war das Zimmer behaglich und traulich.

Nachdem dies getan war, kam die Rücksprache mit der Köchin an die Reihe. Das war schon verwickelter. August mußte am Nachmittag noch nach [180]Zielenberg zum Schlächter fahren; außerdem mußten zwei Hennen und eine Ente ihr Leben lassen – die letztere wurde in Aspik gelegt. Die Konserven und das Eingemachte wurden revidiert und auch der Weinkeller einer Prüfung unterzogen. Er war noch am besten assortiert. In einer Ecke lagen aus früheren Tagen her sogar noch ein paar Dutzend Flaschen vortrefflichen Johannisbergers, auch eine Flasche Champagner war noch da, aber der fehlte das Etikett. Der Baron konnte Hedda keinen Aufschluß darüber geben, welche Marke sie enthalte, doch neigte er der Ansicht zu, es werde wohl Grüneberger Landkarte sein, und es sei auch fraglich, ob der Wein noch moussiere, denn seiner Erinnerung nach rühre die vergessene Flasche noch von Heddas Taufe her.

So war denn alles in Ordnung, und man konnte der Ankunft des Vetters aus Schweden mit einer gewissen Ruhe entgegensehen. Axel brachte schönes Wetter mit. Es war ein wonniger Frühlingstag, sonnig und linde, mit einem zarten, weißen Wolkenschleier am Himmel, der die Sonne wie ein Spitzenschal umgab. Im Parke war schon alles grün; der Rasen glänzte smaragden, und die Junirosen hatten ihre großen Blätter bereits voll entfaltet.

Hedda sah unaufhörlich nach der Uhr. Sie war etwas in Unruhe und zweifelhaft geworden, ob es dem fremden Vetter auch auf dem Baronshofe gefallen werde. Seit einer halben Stunde ging sie vor der Veranda auf und ab, den Wagen erwartend, denn da der Zug wenige Minuten nach zwölf in Zielenberg eintraf, so konnte die Post jeden Augenblick durch den geöffneten Torweg einfahren.

August teilte die Unruhe seiner Herrin. Hedda hatte auf seinen blauen Livreerock einen neuen roten Kragen gesetzt und ihm anbefohlen, beim Servieren weiße Handschuhe anzuziehen. Und davor ängstigte sich August. An das Servieren mit Handschuhen war er nicht gewöhnt. Er hatte es ein paarmal [181]probiert, aber auf der glatten Wolle rutschten die Teller immer aus. Das Herz zitterte ihm, wenn er an das Diner dachte.

In der Ferne ließ sich – ein seltener Klang – das fröhliche Schmettern eines Posthorns vernehmen. Das war er! Hedda stürmte in das Haus zurück, den Alten zu rufen.

„Schnell, schnell, Vater – er kommt!“

Der Baron, in seinem langschößigen Rock und in der schwarzen Halsbinde wie ein Veteran von 1806 aussehend, hinkte an seinen Krückstöcken auf die Veranda – in dem Augenblick, da der Postwagen vorfuhr.

Es war eine sogenannte Beichaise, ein geschlossenes Coupé, und hinter dem hochgezogenen Fenster des Wagens sah Hedda ein schmales, blasses, freundliches Gesicht und eine ihr zuwinkende Hand in braunem Wildleder.

August riß den Schlag auf, und Baron Axel stieg vorsichtig aus, mit dem Fuße nach dem Trittbrett angelnd.

„Tag, Cousine!“ rief er ihr dabei entgegen, mit leicht fremdartiger Betonung des Deutschen, „Tag, Onkel Frederic! Kinder, wie ist das hübsch bei euch! Kinder, wie freu’ ich mich!“

Seine Begrüßung war sehr warmherzig. Hedda hatte sie steifer und formeller erwartet, sich überhaupt, trotzdem sie eine Photographie des Vetters kannte, ein ganz andres Bild von Axel entworfen. Er war sehr groß, größer als der Vater, aber schmalschulterig und ging leicht vornüber geneigt. Das bleiche Gesicht zeigte vornehme Züge, sah jedoch ein wenig abgespannt und müde aus. Auf der rechten Wange zeichnete sich eine feine Hiebnarbe blutrot ab. Ein langer, weißblonder Schnurrbart sproßte auf der Oberlippe; auch das Haar war weißblond und dünn, aber geschickt gescheitelt und über den Kopf verteilt. Aus den hellen blauen Augen blickte viel Gutmütigkeit. Axel trug ein Monocle [182]ohne Band, ein großes, rundes Glas, ständig in die linke Augenhöhle geklemmt. Seine Kleidung war ausgewählt elegant, besonders fiel Hedda der Sitz der Stiefel auf den sehr kleinen Füßen auf.

August führte den Gast zunächst auf sein Zimmer, und dann ging man sofort zu Tische. Axel fand alles „reezend“ (er sprach das ei gern als e aus), besonders das verräucherte Ahnenbild interessierte ihn sehr.

„Aber irgend eine Ähnlichkeit mit den Porträts in Jarlsberg kann ich beim besten Willen nicht herausfinden,“ sagte er. „Freelich, da sind eenige fünfzig – in eener unendlich langen Galerie, in der man getrost eene Steeplechase veranstalten könnte – ach, Cousine, es ist schade, daß du Jarlsberg nicht kennen lernst – das würde dir gefallen ...“ Und er beschrieb das alte Schloß, das hoch oben in Schweden auf einem Felsenvorsprung, der Lofotengruppe gegenüber, lag, umschäumt und umrauscht von den Wellen, eine kolossale Burg, deren Grundmauern noch aus dem vierzehnten Jahrhundert stammten, und an der acht Generationen gebaut hatten. „Ich mit,“ fügte Axel hinzu, „und es hat mich Mühe genug gekostet, in die riesigen Zimmerfluchten eine gewisse Wohnlichkeet zu bringen, denn Vater und Großvater lebten lieber in Stockholm und mehr noch in Paris als auf dem einsamen Stammschlosse. Aber seht ihr, für mich hat es einen besonderen Reez, da oben zu hausen, mutterseelenalleen, und es tut mir von Herzen leed, daß mir der Arzt das rauhe Klima verboten hat. Ich muß nämlich een bißchen – een bißchen vorsichtig seen,“ schloß er, und gleichsam als Bekräftigung dieser Äußerung befiel ihn zum Schrecken Heddas ein langer und trockener Husten, den er vergeblich niederzukämpfen sich mühte.

Er hatte sich abgewendet und hielt sein Taschentuch vor den Mund. Der Husten erschütterte seinen ganzen Körper, so daß er nach Luft ringen mußte, als der Anfall glücklich vorüber war.

[183]„Schauderhaft,“ sagte er endlich. „Ich habe mich vor zwee Jahren auf der Bärenjagd erkältet und kann mich seetdem nicht wieder so recht erholen. Ich will deshalb auch den Abschied nehmen und een paar Jahre im Süden verleben. Vielleecht wird’s da unten besser ... Und nun, Onkel Frederic – wie steht’s mit der Chronik? Hast du dich durch die alten Urkunden durchfinden können?“ –

Hedda war sich noch nicht ganz klar über den Vetter; sie schwankte noch in ihrem Urteil. Jedenfalls war er ein vollendeter Gentleman und jedenfalls ein sehr kranker Mensch, mit dem man Mitleid haben mußte. Er hatte ein liebes, sympathisches Gesicht, und die ganze Art seines Sichgebens war frei, herzlich und natürlich. Es zeigte sich auch, daß Axel über eine feine und umfassende Bildung verfügte; er war viel in der Welt herumgekommen, beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen und war erstaunlich belesen, so daß Hedda im Gespräche mit ihm zu öfterem ein gewisses Schamgefühl über ihren eignen Mangel an Wissen überschlich.

Den ganzen Nachmittag über blieb Axel mit dem Freiherrn in dessen Arbeitszimmer, um den vollendeten Teil der Chronik durchzugehen. Erst beim Abendessen traf Hedda wieder mit ihm zusammen. Sie ärgerte sich im stillen über die Appetitlosigkeit ihres Gastes; was hatte man für Umstände gemacht, und nun aß er fast gar nichts! Mit dem Trinken war es ebenso; er bevorzugte Zitronenwasser ohne jeden Beisatz von Zucker – brrrr, dachte sich Hedda, und das will ein verwöhnter Weltmann sein! Aber seine scharmante Liebenswürdigkeit blieb immer die gleiche. Er sprach viel und ungemein anregend, oft sprunghaft das Thema wechselnd, doch stets interessant; dabei nahm auch sein Gesicht eine lebhaftere Färbung an, und um so stärker fiel die Abspannung seiner Züge auf, wenn er einmal eine Pause in der Unterhaltung eintreten ließ. Gelegentlich fragte ihn Hellstern nach der Ursache der Narbe auf seiner [184]rechten Wange; er vermutete, sie rühre von einem Schmiß aus der Studentenzeit Axels her. Doch Axel erzählte freimütig, er habe die Wunde in einem Duell empfangen – vor sieben oder acht Jahren, in Brüssel, wo er für die Gattin eines Grafen Soundso mehr Interesse gezeigt habe, als dem Ehemann lieb gewesen sei. Jetzt sei er über derlei Dummheiten hinaus.

Axel zog sich übrigens frühzeitig zurück. August mußte mit auf sein Zimmer gehen, ihm beim Auskleiden zu helfen, und er schilderte späterhin in der Küche mit beredten Worten, welche Geheimnisse die Garderobe des Herrn Vetters barg. Da waren eine Unmasse Flaschen und Kapseln mit silbernen Köpfen, alle gefüllt – „weiß der Deubel, mit was“ –, die mußten vor dem Spiegel aufgestellt werden. Und die Hosen wurden in einen Bügel gezwängt, der sie auseinanderspannte, damit sie auch die richtige Form behielten, und in die Stiefel kamen aus dem gleichen Grunde hölzerne Blöcke mit silbernen Ringen hinein, und die Nachthemden waren aus purer Seide. „So was hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen,“ schloß August, und als Dörthe fragte, ob die Nachthemden auch wirklich aus Seide gewesen wären, sagte er: „Auf Ehre, aus purer Seide; ich hab’ sie befühlt.“

Hedda blieb, nachdem Axel gute Nacht gewünscht hatte, noch ein halbes Stündchen bei ihrem Vater sitzen. Es drängte sie, ihre Eindrücke über den Gast mit ihm auszutauschen.

„Wie findest du den Axel?“ fragte sie. „Er ist schwer leidend, nicht wahr?“

Der alte Herr nickte.

„Ich glaube auch; er verbirgt’s zwar gern, aber ich halte den armen Kerl für schwindsüchtig. Und da ist mir etwas eingefallen, Hedda, woran ich vorher noch gar nicht gedacht hatte. Wer bekommt denn das ganze Geld und die Güter in Schweden und die alte Burg den Lofoten gegenüber, wenn der Axel einmal unverheiratet sterben sollte? Ich gönne [185]ihm, weiß Gott, noch ein langes Leben, aber schließlich, des Herrn Wille ist unerforschlich – und Axel sieht nicht so aus, als ob er das Hellsternsche Alter erreichen würde. Na, da habe ich denn am Nachmittage vorsichtig einen Fühler ausgestreckt, ob er noch irgend welche Verwandte hat, von denen der Freiherrnkalender nichts weiß. Und es ist wirklich so. Stirbt er ohne Nachkommen, dann fällt sein ganzer Besitz einem Vetter zu, der in der englischen Marine dient, und den er wie die Pest haßt. Er hat einmal irgend einen argen Zank mit ihm gehabt; nach seinen Schilderungen muß es ein gräßlicher Kerl sein. Nun frage ich dich, ist das nicht schandbar?“

„Weshalb?“ entgegnete Hedda harmlos.

„Schlaukopf – weshalb? Wären wir nicht ebenso geeignete Erben wie dieser unausstehliche Vetter in der englischen Marine?“

Hedda lachte.

„Ich zweifle nicht daran,“ entgegnete sie, „daß wir uns als Erben in der Tat ebensogut und vielleicht besser ausnehmen würden. Aber deinen Ärger versteh’ ich trotzdem nicht recht, Vater. Du sagst ja selbst, daß du nie an die Möglichkeit gedacht hättest, je einmal von Schweden aus berücksichtigt zu werden –“

„Vorher nicht,“ fiel der Alte ein; „aber jetzt liegt die Sache doch anders.“

„Ich wüßte nicht inwiefern, gestrenger Herr Vater.“

Der Freiherr überhörte die letzte Äußerung. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute sinnend und melancholisch, mit leisem Seufzer, zu Hedda hinüber.

„Schade, daß der Axel so ’n armer, kranker Teufel ist,“ sagte er.

„Ich bemitleide ihn auch, und von ganzem Herzen –“

„Denk mal, was das für eine Partie für dich gewesen wäre!“

[186]Hedda fuhr betroffen auf; dann lachte sie wieder: „Willst du mich denn so absolut los sein, Papa?“

„Unsinn! Du weißt recht gut, daß ich dich am liebsten immer bei mir und um mich behalten möchte – weißt’s recht gut! Aber ’mal muß ich mich doch mit dem Gedanken vertraut machen, dich abzugeben – lieber Gott, das ist doch nun einmal das Schicksal der Töchter! Glaube nicht, daß ich gar so selbstsüchtig bin; ich habe mir über deine Zukunft schon manchmal meine Gedanken gemacht. Jahr um Jahr vergeht, und du sitzest hier auf dem Baronshofe und lernst keinen vernünftigen Menschen kennen –“

„Erlaube, Papa –“

„Na ja, ich meine, keinen, der sich für dich eignen würde. Mit dem Gunther von da drüben war es doch nichts! Es ist eine niederträchtige Geschichte. Ich ärgere mich, daß ich dich nicht doch noch zu Tante Jutta nach Berlin geschickt habe. Es sollen sehr nette Leute bei ihr verkehren.“

„Trotzdem ist es fraglich, ob mir einer von ihnen gefallen hätte.“

„Lieber Himmel, du kannst doch nicht alte Jungfer werden?!“

Hedda erhob sich und gab dem Alten einen Kuß.

„Ängstige dich nicht meinetwegen, Vater,“ sagte sie heiter. „Das Heiraten gehört freilich sozusagen zum weiblichen Beruf, aber es gehören auch immer zwei dazu. Finden sich die nicht zusammen, dann muß man sich zu trösten suchen. Und das werde ich tun – wenn es nicht anders ist. Nun schlaf wohl und verträume die ernsten Gedanken!“

Sie strich ihm über die Stirn und klingelte nach August. –

Als Hedda am folgenden Morgen aufgestanden war, fand sie Axel bereits im Parke vor. Er kam ihr mit fröhlichem Lachen entgegen.

„Du wunderst dich über mein Frühaufstehen,“ sagte er, ihr die Hand reichend. „Das ist aber nichts weeter als eine Folge des Frühschlafengehens, Hedda. [187]Ich bin etwas nervös und an kurzen Schlummer gewöhnt. Vier Stunden genügen mir, oft auch nur dree. Sieh, wie herrlich der Morgen ist!“

Das war er. Es strömte ein würziger Frühlingshauch durch den Park, der Odem der Verjüngung und Auferstehung. Tau schillerte auf Gräsern und Halmen, und auf den sprießenden Wiesen keimte schon der erste wilde Blumenflor empor. Die Erlen und Weiden am Weiher setzten Kätzchen an; die Essigbäume umkleideten sich mit goldbraunem Flaum. Auch an dem Christusdorn brachen bereits zartgrüne Knöspchen auf, und die Fliederbosketts standen in frischem Blätterschmuck.

Hedda fragte, wie Axel geschlafen habe. Seine gewohnheitsgemäßen drei Stunden gut, antwortete er; nicht einmal der Geist des verräucherten Ahnherrn habe ihn gestört. Und von Beginn des Frühdämmerns an, wo seine Schlummerzeit um sei, habe er dem Erwachen der Natur gelauscht. Die Sperlinge hätten angefangen und dann die jungen Schwalben in ihrem Nest dicht unter dem Fenstersims. Hierauf hätten sich die Krähen in den Birken zu rühren begonnen, eine außerordentlich lebhafte Gesellschaft, die dem Aufgang der Sonne mit großem Geschrei entgegensehe; auch ein Storch müsse sich in der Nähe angesiedelt haben, dessen Klappern Axel deutlich gehört haben wollte. Schließlich kam das Geflügel auf dem Wirtschaftshof an die Reihe, zuerst undeutlich, denn das Viehzeug war noch in seinen Ställen eingesperrt. Aber man hätte doch schon die verschiedenartigen Organe unterscheiden können: das dumpfe Krähen der Hähne, das Glucken der Hennen, das Schnattern der Gänse und Enten. Dazwischen zuweilen den sanft mahnenden Brüllton einer Kuh, ein Pferdewiehern und im Verein mit melodischem Kettenklirren das Anschlagen des Hofhundes. Endlich erwachte auch der Mensch. Man hörte die Pumpe arbeiten – sie müsse einmal geölt werden, sagte Axel – und dann das Öffnen verschiedener [188]Türen, und nun hätten sich die sämtlichen Stimmen zu einem gemeinsamen Konzerte vereinigt. Doch immer habe das helle Schmettern der Hähne das Leitmotiv angegeben ...

Hedda amüsierte sich sehr über diese Schilderung. Sie fand, daß der Vetter heut ungleich frischer, wohler und jünger aussah als gestern. Sie fand auch, daß er ein eigentümlich feines und zartes Gesicht habe, mit hellen, strahlend blauen Augen und einem Spinnennetz winziger Fältchen darunter, das aber merkwürdigerweise durchaus nicht entstellend war. Was ihr indessen am meisten auffiel, war die intensive Blutfarbe seiner Lippen. Er war bereits fertig angezogen, nur trug er statt des Rocks ein Morgenjackett aus bräunlichem, gestepptem Eskimo. Er sah sehr elegant aus, trotz seiner langen, etwas schwippen Figur und seiner schlechten Haltung.

Sie kehrten zusammen in das Haus zurück, wo der Freiherr bereits am Teetisch saß und ungeduldig auf die beiden wartete. Trotz des Frühlingstages brannte Feuer im Kamin, und das konnte man in dem großen Saale schon vertragen. Die Scheite knisterten und knackten, und die Flammen zuckten hin und her.

Während des Frühstücks fragte Axel seinen Gastgeber aus. Er sei neugierig und wolle alles wissen, sagte er, was für den Baronshof von Interesse sei. Hedda und der Alte begannen zu erzählen, namentlich der Alte nahm die Gelegenheit wahr, einmal sein Herz auszuschütten. Er schilderte den jahrelangen verzweifelten Kampf, den er um seine Scholle geführt hatte, aber schließlich sei sie nicht mehr zu halten gewesen. Übrigens sprach Hellstern vernünftig und ruhig. Er schimpfte nicht auf die „Handelsverträge und das römische Recht“ und vermied die landläufigen Phrasen. Er war der Meinung, daß man heutzutage bei der Landwirtschaft nur dann etwas erübrigen könne, wenn man für alle Fälle Kapitalien hinter sich habe. Man müsse den Schwankungen [189]der Preise Trotz bieten, müsse auch Courage und die nötigen Mittel haben, um einmal eine Neuerung wagen zu können. Zum Beispiel der alte Usen auf Karstädt – was habe der aus seiner Herrschaft gemacht! Ein geiziger Mann, der die niedrigsten Löhne zahle und seine Leute wahrhaft aussauge, aber für das Land sei ihm nichts zu teuer. Sein Maschinenapparat sei ein wahres Wunder. Und all das lohne sich; die geopferten Gelder seien nicht fortgeworfen. Aber man müsse sie eben haben – und er, Hellstern, hatte sie nicht. Damals, wie die Hellsterns aus Schweden herübergekommen, waren sie reiche Leute gewesen, aber wo war der Mammon geblieben? Verpulvert, verschleudert, vergeudet – „adjö!“ ... Daß die Landwirtschaft gute Erträgnisse abwerfe, wenn man reichlichen Hinterhalt habe, um nachfeuern zu können, sehe jetzt selbst die Finanz ein. Alle reichen Juden kauften sich Güter ...

Axel hatte schweigend zugehört, und als Hellstern zu Ende war, bat er sich von Hedda noch ein Stück Streuselkuchen aus, der ihm zu Ehren gebacken worden war, und den er als delikat bezeichnete, und sagte sodann:

„Es ist jedenfalls jammerschade, daß du dein Besitztum verkauft hast, Onkel Frederic. Ich verstehe dich nicht, daß du dich damals nicht an mich gewandt hast – ich hätte dir doch so gern geholfen.“

Der Freiherr schüttelte den Kopf.

„Du standst mir zu fern, Axel,“ erwiderte er. „Und dann lagen auch schon überreichlich Hypotheken auf dem Gut. Es wäre Unsinn gewesen, noch weitere Versuche zu wagen. Ich bin froh, daß ich den Baronshof behalten konnte und dabei noch mein leidliches Auskommen habe. Kommerzienrat Schellheim hat freilich gewaltig geschachert, aber ein andrer hätte vielleicht noch weniger gezahlt. Schließlich bin ich ganz zufrieden.“

Man erhob sich. Axel schlug einen Spaziergang vor, und Hedda war einverstanden.

[190]Sie gingen durch das Dorf. Für alles zeigte der Vetter Interesse. Hedda mußte ihm von der Quelle erzählen. Der neuschaffende Einfluß des Heilwassers machte sich bereits überall bemerkbar. Die Dorfstraße wurde gepflastert; Scharen von Arbeitern klopften und hämmerten; es klang und gellte durch die frische Morgenluft. Am Kruge wurde ein neuer Flügel angebaut. Die alte Inschrift: „Gastwirtschaft von C. Möller“ war längst übertüncht worden; Riesenbuchstaben, schwarz mit Goldrand: „Hotel Möller“, sollten sie ersetzen. Die Logierhäuser Alberts stiegen in die Höhe; überall regten sich fleißige Hände.

Axel wollte auch den „Kurpark“ sehen. Man rodete und pflanzte noch. Die Natur kam hier den Gärtnern wesentlich zu Hilfe. Der junge Buchenwald war wunderschön, und die humusreiche Erde ermöglichte leicht die Anbringung hübscher Bosketts. Der Kommerzienrat hatte es aber noch vornehmer haben wollen. Auch exotische Pflanzen sollten dabei sein, Palmen, Agaven und dergleichen mehr, und so wurde denn nach der Wiese zu ein Treibhaus errichtet, zur Aufbewahrung der Seltenheiten während der kälteren Jahreszeit.

Zahlreiche Menschen waren auch im Kurparke tätig. Plötzlich neigte Hedda grüßend den Kopf; sie hatte den Kommerzienrat entdeckt. Seit der verfehlten Werbung Gunthers war eine Entfremdung zwischen den Insassen des Baronshofs und des Auschlosses eingetreten. Man besuchte sich nicht mehr. Nun aber schritt Schellheim Hedda mit verbindlichem Lächeln entgegen, lüftete seinen Hut und reichte ihr die Hand. Sie stellte Axel vor.

„Freue mich sehr,“ sagte der Kommerzienrat. „Sie lernen die Entstehungsgeschichte eines neuen Bades bei uns kennen, Herr Baron. Herr Baron sprechen doch Deutsch?“

„Gewiß,“ erwiderte Axel; „nur mit dem Akzent geht es zeetweelig noch nicht so recht. Das interessiert [191]mich alles sehr, Herr Kommerzienrat. Das ist sozusagen ein Stückchen Kulturgeschichte. Wird das da drüben ein Pavillon, wenn ich fragen darf?“

„Nein,“ entgegnete Schellheim, „das wird der Quellenbau. Wenn die Herrschaften gestatten, führe ich Sie ein wenig umher. Wie geht es dem Herrn Papa, gnädigstes Fräulein?“

Hedda dankte; sie fragte nach dem Befinden der Rätin, auch unbefangen nach Gunther. Das schien Schellheim zu freuen; er wurde ausführlich. Gunther war noch immer in Montreux; seine große Arbeit ging dem Abschluß entgegen.

„Ein neues Kapitel zur Faustforschung, gnädiges Fräulein –“

„Ja – ich weiß, Herr Kommerzienrat –“

„So – Sie kennen das Thema? Der Pastor ist ganz begeistert; Gunther hat ihm die ersten Bogen geschickt. Es muß etwas Eigenes sein, dies Grübeln und Forschen und Suchen – ein Glücksgefühl, das unsereiner gar nicht kennt, nicht einmal begreift ... Also dies wird der Quellentempel –“

Und Schellheim begann zu erklären. Den Anfängen nach zu urteilen, mußte man mit großen Mitteln wirtschaften. Der Quellenbau bestand aus Marmor und Schmiedeeisen; ein bekannter Berliner Architekt hatte den Entwurf geliefert. Auch die Wandelhalle war eine elegante und luftige Eisenkonstruktion. Hier und da wurden zwischen den Bosketts Statuen und an den Endpunkten der Laubengänge Ruhesitze errichtet. Künstliche Felspartien wurden geschaffen und ein ganzes Parterre hochstämmiger Rosen. Vom Brunnen aus zog sich eine Art Boulevard quer durch den Park. Hier waren zwei Reihen Buchen stehen geblieben, eine prächtige Allee bildend. Die ehemalige Klemptsche Wiese sollte die Spielplätze hergeben, für Lawn Tennis, Croquet und Golf, auch an eine Radfahrbahn dachte man. Die Chaussee war belebt. Wagen auf Wagen rollte heran, mit Bauholz, Eisen und [192]Steinquadern bepackt, dazwischen ganze Fuhren von gelbem Kies. Für die Arbeiter waren in den sogenannten „Sandkuhlen“ der Grauen Lehne Baracken errichtet worden; Fritz und die alten Möllers hatten die Verpflegung der Leute übernommen. Neben dem Kommerzienrat sah man überall die schlanke Gestalt Alberts. Er war der erste auf dem Platze und verließ ihn als letzter. Seine Tätigkeit war erstaunlich; es zeigte sich, daß er ein ganzer Geschäftsmann war und trotz seiner Halbbildung ein Organisationstalent erster Ordnung. Gegen Schellheim war er von kriechender Unterwürfigkeit, und wenn er mit den Seinen allein war, schimpfte er auf ihn. Anfänglich hatte er viel schlaflose Nächte gehabt; der Gedanke, daß der Kommerzienrat ihn übervorteilen könne, beunruhigte ihn maßlos. Und dann hatte er wieder darüber gegrübelt, wie man sich Schellheims am bequemsten entledigen könne, wenn alles „fertig sei“. Schließlich aber hatte er sich gefügt. Es ging nicht anders. Schellheim war nicht mehr los zu werden, war auch nicht zu entbehren. Die Gesellschaft war gegründet; an ein gegenseitiges Betrügen war nicht zu denken. Dennoch betrachteten sich beide mit einem gewissen Mißtrauen.

Hedda erschien das rastlose Leben und Treiben in und um Oberlemmingen wie ein Traumbild. Sie dachte an die Prophezeiungen ihres Vaters. Es sah wirklich so aus, als werde das Dorf vom Erdboden verschwinden. Die Einrichtungen, die man traf, berücksichtigten Tausende von Badegästen. Wo sollten diese Menschen wohnen? – Die Wohnungsfrage war in der Tat erst in der Lösung. Man wollte sich damit nicht übereilen. Auf dem Möllerschen Terrain ließ sich eine ganze Reihe von Logierhäusern errichten. Spekulanten aus Frankfurt hatten bereits Bauplätze gekauft, auch der Getreidehändler Ring aus Zielenberg, der Schwiegervater Bertolds, begann zu bauen. Und dann [193]unterhandelte man noch mit Raupach und Thielemann, deren Gehöfte in der Nähe der großen Landstraße lagen. Am wichtigsten war freilich Braumüller, doch der hatte bisher jedweder Lockung widerstanden. Er war ein schlauer Patron; die Preise mußten noch ganz anders in die Höhe gehen. An seinem Zaun stand ein alter Akazienbaum, der den Kommerzienrat ärgerte, weil er die Aussicht auf den Boulevard störte. Schellheim beauftragte Albert, den Baum zu kaufen und fällen zu lassen. Braumüller forderte fünfzig Taler. Albert erklärte das für eine Gemeinheit; das Holz sei nicht fünf Taler wert. Dann solle der Baum stehen bleiben, gab Braumüller zurück. Die beiden handelten auf Tod und Leben, vier Wochen hindurch. Jeden Abend erstattete Albert dem Kommerzienrat Bericht. Braumüller blieb lachend bei seiner Forderung, und schließlich sagte Schellheim wütend zu Albert: „Zahlen Sie dem Kerl die fünfzig Taler – der Teufel soll ihn holen, den Gauner!“ Braumüller strich die fünfzig Taler ein, ohne daß ihn der Teufel holte, und betrank sich am Abend, so daß ihn zwei Knechte nach Hause tragen mußten.

Das zukünftige Hotel Möller war nicht mehr für die Bauern da. Fritz hatte den Stall, in dem die Schankstube provisorisch untergebracht worden war, ausbauen lassen; das war jetzt der Krug. Die Bilder von Friedrich Wilhelm IV. und der Königin Elisabeth waren mit herübergekommen. Es war wie eine Revolution. Die alte Möllern weinte zuweilen; sie sah nichts Gutes darin, daß alles so fein und so vornehm wurde. –

Hedda war mit Axel den Döbbernitzer Weg hinabgegangen. Auf Schritt und Tritt machte sich der Anbruch der neuen Ära bemerkbar. Auch drüben auf dem Kirchenland, jenseits der Barbe, arbeiteten die Leute. Man sah die ragende Gestalt des Pastors unter ihnen und seinen wehenden weißen Bart. Mitten in der Tannenschonung wurde ein großer [194]Platz freigelegt; dorthin sollte das Kinderasyl Eyckens kommen. Ein hoher Mastbaum überragte das Schwarzgrün der Tannenwipfel, mit einer flatternden Fahne, die ein achtspitziges Kreuz trug, hinweisend auf die Protektion des Ordens von Sankt Johannes vom Spital zu Jerusalem, unter dessen Hut die neue Kinderheilstätte stehen würde.

Hedda fragte Axel, ob ihn der weite Spaziergang nicht anstrenge. Sie hatte ihn wieder zu öfterem husten hören. Aber er verneinte; er fühle sich sehr wohl und auch sehr glücklich.

„Ja – sehr glücklich, Cousine,“ wiederholte er. „Ist es der Reez des Neuen oder die frische Landluft oder die Freude, einmal mit lieben Verwandten zusammen sein zu können – ich kann dir nur sagen: ich fühle förmlich, wie mir das Herz auftaut – ich spüre selbst so etwas wie Frühling in meiner Brust! Das ist mir lange nicht passiert – und ich danke dir und dem Onkel wirklich aufrichtig dafür, daß ihr mir gestattet habt, euch besuchen zu dürfen.“

„Aber ich bitte dich, Vetter,“ wehrte Hedda den Dank unter hellem Erröten ab, „wir haben uns ja so gefreut, dich kennen zu lernen, und hoffen, es wird nicht das letzte Mal sein, daß du auf dem Baronshofe bist. Du glaubst nicht, wie froh ich bin, daß es dir bei uns gefällt – denke dir, ich habe eine Todesangst gehabt, du würdest ein furchtbar verwöhnter Prinz sein und nichts gut genug für dich finden! Mein Gott, es geht doch schrecklich einfach bei uns zu!“

„O Hedda, du mißverkennst mich völlig,“ entgegnete Axel. „Ich bin verwöhnt – allerdings – das heeßt, ich richte mir das Leben, soweit es möglich ist, nach eegner Bequemlichkeit ein. Aber das will noch nicht sagen, daß ich mich lediglich in der Bequemlichkeit wohl fühle. Ich habe einmal eine Expedition in das Innere von Spitzbergen mitgemacht, wo wir uns im Schneegestöber verirrten und dree Tage lang auf trockenen Schiffszwieback angewiesen [195]waren – es hat mir nicht wehe getan. Ich liebe den Luxus, doch ich entbehre ihn nicht. Ich entbehre ihn um so weniger, wenn ich mich sonst wohl fühle, Hedda. Und ich kann dir nur wiederholen: es weht mir hier bei euch so eine Art Glücksempfinden durch die Seele – ich weiß nicht, woher es kommt – so etwas wie Heematluft.... Ich bin stets ein eensamer Mensch gewesen, und merkwürdig genug: im tollsten Trubel hab’ ich mich immer am eensamsten gefühlt. Nun hat man mir auch Jarlsberg verboten – wegen der rauhen Luft und des verdamm – o Pardon, meines Hustens wegen. Man hat mir die Heemat genommen. Das tut mir weher als der harte Schiffszwieback in Spitzbergen – und es ist mir, als hätte ich hier Ersatz gefunden ...“

Hedda rührte das Geständnis des langen Vetters, des armen „Heimatlosen“, der, mit Glücksgütern überhäuft, sich doch nicht glücklich zu fühlen schien. Er war sicher kein Alltagsmensch, sondern eine feine und zarte Natur, mit kompliziertem Seelenorganismus – einer, der immer einer linden, weichen und schonenden Hand bedurfte. Sie begriff schon, daß er sich leicht einsam fühlte bei seinem Hange, abseits zu gehen, und der Notwendigkeit, in der großen Welt zu leben. Das war ein Zwiespalt, den er hart empfinden mußte.

„Weißt du, Vetter,“ begann sie wieder, „daß ich deinen Entschluß, den Dienst zu quittieren, für sehr vernünftig halte?“

„Wirklich?“ fragte er.

„Ja, wirklich. Ich glaube, du bist gar kein Beamtenmensch. Alles Gegliederte, Schematische und Bureaukratische ist dir zuwider.“

„Das ist es. Dabei bin ich aber merkwürdigerweise eine peinlich ordentliche Natur, Hedda.“

Sie lachte.

„Du bist sozusagen in keine Kategorie einzureihen –“

[196]„Ach nein – in keine des genus homo!“

„Es ist noch ein Glück, daß du nicht aufs Carrieremachen angewiesen bist,“ fuhr Hedda, wieder ernster werdend, fort. „Und bei deinem lebhaften Geiste fürchte ich auch nicht, daß du untätig bleiben und dich langweilen wirst.“

„O du lieber Gott, Hedda – ich kenne das Wort Langeweile überhaupt nicht! Ich habe so hunderterlei Interessen – und wenn ich mich dazu entschloß, zur Diplomatie zu gehen, so geschah es nur – gewissermaßen aus traditionellen Rücksichten; irgend einen Beruf mußte ich doch ergreifen, und der diplomatische gilt bei uns als der vornehmste. Alle Hellstjerns sind Diplomaten gewesen, aber ich glaube, es war nie ein besonders hervorragender darunter. Doch einer, Christiern Hellstjern – der trank um 1500 Sten Sture unter den Tisch und soll dadurch den großen Adelsaufstand beigelegt haben – doch ist es immerhin fraglich, ob man diese Leistung als diplomatische Heldentat betrachten darf ...“

Sie waren nun bereits mitten im Walde und schlugen den Weg nach dem See ein. Er lag in voller Bläue vor ihnen, mit anmutig geschwungenen Ufern, die auf allen Seiten zu Bergrücken aufstiegen. Unten erstreckte sich Laubwald und weiter oben dunklerer Tannenforst. Die Form des Sees erinnerte Axel an den Lago di Como und die eigentümliche Gestaltung einzelner hoher Kiefern an die Pinien Italiens. Aus der Ferne schimmerte wieder, in leichten Dunst gehüllt, der eckige Turm des Döbbernitzer Schlosses in verschwimmenden Umrissen herüber.

Axel fragte nach dem Besitzer des Schlosses. Aber Hedda beschränkte sich auf kurze Mitteilungen. Baron Zernin sei ein entfernter Verwandter; er habe abgewirtschaftet, ein Duell gehabt und sei noch auf der Festung; dieser Tage solle das Gut subhastiert werden – man erzähle sich, Schellheim werde es kaufen.

[197]Der Vetter wurde aufmerksam.

„Ist der Zernin ein Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten?“ fragte er.

„Ja, Vetter, der einzige.“

„Und ist das Gut im Stande?“

„Nein, arg vernachlässigt. Aber der Boden soll nicht schlecht sein, und Schloß und Park sind herrlich.“

Axel nahm seinen Hut ab und strich sich mit dem Foulard über die Stirn. Dann suchte er sich einen Stein am Ufer aus, legte sein Taschentuch darüber und ließ sich nieder.

