The Project Gutenberg eBook of Arme Leute; Der Doppelgänger This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Arme Leute; Der Doppelgänger Zwei Romane Author: Fyodor Dostoyevsky Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky Editor: Arthur Moeller van den Bruck Translator: E. K. Rahsin Release date: February 20, 2011 [eBook #35339] Most recently updated: March 9, 2025 Language: German Credits: Jana Srna, Alexander Bauer, Jens Sadowski, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This file was produced from images generously made available by The Internet Archive. *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ARME LEUTE; DER DOPPELGÄNGER *** F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski, herausgegeben von Moeller van den Bruck Übertragen von E. K. Rahsin Zweite Abteilung: Vierzehnter Band F. M. Dostojewski Arme Leute Der Doppelgänger Zwei Romane R. Piper & Co. Verlag, München R. Piper & Co. Verlag, München, 1920 Sechstes bis zehntes Tausend Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H. Verlag in München Buchdruckerei Otto Regel, G. m. b. H., Leipzig. Inhalt Vorbemerkung V Arme Leute 1 Der Doppelgänger 237 Vorbemerkung Der Band bringt die ersten Dichtungen Dostojewskis: den Briefroman der „Armen Leute“ und die Petersburger Geschichte, wie Dostojewski sie ausdrücklich nannte, vom „Doppelgänger“. Die eine ist in der Reihenfolge der Werke Dostojewskis mit dem Jahre 1845, die andere mit dem Jahre 1846 verbunden. Die „Armen Leute“ waren zu ihrer Zeit ein Ereignis: sie wirkten, trotz Gogol, der vorhergegangen war, wie der Einbruch einer neuen Literaturrichtung, der naturalistischen, die auf die romantische folgte, und lenkten mit einem Male die Aufmerksamkeit von ganz Jung-Rußland auf den neuen Dichter. Heute lesen wir das Werk nicht wegen seines zeitlichen und literarischen Wertes, den wir in seiner Tragweite kaum noch verstehen, sondern um des Ewigen und Lyrisch-Mächtigen willen, von dem es in seiner rührenden Frische und scheuen Menschlichkeit voll ist. Der „Doppelgänger“, mit den dunklen, unheimlichen und unberechenbaren Mächten, die wie ein nächtiges Schattenspiel in dem Dichter lebten, kündete den späteren Dostojewski an: nicht Dostojewski den Idylliker, der nur selten mehr durchbrechen sollte, sondern Dostojewski den Fatalisten und Tragiker. Schon in den „Armen Leuten“ war die ungemeine Psychologie in der Menschenschilderung aufgefallen, aber es war eine Psychologie der Nähe und Innigkeit gewesen. Jetzt, in dem „Doppelgänger“, wurde eine Psychologie des Abgrundes und der Erschütterung daraus, und man ahnte bereits, daß sie zu einer ganzen Weltanschauung und russischen Menschenanschauung auswachsen konnte. – Das Doppelgängerproblem selbst lag in der Zeit. Poe hatte ihm im William Wilson den romantischen Helden gegeben, E. Th. A. Hoffmann in den Elixieren des Teufels aus ihm eine romantische Aventüre gezogen. Dostojewski dagegen – und eben dies kennzeichnete ihn so – brachte dasselbe Problem mit der irren Phantastik zusammen, die das Wirkliche, das Graue, der Alltag besitzen kann, und ließ es in Wahngebilden aus dem kranken Hirn eines Menschen steigen, der äußerlich zunächst nicht anders ist wie Tausende um ihn. M. v. d. B. Arme Leute „Nein, ich danke für diese Märchendichter! Anstatt etwas Nützliches, Angenehmes, Erquickendes zu schreiben, kratzen sie da die kleinsten Kleinigkeiten aus der Erde hervor und schnüffeln überall herum! ... Ich würde Ihnen einfach verbieten, zu schreiben! Zum Beispiel, was soll das: man liest ... unwillkürlich denkt man doch nach, – aber ... aber ... es kommen einem nur alle möglichen Ungereimtheiten in den Kopf. Nein, wirklich, ich würde ihnen verbieten, zu schreiben, ganz einfach und unter allen Umständen: schlankweg verbieten!“ Fürst W. F. Odojewskij. 8. April. Meine unschätzbare Warwara Alexejewna! Gestern war ich glücklich, über alle Maßen glücklich, wie man glücklicher gar nicht sein kann! So haben Sie Eigensinnige doch wenigstens einmal im Leben auf mich gehört! Als ich am Abend, so gegen acht Uhr, erwachte (Sie wissen doch, meine Liebe, daß ich mich nach dem Dienst ein bis zwei Stündchen etwas auszustrecken liebe), da holte ich mir meine Kerze – und wie ich nun gerade mein Papier zurechtgelegt habe und nur noch meine Feder spitze, schaue ich plötzlich ganz unversehens auf – da: wirklich, mein Herz begann zu hüpfen! So haben Sie doch erraten, was ich wollte! Ein Eckchen des Vorhanges an Ihrem Fenster war zurückgeschlagen und an einem Blumentopf mit Balsaminen angesteckt, genau so, wie ich es Ihnen damals anzudeuten versuchte. Dabei schien es mir noch, daß auch Ihr liebes Gesichtchen am Fenster flüchtig auftauchte, daß auch Sie aus Ihrem Zimmerchen nach mir ausschauten, daß Sie gleichfalls an mich dachten! Und wie es mich verdroß, mein Täubchen, daß ich Ihr liebes, reizendes Gesichtchen nicht deutlich sehen konnte! Es hat einmal eine Zeit gegeben, wo auch wir mit klaren Augen sahen, mein Kind. Das Alter ist keine Freude, meine Liebe. Auch jetzt ist es wieder so, als flimmerte mir alles vor den Augen. Arbeitet man abends noch ein bißchen, schreibt man noch etwas, so sind die Augen am nächsten Morgen gleich rot und tränen so, daß man sich vor fremden Leuten fast schämen muß. Aber doch sah ich im Geiste gleich Ihr Lächeln, mein Kind, Ihr gutes, freundliches Lächeln, und in meinem Herzen hatte ich ganz dieselbe Empfindung, wie damals, als ich Sie einmal küßte, Warinka – erinnern Sie sich noch, Engelchen? Wissen Sie, mein Täubchen, es schien mir sogar, als ob Sie mir mit dem Finger drohten. War es so, Sie Unart? Das müssen Sie mir unbedingt ausführlich erzählen, wenn Sie mir wieder einmal schreiben. Nun, wie finden Sie denn unseren Einfall, ich meine, das mit Ihrem Fenstervorhang, Warinka? Gar zu nett, nicht wahr? Sitze ich an der Arbeit, oder lege ich mich schlafen, oder stehe ich auf – immer weiß ich dann, daß auch Sie dort an mich denken, sich meiner erinnern, und auch selbst gesund und heiter sind. Lassen Sie den Vorhang herab, so heißt das: „Gute Nacht, Makar Alexejewitsch, es ist Zeit, schlafen zu gehen!“ Heben Sie ihn wieder auf, so heißt das: „Guten Morgen, Makar Alexejewitsch, wie haben Sie geschlafen, und wie steht es mit Ihrer Gesundheit, Makar Alexejewitsch? Ich selbst bin, Gott sei Dank, gesund und wohlgemut!“ Sehen Sie nun, mein Seelchen, wie fein das ersonnen ist. So sind gar keine Briefe nötig! Schlau, nicht wahr? Und diese kniffliche Erfindung stammt von mir! Nun was – bin ich nicht erfinderisch, Warwara Alexejewna? Ich muß Ihnen doch noch berichten, mein Kind, daß ich diese Nacht recht gut geschlafen habe, eigentlich gegen alle Erwartung gut, womit ich denn auch sehr zufrieden bin; zumal man in einer neuen Wohnung, schon aus Ungewohntheit, sonst niemals gut zu schlafen pflegt; es ist eben doch immer nicht alles so, wie es sein muß. Als ich heute aufstand, war es mir ganz wie – wie – nun, wie so einem lichten Falken ums Herz – froh und sorgenfrei! Was ist das doch heute für ein schöner Morgen, mein Kind! Unser Fenster wurde aufgemacht: die Sonne scheint herein, die Vögel zwitschern, die Luft ist erfüllt von Frühlingsdüften und die ganze Natur lebt auf, – nun, und auch alles andere war genau so, wie es sich gehört, genau wie es sein muß, wenn es Frühling wird. Ich versank sogar ein Weilchen in Träumerei und dabei dachte ich nur an Sie, Warinka. Ich verglich Sie in Gedanken mit einem Himmelsvögelchen, das so recht zur Freude der Menschen und zur Verschönerung der Natur erschaffen ist. Dabei dachte ich auch, daß wir, Warinka, wir Menschen, die wir in Sorgen und Ängsten leben, die kleinen Himmelsvöglein um ihr sorgenloses und unschuldiges Glück beneiden könnten, – nun und Ähnliches mehr, alles von der Art, dachte ich. Das heißt, ich machte nur so entfernte Vergleiche ... Ich habe da ein Büchelchen, Warinka, in dem ist von solchen Dingen die Rede, und alles ist ganz ausführlich beschrieben. Ich schreibe das deshalb, weil ich nur sagen will, daß es doch sonst immer verschiedene Auffassungen gibt, nicht wahr, meine Liebe? Jetzt aber ist es Frühling, und da kommen einem gleich so angenehme Gedanken, so geistreiche und erfinderische obendrein, und sogar zärtliche Träumereien kommen einem. Die ganze Welt erscheint einem in rosigem Licht. Deshalb habe ich auch dies alles geschrieben. Übrigens habe ich es meist dem Büchelchen entnommen. Dort äußert der Verfasser ganz denselben Wunsch, nur in Versen: „Ein Vogel, ein Raubvogel möchte ich sein!“ Und so weiter. Dort kommen auch noch verschiedene andere Gedanken vor, aber – nun, Gott mit Ihnen! Doch sagen Sie, wohin gingen Sie denn heute morgen, Warwara Alexejewna? Ich hatte mich noch nicht zum Dienst aufgemacht, da gingen Sie bereits fröhlich über den Hof, hatten schon wie ein Frühlingsvöglein Ihr Zimmerchen verlassen. Und wie mein Herz sich freute, als ich Sie sah! Ach, Warinka, Warinka! Grämen Sie sich doch nicht! Mit Tränen hilft man keinem Kummer, glauben Sie mir, ich weiß es, weiß es aus eigener Erfahrung. Jetzt leben Sie doch so ruhig und sorgenlos, und auch mit Ihrer Gesundheit geht es besser. – Nun, was macht Ihre Fedora? Ach, was ist das für ein guter Mensch! Sie müssen mir alles ganz genau beschreiben, Warinka, wie Sie mit ihr leben und ob Sie auch mit allem zufrieden sind? Fedora ist mitunter etwas brummig, aber Sie müssen das nicht weiter beachten, Warinka. Gott mit ihr! Sie ist doch eine gute Seele. Ich habe Ihnen schon früher von unserer Theresa geschrieben – sie ist gleichfalls eine gute und treue Person. Was hab’ ich mir doch um unsere Briefe für Sorgen gemacht! Wie sollte man sie befördern? Da kam uns denn zu unserem Glück diese Theresa, kam wie von Gott gesandt. Sie ist eine gute, bescheidene, stille Person. Aber unsere Wirtin ist wahrhaft erbarmungslos, so versteht sie es, sie auszunutzen. Die Arme wird mit Arbeit ganz überhäuft. Doch in was für eine Wildnis bin ich hier geraten, Warwara Alexejewna! Das ist mir mal eine Wohnung, das muß ich sagen! Früher lebte ich doch in einer solchen Einsamkeit, Sie wissen ja: friedlich, still, wenn einmal eine Fliege flog, hörte man es. Hier aber – Lärm, Geschrei, Gezeter! Aber Sie wissen ja noch gar nicht, wie das hier eigentlich alles ist. Denken Sie sich ungefähr einen langen Korridor, einen ganz dunklen und unsauberen. Rechts ist die Brandmauer, ohne Fenster, ohne Türen; links aber ist Tür an Tür, ganz wie in einem Hotel, so eine lange Reihe Türen. Und hinter jeder Tür ist nur ein Zimmer, Nummer Soundsoviel, und in jeder dieser Nummern wohnen zwei bis drei zusammen, je nachdem, und die zahlen gemeinsam die Miete. Ordnung dürfen Sie nicht verlangen – das ist hier wie in der Arche Noah! Doch sind es, glaube ich, trotzdem gute Menschen, alle sind sie so gebildet, sogar gelehrt. Unter anderen wohnt hier ein Beamter – ein sehr belesener Mann: er spricht von Homer, und noch von verschiedenen anderen Schriftstellern, von allem spricht er, – ein kluger Mensch! Dann wohnen hier noch zwei ehemalige Offiziere, die immer nur Karten spielen. Dann ein Seemann, der englische Stunden gibt. – Warten Sie mal, ich werde Sie einmal zum Lachen bringen, mein Kind: ich werde in meinem nächsten Brief alle die Leute satirisch beschreiben, das heißt, wie sie hier hausen, und zwar ganz ausführlich! Unsere Wirtin ist ein sehr kleines und unsauberes altes Weib, geht den ganzen Tag in Pantoffeln und in einem Schlafrock umher und schimpft ununterbrochen die Theresa. Ich wohne in der Küche, oder richtiger gesagt – Sie müssen sich das so denken: hier neben der Küche ist noch ein Zimmer (unsere Küche ist, muß ich Ihnen sagen, rein und hell und sehr anständig), ein ganz kleines Zimmerchen, so ein bescheidenes Winkelchen eigentlich nur ... oder noch richtiger wird es so sein: die Küche ist groß und hat drei Fenster, und bei mir ist nun parallel der Querwand eine Scheidewand angebracht, so daß es sozusagen noch ein Zimmerchen gibt, eine Nummer „über den Etat“, wie man sagt. Alles ist geräumig und bequem, und sogar ein Fenster habe ich und überhaupt alles, – mit einem Wort nochmals, es ist alles gut und bequem. Das ist also mein Winkelchen. Aber nun müssen Sie nicht etwa denken, Kind, daß irgend etwas dabei sei und ich einen Hintergedanken habe: weil das immerhin nur eine Küche ist! Das heißt, genau genommen lebe ich ja in demselben Raum, nur hinter einer Scheidewand, aber das hat nichts zu sagen! Ich lebe hier ganz heimlich und mäuschenstill, ganz bescheiden und ruhig. Habe hier mein Bett aufgestellt, einen Tisch, eine Kommode, zwei Stühle, jawohl, genau ein Paar, und habe das Heiligenbild aufgehängt. Es gibt gewiß bessere Wohnungen, sogar viel bessere, aber die Hauptsache ist doch die Bequemlichkeit; ich wohne ja hier nur deshalb, weil ich es so am bequemsten habe – Sie brauchen nicht zu denken, daß ich es aus irgendeinem anderen Grunde tue. Ihr Fensterchen liegt mir gerade gegenüber, über den Hof, und der Hof ist auch nur so ein kleines Höfchen, da sieht man Sie denn ganz deutlich hin und wieder im Vorübergehen, – das ist doch immer etwas geselliger für mich Armen, und auch billiger. Bei uns hier kostet selbst das kleinste Zimmer mit der Beköstigung zusammen fünfunddreißig Rubel monatlich. Das ist nichts für meinen Beutel! Mein Winkelchen aber kostet nur sieben Rubel, und für die Beköstigung zahle ich fünf, während ich früher für alles in allem runde dreißig Rubel zahlte, dafür aber auf vieles verzichten mußte: so konnte ich nicht immer Tee trinken, jetzt dagegen, oh, da bleibt mir noch genug für Tee und Zucker. Es ist, wissen Sie, doch so – tatsächlich: man schämt sich irgendwie, wenn man keinen Tee trinken kann, Warinka. Hier wohnen nur Leute, die ihr Auskommen haben, und da geniert man sich eben. Und eigentlich: nur wegen der anderen trinkt man ihn, den Tee, Warinka, nur des Ansehens wegen, weil es hier zum guten Ton gehört. Mir wäre es ja sonst ganz gleich, ich bin nicht einer, der viel auf Genüsse gibt. Und dann, was man so noch als Taschengeld braucht – denn irgend etwas hat man doch immer nötig – nun, sei es ein Paar Stiefel, ein Kleidungsstück – wieviel bleibt denn da übrig? So geht denn mein ganzes Gehalt auf. Ich klage ja nicht, ich bin ganz zufrieden. Für mich genügt es. Hat es doch schon viele Jahre genügt! Hin und wieder gibt es auch noch Gratifikationen. Nun, leben Sie wohl, mein Engelchen. Ich habe da ein paar Blumen gekauft, zwei Töpfchen, eines mit Balsaminen und eines mit Geranium – nicht teuer. Vielleicht lieben Sie auch Reseda? Auch Reseda ist zu haben, schreiben Sie nur. Aber alles recht ausführlich, ja? Übrigens müssen Sie da nicht irgendwie etwas argwöhnen, Kind, ich meine – was mich betrifft, und daß ich jetzt so ein Zimmer gemietet habe. Nein, nur die Bequemlichkeit veranlaßte mich dazu, nur, daß es in allem so bequem war, das verleitete mich. – Ich habe doch, das muß ich Ihnen noch sagen, Kind, ich habe doch Geld gespart, ich habe etwas beiseite gelegt: oh ja: ich besitze schon etwas! Achten Sie nicht darauf, daß ich so still und zaghaft bin, daß es aussieht, als könne mich eine Fliege mit den Flügeln umstoßen. Nein, mein Kind, ich bin gar nicht so schwach und habe gerade den Charakter, den ein Mensch mit ruhigem Gewissen und in der Festigkeit, die uns unsere Anständigkeit gibt, haben muß. Leben Sie wohl, mein Engelchen. Da habe ich schon ganze zwei Bogen vollgeschrieben und es ist bereits höchste Zeit zum Dienst. Ich küsse Ihre Fingerchen, Warinka, und verbleibe Ihr ergebenster Diener und treuester Freund Makar Djewuschkin. P. S. Um eines bitte ich Sie noch: antworten Sie mir recht ausführlich, mein Engelchen. Ich sende Ihnen hier eine Düte Konfekt, Warinka; verschmausen Sie es mit Behagen und machen Sie sich um Gottes willen keine Sorgen um mich und nehmen Sie mir nur nicht irgend etwas übel. Und nun leben Sie wohl, mein Kind. 8. April. Sehr geehrter Makar Alexejewitsch! Wissen Sie, daß man Ihnen endlich einmal die Freundschaft wird kündigen müssen? Ich schwöre Ihnen, guter Makar Alexejewitsch, es fällt mir furchtbar schwer, Ihre Geschenke anzunehmen. Ich weiß doch, wieviel sie kosten und was das für Ihren Beutel ausmacht, zu wieviel Entbehrungen Sie sich deshalb zwingen, wie Sie sich das Notwendigste selbst verweigern. Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich nichts nötig habe, ganz und gar nichts, daß es nicht in meinen Kräften steht, die Wohltaten, mit denen Sie mich überschütten, zu erwidern. Und wozu diese Blumen? Die Balsaminen, nun, das ginge noch an, aber wozu nun noch Geranium? Es braucht einem nur ein unbedachtes Wort zu entschlüpfen, wie zum Beispiel meine Bemerkung über Geranium, da müssen Sie auch schon sofort Geranium kaufen. So etwas ist doch bestimmt teuer? Wie wundervoll die Blüten sind! So leuchtend rot, und Stern steht an Stern. Wo haben Sie nur ein so schönes Exemplar aufgetrieben? Ich habe den Blumentopf auf das Fensterbrett gestellt, an die sichtbarste Stelle. Auf das Bänkchen vor dem Fenster werde ich noch andere Blumen stellen, lassen Sie mich nur erst reich werden! Fedora kann sich nicht genug freuen – unser Zimmer ist jetzt ein richtiges Paradies, so sauber und hell und freundlich. Aber wozu war denn das Konfekt nötig? Übrigens: ich erriet es sogleich aus Ihrem Brief, daß irgend etwas nicht richtig ist: Frühling und Wohlgerüche und Vogelgezwitscher – nein, dachte ich, sollte nicht gar noch ein Gedicht folgen? Denn wirklich, es fehlen nur noch Verse in Ihrem Brief, Makar Alexejewitsch. Und die Gefühle sind zärtlich und die Gedanken rosafarben – alles, wie es sich gehört! An den Vorhang habe ich überhaupt nicht gedacht. Der Zipfel muß an einem Zweige hängen geblieben sein, als ich die Blumentöpfe umstellte. Da haben Sie es! Ach, Makar Alexejewitsch, was reden Sie da und rechnen mir Ihre Einnahmen und Ausgaben vor, um mich zu beruhigen und glauben zu machen, daß Sie alles nur für sich allein ausgeben! Mich können Sie damit doch nicht betrügen. Ich weiß doch, daß Sie sich des Notwendigsten um meinetwillen berauben. Was ist Ihnen denn eingefallen, daß Sie sich ein solches Zimmer gemietet haben, sagen Sie doch, bitte! Man beunruhigt Sie doch, man belästigt Sie dort, das Zimmer wird gewiß eng und unbequem und ungemütlich sein. Sie lieben Stille und Einsamkeit, hier aber – was wird denn das für ein Leben sein? Und bei Ihrem Gehalt könnten Sie doch viel besser wohnen. Fedora sagt, daß Sie früher unvergleichlich besser gelebt hätten als jetzt. Haben Sie wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht, immer einsam, immer mit Entbehrungen, ohne Freude, ohne ein gutes, liebes Wort zu hören, immer in einem bei fremden Menschen gemieteten Winkel? Ach Sie, mein guter Freund, wie Sie mir leid tun! So schonen Sie doch wenigstens Ihre Gesundheit, Makar Alexejewitsch! Sie erwähnen, daß Ihre Augen angegriffen seien, – so schreiben Sie doch nicht bei Kerzenlicht! Was und wozu schreiben Sie denn noch? Ihr Diensteifer wird Ihren Vorgesetzten doch wohl ohnehin schon bekannt sein. Ich bitte Sie nochmals inständig, verschwenden Sie nicht soviel Geld für mich. Ich weiß, daß Sie mich lieben, aber Sie sind doch selbst nicht reich ... Heute war ich ebenso froh, wie Sie, als ich erwachte. Es war mir so leicht zumut. Fedora war schon lange an der Arbeit und hatte auch mir Arbeit verschafft. Darüber freute ich mich sehr. Ich ging nur noch aus, um Seide zu kaufen, und dann setzte ich mich gleichfalls an die Arbeit. Und den ganzen Morgen und Vormittag war ich so heiter! Jetzt aber – wieder trübe Gedanken, alles so traurig, das Herz tut mir weh. Mein Gott, was wird aus mir werden, was wird mein Schicksal sein! Das Schwerste ist, daß man so nichts, nichts davon weiß, was einem bevorsteht, daß man so gar keine Zukunft hat, und daß man nicht einmal erraten kann, was aus einem werden wird. Und zurückzuschauen, davor graut mir einfach! Dort liegt soviel Leid und Qual, daß das Herz mir schon bei der bloßen Erinnerung brechen will. Mein Leben lang werde ich unter Tränen die Menschen anklagen, die mich zugrunde gerichtet haben. Diese schrecklichen Menschen! Es dunkelt schon. Es ist Zeit, daß ich mich wieder an die Arbeit mache. Ich würde Ihnen gern noch vieles schreiben, doch diesmal geht es nicht: die Arbeit muß zu einem bestimmten Tage fertig werden. Da muß ich mich beeilen. Briefe zu erhalten ist natürlich immer angenehm: es ist dann doch nicht so langweilig. Aber weshalb kommen Sie nicht selbst zu uns? Wirklich, warum nicht, Makar Alexejewitsch? Wir wohnen ja jetzt so nahe, und soviel freie Zeit werden Sie doch wohl haben. Also bitte, besuchen Sie uns! Ich sah heute Ihre Theresa. Sie sieht ganz krank aus. Sie hat mir so leid getan, daß ich ihr zwanzig Kopeken gab. Ja, fast hätte ich es vergessen: schreiben Sie mir unbedingt alles möglichst ausführlichst – wie Sie leben, was um Sie herum vorgeht – alles! – Was es für Leute sind, die dort wohnen, und ob Sie auch in Frieden mit ihnen auskommen? Ich möchte das alles sehr gern wissen. Also vergessen Sie es nicht, schreiben Sie es unbedingt! Heute werde ich unabsichtlich ganz gewiß keinen Zipfel des Vorhanges anstecken. Gehen Sie früher schlafen. Gestern sah ich noch um Mitternacht Licht bei Ihnen. Und nun leben Sie wohl. Heute ist wieder alles da: Trauer und Trübsal und Langeweile! Es ist nun einmal so ein Tag! Leben Sie wohl. Ihre Warwara Dobrosseloff. 