„Bist du nicht auch müde, Hedda?“

„Nicht die Spur; ich bin eine sehr forsche Fußgängerin.“

Er schaute sie ernst und lange an.

„Ach,“ sagte er, „wie beneide ich dich um deine quellige Frische! Du bist ein echtes Germanenweib, Hedda –“ und plötzlich brach er ab und winkte ihr. „Komm, setz dich zu mir, wenn du auch nicht müde bist – es plaudert sich besser.“

Er rückte ein wenig zur Seite. Der Stein bot Platz für zwei. Hedda setzte sich zu ihm. Sie hätte gern die Röte zurückgedrängt, die sie plötzlich auf ihren Wangen fühlte. Eine leichte Unruhe überschlich sie. Ihr war genau so zu Mute, als müsse im nächsten Augenblick ein Antrag kommen.

Doch sie irrte sich. Axel starrte über den See, die schilfumbuschten Ränder und das Sonnenflirren im Wasser und sagte dann plötzlich:

„Vielleicht ist das etwas für mich – dies Döbbernitz da drüben.“

„Wie meinst du das?“

„Nun – irgendwo muß ich mir doch wieder so eine Art Heimat schaffen, Hedda – und hier in eurer Nähe gefällt mir’s schon am besten. Immer unter fremden Menschen zu sein, ist auch schrecklich. Ich werd’ mich nach den Verhältnissen in Döbbernitz erkundigen ...“

[198]Hedda nickte nur zustimmend; sie antwortete nicht. Die Idee des Vetters, sich um das Nachbargut zu bewerben, kam ihr so plötzlich, daß sie nicht recht wußte, ob sie sich darüber freuen sollte. Axel schien ihr Schweigen unrichtig zu deuten; er schaute sie von der Seite an und sagte:

„Das heißt, Cousine, wenn es dir recht ist –“

Jetzt lachte Hedda.

„Aber, Vetter,“ antwortete sie heiter, „warum soll es mir nicht recht sein? Es ist doch naturgemäß, daß ich Döbbernitz lieber in den Händen eines Verwandten als in denen eines Fremden weiß, zumal es früher einmal Hellsternscher Besitz gewesen ist –“

„Wirklich?“ fiel Axel ein.

„Jawohl, der Große Kurfürst schenkte es dem Hellstern – ich glaube, er hieß auch Axel –, der mit Sparre zusammen aus schwedischen Diensten in brandenburgische übertrat; dann kauften es die Rothenburgs und später die Zernins.“

„Es ist gut, daß ich dies weiß,“ erwiderte Axel ernsthaft; „Familienerinnerungen muß man wert halten ...“

Und nun wurde er schweigsam, während man langsam den Heimweg antrat. Offenbar ging ihm seine Idee durch den Kopf. Er sprach übrigens tagsüber nicht mehr davon. Hedda wunderte sich, daß er nicht wenigstens ihren Vater zu Rate zog, aber es schien, als vermeide er mit Absicht, das Thema von neuem anzuregen.

Am nächsten Morgen trompetete abermals eine Extrapost auf dem Baronshof, die sich Axel in Zielenberg bestellt hatte. Hellstern war böse darüber. Sein Wagen tät’ es auch noch, meinte er, und seine dicken Füchse liefen ganz gut. Aber Axel wollte keinerlei Umstände verursachen. Er versprach, in Bälde wiederzukommen, und nahm herzlichen Abschied. Sein Dank klang so warm, daß man fühlen konnte, wie ehrlich er es meinte. Er küßte den [199]Alten auf beide Wangen und drückte Heddas Hände fest. „Ein merkwürdiger Mensch,“ dachte sie, als sie sah, daß seine Augen feucht geworden waren.

August war voll hohen Lobes über den Herrn Vetter aus Schweden.

„Er hat jedem von uns ein Goldstück als Trinkgeld gegeben, gnädiges Fräulein,“ erzählte er Hedda. „Mir zwanzig Mark und Dörthen und Gusten je zehne. Wenn man denkt, daß der junge Herr Baron kaum drei Tage bei uns war, so ist das eigentlich ein bißchen viel. Aber unsereiner kann das doch nicht zurückweisen – wie würde das denn aussehen!“

Auch bei Tische kam man nochmals auf Axel zurück.

„Ich werde nicht klug aus ihm,“ sagte Hellstern. „Er ist mir zu weich, zu lasch, nicht männlich genug. Aber vielleicht liegt das an seiner Krankheit, vielleicht auch tatsächlich an dem Empfinden von Heimatlosigkeit, das ihn beherrscht.... Übrigens, was ich dir erzählen wollte, Hedda: der Klaus ist begnadigt worden – man hat ihm den Rest seiner Festungshaft geschenkt. Ich denke mir, er wird abermals Mittel und Wege finden, der drohenden Subhastation zu entgehen.“

„Und damit würde Axels Idee, Döbbernitz zu kaufen, ins Wasser fallen,“ entgegnete Hedda.

„Es wäre im Grunde genommen ganz gut,“ erwiderte der Alte; „so mal für ein paar Tage ist er sicher sehr nett, aber für den ständigen Verkehr – ich kann nur wiederholen, da ist er mir zu lasch ... Meinst du nicht auch?“

Hedda zuckte zerstreut mit den Achseln. Sie dachte in diesem Augenblick an Klaus und nicht an den schwedischen Vetter.

[200] Zehntes Kapitel

Nun war endlich der langersehnte Tag gekommen, an dem die neue Quelle ihre feierliche Weihe empfangen sollte. Es war später geworden, als man anfänglich erhofft hatte. Der Sommer war bereits mit heißem Prangen in das Land gezogen, und auf den Feldern begann sich die Saat schon gelb zu färben. Aber man hatte diesmal nicht das Interesse an der Ernte wie sonst: die Quelle zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Ehe sie noch offiziell erschlossen worden war, hatten sich bereits die ersten Badegäste eingefunden: ein paar Familien aus Frankfurt an der Oder und auch einige Berliner, die sich für den ganzen Sommer in Oberlemmingen festsetzen wollten. Aber auch andre hatten sich angemeldet, aus weiterer Ferne, selbst aus Süddeutschland. Die Broschüre, die Professor Statius über die Heilwirkungen des Wassers geschrieben hatte, war zu Hunderttausenden in alle Welt gegangen. Ein federgewandter Schriftsteller, den Schellheim ausfindig gemacht, hatte eine Beschreibung des neuen Badeortes angefügt und mit schönen Worten seine romantische Lage gerühmt, den Kranz grüner Wälder, der das freundliche Dorf umgab, die Reize des Kurparks, der Wiesen und Felder, und eine ganze Anzahl eingestreuter Illustrationen sorgte für noch bessere Veranschaulichung dieser Lobeshymnen. Und was die Hauptsache war: der Ton lag auf der Billigkeit von Oberlemmingen. Hier herrschten sozusagen noch patriarchalische Sitten; hier war es nicht wie in Karlsbad und Kissingen und den sonstigen großen Bädern; die Kurtaxe war gering, die Lebensmittel bekam man fast umsonst, für Logis und Bedienung waren die denkbar niedrigsten Sätze aufgestellt worden. Bei der Lektüre der Broschüre konnte man den Eindruck gewinnen, als mache man Ersparnisse [201]bei einem längeren Aufenthalt in diesem stillfriedlichen märkischen Paradies. Als der alte Möller sich eines Tages nach mancherlei Mühe durch die Broschüre durchgeackert hatte, bezeigte er sich nicht sehr zufrieden. Die ewige Betonung der billigen Preise behagte ihm nicht. „Wie sollen wir denn dabei auf die Kosten kommen?“ fragte er Albert. Doch der lächelte verschmitzt, steckte die Hände in die Hosentaschen und klimperte mit dem lockeren Gelde, das er immer in den Beinkleidern trug. „Das ist einfach der Köder, Vater,“ antwortete er; „erst müssen die Leute kommen – nachher wird sich’s schon finden, wie wir sie drankriegen.“

Braumüller hatte wirklich verkauft. Das war ein harter Kampf gewesen. Wochenlang schacherte er mit Bertold. Er wollte nicht recht, hatte aber Frau und Tochter gegen sich, die der Gedanke an das viele Geld und an die Wahrscheinlichkeit, nach der Stadt überzusiedeln, verlockte. Namentlich Lise drängte es nach der Stadt. Seit sie wußte, daß Albert sie doch nicht nehmen würde, träumte sie von einer Partie mit einem fest angestellten Beamten. Sie wollte hoch hinaus; sie hatte Geld und dankte für die Bauernwirtschaft, für das Frühaufstehen, das Melken im schmutzigen Stall und das Abrackern auf dem Felde in glühender Sonnenhitze. Aber der Vater verbat sich das Gerede. Nun ja, er hatte verkauft und ein gutes Geschäft gemacht. Doch er wollte in Oberlemmingen bleiben, vorläufig wenigstens. Er war auch neugierig, was denn nun eigentlich aus Oberlemmingen werden würde. Und so hatte er sich beim Verkauf freies Wohnrecht in drei Zimmern seines alten Hauses für die nächsten beiden Jahre ausbedungen. Da er aber keine Arbeit mehr hatte, so lag er von früh bis spät in der Wirtsstube und kam Abend für Abend betrunken nach Hause.

Am Weihetage der Quelle ruhte selbstverständlich die Arbeit in ganz Oberlemmingen. Das kam selten genug vor, denn seit Monaten hatte im Dörfchen [202]eine geradezu fieberhafte Tätigkeit geherrscht. Aber so vornehme Gäste wie heute hatte Oberlemmingen auch noch nicht gesehen. Aus allen Ortschaften der Umgegend, wo ein Gutssitz war, rollten die Equipagen heran. Man kannte sie alle: die große Glaskutsche des Döbbernitzer Oberförsters, in der auch das ABC in rosa Mullkleidchen dicht aneinandergedrängt Platz gefunden hatte, den Landauer des Landrats von Wessels, den Klapperkasten des Kreisphysikus Doktor Stramin, das elegante Gefährt der Woydczinska, die Wagen der Klitzingks, Nehringens und Schmiedows und der reichen Frau Necker und schließlich auch den gelben Korb Exzellenz Usens, dessen Kutscher inmitten der übrigen Galonnierten wie ein Fuhrknecht aussah. Nur die alte Viktoriachaise aus Grochau fehlte; Hauptmann Biese weilte noch in der Schweiz; die Kugel Zernins hatte ihn für lange auf das Krankenlager geworfen, und die Genesung war noch nicht vollständig.

Nach Zielenberg hatte Kommerzienrat Schellheim seine eigne Equipage geschickt, um die Vertreter der Regierung abzuholen, die aus Frankfurt gekommen waren. Er erwartete sie an der Spitze der Deputation, zu der außer einigen Häuptern des Kreises auch Albert Möller, Pfarrer von Eycken und der Lehnschulze gehörten. Baron Hellstern war vergeblich gebeten worden, sich anzuschließen. Er hatte mit Bestimmtheit abgelehnt und knurrte und brummte auf dem Baronshofe umher; auch Hedda und selbst August brummten, denn der Alte hatte ihnen zu verstehen gegeben, er wünsche nicht, daß sich irgend einer vom Baronshofe an dem Firlefanz da unten beteilige.

Es war heiß um diese Mittagstunde, und die ganze Empfangsdeputation schwitzte. Der Kommerzienrat trug etwas winziges Rotes im Knopfloch seines Fracks; er war Besitzer des Ordens von der Büste Bolivias, den man auch um den Hals tragen konnte, aber das Bändchen sah hübscher aus [203]als die groteske „Büste“. Der Landrat war in der Reserveuniform des Kürassierregiments erschienen, bei dem er gedient; man wußte nicht recht, warum er sich so kriegerisch in Szene gesetzt hatte. Eycken trug Talar; obschon man auch den Superintendenten erwartete, sollte er die Weiherede halten.

Endlich wirbelten Staubwolken auf der Chaussee empor. Gott sei Dank – das war „die Regierung“! Sie kam zu Hauf! Voran der Präsident im Frack mit klingendem Ordensschmuck und dann eine ganze Masse seiner Beamten, die meisten in Uniform, weil sich selten einmal eine Gelegenheit bot, wo sie ihr schimmerndes Kostüm anlegen konnten. Nach kurzer Vorstellung und Begrüßung ging es sofort in den Kurpark, den Gendarmen abgesperrt hielten, da auch aus den Dörfern ringsum sich die Neugierigen zu vielen Hunderten eingefunden hatten. Es war ein ganz großstädtisches Leben und Treiben wie bei Gelegenheit einer Parade oder eines Kaiserbesuchs, ein buntes Gewühl und Gewimmel festlich gekleideter Menschen, die die Einweihung der Quelle als interessantes Schauspiel und willkommene Abwechslung betrachteten.

Im Kurpark vollzog sich inzwischen der feierliche Akt genau nach den vorher getroffenen Bestimmungen. Es war hier im Gegensatz zu der brennenden Mittagsglut auf der Chaussee wundervoll kühl und schattig. Ein grünlicher Dämmer spann seine Schleier zwischen den Stämmen der Buchen aus, und Sonnenflecken kreisten und zitterten überall auf dem gelben Kies der Wege. Der Superintendent eröffnete die Feier mit einem Gebet, dann hielt Eycken die Weiherede. Er stand vor dem Altar, den man vor dem Quellentempel errichtet hatte, und sein weißer Bart fiel lang und glänzend auf den schwarzen Talar herab. Für ihn war diese Quelle kein Objekt säckelfüllender Spekulation; sie sprang aus Sand und Felsgestein hervor an das Licht des Tages, um der Menschheit zu dienen, um die Tränen des Elends hinwegzuwaschen, [204]um die Gebrechen der Welt zu heilen. Die heiße Liebe, die Eycken für die Kleinen und Armen erfüllte, schwoll in seinen Worten allumfassend an. Die Quelle sollte den Erdkreis überströmen, um mit ihrem wundertätigen Wasser alles Leid hinwegzuspülen. Sie war eine Gabe des Höchsten und deshalb auch sollte ihr Wohltun der ganzen Welt zugute kommen.

Nun fiel die Hülle von dem Tempelbau; Arbeiter zerbrachen die Verzimmerung, die den Quell bisher festgehalten hatte, und in vollem Strahl, springbrunnenähnlich, sprudelte das Wasser silberklar in die Höhe. Eycken tauchte seine Hände in das perlenwerfende Naß und schlug dann mit der Rechten, an der noch die Tropfen schimmerten, ein Kreuz über die Quellenöffnung.

„So weihe ich dich denn, im Namen Gottes, zum Besten der Menschen, zum Heile der Kranken und Siechen! Und in dankbarer Erinnerung an den, der unser deutsches Vaterland aus Not und Elend zu Kraft, Stärke und Gesundung zurückgeführt hat, taufe ich dich Bismarckquelle!“

So war es verabredet worden. Der Kommerzienrat hatte die Anregung zu diesem Namen gegeben; man bedauerte nur, daß die Weihe nicht am ersten April, am Geburtstage Bismarcks, erfolgen konnte – das wäre noch hübscher gewesen. Doch trotzdem – der Moment war sehr feierlich. Es ging ein Rauschen und Flüstern durch die Wipfel der Buchen, wie ein Akkord der Zustimmung, den die Natur diesem Segenswerke zollen wollte. Aber die meisten achteten nicht auf dies geheimnisvolle Wehen. Albert Möller, der sich ziemlich bescheiden im Hintergrunde hielt, sah andre Zeichen. Über die Gestalt des Pfarrers, sein weißes Haar und seinen schwarzen Talar und auch über das springende Wasser und die Marmoreinfassung rieselte ein ganzer Regen von Sonnenfunken. Es sah wirklich so aus, als ströme das blanke Gold in Fülle vom Himmel herab – [205]und das war ein Anblick, der Albert wohltat. Er hörte nicht mehr auf den Segen, den Eycken sprach, und auch nicht auf die kurze Rede des Regierungspräsidenten, der mit einem Hoch auf den Kaiser schloß; der Goldregen lenkte seine Gedanken ab, zerstreute, verwirrte und blendete ihn. Erst als der Kommerzienrat das Wort ergriff, um den zu feiern, der der Quelle den Namen gegeben hatte, schreckte er aus seinen Träumereien empor, und ein haßerfüllter Blick streifte den Sprechenden. O, wie grimmte es ihn, daß er mit dem da teilen mußte!

Nach beendeter Feierlichkeit wurde der Kurpark dem Publikum freigegeben, und nun flutete die Menge durch die Gänge und Anlagen, während Schellheim im Auschlosse die Herren von der Regierung bewirtete. Auch die Mitglieder des Aufsichtsrats und Kurvorstands waren dazu geladen worden. In der großen Halle hatte man ein riesiges Büfett errichtet, aber auch auf der ersten Terrasse waren kleine Tische gedeckt worden. Es war ein heiteres und buntfarbiges Bild. Die neugebildete Kurkapelle konzertierte bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, denn es war selbstverständlich, daß die Dorfmusik mit dem ererbten Bombardon, das Fritz Möller so trefflich zu meistern verstand, nunmehr für immer in der Versenkung verschwinden mußte. Albert ärgerte sich, daß man nicht auch seinen Vater geladen hatte. Er war blaßgrün im Gesicht. Wäre es nicht passender gewesen, diese ganz offizielle Abfütterung unten im Hotel Möller zu veranstalten? – Als der Regierungspräsident, das Champagnerglas in der Hand, mit seiner zarten, wispernden Stimme der großen Verdienste des Kommerzienrats gedachte und ein Hoch auf den intelligenten Zauberer ausbrachte, dessen Wunderstab auch „das Unmögliche möglich mache“, da glaubte Albert, an dem Bissen Gänseleberpastete, den er gerade genießen wollte, ersticken zu müssen. [206]Das klang ja wirklich, als hätte Schellheim die Quelle entdeckt, als hätte ihm das Terrain gehört, als wäre er derjenige gewesen, der den ersten Anstoß zu der industriellen Ausbeutung des Heilwassers gegeben hätte! Wahrhaftig, es war zum Lachen; den Kommerzienrat feierte man, und ihn, den Albert Möller, den eigentlichen Urheber, den Gründer, beachtete man gar nicht!

Man hatte an Bismarck ein Huldigungstelegramm abgesandt, und der höfliche Alte von Friedrichsruh beeilte sich, umgehend telegraphisch zu danken und Oberlemmingen eine gedeihliche Zukunft zu wünschen. Das brachte neues Leben in die Gesellschaft. Exzellenz Usen, der in einer Ecke der Halle eingeschlafen war, wachte wieder auf, und Schellheims Gesicht glänzte vor Glück. Er brauchte es, denn er hatte am Tage vorher eine ihn stark erregende und tief erbitternde Mitteilung erhalten. Sein Sohn Hagen, der Älteste der Nibelungen, schrieb ihm, daß er sich zu verheiraten gedenke, und zwar mit einem kleinen Fabrikmädchen, einer gewissen Anna Zell, einem zwar armen, aber sehr braven und lieben Geschöpf, wie er versicherte. Er hoffe, die Eltern würden nichts dagegen einzuwenden haben. Schellheim war außer sich. Er entsann sich dieser niedlichen Kleinen; sie arbeitete bei den Stepperinnen, und der Kommerzienrat hatte einmal durch Zufall gehört, daß zwischen Hagen und ihr schon lange eine Liebelei bestand. Dagegen hatte er nichts, aber heiraten – nein, das war eine Unmöglichkeit! Hagen war der Leiter des Weltgeschäfts, der Träger der Firma; er hatte die Verpflichtung, sich eine Gattin zu suchen, die zu repräsentieren verstand. Und auf der Stelle setzte sich Schellheim hin, um Hagen zu antworten. Er sagte ihm gründlich seine Meinung, drohte mit Fluch und Enterbung und verbat sich energisch, den Namen dieser Anna Zell in seiner Gegenwart auch nur zu nennen. Auch die Rätin war bekümmert, aber sie sprach es nicht aus. Sie ließ ihren Gatten wettern und schimpfen, ging [207]auf ihr Zimmer und schloß sich ein, um ungestört weinen zu können.

Gegen drei Uhr kehrte Albert Möller in das Hotel zurück. Er hatte seinen Bruder Bertold, der bereits nach Oberlemmingen übergesiedelt war, um den Umbau des Braumüllerschen Hauses zu überwachen, abgeholt. Es war wieder einmal eine Familienkonferenz nötig. Fritz, der – eine große weiße Schürze um den Leib – soeben dabei war, Weinflaschen zu etikettieren, fragte verwundert, was es denn gebe.

„Wirst es schon hören,“ antwortete der Bruder, „diesmal geht’s dich an!“

In einem der Hinterzimmer fanden sie sich zusammen: Mutter Möller mürrisch wie immer, das Gesicht vom Küchenfeuer gerötet, der Alte, Fritz, Albert und Bertold.

Albert ging ohne Umschweife auf die Angelegenheit los. „Ich möchte mit euch einmal wegen der Dörthe reden,“ sagte er. „Der Sache muß ein Ende gemacht werden.“

„Wieso?“ fragte der dicke Fritz aufgeregt, während die Mutter zustimmend nickte.

„Wieso?“ wiederholte Albert mit strenger Stimme. „Kannst dir’s wohl denken. Ohne Frau weiterzuwirtschaften, geht nicht.“

„Ich habe der Dörthe versprochen, daß zu Weihnachten Hochzeit sein soll,“ entgegnete Fritz; „da wird’s ja anders werden!“

„Und ich bin doch auch noch da,“ fügte die Mutter hinzu.

Albert schüttelte den Kopf.

„Du bist nicht mehr die Jüngste, Mutter,“ sagte er. „So einem großen Hotelwesen muß eine rüstige Kraft vorstehen.“

„Gottlob, das ist die Dörthe,“ warf Fritz ein.

„Und wenn sie’s auch zehnmal wäre,“ fuhr Albert heftig auf; „wenn du dir hier in Oberlemmingen eine Stellung schaffen willst, kannst und darfst du kein Bauernmädel heiraten!“ ... Er lenkte [208]ein, als er das bestürzte und unglückliche Gesicht seines Bruders sah. „Du mußt Vernunft annehmen, Fritz,“ fuhr er fort. „Ich konnte auch nicht vorher wissen, wie sich alles gestalten würde. Es scheint, als habe der Kommerzienrat Lust, die ganze Macht an sich zu reißen und uns auf dem Trockenen sitzen zu lassen. Dem müssen wir vorbeugen. Das können wir aber nur, wenn wir Brüder uns solidarisch erklären, das heißt also, wenn wir einer für alle stehen und uns gegenseitig aushelfen. Ich sage dir, auch ich werde heiraten, aber ich muß noch warten; die Rechte ist noch nicht da, und ich brauche viel Geld. Geld ist die Hauptsache.“

„Die Hauptsache,“ bestätigte auch der Alte, und Bertold nickte dazu: „Man muß rechnen.“

„Also schlag dir die Dörthe aus dem Kopf, Fritz,“ begann Albert von neuem. „Das gibt ein paar Tränen, und in einem Vierteljahr ist die Sache vergessen. Ich habe vorhin mit dem Landrat gesprochen. Er fragte, ob wir den Wittke wieder zum Schulzen wählen würden. Der scheint ihm nicht recht zu passen, und er hat auch recht. Wittke ist einer von den Alten, bäurisch durch und durch, immer in Schmierstiefeln und mit der Pfeife im Maule. So einen können wir nicht brauchen. Oberlemmingen wird wachsen und einen städtischen Anstrich bekommen. Der Schulze wird nicht mehr Schulze, sondern Bürgermeister sein. Er muß auch was vorstellen können – wir wollen ja doch die vornehme Welt heranziehen! Und das sah auch der Landrat ein. Er hat mich gefragt, ob du dich nicht zum Schulzen eignen würdest!“

Fritz schlug die Augen zu Boden. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Man wollte ihm die Dörthe nehmen; das stand fest. Und so gewaltig war das Ansehen Alberts in der Familie gewachsen, daß er gar nicht mehr zu widerstreben wagte. Im stillen hatte er längst gefürchtet, daß die Verlobung wieder auseinandergehen würde.

[209]Vater Möller hatte sich neben Albert gesetzt und die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Sein schlaues Bauerngesicht sah hart aus, als sei es aus Stein gehauen.

„Hast du nun gehört, Fritz?“ sagte er. „Der Landrat hat gefragt, ob du dich nicht zum Schulzen eignen würdest?“

„Na, gewiß,“ entgegnete Fritz etwas zaghaft, „warum denn nicht? Dazu gehört doch nicht so viel!“

„Mein’ ich auch,“ fügte Albert ein, „und daß du gewählt wirst, dafür laß mich nur sorgen. Das ist eine große Stütze für uns alle, wenn du der Ortsvorstand bist. Ich für meinen Teil werde mich darum bemühen, Amtsvorsteher zu werden; Hauptmann Biese will niederlegen – es geht auch nicht, daß der Vertreter eines so wichtigen Postens in Grochau wohnt. Und nun zum Schluß: ich habe eine andre Partie für dich, Fritz.“

Fritz fuhr erschreckt in die Höhe.

„Aber, Albert – ich bin ja noch nicht einmal auseinander mit der Dörthe,“ wagte er einzuwerfen.

Jetzt nahm auch die Mutter das Wort. Sie begann sofort zu keifen und zu schimpfen. Wenn es nach ihr gegangen, wäre die Dörthe überhaupt nicht ins Haus gekommen. Es hätte ihr von vornherein nicht gepaßt. Und schließlich erging sie sich in allerhand Anspielungen, das Mädchen zu verdächtigen. Sie treibe sich herum; neulich habe man sie noch nach Mitternacht an der Seite von Anton Tengler durch das Dorf schleichen sehen ...

Der Alte schnitt ihr endlich mit drohender Handbewegung das Wort ab. „Was für ’ne Partie?“ fragte er Albert; „rede!“

Albert legte seinen Plan dar. Ring, der Schwiegervater Bertolds, wolle die Sache machen. Es handle sich um die einzige Tochter Franz Grödeckes, Schlächtermeisters in Frankfurt. Der alte Möller nickte. Er kannte den Grödecke in der Richtstraße; ein schlauer [210]Halunke, aber er hatte Geld gemacht. Also dessen Tochter?! – Und Albert erzählte weiter. Das Mädchen sei nicht mehr ganz jung, etwa dreißigjährig, aber groß und ganz hübsch und nehme sich recht stattlich aus. Grödecke habe sich bereits einverstanden erklärt, wolle zwanzigtausend Taler Mitgift geben, stelle aber die Bedingung, daß ihm kontraktlich die gesamten Fleischlieferungen für Oberlemmingen verbürgt würden. Statt dessen wolle man ihm vorschlagen, in Verbindung mit dem Hotel eine Engrosschlächterei hier an Ort und Stelle zu errichten. In ausführlicher Weise legte Albert die Vorteile dieser Verbindung klar. Fritz wäre ein Narr, wenn er nicht mit beiden Händen zugriffe.

„Da gibt’s nichts weiter zu reden,“ sagte der Alte ruhig; „Fritz heiratet das Mädel.“

Noch einmal versuchte der arme Junge zu widersprechen. Er stand auf, reckte seine riesige Gestalt, zog die Schultern, gleichsam entschuldigend, hoch in die Höhe und stotterte: „Vater – Vater, sei mir nicht böse; ich kann’s nicht!“

Mit einem Sprung stand der Alte dicht vor ihm. Purpurrot färbte der jähe Zorn sein hartes Greisengesicht. Die Augen unter der vorspringenden, viereckigen Stirn loderten, die Fäuste hoben sich.

„So,“ stieß er hervor, „du gehorchst nicht – gehorchst nicht?!“

Fritz duckte sich wie ein Schuljunge, der das Lineal fürchtet. Aber er erwiderte kein Wort. Er zitterte am ganzen Leibe.

Albert und Bertold fielen dem wutkeuchenden Alten in den Arm. Die Mutter stand am Fenster und schaute wortlos zu.

So war es am besten; es mußte einmal zur Entscheidung kommen.

„Laß, Vater,“ sagte Albert in beruhigendem Tone, „Fritz wird gehorchen. Er ist der Jüngste. Aber er soll seine Zeit haben. Es braucht nicht alles kopfunter, kopfüber zu gehen. Er kann die [211]Dörthe langsam fallen lassen. Unterdes kommt die Frida Grödecke mal her sich vorzustellen – es wird sich schon alles finden. Ich fahr’ morgen sowieso nach Frankfurt, da sprech’ ich mit Grödecke.“

Fritz ging hinaus. Aber in der Tür wendete er sich nochmals um. Er sah kreideweiß aus.

„Und der alte Klempt?“ fragte er; „soll der auch betrogen werden?“

Albert schüttelte den Kopf. „Betrogen?“ gab er zurück. „Und weshalb?“

„Na – mit seiner Wiese.“

„Ah – was hat das mit deiner Heirat zu tun? Wir haben ihm die Wiese bezahlt.“

„Aber er hätte sie nicht verkauft, wenn Dörthe nicht so zugeredet hätte, und wenn –“

„Still jetzt!“ brüllte der Alte und wies auf die Tür. Krachend warf Fritz sie ins Schloß.

Er ging wieder an seine Arbeit. Aber während er die Etiketten mit der wechselnden Aufschrift „Trabener“, „Graacher“ und „Moselblümchen“ auf die schon gefüllten – übrigens aus ein und demselben Fasse gefüllten – Flaschen klebte, wanderten seine Gedanken ruhelos umher. Er sah immerwährend die Dörthe neben sich stehen und zermarterte sich das Hirn, wie er ihr wohl am besten beibringen könne, daß alles aus sei. Denn daß es nun kein Zurück mehr gab, war klar. Der Vater würde ihn zu Boden schlagen, wenn er noch einmal nein sagen wollte. Und vor dem Vater zitterte er. Der Riesenmensch, der es gelegentlich fertig bekommen hatte, mit jeder Hand einen Bauern hinten am Hosengurt zu packen und hoch emporzuheben, schlug vor dem Drohblick des Alten die Augen wie ein gestrafter Schuljunge zu Boden.

Er atmete, immer weiterarbeitend, mit schwer sich hebender und senkender Brust. Und plötzlich hielt er inne. Er mußte irgend etwas zerstören, zerbrechen, vernichten. Er holte aus, um die Flasche, die er in der Hand hielt, gegen die Wand zu schleudern. [212]Aber er besann sich. Nein, das war Unsinn! Der „Trabener“ stand mit einer Mark fünfzig Pfennig auf der neuen Weinkarte.


Für den folgenden Tag war in Zielenberg Termin zur Subhastation von Döbbernitz festgesetzt worden. Der Kommerzienrat hatte sich genau informiert. Zernin hatte seine Sache aufgegeben; er wollte dem Termin gar nicht beiwohnen. Auch sonst erwartete man wenig Reflektanten. Man glaubte überall, Herr von Zernin werde, wie schon dreimal, auch diesmal wieder im letzten Augenblick eine Hilfsquelle gefunden haben. Übrigens gab es in der Umgegend auch keine ernsthaften Käufer. Jeder hatte mit dem eignen Besitz zu tun. Es war keine günstige Zeit für die Landwirtschaft.

Trotzdem war das verräucherte Terminzimmer mit seinen kahlen, weiß getünchten Wänden und den grün schillernden Fensterscheiben ziemlich voll. Eine ganze Anzahl Neugieriger hatte sich eingefunden, unter ihnen auch der alte Usen, in dem der Kommerzienrat einen Nebenbuhler witterte. Man wußte nie so recht, was der Sonderling vorhatte; er platzte häufig einmal mit etwas ganz Unerwartetem heraus. Ferner sah man die meisten Fouragehändler aus der Gegend, einige Berliner Agenten und Hypothekengläubiger und ein paar Fremde, die von den Kreiseingesessenen mit einem gewissen Mißtrauen gemustert wurden.

Die einleitenden Formalitäten waren rasch erledigt. Man kannte das alles: den Grundsteuerreinertrag, die Hypothekenlast, die Rentenbeiträge und Servitute – das war eine langweilige Sache.... Der Kommerzienrat stand am Fenster und sah einer Spinne zu, die sich von der Decke aus an einem langen Faden niedergelassen hatte und gerade über dem kahlen Kopfe des amtierenden Richters schwebte.

Schellheim begann damit, dreihunderttausend Mark zu bieten. Es erfolgte sofort ein Aufschlag [213]von vierzigtausend Mark von seiten eines Berliner Agenten, der damit die Hypothek seines Auftraggebers retten wollte. Der Kommerzienrat setzte zehntausend Mark zu; er hatte die Absicht, bis auf vierhunderttausend Mark zu gehen. Schlug man ihm dann den Besitz zu, so hatte er ein gutes Geschäft gemacht, denn das war allein der Waldbestand trotz allen Raubbaues noch wert. Der anwesende Vertreter der Ritterschaftsbank saß im Hintergrunde und feilte an seinen Nägeln. Er war gedeckt; die Geschichte interessierte ihn nicht mehr.

Ein Fremder, ein alter Herr, der sich als Graf Isingen vorgestellt hatte und ein Verwandter Zernins war, ging bis auf dreihundertachtzigtausend Mark. Auch in diesem Falle galt es, eine Hypothek zu sichern. Schellheim bot jetzt von fünf- zu fünftausend Mark mehr. Plötzlich rief eine Stimme aus der Mitte der Anwesenden:

„Vierhunderttausend Mark!“

Alles schaute sich um. Schellheim reckte den Hals und wurde unruhig. Exzellenz Usen erhob sich und trat an die Wand.

„Den Namen bitte,“ sagte der amtierende Richter.

„Rechtsanwalt Stroschein in Vollmacht des Herrn Baron von Hellstjern.“

Der Richter wiederholte dem Protokollführer den Namen. Ein Gemurmel wurde hörbar. „Schockschwerenot – Hellstjern?!“ rief Usen halblaut. Auch der Kommerzienrat war bestürzt. Er dachte gleichfalls an den knurrigen Alten auf dem Baronshof. Aber das war doch nicht denkbar. Und auf einmal tauchte das Bild Axels vor ihm auf. Ja – der mußte es sein! Er wurde wütend. Die beiden Hellstjerns, der reiche und der arme, steckten zweifellos unter einer Decke. Man wollte ihm Döbbernitz nicht gönnen. Er hatte sich alles schon auf das genaueste zurechtgelegt. Zweihunderttausend Mark waren nötig, die Landwirtschaft auf Döbbernitz wieder in Gang zu bringen. Aber das genügte [214]auch; und dann ... Die laute Stimme des Richters unterbrach seinen Gedankengang. „Vierhundertzehntausend!“ rief der Kommerzienrat.

„Zwanzig,“ ertönte die Stimme des Rechtsanwalts Stroschein.

„Fünfundzwanzig!“

„Dreißig!“

Jetzt drängte sich Schellheim zu dem Konkurrenten hindurch.

„Kommerzienrat Schellheim,“ sagte er, sich vorstellend; „Sie bieten für den Baron Axel Hellstjern, den Schweden, wenn ich fragen darf?“

„Ganz richtig, Herr Kommerzienrat.“

„Und wollen Sie noch höher gehen?“

„So hoch es nötig sein wird.“

„Vierhundertdreißigtausend Mark – zum ersten!“ rief der Vorsitzende.

„Vierhundertvierzigtausend!“ erscholl die Stimme des alten Usen.

Da verlor Schellheim völlig die Fassung. Er sah Usen hilflos an, der mit grinsendem Gesicht, die Augen mit den schweren, immer geröteten Tränensäcken ein wenig zusammengekniffen, an der Wand lehnte. Die Sonne beleuchtete ihn hell. Die Aufschläge seines schäbigen grauen Jagdrocks strotzten vor Fettflecken; an der Weste fehlte ein Knopf.

Es war ganz verrückt. Das war wieder einmal einer jener tollen Streiche des alten Paschas, mit denen er urplötzlich zutage zu treten pflegte, und immer dann, wenn man es am wenigsten erwartete. Was wollte er denn mit Döbbernitz?!

„Fünfundvierzig!“ schrie Schellheim und biß die Zähne zusammen.

„Fünfzigtausend!“ rief Rechtsanwalt Stroschein.

In seiner Aufregung packte der Kommerzienrat den Rechtsanwalt an der Schulter.

„Geh’n Sie noch weiter?“ stieß er hervor.

„O ja,“ versetzte dieser gemächlich.

„Wie hoch?“

[215]„Sechzig – siebzig – ich werde abwarten.“

„Vierhundertfünfzigtausend Mark – zum ersten!“ erscholl wieder des Vorsitzenden Stimme.

Schellheim trat achselzuckend neben Usen.

„Ich höre auf,“ flüsterte er diesem zu. „Das ist eine Verrücktheit.“

„Schad’t ja nichts,“ gab Usen zurück, „ein bißchen Verrücktheit versüßt das Leben – fünfundfünfzig!“

„Sechzigtausend!“

„Hol’ euch alle der Teufel,“ brummte Schellheim, nahm seinen Hut und verließ das Zimmer. Er war sehr ärgerlich. Sein Wagen wartete vor dem Gerichtsgebäude, aber er stieg noch nicht ein. Er wollte wenigstens wissen, wie die Sache endgültig verlaufen würde.

Sie verlief einfach genug. In dem Augenblick, da der Kommerzienrat nicht mehr mitbot, hörte auch Usen auf. Er lehnte noch immer an der Wand, mit grinsendem Gesicht und zusammengekniffenen Äuglein, und der weiße Kalk des Mauerputzes blieb an seinem verschossenen grünen Jagdrock hängen.

Döbbernitz fiel Axel Hellstjern für vierhundertsechzigtausend Mark zu. Es verblieben somit für Zernin immer noch einige tausend Mark Reingewinn. Das hatte niemand erwartet.

Zernin selbst am allerwenigsten. Er war kurze Zeit vorher von Magdeburg eingetroffen, wo er eine langweilige Festungszeit verlebt hatte. Was aus ihm werden sollte, wußte er noch nicht. Vor Amerika graute ihm. Pfui Teufel, zum Kellner oder Hausknecht hatte er keine Anlagen!

Die Nacht vor dem Subhastationstermin schlief er schlecht. Er wachte zwanzigmal auf und wälzte sich von einer Seite zur andern. Alte Erinnerungen stürmten mächtig auf ihn ein – an Vergangenes, an seine Kindheit, an die Eltern. Es dämmerte grau durch die Ritzen der Fensterläden, als er wütend aufsprang. Es hielt ihn nicht mehr im Bette.

[216]Er zündete ein Licht an und suchte nach einer Flasche Wein. Aber er fand keine. „Lotterwirtschaft,“ brummte er vor sich hin und stieg im Schlafrock und Morgenschuhen in das Souterrain hinab, um den Weinkeller zu durchstöbern.

Im Schlosse war es totenstill. Das ganze riesige Gebäude lag in tiefem Schlafe. Die Zimmer standen gähnend leer. Klaus hatte in seiner ewigen Geldnot verkauft, was loszuschlagen war; den Rest hatten die Gerichtsvollzieher geholt, während er in Magdeburg saß. Durch die öden Fenster glomm der trübe Morgen. Graue Schatten überall und noch nächtiges Dunkel in den Winkeln und Ecken. In dem großen Saale des Mittelbaues, in dem zur Johanniterzeit die Konvente abgehalten worden waren, stand kein Tisch und kein Stuhl mehr. Riesenhaft reckte sich an der einen Querwand der deckenhohe Sandsteinmantel des Kamins mit seinen schwarz gewordenen Wappenschildern. Selbst die alten Butzenscheiben waren ausgehoben und durch moderne Fensterflügel ersetzt worden ...

Klaus schloß den Weinkeller auf, einen riesigen, hochgewölbten Keller mit zahllosen Flaschenregalen an den Wänden, denn der alte Ministerpräsident hatte einen guten Tropfen geliebt. Aber auch hier sah es leer aus; Staub und Schmutz lagen zu Haufen umher, und Spinneweben bedeckten die Regale, in denen der Holzwurm tickte. Nur in einer Ecke waren dicht am Boden noch einige Reihen Flaschen aufgeschichtet, und aus diesen suchte Klaus sich eine aus. Er traf die richtige, einen vierundachtziger Pommery, von jenem wunderbaren Jahrgange, der sich bereits erschöpft hatte und selten zu werden begann. Und dann stieg er, die Flasche unter dem Arm, wieder die Treppen hinauf.

Sein in den Pantoffeln schlurrend wiederhallender Schritt war der einzige Laut, der sich hören ließ. An den Wänden des Treppenhauses zeigten sich große helle Flecken, von den alten Ölbildern [217]herrührend, die hier einst gehangen hatten und von unbarmherzigen Gläubigern abgeholt worden waren. Nichts war geblieben. Die ganze Meute hatte die Festungszeit Zernins benutzt und sich in toller Hetzjagd auf Döbbernitz gestürzt. Selbst die letzten Andenken an den verstorbenen Ministerpräsidenten hatte man nicht verschont: Geschenke des alten Königs, des Kaisers Alexander von Rußland und andrer Potentaten. Die Bibliothek war entleert worden; man hatte Auktionen veranstaltet, und kostbare Widmungsexemplare, wie Lamartines Geschichte der Girondisten, die der Verfasser Friedrich von Zernin persönlich geschenkt, als dieser Gesandter in Paris gewesen, waren für wenige Groschen verschleudert worden. Das alte Schloß war wie ausgeraubt.

Klaus kehrte in sein Schlafzimmer zurück, entkorkte die Flasche, warf sich wieder auf das Bett und trank den Champagner aus dem Wasserglase, das auf seinem Nachttische stand. Auch eine Zigarre steckte er sich an, aber sie schmeckte ihm nicht. Er warf sie mitten in die teppichlose Stube.

Morgen kam Döbbernitz unter den Hammer. Übermorgen schon konnte ihn der neue Besitzer von Haus und Hof jagen. Wohin dann?! –

Ein ernster Zug glitt über das Gesicht Zernins. Er war wirklich am Ende; diesmal gab es keine Hilfe mehr – es war aus. Und zum ersten Male legte er sich die Frage vor: hätte es nicht anders kommen können?

Gewiß – aber dann hätte er arbeiten müssen. Sein Vater hatte ihm kein Barvermögen hinterlassen. Seine Dotation hatte der alte Minister in Döbbernitz gesteckt, seine hohen Gehälter verbraucht. Freilich, Döbbernitz konnte immerhin seinen Mann nähren, nur mußte man zu wirtschaften verstehen. Und davon war keine Rede bei Klaus. Er war noch aktiver Offizier, als sein Vater starb, und nun nahm er schleunigst den Abschied und setzte sich auf Döbbernitz fest. Schon der Minister war kein Landwirt [218]gewesen und hatte mit einem ungeheuern Apparat gearbeitet, statt langsam und mit Beharrlichkeit den Boden zu gewinnen. Klaus ging noch stürmischer vor. Es hatte in der Tat den Anschein, als habe er keine Ahnung vom Werte des Geldes. Er kaufte eine Lokomobile, die er gar nicht brauchen konnte, und ungeheure Viehherden, für die nicht genügend Futter zu beschaffen war. Ein System verdrängte das andre; immer neue Inspektoren wurden herangezogen, und jeder kam auch mit neuen Ideen. Endlich gab ihm seine Neigung zum Sport den Rest. Er füllte seine Ställe mit edeln Pferden, die große Summen verschlangen; er versuchte es mit Züchtung, doch seine Mittel reichten nicht aus. Denn auch für seine Person verschwendete er mit vollen Händen, und in der angeborenen Gutherzigkeit, die sich gewöhnlich mit Leichtsinn zu paaren pflegt, ließ er sich auf allen Seiten bestehlen und betrügen. Und dabei konnte man ihm nicht gram sein. Seine persönliche Liebenswürdigkeit entzückte alle Welt, bis man es bei dem zunehmenden Verfall von Döbbernitz für nötig hielt, sich langsam zurückzuziehen.

Denn allmählich artete der Leichtsinn Zernins aus. Häßliche Geschichten kamen in Umlauf; es ging in rasendem Galopp bergab. Hin und wieder verlangsamte die Erinnerung an den großen Vater das Tempo des Niedergangs ein wenig. Ein Prinz des Königshauses half einmal aus, als der Subhastationstermin für Döbbernitz schon angesetzt war; reiche Verwandte, hohe Freunde des Verstorbenen, selbst der König wurden angebettelt. Und fast alle gaben, mehr oder weniger, aber es verrann rasch im großen Strome; nichts konnte den rollenden Stein aufhalten.

Und nun stand endlich der Untergang vor der Tür. Noch vor einigen Monaten hatte sich Klaus eine helfende Hand geboten – damals, als Kommerzienrat Schellheim ihn für seine Unternehmungen [219]gewinnen wollte. Das törichte Duell mit dem dicken Biese war dazwischen gekommen. Jetzt konnte man Schellheim höchstens daraufhin anpumpen, daß man sich für seine Ehre ins Zeug gelegt und auf die Festung hatte schicken lassen. Aber eine Hilfe für die Dauer war’s nicht. Und auch die Heiratspläne – das reiche Judenmädel, das irgendwo für ihn aufgetrieben werden sollte – der Schwiegervater, der sich in aller Eile mittaufen lassen wollte – all das war vorüber. Klaus wußte, weshalb; eine riesige schwarze Fledermaus strich von nun ab durch sein Leben, mit weiten, weiten Schwingen, die immer gigantischer wuchsen und immer mächtigeren Schatten warfen, bis sie ihn ganz mit Nacht umhüllten. Das war die Schande.

Klaus schauerte zusammen. Wie eine kalte Totenhand strich es über seine Stirn. Eisiger Schweiß perlte aus seinen Poren. Er stürzte das letzte Glas Sekt in die Kehle und sprang aus dem Bette, eilte zum Fenster und stieß die Läden auf. Nun war es Tag geworden. Der Himmel glühte, und die Lohe des Frührots schlug bis über die Zinnen des Schlosses empor.

Die Fenster des Schlafzimmers führten nach dem Wirtschaftshof hinaus, wo sonst um diese Zeit bereits reges Leben herrschte, das Leben morgenfröhlicher Arbeit. Aber hier war es stumm und öde wie im Schlosse selbst. Ein barfüßiges Mädel mit schwarzem Krauskopf stand am Brunnen und pumpte einen Eimer voll Wasser – seine einzige Bedienung. Alles war geflüchtet und, mit gierigen Händen das Letzte zusammenraffend, was da und dort noch zu stehlen war, auf und davon gelaufen. Nur die Jule war geblieben. Ihre jugendliche Frische hatte ihn gereizt, und sie war ihm für seine flüchtige Gunst dankbar geblieben. Sie besorgte auch den letzten Gaul, der im Stalle stand, den alten Christian, einen Rappen, der mit den Jahren eine völlig graue Mähne bekommen hatte, so grau [220]wie das Haar eines Greises. Es war merkwürdig genug, daß sich die Wut der Gläubiger nicht auch an diesem alten Tier vergriffen, da sie sonst alles genommen hatten, was stand und lag.

Als Jule das Fenster klirren hörte, fuhr sie erschreckt in die Höhe.

„Herrje, Herr Baron!“ rief sie hinauf. „So früh schon?! – Ich komme gleich ’rauf, den Kaffee machen!“

„Laß nur!“ gab er zur Antwort. „Ich will nichts! Aber lege den Sattel auf – vielleicht reit’ ich aus!“

Sie war sehr erstaunt. Wenn nur der Christian die Last noch tragen konnte! Seit sechs Monaten stand er unbenutzt im Stall und wurde immer dürrer, obwohl sie überall für ihn Futter stahl.

Klaus kleidete sich in Eile an und stürmte hinaus in den Park. Er fühlte, daß er nervös war – es war ihm immer, als sei jemand hinter ihm. Er wollte auch Luft haben, und er lief mit geöffnetem Munde, wie ein Asthmatischer, in raschen Schritten durch die Gänge des Parks. Jahrelange Verwilderung hatte diesem herrlichen Fleckchen Erde nicht seine zauberischen Reize rauben können. Nur war es kein Garten mehr mit Alleen und Rundells und Rosenbeeten und zierlichen Bosketts, sondern ein Wald, ein Meer von Laub, das sich über wuchernden Grasflächen ausbreitete, über zerfallene Statuen seinen grünen Mantel hing und seine Schleppen bis tief hinein in das rostig schimmernde Wasser des Weihers tauchte. Die Wege waren kaum noch erkennbar, verwachsen und vom Buschwerk eingeengt, und das große Rosenparterre glich einer blühenden Wildnis, durch deren farbenglühendes Dickicht man nicht mehr durchzukommen vermochte. Auf den Grasplätzen unterschied man noch die Blumenrabatten, mächtig treibende Hyacinthen, Violen und Pelargonien, bunte Flecken im Grün, doch auch von dichtem Unkraut durchwuchert, das seine Kreise immer weiter zog.

[221]Zernin stürmte an den Treibhäusern vorüber, deren Fenster zertrümmert waren, und in deren Innerem die Vögel nisteten. Was wollte er eigentlich? Ja so – ausreiten! Das war ein guter Gedanke! Noch einmal seine verwüstete Besitzung durchqueren – lebewohl sagen – und dann zurück! Oben lagen seine Pistolen.

Wieder durchschauerte es ihn kalt – und es war so heiß dabei, so heiß. Er riß seine Weste auf und schob sich den Flauschhut weit aus der Stirn. Im Hofe stand schon die Jule und hielt den Christian mit hocherhobenen Händen an der Kinnkette fest.

Klaus schwang sich in den Sattel, und als er in die schwarzen Augen der Jule sah, griff er in die Tasche, warf ihr einen Taler zu und rief:

„Mach dir mal heute einen vergnügten Tag, Jule – ich bin auch lustig!“

Und dann sprengte er kopfnickend davon. Nicht durch das Dorf, denn er scheute den Anblick der Leute, sondern hinten herum, an der Schleuse vorüber, wo er den alten Fischer traf, der ehrerbietig die Mütze zog. Dem Christian kam die ungewohnt lebhafte Bewegung anfänglich sauer an; die müden Knochen wollten nicht mehr recht vorwärts, aber Klaus nahm keine Rücksichten. Im Trabe und im Galopp ging es dem Walde zu, daß der Rappe bald schaumübergossen war. Erst als Tannen und Birken ihn umfingen und Schatten über den Weg fielen, zügelte Zernin den Gaul.

Es war ein Wunder, daß der Wald noch stand. Das Majoratsgesetz hatte ihn geschützt und die Ritterschaftsbank ihn unter besondere Verwaltung genommen, sonst wäre sicher auch er gefallen. Geplündert war er genügend worden; überall sah man durch klaffende Lichtungen und auf weite Halden, wo zwischen grünen Farnkräutern, Ginster und Blaubeerbüschen die Baumstümpfe hervorlugten.

Dann ging es am Saume der Wiesenniederung entlang. Die hatte Klaus, als sein Viehbestand immer [222]mehr zusammenschmolz, an kleine Leute verpachtet, und man war derzeit eifrig mit der Heuernte beschäftigt. Zernin legte wieder die Schenkel an und ließ den Christian in Galopp fallen; die Leute auf den Wiesen blieben stehen und schauten dem vorüberrasenden Reiter nach.

Weiter und weiter! Quer über die Felder, auf denen die Bestellung längst aufgehört hatte, Unkraut schoß überall empor, die Quecken hatten ausgeschlagen und überzogen die braune Erde mit ihrem grünen Gespinst. Eine mächtige Fläche von vielleicht zweihundert Morgen sah wie eine Prärie aus; hier wimmelte es von Hasen, und Trappen flogen in ganzen Schwärmen zum Himmel auf. Der Rest einer Pflugschar hatte sich im Sande eingewühlt, und auf dem verrosteten Eisen saß ein dicker Spatz.

Ein Ekelempfinden überkam Klaus angesichts dieser Wüsteneien. Seit fast zwei Jahren war er nicht auf den Feldern gewesen. Wozu auch? Löhne bezahlte er nicht mehr; Tagelöhner und Arbeiter liefen ihm davon; an eine geregelte Bestellung war nicht zu denken. Da ließ man schon alles liegen, wie es war. Nun aber, beim Anblick des grenzenlosen Elends, dem er sein Stück Erde ausgesetzt hatte, schlich sich doch das Grauen in sein Herz. Er dachte an die Zeiten zurück, da er Döbbernitz übernommen hatte, an den blühenden Stand seiner Felder, die blonde Flut der Saaten, die ersten Ernten – zweifellos, er hätte seinen Besitz schon festhalten und auch gegen die Mißgunst schlechter Jahre verteidigen können, wenn ...

Ja – wenn! Wozu sich noch Vorwürfe machen, wozu grübeln – es war ja doch alles vorbei! Und mit gesenktem Haupte ritt er weiter und merkte es kaum, daß abermals der Wald über ihm zu rauschen begann.

Er war im königlichen Forst, nahe dem Seeufer und jener Stelle an der Försterei, wo er damals Abschied von Hedda genommen, wo sie beide „vernünftig“ [223]miteinander gesprochen hatten. Sicher – an der Seite eines so tapferen Kameraden hätte aus ihm immer noch etwas werden können; sie würde ihn gestützt und gehalten haben, denn sie war ein starkes Weib, und ihre maikühle Verständigkeit hätte wohl seinen Leichtsinn und seinen tollen Übermut zu wahren vermocht. Ach, auch das war vorbei! Die riesige schwarze Fledermaus, die durch sein Leben strich, fing mit ihren stetig wachsenden Flügeln die Sonne auf. Sie leuchtete ihm nicht mehr.

Klaus ließ die Zügel hängen. Der Rappe schritt langsam über den Moosgrund, durch Farne und Erdbeerkraut und schnupperte umher und riß hie und da ein Zweiglein von einem tief herabhängenden Buchenast, mit seinen alten Zähnen die frischen grünen Blätter zermalmend. Da lag der See in siegendem Sonnenglanze, golddurchstrahlt, mit schneeweißer Schaumeinfassung, inmitten bewaldeter Hänge, über die, wie ein Wahrzeichen überwundener Feudalität, der quadratische Turm des Döbbernitzer Schlosses hinausragte. Drüben das rote Ziegeldach des Forsthauses und die Eichenschonung, die Wiesentrift, auf der ein ganzer Flor wilder Blumen blühte, und der große Felsstein, auf dem sie damals gesessen hatte!

Klaus zuckte zusammen. Saß sie nicht wieder da? War sie das nicht, die Dame im lila geblümten hellen Kleide und mit dem großen Strohhut, die ihm den Rücken wandte, mit gesenktem Kopfe, als suche ihr Blick irgend etwas zwischen dem Ufergeröll zu ihren Füßen?

Der Rappe wieherte plötzlich auf. Die Dame schaute sich um und erhob sich. Klaus sah, wie sie mit beiden Händen zum Herzen griff. Er sprang ab, schlang die Zügel um den nächsten Baum und näherte sich ihr mit abgezogenem Hute.

„Grüß Gott, Cousine,“ sagte er ruhig. „Das ist ein unerwartetes Zusammentreffen, aber ich freue [224]mich von Herzen darüber. So kann ich dir wenigstens noch Lebewohl sagen.“

Sie war blaß geworden, faßte sich aber sofort und erwiderte seinen Händedruck. „Ich hörte, daß heut über Döbbernitz entschieden werden soll,“ entgegnete sie. „Hast du noch keine Nachricht?“

Er verneinte. Das sei unmöglich; vor zwei, drei Uhr könne der Termin nicht beendet sein.

„Und warum bist du nicht selber da?“

Sie hatte sich wieder gesetzt, und er warf sich neben sie auf die Erde.

„Was sollte ich da, Hedda?! Eingreifen konnte ich nicht mehr, und – nun, ich schämte mich auch!“

Die Bitterkeit stieg in ihr auf.

„Warum ist dies Gefühl der Scham nicht früher über dich gekommen, Klaus?“ sagte sie in mehr klagendem als anklagendem Tone. „Herrgott, was hättest du dir und uns ersparen können! Ich habe mich oft genug gefragt: wie ist all das möglich gewesen? Ich habe mir nicht zu antworten vermocht. Nein – denn du übernahmst Döbbernitz doch in geordnetem Zustande, und du gingst mit guten Vorsätzen in den neuen Beruf! Du magst leichtsinnig gewesen sein – aber wie konnte nur so rasch alles über dir zusammenprasseln, im Laufe weniger Jahre? Ich begreife das nicht, habe es nie begriffen!“

Er nagte an einem abgerissenen Grashalm und zuckte dabei mit den Schultern.

„Ich auch nicht,“ erwiderte er. „Ganz gewiß, Hedda, es geht mir wie dir – ich habe von diesen letzten Jahren nur noch so eine Art Traumempfinden. Es rollte wie eine Lawine über mich herab und begrub mich. Natürlich bin ich selber schuld – ich verteidige mich auch nicht – ich klage nicht einmal. Aber gehabt habe ich von meinem Leichtsinn nicht so viel!“

Er schnippte mit den Fingern.

„Nein – nicht so viel! Es war im Grunde [225]genommen ein klägliches Amüsement. Wenn ich mein Geld in Monte Carlo verloren oder in Paris verjubelt hätte – es wäre hundertmal vernünftiger gewesen. Aber ich habe nur blödsinnige Geschichten getrieben – die Pferdezucht, die Viehankäufe, die Trinkgelage und Spielabende – die Rennen und die ewigen Reisen nach Berlin – mir steigt ein schales Gefühl auf, wenn ich an all den Unsinn zurückdenke. Aber ich muß die Suppe ausessen, die ich mir eingebrockt habe.“ – Und wieder zuckte er mit den Schultern.

Hedda hatte die Ellbogen auf die Kniee und das Kinn in die Hände gestützt. So schaute sie zu ihm hinab, zu dem halt- und charakterlosen Menschen, den sie so toll geliebt hatte, daß sie nahe daran gewesen war, um seinetwillen eine große, große Dummheit zu begehen. Die Vernunft hatte gesiegt und siegte noch, denn sie fühlte wohl, daß es für diese erste flammende Liebe, für dieses Frühlingsgewitter, unter dessen Schauern sie zum Weibe gereift war, kein Vergessen gab. Aber sie hielt sich in Schach. Er sollte nicht spüren, wie rasch ihr Herz in seiner Nähe klopfte.

„Und was wird nun?“ fragte sie.

„Was soll werden?“ lachte Klaus häßlich auf. „Weißt du, was man mit einem Gaule macht, der auf der Rennbahn zusammengebrochen ist und nicht mehr weiter kann? – Man schießt das arme Biest tot.“

Sie starrte ihn an. Sprach er von Selbstmord? – Nein – daran glaubte sie nicht. Er hätte längst seine Kugel finden müssen.

„Hedda, was soll ich denn noch auf der Welt?“ fuhr er fort. „Wozu törichte Illusionen? Ich kann nichts anfangen. Hier gar nichts – und mich drüben in Amerika mühselig durchs Dasein schleppen, Steine tragen und Biergläser füllen – lieber quittier’ ich schon mit dem Leben!“

Nun sprang sie erregt empor.

[226]„Du sprachst von Scham, Klaus,“ rief sie, „aber bei Gott, du kennst sie nicht! Du würdest sonst anders sprechen! Begreifst du nicht, wie niedrig dein Standpunkt ist? Wie unsittlich dein ganzes Gehaben? Du siehst selber ein, daß du dich durch eigne Schuld ruiniert hast, und du bist zu feige, dir ein neues Leben zu schaffen!“

„Zu feige – ganz recht,“ sagte er und erhob sich gleichfalls. „Aber ich glaube, ich habe nie Mut besessen. Ich fürchte mich vor der Arbeit – wenigstens vor der, die mir drüben winkt – vor der schmutzigen Arbeit im Kot der Gassen, den Handlangerdiensten. Wäre ich weniger Herrenmensch und mehr Bedientennatur – vielleicht würd’ ich mich fügen. So kann ich es nicht – ich kann es nicht!“

Ihr Herz flog förmlich. Alles in ihr war in Aufruhr. Ihre Wangen flammten und auch über ihre Stirn, bis zu den Haarwurzeln, ergoß sich die Röte des Zorns und der Scham. Ja auch der Scham, denn für ihn schämte sie sich. Er rühmte sich seiner Herrennatur, und doch war alles Edelmännische längst in ihm erstorben. Er suchte den Tod, weil das Leben ihm nichts mehr zu bieten hatte als – Arbeit.

Es war wahnsinnig, so mutlos zu flüchten. Zittern und Angst ergriff sie, und die zärtliche Sorge um ihn wich der Scham und Entrüstung. Sie sah schon die Wunde an seiner Schläfe, das runde Kugelloch, aus dem langsam das Blut sickerte, und hörte die Welt verachtungsvoll ihr letztes Urteil über den Verkommenen fällen: das hatte man gewußt und erwartet – Selbstmord – das Ende jedes Elenden!

Sie trat vor ihn hin und nahm seine Hände.

„Klaus,“ begann sie mit bebender Stimme, „denkst du nicht an dich selbst, so denke zurück – an deinen großen Vater und deine liebe, gütige Mutter. An alle deine Vorfahren, deren Andenken du beschimpfst, [227]an die Ehre deines Namens, die du durch feigen Selbstmord unauslöschlich befleckst. Man kann irren und fehlen, soll aber wieder gut zu machen versuchen – das ist die Tapferkeit, die das Leben von uns allen fordert. Du bist leichtsinnig gewesen, hast doch aber kein Verbrechen begangen, das dich zum Tode verurteilt! Und du bist auch noch jung, bist kraftvoll und rüstig, voller reicher Gaben – du wirst dich wieder aufraffen können – – ich bitte dich, Klaus – lieber Klaus!“

Ihre Stimme erstickte. Es quoll glühend heiß in ihr empor; ihre Hände zuckten zwischen seinen Fingern.

Klaus war fahl geworden, als sie von der Ehre seines Namens sprach. ‚Wenn du wüßtest!‘ schrie es in ihm auf. Und dann sah er hinter dem Tränenflor ihrer Augen die alte Liebe leuchten, die er durch die Schmach seines Wandels beschimpft und niedergetreten hatte, und die nicht ersterben wollte – die erste heiße Liebe ihres jungen Herzens, die ihr ganzes Innenleben durchtobt und aufgewühlt hatte und auch im Entsagen noch haften blieb. Das ließ ihn alles andre vergessen und durchströmte ihn mit einem Rausch wilden Entzückens. Mit starker Hand riß er sie an seine Brust und bedeckte ihr Antlitz mit stürmischen Küssen.

„Du liebst mich noch – du liebst mich noch!“ schluchzte und jubelte er. Und sie ließ ihn gewähren. Eine rein physische Schwäche hatte sich ihrer bemächtigt, das Gefühl einer Ohnmachtsanwandlung. Sie hing hilflos in seinen Armen. Das Rauschen des Waldes klang wie Harfenschlag an ihr Ohr und wie feierlicher, volltöniger Gesang. Seine Küsse aber brannten auf ihren Lippen und Wangen und loderten in ihre Seele hinein.

Mit schwerem Aufatmen riß sie sich los.

„Laß mich!“

Sie strich sich über Stirn und Haare und befestigte den Hut von neuem, der ihr vom Scheitel [228]geglitten war. Noch schimmerte helle Röte auf ihren Wangen, aber sie war doch wieder Herrin über sich selbst geworden, wenn auch große Tränen in ihren Augen standen.

„Ich liebe dich noch,“ sagte sie mit fester Stimme, „nun ja – was will das bedeuten? Angehören können wir uns nie, und wenn du mir sagen wolltest: komm mit mir nach Amerika – ich würde mit Nein antworten. Nicht weil mir’s an Mut gebricht, ein ungewisses Los mit dir zu teilen, sondern weil ich meine Liebe zu dir bekämpfen will!“

Da sank er, empfindend wie klein er war und wie schwach dieser kernigen Mädchennatur gegenüber, zu ihren Füßen nieder und preßte ihre Kleider an sein Gesicht. Er weinte, und in diesem Augenblick waren es ehrliche Tränen, die er über sein verpfuschtes und verlorenes Leben vergoß.

„O Hedda!“ rief er, „warum konnten wir uns nicht schon vor fünf Jahren finden? Du hättest mich retten können, und alles wäre anders geworden!“

Ja – vor fünf Jahren! Er konnte recht haben. Wenn sie über ihn gewacht hätte, vielleicht wären dann alle die guten Keime, die in ihm schlummerten, zu Blumen erblüht und das Unkraut verdorrt. Vielleicht! –

Sie hob ihn auf.

„Es hat nicht sollen sein,“ sagte sie. „Was hilft uns die Reue? Wir hätten stark sein müssen – heut ist es zu spät. Und doch, ich segne auch diese Stunde. Daß wir uns immer noch lieb haben, weist uns die Wege. Nicht sterben wollen wir, sondern am Leben bleiben und uns einander wert halten. Gib mir deine Hand, Klaus, und versprich mir, daß du die Pistole liegen lassen willst. Versprich mir, daß du ein neues Dasein beginnen willst! Du kannst es, wenn du aus Liebe zu mir dein Herrenbewußtsein unterdrückst, wenn du dich ‚erniedrigst‘. [229]Tu es; greife zur Arbeit, wo du sie findest; es schändet dich nicht, wenn deine Hände blutrünstig werden in harter Fron. Wandre aus und schaff dir anderwärts Stellung! Ich will unablässig an dich denken und beten für dich. Werde ein Mann!“

Gerade dies: „Werde ein Mann!“ klang tief in das Herz des Schwächlings – nicht wie eine harte Mahnung, sondern wie ein willkommener, erlösender Ostergruß. Er nickte zuversichtlich und mit fast frohem Lächeln.

„Ich danke dir, Hedda,“ erwiderte er. „Du verjüngst mich. Ja – ich fühle es: es sprießt Neues und Gutes in mir! Mein Wort darauf: der törichte Selbstmordgedanke ist vergessen. Ich wandre aus, um Arbeit zu lernen. Ich hab’ es eilig, denn du sollst bald von mir hören. Ich rufe dich oder hole dich selbst!“

„Ich warte auf dich,“ sagte sie mit leuchtenden Augen.

„So lebe wohl!“

Er preßte noch einmal ihre Hände an seine Lippen.

„Lebe wohl und behüte dich Gott!“

Er saß schon zu Pferde und sprengte davon, ohne sich umzuschauen. Sie aber blieb aufrecht stehen, bis sie im Gründunkel des Waldes seine Gestalt verschwinden sah. Und dann sank sie in die Kniee und sprach laut mit ihrem Gott, denn nur er konnte sie hier hören und seine Schöpfung – der schluchzende See und die Bäume am Ufer.


Es war in der dritten Nachmittagstunde, als ein kleines Gefährt, ein offener Korbwagen, in den Schloßhof von Döbbernitz rasselte. Bertold Möller hatte selbst das Pferd gelenkt, sprang jetzt zur Erde und rief der erstaunt aus der Häckselkammer tretenden Jule zu: „Ist der Herr Baron zu sprechen?“

[230]„Ja, er ist oben,“ entgegnete Jule und wies hinauf nach den Fenstern.

Bertold kannte hier Weg und Steg. Er gehörte seit Jahren zu den Geldvermittlern Zernins, aber er wie sein Schwiegervater, der Getreidehändler Ring, hatte sein Schäfchen längst ins Trockene gebracht.

Er fand Klaus vor einem großen Koffer knieend.

„Teufel – wo kommen Sie denn her, Möller?“ rief Zernin und stand auf.

„Von der Subhastation,“ erzählte Bertold, „direkt vom Termin. Wissen Sie, wer Döbbernitz gekauft hat, Herr Baron? Und wissen Sie für wieviel? Und wissen Sie, daß so etwas noch gar nicht dagewesen ist! Und wissen Sie –“

„Donnerwetter, so reden Sie doch vernünftig!“ fiel Klaus grob ein.

Bertold erstattete Bericht. Herr Legationssekretär von Hellstjern war Besitzer von Döbbernitz geworden, Neffe des Alten vom Baronshof, ein schwer reicher Herr, ein Millionär. Bertold wußte das ganz genau. Und 460000 Mark kostete ihn das Vergnügen. 422000 Mark betrug der Hypothekenstand von Döbbernitz; verblieb für Herrn von Zernin noch ein Reingewinn von 38000 Mark. Auch darüber wußte der brave Bertold genau Bescheid.

„Ich wollte der erste sein, der Ihnen dies meldete, Herr Baron,“ fuhr er fort. „Aus reiner Freundschaft. Ich wollte Sie vorbereiten. Ich weiß ja, es sind noch immer eine Masse Gläubiger da, die bloß darauf lauern, daß Sie wieder einmal zu Gelde kommen –“

Er schwieg, denn ihn erschreckte der Ausdruck im Gesicht des vor ihm Stehenden.

Klaus war blaß geworden und sein Auge starr. Es schwirrte durch sein Hirn, es bohrte sich nadelspitz in seine Schläfen ein, es klopfte und hämmerte [231]in seinen Ohren. Er antwortete nicht, sondern trat an das Fenster und starrte hinaus. 38000 Mark! Die Summe flimmerte, mit großen Ziffern geschrieben, vor ihm in der sonnenhellen Luft.... Wenn er sie erhob und mit ihr nach Monte Carlo reiste, dort sein Glück zu versuchen ...

Mit rascher Bewegung fuhr er herum.

„Haben Sie Geld im Hause, Möller?“ fragte er.

Bertold begriff ohne weiteres, um was es sich handelte. Er war ja nur hergekommen, um noch letzter Stunde ein paar hundert Taler an Zernin zu verdienen.

„Im Hause nicht – aber in Frankfurt – auf der Bank,“ erwiderte er.

„Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Möller,“ fuhr Klaus fort, dessen Augen voll Erwartung und Hoffnung einen fiebrigen Glanz anzunehmen begannen. „Wir fahren zusammen nach Frankfurt. Dort zediere ich Ihnen notariell meine Forderung an Herrn von Hellstjern – der Mann ist Ihnen doch sicher?“

„Bombensicher,“ sagte Bertold.

„Sie zahlen mir 36000 Mark bar aus und behalten den Rest.“

„Einverstanden, Herr Baron, aber –“ Bertold holte sein dickleibiges Notizbuch hervor, feuchtete seine Fingerspitzen an und begann zu blättern. „Ich habe da nämlich noch einen kleinen Wechsel in die Hände bekommen – Silbermann in Kölpin hatte ihn einmal meinem Schwiegervater in Zahlung gegeben – es handelt sich nur um acht- oder neunhundert Mark –“

„So ziehen Sie die auch ab, zum Donnerwetter!“ rief Klaus ungeduldig. Herrgott, was hatte der Mensch ihn schon betrogen!

Bertold steckte ruhig sein unförmiges Taschenbuch wieder ein.

„Da steh’ ich also zur Verfügung, Herr Baron,“ sagte er. „Um fünf Uhr geht der Zug – ein [232]Bummelzug freilich, aber wir haben ja nichts zu versäumen; Rechtsanwalt Sarnow empfängt uns auch außerhalb seiner Sprechstunden. Dann können Sie noch um elf Uhr nach Berlin weiter – das heißt, wenn Sie überhaupt nach Berlin wollen. Paßt Ihnen mein Wagen? Der Koffer da geht bequem hinauf – wir binden ihn hinten fest – er hat Platz. Das Pferd stell’ ich auf die paar Stunden bei Petersen ein – Sie wissen ja, dem Restaurateur in –“

„Ja, ja!“ rief Klaus. Das Geschwätz Bertolds machte ihn nervös. Er pfropfte noch rasch einen Anzug in den Koffer hinein, wechselte in fliegender Hast seine Toilette und rief aus dem Fenster nach Jule.

„Allons,“ sagte er, „den Koffer auf den Wagen des Herrn Möller! Ich verreise für einige Zeit. Du wirst ja hören, wann ich zurückkomme –“

Die Kleine starrte ihn mit großen Augen erschreckt an. Aber sie entgegnete kein Wort. Sie war an willenloses Gehorchen gewöhnt.

Der Wagen ratterte über das Hofpflaster und fuhr staubaufwirbelnd den Berghang hinab.

Jule war in der Prallsonne stehen geblieben. Aus dem Stalle wurde ein leises Wiehern vernehmbar. Der Rappe wollte sein Futter haben. Er und die Jule, die Zurückbleibenden, waren die letzten lebendigen Wesen im Döbbernitzer Schlosse.

Hinten im Parke, ganz umbuscht vom Grün stark wuchernder Schneeballen, stand ein einfacher Tempelbau, eine Art Mausoleum. Unter den Sandsteinplatten im Innern ruhten die Särge der Eltern Zernins. Auch hier tiefer und schweigender Friede, kein Laut des Lebens.

Nur ein gelber Schmetterling flatterte, hin und her huschend, über das körnige Grau des Sandsteins.

[233] Elftes Kapitel

Der Sommer ging zur Rüste. Die Nächte wurden kalt, es herbstelte stark.