8. April. Sehr geehrte Warwara Alexejewna! Ja, mein Kind, ja, meine Liebe, es muß wohl wieder einmal so ein Tag sein, wie er einem vom Schicksal öfter beschieden ist! Da haben Sie sich nun über mich Alten lustig gemacht, Warwara Alexejewna! Übrigens bin ich selbst daran schuld, ich ganz allein! Wer hieß mich auch, in meinem Alter, mit meinem spärlichen Haarrest auf dem Schädel, auf Abenteuer ausgehen ... Und noch eins muß ich sagen, mein Kind: der Mensch ist bisweilen doch sonderbar, sehr sonderbar. Oh du lieber Gott! auf was er mitunter nicht zu sprechen kommt! Was aber folgt daraus, was kommt dabei schließlich heraus? Ja, folgen tut daraus nichts, aber heraus kommt dabei ein solcher Unsinn, daß Gott uns behüte und bewahre! Ich, mein Kind, ich ärgere mich ja nicht, aber es ist mir sehr unangenehm, jetzt daran zurückzudenken, was ich Ihnen da alles so glücklich und dumm geschrieben habe. Und auch zum Dienst ging ich heute so stolz und stutzerhaft: es war solch ein Leuchten in meinem Herzen, war so wie ein Feiertag in der Seele, und doch ganz ohne allen Grund, – so frohgemut war ich! Mit förmlicher Schaffensgier machte ich mich an die Arbeit, an die Papiere – und was wurde schließlich daraus? Als ich mich dann umsah, war wieder alles so wie früher – grau und nüchtern. Überall dieselben Tintenflecke, wie immer dieselben Tische und Papiere, und auch ich ganz derselbe: wie ich war, genau so bin ich auch geblieben, – was war da für ein Grund vorhanden, den Pegasus zu reiten? Und woher war denn alles gekommen? Daher, daß die Sonne einmal durch die Wolken geschaut und der Himmel sich heller gefärbt hatte. Nur deshalb – dies alles? Und was können das für Frühlingsdüfte sein, wenn man auf einen Hof hinaussieht, auf dem aller Unrat der Welt zu finden ist! Da muß ich mir also nur so aus Albernheit alles eingebildet haben. Aber es kommt doch bisweilen vor, daß ein Mensch sich in seinen eigenen Gefühlen verwirrt und in die Weite schweift und Unsinn redet. Das kommt von nichts anderem, als von alberner Hitzigkeit, in der das Herz eine Rolle spielt. Nach Hause kam ich nicht mehr wie andere Menschen, sondern schleppte mich heim: der Kopf schmerzte. Das kommt dann schon so: eins zum anderen. Ich muß wohl meinen Rücken erkältet haben. Ich hatte mich, recht wie ein alter Esel, über den Frühling gefreut und war im leichten Mantel ausgegangen. Auch das noch! In meinen Gefühlen aber haben Sie sich getäuscht, meine Liebe! Sie haben meine Äußerungen in einem ganz anderen Sinn aufgefaßt. Nur um väterliche Zuneigung handelt es sich, Warinka, denn ich nehme bei Ihnen, in Ihrer bitteren Verwaistheit, die Stelle Ihres Vaters ein, das sage ich aus reiner Seele und aus reinem Herzen. Wie es auch sei: ich bin doch immerhin Ihr Verwandter, wenn auch nur ein ganz entfernter Verwandter, vielleicht wie das Sprichwort sagt: das siebente Wasser in der Suppe, aber immerhin: Ihr Verwandter bleibe ich dennoch, und jetzt bin ich sogar Ihr bester Verwandter und einziger Beschützer. Denn dort, wo es am nächsten lag, daß Sie Schutz und Beistand suchten, dort fanden Sie nur Verrat und Schmach. Was aber die Gedichte betrifft, so muß ich Ihnen sagen, mein Kind, daß es sich für mich nicht schickt, mich auf meine alten Tage noch im Dichten zu üben. Gedichte sind Unsinn! Heute werden in den Schulen die Kinder geprügelt, wenn sie dichten ... da sehen Sie, was Dichten ist, meine Liebe. Was schreiben Sie mir da, Warwara Alexejewna, von Bequemlichkeit, Ruhe und was nicht noch alles? Mein Kind, ich bin nicht anspruchsvoll, ich habe niemals besser gelebt, als jetzt: weshalb sollte ich jetzt anfangen zu mäkeln? Ich habe zu essen, habe Kleider und Schuh – was will man mehr? Nicht uns steht es zu, Gott weiß was für Sprünge zu machen! – bin nicht von vornehmer Herkunft! Mein Vater war kein Adliger und bezog mit seiner ganzen Familie ein geringeres Gehalt, als ich. Ich bin nicht verwöhnt. Übrigens, wenn man ganz aufrichtig die Wahrheit sagen soll, so war ja wirklich in meiner früheren Wohnung alles unvergleichlich besser. Man war freier, unabhängiger, gewiß, mein Kind. Natürlich ist auch meine jetzige Wohnung gut, ja sie hat in gewisser Hinsicht sogar ihre Vorzüge: es ist hier lustiger, wenn Sie wollen, es gibt mehr Abwechslung und Zerstreuung. Dagegen will ich nichts sagen, aber es tut mir doch leid um die alte. So sind wir nun einmal, wir alten Leute, das heißt, wenn wir Menschen schon anfangen, älter zu werden. Die alten Sachen, an die wir uns gewöhnt haben, sind uns schließlich wie verwandt. Die Wohnung war, wissen Sie, ganz klein und gemütlich. Ich hatte ein Zimmerchen für mich. Die Wände waren ... ach nun, was soll man da reden! – Die Wände waren wie alle Wände sind, nicht um die Wände handelt es sich, aber die Erinnerungen an all das Frühere, die machen mich etwas wehmütig ... Sonderbar – sie bedrücken, aber dennoch ist es, als wären sie angenehm, als dächte man selbst doch gern an all das Alte zurück. Sogar das Unangenehme, worüber ich mich bisweilen geärgert habe, sogar das erscheint jetzt in der Erinnerung wie von allem Schlechten gesäubert und ich sehe es im Geiste nur noch als etwas Trautes, Gutes. Wir lebten ganz still und friedlich, Warinka, ich und meine Wirtin, die selige Alte. Ja, auch an die Gute denke ich jetzt mit traurigen Gefühlen zurück. Sie war eine brave Frau und nahm nicht viel für das Zimmerchen. Sie strickte immer aus alten Zeugstücken, die sie in schmale Bänder zerschnitt, mit ellenlangen Stricknadeln Bettdecken, damit allein beschäftigte sie sich. Das Licht benutzten wir gemeinschaftlich, deshalb arbeiteten wir abends an demselben Tisch. Ein Enkelkindchen lebte bei ihr, Mascha, ich erinnere mich ihrer noch, wie sie ganz klein war – jetzt wird sie dreizehn sein, schon ein großes Mädchen. Und so unartig war sie, so ausgelassen, immer brachte sie uns zum Lachen. So lebten wir denn zu dreien, saßen an langen Winterabenden am runden Tisch, tranken unseren Tee, und dann machten wir uns wieder an die Arbeit. Die Alte begann oft Märchen zu erzählen, damit Mascha sich nicht langweile oder auch, damit sie nicht unartig sei. Und was das für Märchen waren! Da konnte nicht nur ein Kind, nein, auch ein erwachsener, vernünftiger Mensch konnte da zuhören. Und wie! Ich selbst habe oft, wenn ich mein Pfeifchen angeraucht hatte, aufgehorcht, habe mit Spannung zugehört und die ganze Arbeit darüber vergessen. Das Kindchen aber, unser Wildfang, wurde ganz nachdenklich, stützte das rosige Bäckchen in die Hand, öffnete seinen kleinen Kindermund und horchte mit großen Augen; und wenn es ein Märchen zum Fürchten war, dann schmiegte es sich immer näher, immer angstvoller an die Alte an. Uns aber war es eine Lust, das Kindchen zu betrachten. Und so saß man oft und bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging, und vergaß ganz, daß draußen der Schneesturm wütete. – Ja, das war ein gutes Leben, Warinka, und so haben wir fast ganze zwanzig Jahre gemeinsam verlebt. – Doch wovon rede ich da wieder! Ihnen werden solche Geschichten vielleicht gar nicht gefallen und mir sind diese Erinnerungen auch nicht so leicht, – namentlich jetzt in der Dämmerung. Theresa klappert dort mit dem Geschirr – ich habe Kopfschmerzen, auch mein Rücken schmerzt ein wenig, und die Gedanken sind alle so seltsam, als schmerzten sie gleichfalls: ich bin heute traurig gestimmt, Warinka! Was schreiben Sie da von besuchen, meine Gute? Wie soll ich denn zu Ihnen kommen? Mein Täubchen, was werden die Leute dazu sagen? Da müßte ich doch über den Hof gehen, das würde man bemerken und dann fragen, – da gäbe es denn ein Gerede und daraus entstünden Klatschgeschichten und man würde die Sache anders deuten. Nein, mein Engelchen, es ist schon besser, wenn ich Sie morgen bei der Abendmesse sehe; das wird vernünftiger sein und für uns beide unschädlicher. Seien Sie mir nicht böse, mein Kind, weil ich Ihnen einen solchen Brief geschrieben habe. Beim Durchlesen sehe ich jetzt, daß alles ganz zusammenhanglos ist. Ich bin ein alter ungelehrter Mensch, Warinka; in der Jugend habe ich nichts zu Ende gelernt, jetzt aber würde nichts mehr in den Kopf gehen, wenn man von neuem mit dem Lernen anfangen wollte. Ich muß schon gestehen, mein Kind, ich bin kein Meister der Feder und weiß, auch ohne fremde Hinweise und spöttische Bemerkungen, daß ich, wenn ich einmal etwas Spaßigeres schreiben will, nur Unsinn zusammenschwatze. – Ich sah Sie heute am Fenster, ich sah, wie Sie den Vorhang herabließen. Leben Sie wohl, Gott schütze Sie! Leben Sie wohl, Warwara Alexejewna. Ihr Freund, der ganz uneigennützig Ihr Freund sein will, Makar Djewuschkin. P. S. Ich werde, meine Liebe, über niemanden mehr Satiren schreiben. Ich bin zu alt geworden, Kind, um müßigerweise noch Scherze zu machen. Man würde dann auch über mich lachen, denn es ist schon so, wie unser Sprichwort sagt: Wer einem anderen eine Grube gräbt, der – fällt selbst hinein. 9. April. Makar Alexejewitsch! Schämen Sie sich denn nicht, mein Freund und Wohltäter, sich so etwas in den Kopf zu setzen! Haben Sie sich denn wirklich beleidigt gefühlt? Ach, ich bin oft so unvorsichtig in meinen Äußerungen, aber diesmal hätte ich doch nicht gedacht, daß Sie meinen harmlos scherzhaften Ton für Spott halten könnten. Seien Sie überzeugt, daß ich es niemals wagen werde, über Ihre Jahre oder Ihren Charakter zu scherzen. Ich habe es nur – wie soll ich sagen –: aus Leichtsinn geschrieben, aus Gedankenlosigkeit, oder vielleicht auch nur deshalb, weil es gerade furchtbar langweilig war ... was aber tut man mitunter nicht alles aus Langeweile? Außerdem glaubte ich, daß Sie sich selbst in Ihrem Brief ein wenig lustig hätten machen wollen. Nun macht es mich sehr traurig, daß Sie unzufrieden mit mir sind. Nein, mein treuer Freund und Beschützer, Sie täuschen sich, wenn Sie mich der Gefühllosigkeit und Undankbarkeit verdächtigen. In meinem Herzen weiß ich alles, was Sie für mich taten, als sie mich gegen den Haß und die Verfolgungen schändlicher Menschen verteidigten, nach seinem wahren Wert zu schätzen. Ewig werde ich für Sie beten, und wenn mein Gebet bis hin zu Gott dringt und er mich erhört, dann werden Sie glücklich sein. Ich fühle mich heute ganz krank. Schüttelfrost und Fieber wechseln ununterbrochen. Fedora beunruhigt sich sehr. Es ist übrigens ganz grundlos, was Sie da schreiben – und weswegen Sie sich fürchten, uns zu besuchen. Was geht das die Leute an? Sie sind mit uns bekannt und damit Basta! Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch. Zu schreiben weiß ich nichts mehr, und ich kann auch nicht: fühle mich wirklich ganz krank. Ich bitte Sie nochmals, mir nicht zu zürnen und von meiner steten Verehrung und Anhänglichkeit überzeugt zu sein, womit ich die Ehre habe zu verbleiben Ihre dankbare und ergebene Warwara Dobrosseloff. 12. April. Sehr geehrte Warwara Alexejewna! Ach, mein Liebes, was ist das nun wieder mit Ihnen! Jedesmal erschrecken Sie mich! Ich schreibe Ihnen in jedem Brief, daß Sie sich schonen sollen, sich warm ankleiden, nicht bei schlechtem Wetter ausgehen, daß Sie in allem vorsichtig sein sollen, – Sie aber, mein Engelchen, hören gar nicht darauf, was ich sage! Ach, mein Täubchen, Sie sind doch wirklich noch ganz wie ein kleines Kindchen! Sie sind so zart, wie so ein Strohhälmchen, das weiß ich doch. Es braucht nur ein Windchen zu wehen und gleich sind Sie krank. Deshalb müssen Sie sich auch in acht nehmen, müssen Sie selbst darauf bedacht sein, sich nicht der Gefahr auszusetzen und Ihren Freunden nicht Kummer, Sorge und Trübsal zu bereiten. Sie äußerten im vorletzten Brief den Wunsch, mein Kind, über meine Lebensweise und alles, was mich umgibt und angeht, Genaueres zu erfahren. Gern will ich Ihren Wunsch erfüllen. Ich beginne also – beginne mit dem Anfang, mein Kind, dann ist gleich mehr Ordnung in der Sache. Also erstens: die Treppen in unserem Hause sind ziemlich mittelmäßig; die Paradetreppe ist noch ganz gut, sogar sehr gut, wenn Sie wollen: rein, hell, breit, alles Gußeisen und wie Mahagoni poliertes Holzgeländer. Dafür ist aber die Hintertreppe so, daß ich lieber gar nicht von ihr reden will: feucht, schmutzig, mit zerbrochenen Stufen, und die Wände sind so fettig, daß die Hand kleben bleibt, wenn man sich an sie stützen will. Auf jedem Treppenabsatz stehen Kisten, alte Stühle und Schränke, alles schief und wackelig, Lappen sind zum Trocknen aufgehängt, die Fensterscheiben eingeschlagen; Waschkübel stehen da mit allem möglichen Schmutz, mit Unrat und Kehricht, mit Eierschalen und Tischresten; der Geruch ist schlecht ... mit einem Wort, es ist nicht schön. Die Lage der Zimmer habe ich Ihnen schon beschrieben; sie ist – dagegen läßt sich nichts sagen – wirklich bequem, das ist wahr, aber es ist auch in ihnen eine etwas dumpfe Luft, das heißt, ich will nicht geradezu sagen, daß es in den Zimmern schlecht riecht, aber so – es ist nur ein etwas fauliger Geruch, wenn man sich so ausdrücken darf, in den Zimmern, irgend so ein süßlich scharfer Modergeruch, oder so ungefähr. Der erste Eindruck ist zum mindesten nicht vorteilhaft, doch das hat nichts zu sagen, man braucht nur ein paar Minuten bei uns zu sein, so vergeht das, und man merkt nicht einmal, wie es vergeht, denn man fängt selbst an, so zu riechen, die Kleider und die Hände und alles riecht bald ebenso, – nun, und da gewöhnt man sich eben daran. Aber alle Zeisige krepieren bei uns. Der Seemann hat schon den fünften gekauft, aber sie können nun einmal nicht leben in unserer Luft, dagegen ist nichts zu machen. Unsere Küche ist groß, geräumig und hell. Morgens ist es allerdings etwas dunstig in ihr, wenn man Fisch oder Fleisch brät und es riecht dann nach Rauch und Fett, da immer etwas übergegossen wird, und auch der Fußboden ist morgens meist naß, aber abends ist man dafür wie im Paradies. In der Küche hängt bei uns gewöhnlich Wäsche zum Trocknen auf Schnüren, und da mein Zimmer nicht weit ist, das heißt, fast unmittelbar an die Küche stößt, so stört mich dieser Wäschegeruch zuweilen ein wenig. Aber das hat nichts zu sagen: hat man hier erst etwas länger gelebt, wird man sich auch daran gewöhnen. Vom frühesten Morgen an, Warinka, beginnt bei uns das Leben, da steht man auf, geht, lärmt, poltert, – dann stehen nämlich _alle_ auf, die einen, um in den Dienst zu gehen oder sonst wohin, manche nur so aus eigenem Antriebe: und dann beginnt das Teetrinken. Die Ssamoware gehören fast alle der Wirtin, es sind ihrer aber nur wenige, deshalb muß ein jeder aufpassen, wann die Reihe an ihn kommt; wer aus der Reihe fällt und mit seinem Teekännchen früher geht, als er darf, dem wird sogleich, und zwar tüchtig, der Kopf zurecht gerückt. Das geschah mit mir auch einmal, gleich am ersten Tage ... doch was soll man davon reden! Bei der Gelegenheit wurde ich dann auch mit allen bekannt. Näher bekannt wurde ich zunächst mit dem Seemann. Der ist so ein Offenherziger, hat mir alles gleich erzählt: von seinem Vater und seiner Mutter, von der Schwester, die an einen Assessor in Tula verheiratet ist und von Kronstadt, wo er längere Zeit gelebt hat. Er versprach mir auch seinen Beistand, wenn ich seiner bedürfen sollte, und lud mich gleich zu sich zum Abendtee ein. Ich suchte ihn dann auch auf – er war in demselben Zimmer, in dem man bei uns gewöhnlich Karten spielt. Dort wurde ich mit Tee bewirtet und dann verlangte man von mir, daß ich an ihrem Hazardspiel teilnehmen sollte. Wollten sie sich nun über mich lustig machen oder was sonst, das weiß ich nicht, jedenfalls spielten sie selbst die ganze Nacht, auch als ich eintrat, spielten sie. Überall Kreide, Karten, und ein Rauch war im Zimmer, daß es einen förmlich in die Augen biß. Nun, spielen wollte ich natürlich nicht, und da sagten sie mir, ich sei wohl ein Philosoph. Darauf beachtete mich weiter niemand und man sprach auch die ganze Zeit kein Wort mehr mit mir. Doch darüber war ich, wenn ich aufrichtig sein soll, nur sehr froh. Jetzt gehe ich nicht mehr zu ihnen: bei denen ist nichts als Hazard, der reine Hazard! Aber bei dem Beamten, der nebenbei so etwas wie ein Literat ist, kommt man abends gleichfalls zusammen. Und bei dem geht es anders her, dort ist alles bescheiden, harmlos und anständig, – ein behaglich tüchtiges Leben. Nun, Warinka, will ich Ihnen noch beiläufig anvertrauen, daß unsere Wirtin eine sehr schlechte Person ist, eine richtige Hexe. Sie haben doch Theresa gesehen, – also sagen Sie selbst: was ist denn an ihr noch dran? Mager ist sie wie eine Schwindsüchtige, wie ein gerupftes Hühnchen. Und dabei hält die Wirtin nur zwei Dienstboten: diese Theresa und den Faldoni. Ich weiß nicht, wie er eigentlich heißt, vielleicht hat er auch noch einen anderen Namen, jedenfalls kommt er, wenn man ihn so ruft, und deshalb rufen ihn denn alle so. Er ist rothaarig, irgendein Finne, ein schielender Grobian mit einer aufgestülpten Nase: auf die Theresa schimpft er ununterbrochen, und viel fehlt nicht, so würde er sie einfach prügeln. Überhaupt muß ich sagen, daß das Leben hier nicht ganz so ist, daß man es gerade gut nennen könnte ... Daß sich zum Beispiel abends alle zu gleicher Zeit hinlegen und einschlafen – das kommt hier überhaupt nicht vor. Ewig wird irgendwo noch gesessen und gespielt, manchmal wird aber sogar so etwas getrieben, daß man sich schämt, es auch nur anzudeuten. Jetzt habe ich mich schon eingelebt und an vieles gewöhnt, aber ich wundere mich doch, wie sogar verheiratete Leute in einem solchen Sodom leben können. Da ist eine ganze arme Familie, die hier in einem Zimmer wohnt, aber nicht in einer Reihe mit den anderen Nummern, sondern auf der anderen Seite in einem Eckzimmer, also etwas weiter ab. Stille Leutchen! Niemand hört von ihnen was. Und sie leben alle in dem einen Zimmerchen, in dem sie nur eine kleine Scheidewand haben. Er soll ein stellenloser Beamter sein – vor etwa sieben Jahren aus dem Dienst entlassen, man weiß nicht, weshalb. Sein Familienname ist Gorschkoff. Er ist ein kleines, graues Männchen, geht in alten, abgetragenen Kleidern, daß es ordentlich weh tut, ihn anzusehen – viel schlechter als ich! So ein armseliges, kränkliches Kerlchen – ich begegne ihm bisweilen auf dem Korridor. Die Kniee zittern ihm immer, auch die Hände zittern und der Kopf zittert, von einer Krankheit vielleicht, oder Gott mag wissen, wovon. Schüchtern ist er, alle fürchtet er, geht jedem scheu aus dem Wege und drückt sich ganz still und leise längs der Wand an den Menschen vorüber. Auch ich bin ja mitunter etwas schüchtern, aber mit dem ist das gar kein Vergleich! Seine Familie besteht aus seiner Frau und drei Kindern. Der älteste Knabe ist ganz nach dem Vater geraten, auch so ein kränkliches Kerlchen. Seine Frau muß einmal gut ausgesehen haben, das sieht man jetzt noch ... sie geht aber in so alten, armseligen Kleidern – oh, so alten!! Wie ich hörte, schulden sie der Wirtin bereits die Miete; wenigstens behandelt sie sie nicht gar zu freundlich. Auch hörte ich, daß Gorschkoff selbst irgendwelche Unannehmlichkeiten gehabt haben soll, weshalb er verabschiedet worden sei, – war es nun ein Prozeß oder etwas anderes, vielleicht eine Anklage, oder ist eine Untersuchung eingeleitet worden, das weiß ich Ihnen nicht zu sagen. Arm sind sie, furchtbar arm, Gott im Himmel! Immer ist es still in ihrem Zimmer, so still, als wohnte dort keine Seele. Nicht einmal die Kinder hört man. Und daß sie mal unartig wären oder ein Spielchen spielten – das kommt gar nicht vor, und ein schlimmeres Zeichen gibt es nicht. Einmal kam ich abends an ihrer Tür vorüber – es war gerade ganz ungewöhnlich still bei uns – da hörte ich ganz leises Schluchzen, dann ein Flüstern, dann wieder Schluchzen, ganz als weine dort jemand, aber so still, so hoffnungslos verzweifelt, so traurig, daß es mir das Herz zerreißen wollte – und dann wurde ich die halbe Nacht die Gedanken an diese armen Menschen nicht los, so daß ich lange nicht einschlafen konnte. Nun leben Sie wohl, Warinka, mein Freundchen! Da habe ich Ihnen jetzt alles beschrieben, so, wie ich es verstand. Heute habe ich den ganzen Tag nur an Sie gedacht. Mein Herz hat sich um Sie ganz müde gegrämt. Denn sehen Sie, mein Seelchen, ich weiß doch, daß Sie kein warmes Mäntelchen haben. Und ich kenne doch dieses Petersburger Frühlingswetter, diese Frühjahrswinde und den Regen, der dazwischen noch Schnee bringt, – das ist doch der Tod, Warinka! Da gibt es doch solche Wetterumschläge, daß Gott uns behüte und bewahre! Nehmen Sie mir, Herzchen, mein Geschreibsel nicht übel; ich habe keinen Stil, Warinka, ganz und gar keinen Stil. Wenn ich doch nur irgendeinen hätte! Ich schreibe, was mir gerade einfällt, damit Sie eine kleine Zerstreuung haben, also nur so, um Sie etwas zu erheitern. Ja, wenn ich was gelernt hätte, dann wäre es etwas anderes; aber so – was habe ich denn gelernt? Meine Erziehung hat wenig gekostet! Ihr ewiger und treuer Freund Makar Djewuschkin. 25. April. Sehr geehrter Makar Alexejewitsch! Heute bin ich meiner Kusine Ssascha begegnet! Entsetzlich! Auch sie wird zugrunde gehen, die Ärmste! Auch habe ich zufällig auf Umwegen erfahren, daß Anna Fedorowna sich überall nach mir erkundigt und natürlich alles ausforschen will. Sie wird wohl niemals aufhören, mich zu verfolgen. Sie soll gesagt haben, daß sie mir alles _verzeihen_ wolle! Sie wolle alles Vorgefallene vergessen und werde mich unbedingt besuchen. Von Ihnen hat sie gesagt, Sie seien gar nicht mein Verwandter, nur sie selbst sei meine nächste und einzige Verwandte, und Sie hätten kein Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Es sei eine Schande für mich und ich müsse mich schämen, mich von Ihnen ernähren zu lassen und auf Ihre Kosten zu leben ... Sie sagt, ich hätte das Gnadenbrot, das sie uns gegeben, vergessen – hätte vergessen, daß sie meine Mutter und mich vor dem Hungertode bewahrt, daß sie uns ernährt und gepflegt und fast zweieinhalb Jahre lang nur Unkosten durch uns gehabt, und daß sie uns außerdem eine alte Schuld geschenkt habe. Nicht einmal Mama will sie in ihrem Grabe in Ruhe lassen! Wenn meine Mutter wüßte, was sie mir angetan haben! Gott sieht es! ... Anna Fedorowna hat auch noch gesagt, daß ich nur aus Dummheit nicht verstanden habe, mein Glück festzuhalten, daß sie selbst mir das Glück zugeführt und sonst an nichts schuld sei, ich aber hätte es nur nicht verstanden – oder vielleicht auch nicht gewollt – für meine Ehre einzutreten. Aber wessen Schuld war es denn, großer Gott! Sie sagt, Herr Bükoff sei durchaus im Recht, man könne doch wirklich nicht eine jede heiraten, die ... doch wozu das alles schreiben! Es ist zu grausam, solche Unwahrheiten hören zu müssen, Makar Alexejewitsch! Ich weiß nicht, was es heute mit mir ist. Ich zittere, ich weine, ich schluchze. An diesem Brief schreibe ich schon seit zwei Stunden. Und ich war schon in dem Glauben, sie werde doch wenigstens ihre Schuld eingesehen haben, das Unrecht, das sie mir zugefügt hat, – und da redet sie so! Bitte, regen Sie sich meinetwegen nicht auf, mein Freund, um Gottes willen nicht, mein einziger guter Freund! Fedora übertreibt ja doch immer: ich bin gar nicht krank. Ich habe mich nur gestern auf dem Wolkoff-Friedhof ein wenig erkältet, als ich die Seelenmesse für mein totes Mütterchen hörte. Warum kamen Sie nicht mit mir? – ich hatte Sie doch so darum gebeten. Ach, meine arme, arme Mutter, wenn du aus dem Grabe stiegest, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest, was sie mit mir getan haben! ... W. D. 20. Mai. Mein Täubchen Warinka! Ich sende Ihnen ein paar Weintrauben, mein Herzchen, die sind gut für Genesende, sagt man, und auch der Arzt hat sie empfohlen, gegen den Durst, – also dann essen Sie mal die Träubchen, Warinka, wenn Sie durstig sind. Sie wollten auch gern ein Rosenstöckchen besitzen, Kind, da schicke ich Ihnen denn jetzt welche. Haben Sie aber auch Appetit, Herzchen? – Das ist doch die Hauptsache. Gott sei Dank, daß nun alles vorüber und überstanden ist, und daß auch unser Unglück bald ein Ende nehmen wird. Danken wir dafür dem Schöpfer! Was aber nun die Bücher betrifft, so kann ich vorläufig nirgendwo welche auftreiben. Es soll hier jemand ein sehr gutes Buch haben, hörte ich, eines, das in sehr hohem Stil geschrieben sei; man sagt, es sei wirklich ein gutes Buch, ich habe es selbst nicht gelesen, aber es wird hier sehr gelobt. Ich habe gebeten, man möge es mir geben, und man wollte es mir auch verschaffen. Nur – werden Sie es wirklich lesen? Sie sind ja so wählerisch in solchen Sachen, daß es schwer hält, für Ihren Geschmack gerade das Richtige zu finden, ich kenne Sie doch, mein Täubchen, ich weiß schon, wie Sie sind! Sie wollen wohl nur Poesie haben, die von Liebe und Sehnsucht handelt, – deshalb werde ich Ihnen auch Gedichte verschaffen, alles, alles, was Sie nur haben wollen. Hier gibt es ein ganzes Heft mit abgeschriebenen Gedichten. Ich lebe sehr gut. Sie müssen sich über mich beruhigen, Kind. Was Ihnen die Fedora wieder erzählt hat, ist alles gar nicht wahr, sie soll nicht immer lügen, sagen Sie ihr das. Ja, sagen Sie es ihr wirklich, der Klatschbase! ... Ich habe meinen neuen Uniformrock gar nicht verkauft, ist mir nicht eingefallen! Und weshalb sollte ich ihn verkaufen, sagen Sie doch selbst? Ich habe noch vor kurzem gehört, wie man davon sprach, daß man mir eine Gratifikation von vierzig Rubeln zusprechen werde, weshalb sollte ich da verkaufen? Nein, Kind, Sie sollen sich wirklich nicht beunruhigen. Sie ist argwöhnisch, die Fedora, und mißtrauisch, das ist gar nicht gut von ihr. Warten Sie nur, auch wir werden noch mal gut leben, mein Täubchen! Nur müssen Sie erst gesund werden, mein Engelchen, das müssen Sie um Christi willen: das ist doch mein größter Kummer, damit betrüben Sie mich Alten doch am meisten. Wer hat Ihnen gesagt, daß ich abgemagert sei? Das ist auch eine Verleumdung! Ich bin ganz gesund und munter und habe sogar so zugenommen, daß ich mich schon selbst zu schämen anfange. Bin satt und zufrieden und mir fehlt nichts, – wenn nur Sie wieder gesund wären! Nun, und jetzt leben Sie wohl, mein Engelchen; ich küsse alle Ihre Fingerchen und verbleibe Ihr ewig treuer, unwandelbarer Freund Makar Djewuschkin. P. S. Ach, Herzchen, was haben Sie da nur wieder geschrieben! Daß Sie sich doch immer etwas ins Köpfchen setzen müssen! Wie soll ich denn so oft zu Ihnen kommen, Kind – das frage ich Sie, – wie? Etwa im Schutze der nächtlichen Dunkelheit? Aber wo die Nächte hernehmen, jetzt gibt es ja gar keine, in dieser Jahreszeit. Ich habe Sie aber auch so, Engelchen, während Ihrer Krankheit fast gar nicht verlassen, als Sie bewußtlos im Fieber lagen. Doch eigentlich weiß ich es selbst nicht mehr, wie ich meine Zeit einteilte und mit allem doch noch fertig wurde. Aber dann stellte ich meine Besuche ein, denn die Leute wurden neugierig und begannen zu fragen. Und es sind ohnehin schon Klatschgeschichten entstanden. Ich verlasse mich aber ganz auf Theresa, sie ist zum Glück nicht schwatzhaft. Aber immerhin müssen Sie es sich doch selbst sagen, Kind, wie wird denn das sein, wenn alle über uns schwatzen? Was werden sie denn von uns denken und was sagen? Deshalb beißen Sie mal die Zähnchen zusammen, Herzchen, und warten Sie, bis Sie ganz gesund geworden sind: dann werden wir uns schon irgendwo außerhalb des Hauses treffen können. 1. Juni. Bester Makar Alexejewitsch! Ich möchte Ihnen so gern etwas zu Liebe tun, um Ihnen meinen Dank für Ihre Mühen und die Opfer, die Sie mir gebracht, zu bezeigen, darum habe ich mich entschlossen, aus meiner Kommode mein altes Heft hervorzusuchen, das ich Ihnen hiermit zusende. Ich begann diese Aufzeichnungen noch in der glücklichen Zeit meines Lebens. Sie haben mich so oft mit Anteil nach meinem früheren Leben gefragt und mich gebeten, Ihnen von meiner Mutter, von Pokrowskij, von meinem Aufenthalt bei Anna Fedorowna und schließlich von meinen letzten Erlebnissen zu erzählen, und Sie äußerten so lebhaft den Wunsch, dieses Heft einmal zu lesen, in dem ich – Gott weiß wozu – einiges aus meinem Leben erzählt habe, daß ich glaube, Ihnen mit der Zusendung dieses Heftes eine Freude zu bereiten. Mich aber hat es traurig gemacht, als ich es jetzt durchlas. Es scheint mir, daß ich seit dem Augenblick, in dem ich die letzte Zeile dieser Aufzeichnungen schrieb, noch einmal so alt geworden bin, als ich war, zweimal so alt! Ich habe das Ganze zu verschiedenen Zeiten niedergeschrieben. Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch! Ich habe jetzt oft schreckliche Langeweile und nachts quält mich meine Schlaflosigkeit. Ein höchst langweiliges Genesen! W. D. I. Ich war erst vierzehn Jahre alt, als mein Vater starb. Meine Kindheit war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich verbrachte sie nicht hier, sondern fern in der Provinz, auf dem Lande. Mein Vater war der Verwalter eines großen Gutes, das dem Fürsten P. gehörte. Und dort lebten wir – still, einsam und glücklich ... Ich war ein richtiger Wildfang: oft tat ich den ganzen Tag nichts anderes, als in Feld und Wald umherzustreifen, überall wo ich nur wollte, denn niemand kümmerte sich um mich. Mein Vater war immer beschäftigt und meine Mutter hatte in der Wirtschaft zu tun. Ich wurde nicht unterrichtet – und darüber war ich sehr froh. So lief ich schon frühmorgens zum großen Teich oder in den Wald, oder auf die Wiese zu den Schnittern – je nachdem –: was machte es mir aus, daß die Sonne brannte, daß ich selbst nicht mehr wußte, wo ich war und wie ich mich zurechtfinden sollte, daß das Gestrüpp mich kratzte und mein Kleid zerriß: zu Hause würde man schelten, aber was ging das mich an! Und ich glaube, ich wäre ewig so glücklich geblieben, wenn wir auch das ganze Leben dort auf dem Lande verbracht hätten. Doch leider mußte ich schon als Kind von diesem freien Landleben Abschied nehmen und mich von all den trauten Stellen trennen. Ich war erst zwölf Jahre alt, als wir nach Petersburg übersiedelten. Ach, wie traurig war unser Aufbruch! Wie weinte ich, als ich alles, was ich so lieb hatte, verlassen mußte! Ich weiß noch, wie krampfhaft ich meinen Vater umarmte und ihn unter Tränen bat, er möge doch wenigstens noch ein Weilchen auf dem Gute bleiben, und wie mein Vater böse wurde und wie meine Mutter auch weinte. Sie sagte, es sei notwendig, es seien geschäftliche Angelegenheiten, die es verlangten. Der alte Fürst P. war nämlich gestorben und seine Erben hatten meinen Vater entlassen. So fuhren wir nach Petersburg, wo einige Privatleute lebten, denen mein Vater Geld geliehen hatte – und da wollte er denn persönlich seine Geldangelegenheiten regeln. Das erfuhr ich alles von meiner Mutter. Hier mieteten wir auf der Petersburger Seite[1] eine Wohnung, in der wir dann bis zum Tode des Vaters blieben. Wie schwer es mir war, mich an das neue Leben zu gewöhnen! Wir kamen im Herbst nach Petersburg. Als wir das Gut verließen, war es ein sonnig heller, klarer, warmer Tag. Auf den Feldern wurden die letzten Arbeiten beendet. Auf den Tennen lag schon das Getreide in hohen Haufen, um die ganze Scharen lebhaft zwitschernder Vögel flatterten. Alles war so hell und fröhlich! Hier aber, als wir in der Stadt anlangten, war statt dessen nichts als Regen, Herbstkälte, Unwetter, Schmutz, und viele fremde Menschen, die alle unfreundlich, unzufrieden und böse aussahen! Wir richteten uns ein, so gut es eben ging. Wieviel Schererei das gab, bis man den Haushalt endlich eingerichtet hatte! Mein Vater war fast den ganzen Tag nicht zu Hause und meine Mutter war immer beschäftigt, – mich vergaß man ganz. Es war ein trauriges Aufstehen am nächsten Morgen – nach der ersten Nacht in der neuen Wohnung. Vor unseren Fenstern war ein gelber Zaun. Auf der Straße sah man nichts als Schmutz! Nur wenige Menschen gingen vorüber, und alle waren so vermummt in Kleider und Tücher, und alle schienen sie zu frieren. Bei uns zu Hause herrschten ganze Tage lang nur Kummer und entsetzliche Langeweile. Verwandte oder nahe Bekannte hatten wir hier nicht. Mit Anna Fedorowna hatte sich der Vater entzweit. (Er schuldete ihr etwas.) Es kamen aber ziemlich oft Leute zu uns, die mit dem Vater Geschäftliches zu besprechen hatten. Gewöhnlich wurde dann gestritten, gelärmt und geschrien. Und wenn sie wieder fortgegangen waren, war Papa immer so unzufrieden und böse. Stundenlang ging er dann im Zimmer auf und ab, mit gerunzelter Stirn, ohne ein Wort zu sprechen. Auch Mama wagte dann nichts zu sagen und schwieg. Und ich zog mich mit einem Buch still in einen Winkel zurück und wagte mich nicht zu rühren. Im dritten Monat nach unserer Ankunft in Petersburg wurde ich in eine Pension gegeben. War das eine traurige Zeit, anfangs, unter den vielen fremden Menschen! Alles war so trocken, so kurz angebunden, so unfreundlich und so gar nicht anziehend: die Lehrerinnen schalten und die Mädchen spotteten, und ich war so verschüchtert – wie ein Wildling kam ich mir vor. Diese pedantische Strenge! Alles mußte pünktlich zur bestimmten Stunde geschehen. Die Mahlzeiten an der gemeinsamen Tafel, die langweiligen Lehrer – das machte mich anfangs haltlos! Ich konnte dort nicht einmal schlafen. So manche lange, langweilige, kalte Nacht habe ich bis zum Morgen geweint. Abends, wenn die anderen alle ihre Lektionen lernten oder wiederholten, saß ich über meinem Buch oder dem Vokabelheft und wagte nicht, mich zu rühren, doch mit meinen Gedanken war ich wieder zu Hause, dachte an den Vater und die Mutter und an meine alte gute Kinderfrau und an deren Märchen ... ach, was für ein Heimweh mich da erfaßte! Jedes kleinsten Gegenstandes im Hause erinnert man sich, und selbst an den noch denkt man mit einem so eigentümlichen, wehmütigen Vergnügen. Und so denkt man und denkt man denn, – wie gut, wie schön es doch jetzt zu Hause wäre! Da würde ich in unserem kleinen Eßzimmer am Tisch sitzen, auf dem der Ssamowar summt, und mit am Tisch säßen die Eltern: wie warm wäre es, wie traut, wie behaglich. Wie würde ich, denkt man, jetzt Mütterchen umarmen, fest, ganz fest, o, so mit aller Inbrunst umarmen! – Und so denkt man weiter, bis man vor Heimweh leise zu weinen anfängt, und immer wieder die Tränen schluckt – die Vokabeln aber gehen einem nicht in den Kopf. Wieder kann man die Aufgabe für den nächsten Tag nicht: die ganze Nacht sieht man nichts anderes im Traum, als den Lehrer, die Madame und die Mitschülerinnen; die ganze Nacht träumt man, daß man die Aufgaben lerne, am nächsten Tage aber weiß man natürlich nichts. Da muß man wieder im Winkel knien und erhält nur eine Speise. Ich war so unlustig, so wortkarg. Die Mädchen lachten über mich, neckten mich und lenkten meine Aufmerksamkeit ab, wenn ich die Aufgabe hersagte, oder sie kniffen mich, wenn wir in langer Reihe paarweis zu Tisch gingen, oder sie beklagten sich bei der Lehrerin über mich. Doch welche Seligkeit, wenn dann am Sonnabendabend meine alte gute Wärterin kam, um mich abzuholen! Wie ich sie umarmte – ich wußte mich kaum zu lassen vor Freude – mein gutes Altchen! Und dann kleidete sie mich an, immer „hübsch warm“, wie sie sagte, wenn sie mir die Tücher um den Kopf band. Unterwegs aber konnte sie mir nie schnell genug folgen und ich – konnte doch nicht so langsam gehen wie sie! Und die ganze Zeit erzählte ich und schwatzte ich ohne Unterlaß. Ganz ausgelassen vor Freude, lief ich ins Haus und warf mich den Eltern um den Hals, als hätten wir uns seit neun Jahren nicht gesehen. Und dann begann das Erzählen und Fragen, und ich lachte und lief umher und feierte mit allem und allem Wiedersehen. Papa begann alsbald ernstere Gespräche: über die Lehrer, über Mathematik, über die französische Sprache und die Grammatik von L’Homond, – und alle waren wir so guter Dinge und zufrieden und gesprächig. Auch jetzt noch ist mir die bloße Erinnerung an jene Stunden ein Vergnügen. Ich gab mir die größte Mühe, gut zu lernen, um meinen Vater damit zu erfreuen. Ich sah doch, daß er das Letzte für mich ausgab, während ihm selbst die Sorgen über den Kopf wuchsen. Mit jedem Tage wurde er finsterer, unzufriedener, jähzorniger; sein Charakter veränderte sich sehr zu seinem Nachteil. Nichts gelang ihm, alles schlug fehl und die Schulden wuchsen ins Ungeheuerliche. Die Mutter fürchtete sich, zu weinen oder auch nur ein Wort der Klage zu sagen, da der Vater sich dann nur noch mehr ärgerte. Sie wurde kränklich und schwächlich und ein böser Husten stellte sich ein. Kam ich aus der Pension, so sah ich nur traurige Gesichter: die Mutter wischte sich heimlich die Tränen aus den Augen und der Vater ärgerte sich. Und dann kamen wieder Vorwürfe und Klagen: er erlebe an mir keine Freude, ich brächte ihm auch keinen Trost, und doch gebe er für mich das Letzte hin, ich aber verstände noch immer nicht, Französisch zu sprechen. Mit einem Wort, ich war an allem schuld; alles Unglück, alle Mißerfolge, alles hatten wir zu verantworten, ich und die arme Mama. Wie war es aber nur möglich, die arme Mama noch mehr zu quälen! Wenn man sie ansah, konnte einem das Herz brechen! Ihre Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen – wie eine Schwindsüchtige sah sie aus. Die größten Vorwürfe wurden mir gemacht. Gewöhnlich begann es mit irgendeiner kleinen Nebensächlichkeit und dann kam oft Gott weiß was alles zur Sprache, – oft begriff ich nicht einmal, wovon Papa sprach. Was er da nicht alles vorbrachte! ... Zuerst die französische Sprache, daß ich ein großer Dummkopf und unsere Pensionsvorsteherin eine fahrlässige, dumme Person sei, sie sorge nicht im geringsten für unsere sittliche Entwickelung; dann – daß er noch immer keine Anstellung finden könne und daß die Grammatik von L’Homond nichts tauge, die von Sapolskij sei bedeutend besser; daß man für mich viel Geld verschwendet habe, ohne Sinn und Nutzen, daß ich ein gefühlloses, hartherziges Mädchen sei, – kurz, ich Arme, die ich mir die größte Mühe gab, französische Vokabeln und Gespräche auswendig zu