Oberlemmingen konnte mit seiner ersten Saison zufrieden sein. Die Reklame hatte gewirkt. Allerdings waren in ärztlichen Kreisen auch einige Stimmen laut geworden, die dem Gutachten des Professors Statius und seiner Leute widersprachen, die die Analyse für inkorrekt und die unter Posaunenschall der Welt verkündete Heilkraft der Bismarckquelle für ziemlich unbedeutend erklärten. Man habe in unglaublichster Weise übertrieben, so äußerten sich jene Stimmen; man habe aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Das Wässerchen habe seine Vorzüge – gewiß, aber es sei mit den Kissinger Quellen gar nicht zu vergleichen; und in einer medizinischen Monatsschrift fiel sogar der unparlamentarische Ausdruck „Mumpitz“.

Darauf schien Kommerzienrat Schellheim nur gewartet zu haben. Sofort wurde der Schlachtplan für den Reklamefeldzug während des Winters entworfen. Wieder flatterten viele Tausende von Broschüren über die Lande. Flugblätter verkündeten auch der Laienwelt die Entgegnung des Professors Statius. Die großen Zeitungen wurden mit Inseraten überschüttet und lobten dafür im redaktionellen Teil das märkische Bad; Postkarten mit Ansichten von Oberlemmingen kamen in den Handel; Schellheim ließ eine „Bismarckquellen-Polka“ komponieren und auf den Musikmarkt bringen, und eine Novelle: „Die Großbäuerin von Oberlemmingen“, wurde sämtlichen Kreisblättern zum freien Abdruck zur Verfügung gestellt. Das war eine rührsame Dorfgeschichte, die den Verfasser der ersten Broschüre zum Autor hatte, und in der natürlich auch die Quelle eine Rolle spielte. So [234]sollte den ganzen Winter hindurch das Tamtam gerührt werden.

Der Kommerzienrat entfaltete eine angestrengte Tätigkeit. Anfänglich hatte er die Sache mit dem neuen Bade gewissermaßen nur als Unterhaltung, als Abwechslung in die Hand genommen. Aber sein Interesse wuchs, je mehr Kapitalien er dem Unternehmen opferte. Albert Möller und er betrachteten sich immer noch mit heimlichem Mißtrauen. Jeder von ihnen hatte das Empfinden, als warte der andre nur auf den geeigneten Augenblick, ihn übers Ohr zu hauen. Sie gingen Hand in Hand und waren doch Todfeinde. Und dabei wußten beide, daß sie ohne einander gar nicht auskommen konnten. Sie waren wie Sklaven zusammengekettet oder wie die zänkischen Weiber, die man im Mittelalter mit Hals und Händen in die „Geige“ spannte.

Übrigens sehnte sich Schellheim gerade in dieser Zeit mehr als je nach zerstreuender Arbeit. Hagen machte ihm schwere Sorgen. Dieser tolle Junge hatte rund heraus erklärt, er sei bereit, von der Leitung der Firma zurückzutreten und sich auf sein Pflichtteil setzen zu lassen, aber von seiner Liebe zu der kleinen, blonden Stepperin könne man ihn nicht abbringen. Er werde sie unbedingt heiraten. Der Rat fuhr nach Berlin, Hagen selbst ins Gebet zu nehmen. Doch der blieb fest; alle Gründe, die sein Vater gegen diese unsinnige Heirat ins Gefecht führte, fruchteten nichts. Zähneknirschend entschloß sich Schellheim zu brutaleren Mitteln. Er suchte die Eltern der Anna Zell auf. Der Alte war Straßenbahnschaffner, seine Frau übernahm Aufwartungen, Anna war das fünfte von sieben Kindern. Der Rat seufzte auf, als er die zahlreiche Familie sah, die er mit in den Kauf nehmen sollte. War es denn denkbar!? Dieser Hagen, sein ganzer Stolz, nicht nur ein tüchtiger Kaufmann, sondern auch durchaus Gentleman mit seiner Vorliebe für [235]Theaterpremieren, elegante Krawatten und kleine Soupers – gerade der wollte ihm die Schande bereiten, tief unter seinem Stande zu heiraten! Schellheim fand übrigens, daß die alten Zells ganz vernünftige Leute seien. Sie wußten auf der Stelle, wohinaus er wollte, aber sie hatten ihrer Anna nichts mehr zu befehlen, denn diese war mündig und selbständig. Hagen hatte sie bereits aus dem Elternhause wie aus der Fabrik genommen und in einer Pension in der Potsdamerstraße untergebracht. Auch an sie wandte sich der Rat. Das schüchterne kleine Persönchen war gut instruiert worden. Sie stürzte Schellheim sofort zu Füßen, küßte seine Hände, weinte, bat und flehte und fiel schließlich in Ohnmacht. Voller Erregung reiste Schellheim wieder ab.

Gunther war als Gast auf dem Auberge. Er hatte soeben seine Manöverübung beendet und kehrte sonnengebräunt, frisch und gesund aussehend, zu den Eltern zurück. Seine große Arbeit war bereits im Druck; im Oktober sollte sie erscheinen.

Da er seit drei Vierteljahren nicht in Oberlemmingen gewesen war, so interessierten ihn die Veränderungen im Ort naturgemäß sehr. Sehr entrüstet war der Kommerzienrat über die anscheinende Gleichgültigkeit, mit der Gunther die Heiratspläne seines Bruders aufnahm.

„Ich muß dir gestehen, Vater,“ sagte er zu Schellheim, als die Rede auf Hagen und seine blonde Liebe kam, „daß ich das Hagen eigentlich gar nicht zugetraut hätte. Im Grunde genommen freut es mich, daß er sein Herz sprechen läßt – ah, rege dich nicht auf, Papa, ich sage ja nur im Grunde genommen. Du kennst mich. Ich würde auch nur aus Neigung heiraten; allerdings muß ich hinzufügen, daß sich meine Heiratsneigungen sicher nach andern gesellschaftlichen Richtungen hin bewegen als diejenigen Hagens. Doch das ist lediglich eine Folge angeborenen Geschmacks, um mich gelehrt [236]auszudrücken, das Produkt einer gewissen soziologischen Ästhetik. Ich würde wohl nie dazu kommen, mich in eine Anna Zell zu verlieben, und daher auch nie auf den Gedanken verfallen, besagte Anna heiraten zu wollen, die ich hier natürlich nicht als Person, sondern nur als Typus aufstelle.“

„Schön,“ meinte der Rat, „das bist du – aber was mache ich nun mit dem Hagen? Muß er denn zum Donnerwetter vom Fleck weg heiraten? Kann es nicht bei der Liebelei bleiben, bis sie so sachte versandet und verblutet ist? Man braucht nicht gleich an chinesischen Kastengeist und an die Mandarinenknöpfe zu denken und kann doch der Ansicht sein, daß man im Leben über bestimmte gesellschaftliche Unterschiede nicht recht fortkommt!“

Gunther nickte. „Richtig, Papa,“ antwortete er, „so hat leider auch der Baron von Hellstern gedacht –“

Aber der Rat fiel ihm ärgerlich ins Wort:

„Ach was – das waren ganz andere Verhältnisse! Ich bitte dich, wie kannst du das nur vergleichen?“

„Die Ähnlichkeit liegt auf der Hand. Aber streiten wir nicht darüber. Wenn Hagen fest bleibt, wirst du dich fügen müssen. Denn ich nehme nicht an, daß du wegen der Mesalliance – man hört dies Wort übrigens gar nicht mehr, was ich als Beweis dafür auffassen möchte, daß wir doch langsam einer freieren und edleren Beurteilung des Wesens der Liebe entgegenschreiten –, also, ich nehme nicht an, daß du Hagen wegen seiner Herzensaffäre verstoßen und enterben wirst. Abgesehen davon, daß er dies wahrhaftig nicht verdienen würde – wer soll das Geschäft weiterführen?“

„Das ist es ja eben, Gunther! Hagen ist mir unentbehrlich. Er ist eine kaufmännische Kraft ersten Ranges, eine wahre Rechenmaschine – und dann seine glückliche Hand! Aber trotzdem – Straßenbahnschaffner – es ist gräßlich!“

[237]Ein leichtes, etwas bitteres Lächeln flog um Gunthers Lippen: „Denke mal: wenn Hellstern sich damals ähnlich ausgedrückt hätte! – ‚Hemdenfritze – es ist gräßlich!‘ Pardon, Papa, – wer viel über Büchern sitzt, der kommt zuweilen auf merkwürdige Gedanken. Aber bleiben wir beim Thema! Geschäftlich könnte Hagens Heirat euch doch nicht schädigen?“

„Gott bewahre – das Geschäft hat gar nichts damit zu tun.“

„Nun, dann würde ich dir raten: laß dir die Geschichte nicht allzu sorgenvoll durch den Kopf gehen! Warte ab; vielleicht besinnt sich Hagen doch noch eines andern. Jedenfalls opponiere nicht allzu heftig; du stärkst nur den Widerstand.“

Schellheim stand auf. „Ich verstehe nur nicht, daß dich die ganze Sache so gleichgültig läßt,“ sagte er. „Es handelt sich doch um deinen Bruder!“

Auch Gunther erhob sich. „Gleichgültig ist zu viel gesagt, Papa. Meinem innersten Empfinden nach hätte ich mir auch eine andre Partie für Hagen gewünscht. Aber ich würde niemals versuchen, seinem Glück in den Weg zu treten – selbst wenn ich fürchten müßte, es handle sich nur um ein eingebildetes Glück.... Jetzt will ich den Pastor besuchen ...“

Er traf Eycken nicht zu Hause, doch sagte man ihm, daß der Pastor „auf dem Bauplatze“ sei. Das war die Lichtung in der Tannenschonung, wo das Kinderasyl im Entstehen war.

Der Herbsttag war nicht allzu freundlich. Ein kräftiger Wind wehte von den Bergen herab, so daß die Bäume sich neigten und ihr buntes Laub abschüttelten. Der Wind griff es auf und drehte es zu Wirbeln zusammen, quirlte es in langen Schraubenwindungen hoch in die Luft und ließ es hier zerflattern, so daß es abermals wie ein farbiger Regen herabfiel, um dann wiederum zum Spiel des Sturmes zu werden. Aber dieser lustige [238]Wind hatte auch sein Gutes; er hatte die Regenpfützen vom Tag vorher aufgesogen und die Nässe des Bodens getrocknet. Es marschierte sich gut trotz des rauhen Atmens der Natur.

Gunther schritt rasch durch das Dorf, mit lebhaften Augen umherspähend. Die letzten Sommergäste waren noch nicht abgezogen. Ein paar Damen begegneten ihm, ein älterer Herr im Rollstuhl, den ein Diener vor sich her schob, ein junges Mädchen, zwei Kinder an der Hand, und auch der „Badekommissar“. Er war von Schellheim provisorisch angestellt worden, ein Major a. D. mit schönem, graublondem Schnurrbart und verbindlichem Wesen. Der Kommissar grüßte Gunther, obwohl er ihn nicht kannte, er hielt sich für verpflichtet, jeden Fremden zu grüßen, den er traf. Im Hause Braumüllers hatte Bertold Möller schon Einzug gehalten; aber vor den glänzenden Spiegelscheiben der Schaufenster lagen noch die Rouleaux. Vom Kurpark herüber trieb der Wind das Laub in ungeheuren Massen und häufte es in den Chausseegräben auf. Ein paar Arbeiter waren dabei, den Lawn-Tennis-Platz zu säubern, andre errichteten auf der Südseite des Platzes hinter den Ahornbäumen ein langgestrecktes, niederes Gebäude, das zu Verkaufsbuden verpachtet werden sollte.

Die flatternde Fahne mit dem Johanniterkreuz wies Gunther den Weg. Das Kinderhospital war bis zum zweiten Stockwerk gediehen; man hoffte, mit Dachung und Ausbau noch vor Beginn der Frosttage fertig zu werden. Eycken besuchte täglich den Bauplatz. Er ging auf in diesem Liebeswerk, und Herz und Seele schienen in ihm wieder jung werden zu wollen. Selbstverständlich überschritten die Kosten schon jetzt den Anschlag, aber Eycken machte das wenig Kummer. Er wollte nicht sparen – für wen auch? So stieg dieser Palast der armen Kleinen schön und stattlich in die Höhe, mit breiten Fensterfluchten und luftigen Sälen und [239]Zimmern, gewissermaßen ein Stein gewordener Protest gegen die spekulativen Zukunftsideen, die weiter unten im Tale den neuen Kurort Oberlemmingen ins Leben gerufen hatten.

Gunther sah neben Eycken Hedda stehen. Einen Augenblick stockte sein Fuß; er war im Begriff, umzukehren. Aber schon im nächsten Moment schalt er sich einen Toren. Weshalb flüchten? Mußte er nicht im Gegenteil dem Zufall dankbar sein, der ihn hier mit ihr zusammenführte?

Der Pastor hatte ihn schon gesehen.

„I, ist das nicht –“ und dann zog er seinen breitkrempigen Demokratenhut und winkte mit beiden Händen grüßend zu Gunther hinüber.

Auch Hedda nickte ihm zu, ohne Verlegenheit und Verschüchterung, mit freundlichem Lächeln, und bot ihm die Hand, als er näher trat; er selbst aber errötete und kam sich sehr linkisch vor. Selbst die Verbeugung, die er machte, erschien ihm lächerlich.

Die Unterhaltung wechselte rasch. Von den neu entdeckten Faustgeschichten Gunthers ging man zu dem Kinderasyl über, für das Hedda ein ebenso warmes Interesse bekundete wie der Pastor. Sie war wieder täglicher Gast im Pfarrhause und begleitete ihn auf den Bauplatz, sobald sie sich einmal von ihrem Vater frei machen konnte, der immer grämlicher und mürrischer wurde. Er schimpfte nun auch auf Eycken; der Pastor wollte für seine Gründung elektrisches Licht haben, und die Badedirektion schloß sich an. Die Sache war nicht so gefährlich, da man in unmittelbarer Nähe bei den Grunower Mühlen starke Wasserkräfte zur Verfügung hatte. Aber Hellstern brachte gerade diesem hellen und grellen Lichte einen förmlichen Haß entgegen. Er klagte darüber, daß er sein liebes Dorf nie wieder im sanften Lullen der sinkenden Dämmerung sehen würde; selbst bis in seinen Park hinein würden die weißen Lichtstrahlen fallen. Man [240]„vergraulte“ und „verekelte“ ihm geflissentlich den Baronshof. Er schwor Hedda zu, daß er sein Zimmer überhaupt nicht mehr verlassen würde, murrte und räsonierte stundenlang, um das arme Mädchen dann plötzlich wieder an seine Brust zu reißen und durch einen stürmischen Kuß zu versöhnen.

Eycken führte Gunther durch seinen neuen Bau. Es war wirklich nicht gespart worden. Die ganze Anlage zeugte von Zweckmäßigkeit und Gediegenheit; Luft und Licht war die Parole gewesen. Dem Hauptbau sollten sich die notwendigen Nebengebäude anschließen, dann die Ausgestaltung des Gartens mitten in der würzigen und kräftigenden Luft des Tannenwaldes in Angriff genommen werden. Der Pfarrer erläuterte Gunther alles das mit seiner lebhaften, von der Begeisterung für das Gute getragenen Beredsamkeit. Die klaren Augen in dem schönen Greisenantlitz leuchteten dabei wie in heiligem apostolischem Feuer, und Eycken war auch ein Apostel – der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit.

Als man gemeinsam nach dem Dorfe zurückkehrte, lenkte Gunther das Gespräch auf Döbbernitz. Mit Absicht; die erstaunliche Tatsache, daß der schwedische Hellstjern den Zerninschen Besitz gekauft, hatte ihn mit neuer Unruhe erfüllt. Denn noch hatte er nicht alle seine Hoffnungen begraben. Seine Liebe zu Hedda und die bewundernde Anbetung, die er ihr entgegenbrachte, war die alte geblieben; er fand sie schöner als je und sah auf ihrem stolzen Mädchengesicht einen Ausdruck von Vergeistigung und träumerischem Sinnen, der ihm früher nicht aufgefallen war und sie zu verklären schien.

Hedda erzählte in ruhigem Ton das Neueste über Döbbernitz. Klaus von Zernin war verschwunden; irgend jemand wollte ihn in Monte Carlo gesehen haben. Auf Döbbernitz aber regten [241]sich seit Wochen viele hundert fleißige Hände. Baron Hellstjern hatte sich selbst merkwürdigerweise noch gar nicht gezeigt; an seiner Statt schaltete mit unbeschränkter Vollmacht ein Administrator, den Heddas Vater Axel empfohlen hatte. Es war der ehemalige Oberinspektor des alten Zernin, ein Mann, der die Verhältnisse auf Döbbernitz auf das genaueste kannte, voll Zuverlässigkeit und rüstigem Fleiß, eine erstklassige Kraft. Und eine solche brauchte man. Es war keine Kleinigkeit, dies verwüstete Land wieder ertragsfähig zu gestalten. Man mußte sozusagen von vorn anfangen, denn auch vom Inventar war nichts zurückgeblieben; lebendes und totes, bis auf die letzte Kuh und den letzten, schon verrosteten Pflug war verkauft oder gepfändet und verauktioniert worden.

Und während das Land von neuem beackert wurde und aus den tiefen Furchen, die den Boden zerrissen, ein frischer Odem von Lebensfähigkeit aufstieg, wie ein Ahnen kommenden Keimens, trafen im Schloßhofe große Möbelwagen ein, um zunächst dem Mittelbau wieder eine behagliche Wohnlichkeit zu geben. Auch diese Einrichtung überließ Hellstjern fremden Händen; er hatte an den Ohm auf dem Baronshof geschrieben, er habe zurzeit zu viel zu tun, um sich um all diese Dinge kümmern zu können. Die Wahrheit war, daß er sich zu einer ernstlichen Kur entschlossen hatte; der abscheuliche Husten, der seine ganze Konstitution zu erschüttern drohte, mußte einmal fortgeschafft werden.

Gunther hörte mit reger Aufmerksamkeit der Erzählenden zu. Er meinte, er sei recht froh, daß Baron Hellstjern seinem Vater zuvorgekommen sei. Seit der Vater die Leitung der Fabriken abgegeben habe, sei er von fieberhafter Unruhe gepackt, überall wolle er sich beteiligen. Und dann sprach Gunther ganz harmlos von den Heiratsplänen Hagens, die dem Vater so viel Ärger bereiteten. Er tat dies mit Absicht, trotz der anscheinenden Harmlosigkeit; [242]er wollte Hedda auf diesen neuen plebejischen Einbruch in seine Familie vorbereiten, war auch begierig, was sie dazu sagen würde.

Aber sie enthielt sich des Urteils und bemerkte nur, daß sie die Aufregung und die Abwehr des Kommerzienrats begreifen könne, denn zweifellos sei die beabsichtigte Heirat Hagens ein „Tiefersteigen“. Eycken war nicht dieser Ansicht, suchte wenigstens den gesellschaftlichen Abfall des grimmen Hagen zu beschönigen und zu entschuldigen; in der Liebe zum andern Geschlecht gäbe es keine Dummheiten, oder aber diese ganze Liebe sei Dummheit. Im übrigen steige Hagen seiner Meinung nach keineswegs „hinab“, sondern zöge höchstens sein Mädchen „herauf“.

Vor dem Parktore des Baronshofes trennte man sich. Hedda bat um den Besuch Gunthers und dieser sagte mit tiefer Verneigung zu.

Der Baron saß wie gewöhnlich bei seiner Familiengeschichte. Er steckte mitten im achtzehnten Jahrhundert; das Lateinische und Schwedische war dem Französischen gewichen. Aber auch bei diesem verschnörkelten alten Französisch fehlten ihm häufig Vokabeln und sinnverwandte Ausdrücke, und dann mußte er die Lexika durchstöbern. War Hedda zugegen, so ging das alles viel schneller.

Hellstern war im letzten Jahre noch dicker geworden. Die Ischias hatte etwas nachgelassen, aber ein Asthma kündigte sich an. Der Baron verzichtete jetzt auf jede Bewegung; nur mit Mühe schleppten Hedda und August ihn dann und wann auf ein Viertelstündchen in den Park. Er hatte sich vollständig in seinen Ärger über die modernen Veränderungen in Oberlemmingen verbissen. Eine Art fixer Idee spielte dabei mit. Er war überzeugt davon, daß man ihn von Haus und Hof vertreiben wolle. Die Möllers bauten rechts seitwärts vom Parkausgange eine Brauerei und hatten eine Parzelle des Dorfangers vom Fiskus erstanden. Das [243]wurmte Hellstern furchtbar. Nun hatte er wirklich Qualm, Dampf und Rauch, Geräusch und Gestank direkt vor der Nase.

„Gunther Schellheim ist wieder hier, Papa,“ sagte Hedda beim Eintreten; „er läßt dich grüßen.“

„Ist mir ’ne hohe Ehre,“ erwiderte der Alte giftig. „Hat er vielleicht seinen Antrag wiederholt?“

„Nein,“ sagte Hedda und band ihren Hut ab; „warum bist du so schlechter Laune?“

„Das würdest du auch sein, wenn du dich so ärgern müßtest wie ich. In diesen Akten kommen Ausdrücke vor, für die es in keinem Lexikon der Welt Erklärungen gibt.“

„Ich werde dir helfen,“ entgegnete Hedda geduldig und nahm auf dem aus den vierzehn Folianten der Merianschen Topographie gebildeten Sitze Platz.

Aber der Alte wollte noch plaudern. „Wie sieht der Herr Gunther aus?“ fragte er.

„Gut – männlicher als sonst. Er kommt eben aus dem Manöver. Es ist merkwürdig, was wir für einseitige Menschen sind! Ich bin überzeugt, in seiner hübschen Husarenuniform würde er mir sehr gefallen. Schwarz und silberne Verschnürung, mit dem großen Totenkopf auf der Bärenmütze.“

„Ich weiß,“ erwiderte Hellstern nickend; „ein gutes Regiment. Nun, dieser Gunther ist ja doch auch immerhin ein anständiger Mann ... Da ist ein Brief von Axel gekommen, der dich interessieren wird.“

Er reichte Hedda das Schriftstück, und sie begann zu lesen:

„Liebster Onkel – liebste Cousine!

„Zunächst Verzeihung, daß ich französisch schreibe – es geht mir immer noch rascher von der Hand wie Eure Muttersprache, und ich habe Euch eine ganze Menge zu erzählen. Wie Ihr aus dem Poststempel erseht, bin ich nicht in Berlin, sondern in [244]Gehringen. Das liegt in der Schweiz, ein Stündchen von Basel, und ist eine Heilanstalt, die mir ein befreundeter Arzt empfohlen hat. Ich wollte nämlich einmal meinem Husten zu Leibe gehen. Nun kuriert man hier unten freilich nicht auf gewöhnliche Weise, mittels allerhand Mixturen aus Flaschen und Schachteln und Töpfen, sondern durch Sonnenbäder, Elektrizität, Massage, kaltes und heißes Wasser, Fichtennadeln und Gott weiß was noch – aber die Tatsache steht fest: es geht mir bedeutend besser, so daß ich mich mit der Hoffnung trage, Euch in üppiger Gesundheit wieder begrüßen zu können.

„Und das soll bald geschehen. Mein Abschied ist mir in Gnaden bewilligt – sogar mit einem Orden, der sehr schön aussieht und an einem Bande mit drei Farben hängt. Da will ich mich denn nun im Spätherbst in Eurer Nähe, nämlich in Döbbernitz, festsetzen. Rieske, der Verwalter, den Du, lieber Ohm, mir empfohlen hast, scheint sich ausgezeichnet zu machen. Er schickt mir wöchentlich zwei ausführliche Berichte, die mich über alles informieren und trotzdem knapp gehalten sind. Das gefällt mir. Ich finde auch, daß er sparsam wirtschaftet. Die Anschaffung des Inventars und die Instandsetzung der ganzen Geschichte verlangen natürlich Opfer, aber ich bringe sie gern. Schon weil ich nun wieder ein Heimatplätzchen bekomme. Ich kann Euch nur sagen, daß ich mir immer wieder von neuem Glück zu meiner Idee wünsche. Es war der vernünftigste Streich meines Lebens, der Ankauf von Döbbernitz.

„Sehr, sehr gern würde ich es sehen, wenn Hedda sich einmal die Schloßeinrichtung ansehen wollte. Eine Masse hübscher Möbel habe ich unterwegs kaufen können, auch hier in der Umgegend, auf alten Bauerngehöften und in den Kleinstädten noch mancherlei Nettes und Interessantes gefunden. Aber die weibliche Beihilfe fehlt mir doch. Und [245]dann weiß ich nicht, wie die Berliner Dekorateure die Sache arrangiert haben. Ich werde wohl alles wieder ‚umkrempeln‘ – sagt Ihr nicht immer ‚umkrempeln‘? –, wenn ich erst in Döbbernitz bin. Hedda, dabei mußt Du mir aber zur Hand gehen! Das kann ich als Vetter verlangen. Ein paar Zimmer werden so wie so für Euch beide eingerichtet, denn ich hoffe, Ihr werdet öfters, nein recht oft, sehr oft, bei mir zu Gast sein. Die moosgrün bezogenen Möbel sind speziell für Dein Zimmer bestimmt, Hedda. Ich fand die Formen so hübsch, edel und schön in den Proportionen, nicht so spielerisch und gesucht originell, wie der moderne englische Geschmack sie liebt. Der Renaissanceschrank und das große Himmelbett stammen aus dem Palazzo Formosa in Bologna.

„Siehst du, Hedda, und da freue ich mich jetzt schon darauf, mit Dir zusammen im Schlosse von Döbbernitz Ordnung und Behaglichkeit schaffen zu können. Wir gehn zimmerweise vor, und für jedes Zimmer lasse ich dich extra vom Baronshofe holen, damit das Vergnügen länger dauert. Und dann freue ich mich auch auf unsre Spaziergänge im Walde, unten am See, wo die Eichen stehen und der große Felsblock liegt. Ich sagte es Dir ja: bei Euch werde ich wieder ganz gesund und auch noch einmal jung werden, denn es weht Heimatluft bei Euch, und die war’s, die mir fehlte. Ich bin ganz krank vor Sehnsucht. Das ist mir noch nie passiert.

„Ende Oktober denke ich zurück zu sein. Fröhlichen und herzlichen Gruß Dir, Onkel, und Dir, liebe Base, von

Euerm getreuen

Neffen und Vetter Axel.“

Bedächtig steckte Hedda den Brief wieder in das Couvert.

„Er klingt wirklich sehnsüchtig, der Brief,“ sagte [246]Hellstern mit Betonung. „Weißt du, Hedda, ich mache mir so meine Gedanken.“

Sie hatte sich tief über das Lexikon gebeugt, das auf ihren Knieen lag, und in dem sie mechanisch blätterte. Als sie den Kopf hob, sah der Alte, daß sie auffällig blaß war.


An diesem Tage gedachte Fritz Möller, sich mit der Dörthe endgültig auszusprechen. Es mußte einmal geschehen. Die Eltern drängten, Albert und Bertold nicht minder. Grödecke aus Frankfurt hatte eines Tages seinen Freund Albert Möller in Oberlemmingen besucht. Er brachte seine Tochter Frida mit, ein großes, starkes, sehr brünettes Mädchen mit energischen Zügen. Fritz sollte sich mit ihr „anvettern“, und das geschah denn auch. Er fand sie nicht so übel, obwohl ihr stechender Blick und ihr rasch zugreifendes Wesen, auch ihre Erscheinung ihm einen ausgewachsenen Pantoffel prophezeiten. Noch wurde nicht vom Heiraten gesprochen, doch Frida wußte bereits Bescheid. Sie ließ sich das ganze Haus zeigen, vom Dach bis hinab zum Weinkeller; sie nahm es schon in Besitz. Auch die Angelegenheit mit der Engrosschlächterei, die den Badeort, das Kinderhospiz und die Güter in der Umgegend versorgen sollte, war zur Reife gediehen. Wieder hatte einer der Bauern sein Gehöft verkauft – Thielemann, dessen Besitz den Möllers am bequemsten lag. Dorthin sollte das Schlachthaus kommen.

Gegen Abend hatte der Wind sich gelegt. Fritz hatte Dörthe gebeten, sich mit ihm an der Quelle zu treffen; er habe Wichtiges mit ihr zu besprechen. Sie hatte sich auf dem Baronshof auch freimachen können und war pünktlich zur Stelle, in ihrem Arbeitskleide, aber ein neues dreieckiges Tuch um die Schultern geschlagen, mit bloßem Kopfe.

Fritz war noch nicht da. Dörthe wanderte in den schweigenden Anlagen auf und ab. Das falbe [247]Laub rauschte unter ihren Füßen. Ein letztes Sonnenflackern glitt durch die Baumkronen, fahlgelb, ein erlöschendes Licht.

Das Mädchen war nicht in Sorgen. Im Gegenteil – ein Zug heiterer Zufriedenheit lag auf dem hübschen, braunen Gesichtchen. Sicher handelte es sich um eine Besprechung wegen der Hochzeit. Vielleicht sollte sie schon vor Weihnachten sein. Wie schlug der Dörthe das Herz!

Sie hatte sich auf eine der Sandsteinstufen an der Quelle gesetzt. Das Wasser sprudelte nicht, aber man hörte sein Rauschen unterhalb der Einfassung, ein leises Gemurmel wie von fernen Stimmen. Die Rosen in den Bosketts waren abgeblüht, der wilde Wein, der sich um die Eisenträger der Wandelhalle schlang, schimmerte feuerrot. Überallhin hatte der Herbst seine Farbenflecke gestreut.

Als Dörthe ihren Bräutigam kommen sah, sprang sie auf, lief ihm entgegen und fiel ihm in die Arme. Er umschlang sie, ohne sie zu küssen, und schritt mit ihr den Weg hinab. „Komm unter die Buchen,“ sagte er, „die Liese spürt mir wieder mal nach.“

Jetzt durchzitterte sie eine Ahnung aufkeimenden Leids. „Gott, Fritz, was gibt’s denn?“ fragte sie.

Er wartete mit der Antwort, bis sie tiefer im Buchenhain waren, den die Badedirektion mit dem Kurpark verbunden hatte. Aber auch hier blieb er nicht stehen, sondern schritt weiter mit ihr, während er rasch, als wolle er es von der Seele haben, und mit kurzen Unterbrechungen sprach.

„Also, Dörthe, es geht nicht mit unsrer Heirat. Die ganze Familie ist dagegen – ich habe mich mit allen herumgezankt, weil ich es durchsetzen wollte; aber überwerfen kann ich mich mit den Eltern nicht und auch nicht mit den Brüdern. Es steht zu viel auf dem Spiel – gerade jetzt ... Du mußt mir nicht böse sein, Dörthe – ich habe es immer gut gemeint und dich lieb gehabt – und wir hätten ja [248]auch so gut zusammengepaßt – aber – du hättest bloß einmal Vatern sehen sollen, als ich ihm sagte: nein, ich wollte fest bleiben, denn ich hätte dir die Hochzeit versprochen. Mit beiden Fäusten ist er da auf mich losgefahren und mit Augen wie Teller so groß – Dörthe, an mir liegt es ja nicht – es liegt nicht an mir ...“

Seine Stimme wurde leiser; es ging ihm doch zu Herzen, dieses Abschiednehmen. Aber er war noch nicht zu Ende; er hatte das Bestreben, sich gänzlich zu entlasten, und fing immer wieder von vorn an, von der Gegnerschaft der Eltern und den wütenden Augen des Vaters und dem ewigen Schimpfen; er wisse sich nicht mehr zu helfen; er sei abhängig von dem Alten sowohl wie auch von Albert, der jetzt das große Wort in der Familie führe, und alles Bitten und Jammern habe ihm nichts genützt. Und dann kamen wieder die wütenden Augen des Vaters an die Reihe – „wie Teller so groß“.

Dörthe hatte kein Wort entgegnet. Sie war wie vom Schlage getroffen. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe geschwunden; schwer schleppte Fritz sie an seiner Seite weiter. Sie hatte keine Ahnung von den gegen sie und ihr Glück gerichteten heimlichen Treibereien, und in der Engigkeit ihres dummen, kleinen Bauernhirns hatte sie auch gar nicht einmal gemerkt, wie man sie mit kluger Politik in letzter Zeit vom Gasthause fernzuhalten suchte. Anfänglich fand sie nicht einmal Tränen unter der Wucht des auf sie herabsausenden Unglücks. Sie war so starr, daß ihre Augen trocken blieben und ihre Lippen schwiegen. Aber als Fritz, um das Herzweh und die Verlegenheit des Augenblicks zu überwinden, weiter und weiter sprach, immer mit den gleichen Phrasen, sich zwanzigmal wiederholend, da schäumte ganz plötzlich die Wut über den ihr zugefügten Betrug und über die Treulosigkeit und Schwäche des Geliebten in ihr auf; sie riß sich von ihm los und schrie:

[249]„Nu sei doch man still! Ich hör’ ja schon! Ich weiß ja schon alles! Pfui, bist du gemein! Du hast’s gar nicht ernst gemeint! Du hast bloß drauf gewartet, daß –“

Und dann brachen die Tränen hervor, in Strömen und unaufhaltsam. Sie warf sich auf die Erde, in das taufeuchte Laub, und schluchzte und wimmerte ununterbrochen. Als er sich zu ihr hinabbeugte, um sie mit einigen schlecht angebrachten Trostworten aufzuheben, schlug sie nach ihm und schrie von neuem los: er solle sie nicht mehr anrühren, er sei ein elender Lump, er möge heiraten, wen er wolle, oder wen seine Eltern für ihn aussuchten – er ließe sich ja doch nur am Gängelbande führen wie ein kleines Kind.... Sie gebärdete sich wie unsinnig und blieb auf der feuchten Erde liegen, während ihr Körper konvulsivisch zuckte.

Fritz wußte nicht, was er machen sollte. Am liebsten wäre er davongelaufen – nach Hause, zu Vater und Mutter und Albert; die hätten vielleicht Rat schaffen können. Er hatte seine Mütze auf das rechte Ohr geschoben, kraute sich den blonden Wirrkopf und blickte hilflos umher. Es war allgemach dunkel geworden. Am Himmel flammten schon die Sterne auf. Ein Käuzchen schrie in der Nähe.

„Dörthe,“ sagte Fritz endlich in beklommenem Tone, „Dörthchen – hör doch man zu – ich bin ja nicht so ... ich würde ja gern, wenn’s bloß auf mich ankäme –“

Jetzt sprang sie mit einem Satze empor. Ihr ganzes Gesicht hatte sich verändert. Der Schmerz verzerrte es und grub seine Linien in das niedliche Oval; die Augen blitzten.

„Ist’s wahr, Fritz – bist du mir immer noch gut?“

„O Gott!“ erwiderte er und versuchte, sie zu umfassen.

[250]Aber sie entglitt ihm.

„So wirst du noch einmal mit den Alten und mit Albert sprechen,“ fuhr sie energisch fort, und doch klapperten dabei ihre Zähne in fröstelnder Angst. „Verstehst du? Sagst ihnen, daß du nicht mehr zurückkönntest, daß du kein Lump sein wolltest, daß du darauf beständest, dein Wort zu halten, und wenn’s auch zu wer weiß was käme! Wirst du das tun? Fritz, bist du denn nicht ein Mann?!“

Die Verzweiflung beflügelte ihre Worte. Sie stieß mit ihren beiden Händen nach seinen Schultern, als wollte sie auf seine Kraft und Stärke pochen, drängte sich dicht an ihn heran und krallte dann wie eine Wahnsinnige ihre Finger in seine Arme ein.

„Bist du nicht ein Mann?!“ schrie sie abermals. „Und fürchtest dich vor Vatern und vor seinen großen Augen! Und vor Albert, den du mit einer Hand aufheben kannst! – Was ist denn, wenn du ihnen nicht gehorchst? Bist du nicht ausgewachsen und mündig? Aber du zitterst ja schon, wenn Vater nur spricht – du Feigling, du Bangebüchse!“

Sie begann wieder zu schimpfen und dann von neuem zu weinen. Ihre Energie war verraucht. Aber die Verächtlichkeit, mit der sie ihn behandelte, entzündete doch seinen Stolz. O – eine „Bangebüchse“ war er nicht! Um des lieben Friedens willen hatte er nachgegeben, aber noch war nicht aller Tage Abend. Schön also – er würde nochmals mit dem Alten sprechen, „ganz verflucht“ würde er mit dem Alten sprechen. Was konnten sie ihm denn tun? War er nicht ausgewachsen und mündig?

Und als er sah und spürte, wie Dörthe an allen Gliedern zitterte, nahm er sie mit raschem Entschlusse auf seine Arme und trug sie so durch den Wald zurück, damit sie sich an seiner Brust erwärme, wie ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist, und das ein barmherziger Junge unter die Weste geknöpft hat, um es mit nach Hause zu [251]nehmen. Und wirklich – ihr wurde auch warm. Ihr Ohr lag an seinem Leinenkittel, und sie hörte sein Herz hämmern. Ein Wonneschauer durchrieselte sie, und frisches Hoffen ließ sie selig lächeln. Das war die letzte Stunde Glücks der Dörthe, da er sie heimtrug durch den Wald, über den die Finsternis immer tiefer hinabsank.

Am nächsten Vormittag gab es eine entsetzliche Szene bei den Möllers. Vater und Sohn waren handgemein geworden. Und da hatte die alte Möllern die Flinte aus der Ecke gerissen und sie, den Kolben gegen den Leib gedrückt, auf Fritz angelegt. Albert war dazwischengesprungen.

Das Ende war, daß Fritz sich kraftlos ergab. Er saß mit blassem Gesicht, das Haar in die Stirn hängend, am Tisch und schrieb den Brief, den Albert ihm diktierte:

„Liebe Dörthe!

Es geht nicht mit uns. Das erkläre ich Dir hiermit zum letztenmal, und damit Du auch weißt, warum nicht, will ich es Dir sagen: nämlich wegen der Quelle. Die Quelle stellt höhere Anforderungen an mich, liebe Dörthe, denen ich nachkommen muß. Willst Du noch mehr darüber wissen, so wende Dich an Albert, der Dir in Ruhe und Freundschaft alles auseinandersetzen wird, liebe Dörthe. Jetzt wollen wir uns beide geduldig unserm Schicksal fügen und uns möglichst wenig zu sehen kriegen. Das ist das beste, und mit der Zeit wirst Du mir auch nicht mehr böse sein, liebe Dörthe, denn Du wirst sicher einen andern guten und lieben Mann bekommen, den Dir von Herzen wünscht

Dein Fritz.“

Die verschiedenfachen „liebe Dörthe“ hatte der Schreiber aus eigner Machtvollkommenheit eingefügt. Gern hätte er am Schlusse gesagt: „Dein Dich immer noch lieb habender Fritz“ –; aber Albert schaute ihm auf die Finger, auf denen die [252]ungewohnte Federarbeit schwarze Tintenstreifen hinterließ.

Ein Junge brachte den Brief zu Klempt. Man wußte, daß Dörthe allabendlich ihren Vater besuchte, und wollte auf dem Baronshof keinen Skandal erregen.

Das Mädchen war noch nicht da, als der Brief abgegeben wurde. Tante Pauline nahm ihn in Empfang und betrachtete ihn mißtrauisch. Dann holte sie ihr Punktierbuch aus der Truhe und setzte sich damit an das Fenster, durch das der letzte Schein des Abendrots fiel. Sie war doch neugierig, was das zu bedeuten hatte: ein Brief gerade am Neumond.

Klempt legte soeben in der Werkstatt sein Arbeitszeug beiseite, reinigte den Hobel, mit dem er hantiert hatte, und fegte dann die Späne zusammen. Er war im Begriff, seine Schürze abzubinden, als es an die Fensterscheiben klopfte und die fröhliche Stimme Dörthes ihm zurief:

„Feierabend machen, Vater!“

Im nächsten Augenblick hörte er den Widerhall ihrer Pantoffeln auf den Steinen des Hausflurs und dann eine Tür schlagen. Dörthe ging in die Wohnstube.

Doch was war das? Der Alte lauschte. Schrie da nicht jemand?

Er stürzte hinüber. Nur der schmale Flurgang trennte die Werkstatt von der Wohnstube, in der Tante Pauline bereits die Lampe angezündet hatte.

Dörthe saß am Tisch und hielt den Kopf mit den Armen umschlungen. Schweigend deutete Tante Pauline auf den erbrochenen Brief; ein bitteres Lächeln zuckte um ihre scharfen Lippen.

„Lies mal,“ sagte sie; „vor fünfundvierzig Jahren – da hat mich der alte Möller grad’ so sitzen lassen.“

Das ganze Herz voll schluchzenden Grams, gebrochen und zerschmettert, trat Klempt unter die Haustür. Er konnte den Schmerz der Tochter nicht sehen, tausend Wunden bluteten in ihm.

[253]Lind und fast sommerlich verrann dieser Herbsttag. Golddurchflimmerte Dämmergewebe umspannen das Dorf, und noch leuchtete der Himmel im Westen in duftigem Rosa. Von den Wiesen stiegen ganz feine Nebel auf, streifenweise und leise zitternd, und schlangen sich um die Häuserfirste und das Geäst der Bäume. Nur der Kurpark lag schon völlig im Nebel, in einem wogenden, milchigen Meer.

„Wegen der Quelle!“

Und in seinem furchtbaren Herzenskummer, der den stillen und ruhigen Mann wütend machte, ballte Klempt die Hände und erhob sie drohend und schüttelte sie nach der Richtung des weißen Nebelsees, in dem der Kurpark versank: „Verfluchte Quelle!“

Zwölftes Kapitel

Ende Oktober ereignete sich ein tragisches Vorkommnis, das viel besprochen wurde und Aufsehen erregte. Braumüller, der sich das Trinken angewöhnt, seit er nichts mehr zu tun hatte, war eines Nachts wieder einmal in vollem Rausche nach Hause getorkelt, hatte den Weg verfehlt und war in eine Kalkgrube gestürzt, die zu Bauzwecken benutzt wurde, und die man am Abend vorher unglücklicherweise vergessen hatte mit Brettern zu bedecken, wie es sonst geschah. Erstickt und verbrannt wurde der Unglückliche am nächsten Morgen aus der Grube gezogen; vielleicht hatte ihn auch schon beim Sturze ein Schlagfluß getroffen.

Für Hellstern war der arme Braumüller ein „neues Opfer der Kulturmission von Oberlemmingen“. Braumüllers Untergang war seiner Ansicht nach die logische Folge der industriellen Hetzjagd, die von Schellheim und den Möllers in Szene gesetzt wurde, um aus der Quelle so viel als möglich [254]herauszuschlagen. Er war ein tüchtiger und arbeitsamer Bauer gewesen; aber dann erfaßte ihn die Gier nach schnellem Reichtum, und er verkaufte sein Anwesen, um nun allmählich in lässiger Faulheit der Trunksucht anheimzufallen.

Zweifellos urteilte Hellstern in seiner Vereinsamung und Verbissenheit einseitig und ungerecht. Aber ebenso zweifellos machte sich im Dorfe die bei ähnlichen Gelegenheiten oft beobachtete Tatsache geltend, daß das unerwartet rasche Emporschnellen der Erwerbsverhältnisse von ungünstiger Rückwirkung auf die Bauern war. Man ernährte sich recht und schlecht auf seinem kleinen Besitz; man legte in guten Jahren ein paar Taler zurück und verbrauchte sie wieder in knapperen; man schlug sich bei harter Arbeit durch, schimpfte auf die Steuern und war dabei fröhlichen Muts. Und nun sah man plötzlich, daß es ein viel bequemeres Verdienen gab als das, was man erlernt, was der Sohn vom Vater und der Vater vom Großvater übernommen hatte. Die Möllers machten es den andern vor. Die hatten den Bauernkittel abgelegt und waren Geschäftsleute geworden, und sie wurden reich dabei. Warum sollte man ihnen nicht folgen? War es nicht ein kümmerliches Leben, das man bis dahin geführt hatte? – Thielemann, der Krämer, hatte für sein Gehöft ein hübsches Stück Geld eingesackt; nun war er nach Züllichau gezogen und eröffnete dort eine Materialwarenhandlung. Das war auch ein leichterer Verdienst, und vor allem: hatte man nicht dabei ein viel besseres Leben als hier auf dem Lande, wo man mit Sonnenaufgang aus den Federn mußte und des Abends todmüde ins Bett sank?

Es waren besonders die Frauen und die erwachsenen Töchter, die sich der revolutionären Bewegung in Oberlemmingen mit Begeisterung anschlossen. Sie steckten sich hinter die Männer und redeten in sie hinein: warum verkaufte man nicht? Die Möllers zahlten gute Preise – mit dem gewonnenen [255]Gelde ließ sich schon etwas anfangen! ... In der Tat kauften die Möllers auf, was sich ihnen anbot. Sie hatten es um so eiliger, als einige der reicheren Bauern, wie Langheinrich und der Lehnschulze Wittke, sich gleichfalls mit Spekulationsideen zu befassen begannen. Auch sie wollten Logierhäuser bauen: sie legten den Pflug beiseite und wurden „Unternehmer“. Das füllte besser die Kassen. Aber die Möllers ärgerten sich darüber. In kluger Berechnung wollte Albert nach und nach das ganze Dorf an sich bringen, um das Gegengewicht des Kommerzienrats zu schwächen. Wenn den Möllers das Terrain rings um die Quelle gehörte, wenn sie das goldspendende Heilwasser gewissermaßen zernierten, von allen Seiten umschlossen und mit einem Villenkranze umgaben, dann mußten sie trotz der Millionen Schellheims doch schließlich die Sieger bleiben. Und das war die heimliche Sehnsucht Alberts: den Kommerzienrat zu übertrumpfen und bei geeigneter Gelegenheit die gesamten Anteilscheine des Unternehmens in die Hände der Familie zu bringen. Das war ein schwieriger Kampf, aber Albert schreckte nicht vor ihm zurück. Sein Kredit war gestiegen; das Bad verhieß eine blühende Zukunft; selbst die größeren Banken verhielten sich Albert gegenüber nicht mehr so abwehrend wie früher. Und er nahm Gelder auf, wo sie sich ihm boten; er kaufte, was zu kaufen möglich war, und baute unverdrossen darauf los. In seiner geschäftigen Phantasie war bereits anstatt des kleinen Dorfs eine prächtige Villenstadt erstanden, in der es keine Bauern mehr gab, sondern nur noch „Gäste“, die das Tal überströmten und Gold in Massen zurückließen. Er trug sich auch immer noch mit der Absicht, den Baronshof zu erobern, denn dorthin sollte das Sanatorium kommen, und er spekulierte auch nach dieser Richtung hin nicht unrichtig: der Baronshof sollte umzingelt werden. Die Brauerei vor der Parkeinfahrt war der Anfang; man wollte Hellstern [256]das Leben schwer machen, man kannte seine Schwächen; der Rauch der Fabrikschlote und der Spektakel der Maschinen sollten ihn forttreiben.

Um all diese Ideen und Machenschaften der Möllers kümmerte sich der Kommerzienrat wenig. Das war ihm zu kleinlich; er konnte keine Logierhäuser bauen und sie an die Badegäste vermieten. Aber die Brauerei hätte er gern in die Hand genommen; er ärgerte sich, daß Albert ihm zuvorgekommen war. Er hatte viel Verdruß in dieser letzten Zeit. Eines Tages traf Hagen auf dem Auberge ein – unerbeten und unerwartet – und brachte seine Anna mit. Er wollte sie der Mutter vorstellen.

Die kleine, blonde Stepperin hatte einen gewissen natürlichen Takt, und das erleichterte ein wenig die Schwierigkeiten der Annäherung. Sie war auch lernbegierig und anpassungsfähig; man hatte ihr im Pensionat schon beigebracht, sich zu benehmen und die Sitten der sogenannten guten Gesellschaft zu respektieren. Nur merkte man ihr noch allzusehr an, daß sie sich mit einer beständigen inneren Angst abmühte, korrekt zu sein und sich nichts zu vergeben. Bei Tische schielte sie zuweilen unruhig zu den künftigen Schwiegereltern hinüber, hantierte nach bester Etikette mit Messer und Gabel und ließ die Serviette zusammengefaltet neben sich liegen. Sie mischte sich nie unaufgefordert in die Unterhaltung, und wenn sie angeredet wurde, zuckte sie empor und rückte auf ihrem Stuhle hin und her, als ob sie aufspringen wolle. Auch hatte sie vor Verlegenheit beständig ein rotes Köpfchen und wußte nie, wo sie ihre Hände lassen sollte. Aber das waren Kleinigkeiten. Im allgemeinen war der Eindruck, den sie hinterließ, kein übler. Auch die Rätin schien weniger erwartet zu haben. Sie hatte in jenen Tagen mehrfache Unterredungen mit ihrem Gatten, der während der Konferenzen stets aufgeregt im Zimmer umhermarschierte.

[257]„Es ist nichts zu machen,“ sagte die Rätin sanft; „Hagen bleibt fest. Und vielleicht ist es wirklich sein Glück; sollen wir es ihm zerstören?“

„Trotzdem ist es schrecklich,“ antwortete Schellheim grollend. „Wenn nur der Vater nicht Straßenbahnschaffner wäre! Ausgesucht Straßenbahnschaffner!“ ...

Das ging wirklich nicht. Er vergaß, daß sein eigner Großahn noch mit dem Packen auf dem Rücken die Schenken und Jahrmärkte besucht hatte. Der Sohn eines Königlichen Kommerzienrats konnte unmöglich einen Straßenbahnschaffner als Schwiegervater haben. Der Mann mußte aus Berlin fortgeschafft werden; es war angebracht, wenn man möglichst wenig mit ihm in Berührung kam. Er sollte mit seiner Familie nach Manchester übersiedeln. Das war ein guter Gedanke. Dort konnte man ihm in der Fabrik eine auskömmliche Stellung geben; er hatte da auch einen bequemeren Dienst als bei der Berliner Straßenbahn ...

Gunther weilte noch immer im Auschlosse. Er hatte seine Dozentenstelle aufgegeben, um sich in größerer Ruhe seinen Forschungen widmen zu können. Sein Faustbuch war erschienen und hatte ihm einen glänzenden Sieg errungen. In der wissenschaftlichen Welt war sein Name nunmehr bekannt, sein Ruf gefestigt. Das gab ihm auch ein größeres Selbstvertrauen. Er war nicht mehr nur der Sohn eines reichen Mannes; der Ruhm zog vor ihm her. Wußte das Hedda? War auch auf den Baronshof die Kunde von seiner Entdeckung gedrungen?

Der Verkehr zwischen Auschloß und Baronshof war wieder aufgenommen worden, aber er blieb in höflichen Grenzen. Hellstern und Schellheim verstanden sich nicht, konnten sich auch nicht verstehen. Sie sprachen wie in fremden Zungen miteinander. Aber Gunther hatte es einzurichten gewußt, daß er öfters mit Hedda zusammentraf. Einmal erzählte er ihr auch von seinem Siege. Sie freute sich darüber und beglückwünschte ihn. Das klang herzlich, [258]aber doch nicht so warm, wie sich Gunther gewünscht hätte. Er schaute immer noch bewundernd zu ihr auf, und seine Sehnsucht, dies stolze Mädchen zu erringen, war die alte geblieben. Und immer noch ängstigte er sich vor dem schwedischen Vetter, gegen dessen alten Namen er nur seinen jungen Ruhm in die Wagschale legen konnte.

An einem der letzten Oktobertage war Axel auf Döbbernitz eingetroffen. Irgend eine Botenfrau hatte es auf dem Baronshofe erzählt. Es dauerte auch nicht lange, so fand sich Axel persönlich ein. Ein eleganter Parkwagen, prächtig bespannt, hielt eines Vormittags vor der Veranda. Elastisch und sichtlich erfrischt durch seine Kur in dem Schweizer Wunderbad, sprang Axel die Stufen hinauf und rief nach dem Onkel und Hedda. Hedda kam auch, aber den Alten bannte wieder die Ischias an den Stuhl; er war wie festgenagelt. Doch auch er freute sich über das Wohlbefinden des Neffen. Noch war ja nicht alles in Ordnung, denn bei der leisesten Erkältung stellten sich die Bronchialbeschwerden wieder ein – aber ein Fortschritt war da. Axel fragte, ob er Hedda mit nach Döbbernitz nehmen könne. Sie war zwar schon einmal auf dem Schlosse gewesen, doch in Tagen, an denen noch eine chaotische Unordnung in allen Zimmern geherrscht hatte. Nun aber sollte sie bewundern und staunen; Axel selbst wollte sie am Nachmittag wieder zurückbringen und „in bester Emballage abliefern, wie ein kostbares Püppchen aus vieux Saxe“.

Hellstern sagte ohne weiteres zu. Es wäre lächerlich gewesen, wenn er sich um Hedda hätte sorgen wollen; die Obhut Axels genügte ihm. Ja – wenn Klaus Zernin noch Herr auf Döbbernitz gewesen wäre! Nicht um alle Schätze der Welt würde der Alte seine Hedda dem auch nur für eine Stunde anvertraut haben!

So fuhr man denn wieder einmal durch den Wald. Ach, dieser Wald, wie kannte er Heddas [259]Seele und alle Regungen ihres Herzens! Ihm hatte sie sich anvertraut in Freude und Leid und Bangigkeit, und ihr Weh wie ihren Jubel hatte sein ewiges Rauschen aufgefangen und zum Himmel getragen. Wie vertraut war er ihr auch, wie kannte sie seine Stimme: sein kosendes Flüstern und lindes Säuseln, sein Ächzen und Stöhnen, wenn der Sturm anhub, und den vollen Orgelschall seiner Kronen, wenn der Wind durch die Wipfel tanzte. Und wie lieb war er ihr! In der knospenden Frühlingspracht, bei dem mailichen Rüsten der Natur, dem lichtgrünen Brautschmuck, den jeder Baum, jeder Strauch anlegte, und selbst der Moosgrund mit seinem wilden Gewirr von Erdbeerkraut, Farn und Krokus; im glühenden Prangen des Sommers, wenn das dichte Laubwerk den Sonnenstrahlen wehrte und unter den Buchen und Eichen ein köstliches Dämmerlicht herrschte – im Winter, beim Flimmern der Eiskristalle und der Weihnachtsstimmung in der weiten, schweigenden Runde, und endlich zur Herbstzeit, wie jetzt, bald lachend in seinem bunten Kleide und bald melancholisch, wenn die Nebel ihn umschlichen und die Regenschauer ihn durchpeitschten. Immer hatte sie ihn gleich lieb, den Wald, der ihre Seele kannte und alle Regungen ihres Herzens ...

Nun tat er sich auf. Die Bäume traten zurück – da sah man Döbbernitz liegen! Vom Schloßturm herab flatterte eine Doppelfahne, die preußische und die schwedische – „dir zu Ehren, Hedda,“ sagte Axel und nahm den Hut ab.

Er sprach das sehr feierlich, doch Hedda achtete kaum darauf. Es beschwerte etwas ihr Herz – sie wußte selbst nicht so recht, was es war. Vielleicht der Gedanke an Klaus. Es war nur natürlich, daß sie an ihn dachte, da sie Döbbernitz vor sich auftauchen sah. Die Leute sagten, er säße noch immer in Monte Carlo. Er war ja so wie so verloren für sie ...

Der Wagen rasselte in den gepflasterten Schloßhof. [260]Diener sprangen herzu; unter dem Portal erschien ein älterer Mann in einfachem Livreerock: der Schloßverwalter. Man merkte sofort, daß hier wieder Ordnung und Reichtum herrschten.

Axel bot Hedda zunächst Frühstück an, doch sie dankte. Nun begann der Rundgang durch das Schloß. Der westliche Flügel stand noch leer; aber Mittelbau und Ostflügel enthielten allein schon über dreißig Zimmer und Säle. Und Hedda erstaunte und bewunderte in der Tat. Mit reichlichen Mitteln ließ sich ja vieles machen, aber hier hatte vor allem ein gediegener, feiner und durchgebildeter Geschmack die Führung übernommen. Er sprach aus jedem Arrangement, jeder Einzelheit. Es war Hedda unfaßlich, daß Axel dies alles ohne persönliches Eingreifen, lediglich auf dem Wege des Briefwechsels hatte nach seiner Wahl schaffen und entstehen lassen können. Er lachte über ihre Verwunderung. Ganz leicht war es freilich nicht gewesen. Aber er hatte seinen Sekretär, einen kundigen und tüchtigen Menschen, bei sich in Gehringen gehabt. Mit ihm hatte er stoßweise die eingesandten Kartons, Zeichnungen und Musterbücher, Photographieen und Proben durchgesehen und nach diesen seine Bestellungen gemacht. Auch durfte Hedda nicht vergessen, daß die gesamte Einrichtung seiner Berliner Wohnung gleichfalls nach Döbbernitz geschafft war, außerdem gar vieles, das in den letzten Jahren hie und da zusammengekauft und inzwischen auf Speichern untergebracht worden war.... „Ich habe sonst keinerlei Passionen,“ sagte Axel, „wirklich gar keine, aber meine Vorliebe für künstlerischen Schmuck, schöne Möbel, Antiken, Bibelots und so weiter würde ich ungern aufgeben. Meine Freunde behaupten immer, ich hätte den ‚kunstgewerblichen Pips‘ – das sei eine ausgesprochene Modekrankheit. Ich glaube eher, daß diese Vorliebe auf mein einsames Leben in den letzten Jahren zurückzuführen ist, das mir eine ernsthaftere Beschäftigung nahelegte, und da warf ich [261]mich denn so ein bißchen auf die Kunst. Übrigens siehst du, daß noch überall Lücken sind. Und das paßt mir gerade, denn das Ausfüllen, Glätten und Harmonisieren macht mir am meisten Spaß; es erfordert nämlich dann und wann sogar eine gewisse Überlegung ... Sage mal, Hedda“ – und Axel blieb stehen –, „fällt dir denn gar nichts an mir auf? Ich meine, an meiner Sprache?“

Sie schüttelte zuerst den Kopf, und dann nickte sie lebhaft, unter herzlichem Lachen.

„Ach ja – das ei! Du sprichst das ei jetzt ganz menschlich aus! Wer hat dich das gelehrt?!“

„Auch mein Sekretär – das ist ein kundiger Thebaner. Er hat mir jeden Morgen eine halbe Stunde Unterricht gegeben. Es war mir doch sehr unangenehm, daß du in mir immer den Ausländer merktest! ... Siehst du, das ist der große Saal! Da fehlt ja nun noch mancherlei, aber der Eindruck ist immerhin schon ein ganz hübscher – nicht wahr?“

Und wieder begann Axel zu erklären. Die hochlehnigen Chorstühle waren florentinische Arbeit; er hatte sie schon vor Jahren einem Hotelier in Venedig abgekauft, weil er sie so schön fand, und zweifellos paßten sie mit ihren massiven und doch auch schlank und edel wirkenden Formen ausgezeichnet in den großen Raum dieses alten Rittersaals. Die Fenster hatten wieder buntes Glas erhalten; die Gardinen bestanden aus geschorenem rotem Burgundersamt mit Bordüren aus gelbem Seidendamast. An einer Wand sah Hedda einen riesigen, zweitürigen Aufsatzschrank, auf dem ein paar köstlich gearbeitete Zunfthumpen aus Zinn standen. Überall auf Stühlen und Tischen lagen noch Stoffe, die zur Dekoration verwandt werden sollten, Brokate und Samtdecken, alte Kaseln, Stücke von Meßgewändern mit geometrisch geordneten Goldstickereien; vor dem Kamin war ein Dutzend orientalischer Gebetteppiche mit herrlichen Musterungen übereinandergeschichtet worden, daneben häufte sich ein Wirrwarr alter Seidenfransen, [262]Silberspitzen und schwerer Quasten auf. So sah es in den meisten Zimmern aus; die ganzen Sammlungen Axels waren hierher geschafft worden und sollten Verwendung finden.

Axel sprach rasch und begeisterungsfreudig. Es machte ihm sichtlich Spaß, Hedda seine Schätze zu zeigen; er wußte auch gut Bescheid, erinnerte sich genau, wo er dies und jenes Stück erworben hatte, erzählte viel, schob Anekdotisches ein und war sehr aufgeräumt.

Schließlich ermüdete Hedda ein wenig vom Sehen und Umherwandern.

„Du sollst dich ausruhen,“ sagte Axel, „aber in deinen Zimmern. Ich schrieb es dir ja; ich habe für dich und den Onkel ein paar Räume einrichten lassen. Lieber Gott, Platz ist genug im Schlosse, und ich bin froh, daß ich meinen alten Plunder unterbringen konnte.“

Er führte sie in den nach dem Parke hinausführenden Flügel. Dort lagen die vier Gemächer seiner „Ehrengäste“, wie er sich ausdrückte: ein Empiresalon mit anstoßendem Schlafkabinett für Hedda, und ein Wohn- und Schlafzimmer für den Onkel.

Hedda war überrascht, als sie den Salon betrat. Die wunderschöne alte Empiregarnitur, die hier aufgestellt worden war – die Sessel aus Palisander mit reichen Intarsien und ihrem grünlichen Damastbezug, der Schreibschrank mit den Wedgewoodvasen und seinem zwischen Alabastersäulen hineingebauten Gewirr zahlloser kleiner Schubladen, die Vitrinen und schön gestickten Paravents – all dies entzückte sie nicht so sehr wie der wundervolle Duft, der ihr entgegenschlug, und der Blumenflor, der sich vor ihr auftat. Überall standen in Vasen und Gläsern frische Rosen. Man begriff kaum, wie Axel zur Herbstzeit diese Blütenfülle herbeigeschafft hatte. Aus einem hohen Kelchglas mit gedrehtem Schaft quollen voll aufgeblühte Gloires de Dijon: in einer großen Kristallschale badeten sich blaßrosa Röschen; [263]aus einer Vase von Meißener Porzellan blühte es flammend rot empor, aus einer andern burgunderfarbig und wie Atlas schimmernd, und wieder aus einer ganz weiß, gleich frisch gefallenem Schnee. Es war zauberhaft.

Hedda war mitten im Zimmer stehen geblieben und hatte die Hände über der Brust gefaltet. Ihr Auge strahlte.

„O wie schön – wie schön!“ sagte sie flüsternd.

Er lächelte glücklich.

„Es macht mich stolz, daß ich dir eine Freude bereiten konnte,“ antwortete er. „Das Zimmer kam mir noch so kahl vor – so unbewohnt –, und ich weiß, du liebst die Rosen ...“

Rührung überkam sie. Diese zarte und sinnige Aufmerksamkeit stimmte sie weich. Sie streckte ihm beide Hände entgegen.

„Lieber Axel“ – und nochmals wiederholte sie: „Lieber Axel!“

Vielleicht war es der zärtliche Ton ihrer Stimme, vielleicht der weiche Ausdruck ihres Auges, der ihm Mut gab. Er lag plötzlich zu ihren Füßen und bedeckte ihre Hände mit Küssen.

„Hedda,“ stammelte er, „sei meine Herrin! In der Hoffnung auf dich erwarb ich diesen Besitz. Schau dich um – alles sei dein! Es sind nur irdische Güter, aber du wirst ihnen Geist und Seele geben. Es sollte meine Heimat werden, doch ich fühle es, ich habe keine ohne dich. Woran lag es, daß ich so einsam war? Nun weiß ich es: weil mein Herz liebeleer war! Ich habe mein halbes Leben hinter mir und – o Gott, wie war es öde und frostig! Ja, Hedda – jetzt bin ich erst meines Lebens froh geworden und erst meine Liebe zu dir hat die Einsamkeit verjagt, und erst deine Liebe wird mir die Heimat schaffen!“

Sie war sehr blaß geworden und zitterte. Er sah es, sprang auf, umschlang sie und führte sie an den nächsten Sessel.

[264]„Ich war stürmisch,“ fuhr er fort, „vergib mir! Ich wollte noch warten und langsam um dich werben, mir Schritt für Schritt deine Liebe zu gewinnen suchen, aber – es kam so plötzlich über mich, als du mich ‚lieber Axel‘ nanntest! Und es ist auch ganz gut – ich hatte Furcht vor dieser Stunde –, ja, ich gestehe es – nun hab’ ich es hinter mir.“ ... Er setzte sich zu ihren Füßen.... „Du sollst Zeit haben, Hedda, sollst prüfen und überlegen –, ich will keine Antwort von heute zu morgen.... Ich kann ja auch nicht verlangen, daß du mich so liebst wie ich dich – aber vielleicht lernst du mich lieben. Ich bin schon zufrieden, wenn du mir nur Hoffnung gibst.... Und passen wir denn nicht auch zu einander, Hedda? Aus gleichem Stamme, mit gleichen Neigungen? Lockt dich nicht auch das Ziel, diesen alten Hellsternschen Besitz wieder zu Frucht und Blüte zu bringen?“

Er sprach noch weiter. Es mußte alles von seinem Herzen, was er an Hoffnungen und frohen Erwartungen aufgespeichert hatte. Hedda sah, wie dieser Glücksrausch, den die Zukunftsbilder in ihm entfachten, seine guten und treuen Augen erstrahlen ließ, wie es gleich Frühlingssonnenschein über sein hübsches und vornehmes, schmales Gesicht flutete. Der Duft der Rosen betäubte sie. Sie atmete schwer.

„Ich danke dir, Axel, daß du mir Bedenkzeit gibst,“ antwortete sie. „Ich bedarf ihrer; es kam mir alles zu unerwartet.... Und – und – die Rosen duften so stark ...“

Sie erhob sich schwankend. Er stützte sie und riß dann ein Fenster auf. Unten dehnte der weite Park sich aus, im Schmucke des Spätherbstes – eine tausendfach gefleckte Palette: bunte Baumwipfel, noch grüne Rasenflächen, schillernde Teppichbeete, rotes Weinlaub. Darüber hinweg sah man auf breite Streifen Acker und Feld; die Herbstbestellung [265]war in vollem Gange. Vom Wirtschaftshofe herüber erscholl der Lärm der Arbeit.

O ja – das alles lockte!


Hedda fuhr allein nach Oberlemmingen zurück. Sie hatte Axel gebeten, sie nicht zu begleiten; es wäre nicht nötig. In Wahrheit fürchtete sie sich vor dieser Fahrt durch den Wald – zu zweien. Sie mußte Ruhe haben, um zu sich selbst zu kommen, um überlegen und nachdenken zu können.

Sie fragte sich, ob sie die Werbung Axels nicht erwartet hätte. Schon bei seinem ersten Besuche im Frühjahr hatte sie den Eindruck empfangen, als hätte sie ihn nicht gleichgültig gelassen. Er war der dritte! Erst Klaus, dann Gunther, nun er. Aber wenn sie ihr Herz durchforschte – ach, einer nur hatte es zu entflammen gewußt, ein Verlorener! Konnte sie Axel ihr Jawort geben, da doch das Bild des andern noch immer lebendig in ihr war? Und war sie nicht auch immer noch an Klaus gebunden? Er hatte sie rufen und holen wollen, wenn er sich in der Fremde eine Stellung geschaffen haben würde; mit diesem Versprechen war er von ihr geschieden. Darüber waren Monde vergangen. Die Leute sagten, er verspiele seinen Erlös aus dem Verkaufe von Döbbernitz am grünen Tische Monacos. Aber wer wußte, ob das wahr sei? Konnten die Leute nicht irren? Hatte nicht vielleicht wirklich schon drüben in Amerika der „Fron“ für ihn begonnen, der ihn läutern und entsündigen sollte?

Axel war eine Partie nach dem Herzen ihres Vaters. Hedda hörte schon den Jubel des alten Herrn.... Und warum sollte sie nicht glücklich werden an der Seite dieses Mannes? Er war eine durch und durch noble Natur, von seltener Herzensgüte und feinem Empfinden, ein Edelmann im besten Sinne des Worts. Und ganz zweifellos – auch sein Reichtum sprach mit ...

[266]Hedda drückte sich tief in die Wagenecke. Würde sie in Döbbernitz nicht täglich und stündlich an Klaus erinnert werden? Würde es nicht eine ewige Qual sein!? Warum ließ sich diese unselige Liebe nicht ausreißen – warum mußte sie fortleben und immer neue Schmerzen erzeugen!?

Als Hedda auf dem Baronshofe eintraf, gab August ihr mit geheimnisvoller Miene einen Brief. Ein Kind hätte ihn gebracht, und da auf dem Umschlage stand: „An Baronesse Hedda Hellstern. Persönlich zu erbrechen“, so glaubte August sehr klug gehandelt zu haben, daß er ihn nicht erst in die Hände des Herrn Barons gelangen ließ.

Hedda drohte das Herz still zu stehen, als sie die Aufschrift sah. Sie erkannte Zernins Hand, seine elegante und zierliche, charakterlose Schrift. Hastig stürmte sie auf ihr Zimmer und riß das Kuvert auseinander.

„Ich muß dich sprechen,“ schrieb Klaus, „es handelt sich um meine Zukunft, vielleicht um mein Leben. Sei, bitte, um fünf Uhr an der alten Stelle am See. K.“

Um fünf Uhr – da war keine Zeit zu verlieren. Sie schwankte keinen Augenblick. Sie überlegte auch nicht, warum Klaus wieder zurückgekehrt sei; sein Leben stand auf dem Spiel – was gab es da noch zu überlegen!

In aller Eile begrüßte sie ihren Vater. Es sei wunderschön geworden auf Döbbernitz, erzählte sie in Hast; beim Abendtisch wolle sie ausführlich sein, aber jetzt habe sie unleidliche Migräne und wolle daher noch auf ein halbes Stündchen in den Wald. Und ehe der Alte noch so recht zu Wort kommen konnte, war sie schon fort.

Als sie den Waldrand erreicht hatte, nahm sie ihre Uhr in die Hand. Es fehlten nur noch zehn Minuten zu fünf. Sie stürmte vorwärts – gedankenlos, in fieberischer Aufregung. Wieder war der Wind erwacht und rauschte im Gezweige. Große [267]Massen falber Blätter rieselten auf sie herab. Vier Rehe jagten in langen Sprüngen quer über den Weg.

Gottlob – da war der See! Blaugrau, mit Gischt übergossen und stark bewegt, tauchte er zwischen den Stämmen auf. Und da war auch Klaus!

Er schritt im Ufergrase auf und ab. Schon aus der Entfernung fiel es Hedda auf, daß sich sein Reiseanzug in arg vernachlässigtem Zustande befand. Sein Gesicht war schmal geworden, bleich, verwüstet; tiefe Schattenringe umgaben die Augen.

Er stürzte ihr entgegen.

„O Hedda – Gott sei gelobt!“

Er haschte nach ihren Händen und wollte sie küssen, doch sie entzog sie ihm. Es stürmte gewaltig in ihr, aber sie wollte wenigstens Ruhe heucheln.

„Guten Tag, Klaus! Wo kommst du her?“

„Aus dem Süden, Hedda, von der Riviera. Es war eine Verrücktheit. Ich hätte unten bleiben oder gleich weiter reisen sollen. Aber ich wollte dich noch einmal sehen –, noch einmal – das letzte Mal – ich verging fast vor Sehnsucht!“

„Klaus – warum lügst du?“

Sie sagte das in so herbem Tone, daß er zusammenzuckte. Alle Nerven in ihm schienen bis zum Übermaß angespannt zu sein. Die Muskeln blitzten in seinem Gesicht, seine Hände flogen.

„Lügen – nein, ich lüge nicht,“ stieß er hervor. „Ich – ich muß auch wahr sein! Also ich kehrte zurück –, die Torheit ist einmal geschehen. Ich hätte es nicht getan, wenn ich gewußt hätte, daß – daß ich verfolgt werde – daß man mich sucht –“

Hedda starrte ihn mit großen Augen an.

„Verfolgt – aber von wem?“

„Von den Behörden ...“ Nun hatte er doch ihre Hände ergriffen und hielt sie mit seinen heißen Fingern fest, während seine Augen sich mit unheimlichem Ausdruck in die ihren bohrten ...[268] „Hedda, ich habe mich zu einer schmachvollen Tat verleiten lassen. Verurteile mich, beschimpfe mich – aber rette mich – hilf mir!“ ... Und stöhnend brachte er die furchtbare Selbstanklage heraus: „Ich habe die hinterlassenen Papiere meines Vaters nach dem Auslande verkauft.“

Anfänglich begriff sie ihn nicht. Aber dann brach blitzschnell das Verständnis für die Schändlichkeit in ihr durch ... Beim Tode des alten Ministerpräsidenten hatten die Zeitungen die Nachricht gebracht, daß sich in der Hinterlassenschaft des Freiherrn von Zernin so gut wie nichts von politischer Bedeutung vorgefunden hätte. Klaus hatte die wichtigsten Papiere beiseite geschafft und sie bei Gelegenheit an eine ausländische Regierung verkauft ... Und plötzlich glaubte Hedda auch den Grund des wütenden Hasses ihres Vaters und Eyckens gegen Klaus gefunden zu haben. Die beiden wußten um die verschwundenen Papiere und mochten ahnen, wohin sie gebracht worden waren ...