lernen, war an allem schuld und mußte alle Vorwürfe hinnehmen. Aber er tat es ja nicht etwa deshalb, weil er uns nicht liebte: im Gegenteil, er liebte uns über alle Maßen! Es war nun einmal sein Charakter ... Oder nein: es waren die Sorgen, die Enttäuschungen und Mißerfolge, die seinen ursprünglich guten Charakter so verändert hatten: er wurde mißtrauisch, war oft ganz verbittert und der Verzweiflung nahe, begann seine Gesundheit zu vernachlässigen, erkältete sich und – starb dann auch nach kurzem Krankenlager, so plötzlich, so unerwartet, daß wir es noch tagelang nicht fassen konnten! Wir waren wie betäubt von diesem Schlage. Mama war wie erstarrt, ich fürchtete anfänglich für ihren Verstand. Kaum aber war er gestorben, da kamen schon die Gläubiger in Scharen zu uns. Alles, was wir hatten, gaben wir ihnen hin. Unser Häuschen auf der Petersburger Seite, das Papa ein halbes Jahr nach unserer Ankunft in Petersburg gekauft hatte, mußte gleichfalls verkauft werden. Ich weiß nicht, wie es mit dem Übrigen wurde, wir blieben jedenfalls ohne Obdach, ohne Geld, schutzlos, mittellos ... Mama war krank – es war ein schleichendes Fieber, das nicht weichen wollte – verdienen konnten wir nichts, so waren wir dem Verderben preisgegeben. Ich war erst vierzehn Jahre alt. Da besuchte uns zum erstenmal Anna Fedorowna. Sie gibt sich immer für eine Gutsbesitzerin aus und versichert, sie sei mit uns nahe verwandt. Mama aber sagte, sie sei allerdings verwandt mit uns, nur sei diese Verwandtschaft eine sehr weitläufige. Als Papa noch lebte, war sie nie zu uns gekommen. Sie erschien mit Tränen in den Augen und beteuerte, daß sie an unserem Unglück großen Anteil nehme. Sie bemitleidete uns lebhaft, äußerte sich dann aber dahin, daß Papa an unserem ganzen Mißgeschick schuld sei: er habe gar zu hoch hinaus gewollt und gar zu sehr auf seine eigene Kraft gebaut. Ferner äußerte sie als „einzige Verwandte“ den Wunsch, uns näher zu treten, und machte den Vorschlag, Gewesenes zu vergessen. Als Mama darauf erwiderte, daß sie nie irgendwelchen Groll gegen sie gehegt habe, weinte sie sogar vor lauter Rührung, führte Mama in die Kirche und bestellte eine Seelenmesse für den „toten Liebling“, wie sie den Entschlafenen plötzlich nannte. Darauf versöhnte sie sich in aller Feierlichkeit mit Mama. Dann, nach langen Vorreden und Randbemerkungen und nachdem sie uns in grellen Farben unsere ganze hoffnungslose Lage klargemacht, von unserer Mittel-, Schutz- und Hilflosigkeit gesprochen hatte, forderte sie uns auf, ihr Obdach mit ihr zu teilen, wie sie sich ausdrückte. Mama dankte für ihre Freundlichkeit, konnte sich aber lange nicht entschließen, der Aufforderung Folge zu leisten, doch da uns nichts anderes übrig blieb, so sah sie sich zu guter Letzt gezwungen, Anna Fedorowna mitzuteilen, daß sie ihr Anerbieten dankbar annehmen wolle. Wie deutlich erinnere ich mich noch jenes Morgens, an dem wir von der Petersburger Seite nach dem anderen Stadtteil, dem Wassilij Ostroff, übersiedelten! Es war ein klarer, trockener, kalter Herbstmorgen. Mama weinte. Und ich war so traurig: es war mir, als schnüre mir eine unerklärliche Angst die Brust zusammen ... Es war eine schwere Zeit ... * * * * * II. Anfangs, so lange wir uns noch nicht eingelebt hatten, empfanden wir beide, Mama und ich, eine gewisse Bangigkeit in der Wohnung Anna Fedorownas, wie man sie zu empfinden pflegt, wenn einem etwas nicht ganz geheuer erscheint. Anna Fedorowna lebte in ihrem eigenen Hause an der Sechsten Linie[2]. Im ganzen Hause waren nur fünf bewohnbare Zimmer. In dreien von ihnen wohnte Anna Fedorowna mit meiner Kusine Ssascha, die als armes Waisenkind von ihr angenommen war und erzogen wurde. Im vierten Zimmer wohnten wir, und im letzten Zimmer, das neben dem unsrigen lag, wohnte ein armer Student, Pokrowskij, der einzige Mieter im Hause. Anna Fedorowna lebte sehr gut, viel besser, als man es für möglich gehalten hätte, doch ihre Geldquelle war ebenso rätselhaft wie ihre Beschäftigung. Und dabei hatte sie immer irgend etwas zu tun und lief besorgt umher, und jeden Tag fuhr und ging sie mehrmals aus. Doch wohin sie ging, mit was sie sich draußen beschäftigte und was sie zu tun hatte, das vermochte ich nicht zu erraten. Sie war mit sehr vielen und sehr verschiedenen Leuten bekannt. Ewig kamen welche zu ihr gefahren und immer in Geschäften und nur auf ein paar Minuten. Mama führte mich jedesmal in unser Zimmer, sobald es klingelte. Darüber ärgerte sich Anna Fedorowna sehr und machte meiner Mutter beständig den Vorwurf, daß wir gar zu stolz seien: sie wollte ja nichts sagen, wenn wir irgendeinen Grund, wenn wir wirklich Ursache hätten, stolz zu sein, aber so! ... und stundenlang fuhr sie dann in diesem Tone fort. Damals begriff ich diese Vorwürfe nicht, und ebenso habe ich erst jetzt erfahren, oder richtiger, erraten, weshalb Mama sich anfangs nicht entschließen konnte, Anna Fedorownas Gastfreundschaft anzunehmen. Sie ist ein schlechter Mensch, diese Anna Fedorowna. Ewig quälte sie uns. Aber eins ist mir auch jetzt noch ein Rätsel: wozu lud sie uns überhaupt zu sich ein? Anfangs war sie noch ganz freundlich zu uns, dann aber kam bald ihr wahrer Charakter zum Vorschein, als sie sah, daß wir vollständig hilflos und nur auf ihre Gnade angewiesen waren. Später wurde sie zu mir wieder freundlicher, vielleicht zu freundlich: sie sagte mir dann sogar plumpe Schmeicheleien, doch vorher hatte ich ebensoviel auszustehen wie Mama. Ewig machte sie uns Vorwürfe und sprach zu uns von nichts anderem, als von den Wohltaten, die sie uns erwies. Und allen fremden Leuten stellte sie uns als ihre armen Verwandten vor, als mittellose, schutzlose Witwe und Waise, die sie nur aus Mitleid und christlicher Nächstenliebe bei sich aufgenommen habe und nun ernähre. Bei Tisch verfolgte sie jeden Bissen, den wir zu nehmen wagten, mit den Augen, wenn wir aber nichts aßen, oder gar zu wenig, so war ihr das auch wieder nicht recht: dann hieß es, ihr Essen sei uns wohl nicht gut genug, wir mäkelten, sie gebe eben, was sie habe und begnüge sich selbst damit – vielleicht könnten wir uns selbst etwas Besseres leisten, das könne sie ja nicht wissen, usw., usw. Über Papa mußte sie jeden Augenblick etwas Schlechtes sagen, anders ging es nicht. Sie behauptete, er habe immer nobler sein wollen, als alle anderen, und das habe man nun davon: Frau und Tochter könnten nun zusehen, wo sie blieben, und wenn sich nicht unter ihren Verwandten eine christlich liebevolle Seele – das war sie selbst – gefunden hätte, so hätten wir gar noch auf der Straße Hungers sterben können. Und was sie da nicht noch alles vorbrachte! Es war nicht einmal so bitter, wie es widerlich war, sie anzuhören. Mama weinte jeden Augenblick. Ihr Gesundheitszustand verschlimmerte sich mit jedem Tage, sie welkte sichtbar hin, doch trotzdem arbeiteten wir vom Morgen bis zum Abend. Wir nähten auf Bestellung, was Anna Fedorowna sehr mißfiel. Sie sagte, ihr Haus sei kein Putzgeschäft. Wir aber mußten uns doch Kleider anfertigen und mußten doch etwas verdienen, um auf alle Fälle wenigstens etwas eigenes Geld zu haben. Und so arbeiteten und sparten wir denn immer in der Hoffnung, uns bald irgendwo ein Zimmerchen mieten zu können. Doch die anstrengende Arbeit verschlimmerte den Zustand der Mutter sehr: mit jedem Tage wurde sie schwächer. Die Krankheit untergrub ihr Leben und brachte sie unaufhaltsam dem Grabe näher. Ich sah es, ich fühlte es und konnte doch nicht helfen! Die Tage vergingen und jeder neue Tag glich dem vorhergegangenen. Wir lebten still für uns, als wären wir gar nicht in der Stadt. Anna Fedorowna beruhigte sich mit der Zeit – beruhigte sich, je mehr sie ihre unbegrenzte Übermacht einsah und nichts mehr für sie zu fürchten brauchte. Übrigens hatten wir ihr noch nie in irgend etwas widersprochen. Unser Zimmer war von den drei anderen, die sie bewohnte, durch einen Korridor getrennt, und neben unserem lag nur noch das Zimmer Pokrowskijs, wie ich schon erwähnte. Er unterrichtete Ssascha, lehrte sie Französisch und Deutsch, Geschichte und Geographie – d. h. „alle Wissenschaften“, wie Anna Fedorowna zu sagen pflegte, und dafür brauchte er für Kost und Logis nichts zu zahlen. Ssascha war ein sehr begabtes Mädchen, doch entsetzlich unartig und lebhaft. Sie war damals erst dreizehn Jahre alt. Schließlich sagte Anna Fedorowna zu Mama, daß es vielleicht ganz gut wäre, wenn ich mit ihr zusammen lernen würde, da ich ja in der Pension den Kursus sowieso nicht beendet hatte. Mama war natürlich sehr froh über diesen Vorschlag, und so wurden wir beide gemeinsam ein ganzes Jahr von Pokrowskij unterrichtet. Pokrowskij war ein armer, sehr armer Mensch. Seine Gesundheit erlaubte es ihm nicht, regelmäßig die Universität zu besuchen, und so war er eigentlich gar kein richtiger „Student“, wie er aus Gewohnheit noch genannt wurde. Er lebte so still und ruhig in seinem Zimmer, daß wir im Nebenzimmer nichts von ihm hörten. Er sah auch recht eigentümlich aus, bewegte und verbeugte sich so linkisch und sprach so seltsam, daß ich ihn anfangs nicht einmal ansehen konnte, ohne über ihn lachen zu müssen. Ssascha machte immer ihre unartigen Streiche, und das besonders während des Unterrichts. Er aber war zum Überfluß auch noch heftig, ärgerte sich beständig, jede Kleinigkeit brachte ihn aus der Haut: er schalt uns, schrie uns an, und sehr oft stand er wütend auf und ging fort, noch bevor die Stunde zu Ende war, und schloß sich wieder in seinem Zimmer ein. Dort aber, in seinem Zimmer, saß er tagelang über den Büchern. Er hatte viele Bücher, und alles so schöne, seltene Exemplare. Er gab noch an ein paar anderen Stellen Stunden und erhielt dafür Geld, doch kaum hatte er welches erhalten, so ging er sogleich hin und kaufte sich wieder Bücher. Mit der Zeit lernte ich ihn näher kennen. Er war der beste und ehrenwerteste Mensch, der beste von allen, die mir bis dahin im Leben begegnet waren. Mama achtete ihn ebenfalls sehr. Und dann wurde er auch mein treuer Freund und stand mir am nächsten von allen, – natürlich nach Mama. In der ersten Zeit beteiligte ich mich – obwohl ich doch schon ein großes Mädchen war – an allen Streichen, die Ssascha gegen ihn ausheckte, und bisweilen überlegten wir stundenlang, wie wir ihn wieder necken und seine Geduld auf eine Probe stellen könnten. Es war furchtbar spaßig, wenn er sich ärgerte – und wir wollten unser Vergnügen haben. (Noch jetzt schäme ich mich, wenn ich daran zurückdenke.) Einmal hatten wir ihn so gereizt, daß ihm Tränen in die Augen traten, und da hörte ich deutlich, wie er zwischen den Zähnen halblaut hervorstieß: „Nichts grausamer als Kinder!“ Das verwirrte mich: zum erstenmal regte sich in mir so etwas wie Scham und Reue und Mitleid. Ich errötete bis über die Ohren und bat ihn fast unter Tränen, sich zu beruhigen und sich durch unsere dummen Streiche nicht kränken zu lassen, doch er klappte das Buch zu und ging in sein Zimmer, ohne den Unterricht fortzusetzen. Den ganzen Tag quälte mich die Reue. Der Gedanke, daß wir Kinder ihn durch unsere boshaften Dummheiten bis zu Tränen geärgert hatten, war mir unerträglich. So hatten wir es nur auf seine Tränen abgesehen! So verlangte es uns, uns an seiner sicher krankhaften Gereiztheit auch noch zu weiden! So war es uns nun also doch gelungen, ihn um den Rest von Geduld zu bringen! So hatten wir ihn, diesen unglücklichen, armen Menschen, gezwungen, unter seinem grausamen Los noch mehr zu leiden! Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen – wie mich die Reue quälte! Man sagt, Reue erleichtere das Herz. Im Gegenteil! Ich weiß nicht, wie es kam, daß sich in meinen Kummer auch Ehrgeiz mischte. Ich wollte nicht, daß er mich für ein Kind halte. Ich war damals bereits fünfzehn Jahre alt. Von diesem Tage an lebte ich beständig in Plänen, wie ich Pokrowskij veranlassen könnte, seine Meinung über mich zu ändern. Doch an der Ausführung dieser meiner tausend Pläne hinderte mich meine Schüchternheit: ich konnte mich zu nichts entschließen, und so blieb es denn bei den Plänen und Träumereien (und was man nicht alles so zusammenträumt, mein Gott!). Nur beteiligte ich mich hinfort nicht mehr an Ssaschas unartigen Späßen, und auch sie wurde langsam artiger. Das hatte zur Folge, daß er sich nicht mehr über uns ärgerte. Doch das war zu wenig für meinen Ehrgeiz. Nun einige Worte über den seltsamsten und bemitleidenswertesten Menschen, den ich jemals im Leben kennen gelernt habe. Ich will es deshalb an dieser Stelle tun, weil ich mich mit ihm, den ich bis dahin so gut wie gar nicht beachtet hatte, von jenem Tage an aufs lebhafteste in meinen Gedanken zu beschäftigen begann. Von Zeit zu Zeit erschien bei uns im Hause ein schlecht und unsauber gekleideter, kleiner, grauer Mann, der in seinen Bewegungen unsagbar plump und linkisch war und überhaupt sehr eigentümlich aussah. Auf den ersten Blick konnte man glauben, daß er sich gewissermaßen seiner selbst schäme, daß er für seine Existenz selbst um Entschuldigung bäte. Wenigstens duckte er sich immer irgendwie, oder er versuchte wenigstens immer irgendwie sich zu drücken, sich gleichsam in nichts zu verwandeln, und diese ängstlichen, verschämten, unsicheren Bewegungen und Gebärden erweckten in jedem den Verdacht, daß er nicht ganz bei vollem Verstande sei. Wenn er zu uns kam, blieb er gewöhnlich im Flur hinter der Glastür stehen und wagte nicht, einzutreten. Ging zufällig jemand von uns – ich oder Ssascha – oder jemand von den Dienstboten, die ihm freundlicher gesinnt waren – durch den Korridor und erblickte man ihn dort hinter der Tür, so begann er zu winken und mit Gesten zu sich zu rufen und verschiedene Zeichen zu machen: nickte man ihm dann zu – damit erteilte man ihm die Erlaubnis, und gab ihm zu verstehen, daß keine fremden Leute im Hause waren – oder rief man ihn, dann erst wagte er endlich, leise die Tür zu öffnen und lächelnd einzutreten, worauf er sich froh die Hände rieb und sogleich auf den Zehenspitzen zum Zimmer Pokrowskijs schlich. Dieser Alte war sein Vater. Später erfuhr ich die Lebensgeschichte dieses Armen. Er war einmal irgendwo Beamter gewesen, hatte aus Mangel an Fähigkeiten eine ganz untergeordnete Stellung bekleidet. Als seine erste Frau (die Mutter des Studenten Pokrowskij) gestorben war, hatte er zum zweitenmal geheiratet, und zwar eine halbe Bäuerin. Von dem Augenblick an war im Hause kein Friede mehr gewesen: die zweite Frau hatte das erste Wort geführt und war mit jedem womöglich handgemein geworden. Ihr Stiefsohn – der Student Pokrowskij, damals noch ein etwa zehnjähriger Knabe – hatte unter ihrem Haß viel zu leiden gehabt, doch zum Glück war es anders gekommen. Der Gutsbesitzer Bükoff, der den Vater, den Beamten Pokrowskij, früher gekannt und ihm einmal so etwas wie eine Wohltat erwiesen hatte, nahm sich des Jungen an und steckte ihn in irgendeine Schule. Er interessierte sich für den Knaben nur aus dem Grunde, weil er seine verstorbene Mutter gekannt hatte, als diese noch als Mädchen von Anna Fedorowna „Wohltaten“ erfahren und von ihr an den Beamten Pokrowskij verheiratet worden war. Damals hatte Herr Bükoff, als guter Bekannter und Freund Anna Fedorownas, der Braut aus Großmut eine Mitgift von fünftausend Rubeln gegeben. Wo aber dieses Geld geblieben war – ist unbekannt. So erzählte es mir Anna Fedorowna. Der Student Pokrowskij selbst sprach nie von seinen Familienverhältnissen und liebte es nicht, wenn man ihn nach seinen Eltern fragte. Man sagt, seine Mutter sei sehr schön gewesen, deshalb wundert es mich, daß sie so unvorteilhaft und noch dazu einen so unansehnlichen Menschen geheiratet hat. – Sie ist schon früh gestorben, etwa im vierten Jahre nach der Heirat. Von der Schule kam der junge Pokrowskij auf ein Gymnasium und von dort auf die Universität. Herr Bükoff, der sehr oft nach Petersburg zu kommen pflegte, ließ ihn auch dort nicht im Stich und unterstützte ihn. Leider konnte Pokrowskij wegen seiner angegriffenen Gesundheit sein Studium nicht fortsetzen, und da machte ihn Herr Bükoff mit Anna Fedorowna bekannt, stellte ihn ihr persönlich vor, und so zog denn Pokrowskij zu ihr, um für Kost und Logis Ssascha in „allen Wissenschaften“ zu unterrichten. Der alte Pokrowskij ergab sich aber aus Kummer über die rohe Behandlung, die ihm seine zweite Frau zuteil werden ließ, dem schlimmsten aller Laster: er begann zu trinken und war fast nie ganz nüchtern. Seine Frau prügelte ihn, ließ ihn in der Küche schlafen und brachte es mit der Zeit so weit, daß er sich alles widerspruchslos gefallen ließ und sich auch an die Schläge gewöhnte. Er war noch gar nicht so alt, aber infolge seiner schlechten Lebensweise war er, wie ich bereits erwähnte, tatsächlich nicht mehr ganz bei vollem Verstande. Der einzige Rest edlerer Gefühle war in diesem Menschen seine grenzenlose Liebe zu seinem Sohne. Man sagte mir, der junge Pokrowskij sei seiner Mutter so ähnlich, wie ein Tropfen Wasser dem anderen. War es dann vielleicht die Erinnerung an die erste, gute Frau, die im Herzen dieses heruntergekommenen Alten eine so grenzenlose Liebe zu seinem Sohne erweckt hatte? Der Alte sprach überhaupt von nichts anderem, als von diesem Sohn. In jeder Woche besuchte er ihn zweimal. Öfter zu kommen, wagte er nicht, denn der Sohn selbst konnte diese väterlichen Besuche nicht ausstehen. Diese Nichtachtung des Vaters war gewiß sein größter Fehler. Übrigens konnte der Alte mitunter auch mehr als unerträglich sein. Erstens war er furchtbar neugierig, zweitens störte er den Sohn durch seine müßigen Gespräche und nichtigen, sinnlosen Fragen beim Arbeiten, und drittens erschien er nicht immer ganz nüchtern. Der Sohn gewöhnte dem Alten mit der Zeit seine schlechten Angewohnheiten, seine Neugier und seine Schwatzhaftigkeit ab, und zu guter Letzt gehorchte ihm der Vater wie einem Gott und wagte ohne seine Erlaubnis nicht einmal mehr, den Mund aufzutun. Der arme Alte konnte sich über seinen Petinka[3] – so nannte er den Sohn – nicht genug wundern und freuen. Wenn er zu ihm kam, sah er immer bedrückt, besorgt, sogar ängstlich aus – wahrscheinlich deshalb, weil er noch nicht wußte, wie der Sohn ihn empfangen werde. Gewöhnlich konnte er sich lange nicht entschließen, einzutreten, und wenn er mich dann erblickte, winkte er mich schnell zu sich heran, um mich oft eine ganze halbe Stunde lang auszufragen, wie es dem Petinka gehe, was er mache, ob er gesund sei und in welcher Stimmung, und ob er sich nicht mit etwas Wichtigem beschäftige. Vielleicht schreibe er? oder studiere wieder ein philosophisches Werk? Und wenn ich ihn dann genügend beruhigt und ermutigt hatte, entschloß er sich endlich, ganz, ganz leise und vorsichtig die Tür zu öffnen und den Kopf ins Zimmer zu stecken: sah er, daß der Sohn nicht böse war, daß er ihm vielleicht sogar zum Gruß zunickte, dann trat er ganz behutsam ein, nahm den Mantel und den Hut ab – letzterer war ewig verbeult und durchlöchert, wenn nicht gar mit abgerissener Krempe – und hängte beides an einen Haken. Alles tat er so vorsichtig und lautlos wie nur möglich. Dann setzte er sich vorsichtig auf einen Stuhl und verwandte keinen Blick mehr von seinem Sohn, verfolgte jede seiner Bewegungen, jeden Blick, um nur ja die Stimmung seines Petinka zu erraten. Sah er, daß der Sohn verstimmt und schlechter Laune war, so erhob er sich sogleich wieder von seinem Platz und sagte, daß er eben „nur so, Petinka, nur auf ein Weilchen“ zu ihm gekommen sei. „Ich bin, sieh mal, ja, ich bin weit gegangen, kam zufällig hier vorüber, und da trat ich eben auf ein Weilchen ein, um mich etwas auszuruhen. Jetzt will ich wieder gehen.