O Schmach – Schmach!

Hedda stand bewegungslos, wie eine Bildsäule, vor dem verkommenen Mann. Es war ihr, als hätte der Tod in ihr Herz gegriffen, mit seiner Knochenfaust jede Erinnerung an diese erste Liebe zu zerdrücken und zu vernichten. Eisig durchströmte es sie. Ihre Finger krampften sich zusammen, und in den äußersten Spitzen hatte sie das nervöse Gefühl heftiger Stiche, wie von Nadeln. Es siedete und dröhnte in ihrem Kopf, und dabei hatte sie doch das Bewußtsein, daß sie gefaßt und kaltblütig bleiben müsse. Um ihre Hände zu beschäftigen und sich bei mechanischer Spielerei allmählich zu beruhigen, riß sie ein paar Gräser aus und zerpflückte sie.

Und dann brachte sie mühselig hervor: „Ich will nicht rechten mit dir. Wie kann ich dir helfen?“

[269]Klaus hatte mit Angst in ihrem Gesicht gelesen. Nun hob ein tiefer Atemzug seine Brust.

„Ich muß morgen über die Grenze sein,“ sagte er schnell und halblaut, als fürchte er, auch hier belauscht zu werden. „Aber ich habe kein Geld. Ich habe verdammtes Pech gehabt – da unten. Geh zu Schellheim und laß dir ein paar tausend Mark für mich geben – fünf, sechs genügen –, er wird es dir nicht abschlagen.... Und dann schicke mir das Geld nach dem alten Jagdhause in der Döbbernitzer Schlucht; dort bin ich bis Mitternacht.“

Sie nickte nur. Ihr Blick hatte etwas Erloschenes, wie auch in ihrem Herzen alles erloschen war: der ganze Sonnenschein ihrer Jugend.

„Gut,“ sagte sie tonlos, „du erhältst das Geld.“ Und ohne Lebewohl wandte sie sich um und ging.

Er sprang ihr nach. „Hedda,“ keuchte er, „kein Abschiedswort, kein –“

Unter ihrem Flammenblick brach er ab. Ja – jetzt kam wieder Leben in das tote Auge; es sprühte und loderte vor Verachtung und Empörung. Hoch und groß stand sie vor ihm.

„Nein,“ antwortete sie hart. „Kein Abschiedswort! Daß du den großen Namen deines Vaters entehrtest, daß du dein Wappen beflecktest, daß du deine Liebe niedertratst – alles hätte ich dir verzeihen können. Denn meine Liebe ist stärker als deine. Aber für den Schuft, der um feiles Geld sein Vaterland verrät –“

Sie sah, wie er sich duckte, wie ein Hund den die Peitsche trifft. Und da sprach sie nicht weiter. Sie ging.

Hoch und groß ging sie, solange sie fürchtete, daß sein Blick ihr noch folgte. Aber dann, als Eichen und Buchen sie dichter umscharten und der See längst hinten liegen mußte, brach sie zusammen. Geknickt, keuchend und nur mit Mühe schleppte sie sich vorwärts. Und der Herbststurm brauste stärker durch den Wald und rüttelte und schüttelte die Wipfel.


[270]Pastor von Eycken freute sich, als er Hedda bei sich eintreten sah. Aber ihm entging nicht ihr erregtes Wesen, ihr umdüsterter Blick und der bittere Zug in ihrem Gesicht.

„Ich habe eine große Bitte an Sie, Herr Pastor,“ begann Hedda, dankend den Stuhl ablehnend, den er ihr zugeschoben hatte.

„Sie ist schon gewährt, liebes Kind – wenn nämlich ihre Erfüllung in meiner Macht steht.“

„Ich hoffe es. Ich weiß, Sie haben größere Kapitalien liegen, Sie bedürfen ihrer für Ihren Bau. Wollen Sie mir sechstausend Mark leihen? Aber es muß auf der Stelle sein; wenn ich die Summe bei Ihnen nicht erhalte, würde ich auf das Auschloß gehen.“

Eycken war erstaunt zurückgefahren. Das war das einzige, was er nicht erwartet hatte.

„Allerdings,“ erwiderte er, „ich habe das Geld liegen. Und ich gebe es Ihnen auch, aber ich muß Ihnen gestehen –“

Mit flehend erhobenen Händen stürzte sie ihm entgegen und erfaßte seine Arme. Sie lag fast an seiner Brust.

„Kein Aber, lieber, lieber Herr Pastor!“ rief sie, während ihr ganzer Körper bebte und ihr Auge voll Angst und Verzweiflung an seinem Antlitz hing. „Fragen Sie auch nicht, wozu ich die Summe brauche! Ich gebe Ihnen mein Wort – ich schwöre Ihnen, daß ich sie Ihnen in drei, vier Monaten zurückerstatte – vielleicht schon früher –“

Er schloß sie in seine Arme und küßte sie mit väterlicher Zärtlichkeit auf die Stirn.

„Mein liebes Herz – was gilt mir das Geld, und was sind mir diese paar tausend Mark!“ sagte er und strich mit der Rechten liebkosend über ihren Scheitel. „Was mich beunruhigt, ist lediglich die Tatsache, daß Sie es erbitten – und sicher doch nicht für sich selbst –“

[271]Er stockte. Eine Ahnung überkam ihn. Sein Gesicht wurde sehr ernst; er schaute Hedda forschend in die Augen.

„Hedda – ist Klaus wieder zurück?“

Und da sie den Kopf neigte, ließ er sie los und trat zurück.

„Dann keinen Pfennig,“ sagte er rauh. „Ihm nichts mehr – nichts!“ Und plötzlich strömte wieder seine Liebe zu dem Mädchen, dessen Seele er in allen ihren Schwingungen zu kennen glaubte, in warmen Wellen durch sein Herz. „Hedda,“ rief er, „wie konnten Sie vergessen, was Sie mir versprochen hatten – schon vor zwei Jahren –, dieser Ihrer unwürdigen Liebe ein Ende zu machen!? Ja, unwürdig, denn Klaus ist schlimmer gewesen als leichtsinnig! Fragen Sie ihn einmal, wo die Papiere seines verstorbenen Vaters geblieben sind! Ich war der beste Freund des Alten und habe gewußt, welch reiches Material an Briefschaften und Tagebüchern und geheimen Mappen er hinterlassen hat. Aber als nach seinem Tode die Regierung kam, um diese Papiere einzufordern, da fand sich nur Unwichtiges und Gleichgültiges vor. Ihr Vater, Hedda, war gerade so erstaunt darüber als ich, – und als dann Klaus auf einmal, mitten im Zusammenkrachen, auf Wochen verschwand, um mit den Taschen voller Geld wieder heimzukehren, da dämmerte ein furchtbarer Verdacht in uns beiden auf ... Hedda, wenn Sie noch einmal mit Klaus Auge in Auge stehen sollten, dann fragen Sie ihn einmal, ob er nicht mit den Papieren seines Vaters einen ehrlosen Schacher getrieben habe!“

Sie wagte den Sprechenden nicht anzuschauen; sie nickte mit abgewandtem Kopfe.

„Er hat es,“ erwiderte sie dumpf. „Er hat es mir selbst anvertraut – und ich soll ihm über die Grenze helfen.“

Sie nestelte das Billet Zernins aus ihrer Tasche und reichte es Eycken.

[272]Der Pastor überflog es. „Er fürchtet, daß man seine Schande entdeckt habe?“

„Er sagt, man verfolge ihn bereits.“

Eycken pfiff durch die Zähne. „Und wer soll ihm das Geld bringen und wohin?“

„Er wartet bis Mitternacht in dem verfallenen Jägerhaus – unten, in der Döbbernitzer Schlucht. Ich wollte Kopfschmerzen vorschützen und dem Vater früher gute Nacht sagen als sonst, und dann wollte ich mich selbst hinausschleichen zum Jägerhaus – wen sollte ich denn schicken, ohne daß es aufgefallen wäre?!“

Eycken hatte seinen Entschluß gefaßt. „Gehen Sie nach Hause, Hedda,“ sagte er. „Sie sollen ihn nicht mehr zu sehen bekommen – nie wieder! Kämpfen Sie tapfer nieder, was noch für ihn in Ihnen lebt –, er ist fürderhin tot für Sie!“

Hedda sank an des Greises Brust. „Für ewig,“ schluchzte sie, „ich weiß es –, aber beweinen kann man doch seine Toten!“

„Ja, Hedda – weinen Sie sich aus. Daheim, in stillen Stunden – Sie werden schon solche finden. Und zagt Ihr Herz, dann sprechen Sie mit Ihrem Gott. Er wird Sie stärken, unser Gott der Liebe, und Ihnen überwinden helfen!“

Er drängte sie sanft zur Tür.

„Ich will mich beeilen. Ich geh’ selbst zum Jägerhause und werde Klaus das Geld bringen. Es ist nicht das erste. Und dann soll er ein letztes Wort von mir hören“ – er hob dräuend die Rechte und reckte sich – „als Prediger des Wortes Gottes, als sein Seelsorger, und als Edelmann will ich ihm sagen, wie ich über ihn denke!“

Das war eine schlummerlose Nacht für Hedda. Draußen umbrauste der Sturm das Haus, wie damals im Winter, als der Vater ihr am Abend vorher von der Werbung Gunthers erzählt hatte, und als sie im Auschlosse nach länger als Jahresfrist wieder einmal mit Klaus zusammengetroffen [273]war. Und wie damals wälzte sie sich auch heute wieder ruhelos im Bette, und eine wilde Flut von Gedanken stürmte auf sie ein. Jetzt mußte Klaus bereits auf der Flucht sein, und sein verbrecherischer Leichtsinn verschloß ihm für immer die Rückkehr in die Heimat. Eycken hatte recht, wenn er sagte: Klaus ist tot. Und unwillkürlich drängte sich Hedda die Frage auf: Wär’ es nicht besser gewesen, sie hätte ihn bei seinem Entschlusse belassen, als er im Sommer schon im Begriffe stand, zu den Pistolen zu greifen, um seinem elenden Dasein ein Ende zu bereiten? Freilich – vielleicht war auch das nur Pose und Rederei gewesen, nur eine Lüge. Durch sein ganzes Leben ging der Fluch der Lüge – selbst seine Liebe zu ihr trug den Stempel der Lüge. Denn sonst hätte er sich aufraffen und zu besserem Leben durchringen müssen, hätte nicht so erbärmlich tief sinken können. Wo spürte man an ihm etwas von der reinigenden Kraft einer großen Neigung? Hatte er je den Vorsatz gehabt, sich um ihretwillen aus dem Sumpfe herauszuarbeiten, dessen morastige Wellen ihn höher und höher umschlugen?

Hedda schauerte zusammen. Sie konnte sich von dem Empfinden nicht frei machen, als seien auch an ihr Spuren dieses Schmutzes haften geblieben, als müsse sie nach einem Läuterungsbade suchen, nach Sühne und Entsündigung. Bot Axel ihr die Befreiung von dem Gefühl der Erniedrigung, das in ihr aufquoll? – Die stille Vornehmheit seines Wesens stand in schroffem Gegensatze zu der Zügellosigkeit Zernins. Vielleicht war es wirklich ein Reinwaschen und ein Sühnen der Vergangenheit, wenn sie mit ganzer Kraft versuchte, diesen Mann glücklich zu machen.

Draußen stürmte und wetterte es weiter. Mit Ungestüm brauste der Wind durch den Park und fauchte und heulte – fauchte und heulte auch um das verfallene, kleine Jagdhaus in der Döbbernitzer [274]Schlucht, in dem sich zu dieser Stunde zwei Männer mit blitzenden Augen und zorngeröteten Gesichtern gegenüberstanden.

Dreizehntes Kapitel

Am andern Morgen hatte der Sturm zwar etwas nachgelassen, aber dafür hatte sich der Himmel mit schwarzgrauen Wolken bedeckt, und jeden Augenblick drohte der Regen zu fließen. Eine mürrische Stimmung lag über der Natur.

Im Kamin neben dem Frühstückstische brannte schon das Feuer. Der Baron saß in seinem großen, dicht an den Tisch herangeschobenen Lehnstuhl und rührte in seiner Teetasse. Das blasse Gesicht seiner Tochter gefiel ihm nicht.

„Hast schlecht geschlafen, Hedda – he?“ fragte er.

„Ja, Papa – der Sturm war arg –“

„War arg, hast recht – ich konnte auch keine Ruhe finden. Und heute früh um sechs Uhr ging schon wieder das Hämmern und Pumpen und Schnauben in der Brauerei los. Auf das Wetter scheint der Halunke, der Möller, keine Rücksichten zu nehmen.“

„Der Bau soll noch vor Frostbeginn unter Dach sein. Die Arbeiter haben einen schweren Stand. Die eine Wand hat sich gesenkt; ich glaube, das Fundament ist auf dieser Seite vom Wasser unterspült worden.“

Der Baron lachte höhnisch auf.

„Gute Vorbedeutung – haha! Aber ich habe mir vorgenommen, ich will mich nicht mehr ärgern. Mögen sie bauen, was sie wollen! – Erzähle von gestern, Hedda!“

Hedda schaute starr vor sich hin. Und dann wandte sie sich, wie unter der Eingebung eines raschen Entschlusses, an ihren Vater.

[275]„Ich habe gestern absichtlich nicht mit dir sprechen wollen, Papa,“ sagte sie, mit ihren Fingern in nervösem Spiel ein Stück Brot zerkrümelnd, „weil ich mir noch einige Stunden ruhiger Überlegung gönnen wollte. Aber es muß doch einmal gesagt sein. Axel hat mir bei Gelegenheit meines Besuches in Döbbernitz einen Antrag gemacht.“

Dem Alten fiel der Teelöffel aus der Hand. Aber er ärgerte sich über sein Erstaunen und tat kaltblütig.

„Also doch,“ antwortete er. „Ich sah es eigentlich kommen.“ Dann schaute er Hedda abwartend an, und als sie schwieg, hämmerte er ungeduldig mit der Faust auf den Tisch, daß Tassen und Teller klirrten. „Na und?! Herr des Himmels, so sprich doch! Spann mich nicht auf die Folter! Hast du – hast du ja gesagt?“

„Ich habe um Bedenkzeit gebeten, aber ich bin über Nacht zu dem Entschluß gekommen, ihm keinen Korb zu geben.“

Ein unterdrückter Jubellaut antwortete ihr. Hellstern hatte sich erheben wollen, doch fiel er wieder schwer in seinen Sessel zurück.

„Komm her,“ rief er, „ich alter Elefant kann mich kaum noch rühren! Aber ich muß dich umarmen! Meine Hedda – mein Liebling!“

Sie kniete ihm zur Seite und er küßte sie auf Stirn und Haar und streichelte ihre Wangen. Die Tränen rannen ihm in den struppigen Bart. Auch sie war bewegt, doch sie weinte nicht; sie nahm seine Hand und führte sie an ihre Lippen.

„O, wenn das die selige Mutter doch noch erlebt hätte!“ stammelte er. Und dann wurde er ruhiger. Seine Neugier siegte. Er wollte wissen, wie sich die Liebeserklärung abgespielt habe. Er fragte Hedda nach allen Einzelheiten. Sie erzählte in gelassener Weise, ziemlich trocken, als ob sie einen Bericht erstatte. Aber das fiel ihm nicht auf, er war an ihre „ruhige Vernunft“ gewöhnt. Er war [276]glückselig. Über sein altes Gesicht blitzte und leuchtete es vor Freude. Gott sei gelobt, nun kam noch einmal Sonnenschein in den Abend seiner Tage! Konnte er sich für seine Einzige ein besseres Los wünschen? Axel war reich, unabhängig, ein Ehrenmann und ein Prachtmensch – im übrigen schien er ja auch wieder gesund geworden zu sein. Und dazu Döbbernitz, der alte Hellsternsche Sitz, die unmittelbare Nähe! Er schob seine Tasse mitten auf den Tisch.

„Wir müssen Axel Nachricht geben,“ sagte er. „Ich selbst werde ihm schreiben – das scheint mir das richtigste zu sein. Ich schreibe in deinem Namen und gebe als Vater meine Zustimmung. Ich lade ihn zum Mittagessen ein; was steht auf der Speisekarte?“

„Karbonade und Rotkraut,“ antwortete Hedda. Unwillkürlich mußte sie lächeln. „Das wird Axel ziemlich gleichgültig sein.“

„Glaub’ ich auch, wie ich ihn kenne. Trotzdem – zur Feier des Tages müssen wir das Menü ändern. Sieh zu, daß du etwas Besseres auf den Tisch bringst. August soll anspannen und meinen Brief nach Döbbernitz bringen.“ Er rührte gewaltig die Klingel.

August trat ein. Er kam soeben vom Reinigen der Lampen und wischte sich die öligen Finger an der Schürze ab.

Der Baron schmunzelte.

„August,“ sagte er, „ich wünsche, daß du heute nicht dein gewöhnliches dummes Gesicht machst. Und weißt du, warum ich dies wünsche?“

„Nein, Herr Baron,“ antwortete August und schüttelte heftig den Kopf.

„Dann hör zu, ich will es dir sagen. Weil heute ein Fest- und Ehrentag für den Baronshof ist. Wisch dir das Maul ab und küsse dem gnädigen Fräulein die Hand, denn das gnädige Fräulein hat sich mit dem Herrn Baron Axel von Hellstjern auf Döbbernitz verlobt.“

[277]„Mit unserm Vetter aus Schweden!?“ jubelte August auf. Und dann rubbelte er sich wirklich mit dem Handrücken den Mund ab und näherte sich Hedda mit feierlichen Schritten, räusperte sich und wollte ihr in wohlgefügten Worten gratulieren, denn es schien ihm passend, sich bei dieser Gelegenheit als Mann von Bildung zu zeigen. Doch Hedda kam ihm zuvor, erhob sich und schüttelte ihm die Hand.

„Schon gut, mein alter August,“ sagte sie, „ich weiß, wie du es meinst, und danke dir von Herzen. Und nun hilf dem Herrn Baron und führe ihn in das Arbeitszimmer, und dann halte dich fertig, einen Brief nach Döbbernitz zu bringen.“

Aber August war das Herz viel zu voll, um sich schweigend verhalten zu können. Während er Hellstern unter dem Arm packte und nach der Arbeitsstube geleitete, begann er zu plaudern.

„Das hab’ ich gewußt, Herr Baron,“ sagte er, „so gewiß vier mal vier sechzehn ist – das hab’ ich gewußt. Ich habe doch meinen Blick! Gleich damals, wie der Herr Vetter das erste Mal hier war, da hat er das gnäd’ge Fräulein immer so angesehen, und da hab’ ich schon mit Gusten drüber gesprochen. Sie können Gusten fragen, Herr Baron.“

„Auch noch,“ brummte Hellstern; „ich werd’ in die Küche gehen.... Knuff mich nicht so in den Arm! Daß du dir nachher ein reines Vorhemdchen umbindest, wenn du nach Döbbernitz fährst!“

„Fährst? Soll ich denn fahren?“

„Ja natürlich. Und du nimmst das gute Geschirr. Und in Döbbernitz wartest du auf Antwort. Es braucht aber noch nicht überall herumerzählt zu werden, das mit der Verlobung.“

„Gott bewahre! Ich weiß schon – erst wenn das Offiziellum da ist.“

Aber noch vor dem „Offiziellum“ wußte man im Souterrain bereits von der Verlobung. Zuerst [278]gratulierte die Guste und dann Dörthe, die dabei in einen Tränenstrom ausbrach. Das blasse Gesicht Dörthes und ihr verändertes Wesen waren Hedda bereits aufgefallen.

„Aber Kind,“ rief sie, „was hast du denn eigentlich?! Ich kenne dich gar nicht wieder. Wo sind deine roten Backen geblieben und deine lustigen Augen?!“

Dörthe hielt die Schürze vor das Gesicht und weinte noch immer; sie war in eine Ecke der Küche getreten und machte sich am Wasserzuber zu schaffen. An ihrer Stelle antwortete Guste halbleise:

„Ach Gott, gnäd’ges Fräulein, das arme Ding! Ihr Fritze hat sie sitzen lassen. Die Verlobung ist zurückgegangen. Da sind aber bloß die alten Möllers dran schuld – und der Albert, das ist ein Kerl!“

Über Heddas Gesicht glitt ein Ausdruck aufrichtiger Anteilnahme. Das arme Mädchen tat ihr von Herzen leid. Sie rief Dörthe heran und sagte ihr ein paar tröstende Worte, aber die Kleine war nicht zu beruhigen.

„Ich überleb’s nicht, gnädiges Fräulein,“ jammerte sie; „er will eine andre heiraten – eine Reiche aus Frankfurt –, und das überleb’ ich nicht.“

Mißgestimmt und mit schwerem Herzen wartete Hedda auf ihren Verlobten.

Am Vormittage fand sich der Pastor ein. Er war auf seinem Bau gewesen und hatte August vorüberfahren sehen. Und trotz des Verbots hatte August den Mund nicht halten können. Dem Pastor konnte man es doch immerhin sagen – so einem alten Freunde des Hauses.

Eycken glaubte die Plötzlichkeit des Entschlusses Heddas zu verstehen. Seelische Gründe sprachen dabei mit. Sie wollte gewaltsam mit jeder Erinnerung an die Vergangenheit brechen.

Es war Eycken lieb, daß er Hedda zunächst [279]allein traf. In ruhigem und liebevollem Tone sagte er ihr seine Glückwünsche, und als er nach ihrem Dankwort ihren unruhig fragenden Blick bemerkte, zog er sie neben sich auf das Sofa.

„Ich habe Ihre Mission von gestern abend erfüllt, Hedda,“ begann er von neuem, „und da mir daran liegt, Ihnen Beruhigung zu geben, will ich noch einmal den Namen dessen nennen, der auch für mich tot sein sollte. Es kam zu einer schlimmen Aussprache zwischen Klaus und mir; ich habe nicht mit starken Worten gespart, und – nun, er gab sie mir zurück. Aber er nahm das Geld; heut ist er in Sicherheit. Die Woydczinska in Seelen hat ihm Pferde gestellt und ihm über die russische Grenze geholfen. Er will nach Amerika.“

Hedda atmete auf.

„Gottlob, er ist in Sicherheit,“ sagte sie leise und lehnte ihr Haupt an die Brust des alten Freundes.

Wieder glitt des Pfarrers Hand lind und zärtlich über ihr Haar.

„Nun aber mutvoll in das neue Leben, Hedda,“ antwortete er. „Sie haben sich frei gemacht und alles abgeschüttelt, was Sie noch an die alte Liebe band. Aber – Sie haben eine neue Verantwortung übernommen. Werden Sie ihr gerecht!“

„Herr Pastor,“ entgegnete Hedda fest, „was ich tat, geschah nach reiflicher Überlegung. Ich habe lange genug mit mir gekämpft. Ich wollte nicht an der Erinnerung zu Grunde gehen – und ich wollte auch etwas Gutes tun. Ich lechzte nach einer Guttat, denn ich fühlte mich erniedrigt und von Scham erdrückt. Fragen Sie mich nicht, wie das möglich gewesen – es war so! Ich empfand jenes Schande wie eine eigne. Und so kam ich zu meiner Entschließung. Sie macht zwei Menschen glücklich: meinen Vater und Axel. Sie kennen Axel noch nicht. Er ist vornehm und edel. Sie selbst mögen ihm in jüngeren Tagen geglichen [280]haben. Alles, was an Gutem in mir ist, will ich ihm geben.“

Segnend legte Eycken seine Rechte auf Heddas Haupt.

„Gott sei mit Ihnen, liebes Kind,“ sagte er.


Axel kam mit seinem neuen Viererzug von Döbbernitz, Kutscher und Diener in großer Livree, er selbst in Frack und weißer Halsbinde, als gehe es auf einen Ball. Es entsprach ganz seinem Wesen, der Feierlichkeit des Tages auch nach außen hin Ausdruck zu geben. Aber als Hedda ihm an der Seite ihres Vaters entgegentrat, verlor er sofort seine schöne Korrektheit, und er wurde bewegt und gerührt. Das Wasser schoß ihm in die Augen, als er seine blasse Braut umarmte; er vermochte kaum zu sprechen, drückte sie an sein Herz und fühlte wohl, wie sie zitterte. Und dann fiel der Alte Axel um den Hals, auch sehr gerührt, mit der ganzen Wucht seiner kolossalen Persönlichkeit, so daß es dem schmächtigen Axel Mühe kostete, unter diesen bärenhaften Liebkosungen nicht zusammenzubrechen.

Die leichte Verlegenheit der ersten Begrüßung war bald überwunden. Man ging zu Tisch, und ein fröhliches Plaudern begann. Die Hochzeit wurde auf den vierten Januar festgesetzt; das war zugleich der Geburtstag Axels. Hedda meinte, da müsse sie sich mit der Herstellung der Ausstattung beeilen; es war dies noch ein schwieriger Punkt, da Hellstern erklärte, er sei nicht imstande, Hedda nach Berlin zu begleiten. Schließlich wurde verabredet, Tante Jutta zu benachrichtigen. Dort sollte sich Hedda für ein paar Tage einquartieren und die Ausstattung mit ihr und Axel gemeinsam besorgen. Wenigstens das Nötigste; das übrige sollte während der Hochzeitsreise in Paris besorgt werden, denn Axel behauptete, es gäbe gewisse Dinge in der weiblichen Ausstattung, die man nur in Paris [281]kaufen könne. Er war sehr aufgeräumt und trank sogar gegen seine Gewohnheit einige Gläser von dem vortrefflichen Johannisberger Hellsterns. Er wurde nicht müde, Pläne zu schmieden. Die Hochzeitsreise sollte ausgedehnt werden, um dem deutschen Winter zu entgehen; man wollte über Paris nach der Riviera und Süditalien, vielleicht bis Sizilien. Hedda kannte das alles noch nicht, und Axel behauptete, er freue sich jetzt schon darauf, ihr die tausend Schönheiten Italiens zeigen zu können. Und dann, im nächsten Sommer, mache man vielleicht einmal einen Ausflug nach dem Norden – nach Jarlsberg, dem alten Stammschloß der Familie, das auch seine Reize habe – die Schärenwelt, das gischtsprühende Meer, die ganze wildromantische Umgebung. Aber vor allen Dingen: wie behaglich wollte man es sich auf Döbbernitz einzurichten suchen und mit welcher Lust an die Arbeit gehen, diesen hübschen Besitz wieder in die Höhe zu bringen! Bei diesem Gedanken wurde auch Hedda lebhaft. Ach ja – nach Arbeit, die ihres Zieles wert sei, sehnte sie sich! Und gerade eine große Wirtschaft lockte sie doppelt ...

Während des Kaffees hörte man einen Wagen vor die Rampe rollen. Landrat von Wessels ließ sich anmelden; er bat darum, den Baron Hellstern auf ein paar Minuten sprechen zu dürfen.

Hellstern war sehr erstaunt. Teufel, was wollte denn der Landrat bei ihm, der längst alle Beziehungen zu der Umgebung abgebrochen hatte? Wessels wurde in den sogenannten Salon geführt, indes Hedda und Axel noch im Eßzimmer verblieben.

Axel benutzte das Alleinsein mit seiner Braut, seinen Stuhl dicht neben den ihren zu rücken, liebkosend ihre Hand zu nehmen und an seine Lippen zu führen.

„Meine Hedda,“ sagte er weich, „wie glücklich machst du mich. Ich habe einen bösen Tag und eine böse Nacht verlebt. Ich hatte Sorge, zu rasch [282]und zu stürmisch gewesen zu sein. Ich habe auch keine so schnelle Antwort erwartet. Und als nun heute vormittag euer August mit dem Briefe des Onkels kam – Hedda, da ist für fünf Minuten meine ganze Wohlerzogenheit in die Brüche gegangen, denn da bin ich meinem Kammerdiener – auch so ein Faktotum wie euer August, ein alter Mensch, der mich von Kindesbeinen an kennt –, denke dir, dem bin ich vor unbändiger Freude um den Hals gefallen. Das war ihm noch nicht vorgekommen und deshalb wußte er auch gleich Bescheid. Wer sich so närrisch gebärdet, der muß unglaublich verliebt sein. Na – und – das bin ich allerdings – und paß auf, Hedda, du wirst mich auch noch liebgewinnen! O, das weiß ich gewiß!“ Und abermals küßte er ihre Hand.

Seine Worte waren ein Trost für sie. Daß er keine stürmische Leidenschaft von ihr forderte, sondern in heiterem Ton und trotz aller Verliebtheit mit dem Ausdruck eines gewissen Geklärtseins der Empfindungen von einem allmählichen Liebenlernen zu ihr sprach, beruhigte sie sichtlich.

Sie behielt mit warmem Druck seine Rechte in ihrer Hand.

„Lieber Axel,“ entgegnete sie, „wüßte ich nicht, daß ich dir von Herzen gut bin, dann würde sich jede Fiber in mir dagegen gesträubt haben, die Deine zu werden. Die meisten von uns Mädchen treten ahnungslos in die Ehe, sie kennen den, dem sie für Lebenszeit angehören sollen, gewöhnlich nur aus der kurzen Zeit ihrer Brautschaft. Alles in ihnen beruht auf Vertrauen und seliger Hoffnung, und wie oft werden sie getäuscht! Sie glauben zu lieben, und es fehlt ihrer Liebe am festesten Fundament: an treuer und inniger Freundschaft. Und sieh – gerade weil ich so viel Freundschaft für dich empfinde, deshalb werde ich dir auch eine gute Frau sein, alles mit dir teilend, deine Freuden und Sorgen – ein Stück deiner selbst.“

[283]Mit glänzenden Augen hatte er ihr zugehört.

„Was will ich mehr!“ sagte er in leisem Jubel. „Ich danke dir, Hedda, ich danke dir! Was bot mir das Leben bisher, und für wen lebte ich? Nur für mich selbst, und wahrlich, ich bin kein Egoist. Das ist kein Lob für mich, weil ich im Egoismus nichts als die schalste Langweiligkeit gefunden habe. Ist es nicht ertötend, immer nur an sich selbst denken und für sich selbst sorgen zu müssen? Geht man nicht tausendmal freudiger an sein Tagewerk, wenn man weiß, für wen man schafft und tätig ist, wenn man Zwecke und Ziele vor Augen hat?! Tagewerk – das klingt mir wie übertrieben. Mein Dienst war Spiel, war kaum eine Arbeit. Man hat mich immer auf recht bequeme Posten gestellt, – ein bißchen Repräsentieren war alles. Das ist vorbei; jetzt kommt wirklich die Arbeit. Denn fürderhin ist es nicht mehr gleichgültig, ob ich jährlich ein paar tausend Taler mehr oder weniger ausgebe, ich habe ja auch für dich zu sorgen und deine Zukunft. Und das alles erfüllt mich mit unaussprechlichem Glück, Hedda, es gibt mir recht eigentlich erst Lebenskraft – ich möchte sagen, es macht mich erst zum Manne.“

Der Eintritt Hellsterns unterbrach sein fröhliches Sprechen. Der Alte sah erregt aus und hatte einen roten Kopf.

„Ärger gehabt, Papa?“ fragte Hedda.

„Ja – allerdings,“ und der Baron nickte und winkte zugleich August, an dessen Arm er eingetreten war, das Zimmer zu verlassen. Schwer ließ er sich in seinen großen Stuhl fallen. „Es wird euch auch interessieren – es ist sozusagen eine Familienangelegenheit. Ich hoffte, Klaus Zernin würde nicht mehr zurückkehren. Aber es ist doch geschehen. Und nun das Schlimmste dazu: die Staatsanwaltschaft fahndet auf ihn. Wessels hat Ordre bekommen, ihn in aller Stille verhaften und nach Berlin schaffen zu lassen.“

[284]„Aber mein Gott – weshalb?“ warf Axel ein.

Der Alte schnaufte gewaltig. Das Wort wollte ihm nicht von der Zunge.

„Eines – eines infamen Bubenstreichs wegen,“ sagte er endlich. „O – auch in unsern Reihen gibt es räudige Schafe, gibt es –“

Sein Blick fiel auf Hedda. Sie war ganz blaß geworden, und ihr brennendes Auge hing an den Lippen des Vaters.

„Du hast ihn immer noch verteidigen wollen, Hedda!“ schrie Hellstern, die Verfärbung des Mädchens falsch deutend. „Immer noch leiteten dich verwandtschaftliche Gefühle – aber man zerreißt die Bande des Bluts, wenn man es mit einem Lumpen zu tun hat. Gebe der Himmel, daß er uns nun für immer fern bleiben möge.“

Eine kurze Pause entstand, und dann fragte Hedda tonlos: „Also er ist – wieder – fort?“

„Ja – mit einem letzten Schandstreich entlaufen. Er trieb sich schon immer in Seelen herum, und man munkelte längst allerlei. Nun ist er mit der Woydczinska durchgebrannt. Wessels erzählte es mir. Vergangene Nacht haben sich die beiden auf die Socken gemacht. Die Woydczinska hat nichts mitgenommen als ihre Juwelen; aber zu guter Letzt noch eine hübsche Hypothek auf Seelen –“

Er brach plötzlich ab. Hedda war mit einem leisen Wehlaut vom Stuhl geglitten. Erschreckt sprang Axel hinzu und fing sie auf. Sie hatte sich bereits wieder gefaßt, mit aller Kraft gegen ihre Schwäche ankämpfend. Aber noch immer zitterte sie heftig, und krampfhaft biß sie die Zähne aufeinander, um nicht aufschreien zu müssen.

An den Lehnen seines Stuhls hatte sich mit schwerer Anstrengung auch Hellstern aufgerichtet. Entsetzt und drohend heftete sich sein Blick auf Hedda, und seine Rechte erhob sich bebend.

„Hedda,“ rief er, „du hast diesen Menschen – [285]diesen Menschen geliebt?!“ Er achtete nicht auf die Anwesenheit Axels; ein wilder Grimm durchtobte seine Brust und schüttelte ihn. Eine Flut von Anklagen traf Hedda. „Ich sehe jetzt klar – ganz klar,“ fuhr er mit heiserem Auflachen fort; „ich weiß jetzt auch, warum du Klaus immer so warm verteidigtest, – war ich denn blind, daß ich nicht in der Seele meines eignen Kindes lesen konnte?! Axel – tritt neben mich – laß sie los! Es geht nicht an, daß du dich noch weiter ihr Verlobter nennst, ehe sie uns Erklärungen gegeben hat.“

Hedda selbst machte sich frei aus den Armen Axels. Sie hatte ihre Ruhe und die Klarheit des Denkens wiedergefunden. In der heißen Not dieser Stunde wuchs ihre Kraft. So ernst der Ausdruck ihres Gesichts auch war – es lag zugleich etwas wie das frohe Glück endlicher Erlösung auf ihren Zügen.

„Ich leugne nicht, Vater,“ sagte sie. „Ja, ich habe Klaus geliebt, und aus Furcht vor deiner Heftigkeit habe ich es dir verborgen und nur den Pastor zu meinem Vertrauten gemacht. Wie ich gelitten habe unter dieser Liebe, und wie ich zu kämpfen hatte, eh ich mich zur Entsagung durchzuringen vermochte – das erlaß mir, zu schildern – du würdest mich doch nicht verstehen. Daß ich mich nie an einen Ehrlosen hängen würde, wußtest auch du. Aber ich erfuhr von seiner Schmach erst, als ich ihm nur noch zur Flucht verhelfen konnte. Du sowohl wie der Pastor, ihr ahntet schon längst, was ihn belastete, doch ihr habt euch immer nur in dunkeln Andeutungen ergangen, statt mir die Wahrheit zu sagen. Und vielleicht hätte ich euch auch dann noch nicht geglaubt; erst sein eigner Mund mußte mir beichten.“

Sie wandte sich, stetig ruhiger werdend und gleichmäßiger sprechend, an Axel.