“ Und dann nahm er still und ergeben seinen alten dünnen Mantel und den alten, abgetragenen Hut, klinkte vorsichtig wieder die Tür auf und ging – indem er sich noch zu einem Lächeln zwang, um das aufwallende Leid im Herzen zu unterdrücken und den Sohn nichts merken zu lassen. Doch wenn der Sohn ihn freundlich empfing, dann wußte er sich vor Freude kaum zu lassen. Sein Gesicht, seine Bewegungen, seine Hände – alles sprach dann von seinem Glück. Und wenn der Sohn mit ihm gar zu sprechen begann, erhob sich der Alte stets ein wenig vom Stuhle, antwortete leise und gleichsam untertänig, fast sogar ehrfürchtig, und immer bestrebt, sich der gewähltesten Ausdrücke zu bedienen, die in diesem Fall natürlich nur komisch wirkten. Hinzu kam, daß er entschieden nicht zu sprechen verstand: nach jeden paar Worten verwickelte er sich im Satz, wurde verlegen, wußte nicht, wo er die Hände, wo er sich selbst lassen sollte – und nachher flüsterte er dann noch mehrmals die Antwort vor sich hin, wie um das Gesagte zu verbessern. War es ihm aber gelungen, gut zu antworten, so war er ganz stolz, zog die Weste glatt, rückte an der Krawatte, zupfte den Rock an den Aufschlägen, und seine Miene nahm sogar den Ausdruck eines gewissen Selbstbewußtseins an. Bisweilen aber fühlte er sich dermaßen ermutigt, daß er geradezu kühn wurde: er stand vom Stuhl auf, ging zum Bücherregal, nahm irgendein Buch und begann zu lesen, gleichviel was für ein Buch es war. Und alles das tat er mit einer Miene, die größte Gleichmut und Kaltblütigkeit vortäuschen sollte, als habe er von jeher das Recht, mit den Büchern des Sohnes nach Belieben umzugehen, und als sei ihm dessen Freundlichkeit nichts Ungewohntes. Einmal aber sah ich zufällig, wie der Alte erschrak, als der Sohn ihn bat, die Bücher nicht anzurühren: er verlor vollständig den Kopf, beeilte sich, sein Vergehen wieder gut zu machen, wollte das Buch zwischen die anderen wieder hineinzwängen, verdrehte es aber, schob es mit dem Kopf nach unten hinein, zog es dann schnell wieder hervor, drehte es um und dann nochmals um und schob es von neuem falsch hinein, diesmal mit dem Rücken voran und dem Schnitt nach außen, lächelte dabei hilflos, wurde rot und wußte entschieden nicht, wie er sein Verbrechen sühnen sollte. Nach und nach gelang es dem Sohn, den Vater durch Vorhaltungen und gutes Zureden von seinen schlechten Gewohnheiten abzubringen, und wenn der Alte etwa dreimal nach der Reihe nüchtern erschienen war, gab er ihm das nächste Mal fünfundzwanzig oder fünfzig Kopeken, oder noch mehr. Bisweilen kaufte er ihm Stiefel, oder eine Weste, oder eine Krawatte, und wenn der Alte dann in seinem neuen Kleidungsstück erschien, war er stolz wie ein Hahn. Mitunter kam er auch zu uns und brachte Ssascha und mir Pfefferkuchen oder Äpfel und sprach dann natürlich nur von seinem Petinka. Er bat uns, während des Unterrichts aufmerksam und fleißig zu sein, und unserem Lehrer zu gehorchen, denn Petinka sei ein guter Sohn, sei der beste Sohn, den es überhaupt geben könnte, und obendrein, „ein so gelehrter Sohn“. Wenn er das sagte, zwinkerte er uns ganz komisch mit dem linken Auge zu, und sah uns so wichtig und bedeutsam an, daß wir uns gewöhnlich nicht bezwingen konnten und herzlich über ihn lachten. Mama hatte den Alten sehr gern. Anna Fedorowna wurde von ihm gehaßt, obschon er vor ihr „niedriger als Gras und stiller als Wasser“ war. Bald hörte ich auf, mich an dem Unterricht zu beteiligen. Pokrowskij hielt mich nach wie vor nur für ein Kind, für ein unartiges kleines Mädchen, wie Ssascha. Das kränkte mich sehr, denn ich hatte mich doch nach Kräften bemüht, mein früheres Benehmen wieder gut zu machen. Aber vergeblich: ich wurde überhaupt nicht beachtet. Das reizte und kränkte mich noch mehr. Ich sprach ja fast gar nicht mit ihm, außer während des Unterrichts, – ich konnte einfach nicht sprechen. Ich wurde rot und nachher weinte ich irgendwo in einem Winkel – vor Ärger über mich selbst. Ich weiß nicht, zu was das noch geführt haben würde, wenn uns nicht ein Zufall einander näher gebracht hätte. Das geschah folgendermaßen: Eines Abends, als Mama bei Anna Fedorowna saß, schlich ich mich heimlich in Pokrowskijs Zimmer. Ich wußte, daß er nicht zu Hause war, doch vermag ich wirklich nicht zu sagen, wie ich auf diesen Gedanken kam, in das Zimmer eines fremden Menschen zu gehen. Ich tat es zum erstenmal, obschon wir über ein Jahr Tür an Tür gewohnt hatten. Mein Herz klopfte so stark, als wollte es zerspringen. Ich sah mich mit einer eigentümlichen Neugier im Zimmer um: es war ganz einfach, sogar ärmlich eingerichtet, von Ordnung war nicht viel zu sehen. Auf dem Tisch und auf den Stühlen lagen Papiere, beschriebene Blätter. Überall nichts als Bücher und Papiere! Ein seltsamer Gedanke überkam mich plötzlich: es schien mir, daß meine Freundschaft, selbst meine Liebe wenig für ihn bedeuten könnten. Er war so gelehrt und ich so dumm, ich wußte nichts, las nichts, besaß kein einziges Buch ... Mit einem gewissen Neid blickte ich nach den langen Bücherregalen, die fast zu brechen drohten unter der schweren Last. Ärger erfaßte mich, und Groll und Sehnsucht und Wut! – Ich wollte gleichfalls Bücher lesen, seine Bücher, und alle ausnahmslos, und das so schnell als möglich! Ich weiß nicht, vielleicht dachte ich, daß ich, wenn ich alles wüßte, was er wußte, eher seine Freundschaft erwerben könnte, als so, da ich nichts wußte. Ich ging entschlossen zum ersten Bücherregal und nahm, ohne zu zögern, ohne auch nur nachzudenken, den ersten besten Band heraus – zufällig ein ganz altes, bestaubtes Buch – und brachte es, zitternd vor Aufregung und Angst, in unser Zimmer, um es in der Nacht, wenn Mama schlief, beim Schein des Nachtlämpchens zu lesen. Wie groß aber war mein Verdruß, als ich, in unserem Zimmer glücklich angelangt, das geraubte Buch aufschlug und sah, daß es ein uraltes, vergilbtes und von Würmern halb zerfressenes lateinisches Werk war. Ich besann mich nicht lange und kehrte schnell in sein Zimmer zurück. Doch gerade wie ich im Begriff war, das Buch wieder auf seinen alten Platz zurückzulegen, hörte ich plötzlich die Glastür zum Korridor öffnen und schließen und dann Schritte: jemand kam! Ich wollte mich beeilen, doch das abscheuliche Buch war so eng in der Reihe eingepreßt gewesen, daß die anderen Bücher, als ich dieses herausgenommen, unter dem verringerten Druck sogleich wieder dicker geworden waren, weshalb der frühere Schicksalsgenosse nicht mehr hineinpaßte. Mir fehlte die Kraft, um das Buch hineinzuzwängen. Die Schritte kamen näher: ich stieß mit aller Kraft die Bücher zur Seite, und – der verrostete Nagel, der das eine Ende des Bücherregals hielt und wohl nur auf diesen Augenblick gewartet hatte, um zu brechen, – brach. Das Brett stürzte krachend mit dem einen Ende zu Boden und die Bücher fielen mit Geräusch herab. Da ging die Tür auf und Pokrowskij trat ins Zimmer. Ich muß vorausschicken, daß er es nicht ausstehen konnte, wenn jemand in seinem Zimmer sich zu tun machte. Wehe dem, der gar seine Bücher anzurühren wagte! Wie groß war daher mein Entsetzen, als alle die großen und kleinen Bücher, die dicken und dünnen, eingebundenen und uneingebundenen herabstürzten, übereinander kollerten und unter dem Tisch und unter Stühlen und an der Wand in einem ganzen Haufen lagen. Ich wollte fortlaufen, doch dazu war es zu spät. „Jetzt ist es aus,“ dachte ich, „für immer aus! Ich bin verloren! Ich bin unartig, wie eine Zehnjährige, wie ein kleines dummes Mädchen! Ich bin kindisch und albern!“ Pokrowskij ärgerte sich entsetzlich. „Das fehlte gerade noch!“ rief er zornig. „Schämen Sie sich denn nicht! Werden Sie denn niemals Vernunft annehmen und die Kindertollheiten lassen?“ Und er machte sich daran, die Bücher aufzuheben. Ich bückte mich gleichfalls, um ihm zu helfen, doch er verbot es mir barsch: „Nicht nötig, nicht nötig, lassen Sie das jetzt! Sie täten besser, sich nicht da einzufinden, wohin man Sie nicht gerufen!“ Meine stille Hilfsbereitschaft, die vielleicht mein Schuldbewußtsein verriet, mochten ihn etwas besänftigen, wenigstens fuhr er in milderem, ermahnendem Tone fort, so wie er noch vor kurzer Zeit als Lehrer zu mir gesprochen: „Wann werden Sie endlich Ihre Unbesonnenheiten aufgeben, wann endlich etwas vernünftiger werden? So sehen Sie sich doch selbst an, Sie sind doch kein Kind, kein kleines Mädchen mehr, – Sie sind doch schon fünfzehn Jahre alt!“ Und da – wahrscheinlich um sich zu überzeugen, ob ich auch wirklich nicht mehr ein kleines Mädchen sei – sah er mich an und plötzlich errötete er bis über die Ohren. Ich begriff nicht, weshalb er errötete: ich stand vor ihm und sah ihn mit großen Augen verwundert an. Er wußte nicht, was tun, trat verlegen ein paar Schritte auf mich zu, geriet in noch größere Verwirrung, murmelte irgend etwas, als wolle er sich entschuldigen – vielleicht deswegen, weil er es erst jetzt bemerkt hatte, daß ich schon ein so großes Mädchen sei! Endlich begriff ich. Ich weiß nicht, was dann in mir vorging: ich sah gleichfalls verwirrt zu Boden, errötete noch mehr als Pokrowskij, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief aus dem Zimmer. Ich wußte nicht, was ich mit mir anfangen, wo ich mich vor Scham verstecken sollte. Schon das allein, daß er mich in seinem Zimmer vorgefunden hatte! Ganze drei Tage konnte ich ihn nicht ansehen. Ich errötete bis zu Tränen. Die schrecklichsten und lächerlichsten Gedanken jagten mir durch den Kopf. Einer der verrücktesten war wohl der, daß ich zu ihm gehen, ihm alles erklären, alles gestehen und offen alles erzählen wollte, um ihm dann zu versichern, daß ich nicht wie ein dummes Mädchen gehandelt habe, sondern in guter Absicht. Ich hatte mich sogar schon fest dazu entschlossen, doch zum Glück sank mein Mut und ich wagte es nicht, meinen Vorsatz auszuführen. Ich kann mir denken, was ich damit angestiftet hätte! Wirklich, ich schäme mich auch jetzt noch, überhaupt nur daran zu denken. Einige Tage darauf erkrankte Mama – ganz plötzlich und sogar sehr gefährlich. In der dritten Nacht stieg das Fieber und sie phantasierte heftig. Ich hatte schon eine Nacht nicht geschlafen und saß wieder an ihrem Bett, gab ihr zu trinken und zu bestimmten Stunden die vom Doktor verschriebene Arznei. In der folgenden Nacht versagte meine Widerstandskraft, ich war vollständig erschöpft. Von Zeit zu Zeit fielen mir die Augen zu, ich sah grüne Punkte tanzen, im Kopf drehte sich alles und jeden Augenblick wollte mich die Bewußtlosigkeit überwältigen, doch dann weckte mich wieder ein leises Stöhnen der Kranken: ich fuhr auf und erwachte für einen Augenblick, um von neuem, übermannt von der Mattigkeit, einzuschlummern. Ich quälte mich. Ich kann mich des Traumes, den ich damals hatte, nicht mehr genau entsinnen, es war aber irgendein schrecklicher Spuk, der mich während meines Kampfes gegen die mich immer wieder überwältigende Müdigkeit mit wirren Traumbildern ängstigte. Entsetzt wachte ich auf. Das Zimmer war dunkel, das Nachtlicht im Erlöschen: bald schlug die Flamme flackernd auf und heller Lichtschein erfüllte das Zimmer, bald zuckte nur ein kleines blaues Flämmchen und an den Wänden zitterten Schatten, um für Augenblicke fast vollständiger Dunkelheit zu weichen. Ich begann mich zu fürchten, ein seltsames Entsetzen erfaßte mich: meine Empfindungen und meine Phantasie standen noch unter dem Eindruck des grauenvollen Traumes und die Angst schnürte mir das Herz zusammen ... Ich sprang taumelnd vom Stuhl und schrie leise auf, unter dem quälenden Druck des unbestimmten Angstgefühls. In demselben Augenblick ging die Tür auf und Pokrowskij trat zu uns ins Zimmer. Ich weiß nur noch, daß ich in seinen Armen aus der Bewußtlosigkeit erwachte. Behutsam setzte er mich auf einen Stuhl, gab mir zu trinken und fragte mich besorgt irgend etwas, das ich nicht verstand. Ich erinnere mich nicht, was ich ihm antwortete. „Sie sind krank, Sie sind selbst sehr krank,“ sagte er, indem er meine Hand erfaßte. „Sie fiebern, Sie setzen Ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, wenn Sie sich so wenig schonen. Beruhigen Sie sich, legen Sie sich hin, schlafen Sie. Ich werde Sie in zwei Stunden wecken, beruhigen Sie sich nur ... Legen Sie sich hin, schlafen Sie ganz ruhig!“ redete er mir zu, ohne mich ein Wort des Widerspruchs sagen zu lassen. Die Erschöpfung hatte meine letzten Kräfte besiegt. Die Augen fielen mir vor Schwäche zu. Ich legte mich hin, um, wie ich mir fest vornahm, nur eine halbe Stunde zu schlafen, schlief aber bis zum Morgen: Pokrowskij weckte mich auf, als es Zeit war, Mama die Arznei einzugeben. Als ich mich am nächsten Tage nach einer kurzen Erholung wieder zur Nachtwache anschickte, entschlossen, diesmal nicht wieder einzuschlafen, wurde etwa gegen elf Uhr an unsere Tür geklopft: ich öffnete – es war Pokrowskij. „Es wird Sie langweilen, denke ich, so allein zu sitzen,“ sagte er, „hier, nehmen Sie dieses Buch, es wird Sie immerhin etwas zerstreuen.“ Ich nahm das Buch – ich habe vergessen, was für eines es war –, doch obschon ich die ganze Nacht nicht schlief, sah ich kaum einmal hinein. Es war eine eigentümliche innere Aufregung, die mir keine Ruhe ließ: ich konnte nicht schlafen, ich konnte nicht einmal längere Zeit ruhig im Lehnstuhl sitzen, – mehrmals stand ich auf, um eine Weile im Zimmer umherzugehen. Eine gewisse innere Zufriedenheit durchströmte mein ganzes Wesen. Ich war so froh über die Aufmerksamkeit Pokrowskijs. Ich war stolz auf seine Sorge, auf seine Bemühungen um mich. Die ganze Nacht dachte ich nur daran und träumte mit offenen Augen. Er kam nicht wieder und ich wußte, daß er in dieser Nacht nicht wieder kommen würde, aber ich malte mir dafür die nächste Begegnung aus. Am folgenden Abend, als die anderen alle schon zu Bett gegangen waren, öffnete Pokrowskij seine Tür und begann mit mir eine Unterhaltung, indem er auf der Schwelle seines Zimmers stehen blieb. Ich entsinne mich keines Wortes mehr von dem, was wir damals sprachen; ich weiß nur noch, daß ich schüchtern und verwirrt war, weshalb ich mich entsetzlich über mich ärgerte, und daß ich mit Ungeduld das Ende der Unterhaltung erwartete, obschon ich mit allen Fibern an ihr hing und den ganzen Tag an nichts anderes gedacht und mir sogar schon Fragen und Antworten zurecht gelegt hatte ... Mit diesem Gespräch begann unsere Freundschaft. Während der ganzen Dauer von Mamas Krankheit verbrachten wir jeden Abend einige Stunden zusammen. Allmählich überwand ich meine Schüchternheit, wenn ich auch nach jedem Gespräch immer noch Ursache hatte, über mich selbst ungehalten zu sein. Übrigens erfüllte es mich mit geheimer Freude und stolzer Genugtuung, als ich sah, daß er um meinetwillen seine unausstehlichen Bücher vergaß. Einmal kamen wir zufällig darauf zu sprechen, wie sie damals vom Bücherbrett gefallen waren – natürlich im Scherz. Es war ein seltsamer Augenblick: ich glaube, ich war _gar_ zu aufrichtig und naiv. Eine seltsame Begeisterung riß mich mit sich fort und ich gestand ihm alles ... gestand ihm, daß ich lernen wollte, um etwas zu wissen, wie es mich geärgert, daß man mich für ein kleines Mädchen gehalten ... Wie gesagt, ich befand mich in einer sehr sonderbaren Stimmung: mein Herz war weich und in meinen Augen standen Tränen, – ich verheimlichte ihm nichts, ich sagte ihm alles, alles, erzählte ihm von meiner Freundschaft zu ihm, von meinem Wunsch, ihn zu lieben, seinem Herzen nahe zu sein, ihn zu trösten, zu beruhigen ... Er sah mich eigentümlich an, er schien verwirrt und erstaunt zugleich zu sein und sagte kein Wort. Das tat mir plötzlich sehr weh und machte mich traurig. Ich glaubte, er verstehe mich nicht und mache sich in Gedanken vielleicht sogar über mich lustig. Und plötzlich brach ich in Tränen aus und weinte wie ein Kind: es war mir unmöglich, mich zu beherrschen, wie ein Krampf hatte es mich erfaßt. Er ergriff meine Hände, küßte sie, drückte sie an die Brust, redete mir zu, tröstete mich. Es mußte ihm sehr nahe gegangen sein, denn er war tief gerührt. Ich erinnere mich nicht mehr, was er zu mir sprach, ich weinte und lachte und errötete und weinte wieder vor lauter Seligkeit, und konnte selbst kein Wort hervorbringen. Dennoch entging mir nicht, daß in Pokrowskij eine gewisse Verwirrung und Gezwungenheit zurückblieb. Offenbar konnte er sich über meinen Gefühlsausbruch, über eine so plötzliche, glühende Freundschaft nicht genug wundern. Vielleicht war zu Anfang nur sein Interesse geweckt, doch späterhin verlor sich seine Zurückhaltung und er erwiderte meine Anhänglichkeit, meine freundlichen Worte, meine Aufmerksamkeit mit ebenso aufrichtigen, ehrlichen Gefühlen, wie ich sie ihm entgegenbrachte, und war so aufmerksam und freundlich zu mir, wie ein aufrichtiger Freund, wie mein leiblicher Bruder. In meinem Herzen war es so warm, so gut ... Ich verheimlichte nichts und verstellte mich nicht: was ich fühlte, das sah er, und mit jedem Tage trat er mir näher, wurde seine Freundschaft zu mir größer. Wirklich, ich vermag es nicht zu sagen, wovon wir in jenen qualvollen und doch süßen Stunden unseres nächtlichen Beisammenseins beim zitternden Licht des Lämpchens vor dem Heiligenbilde und fast dicht am Bett meiner armen, kranken Mutter sprachen ... Wir sprachen von allem, was uns einfiel, wovon das Herz voll war – und wir waren fast glücklich ... Ach, es war eine traurige und doch frohe Zeit, beides zugleich. Auch jetzt noch bin ich traurig und froh, wenn ich an sie zurückdenke. Erinnerungen sind immer quälend, gleichviel ob es traurige oder frohe sind. Wenigstens ist es bei mir so – freilich liegt in dieser Qual zugleich auch eine gewisse Süße. Aber wenn es einem schwer wird ums Herz und weh, und wenn man sich quält und traurig ist, dann sind Erinnerungen erfrischend und belebend wie nach einem heißen Tage kühler Tau, der am feuchten Abend die arme, in der Sonnenglut des Tages welk gewordene Blume erfrischt und wieder belebt. Mama war bereits auf dem Wege der Besserung – trotzdem fuhr ich fort, die Nächte an ihrem Bett zu verbringen. Pokrowskij gab mir Bücher: anfangs las ich sie nur, um nicht einzuschlafen, dann aufmerksamer und zuletzt mit wahrer Gier. Es war mir, als täte sich eine ganze Welt neuer, mir bis dahin unbekannter, ungeahnter Dinge auf. Neue Gedanken, neue Eindrücke stürmten in Überfülle auf mich ein. Und je mehr Aufregung, je mehr Arbeit und Kampf mich die Aufnahme dieser neuen Eindrücke kostete, um so lieber waren sie mir, um so freudvoller erschütterten sie meine ganze Seele. Mit einem Schlage, ganz plötzlich drängten sie sich in mein Herz und ließen es keine Ruhe mehr finden. Es war ein eigentümliches Chaos, das mein ganzes Wesen aufzuregen begann. Nur konnte mich diese geistige Vergewaltigung doch nicht vernichten. Ich war gar zu verschwärmt und träumerisch, und das rettete mich. Als meine Mutter die Krankheit glücklich überstanden hatte, hörten unsere abendlichen Zusammenkünfte und langen Gespräche auf. Nur hin und wieder fanden wir Gelegenheit, ein paar bedeutungslose, ganz gleichgültige Worte mit einander zu wechseln, doch tröstete ich mich damit, daß ich jedem nichtssagenden Wort eine besondere Bedeutung verlieh und ihm einen geheimen Sinn unterschob. Mein Leben war voll Inhalt, ich war glücklich, war still und ruhig glücklich. Und so vergingen mehrere Wochen ... Da trat einmal, wie zufällig, der alte Pokrowskij zu uns ins Zimmer. Er schwatzte wieder alles mögliche, war bei auffallend guter Laune, scherzte und war sogar witzig, so in seiner Art witzig, – bis er endlich mit der großen Neuigkeit, die zugleich die Lösung des Rätsels seiner guten Laune war, herauskam, und uns mitteilte, daß genau eine Woche später Petinkas Geburtstag sei und daß er an jenem Tage unbedingt zu seinem Sohne kommen werde. Er wolle dann die neue Weste anlegen, und seine Frau, sagte er, habe versprochen, ihm neue Stiefel zu kaufen. Kurz, der Alte war mehr als glücklich und schwatzte unermüdlich. Sein Geburtstag also! Dieser Geburtstag ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe. Ich beschloß sogleich, ihm zum Beweis meiner Freundschaft unbedingt etwas zu schenken. Aber was? Endlich kam mir ein guter Gedanke: ich wollte ihm Bücher schenken. Ich wußte, daß er gern die neueste Gesamtausgabe der Werke Puschkins besessen hätte und so beschloß ich, ihm dieselbe zu kaufen. Ich besaß an eigenem Gelde etwa dreißig Rubel, die ich mir mit Handarbeiten verdient hatte. Dieses Geld war eigentlich für ein neues Kleid bestimmt, das ich mir anschaffen sollte. Doch ich schickte sogleich unsere Küchenmagd, die alte Matrjona, zum nächsten Buchhändler, um sich zu erkundigen, wieviel die neueste Ausgabe der Werke Puschkins koste. O, das Unglück! Der Preis aller elf Bände war, wenn man sie in gebundenen Exemplaren wollte, etwa sechzig Rubel. Woher das Geld nehmen? Ich sann und grübelte und wußte nicht, was tun. Mama um Geld bitten, das wollte ich nicht. Sie würde es mir natürlich sofort gegeben haben, doch dann hätten alle erfahren, daß wir ihm ein Geschenk machten. Und außerdem wäre es dann kein Geschenk mehr gewesen, sondern gewissermaßen eine Entschädigung für seine Mühe, die er das ganze Jahr mit mir gehabt. Ich aber wollte ihm die Bücher ganz allein, ganz heimlich schenken. Für die Mühe aber, die er beim Unterricht mit mir gehabt, wollte ich ihm ewig zu Dank verpflichtet sein, ohne ein anderes Entgelt dafür, als meine Freundschaft. Endlich verfiel ich auf einen Ausweg. Ich wußte, daß man bei den Antiquaren im Gostinnyj Dworr[4] die neuesten Bücher für den halben Preis erstehen konnte, wenn man nur zu handeln verstand. Oft waren es nur wenig mitgenommene, oft sogar fast ganz neue Bücher. Dabei blieb es: ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit nach dem Gostinnyj Dworr zu gehen. Diese Gelegenheit fand sich schon am folgenden Tage: Mama hatte irgend etwas nötig, das aus einer Handlung besorgt werden sollte, und Anna Fedorowna gleichfalls, doch Mama fühlte sich nicht ganz wohl und Anna Fedorowna hatte zum Glück gerade keine Lust zum Ausgehen. So kam es, daß ich mit Matrjona alles besorgen mußte. Ich fand sehr bald die betreffende Ausgabe, und zwar in einem hübschen und gut erhaltenen Einbande. Ich fragte nach dem Preise. Zuerst verlangte der Mann mehr, als die Ausgabe in der Buchhandlung kostete, doch nach und nach brachte ich ihn so weit – was übrigens gar nicht so leicht war – daß er, nachdem ich mehrmals fortgegangen und so getan hatte, als wolle ich mich an einen anderen wenden, nach und nach vom Preise abließ und seine Forderung schließlich auf fünfunddreißig Rubel festsetzte. Welch ein Vergnügen es mir war, zu handeln! Die arme Matrjona konnte gar nicht begreifen, was in mich gefahren war und wozu in aller Welt ich soviel Bücher kaufen wollte. Doch wer beschreibt schließlich meinen Ärger: ich besaß im ganzen nur meine dreißig Rubel, und der Kaufmann wollte mir die Bücher unter keinen Umständen billiger abtreten. Ich bat aber und flehte und beredete ihn so lange, bis er sich zu guter Letzt doch erweichen ließ: er ließ noch etwas ab, aber nur zweieinhalb Rubel, mehr, sagte er, könne er bei allen Heiligen nicht ablassen, und er schwor und beteuerte immer wieder, daß er es nur für mich tue, weil ich ein so nettes Fräulein sei, und daß er einem anderen Käufer nie und nimmer so viel abgelassen hätte. Zweieinhalb Rubel fehlten mir! Ich war nahe daran, vor Verdruß in Tränen auszubrechen. Doch da rettete mich etwas ganz Unvorhergesehenes. Nicht weit von mir erblickte ich plötzlich den alten Pokrowskij, der an einem der anderen Büchertische stand. Vier oder fünf der Antiquare umringten ihn und schienen ihn durch ihre lebhaften Anpreisungen bereits ganz eingeschüchtert zu haben. Ein jeder bot ihm einige seiner Bücher an, die verschiedensten, die man sich nur denken kann: mein Gott, was er nicht alles kaufen wollte! Der arme Alte war ganz hilf- und ratlos und wußte nicht, für welches der vielen Bücher, die ihm von allen Seiten empfohlen wurden, er sich nun eigentlich entscheiden sollte. Ich trat auf ihn zu und fragte, was er denn hier suche. Der Alte war sehr froh über mein Erscheinen; er liebte mich sehr, vielleicht gar nicht so viel weniger als seinen Petinka. „Ja, eben, sehen Sie, ich kaufe da eben Büchelchen, Warwara Alexejewna,“ antwortete er, „für Petinka kaufe ich ein paar Büchelchen. Sein Geburtstag ist bald und er liebt doch am meisten Bücher, und da kaufe ich sie denn eben für ihn ...“ Der Alte drückte sich immer sehr sonderbar aus, diesmal aber war er noch dazu völlig verwirrt. Was er auch kaufen wollte, immer kostete es über einen Rubel, zwei oder gar drei Rubel. An die großen Bände wagte er sich schon gar nicht heran, blickte nur so von der Seite mit verlangendem Lächeln nach ihnen hin, blätterte etwas in ihnen – ganz zaghaft und ehrfurchtsvoll langsam – besah wohl auch das eine oder andere Buch von allen Seiten, drehte es in der Hand und stellte es wieder an seinen Platz zurück. „Nein, nein, das ist zu teuer,“ sagte er dann halblaut, „aber von hier vielleicht etwas ...“ Und er begann, unter den dünnen Broschüren und Heftchen, unter Liederbüchern und alten Kalendern zu suchen: die waren natürlich billig. „Aber weshalb wollen Sie denn so etwas kaufen,“ fragte ich ihn, „diese Heftchen sind doch nichts wert!“ „Ach nein,“ versetzte er, „nein, sehen Sie nur, was für hübsche Büchelchen hier unter diesen sind, sehen Sie, wie hübsch!“ – Die letzten Worte sprach er so wehmütig und gleichsam zögernd in stockendem Tone, daß ich schon befürchtete, er werde sogleich zu weinen anfangen – vor lauter Kummer darüber, daß die hübschen Bücher so teuer waren – und daß sogleich ein Tränlein über seine bleiche Wange an der roten Nase vorüberrollen werde. Ich fragte ihn schnell, wieviel Geld er habe. „Da, hier,“ – damit zog der Arme sein ganzes Vermögen hervor, das in ein schmutziges Stückchen Zeitungspapier eingewickelt war – „hier, sehen Sie, ein halbes Rubelchen, ein Zwanzigkopekenstück, hier Kupfer, auch so zwanzig Kopeken ...“ Ich zog ihn sogleich zu meinem Antiquar. „Hier, sehen Sie, sind ganze elf Bände, die alle zusammen zweiunddreißig Rubel und fünfzig Kopeken kosten. Ich habe dreißig, legen Sie jetzt zweieinhalb hinzu und wir kaufen alle diese elf Bücher und schenken sie ihm gemeinsam!“ Der Alte verlor fast den Kopf vor Freude, schüttelte mit zitternden Händen all sein Geld aus der Tasche, worauf ihm dann der Antiquar unsere ganze neuerstandene Bibliothek auflud. Mein Alterchen steckte die Bücher in alle Taschen, belud mit dem Rest Arme und Hände, und trug sie dann alle zu sich nach Haus, nachdem er mir sein Wort gegeben, daß er sie am nächsten Tage ganz heimlich zu uns bringen werde. Richtig, am nächsten Tage kam er zu dem Sohn, saß wie gewöhnlich ein Stündchen bei ihm, kam dann zu uns und setzte sich mit einer unsagbar komischen und geheimnisvollen Miene zu mir. Lächelnd und die Hände reibend, stolz im Bewußtsein, daß er ein Geheimnis besaß, teilte er mir heimlich mit, daß er die Bücher alle ganz unbemerkt zu uns gebracht und in der Küche versteckt habe, woselbst sie unter Matrjonas Schutz bis zum Geburtstage unbemerkt verbleiben konnten. Dann kam das Gespräch natürlich auf das bevorstehende große „Fest“. Der Alte begann sehr weitschweifig darüber zu reden, wie die Überreichung des Geschenkes vor sich gehen sollte, und je mehr er sich in dieses Thema vertiefte, je mehr und je unklarer er darüber sprach, um so deutlicher merkte ich, daß er etwas auf dem Herzen hatte, was er nicht sagen wollte oder nicht zu sagen verstand, vielleicht aber auch nicht recht zu sagen wagte. Ich schwieg und wartete. Seine geheime Freude und seine groteske Vergnügtheit, die sich anfangs in seinen Gebärden, in seinem ganzen Mienenspiel, in seinem Schmunzeln und einem gewissen Zwinkern mit dem linken Auge verraten hatten, waren allmählich verschwunden. Er war sichtlich von innerer Unruhe geplagt und schaute immer bekümmerter drein. Endlich hielt er es nicht länger aus und begann zaghaft: „Hören Sie, wie wäre es, sehen Sie mal, Warwara Alexejewna ... wissen Sie was, Warwara Alexejewna? ...“ Der Alte war ganz konfus. „Ja, sehen Sie: wenn nun jetzt sein Geburtstag kommt, dann nehmen Sie zehn Bücher und schenken ihm diese selbst, das heißt also von sich aus, von Ihrer Seite sozusagen ... ich aber werde dann den letzten Band nehmen und ihn ganz allein von mir aus überreichen, also sozusagen ausdrücklich von meiner Seite. Sehen Sie, dann haben Sie etwas zu schenken, und auch ich habe etwas zu schenken, wir werden dann eben sozusagen beide etwas zu schenken haben ...“ Hier geriet der Alte ins Stocken und wußte nicht, wie er fortfahren sollte. Ich sah von meiner Arbeit auf: er saß ganz still und erwartete schüchtern, was ich wohl dazu sagen werde. „Aber weshalb wollen Sie denn nicht gemeinsam mit mir schenken, Sachar Petrowitsch?“ fragte ich. „Ja so, Warwara Alexejewna, das ist schon so, wie gesagt ... – ich meine ja nur eben sozusagen ...“ Kurz, der Alte verstand sich nicht auszudrücken, blieb wieder stecken und kam nicht weiter. „Sehen Sie,“ hub er dann nach kurzem Schweigen von neuem an, „ich habe nämlich, müssen Sie wissen, den Fehler, daß ich mitunter nicht ganz so bin, wie man sein muß ... das heißt, ich will Ihnen gestehen, Warwara Alexejewna, daß ich eigentlich immer dumme Streiche mache ... das ist nun schon einmal so mit mir ... und ist gewiß sehr schlecht von mir ... Das kommt, sehen Sie, ganz verschiedentlich ... es ist draußen mitunter so eine Kälte, auch gibt es da Unannehmlichkeiten, oder man ist eben einmal wehmütig gestimmt, oder es geschieht sonst irgend etwas nicht Gutes, und da halte ich es denn mitunter nicht aus und schlage eben über die Schnur und trinke ein überflüssiges Gläschen. Dem Petruscha aber ist das sehr unangenehm. Denn er, sehen Sie, er ärgert sich darüber und schilt mich und erklärt mir, was Moral ist. Also deshalb, sehen Sie, würde ich ihm jetzt gern mit meinem Geschenk beweisen, daß ich anfange, mich gut aufzuführen, seine Lehren zu beherzigen und überhaupt mich zu bessern. Daß ich also, mit anderen Worten, gespart habe, um das Buch zu kaufen, lange gespart, denn ich habe doch selbst gar kein Geld, sehen Sie, es sei denn, daß Petinka mir hin und wieder welches gibt. Das weiß er. Also wird er dann sehen, wozu ich sein Geld benutzt habe: daß ich alles nur für ihn tue.“ Er tat mir so leid, der Alte! Ich dachte nicht lange nach. Der Alte sah mich in erwartungsvoller Unruhe an. „Hören Sie, Sachar Petrowitsch,“ sagte ich, „schenken Sie sie ihm alle.“ „Wie alle? Alle Bände?“ „Nun ja, alle Bände.“ „Und das von mir, von meiner Seite?“ „Ja, von Ihrer Seite.“ „Ganz allein von mir? Das heißt, in meinem Namen?“ „Nun ja doch, versteht sich, in Ihrem Namen.“ Ich glaube, daß ich mich deutlich genug ausdrückte, doch es dauerte eine Zeitlang, bis der Alte mich begriff. „Na ja,“ sagte er schließlich nachdenklich, „ja! – das würde sehr gut sein, wirklich sehr gut, aber wie bleibt es dann mit Ihnen, Warwara Alexejewna?“ „Ich werde dann einfach nichts schenken.“ „Wie!“ rief der Alte fast erschrocken, „Sie werden Petinka nichts schenken? Sie wollen ihm kein Geschenk machen?“ Ich bin überzeugt, daß der Alte in diesem Augenblick im Begriff war, das Angebot zurückzuweisen, nur damit auch ich seinem Sohne etwas schenken könne. Er war doch ein herzensguter Mensch, dieser Alte! Ich versicherte ihm zugleich, daß ich ja sehr gern schenken würde, nur wolle ich ihm die Freude nicht schmälern. „Und wenn Ihr Sohn mit dem Geschenk zufrieden sein wird,“ fuhr ich fort, „und Sie sich freuen werden, dann werde auch ich mich freuen.“ Damit gelang es mir, den Alten zu beruhigen. Er blieb noch ganze zwei Stunden bei uns, vermochte aber in dieser Zeit keine Minute lang ruhig zu sitzen: er erhob sich, ging umher, sprach lauter als je, tollte mit Ssascha umher, küßte heimlich meine Hand, und schnitt Gesichter hinter Anna Fedorownas Stuhl, bis diese ihn endlich nach Hause schickte. Kurz, der Alte war rein aus Rand und Band vor lauter Freude, wie er es bis dahin vielleicht in seinem ganzen Leben noch nicht gewesen war. Am Morgen des feierlichen Tages erschien er pünktlich um elf Uhr, gleich von der Frühmesse aus, erschien in anständigem, ausgebessertem Rock und tatsächlich in neuen Stiefeln und mit neuer Weste. In jeder Hand trug er ein Bündel Bücher – Matrjona hatte ihm dazu zwei Servietten geliehen. Wir saßen gerade alle bei Anna Fedorowna und tranken Kaffee (es war ein Sonntag). Der Alte begann, glaube ich, damit, daß Puschkin ein sehr guter Dichter gewesen sei; davon ging er, übrigens nicht ohne gewisse Unsicherheit und Verlegenheit und mehr als einmal stockend, aber doch ziemlich plötzlich, auf ein anderes Thema über, nämlich darauf, daß man sich gut aufführen müsse: wenn der Mensch das nicht tue, so sei das ein Zeichen, daß er „dumme Streiche mache“. Schlechte Neigungen hätten eben von jeher den Menschen herabgezogen und verdorben. Ja, er zählte sogar mehrere abschreckende Beispiele von Unenthaltsamkeit auf, und schloß damit, daß er selbst sich seit einiger Zeit vollkommen gebessert habe und sich jetzt musterhaft aufführe. Er habe auch früher schon die Richtigkeit der Lehren seines Sohnes erkannt und sie schon lange innerlich beherzigt, jetzt aber habe er begonnen, sich auch in der Tat aller schlechten Dinge zu enthalten und so zu leben, wie er es seiner Erkenntnis gemäß für richtig halte. Zum Beweis aber schenke er hiermit die Bücher, für die er sich im Laufe einer langen Zeit das nötige Geld zusammengespart habe. Ich hatte Mühe, mir die Tränen und das Lachen zu verbeißen, während der arme Alte redete. So hatte er es doch verstanden, zu lügen, sobald es nötig war! Die Bücher wurden sogleich feierlich in Pokrowskijs Zimmer gebracht und auf dem Bücherbrett aufgestellt. Pokrowskij selbst hatte natürlich sofort die Wahrheit erraten. Der Alte wurde aufgefordert, zum Mittagessen zu bleiben. Wir waren an diesem Tage alle recht lustig. Nach dem Essen spielten wir ein Pfänderspiel und dann Karten. Ssascha tollte und war so ausgelassen wie nur je, und ich stand ihr in nichts nach. Pokrowskij war sehr aufmerksam gegen mich und suchte immer nach einer Gelegenheit, mich unter vier Augen zu sprechen, doch ließ ich mich nicht einfangen. Das war der schönste Tag in diesen vier Jahren meines Lebens! Jetzt, von ihm ab, kommen nur noch traurige, schwere Erinnerungen, jetzt beginnt die Geschichte meiner dunklen Tage. Wohl deshalb will es mir scheinen, als ob meine Feder langsamer schreibe, als beginne sie, müde zu werden und als wolle es nicht gut weiter gehen mit dem Erzählen. Deshalb habe ich wohl auch so ausführlich und mit so viel Liebe alle Einzelheiten meiner Erlebnisse in jenen glücklichen Tagen meines Lebens beschrieben. Sie waren ja so kurz, diese Tage. So bald wurden sie von Kummer, von schwerem Kummer verdrängt, und nur Gott allein mag wissen, wann der einmal ein Ende nehmen wird. Mein Unglück begann mit der Krankheit und dem Tode Pokrowskijs. Es waren etwa zwei Monate seit seinem Geburtstage vergangen, als er erkrankte. In diesen zwei Monaten hatte er sich unermüdlich um eine Anstellung, die ihm eine Existenzmöglichkeit gewährt hätte, bemüht, denn bis dahin hatte er ja noch nichts. Wie alle Schwindsüchtigen, gab auch er die Hoffnung, noch lange zu leben, bis zum letzten Augenblick nicht auf. Einmal sollte er irgendwo als Lehrer angestellt werden, doch hatte er einen unüberwindlichen Widerwillen gegen diesen Beruf. In den Staatsdienst zu treten, verbot ihm seine angegriffene Gesundheit. Außerdem hätte er dort lange auf das erste etatsmäßige Gehalt warten müssen. Kurz, Pokrowskij sah überall nichts als Mißerfolge. Das war natürlich von schlechtem Einfluß auf ihn. Er rieb sich auf. Er opferte seine Gesundheit. Freilich beachtete er es nicht. Der Herbst kam. Jeden Tag ging er in seinem leichten Mantel aus, um wieder irgendwo um eine Anstellung zu bitten, – was ihm dabei eine Qual war. Und so kam er dann immer müde, hungrig, vom Regen durchnäßt und mit nassen Füßen nach Haus, bis er endlich so weit war, daß er sich zu Bett legen mußte – um nicht wieder aufzustehen ... Er starb im Spätherbst, Ende Oktober. Ich pflegte ihn. Während der ganzen Dauer seiner Krankheit verließ ich nur selten sein Zimmer. Oft schlief ich ganze Nächte nicht. Meist lag er bewußtlos im Fieber und phantasierte; dann sprach er Gott weiß wovon, zuweilen auch von der Anstellung, die er in Aussicht hatte, von seinen Büchern, von mir, vom Vater ... und da erst hörte ich vieles von seinen Verhältnissen, was ich noch gar nicht gewußt und nicht einmal geahnt hatte. In der ersten Zeit seiner Krankheit und meiner Pflege sahen mich alle im Hause etwas sonderbar an, und Anna Fedorowna schüttelte den Kopf. Doch ich blickte allen offen in die Augen, und da hörte man denn auf, meine Teilnahme für den Kranken zu verurteilen – wenigstens Mama tat es nicht mehr. Hin und wieder erkannte mich Pokrowskij, doch geschah das verhältnismäßig selten. Er war fast die ganze Zeit nicht bei Besinnung. Bisweilen sprach er lange, lange, oft ganze Nächte lang in unklaren, dunklen Worten zu irgend jemand, und seine heisere Stimme klang in dem engen Zimmer so dumpf wie in einem Sarge. Dann fürchtete ich mich. Namentlich in der letzten Nacht war er wie rasend: er litt entsetzlich und quälte sich, und sein Stöhnen zerriß mir das Herz. Alle im Hause waren erschüttert. Anna Fedorowna betete die ganze Zeit, Gott möge ihn schneller erlösen. Der Arzt wurde gerufen. Er sagte, daß der Kranke wohl nur noch bis zum nächsten Morgen leben werde. Der alte Pokrowskij verbrachte die ganze Nacht im Korridor, dicht an der Tür zum Zimmer seines Sohnes: dort hatte man ihm ein Lager zurecht gemacht, irgendeine Matte als Unterlage auf den Fußboden gelegt. Jeden Augenblick kam er ins Zimmer, – es war schrecklich, ihn anzusehen. Der Schmerz hatte ihn so gebrochen, daß er fast vollkommen teilnahmslos, ganz gefühllos und gedankenlos erschien. Sein Kopf zitterte. Sein ganzer Körper zitterte und sein Mund flüsterte mechanisch irgend etwas vor sich hin. Es schien mir, daß er vor Schmerz den Verstand verlieren werde. Vor Tagesanbruch sank der Alte auf seiner Matte im Korridor endlich in Schlaf. Gegen acht Uhr begann der Sohn zu sterben. Ich weckte den Vater. Pokrowskij war bei vollem Bewußtsein und nahm von uns allen Abschied. Seltsam! Ich konnte nicht weinen, aber ich glaubte es körperlich zu fühlen, wie mein Herz in Stücke zerriß. Doch das Qualvollste waren für mich seine letzten Augenblicke. Er bat lange, lange um irgend etwas, doch konnte ich seine Worte nicht mehr verstehen, da seine Zunge bereits steif war. Mein Herz krampfte sich zusammen. Eine ganze Stunde war er unruhig, und immer wieder bat er um irgend etwas, bemühte er sich, mit seiner bereits steif gewordenen Hand ein Zeichen zu machen, um dann wieder mit trauriger, dumpf-heiserer Stimme um etwas zu bitten – doch die Worte waren nur zusammenhanglose Laute, und wieder konnte ich nichts verstehen. Ich führte alle einzeln an sein Bett, reichte ihm zu trinken, er aber schüttelte immer nur langsam den Kopf und sah mich so traurig an. Endlich erriet ich, was er wollte: er bat, den Fenstervorhang aufzuziehen und die Läden zu öffnen. Er wollte wohl noch einmal den Tag sehen, das Gotteslicht, die Sonne. Ich zog den Vorhang fort und stieß die Läden auf, doch der anbrechende Tag war trübe und traurig, wie das erlöschende arme Leben des Sterbenden. Von der Sonne war nichts zu sehen. Wolken verhüllten den Himmel mit einer dicken Nebelschicht, so regnerisch, düster und schwermütig war es. Ein feiner Regen schlug leise an die