„Das ist gestern geschehen,“ fuhr sie fort. „Als ich von Döbbernitz heimkehrte, fand ich seinen Hilferuf vor. Ich hatte gehofft, Klaus sei schon in [286]weiter Welt, und ich ging mit schwerem Herzen zu dieser letzten Besprechung, die ein Abschied für ewig war. Ich weiß auch jetzt noch nicht, ob es unrecht war, daß ich dir nicht vor unsrer Verlobung von dieser ersten gescheiterten Liebe gesprochen habe, Axel. Aber das weiß ich, daß es mich mit unwiderstehlicher Kraft dazu trieb, dir mein Jawort zu geben. Es drängte mich, mir in deinem Glücke ein eignes zu schaffen und vergessen zu lernen. Ich sehnte mich nach einem treuen und guten Herzen und nach einer Seele voll ritterlicher Empfindungen und voll Lauterkeit, denn ich war wie niedergebrochen und fühle mich wie – beschmutzt. Habe ich wirklich unrecht getan, Axel, so vergib mir – und laß mich frei.“

Kopfschüttelnd und mit mildem Lächeln trat er wieder an ihre Seite und nahm ihre Hände.

„Nein, Hedda,“ sagte er, „du bist mein, und ich gebe dich nicht mehr frei. Weniger jetzt denn je, da ich dein armes Herz zu heilen habe und du eines Freundes bedarfst. Denn ich bin ja nicht nur dein Bräutigam, Hedda – ich gebe dir auch deine Freundschaft vieltausendfach zurück. Glaube an mich und vertraue mir, und du wirst genesen!“

Er nahm sie in seine Arme und schloß sie an sich. Da ertönte ein dumpfer Fall, und entsetzt schrie Hedda auf.

Ein plötzlicher Schlaganfall hatte ihren Vater zu Boden geschmettert. Er stürzte um wie ein Baum, den der letzte Axthieb getroffen hat, und blieb regungslos liegen.

Vierzehntes Kapitel

In dem kleinen Häuschen Klempts war es sehr still geworden, seitdem in den Abendstunden nicht mehr der Singsang und das lustige Lachen der [287]Dörthe zu hören war. Sie kam nur noch selten zum Vater, denn sie wollte nicht ausgefragt sein, und sie hatte auch für den mystischen Trost und die Ratschläge der Tante Pauline weder Sinn noch Verständnis. Es war gut, daß es auf dem Baronshofe so viel Arbeit gab. Das ließ sie wenigstens tagsüber nicht allzuviel zum Grübeln und Nachdenken kommen. Aber wenn sie zu Bett gegangen war, dann kamen Erinnerung und Schmerz mit arger Gewalt über sie, und in ihrer Kraftlosigkeit und ihrem Mangel an Beherrschung weinte sie sich allabendlich in den Schlaf. Sie härmte sich so, daß sie mager wurde; mit ihren eingefallenen Wangen und den tiefliegenden Augen war die frische Dirne von früher gar nicht wiederzuerkennen.

Auch Hedda hatte es aufgegeben, ihr Trost zu spenden. Es führte zu nichts; Dörthe brach dann immer von neuem in Tränen aus und wiederholte unter krampfhaftem Schluchzen, sie werde sich doch noch das Leben nehmen. In dieser Zeit hatte Hedda auch mit ihren eignen Angelegenheiten überreichlich zu tun. Der Schlaganfall, der den Vater getroffen hatte, bewies, daß er kränker war, als man bisher geglaubt hatte. Glücklicherweise hatte der Schlag nur die linke Körperseite gelähmt, Arm und Bein; Gehirn und Sprache hatten nicht gelitten. Aber der Koloß war nunmehr völlig bewegungslos geworden. Ein Krankenwärter wurde beschafft, der August unterstützen sollte; aus dem Bette wurde der Alte in den Fahrstuhl gepackt; er war nur noch eine Maschine, die von fremder Hand geleitet werden mußte. Seine Laune war schrecklich geworden; Hedda hatte viel unter seinen Wutausbrüchen zu leiden. Das Knurren, Wettern und Schimpfen ging den ganzen Tag hindurch; August war der einzige, der ihm mit seinem unversiegbaren Phlegma und seinem derben Humor standzuhalten vermochte. Seit man mit der Anlage [288]der elektrischen Leitungen in Oberlemmingen begonnen hatte, trug sich Hellstern mit dem festen Entschlusse, den Baronshof zu verkaufen. Das war eine neue fixe Idee. Die Möllers wollten ihn langsam morden – das ließ er sich nicht gefallen. Aber die Möllers sollten auch den Baronshof nicht in ihre Hände bekommen; eher mochte das Haus einstürzen, und Eulen und Fledermäuse mochten in den Zimmern ihre Nester bauen. Die Möllers nie – und Hellstern schwur, wenn sie ihm auch eine Million auf den Tisch legen wollten, er würde sie mitsamt der Million aus der Tür werfen.

Hedda hatte mit Axel darüber gesprochen, was mit dem Vater zu machen sei. Der Arzt war der Ansicht, der Baron könne noch eine ganze Reihe von Jahren leben, wenn man durch geeignete Mittel der Wiederholung des Anfalls vorbeuge. Neben strenger Befolgung der ärztlichen Anordnungen gehöre dazu vor allen Dingen absolute Ruhe, Fernhaltung jedweder Aufregung, jedes Ärgers, jeder Gemütsbewegung. Das war nicht leicht bei dem alten Brummbär. Axel schlug vor, ihn mit dem Wärter und August und dem gesamten Material zu der geliebten Familiengeschichte nach Döbbernitz zu nehmen. Da hatte er die nötige Ruhe, hatte nicht beständig Oberlemmingen vor Augen, das mehr und mehr seine alte Dorfhülle fallen ließ und sich aus einer Raupe in einen schillernden Schmetterling verwandelte. Während der Hochzeitsreise sollte als weitere Pflegerin dann auch noch Tante Jutta aus Berlin nach Döbbernitz kommen, und wie sich im übrigen der geplante Verkauf des Baronshofs abwickeln werde, das werde man ja sehen, das könne man abwarten.

Wider Erwarten war der Alte mit allen diesen Vorschlägen sehr einverstanden. Besonders auf die Tante Jutta freute er sich und war neugierig, ob sie sich immer noch wie früher die Ohrlöckchen braun und das übrige Haar schwarz färbe und die kleine, [289]rote Stupsnase weiß pudere. So siedelte er denn nach Döbbernitz über. Axel hatte einen großen geschlossenen Wagen geschickt, und bei der Fahrt durch das Dorf zog Hellstern auch noch die Fenstergardinen zu, damit er gar nichts von Oberlemmingen zu sehen bekomme. Damit hatte er abgeschlossen. Dieses Dorf, das sein Geburtsort war, und in dem Vater, Großvater und Urahn sich glücklich gefühlt hatten, existierte nicht mehr für ihn. Es war ja das alte Dorf auch nicht mehr. Es war ein ganz moderner Badeort.

Hedda blieb vorläufig auf dem Baronshof, aber täglich holte ein Döbbernitzer Wagen sie ab. Das gemeinsame Mittagsmahl nahm man gewöhnlich bei Axel ein, und das waren glückliche Stunden für Hedda. Sie gewann ihren Bräutigam täglich lieber, und auch auf den grimmigen Alten übte die stille, vornehme und liebenswürdige Art Axels einen sichtlich beruhigenden Einfluß aus.

Schellheims hatten sofort nach Bekanntwerden der Verlobung Heddas ihren Besuch auf dem Baronshofe gemacht. Er galt sowohl der Braut wie auch dem erkrankten Vater. Bei dieser Gelegenheit verabschiedete sich Gunther. Er hatte plötzlich einen neuen Plan gefaßt. Er wollte den Winter in Spanien verbringen, um dort Studien über die ältesten deutschen Drucker auf der iberischen Halbinsel zu machen; schon lange beschäftigte er sich mit Forschungen zur Druckergeschichte, für die er sich lebhaft interessierte.

Als der Kommerzienrat mit seiner Gattin bereits wieder in den Wagen gestiegen war, stand Gunther mit Hedda noch auf der Veranda. Sie hatte ihm die Hand gereicht.

„Hoffentlich lassen Sie einmal von sich hören, verehrtester Herr Doktor,“ sagte Hedda mit freundlichem Lächeln; „es braucht ja nicht gerade eine Ansichtspostkarte zu sein. Und wie würde ich mich freuen, wenn eines Tages die frohe Nachricht bei uns eintreffen wollte, daß Doktor Gunther Schellheim [290]– ich brauche nicht auszusprechen – in Spanien sollen die Frauen leicht die Männerherzen entzünden. Lieber Doktor, wirklich, von Herzen würd’ ich mich freuen!“

Er preßte warm und fest ihre Hand.

„Ach, gnädiges Fräulein –“ antwortete er, aber er kam nicht weiter. Er würgte an den Worten; sie blieben ihm in der Kehle stecken. Und dann sprang er hastig die Verandatreppe hinab an den Wagen.

Noch mit dem Abendzuge wollte Gunther abreisen, zunächst nach Berlin. Es herrschte eine ziemlich trübe Stimmung bei der letzten Mittagstafel. Die Rätin hatte tränengerötete Augen, Gunther war still und in sich gekehrt, und auch der Kommerzienrat vermochte eine leichte sentimentale Regung nicht zu unterdrücken.

„Hol’s der Geier,“ sagte er plötzlich, als der servierende Diener das Zimmer verlassen hatte, und warf Messer und Gabel neben den Teller, „ich habe mir das alles ganz anders gedacht! Ich wollte Frieden und Ruhe für das letzte Dutzend Jahre meines Lebens haben, – deshalb zog ich mich vom Geschäft zurück. Wollte ganz philosophisch meinen Kohl bauen und mich an der Natur erfreuen, keinen Ärger mehr haben und nur das Nötigste vom Geschäfte hören – ja wahrhaftig, das war eigentlich meine Absicht! Und nun? Prostmahlzeit – nun macht mir die Quellengeschichte den Kopf wärmer, als es die bösesten Manchesterjahre zuwege bringen konnten!“

„Verzeihung, Papa, aber schließlich bist du doch selbst daran schuld,“ warf Gunther mit leichtem Lächeln ein. „Warum hast du nicht schlankweg jede Beteiligung an dem Badeunternehmen abgelehnt?“

„Das habe ich ja anfänglich getan, aber – siehst du, mein Junge, das verstehst du nicht! Das verstehst du nicht, weil du kein Kaufmann bist. Als ich sah, daß die ganze Geschichte in den Händen der [291]Möllers hätte verhunzt werden können, da kribbelte es mir in den Fingerspitzen, da schäumten die kaufmännischen Blutpartikelchen in meinen Adern – da konnt’ ich mich nicht mehr halten. Es war ja ein glänzendes Geschäft – das ist es noch heute –, trotzdem reut’s mich, daß ich mich auf die Sache eingelassen habe! Nun ja – kurz heraus: es reut mich.“

„Und weshalb, wenn ich fragen darf?“

„Weil – ja, das ist ganz eigentümlich! Anfänglich hielt ich die Möllers für dickköpfige, beschränkte Bauersleute. Dann merkte ich, daß der Albert Möller es faustdick hinter den Ohren hat, daß er ein gerissener Patron ist. Und heute weiß ich, daß die ganze Sippe nichts taugt, von A bis Z nichts taugt, daß sie allesamt Gauner sind! Sehr interessant, wie sich so ein schlichter Bauersmann im Laufe der Zeiten verändern kann, wenn ihn der Satan der Geldgier packt. Denn Geldgier ist alles bei den Leuten; vom Nutzen der Industrie haben sie keine Ahnung, von irgendwelchen idealeren Motiven ist keine Spur bei ihnen – keine Spur!“

Der Kommerzienrat betonte diese letzten Worte und schüttelte dabei den Kopf. Er schien sehr mißgestimmt zu sein. Albert Möller hatte mit offenen Feindseligkeiten begonnen. Alle Tage kam es zu kleinen Reibereien. Er sperrte Wege ab, die über sein Land führten, und erlaubte sich im Hinblick auf verschiedene Lücken in seinem Vertrag mit Schellheim alle möglichen Eigenmächtigkeiten. Das erbitterte den Rat um so mehr, als er empfand, daß er sich in Albert getäuscht hatte. Dieser brave Bauerssohn war ein ganzer Filou. Schellheim hatte geglaubt, leichtes und bequemes Spiel mit ihm zu haben, und war in seinen Verträgen daher minder vorsichtig gewesen, als es sonst seine Art zu sein pflegte; das rächte sich nun. Er ärgerte sich auch über die erstaunliche Tatkraft Alberts. Überall mußte der Mann mit dabei sein. Wo nahm er nur alle die nötigen Gelder her?!

[292]„Mir ist die Sache allerdings langweilig geworden,“ schloß Schellheim, seine Serviette zusammenfaltend. „Ich sehe, daß sich das Unternehmen nicht auf der von mir gewünschten soliden und gediegenen Basis weiter entwickeln kann, wenn diese Pöbelgesellschaft immer dazwischenzureden hat. Paßt mir’s nicht mehr, so verkaufe ich meine Anteile und gucke mir von hier oben aus den Rummel in aller Beschaulichkeit an. Mag’s gehen, wie es will! Unerhört – ich – ich soll mich mit Bauernpack herumschlagen! Soll mich von solchem Gesindel betrügen lassen!“

Es war wirklich tragikomisch: der Herr Kommerzienrat, der Großindustrielle, stand im Begriffe, die Waffen vor einem raffinierten Bauernjungen zu strecken. Er hatte seinen Meister gefunden, wo er es am allerwenigsten geahnt hätte.

Gunther versuchte es mit einigen einlenkenden und beschönigenden Worten, aber er regte den Vater nur noch mehr auf.

„Lassen wir die Sache ruhn,“ sagte Schellheim. „Der Teufel soll nicht schlechter Laune sein, bei all dem Mißgeschick, das einem widerfährt! Was hab’ ich denn nun von euch Kindern?! Hagen heiratet ein Fabrikmädel, – riesengroß wird die Kluft zwischen ihm und uns, und wenn man sich auch hundertmal Mühe gibt, Brücken und Übergänge zu schaffen, die Entfremdung ist doch nicht wieder gut zu machen! Du gehst nach Spanien, Gunther, reißest uns von neuem aus – und auf Döbbernitz, das ich bereits in meinem Besitze sah, wo ich dir ein hübsches und trauliches Nest schaffen wollte, hat sich ein Fremder festgesetzt. Wenn’s wenigstens ein Wildfremder gewesen wäre – aber nein, ausgesucht gerade der Mann, der dir die Braut vor der Nase fortgeschnappt hat!“

Gunther zog die Stirn in Falten. Er war froh, daß die Rätin die Tafel aufhob. Es war kein allzu herzliches Abschiednehmen. Die Mutter weinte still [293]in sich hinein, der Vater sah mürrisch aus. Wirklich – was hatte man von seinen Kindern!

Mit schwerem Herzen ging Gunther auf die Reise. Er hatte seine letzten Hoffnungen über Bord werfen müssen; ihm war recht traurig zumute. Und er nahm sich vor, sich mit verdoppeltem Eifer auf seine Studien zu werfen. Die Arbeit war das einzige Heilmittel.


Ende November fand die Hochzeit Fritz Möllers mit Frida Grödecke statt. Vorher hatte auf Bitten Heddas der Pastor einen nochmaligen Einspruch zu erheben versucht. Er beschied den alten Möller zu sich; er wußte ganz genau, daß der Alte allein das Machtwort sprechen konnte; er kannte seine Leute.

Möller kam auf der Stelle. Er hatte Respekt vor dem Pastor, war auch ein eifriger Kirchengänger.

Eycken sprach ihm zu Herzen. Es sei doch empörend, daß der Fritz ein so braves und liebes Mädchen wie die Dörthe Klempt unglücklich machen wolle. Es könne ja vorkommen, daß man in Ausnahmefällen einmal ein Verlöbnis rückgängig mache; wenn man beiderseitig fühle, daß man sich getäuscht habe, so sei ein Auseinandergehen schon besser als eine Heirat, der die höchste Weihe, die Liebe, fehle. „Aber in unserm Falle liegt die Sache doch wesentlich anders, lieber Herr Möller. Ich habe mit Dörthe gesprochen; sie sagt, nicht an Fritz, sondern an Ihnen liege die Schuld. Ich habe neulich auch einmal mit Ihrem Fritz gesprochen, als ich ihn zufällig traf, und er antwortete mir einfach: ‚Ich kann nichts dafür – der Alte will’s so.‘ Also die Tatsache steht fest: die beiden Menschen wollen sich angehören, und Sie treiben sie auseinander! Ist das nicht unrecht, Möller?“

Und ruhig erwiderte der alte Mann:

„Entschuldigen Sie, Herr Pastor, aber nein – es ist nicht unrecht. Ich gehöre noch zu der alten [294]Schule, und da haben die Kinder den Eltern zu gehorchen, wenn sie auch schon zehnmal erwachsen sind, denn sie bleiben die Kinder. Ich selbst habe meinen Eltern auch parieren müssen, als es zur Hochzeit ging, und hätte doch lieber eine andre geheiratet. Fragen Sie mal die Pauline Klempt, die kann Ihnen davon erzählen. Aber ich würde trotzdem nichts wider die Dörthe gehabt haben, wenn’s nicht von wegen der Quelle gewesen wäre. Es ist jetzt nicht mehr so wie früher. Aus dem Kruge ist ein Hotel geworden; schon letzten Sommer hat ein Postdirektor und ein Geheimer Rechnungsrat bei uns gewohnt. Es wird noch anders kommen. Da muß die Wirtin von besserem Herkommen sein als die Dörthe, muß was von der Wirtschaft verstehen und auftreten können. Und sie muß auch ihr Eingebrachtes haben. Denn Sie mögen mir sagen, was Sie wollen, Herr Pastor: was nutzt die ganze Liebe, wenn kein Geld dahinter steckt! Was heißt denn das mit der Liebe? Es find’t sich alles.“

Der Pastor hielt nicht damit hinter dem Berge, wie er über die eigenartige Auseinandersetzung Möllers dachte, aber es half ihm nichts. Die Entgegnungen des Alten bewegten sich immer in demselben Gedankenkreise. Ja, wenn die Quelle nicht wäre, da hätte man vielleicht ein Auge zugedrückt und nicht so aufs Portemonnaie und aufs Äußere gesehen. Aber nun mußte man es. Man brauchte viel Geld; es ging nicht anders.

Da wurde Eycken zornig und fragte Möller, ob er es auf seine Seele nehmen wolle, wenn Dörthe sich ein Leids antun würde – ob er es verantworten könne, wenn das Mädchen tiefer und tiefer ins Unglück käme.

Der Alte zuckte darauf mit den Achseln; sein Gesicht blieb hart wie Stein, brutal und grausam von Ausdruck, wie immer.

„Es gibt noch mehr Männer auf der Welt wie unsern Fritze, Herr Pastor,“ antwortete er. „Und [295]will sie keinen andern, so läßt sie’s bleiben. Ihre Tante Pauline ist auch nicht gleich ins Wasser gegangen. Wenn sich alle Mädel hier bei uns hätten ersäufen wollen, die den nicht gleich gekriegt haben, den sie gerne hätten haben wollen – Herr Pastor, dann hätten wir überhaupt keine Weiber mehr im Dorfe!“

Eycken entließ Möller. Er wollte nichts mehr hören von ihm; er sah auch ein, daß jede Bemühung, den Hartkopf umzustimmen, vergeblich gewesen wäre. Aber er geriet von neuem in Zorn, als ein paar Tage nach jener Unterredung die Verlobung Fritzens mit der Schlächterstochter aus Frankfurt bekannt wurde und bald darauf auch der standesamtliche Namensaushang der beiden erfolgte. Der Sitte nach pflegte jeder Hochzeit ein dreimaliges sogenanntes Aufgebot von der Kanzel aus vorherzugehen, und Eycken freute sich jedesmal, wenn er um diese feierliche Ankündigung gebeten wurde; er liebte es, wenn man den hübschen alten Sitten, die noch aus der Zeit vor Einführung der Zivilehe stammten, Achtung entgegenbrachte. Fritz hatte aber diesmal absichtlich kein Aufgebot bestellt, und sein Vater war damit einverstanden gewesen. Albert riet sogar von einer kirchlichen Trauung ab, bei der man sich immerhin auf einige herbe Worte des Pastors gefaßt machen konnte. Doch davon wollte der Alte nichts wissen. Er steckte viel zu tief im Überlieferten, um nicht vor dem Gedanken zu erschrecken, daß sein Sohn ohne kirchlichen Segen in die Ehe treten sollte.

Es war ein unangenehmer Auftrag für Eycken, diese Hochzeitspredigt. Daß er die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen durfte, ohne seinem Empfinden über die Frivolität des plötzlichen Brautwechsels Ausdruck zu geben, war klar. Es hätte seinem ganzen Wesen widersprochen, wenn er mit linden Worten darüber hinweggegangen wäre. Auf der andern Seite scheute er sich aber vor Zank und Ärger. Es konnte neue Konflikte mit dem Konsistorium [296]geben; die hätte er gern vermieden. Er dachte sowieso zuweilen daran, die Pfarre aufzugeben, um sich gänzlich seinem Kinderhospiz widmen zu können, dessen Einweihung im Frühjahr erfolgen sollte. Als letztes Aushilfsmittel wäre ihm schließlich immer noch das Vorschützen einer Erkrankung geblieben; dann hätte der Geistliche der Nachbarparochie die Trauung vollziehen müssen, aber solch eine Komödie dünkte Eycken unwürdig.

Die Hochzeit fand an einem kalten Novembertage statt. Es war früh Winter geworden, unerwartet schnell, ohne langsamen Übergang. Als man eines Morgens erwachte, war Schnee gefallen, und an den Bäumen, an denen zum Teil noch das bunte Herbstlaub hing, zeigten sich die ersten Eiskristalle. Aber der Himmel strahlte in lichtem und glänzendem Blau, und das ganze Kirchenschiff war mit heller Sonne erfüllt.

Fast die gesamte Gemeinde wohnte der Feier bei. Auch Dörthe hatte sich heimlich in die Kirche schleichen wollen, aber Hedda hatte es zu verhindern gewußt. Sie hatte das schreiende und weinende Mädchen mit raschem Entschlusse in ihre Kammer eingeschlossen.

Als Eycken, vor dem Altare stehend, den Blick über die Gemeinde schweifen ließ, fiel es ihm auf, wie stark sie sich im letzten Jahr gelichtet hatte. Eine ganze Menge fehlte: die Familien Braumüller, Thielemann, Maracke, Klauert und auch Tengler, der gleichfalls nicht hatte der Versuchung widerstehen können und der goldenen Lockung Alberts zum Opfer gefallen war. Hellstern weilte bereits in Döbbernitz; wie Eycken gehört hatte, unterhandelte ein Berliner Arzt mit ihm wegen Ankaufs des Baronshofs. Sicher hatte auch hier Albert Möller die Hände im Spiel, freilich in aller Heimlichkeit, denn Hellstern wollte nichts mit ihm zu tun haben. Er wurde unbeschreiblich wütend, wenn man in seiner Gegenwart nur die Namen der Möllers aussprach.

[297]Der Pastor hatte sich in letzter Zeit weniger um die Vorgänge in seiner Gemeinde bekümmert; sein Lieblingswerk, das ihm den Abend seines Lebens verschönen helfen sollte, der große Tempel, den er draußen auf der Heide der Barmherzigkeit errichtete, nahm ihn völlig in Anspruch. Jetzt aber, als er die Insassen des Dorfs um sich sah, empfand er zum ersten Male die klaffenden Lücken, die das Fieber der Spekulation und die Sucht nach raschem Erwerb in ihre Reihen gerissen hatte. Langsam färbte sein schönes Patriarchenantlitz sich dunkler. Sein Blick flog nach rechts, wo die Möllers saßen: das war die Bank der Sünder, das waren die Zertrümmerer seiner Gemeinde. In ihrer Hand war die goldene Axt der Industrie zu einem Mordwerkzeug geworden, zum Henkerbeil. Er entsann sich ähnlicher Vorgänge. An der Grenze der Lausitz hatte jüngst die Aufdeckung großer Kohlenlager eine ganze Gemeinde gewissermaßen verschlungen; man hatte die Felder verkauft und die Häuser niedergerissen, um der Erde ihre Schätze zu rauben, und da kam plötzlich der Rückschlag, und der Absatz begann zu stocken; Großindustrielle erwarben das ganze Gebiet, und die Gemeinde wanderte aus. Er entsann sich auch eines andern Falles schnellen Reichtums, der viel besprochen worden war, eines großen und köstlichen Waldes, den eine Gemeinde in der Mark geerbt hatte, und den sie schleunigst niederschlagen ließ, um sich die Säckel füllen zu können. Aber dieser gemordete Wald rächte sich; Trunksucht und Liederlichkeit rissen im Dorfe ein, die Familien verfielen, eine Zeit raschen Niedergangs begann. Überall, wo man den Bauern mit Gewalt seiner ursprünglichen Tätigkeit entfremdete, wo auf den Dörfern eine plötzliche Änderung der Erwerbsverhältnisse eintrat, zeigte sich das gleiche Resultat ...

Fritz Möller hatte sich zur Hochzeitsfeier einen Frack machen lassen, in dem er wie eine große und dicke Fledermaus aussah. Auch einen neuen Zylinderhut [298]besaß er, und dennoch schien er sich sehr unbehaglich zu fühlen. Er blickte nicht vom Boden auf, während seine Braut, ganz in Weiß, was die schwarze Person nicht übel kleidete, die Augen frank und frei im Kirchenraume umherschweifen ließ, als suche sie den, der etwas wider sie und ihren Fritz zu sagen wage. Hinter dem Brautpaar hatte die Familie Platz genommen: die beiden Alten, Bertold mit seiner Frau und Albert. Albert mit zerstreutem Gesicht, wie gewöhnlich, und in der Tat wanderten seine Gedanken weit über die heilige Stätte hinaus und bauten Haus an Haus, das Sanatorium auf der Anhöhe des Baronshofs und ringsherum einen Kranz schöner Villen. Er hatte große Summen aufgenommen, aber auch an Sicherheit gewonnen. Er sorgte sich nicht mehr; er wußte nun, daß die Zukunft von Oberlemmingen den Möllers gehörte.

Eycken hatte auch diesmal das Bibelwort aus der Genesis gewählt, das er öfters seinen Traureden zugrunde zu legen pflegte: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei ...“ Er sprach länger als sonst, und er bemühte sich, milde zu sein. Aber Fritz verstand seine Anspielungen. Er wurde bald rot, bald bleich und rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, während Frida kerzengerade dasaß und den Pastor mit ihren Kohlenaugen unverwandt anstarrte. Auch die Gelegenheit, den Zersetzungsprozeß in der Gemeinde zu erwähnen, ließ Eycken sich nicht entgehen. Er hielt dem Brautpaare vor, daß ihnen beiden wie ihrer Familie durch die Entdeckung der Heilquelle ein großes äußeres Glück beschieden worden sei, doch sollten sie sich nicht von diesem Glücksfalle berauschen lassen und ihn auch andern teilhaftig machen. Und dann fuhr er fort: „Gleichwie aus der Erde tiefem Schacht neben der heilspendenden Quelle auch giftige Schwaden aufsteigen können, die das Land verseuchen; wie das Wasser selbst, wenn man seine Kraft nicht zügelt, [299]mit brausender Gewalt den Boden zu unterhöhlen vermag, bis er eines Tages einstürzt und alles in die brodelnde Tiefe reißt, was oben trügerisch grünte – so sprudelt auch oft aus dem tiefen Schacht der Menschenseele ein ungebärdiges Wünschen auf, das stärker und stärker anschwillt, zerstört, schadet und niederreißt, wenn man sich nicht bemüht, es einzudämmen und seiner Herr zu werden. Anfangs lenkt vielleicht nur der Erwerbssinn und der Trieb der Selbsterhaltung diese Wünsche, aber allmählich tritt Mißgunst und Habgier dazu, und der schaffende Verstand artet in listige Ausbeutung aus, die geschickte Hand rafft allenthalben zusammen, was sie zu eignem Vorteil erreichen kann, und schont auch andrer Eigentum nicht. Im Herzen eines jeden von uns entspringt der Quell des Wünschens rein und kristallklar; doch ach, wie leicht wird er trübe, wenn sich Böses und Übles in ihn mischt, und wie braust er auf und übertönt das Gewissen, wenn man ihn ungehindert fließen läßt und zügellos nährt, bis er, gleich einem wilden Strome, alles Gute in uns überschwemmt! Gebt acht, daß ihr euer Wünschen zu bändigen versteht! Haltet ihn rein, den Quell eurer Hoffnungen – wie jenen, den Gottes Hand draußen im Felsgestein zum Heile der leidenden Menschheit hervorsprudeln ließ!“

Aber Albert Möller drehte an seinem Schnurrbart und zog den Mund schief. Stumm und gleichgültig blickten die andern drein. Die Braut stierte noch immer mit ihren schwarzen Kohlenaugen unbeweglich in das Gesicht des Pfarrers. Fritz hatte den Kopf gesenkt.

Den Möllers gegenüber, auf der linken Seite des Altars, saß die Familie Grödecke, Vater und Mutter und zwei Schwäger, alles ungeheure Gestalten mit roten Gesichtern, dick und protzig. Vater Grödecke hatte seine rechte, unbehandschuhte Tatze auf die Chorbank gelegt, so daß man den dicken goldenen Siegelring auf seinem Zeigefinger bewundern [300]konnte. Dieser Ring glänzte hell im freundlichen Sonnenschein, wie einst das goldene Kalb geleuchtet haben mochte, das sich Israel als Götzen errichtete. Und während Eycken sprach, liebäugelte Herr Grödecke beständig mit seinem Siegelring, der ihm bei den aggressiven Worten des Pastors eine gewisse Beruhigung zu gewähren schien. Denn er wie die Möllers verstanden schon den Geistlichen; sie wußten, was er meinte. Aber es war kein einziger unter ihnen, der sich seine Ansprache zu Herzen genommen hätte. Auch Fritz nicht; in dessen Seele lebte nur der eine Gedanke: ‚Wenn es doch erst aus wäre!‘

Es dauerte auch nicht mehr lange. Beim Ringewechsel und der Fragestellung entstand ganz hinten in der Kirche, unter dem Orgelchor, ein Geräusch, das Eycken aufblicken ließ. Doch die Sonne blendete. Es schien ihm, als sehe er, halb verdeckt von einer der großen Säulen, die den Chor trugen, den alten Klempt, den seine Schwester Pauline zurückzudrängen versuchte. Dann fiel dröhnend die Orgel ein, und die Posaunen bliesen ...

Das Hochzeitsmahl fand selbstverständlich im Hotel Möller statt. Man hatte sich genötigt gesehen, auch Eycken einzuladen, der indessen abgesagt hatte. Das war allen lieb. So blieb man denn unter sich; von den Bauern war keiner gebeten worden.

Noch vor Beginn des Mahls tauschte man seine Ansichten über die Traupredigt aus. Die Männer standen alle zusammen in einer Ecke des großen Saals, in dem die Tafel gedeckt war: die von der Familie Grödecke mit vorgeschobenen Leibern, von weißen Westen umspannt, auf denen goldene Uhrketten flimmerten; daneben der alte Möller, schon wieder die Pfeife im Munde, mit seinem harten und eisernen Gesicht – der kleine Bertold, krumm, mit verschmitztem Blinzeln hinter der Brille, und Albert, schlank, sehnig und elastisch, ein brutales Kraftgefühl zur Schau tragend. Sie schimpften [301]weidlich auf Eycken und in allen Tonarten; Albert allein meinte skeptisch:

„Was schert’s uns?! Laßt ihn doch reden!“

Das Mahl währte lange. Es wurde gewaltig gegessen und getrunken. Man hatte nicht gespart. In den Ecken des Saals häuften sich die leeren Weinflaschen an. Das Gesicht der Mutter Grödecke glühte wie von Flammen bestrahlt: ihr Mann hatte seinen Stuhl neben den Platz Alberts geschoben und sprach mit letzterem über die neue Fleischhalle, während ringsumher der Lärm der Tafelnden immer lauter anschwoll.

Um so stiller war es draußen. Die Nacht hatte sich über das Dorf gesenkt, aber es war hell, denn der Himmel war ausgesternt und der Mond aufgegangen. Der Mond hatte einstmals, vor Jahrhunderten, dies kleine Oberlemmingen entstehen sehen. Ein versprengter Wendenstamm hatte hier, auf den beiden Höhen, während das Tal selbst noch See war, seine Pfahlbauten errichtet. Und dann war das Wasser gefallen, und sässige Leute hatten sich angesiedelt und zum Pfluge gegriffen. Auf dem Baronshofe erhob sich das erste Schloß, mit festen Mauern und Wallgräben. Fremde Kriegsschwärme überfluteten das Land und brannten die Häuser nieder. Aber die Liebe zur Heimat war groß; aus Schutt und Trümmern erhob sich ein neues Dorf und ein neues Haus an Stelle des alten Schlosses. Die Zeit verrann. Auch auf dem Auberg wurde es wieder lebendig. Dort faßte zuerst die siegende Industrie festen Fuß, ehe sie zu Tal stieg. Vor ihrem Triumphschritt fielen die Katen der Taglöhner und die Bauernhütten; abermals brach eine neue Epoche an. Eine so rapide Veränderung, wie sie im Laufe der letzten beiden Jahre über Oberlemmingen gekommen, hatte der Mond noch nicht gesehen. Und doch war es erst der Anfang. Wenn bei Auf- und Niedergang abermals eine Reihe von Jahren verflossen ist, wird der Mond noch Erstaunlicheres [302]schauen. Dann sind auch die letzten Bauernhäuser verschwunden, die heute noch stehen, und eine Villenstadt breitet sich unten im Tal aus, umringt von sauberen Parkgehegen, von geschorenen Wiesen, glatt und weich wie Samt, und von blühenden Bosketts, die in den Sommernächten duften. Das Dunkel des Abends kennt man nicht mehr in Oberlemmingen, denn die elektrischen Kugeln spotten der Nacht, und vor ihrem hellen, weißen Lichte erlischt der Mondenglanz. Vom Auberge aus bis zum Lemminger Zacken zieht sich durch das Grün der Anlagen eine ganze Reihe stattlicher Baulichkeiten, hübsche Chalets und Wohnhäuser, ärztliche Anstalten und Institute, die neuen Bäder, die Basarreihen, Hotels und Restaurants. Hie und da ragen hohe Türme in die Luft; die Fabrikschlote dampfen. An den Ufern der kleinen Barbe, die mit so silbernem Lachen das Tal durchströmt, sind elegante Kaie entstanden, mit breiten Promenadenwegen, Pavillons und Kiosken. Und eine bunte Menschenmenge, aus allen Weltgegenden herbeigeströmt, belebt dieses Bild; im Kurpark stauen sich die Massen und überfluten ihn; es wimmelt auf den Wiesen, im Walde und zwischen den Feldern. Wagen rollen hin und her. Überall Fremde ...

Das wird der Mond sehen, wenn bei Auf- und Niedergang abermals eine Reihe von Jahren verflossen ist. Doch nach den Bauern von Oberlemmingen wird er vergebens Umschau halten. Denn das Triumphgespann der Kultur gleicht dem Götzenwagen von Djaggernaut, dessen demantene Räder so strahlen und leuchten, daß man die Opfer kaum merkt, die sie auf ihrem Wege zermalmen.


Am Abend des Hochzeitstages ihres ehemaligen Bräutigams wurde Dörthe im väterlichen Hause vergeblich erwartet. Es war ihr ein schrecklicher Gedanke, immer wieder in das gramdurchfurchte Gesicht des alten Vaters blicken und die Weissagungen [303]der Tante Pauline anhören zu müssen, die der Familie Möller aus Eiweiß und Kaffeesätzen und Traum- und Punktierbüchern heraus den fürchterlichsten Untergang prophezeite.

Während der Kirchenzeit hatte Dörthe in ihrer Kammer ununterbrochen geweint. Dann war Hedda zu ihr gekommen, hatte sich neben sie gesetzt und tröstend mit ihr zu sprechen versucht. Und wirklich war Dörthe ruhiger geworden, hatte Heddas Hand geküßt, ihr für ihren gütigen Zuspruch gedankt und war schließlich wieder still und emsig an ihre Arbeit gegangen.