Fensterscheiben und rann in klaren, kalten Wasserstreifen an ihnen herab. Es war trüb und dunkel. Das bleiche Tageslicht drang nur spärlich ins Zimmer, wo es das zitternde Licht des Lämpchens vor dem Heiligenbilde kaum merklich verdrängte. Der Sterbende sah mich traurig, so traurig an und bewegte dann leise, wie zu einem müden Schütteln, den Kopf. Nach einer Minute starb er. Für die Beerdigung sorgte Anna Fedorowna. Es wurde ein ganz, ganz einfacher Sarg gekauft und ein Lastwagen gemietet. Zur Deckung der Unkosten aber wurden alle Bücher und Sachen des Verstorbenen von Anna Fedorowna beschlagnahmt. Der Alte wollte ihr die Hinterlassenschaft seines Sohnes nicht abtreten, stritt mit ihr, lärmte, nahm ihr die Bücher fort, stopfte sie in alle Taschen, in den Hut, wo immer er sie nur unterbringen konnte, schleppte sie drei Tage mit sich herum und trennte sich auch dann nicht von ihnen, als wir zur Kirche gehen mußten. Alle diese Tage war er ganz wie ein Geistesgestörter. Mit einer seltsamen Geschäftigkeit machte er sich ewig etwas am Sarge zu schaffen: bald zupfte er ein wenig die grünen Blätter zurecht, bald zündete er die Kerzen an, um sie wieder auszulöschen und dann wieder anzuzünden. Man sah es, daß seine Gedanken nicht länger als einen Augenblick bei etwas Bestimmtem verweilen konnten. Der Totenmesse in der Kirche wohnten weder Mama noch Anna Fedorowna bei. Mama war krank, Anna Fedorowna aber, die sich bereits angekleidet hatte, geriet wieder mit dem alten Pokrowskij in Streit, ärgerte sich und blieb zu Haus. So waren nur ich und der Alte in der Kirche. Während des Gottesdienstes ergriff mich plötzlich eine unsagbare Angst – wie eine dunkle Ahnung dessen, was mir bevorstand. Ich konnte mich kaum auf den Füßen halten. Endlich wurde der Sarg geschlossen, auf den Lastwagen gehoben und fortgeführt. Ich begleitete ihn nur bis zum Ende der Straße. Dann fuhr der Fuhrmann im Trab weiter. Der Alte lief hinter ihm her und weinte laut, und sein Weinen zitterte und brach oft ab, da das Laufen ihn erschütterte. Der Arme verlor seinen Hut, blieb aber nicht stehen, um ihn aufzuheben, sondern lief weiter. Sein Kopf wurde naß vom Regen. Ein scharfer, kalter Wind erhob sich und schnitt ins Gesicht. Doch der Alte schien nichts davon zu spüren und lief weinend weiter, bald an der einen, bald an der anderen Seite des Wagens. Die langen Schöße seines fadenscheinigen alten Überrocks flatterten wie Flügel im Winde. Aus allen Taschen sahen Bücher hervor und im Arm trug er irgendein großes schweres Buch, das er krampfhaft umklammerte und an die Brust drückte. Die Vorübergehenden nahmen die Mützen ab und bekreuzten sich. Einige blieben stehen und schauten verwundert dem armen Alten nach. Alle Augenblicke fiel ihm aus einer Tasche ein Buch in den Straßenschmutz. Dann rief man ihn an, hielt ihn zurück und machte ihn auf seinen Verlust aufmerksam. Und er hob das Buch auf und lief wieder weiter, dem Sarge nach. Kurz vor der Straßenecke schloß sich ihm eine alte Bettlerin an und folgte gleichfalls dem Sarge. Endlich bog der Wagen um die Straßenecke und verschwand. Ich ging nach Hause. Zitternd vor Weh warf ich mich meiner Mutter an die Brust. Ich umschlang sie fest mit meinen Armen und küßte sie und plötzlich brach ich in Tränen aus. Und ich schmiegte mich angstvoll an die einzige, die mir als mein letzter Freund noch geblieben war, als hätte ich sie für immer festhalten wollen, damit der Tod mir nicht auch sie noch entreiße ... Doch der Tod schwebte damals schon über meiner armen Mutter ... * * * * * 11. Juni. Wie dankbar bin ich Ihnen, Makar Alexejewitsch, für den gestrigen Spaziergang nach den Inseln! Wie schön es dort war, wie wundervoll grün, und die Luft wie köstlich! – Ich hatte so lange keinen Rasen und keine Bäume gesehen, – als ich krank war, dachte ich doch, daß ich sterben müsse, daß ich bestimmt sterben werde – nun können Sie sich denken, was ich gestern fühlen mußte, und was empfinden! Seien Sie mir nicht böse, daß ich so traurig war. Ich fühlte mich sehr wohl und leicht, aber gerade in meinen besten Stunden werde ich aus irgendeinem Grunde traurig; so geht es mir immer. Und daß ich weinte, das hatte auch nichts auf sich, ich weiß selbst nicht, weshalb ich immer weinen muß. Ich bin, das fühle ich, krankhaft überreizt, alle Eindrücke, die ich empfange, sind krankhaft – krankhaft heftig. Der wolkenlose blasse Himmel, der Sonnenuntergang, die Abendstille – alles das – ich weiß wirklich nicht, – ich war gestern jedenfalls in der Stimmung, alle Eindrücke schwer und qualvoll zu nehmen, so daß das Herz bald übervoll war und die Seele nach Tränen verlangte. Doch wozu schreibe ich Ihnen das alles? Das Herz wird sich nur so schwer über alles dies klar, um wie viel schwerer ist es da noch, alles wiederzugeben! Aber vielleicht verstehen Sie mich doch. Leid und Freude! Wie gut Sie doch sind, Makar Alexejewitsch! Gestern blickten Sie mir so in die Augen, als wollten Sie in ihnen lesen, was ich empfand, und Sie waren glücklich über meine Freude. War es ein Strauch, eine Allee oder ein Wasserstreifen – immer standen Sie da vor mir und fühlten sich ganz stolz und schauten mir immer wieder in die Augen, als wäre alles, was Sie mir da zeigten, Ihr Eigentum gewesen. Das beweist, daß Sie ein gutes Herz haben, Makar Alexejewitsch. Deshalb liebe ich Sie ja auch. Nun leben Sie wohl. Ich bin heute wieder krank: gestern bekam ich nasse Füße und habe mich infolgedessen erkältet. Fedora ist noch nicht ganz gesund – ich weiß nicht, was ihr fehlt. So sind wir jetzt beide krank. Vergessen Sie mich nicht, kommen Sie öfter zu uns. Ihre W. D. 12. Juni. Mein Täubchen Warwara Alexejewna! Ich dachte, mein Kind, Sie würden mir den gestrigen Ausflug in lauter Gedichten beschreiben, und da erhalte ich nun von Ihnen so ein einziges kleines Blättchen! Doch will ich damit nicht tadeln, daß Sie mir nur wenig geschrieben haben: dafür haben Sie alles ungewöhnlich gut und schön beschrieben. Die Natur, die verschiedenen Landschaftsstimmungen, was Sie selber empfanden – das haben Sie mit einem Worte kurz, aber ganz wunderbar geschildert. Ich habe dagegen ganz und gar kein Talent, irgend etwas zu beschreiben: wenn ich auch zehn Seiten vollkritzele, es kommt dabei doch nichts heraus und nichts ist wirklich beschrieben. Das weiß ich selbst nur zu genau. Sie schreiben mir, meine Liebe, daß ich ein guter Mensch sei, sanftmütig, voll Wohlwollen für alle, unfähig, dem Nächsten etwas Böses zuzufügen, und daß ich die Güte des himmlischen Schöpfers, wie sie in der Natur zum Ausdruck kommt, wohl verstehe, und Sie beehren mich noch mit verschiedenen anderen Lobsprüchen. – Das ist gewiß alles wahr, mein Kind, nichts als die reine Wahrheit, denn ich bin wirklich so, wie Sie sagen, ich weiß das selbst: und es freut einen auch, wenn man von anderen so etwas geschrieben sieht, wie das, was Sie mir da geschrieben haben: es wird einem unwillkürlich froh und leicht zumut – aber schließlich kommen einem doch wieder allerlei schwere Gedanken. Nun hören Sie mich mal an, mein Kind, ich will Ihnen jetzt mal etwas erzählen. Ich beginne damit, daß ich auf die Zeit zurückgreife, als ich erst siebzehn Lenze zählte und in den Staatsdienst trat: nun werden es bald runde dreißig Jahre sein, daß ich als Beamter tätig bin! Ich habe in der Zeit, was soll ich sagen, genug Uniformröcke abgetragen, bin darüber Mann geworden, auch vernünftiger und klüger, habe Menschen gesehen und kennen gelernt, habe auch gelebt, ja, warum nicht – ich kann schon sagen, daß ich gelebt habe –, und einmal wollte man mich sogar zur Auszeichnung vorschlagen: man wollte mir nämlich für meine Dienste ein Kreuz verleihen. Sie werden mir das letztere vielleicht nicht glauben, aber es war wirklich so, ich lüge Ihnen nichts vor. Nun, was kam dabei heraus, mein Kind? Ja, sehen Sie, es finden sich immer und überall schlechte Menschen. Aber wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde, meine Liebe: ich bin zwar ein ungebildeter Mensch, meinetwegen sogar ein dummer Mensch, aber das Herz, das in mir schlägt, ist genau so, wie das Herz anderer Menschen. Also wissen Sie, Warinka, was ein böser Mensch mir antat? Man schämt sich ordentlich, es zu sagen. Sie fragen, warum er es tat? Einfach darum, weil ich so ein Stiller bin, weil ich bescheiden bin, weil ich ein guter Kerl bin. Ich war ihnen nicht nach ihrem Geschmack, und so wurde denn alles mir, und immer mir, in die Schuhe geschoben. Anfangs hieß es, wenn jemand etwas schlecht gemacht hatte: „Eh, Sie da, Makar Alexejewitsch, dies und das!“ – Daraus wurde mit der Zeit: „Ach, natürlich Makar Alexejewitsch, wer denn sonst!“ Jetzt aber heißt es ganz einfach: „Na, selbstverständlich doch Makar Alexejewitsch, was fragen Sie noch!“ Sehen Sie, Kind, so kam die ganze Geschichte. An allem war Makar Alexejewitsch schuld. Sie verstanden weiter nichts, als „Makar Alexejewitsch“ sozusagen zum Schlagwort im ganzen Departement zu machen. Und noch nicht genug damit, daß sie in dieser Weise aus mir ein geflügeltes Wort, fast sogar einen geflügelten Tadel, wenn nicht gar ein Schmähwort machten – nein, sie hatten auch noch an meinen Stiefeln, meinem Rock, meinen Haaren und Ohren, kurz, an allem, was an mir war, etwas auszusetzen: alles war ihnen nicht recht, alles mußte anders gemacht werden! Und das wiederholt sich nun schon seit undenklichen Zeiten jeden Tag! Ich habe mich daran gewöhnt, weil ich mich an alles gewöhne, weil ich ein stiller Mensch bin, weil ich ein kleiner Mensch bin. Aber, fragt man sich schließlich, womit habe ich denn das alles verdient? Wem habe ich je etwas Schlechtes getan? Habe ich etwa jemandem den Rang abgelaufen? Oder jemanden bei den Vorgesetzten angeschwärzt, um dafür belohnt zu werden? Oder habe ich sonst eine Kabale gegen jemanden angestiftet? Sie würden sündigen, Kind, wenn Sie so etwas auch nur denken wollten! Bin ich denn einer, der so etwas überhaupt fertig brächte? So betrachten Sie mich doch nur genauer, meine Liebe, und dann sagen Sie selbst, ob ich auch nur die Fähigkeit zu Intrigen und zum Strebertum habe? Also wofür treffen mich dann diese Heimsuchungen? Doch vergib, Herr! Sie, Warinka, halten mich für einen ehrenwerten Menschen, Sie aber sind auch unvergleichlich besser, als alle die anderen, jawohl Warinka! Was ist die größte bürgerliche Tugend? Über diese Frage äußerte sich noch vor ein paar Tagen Jewstafij Iwanowitsch in einem Privatgespräch. Er sagte: Die größte bürgerliche Tugend sei – Geld zu schaffen. Er sagte es natürlich im Scherz (ich weiß, daß er es nur im Scherz sagte), was aber in dem Worte für eine Moral lag (die er eigentlich im Sinne hatte), das war, daß man mit seiner Person niemandem zur Last fallen solle. Ich aber falle niemandem zur Last! Ich habe mein eigenes Stück Brot. Es ist ja wohl nur ein einfaches Stück Brot, mitunter sogar altes, trockenes Brot, aber _ich_ habe es doch, es ist _mein_ Brot, durch _meine_ Arbeit rechtlich und redlich erworben! Nun ja, was ist da zu machen! Ich weiß es ja selbst, daß ich nichts sonderlich Großes vollbringe, wenn ich in meinem Bureau sitze und Schriftstücke abschreibe. Trotzdem bin ich stolz darauf: ich arbeite doch, leiste doch etwas, tue es durch meiner Hände Arbeit. Nun, und was ist denn dabei, daß ich nur abschreibe? Ist denn das etwa eine Sünde? „Na ja, doch eben immer nur ein Schreiber!“ – Aber was ist denn dabei Unehrenhaftes? Meine Handschrift ist so eingeschrieben, so leserlich, jeder Buchstabe wie gestochen, daß es eine Freude ist, so einen ganzen Bogen zu sehen, und – Se. Exzellenz sind zufrieden mit mir. Ich muß die wichtigsten Papiere für Se. Exzellenz abschreiben. Ja, aber ich habe keinen Stil! Das weiß ich selbst, daß ich ihn nicht habe, den verwünschten Stil! Mir fehlen die Redewendungen! Ich weiß es, und deshalb habe ich es auch im Dienst zu nichts gebracht ... Auch an Sie, mein Kind, schreibe ich jetzt, wie es gerade so kommt, ohne alle Kunst und Feinheit, wie es mir aus dem Herzen in den Sinn strömt ... Das weiß ich selbst ganz genau: aber schließlich: wenn alle nur Selbstverfaßtes schreiben wollten, wer würde dann – abschreiben? Das ist die Frage. Sehen Sie, und nun, bitte, beantworten Sie sie mir, meine Liebe. So sehe ich denn jetzt selbst ein, daß man mich braucht, daß ich notwendig, daß ich unentbehrlich bin, und daß kein Grund vorliegt, sich durch müßiges Geschwätz irre machen zu lassen. Nun schön, meinetwegen bin ich eine Ratte, wenn sie glauben, eine Ähnlichkeit mit ihr herausfinden zu können. Aber diese Ratte ist nützlich, ohne diese Ratte käme man nicht aus, diese Ratte ist sogar ein Faktor, mit dem man rechnet, und dieser Ratte wird man bald sogar eine Gratifikation zusprechen, – da sehen Sie, was das für eine Ratte ist! Doch jetzt habe ich genug davon geredet. Ich wollte ja eigentlich gar nicht davon sprechen, aber nun – es kam mal so zur Sprache, und da hat’s mich denn hingerissen. Es ist doch immer ganz gut, von Zeit zu Zeit sich selbst etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Leben Sie wohl, mein Täubchen, meine gute kleine Trösterin! Ich werde schon kommen, gewiß werde ich kommen und Sie besuchen, mein Sternchen, um zu sehen, wie es Ihnen geht und was Sie machen. Grämen Sie sich bis dahin nicht gar zu sehr. Ich werde Ihnen ein Buch mitbringen. Also leben Sie wohl bis dahin, Warinka. Wünsche Ihnen von Herzen alles Gute! Ihr Makar Djewuschkin. 20. Juni. Sehr geehrter Makar Alexejewitsch! Schreibe Ihnen in aller Eile, denn ich habe sehr wenig Zeit, – muß eine Arbeit zu einem bestimmten Termin beenden. Hören Sie, um was es sich handelt: es bietet sich ein guter Gelegenheitskauf. Fedora sagt, ein Bekannter von ihr habe einen fast neuen Uniformrock, sowie Beinkleider, Weste und Mütze zu verkaufen, und alles, wie sie sagt, sehr billig. Wenn Sie sich das nun kaufen wollten! Sie haben doch jetzt Geld und sind nicht mehr in Verlegenheit, – Sie sagten mir ja selbst, daß Sie Geld haben. Also seien Sie vernünftig und schaffen Sie sich die Sachen an. Sie haben sie doch so nötig. Sehen Sie sich doch nur selbst an, in was für alten Kleidern Sie umhergehen. Eine wahre Schande! Alles ist geflickt. Und neue Kleider haben Sie nicht, das weiß ich, obschon Sie versichern, Sie hätten sie. Gott weiß, was Sie mit Ihrem neuen Anzug angefangen haben. So hören Sie doch diesmal auf mich und kaufen Sie die Kleider, bitte, tun Sie’s! Tun Sie es für mich, wenn Sie mich lieb haben! Sie haben mir Wäsche geschenkt. Hören Sie, Makar Alexejewitsch, das geht wirklich nicht so weiter! Sie richten sich zugrunde, denn das ist doch kein Spaß, was Sie schon für mich ausgegeben haben, – entsetzlich, wieviel Geld! Wie Sie verschwenden können! Ich habe ja nichts nötig, das war ja alles ganz, ganz überflüssig! Ich weiß, glauben Sie mir, ich weiß, daß Sie mich lieben, deshalb ist es ganz überflüssig von Ihnen, mich noch durch Geschenke immer wieder dieser Liebe vergewissern zu wollen. Wenn Sie wüßten, wie schwer es mir fällt, sie anzunehmen! Ich weiß doch, was sie Sie kosten. Deshalb ein für allemal: Lassen Sie es gut sein, schicken Sie mir nichts mehr! Hören Sie? Ich bitte Sie, ich flehe Sie an! Sie bitten mich, Ihnen die Fortsetzung meiner Aufzeichnungen zuzusenden, Sie wollen, daß ich sie beende. Gott, ich weiß selbst nicht, wie ich das fertig gebracht habe, soviel zu schreiben, wie dort geschrieben ist! Nein, ich habe nicht die Kraft, jetzt von meiner Vergangenheit zu sprechen. Ich will an sie nicht einmal zurückdenken. Ich fürchte mich vor diesen Erinnerungen. Und gar von meiner armen Mutter zu sprechen, deren einziges Kind nach ihrem Tode diesen Ungeheuern preisgegeben war: das wäre mir ganz unmöglich! Mein Herz blutet, wenn meine Gedanken auch nur von ferne diese Erinnerungen streifen. Die Wunden sind noch zu frisch! Ich habe noch keine Ruhe, um zu denken, habe mich selbst noch lange nicht beruhigen können, obschon bereits ein ganzes Jahr vergangen ist. Doch Sie wissen das ja alles! Ich habe Ihnen auch Anna Fedorownas jetzige Ansichten mitgeteilt. Sie wirft mir Undankbarkeit vor und leugnet es, mit Herrn Bükoff im Einverständnis gewesen zu sein! Sie fordert mich auf, zu ihr zurückzukehren. Sie sagt, ich lebe von Almosen und sei auf einen schlechten Weg geraten. Wenn ich zu ihr zurückkehren würde, so wolle sie es übernehmen, die ganze Geschichte mit Herrn Bükoff beizulegen und ihn zu veranlassen, seine Schuld mir gegenüber wieder gutzumachen. Sie hat sogar gesagt, daß Herr Bükoff mir eine Aussteuer geben wolle. Gott mit ihnen! Ich habe es auch hier gut, unter Ihrem Schutz und bei meiner guten Fedora, die mich mit ihrer Anhänglichkeit an meine alte selige Kinderfrau erinnert. Sie aber sind zwar nur ein entfernter Verwandter von mir, trotzdem beschützen Sie mich und treten mit Ihrem Namen und Ruf für mich ein. Ich kenne jene anderen nicht, ich werde sie vergessen! – wenn ich es nur vermag?! Was wollen sie denn noch von mir? Fedora sagt, das sei alles nur Klatsch und sie würden mich zu guter Letzt doch in Ruhe lassen. Gott gebe es! W. D. 21. Juni. Mein Täubchen, mein Liebling! Ich will Ihnen schreiben, weiß aber nicht – womit beginnen? Ist das nicht sonderbar, wie wir beide jetzt hier so miteinander leben! Ich sage das nur deshalb, müssen Sie wissen, weil ich meine Tage noch nie so froh verbracht habe. Ganz als hätte mich Gott der Herr mit einem Häuschen und einer Familie gesegnet! Mein Kindchen sind Sie, mein kleines reizendes! Was reden Sie da von den vier Hemdchen, die ich Ihnen geschickt habe! Sie hatten sie doch nötig – Fedora sagte es mir. Und mich, liebes Kind, mich macht es doch glücklich, für Sie sorgen zu können: das ist nun einmal mein größtes Vergnügen – also lassen Sie mich nur gewähren, Kind, und widersprechen Sie mir nicht! Noch niemals habe ich so etwas erlebt, Herzchen. Jetzt lebe ich doch ein ganz anderes Leben. Erstens gewissermaßen zu zweien, wenn man so sagen darf, denn Sie leben doch jetzt in meiner nächsten Nähe, was mir ein großer Trost und eine große Freude ist. Und zweitens hat mich heute mein Zimmernachbar, Ratasäjeff – jener Beamte, wissen Sie, bei dem literarische Abende stattfinden –, also der hat mich heute zum Tee eingeladen. Heute findet bei ihm nämlich wieder so eine Versammlung statt: es soll etwas Literarisches vorgelesen werden. Da sehen Sie, wie wir jetzt leben, Kindchen – was?! Nun, leben Sie wohl. Ich habe das alles ja nur so geschrieben, ohne besonderen Zweck, nur um Sie von meinem Wohlbefinden zu unterrichten. Sie haben mir durch Theresa sagen lassen, daß Sie farbige Nähseide zur Stickerei benötigen: ich werde sie kaufen, Kindchen, ich werde sie Ihnen besorgen, gleich morgen werde ich sie Ihnen besorgen. Ich weiß auch schon, wo ich sie am besten kaufen kann. Inzwischen verbleibe ich Ihr aufrichtiger Freund Makar Djewuschkin. 