Nun schritt sie, ein dickes Tuch um den Kopf gebunden, die Dorfstraße hinab. Sie trug sich schon seit einigen Wochen mit der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Als der Gedanke an Selbstmord zuerst in ihrem wirren Kopfe aufgetaucht war, hatte sie sich davor erschreckt. Aber mit der Zeit hatte sie sich fester und fester in diesen Gedanken hineingelebt, ohne zu grübeln, immer nur das Ziel vor Augen, Fritz durch ihren Tod zu beweisen, wie lieb sie ihn gehabt hätte, und wie groß sein Unrecht gegen sie gewesen sei. Ihr Begriffsvermögen war zu beschränkt und die Empfindungswelt, in der sie lebte, zu einfach, als daß sie sich über den starren Trotz hätte klar werden können, der das leitende Motiv zu ihrem Entschlusse war. Sie wußte ganz genau, daß die gesamten Möllers der Ansicht waren, sie werde sich allmählich schon trösten; nun wollte sie ihnen zeigen, daß es anders sei. Sie bedauerte nur, daß sie den Schrecken der Möllers und das Gesicht Fritzens nicht mehr sehen könne, wenn man sie aus dem Wasser ziehen würde.

Sie war jetzt ganz ruhig und fast heiter. Sie hatte am Spätnachmittag noch eine Stunde im Gesangbuch gelesen. Ein altes Kirchenlied, das sie als Kind einmal auswendig lernen mußte, war ihr wieder in die Augen gefallen, und sie sprach es auch jetzt leise vor sich hin:

[304]

„O Vater der Barmherzigkeit,
Ich falle dir zu Fuße,
Verstoß mich nicht, der zu dir schreit
Und tut noch endlich Buße.
Was ich begangen wider dich,
Verzeih nur alles gnädiglich
Durch deine große Güte ...“

Jenseits der Chaussee bellte ein Hund. Sonst war es totenstill im Dorfe. Aber je näher Dörthe dem Möllerschen Gasthaus kam, um so deutlicher hörte sie ein lustiges Stimmengewirr. Hinter den Parterrefenstern des Hotels glänzte helles Licht. Man feierte noch immer da drinnen.

Dörthe trat in den Schatten des Hauses und drückte sich dicht an die Wand, neben der breiten Treppe, die in das Haus führte. Hier lauschte sie angestrengt. Sie hätte gern noch einmal die Stimme ihres Fritz gehört. Aber es war unmöglich, denn jetzt hub im Saale auch eine lustige Musik an: Vietz mit zwei Geigern war da.

Unwillkürlich mußte Dörthe an jenes Erntefest zurückdenken, auf dem man ihre Verlobung gefeiert hatte. Eine ganze Reihe bunter Bilder schien an ihr vorüberzuflattern. Sie sah den Alten, wie er sie um die Taille faßte – sah sich mit Fritz tanzen, sah die Liese Braumüller und die ganzen jungen Burschen vor sich, hörte das Krachen des plötzlich losbrechenden Gewitters und die heisere Stimme des trunkenen Vietz das Lied „Hans mit de Krusekragen“ singen.... Und dann die Abschiedsstunde im Buchenhain. Es strömte brennend heiß durch Dörthes Herz. Da hatte er sie auf seinen Armen getragen, und sie hatte so sicher geglaubt, daß noch alles gut werden würde ...

Sie ging weiter. Tränen tropften über ihre Wangen. Plötzlich fiel ihr noch etwas ein. Sie hatte einen Brief in der Tasche, an Fritz adressiert, nur die Nachricht enthaltend, daß sie am Lindengrund in den See springen würde, weil sie nicht länger leben wolle – den sollten die Hochzeitsgäste [305]vor der Hoteltür finden. Und sie machte nochmals kehrt, schlich sich wieder am Hause entlang, huschte rasch die Treppe hinauf und legte den Brief auf die innere Schwelle der offenstehenden Haustür.

Dann flog sie davon. Sie rannte die Chaussee hinab und schritt erst wieder langsamer aus, als sie in den Döbbernitzer Weg einbog.

Im Walde fürchtete sie sich. Die Mondstrahlen tanzten vor ihr im Sande, und von allen Seiten erklangen fremdartige Töne: Rauschen, Knacken und Ächzen. Irgend ein dunkles Getier flüchtete in der Ferne scheu über den Weg.

Dörthe begann wieder zu laufen. Einmal schrie sie laut auf; ihr eigner Schatten hatte sie erschreckt. Sie stürzte von neuem weiter, rechtsseitig hinein in den Wald – da mußte der See liegen! Ihr Herz klopfte zum Springen; sie war in Schweiß gebadet. Ganz plötzlich umflutete sie heller Mondschein – sie stand auf einer schneeüberwehten Lichtung, und unten schimmerte tiefschwarz der See.

Dörthe hatte atemschöpfend halt gemacht. Sie hatte ihr Kopftuch verloren; ihr Haar war aufgegangen und flatterte um ihre Schultern. Sie stierte mit großen, glühenden Augen auf das schwarze Wasser hinab. Es tobte und brodelte in ihrem armen Kopf, und durch ihr Hirn zuckten schmerzhafte Stiche. Ein unsägliches Grausen schüttelte sie – eine furchtbare Angst vor dem Tode und vor dem kalten Wasser. Sie wollte wieder zurück ...

Hinter ihr im Walde wurde es laut; er rauschte und knackte von neuem – ein Schwarzwild brach durch das Unterholz und jagte die Dohlen auf. Überall in und unter den Bäumen schien es lebendig zu werden ... Mit gellem Schrei stürzte Dörthe den Abhang hinab, und in vollem Lauf begann sie stammelnd ihr Lied zu beten: „O Vater der Barmherzigkeit ...“ Dann ein letzter Schrei – ein schweres Aufschlagen im Wasser, ein Gluckern und Wogenrollen ...

[306]Im See bildeten sich längliche Kurven, die den glatten Spiegel trübten, sich weiter und weiter wölbten und schließlich allmählich verrannen. Aus dem metallenen Schwarz des Wassers leuchtete wieder das Abbild des Himmels hervor, der sternendurchglänzten Ewigkeit.

Fünfzehntes Kapitel

Wieder war es Frühling geworden – der erste warme Tag im Jahre, ein Tag, der die Freuden des Sommers vorahnen ließ.

Im Parke von Döbbernitz knospete es an Baum und Strauch. Es war nicht mehr die wuchernde Wildnis, die sich hier unter dem verschollenen letzten Zernin ungebändigt und unaufgehalten ausbreiten konnte, aber ein Hauch jener Urwaldpoesie war trotz der schmückenden und regelnden Hand des Gärtners doch noch zurückgeblieben. Die weiten Rasenflächen legten bereits ihr grünes Lenzkleid an, und nur hie und da lugte noch ein Fleckchen Winterbraun hervor. Die Lärchen blühten schon, und an den Kastanien zeigten sich dicke, harzene Knospen; die frischen Blätter der Mahonien schimmerten wie lackiert, die Narzissen erschlossen ihre Kelche. Das Grün der Bosketts schillerte in mancherlei Abstufungen; die Spiräen, immer die ersten im Frühlingsschmuck, trugen ihr Blattwerk schon in kräftigerer Färbung zur Schau, aber Flieder, Jasmin und Schneebeeren begnügten sich noch mit zarterer Tönung und die jungen Triebe der Edelweide hatten sich mit einem bläulichen Schleier umsponnen. Vor allem aber zeigte das Leben in der Vogelwelt, daß der Sommer nahte. Es zwitscherte, pfiff, trillerte und sang überall in den Zweigen, und hoch durch die blaue Luft strichen die Schwalben.

Die Gärtner arbeiteten im Park. Die Treibhaustüren [307]waren weit geöffnet; ein paar Koniferen wurden ins Freie geschafft. An den Spalieren beschnitt man das Obst und den Wein; die Wege wurden vom trockenen Laube gesäubert und hie und da neu mit Kies bestreut; die hochstämmigen Rosen, deren Wipfel den Winter hindurch niedergelegt und mit Erde bedeckt worden waren, wurden aufgerichtet und wieder an ihre grünen Pfähle gebunden. Zahlreiche Hände regten sich, den Sommer zu empfangen.

„Uff,“ meinte der alte Hellstern, als er in den Schloßgarten trat; „August, ich habe dich verkannt. Ich nehme es zurück, daß ich sagte, du seiest ein noch größerer Esel, als ich geglaubt hätte. Du bist ein minder großer. Es ist wahr, der Sonnenschein tut mir wohl, und eine so warme Luft hätte ich nicht erwartet. Was meinst du: ob ich meine Mittagspfeife im Freien rauchen kann?“

„Das konnt’ ich mir denken,“ erwiderte August, die schwachen Gehversuche des Alten mit kräftigem Arm unterstützend; „kaum fühlen sich der Herr Baron mal wieder so ’n bißchen, und gleich müssen Sie leichtsinnig sein. Aber ich glaube, ich werd’s diesmal verantworten können. ’s ist wirklich wie im Sommer, und die Mücken spielen auch schon. Der Herr Baron können sich ein Stündchen unter die Büste setzen, aber nur, wenn Sie sich die Beine ordentlich einwickeln. Ich werde Franzen sagen, daß er die Pelzdecke runterbringen soll.“

Hellstern nickte. „Tu das, mein Sohn, und sage dem Franz auch gleich, er soll die Zeitungen und die Briefe mitbringen, die auf dem Tische vor dem Sofa liegen, und die Brille vom Schreibtisch. Und dann mummle mich ein, wie du es für gut hältst. Du siehst, ich pariere dir aufs Wort –“

„Na na, Herr Baron!“

„Widersprich nicht immer! Ich sage dir, ich pariere dir aufs Wort, du jammervoller Mensch, denn ich bin schon froh, daß ich den Wärter [308]losgeworden bin, der immer nach Lazarett und Kamillentee roch. Und was willst du denn eigentlich? Ich kann die Beine schon wieder ganz hübsch bewegen – soll ich mal im Parademarsch an dir vorüberdefilieren – he?“

„Vorläufig setzen sich der Herr Baron man gefälligst ruhig hin. Ich habe der Frau Baronin Tochter geschrieben, daß es gottlob besser ginge, und wenn der Herr Baron Dummheiten machen und wieder ein Rückfall kommt, dann bin ich mit blamiert. Sehn Sie, das ist hier so ’n schönes Plätzchen, mitten in der Sonne, und da haben der Herr Baron den seligen Kaiser im Rücken und vorne den grünen Rasen und können mal links in die Birken gucken und mal rechts in die Blutbuchen, und was da sonst noch steht. Und nun will ich den Franz rufen.“

Aber der Alte hielt August noch am Ärmel fest.

„Du,“ sagte er, „weil du vorhin von der Frau Baronin sprachst: ich habe heute nacht von ihr geträumt. Aber so deutlich, als ob es Wirklichkeit gewesen wäre. Und vom Herrn Baron auch; der sah so blaß und elend aus, daß ich vor Schreck aufgewacht bin. Das macht mich ein bißchen unruhig.“

„Na ja – das fehlte noch! Nu kommen der Herr Baron schon auf die Sprünge von Klempts Paulinen. Der Doktor hat jede Gemütsbewegung strengstens verboten. Am besten wär’s, der Herr Baron träumten überhaupt nicht.“

„Mach, daß du fortkommst! Ich soll wohl noch eine Medizin gegen das Träumen einnehmen? ... Vergiß mir die Briefe nicht!“

Und dann faltete er die Hände im Schoße, lehnte den Kopf zurück und ließ sich bei halbgeschlossenen Augen von der Sonne bescheinen.

Es war in der Tat ein freundliches Plätzchen dicht neben der kleinen Schloßtür, die zu den [309]Fremdenzimmern führte. In einem Halbkreise von Taxushecken stand ein Pilaster mit der Büste des alten Kaisers Wilhelm, ein Geschenk der Landschaft an den verstorbenen Minister, das die Gläubiger Klaus Zernins respektiert oder vergessen haben mochten. Über die Wiesenlichtung fort konnte man von hier aus tief hinein in den Park schauen, bis zu den großen Trauereschen am Bach und nach rechts herüber zu den wunderschönen alten Blutbuchen, in deren Geäst noch die abgestimmten Äolsglocken hingen, deren eigentümlich zartes Tönen und Klingen Frau von Zernin ganz besonders geliebt hatte.

Franz brachte die Decken und die gewünschten Zeitungen, auch noch ein paar Kissen und zur Vorsorge den Tabakskasten und Feuerzeug, und August begann seinen Herrn einzupacken.

„So,“ sagte er schließlich, „nun bleiben der Herr Baron hübsch stille sitzen. Brennt die Pfeife noch? Ja, sie brennt noch. Hier ist auch die Brille. Aber ich würde nicht so viel lesen, Herr Baron; es steht ja doch nichts drin in den Zeitungen und regt Ihnen bloß die Gedanken auf.“

„Rede nicht so viel, sondern hebe dich weg, Augustus miserabilis. Wenn ich dich brauche, schicke ich einen der Gärtnerburschen nach dir. Adjö!“

August nickte zufrieden und ging in das Schloß zurück. Geraume Zeit hindurch war er recht in Sorgen um seinen Herrn gewesen – damals, als die jungen Herrschaften nach der Hochzeit ihre große Reise angetreten hatten. Der Alte brummte und schimpfte nicht mehr; es verstrichen Wochen, ohne daß August gekündigt wurde, ohne daß ihm ein zusammengeknülltes Zeitungsblatt oder das Brillenfutteral an den Kopf geflogen wäre. Das waren beunruhigende Symptome. Wenn der Herr Baron nicht mehr wütend wurden, ging es langsam zu Ende mit ihm – davon war August überzeugt. Das Herz tat ihm weh, und eines Morgens sprach [310]er sich unumwunden mit seinem Gestrengen über seinen Kummer aus.

„Herr Baron,“ sagte er, „ich ertrage das nicht länger. Sie müssen wieder an die Familienchronik gehen. Ich weiß zwar, daß Ihnen der Doktor gemütliche Erregungen verboten hat, aber ich halte es für noch schlimmer, wenn Sie so tagaus tagein immer bloß vor sich hindrusseln. Da kommen Ihnen erst die dummen Gedanken. Nehmen Sie ruhig Ihre Arbeit wieder vor. So ’n kleiner Ärger von wegen der Vokabeln schadet Ihnen nichts; das frischt Sie auf. Und ich möchte auch mal wieder besser behandelt werden, Herr Baron. Es ist lange her, daß Sie zum letzten Male Esel und Jammerfrosch zu mir gesagt haben. Das kränkt mich.“

Da lachte der Alte nach Monaten wieder einmal herzlich und lustig auf, ließ August nähertreten, gab ihm die Hand und sprach einige Worte mit ihm, die ein andrer für Injurien gehalten haben würde. Aber August nicht; sein Gesicht glänzte und seine Augen wurden feucht; nun wußte er doch, daß sein Herr ihn immer noch lieb hatte.

Hellstern setzte sich wirklich wieder hinter die Arbeit. Er hatte Sehnsucht nach seiner Tochter gehabt – das hatte ihn still werden lassen. Nun vergrub er sich wieder in seine Papiere und Dokumente. Wenn Axel zurückkehrte, sollte er die Chronik vollendet vorfinden. Aber er konnte nicht, wie auf dem Baronshofe, hintereinander fortarbeiten; auch der Arzt wollte das nicht. Vor allem war ihm Bewegung verordnet worden, und August sorgte dafür, daß der Baron die ärztlichen Vorschriften einhielt. Außer den Marschübungen durch eine lange, geheizte Zimmerflucht gab es noch eine Reihe mechanischer Bewegungen an verschiedenen Apparaten; auch kam täglich der Arzt aus Oberlemmingen zur Massage und zu einer gelinden elektrischen Kur. Besonders die letztere schien anzuschlagen; im Laufe des Winters machte der Baron [311]erstaunliche Fortschritte. Das freute ihn selbst, denn er konnte darüber seiner Hedda berichten, und Jubelbriefe trafen als Antwort ein. Auch eine gewisse Anteilnahme an der Wirtschaft machte ihm Spaß und unterhielt ihn. Der Administrator erschien täglich bei ihm mit dem Rapport, und bei Beginn der Frühjahrsbestellung hatte sich Hellstern sogar öfters zu Wagen auf die Felder gewagt. Die alte Liebe zum Lande erwachte in ihm; mit lebhaftem Interesse verfolgte er die Maßnahmen des sehr tüchtigen Verwalters, den er gelegentlich auch abends zu sich einlud, um mit ihm zu plaudern.

Auf Hellsterns Schoße lagen die neuen Zeitungen und die letzten Briefe Heddas. Sie waren etwas sorgenvoll gehalten. Man hatte schon im Februar die Reisedispositionen ändern müssen. Axel war wieder kränklicher geworden; auf seine zarte Natur hatte auch die unbedeutendste Erkältung starken Einfluß. Die Ärzte wünschten, daß er nicht vor Juni nach Hause zurückkehre – und damit wuchs die Sehnsucht Hellsterns.

An dem hohen, schmiedeeisernen Tore, das vom Parke in den inneren Schloßhof führte, wurden Stimmen laut.

Hellstern erhob den Kopf.

„Ist es denn möglich!“ rief er. „Eycken – Pastor – sind Sie es wirklich?! Lassen Sie sich auch einmal sehen? Ist der alte Freund noch nicht gänzlich vergessen?!“

„Immer los mit den Vorwürfen, lieber Hellstern – ich habe sie redlich verdient! Ich habe aber auch meine Entschuldigungen – und nun mal zuvörderst die Hand – beide Hände, damit ich sie recht kräftig drücken kann! Gott sei Dank, Alterchen, ich sehe, August hat nicht übertrieben: Sie werden wahrhaftig noch einmal jung!“

Eycken hatte sich neben Hellstern in einen der Korbsessel gesetzt. Er war unverändert, noch immer [312]der schöne, weißbärtige Patriarch mit den klaren Augen voll Güte und Barmherzigkeit.

Die beiden alten Herren hatten sich seit längerer Zeit nicht gesehen und einander viel zu erzählen.

„Ich habe in den letzten Monaten so viel zu tun gehabt, daß ich kaum noch Mensch bin,“ sagte Eycken. „Meine Anstalt ist fertig und vorgestern eingeweiht worden. Sechzehn arme liebe kleine Geschöpfe sind meine ersten Pfleglinge. Hellstern, ich bin überglücklich! Ich habe meine Pfarre aufgegeben, um ganz dem Hospiz leben zu können. Das ist mir lieber und füllt mein Leben besser und wohltuender aus – was mir vom Leben übrig bleibt! Ich habe letzthin in Oberlemmingen üble Erfahrungen gemacht; es ist nicht alles so wie es sein sollte, und wie ich es erhofft habe.“

„Kann ich mir denken,“ warf Hellstern ein.

„Nein – es ist vieles anders geworden, wie ich erhofft habe,“ fuhr Eycken fort, „und der Selbstmord der kleinen Klempt – eurer Dörthe – der hat sozusagen das Maß zum Überlaufen gebracht. Ich hielt’s nicht mehr aus in der Gemeinde. Was sag’ ich, Gemeinde – die alte Gemeinde existiert überhaupt nicht mehr! Alles ist zersprengt worden; meine Besten sind fort; die Möllers regieren da unten.... Sie wissen, daß ich mich zu Ihren Ansichten nie habe bekehren können, lieber Freund – auch heute noch nicht. Ich bin kein Gegner des Fortschritts, kein Feind regen industriellen Aufschwungs. Aber es wurmt und grimmt mich, daß die Quelle, die der liebe Gott den Menschen zu ihrem Heile geschenkt hat, ein Objekt wilder und niedriger Spekulation geworden ist. Es grimmt mich, daß gewissenlose Leute diese Gabe des Höchsten in schmählicher Weise auswuchern, statt sich mit ehrlichem Verdienst zu begnügen. Und deshalb zog ich mich zurück.“

Der Baron nickte. „Ich verstehe es,“ entgegnete er; „ich sah das alles vom ersten Moment ab, [313]da von der Quelle gesprochen wurde, genau so kommen, wie es sich nun tatsächlich entwickelt hat. Ich hab’s seinerzeit auch den Möllers gesagt, als sie mich gerne als Köder und Aushängeschild einfangen wollten. Ich kannte die Leute und wußte, daß sie einen Ring bilden und die Erträgnisse der Quelle allein in ihre Taschen leiten würden, soweit es nur irgendwie anging. Ein Feind der Industrie bin ich ja auch nicht, Pastor – wahrhaftig nicht, da verkennen Sie mich –, aber ein Feind selbstsüchtiger Spekulation, die andern das Geld aus dem Säckel lockt! Ich hoffte noch immer, es würde Schellheim gelingen, das Ganze in geordnete Wege zu leiten – aber als er im Winter einmal hier war, machte auch er mir Andeutungen, als wolle er sich nach und nach zurückziehen.“

„So ist es,“ bestätigte Eycken, „er ist der ewigen Zänkereien mit den Möllers müde geworden. Es herrscht eine trübe Stimmung im Auschlosse. Der älteste Sohn hat geheiratet, und der Kommerzienrat will mit der Schwiegertochter nicht warm werden. Es geht ihm zu Herzen, daß der Hagen nicht höher hinaus gewollt hat. Ich habe meine ganze Dialektik angewandt, ihn davon zu überzeugen, daß sich das Menschenglück nicht um Rang und Stand und gesellschaftliche Gegensätze kümmert, aber er bleibt frostig und kühl. Übrigens hat er mir neulich erzählt, daß sein Gunther mit Ihren Kindern in Gibraltar zusammengetroffen ist; wie kommen Hedda und Axel denn dahin?“

Hellstern sprach von den letzten Briefen seiner Tochter und von Axels Rückfall. Die beiden hatten beschlossen, dem Rate des Arztes zu folgen, den Februar und März auf Madeira zu verleben und dann in langsamen Etappen heimzukehren. Auch an den Vater hatte Hedda von der Begegnung mit Gunther geschrieben; der Doktor sei immer noch der liebenswürdige, etwas schüchterne junge Mensch von früher ...

[314]Eycken blieb bei dem alten Freunde, bis August erschien und mahnend darauf aufmerksam machte, daß es beginne, kühler zu werden. Dann nahmen die Herren herzlichen Abschied voneinander.

„Kommen Sie bald wieder, Pastor,“ sagte Hellstern. „Ich höre gern etwas Neues, und Sie wissen, ich hause hier wie ein Murmeltier. Schleppt mich der August wirklich einmal heraus – nach Oberlemmingen zu setze ich keinen Fuß! Ich möchte das Dorf nicht wiedersehen – nie wieder, – ich glaube, es zerrisse mir das Herz, wenn ich an Stelle meiner braven Bauern hundert fremde Gesichter sähe! Das Herrenhaus auf dem Baronshof wird wohl auch bald abgetragen werden – nein, Eycken, ich hänge doch noch zu sehr am Alten, und in meinen Jahren krempelt man sich nicht mehr um wie ein Handschuh! Gott befohlen, Pastor!“

Er nickte dem Abgehenden nochmals nach und ließ sich von August die Decken abnehmen.

„Pack an, mein Alter – unter den rechten Arm – so – hupp! ... Hör mal, August, mein Sohn: wenn ich mal sterben sollte –“

„Reden der Herr Baron doch nicht so etwas!“

„Wir können doch nicht ewig leben, Nachtmütze! Also wenn ich mal sterben sollte, da möcht’ ich doch in Oberlemmingen beerdigt werden. Man hat es mir zwar gehörig verekelt, aber der Tod, denk’ ich, gleicht aus und versöhnt. Buddelt mich auf dem Kirchhofe ein, neben den andern Hellsternschen Gräbern; der große Fleck unter der Linde gehört mir, den hab’ ich gekauft. Da können auch die Möllers nicht ’ran. Also verstehst du: unter der Linde will ich begraben sein!“

„Ich versteh’ schon,“ entgegnete August; „aber der Herr Baron werden’s am Ende nicht übelnehmen, wenn wir damit noch ’n bißchen warten tun. Es eilt ja nicht so. Sehr viel sind wir nicht auseinander an Jahren, der Herr Baron und ich; und wenn sich der Herr Baron erst hingelegt haben, [315]dann dauert’s mit mir auch nicht mehr lange. Das weiß ich gewiß. So ’n altes Tier wie ich muß seine regelrechte Fütterung haben und seine gleiche Behandlung. Ins Neue leb’ ich mich auch nicht mehr ’rein – da geht’s mir gerade wie dem Herrn Baron. Also warten wir schon noch; der liebe Gott wird ja wissen, wenn’s Zeit ist.“

„Das wird er,“ erwiderte Hellstern ernsthaft. „Vielleicht läßt er uns am gleichen Tage von hinnen gehen. Das wäre eine hübsche Sache, August, denn ohne deine Dummheit würde ich, fürcht’ ich, nur noch ein schweres Auskommen haben. Kein Mensch weiß mich so zu ärgern wie du, und auf keinen kann ich mit so freudig bewegtem Herzen schimpfen wie auf dich. Ich glaube, du würdest mir sehr fehlen, weil du so ein guter, treuer, alter Esel bist.“

Beide standen jetzt vor dem Zimmer, das Hellstern bewohnte. August klinkte die Tür auf.

„Gott sei Dank!“ sagte er, „ich hör’s am Ton: es wird schon noch ein ganzes Weilchen Jahre gehn.“


An diesem gleichen schönen Frühlingstage hatte der alte Klempt eine heftige Auseinandersetzung mit seiner Schwester Pauline.

Der Tod Dörthens hatte die beiden zu Boden geschmettert, als habe eine Riesenfaust sie getroffen. In dem wirren Hirn der Tante Pauline lebten nur noch ihre Träume; man sah sie ständig mit ihren Deutbüchern in der Hand; es war ein seltsames, ruheloses und geheimnisvolles Dasein, das sie führte.

Auch Klempt war noch stiller geworden. Der Sarg für sein Kind war seine letzte Arbeit gewesen; er rührte die Hand nicht mehr. Man brauchte ihn auch nicht; im Gegenteil, die Möllers wären froh gewesen, wenn sie den alten, blassen Mann hätten aus dem Dorfe treiben können. Auch sein kleines Haus stand ihnen beim unaufhörlichen Wachsen der Villenstadt im Wege. Gerade dorthin sollte ein [316]großes und elegantes Restaurant im Pavillonstil kommen ...

Klempt hatte mit den Möllers wegen der Wiese prozessiert. Er behauptete, er sei betrogen worden; man habe sie ihm unter der Vorspiegelung, daß Fritz die Dörthe heiraten solle, für einen Spottpreis abgenommen. Er verlor den Prozeß und mußte auch noch die Kosten tragen. Und nun geschah etwas, was man niemals für möglich gehalten hätte: der nüchterne und fleißige Klempt lernte auf seine alten Tage noch das Trinken. Er ging freilich nicht selbst in den Krug, aber er ließ sich durch die Schulkinder den Schnaps holen. Und dann schloß er sich ein und trank und trank, bis er sinnlos war.... „Er macht’s nicht mehr lange,“ sagte Albert Möller eines Tages zu seinem Vater; „gestern früh hat ihn der Nachtwächter sternhagelvoll auf dem Kirchhofe gefunden.“ Ach ja, so war es. Aber nicht allein der Schnaps war die Sehnsucht des Alten; im brechenden Herzen schwoll höher und höher die Sehnsucht nach seinem gemordeten Kinde an.

Den Möllers ging es immer noch nicht rasch genug. Der Prozeß um die Wiesen hatte die Ersparnisse Klempts verschlungen. Bertold kaufte die Hypothek, die auf dem Gehöft lag, und kündigte sie dann. Der geschäftsunkundige Alte wußte nicht, was er tun sollte, und bat seine Schwester, ihm ihr kleines Vermögen zu überlassen, damit er das Haus halten könne. Aber Tante Pauline verwehrte es ihm; sie hatte plötzlich den Entschluß gefaßt, nach Amerika auszuwandern; ein Engel hätte es ihr im Traume geraten.

Schon lange sorgte Pauline nicht mehr für ihren Bruder. Er kochte sich selbst das Notwendigste, fast nur Kartoffeln. Der Schnaps stillte auch seinen Hunger. Er lebte wie ein Tier; seine Kleider zerfielen in Lumpen.

Als seine Schwester ihn abgewiesen hatte, schloß er sich in der ehemaligen Werkstatt ein und griff [317]nach der Flasche. Es war tiefe Nacht, als er nach langem Rausche erwachte. Der Kopf schmerzte ihm. Er richtete sich vom Erdboden auf, wo er auf feuchten und dumpfigen Spänen gelegen hatte, und schaute sich um. Aber in der Dunkelheit war nichts erkennbar. Nun tastete er sich vorsichtig nach den Fenstern und stieß die Läden auf, die er gewöhnlich auch tagsüber zu schließen pflegte. Die kühle Frühlingsluft drang vollflutend in das öde Gemach. Ein leiser Wind ging und spielte mit seinem eisgrauen Haar. Draußen war es nicht dunkel; der Himmel leuchtete in heller Sternenpracht; es hing weiß über den Wiesen.

In der Stille der Lenznacht schlich es sich weich in das Herz des Alten. Die Erinnerung rührte an ihm. Welch Leben lag hinter ihm! Sein Weib und vier blühende Kinder hatte er hinsterben sehen; als Letzte war ihm die Dörthe geblieben – und die hatte man ihm ermordet. Alles sühnt sonst die Gerechtigkeit der Welt – aber seines Kindes Mörder stiegen an Ansehen und lebten in Freuden. Wo war da die Vergeltung?! ... Klempt entsann sich noch gut jenes Abends, als der Absagebrief Fritzens eingetroffen war. Da war er ins Freie getreten, um nicht das schmerzverzogene Gesicht seiner Dörthe sehen zu brauchen. Im Herbst war es gewesen, doch ganz ähnlich draußen wie jetzt. Von den Wiesen stiegen feine Nebel auf, streifenweise und leise zitternd, und schlangen sich um die Häuserfirste und das Geäst der Bäume. Nur der Kurpark lag völlig im Nebel, in einem wogenden, milchigen Meer. Und in dem furchtbaren Herzenskummer, der den stillen und ruhigen Mann wütend machte, hatte Klempt die Hände geballt und sie drohend erhoben nach der Richtung des weißen Nebelsees, in den der Kurpark versank.... „Verfluchte Quelle! ...“

Ja, diese Quelle, die die Not der Welt lindern helfen und der Menschheit Trost und Heilung bringen sollte – ihn hatte sie zum unglücklichen Manne [318]gemacht. Sie hatte ihm das Letzte geraubt, an dem sein Herz hing – sie wollte ihn auch an den Bettelstab bringen ...

Klempt stöhnte auf. In fiebernder Hast suchte er nach seiner Flasche und setzte sie an die Lippen. Sie enthielt noch einen Rest Branntwein, der ihn seltsam belebte und erregte. Er zündete einige Schwefelhölzer an und wählte bei ihrem flüchtigen Schein einige Stücke seines alten Handwerkzeugs aus: Stemmeisen und Bohrer und den schwersten Hammer. Die nahm er an sich und dann ging er. Auf dem Flure lauschte er einen Augenblick. Schlief Tante Pauline? – Mit raschem Entschlusse trat er in ihr Zimmer. Aber auch hier war es so dunkel, daß er abermals ein Schwefelholz entzünden mußte. Nun sah er die Schwester im Bette liegen, den Mund offen, das eingefallene Antlitz totenblaß. Er legte seine Hand auf ihre Stirn und erschrak über das Gefühl von Kälte, das ihn plötzlich durchrieselte. Aber schon wanderten seine Gedanken weiter; er huschte mit schnellen Schritten hinaus – das Gesicht weiß, doch mit unheimlich flimmerndem Blick.

Er stapfte über den Anger. Kein Menschenauge sah ihn, nur die glänzenden Augen des Himmels schauten auf ihn herab. Das Dorf lag im Schlaf. Die Nebel hatten sich etwas erhoben; ein leichter Dämmerschein glitt schon durch die Nacht. Am Friedhofzaune zögerte Klempt und blieb stehen, nickte nach dem Grabe Dörthens hinüber und schritt dann weiter.

Im Kurpark rieselte es feucht von den Bäumen. Der Wind strich durch das Geäst; große Tropfen schlugen dem Alten ins Gesicht. Die Nebel hingen wie Fetzen weißer Totentücher zwischen den Zweigen.

Nun stand Klempt vor dem offenen Tempelbau, der die Quelle umgab. Auf dem Grunde des weißen Marmorbassins kochte und zischte, durch Röhren und Hähne gebändigt, das aus der Erde strömende [319]warme Wasser, füllte die Schale und floß durch ein zweites Röhrensystem wieder ab.

Klempt war einen Augenblick hochaufatmend stehen geblieben. Er schaute sich um. Kein Mensch in der Nähe, aber heller und heller begann sich der Himmel zu färben, und die Vögel wurden schon laut ...

Klempt hob seinen Hammer mit beiden Händen und ließ ihn wuchtig auf den Marmor des Bassins niederfallen. In dem kostbaren Gestein zeigte sich auf der Stelle ein starker Sprung. Nun setzte der Alte das Stemmeisen an und hämmerte nach. Es bröckelte und splitterte; einzelne Stücke rollten plätschernd in das Wasser, das sich über die Bruchstellen auf die Sandquadern des Bodens ergoß.... Klempt arbeitete mit furchtbarer Anstrengung weiter; der Schweiß troff von seiner Stirn, sein Herz raste und zuckte.... Der Hammer wütete gegen den Marmor, dessen Splitter bereits den Rumpf des Beckens füllten. Das Wasser war abgeflossen. Die Quelle sickerte nur noch; Steingebrösel hatte die Röhrenleitung verstopft. Klempt sah es, und ein wildes Lachen flog über sein Gesicht. Er häufte kleine Marmortrümmer in der Mitte der Schale auf und hämmerte von neuem auf sie los. Jetzt war auch das Sickern nicht mehr zu vernehmen. Die Quelle war still geworden.

Der Alte strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Sein hagerer Körper flog vor Erregung, und wunderlich, wie drinnen in seiner Brust das Herz hüpfte und sprang. Und als Klempt abermals den Hammer erheben wollte, um ihn von sich zu schleudern, da tat das Herz einen letzten Sprung: der Greis stürzte lautlos hintenüber und blieb liegen ...

Vor dem stärker erwachenden Morgenwinde zerflatterten die Nebel. Ein purpurner Dämmer füllte die Luft. Die Vögel begannen ihr Jubilieren; der große Pan reckte und streckte sich – die Natur erwachte.

[320]Unter den Trümmern in dem zerstörten Marmorbecken wurde es ganz leise wieder lebendig. Es wisperte und flüsterte und sang und feilte und sägte. Ein sickerndes Geräusch wurde hörbar; zwischen den Steinsplittern zeigten sich vereinzelte Tropfen; es begann abermals zu zischen, wie vorhin, zu kochen und zu brodeln. Die Quelle, die der arme Narr hatte töten wollen, um an ihr seine Rache zu kühlen – sie wurde wieder lebendig! Leise und heimlich und fort und fort hatte sie auch unter den Trümmern weitergerieselt, sich eine neue Bahn zu schaffen und von neuem der leidenden Welt zu helfen, unbekümmert darum, ob gierige Hände sie wiederum fangen und ihren Segen entehren würden.

Allgemach begann sich der Boden des Bassins mit schaumigem Wasser zu füllen, das rieselnd über den zerbrochenen Marmor zur Erde troff, auf dem hellen Sandstein dunkle, sich immer mehr vergrößernde Flecken bildend.... Über dem jungen Grün der Baumwipfel entzündete das Morgenrot seine Lichter; lauter und jauchzender sangen die Vögel dem neuen Tage entgegen ...

Plötzlich erscholl ein Knall. An der Hahnöffnung war infolge des starken Wasserdrucks die Quellenröhre geplatzt, und nun zischte und rauschte, Staub und Steinchen mit sich in die Höhe führend, ein gewaltiger Strahl empor und fiel in schimmernden Perlen zur Erde zurück. Die Quelle war wieder lebendig geworden, und ihre Sprühatome näßten, wie in freundlichem Kosen, das blasse Gesicht ihres Opfers.

Ende.

Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde erstellt auf Grundlage der 1915 erschienenen Buchausgabe. Diese bildete Band 9 und 10 des einunddreißigsten Jahrgangs der Reihe Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

Transcriber’s Notes: This ebook has been prepared from the printed edition published in 1915. It formed volume 9 and 10 of the 31st year of publication of Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek. The table below lists all corrections applied to the original text.