22. Juni. Liebe Warwara Alexejewna! Ich will Ihnen nur mitteilen, meine Gute, daß bei uns im Hause etwas sehr Trauriges geschehen ist, etwas, das jedes Menschen Mitleid erwecken muß. Heute um fünf Uhr morgens starb Gorschkoffs kleiner Sohn. Ich weiß nicht recht, woran, – an den Masern oder, Gott weiß, vielleicht war es auch Scharlach. Da besuchte ich sie denn heute, diese Gorschkoffs. Ach, Liebe, was das für eine Armut bei ihnen ist! Und was für eine Unordnung! Aber das ist ja schließlich kein Wunder: die ganze Familie lebt doch nur in diesem einen Zimmer, das sie nur anstandshalber durch einen Bettschirm so ein wenig abgeteilt haben. Jetzt steht bei ihnen schon der kleine Sarg, – ein ganz einfacher, billiger, aber er sieht doch ganz nett aus, sie haben ihn gleich fertig gekauft. Der Knabe war neun Jahre alt und soll, wie man hört, zu schönen Hoffnungen berechtigt haben. Es tut weh, weh vor Mitleid, sie anzusehen, Warinka. Die Mutter weint nicht, aber sie ist so traurig, die Arme. Es ist für sie ja vielleicht eine Erleichterung, daß ihnen ein Kindchen abgenommen ist: es bleiben ihnen noch zwei, die sie zu ernähren haben: ein Brustkind und ein kleines Töchterchen so von etwa sechs Jahren, viel älter kann das zarte Ding noch nicht sein. Wie muß einem doch zumute sein, wenn man sieht, wie ein Kindchen leidet, und noch dazu das eigene, leibliche Kindchen, und man hat nichts, womit man ihm helfen könnte! Der Vater sitzt dort in einem alten, schmutzigen und fadenscheinigen Rock auf einem halb zerbrochenen Stuhl. Die Tränen laufen ihm über die Wangen, aber vielleicht gar nicht vor Leid, sondern nur so, aus Gewohnheit – die Augen tränen eben. Er ist so ein Sonderling! Immer wird er rot, wenn man mit ihm spricht, und niemals weiß er, was er antworten soll. Das kleine Mädchen stand dort an den Sarg gelehnt, stand ganz still und ernst und ganz nachdenklich. Ich liebe es nicht, Warinka, wenn ein Kindchen nachdenklich ist: es beunruhigt einen. Eine Puppe aus alten Zeugstücken lag auf dem Fußboden, – sie spielte aber nicht mit ihr. Das Fingerchen im Mund: so stand sie, – stand und rührte sich nicht. Die Wirtin gab ihr ein Bonbonchen: sie nahm es, aß es aber nicht. Traurig das alles – nicht wahr, Warinka? Ihr Makar Djewuschkin. 25. Juni. Bester Makar Alexejewitsch! Ich sende Ihnen Ihr Buch zurück. Das ist ja ein ganz elendes Ding! – man kann es überhaupt nicht in die Hand nehmen. Wo haben Sie denn diese Kostbarkeit aufgetrieben? Scherz beiseite – gefallen Ihnen denn wirklich solche Bücher, Makar Alexejewitsch? Sie versprachen mir doch vor ein paar Tagen, mir etwas zum Lesen zu verschaffen. Ich kann ja auch mit Ihnen teilen, wenn Sie wollen. Doch jetzt Schluß und auf Wiedersehen! Ich habe wirklich keine Zeit, weiter zu schreiben. W. D. 26. Juni. Liebe Warinka! Die Sache ist nämlich die, Kind, daß ich das Büchlein selbst gar nicht gelesen habe. Es ist wahr, ich las ein wenig, sah, daß es irgendein Unsinn war, nur so zum Lachen geschrieben, und um die Leute zu unterhalten. Da dachte ich, nun, dann wird es was Lustiges sein und vielleicht auch Warinka gefallen. Und so nahm ich es und schickte es Ihnen. Aber nun hat mir Ratasäjeff versprochen, mir etwas wirklich Literarisches zum Lesen zu verschaffen. Da werden Sie also wieder gute Bücher erhalten, mein Kind. Ratasäjeff – der versteht sich darauf! Er schreibt doch selbst, und wie er schreibt! Gewandt schreibt er, und einen Stil hat er, ich sage Ihnen: einfach großartig! In jedem Wort ist ein Etwas – sogar im allergewöhnlichsten, alltäglichsten Wort, in jedem einfachen Satz, in der Art, wie ich zum Beispiel manchmal Faldoni oder Theresa etwas sage, – selbst da versteht er noch, sich stilvoll auszudrücken. Ich wohne jetzt seinen literarischen Abenden regelmäßig bei. Wir rauchen Tabak und er liest uns vor, liest bis fünf Stunden in einem durch, wir aber hören zu, die ganze Zeit. Das sind nun einfach Perlen, nicht Literatur! Einfach Blumen, duftende Blumen – auf jeder Seite so viel Blumen, daß man einen Strauß draus winden kann! Und im Umgang ist er so freundlich, so liebenswürdig. Was bin ich im Vergleich mit ihm, nun was? – Nichts! Er ist ein angesehener Mann, ein Mann von Ruf – was aber bin ich? – Nichts! So gut wie nichts, bin neben ihm überhaupt nichts! Er aber beehrt auch mich mit seinem Wohlwollen. Ich habe für ihn mal das eine oder andere abgeschrieben. Nur denken Sie deshalb nicht, Warinka, daß das irgend etwas auf sich habe, ich meine, daß er mir deshalb wohlgesinnt sei, weil ich für ihn abschreibe! Hören Sie nicht auf solche Klatschgeschichten, Kind, glauben Sie ihnen nicht, beachten Sie sie gar nicht weiter! Nein, ich tue es ganz aus freien Stücken, um ihm damit etwas Angenehmes zu erweisen. Und daß er mir sein Wohlwollen schenkt, das tut er auch nur aus freien Stücken, tut’s, um mir eine Freude zu bereiten. Ich bin gar nicht so dumm, um das nicht zu verstehen: man muß nur wissen, welch ein Zartgefühl sich dahinter birgt. Er ist ein guter, ein sehr guter Mensch und außerdem ein ganz unvergleichlicher Schriftsteller. Es ist eine schöne Sache um die Literatur, Warinka, eine sehr schöne, das habe ich vorgestern bei ihnen erfahren. Und zugleich eine tiefe Sache! Sie stärkt und festigt und belehrt die Menschen – und noch verschiedenes andere tut sie, was alles in ihrem Buch aufgezeichnet steht. Es ist wirklich gut geschrieben! Die Literatur – das ist ein Bild, das heißt in gewissem Sinne, versteht sich; ein Bild und ein Spiegel; ein Spiegel der Leidenschaften und aller inneren Dinge; sie ist Belehrung und Erbauung zugleich, ist Kritik und ein großes menschliches Dokument. Das habe ich mir alles von ihnen sagen lassen und aus ihren Reden gemerkt. Ich will aufrichtig gestehen, mein Liebling, wenn man so unter ihnen sitzt und zuhört – und man raucht dabei sein Pfeifchen, ganz wie sie – und wenn sie dann anfangen, sich gegenseitig zu messen und über die verschiedensten Dinge zu disputieren, da muß ich denn einfach wie im Kartenspiel sagen: – ich passe. Denn wenn die erst mal loslegen, Kind, dann bleibt unsereinem nichts anderes übrig, dann müssen wir beide passen, Warinka. Ich sitze dann wie ein alter Erzschafskopf und schäme mich vor mir selber. Und wenn man sich auch den ganzen Abend die größte Mühe gibt, irgendwo ein halbes Wörtchen in das allgemeine Gespräch mit einzuflechten, so ist man doch nicht einmal dazu fähig. Man kann und kann dieses halbe Wörtchen nicht finden! Man verfällt aber auch auf rein gar nichts – man mag’s anstellen wie man will! Das ist wie verhext, Warinka, und man tut sich schließlich selber leid, daß man so ist, wie man nun einmal ist, und daß man das Sprichwort auf sich anwenden kann: dumm geboren und im Leben nichts dazugelernt. Was tue ich denn jetzt in meiner freien Zeit? – Schlafe, schlafe wie ein alter Esel. An Stelle dieses unnützen Schlafens aber könnte man sich doch auch mit etwas Angenehmem oder Nützlichem beschäftigen, so zum Beispiel sich hinsetzen und dies und jenes schreiben, so ganz frei von sich aus, – was? Sich selbst zu Nutz und Frommen und anderen zum Vergnügen. Und hören Sie nur, Kind, wieviel sie für ihre Sachen bekommen, Gott verzeihe ihnen! Da zum Beispiel gleich dieser Ratasäjeff, was der Mann einnimmt! Was ist es für ihn, einen Bogen vollzuschreiben? An manchen Tagen hat er sogar ganze fünf geschrieben, und dabei erhält er, wie er sagt, volle dreihundert Rubel für jeden Bogen! Da hat er irgend so eine kleine Geschichte oder Humoreske, oder auch nur irgendein Anekdotchen oder sonst etwas für die Leute – fünfhundert, gib oder gib nicht, aber darunter kriegst du es für keinen Preis. Häng dich auf, wenn du willst. Willst du nicht – nun gut, dann gibt ein anderer tausend! Was sagen Sie dazu, Warwara Alexejewna? Aber was, das ist noch gar nichts! Da hat er zum Beispiel ein Heftchen Gedichte, alles solche kleinen Dingerchen – paar Zeilen nur, ganz kurz, – siebentausend, Kind, siebentausend will er dafür haben, denken Sie sich! Das ist doch ein Vermögen, groß wie ein ganzes Besitztum, das sind ja die Prozente eines Hauses von fünf Stockwerken! Fünftausend, sagt er, biete man ihm: er geht aber darauf nicht ein. Ich habe ihm zugeredet und vernünftig auf ihn eingesprochen, – nehmen Sie doch, Bester, die fünftausend, nehmen Sie sie nur, und dann können Sie ihnen ja den Rücken kehren und ausspeien, wenn Sie wollen, denn fünftausend – das ist doch Geld! Aber nein, er sagt, sie werden auch sieben geben, die Schufte. Solch ein Schlaukopf ist er, wirklich! Ich werde Ihnen, mein Kind, da nun einmal davon die Rede ist, eine Stelle aus den „Italienischen Leidenschaften“ abschreiben. So heißt nämlich eines seiner Werke. Nun lesen Sie, Warinka, und dann urteilen Sie selbst: – ... Wladimir fuhr zusammen: die Leidenschaften brausten wild in ihm auf und sein Blut geriet in Wallung ... „Gräfin,“ rief er, „Gräfin! Wissen Sie, wie schrecklich diese Leidenschaft, wie grenzenlos dieser Wahnsinn ist? Nein, meine Sinne täuschen mich nicht! Ich liebe, ich liebe mit aller Begeisterung, liebe rasend, wahnsinnig! Das ganze Blut deines Mannes würde nicht ausreichen, die wallende Leidenschaft meiner Seele zu ersticken! Diese kleinen Hindernisse sind unfähig, das allesvernichtende, höllische Feuer, das in meiner erschöpften Brust loht, in seinem Flammenstrom aufzuhalten. O Sinaida, Sinaida! ...“ „Wladimir!“ ... flüsterte die Gräfin fassungslos und schmiegte ihr Haupt an seine Schulter. „Sinaida!“ rief Ssmelskij berauscht. Seiner Brust entrang sich ein Seufzer. Auf dem Altar der Liebe schlug die Lohe hellflammend auf und umfing mit ihrer Glut die Seelen der Liebenden. „Wladimir!“ flüsterte die Gräfin trunken. Ihr Busen wogte, ihre Wangen röteten sich, ihre Augen glühten ... Der neue, schreckliche Bund ward geschlossen! * * * * * Nach einer halben Stunde trat der alte Graf in das Boudoir seiner Frau. „Wie wäre es, mein Herzchen, soll man nicht für unseren teuren Gast den Ssamowar aufstellen lassen?“ fragte er, seiner Frau die Wange tätschelnd. – Nun sehen Sie, Kind, wie finden Sie das? Es ist ja wahr, – es ist ein wenig frei, das läßt sich nicht leugnen, aber dafür doch schwungvoll und gut geschrieben. Was gut ist, ist gut! Aber nein, ich muß Ihnen doch noch ein Stückchen aus der Novelle „Jermak und Suleika“ abschreiben. Stellen Sie sich vor, Kind, daß der Kosak Jermak, der tollkühne Eroberer Sibiriens, in Suleika, die Tochter des sibirischen Herrschers Kutschum, die er gefangen genommen, verliebt ist. Die Sache spielt also gerade in der Zeit, da Iwan der Schreckliche herrschte – wie Sie sehen. Hier schreibe ich Ihnen nun ein Gespräch zwischen Jermak und Suleika ab: – „Du liebst mich, Suleika? O, wiederhole, wiederhole es! ...“ „Ich liebe dich, Jermak!“ flüsterte Suleika. „Himmel und Erde, habt Dank! Ich bin glücklich! Ihr habt mir alles gegeben, alles, wonach mein wilder Geist seit meinen Jünglingsjahren strebte! Also hierher hast du mich geführt, mein Leitstern, über den steinernen Gürtel des Ural! Der ganzen Welt werde ich meine Suleika zeigen, und die Menschen, diese wilden Ungeheuer, werden es nicht wagen, mich zu beschuldigen! O, wenn sie doch diese geheimen Leiden ihrer zärtlichen Seele verständen, wenn sie, wie ich, in einer Träne meiner Suleika eine ganze Welt von Poesie zu erblicken wüßten! O, laß mich mit Küssen diese Träne trinken, diesen himmlischen Tautropfen ... du himmlisches Wesen!“ „Jermak,“ sagte Suleika, „die Welt ist böse, die Menschen sind ungerecht! Sie werden uns verfolgen und verurteilen, mein Liebster! Was soll das arme Mädchen, das auf den heimatlichen Schneefeldern Sibiriens in der Jurte des Vaters aufgewachsen ist, dort in eurer kalten, eisigen, seelenlosen, eigennützigen Welt anfangen? Die Menschen werden mich nicht verstehen, mein Geliebter, mein Ersehnter!“ „Dann sollen sie Kosakensäbel kennen lernen!“ rief Jermak, wild die Augen rollend. – Und nun, Warinka, denken Sie sich diesen Jermak, wie er erfährt, daß seine Suleika ermordet ist. Der verblendete Greis Kutschum hat sich im Schutz der nächtlichen Dunkelheit während der Abwesenheit Jermaks in dessen Zelt geschlichen und seine Tochter Suleika ermordet, um sich an Jermak, der ihn um Zepter und Krone gebracht hat, zu rächen. „Welch eine Lust, die Klinge zu schleifen!“ rief Jermak in wilder Rachgier, und er wetzte den Stahl am Schamanenstein. „Ich muß Blut sehen, Blut! Rächen, rächen, rächen muß ich sie!!!“ Aber nach alledem kann Jermak seine Suleika doch nicht überleben, er wirft sich in den Irtysch und ertrinkt, und damit ist dann alles zu Ende. Jetzt noch ein kleiner Auszug, eine Probe: es ist humoristisch, was nun kommt, und nur so zum Lachen geschrieben: – „Kennen Sie denn nicht Iwan Prokofjewitsch Sheltopus? Na, das ist doch derselbe, der den Prokofij Iwanowitsch ins Bein gebissen hat! Iwan Prokofjewitsch ist ein schroffer Charakter, dafür aber ein selten tugendhafter Mensch. Prokofij Iwanowitsch dagegen liebt außerordentlich Rettich mit Honig. Als er aber noch mit Pelageja Antonowna bekannt war ... Sie kennen doch Pelageja Antonowna? Na, das ist doch dieselbe, die ihren Rock immer mit dem Futter nach außen anzieht, um das Oberzeug zu schonen.“ – Ist das nicht Humor, Warinka, einfach Humor! Wir wälzten uns vor Lachen, als er uns dies vorlas. Solch ein Mensch, wahrhaftig, Gott verzeihe ihm! Übrigens, Kind, ist das zwar recht originell und komisch, aber im Grunde doch ganz unschuldig, ganz ohne die geringste Freidenkerei und ohne alle liberalen Verirrungen. Ich muß Ihnen auch noch sagen, daß Ratasäjeff vortreffliche Umgangsformen besitzt, und vielleicht liegt hier mit ein Grund, warum er ein so ausgezeichneter Schriftsteller ist, und mehr als das, was die anderen sind. Aber wie wär’s – in der Tat, es kommt einem mitunter der Gedanke in den Kopf – wie wär’s, wenn auch ich einmal etwas schriebe: was würde dann wohl geschehen? Nun, sagen wir zum Beispiel, und nehmen wir an, daß plötzlich mir nichts dir nichts ein Buch in der Welt erschiene und auf dem Deckel stände: „_Gedichte von Makar Djewuschkin._“ Was?! Ja, was würden Sie dann wohl sagen, mein Engelchen? Wie würde Ihnen das vorkommen, was würden Sie dabei denken? Von mir aus kann ich Ihnen freilich sagen, mein Kind, daß ich mich, sobald mein Buch erschienen wäre, entschieden nicht mehr auf dem Newskij zu zeigen wagte. Wie wäre denn das, wenn ein jeder sagen könnte: „Sieh, dort geht der Dichter Djewuschkin!“ und ich selbst dieser Djewuschkin wäre!? Was würde ich dann zum Beispiel bloß mit meinen Stiefeln machen? Die sind ja doch bei mir, nebenbei bemerkt, Kind, fast immer geflickt, und auch die Sohlen sind, wenn man die Wahrheit sagen soll, oft recht weit vom wünschenswerten Zustande entfernt. Nun, wie wäre denn das, wenn alle wüßten, daß der Schriftsteller Djewuschkin geflickte Stiefel hat! Wenn das nun gar irgendeine Komtesse oder Duchesse erführe, was würde sie dazu sagen, mein Seelchen? Selbst würde sie es ja vielleicht nicht bemerken, denn Komtessen und Duchessen beschäftigen sich nicht mit Stiefeln, und nun gar mit Beamtenstiefeln (aber schließlich bleiben ja Stiefel immer Stiefel), – nur würde man ihr alles erzählen, meine eigenen Freunde würden es womöglich tun! Ratasäjeff zum Beispiel wäre der erste, der es fertig brächte! Er ist oft bei der Gräfin B., besucht sie, wie er sagt, sogar ohne besondere Einladung, wann es ihm gerade paßt. Eine gute Seele, sagt er, soll sie sein, so eine literarisch gebildete Dame. Ja, dieser Ratasäjeff ist ein Schlaukopf! Doch übrigens – genug davon! Ich schreibe das ja alles nur so, mein Engelchen, um Sie zu zerstreuen, also nur zum Scherz. Leben Sie wohl, mein Täubchen. Viel habe ich Ihnen hier zusammengeschrieben, aber das eigentlich nur deshalb, weil ich heute ganz besonders froh gestimmt bin. Wir speisten nämlich heute alle bei Ratasäjeff, und da (es sind ja doch Schlingel, mein Kind!) holten sie schließlich solch einen besonderen Likör hervor ... na – was soll man Ihnen noch viel davon schreiben! Nur sehen Sie zu, daß Sie jetzt nicht gleich etwas Schlechtes von mir denken, Warinka. Es war nicht so schlimm! Büchelchen werde ich Ihnen schicken. Hier geht ein Roman von Paul de Kock von Hand zu Hand, nur werden Sie diesen Paul de Kock nicht in die Fingerchen bekommen, mein Kind ... Nein, nein, Gott behüte! Solch ein Paul de Kock ist nichts für Sie, Warinka. Man sagt von ihm, daß er bei allen anständigen Petersburger Kritikern ehrliche Entrüstung hervorgerufen habe. Ich sende Ihnen noch ein Pfündchen Konfekt – habe es speziell für Sie gekauft. Und hören Sie, mein Herzchen, bei jedem Konfektchen denken Sie an mich. Nur dürfen Sie die Bonbons nicht gleich zerbeißen! Lutschen Sie sie nur so, sonst könnten Ihnen noch die Zähnchen nachher wehtun. Aber vielleicht lieben Sie auch Schokolade? Dann schreiben Sie nur! Nun, leben Sie wohl, leben Sie wohl. Christus sei mit Ihnen, mein Täubchen. Ich aber verbleibe nach wie vor Ihr treuester Freund Makar Djewuschkin. 27. Juni. Lieber Makar Alexejewitsch! Fedora sagt, sie kenne Leute, die mir in meiner Lage herzlich gern helfen und, wenn ich nur wolle, eine sehr gute Stelle als Gouvernante in einem Hause verschaffen würden. Was meinen Sie, mein Freund, soll ich darauf eingehen? Ich würde Ihnen dann nicht mehr zur Last fallen – und die Stelle scheint gut zu sein. Aber anderseits – der Gedanke ist doch etwas beängstigend, in einem fremden Hause dienen zu müssen. Es soll eine Gutsbesitzersfamilie sein. Da werden sie über mich Erkundigungen einziehen, werden mich ausfragen, was soll ich ihnen dann sagen? Und überdies bin ich so menschenscheu und liebe die Einsamkeit. Am liebsten lebe ich dort, wo ich mich einmal eingelebt habe. Es ist nun einmal gemütlicher und trauter in dem Winkel, an den man sich schon gewöhnt hat, – und wenn man vielleicht auch in Sorgen dort lebt, es ist dennoch besser. Außerdem müßte ich da noch reisen, und Gott weiß, was sie alles von mir verlangen werden: vielleicht lassen sie mich einfach die Kinder warten! Und was mögen das für Leute sein, wenn sie jetzt binnen zwei Jahren schon zum dritten Male die Gouvernante wechseln? Raten Sie mir, Makar Alexejewitsch, um Gottes willen, soll ich darauf eingehen oder soll ich nicht? Weshalb kommen Sie jetzt gar nicht mehr zu uns? Sie zeigen sich so selten! Außer Sonntags in der Kirche sehen wir uns ja fast überhaupt nicht mehr. Wie menschenscheu Sie doch sind! Sie sind ganz wie ich! Aber wir sind ja auch so gut wie verwandt. Oder lieben Sie mich nicht mehr, Makar Alexejewitsch? Ich bin, wenn ich mich allein weiß, oft sehr traurig. Zuweilen, namentlich in der Dämmerung, sitzt man ganz mutterseelenallein: Fedora ist fortgegangen, um irgend etwas zu besorgen, und da sitzt man denn und denkt und denkt – man erinnert sich an alles was einst gewesen ist, an Frohes und Trauriges, alles zieht wie ein Nebel an einem vorüber. Bekannte Gesichter tauchen wieder vor meinen Augen auf (ich glaube sie fast schon im Wachen zu sehen, wie man sonst nur im Traum etwas sieht), – doch am häufigsten sehe ich Mama ... Und was für Träume ich habe! Ich fühle es, daß meine Gesundheit untergraben ist. Ich bin so schwach. Als ich heute morgen aufstand, wurde mir übel, und zum Überfluß habe ich auch noch diesen schlimmen Husten! Ich fühle, ich weiß, daß ich bald sterben werde. Wer wird mich wohl beerdigen? Wer wird wohl meinem Sarge folgen? Wer wird um mich trauern? ... Und da müßte ich vielleicht an einem fremden Ort, in einem fremden Hause, bei fremden Menschen sterben! ... Mein Gott, wie traurig ist es, zu leben, Makar Alexejewitsch! Lieber Freund, warum schicken Sie mir immer Konfekt? Ich begreife wirklich nicht, woher Sie soviel Geld nehmen. Ach, mein guter Freund, sparen Sie doch das Geld, um Gottes willen, sparen Sie es! Fedora hat einen Käufer gefunden für den Teppich, den ich genäht habe. Man will für ihn fünfzehn Rubel geben. Das wäre sehr gut bezahlt: ich dachte, man würde weniger geben. Fedora wird drei Rubel bekommen, und für mich werde ich einen Stoff zu einem einfachen Kleide kaufen, irgendeinen billigeren und wärmeren Kleiderstoff. Für Sie aber werde ich eine Weste machen, ein schöne Weste: ich werde guten Stoff dazu aussuchen und sie selbst nähen. Fedora hat mir ein Buch verschafft – Bjelkins Erzählungen –, das ich Ihnen hiermit zusende, damit auch Sie es lesen. Nur, bitte, schonen Sie es und behalten Sie es nicht zu lange: es gehört nicht mir. Es ist ein Werk von Puschkin. Vor zwei Jahren las ich es mit Mama – da hat es denn in mir traurige Erinnerungen wachgerufen, als ich es jetzt zum zweiten Male las. Sollten Sie irgendein Buch haben, so schicken Sie es mir, – aber nur in dem Fall, wenn Sie es nicht von Ratasäjeff erhalten haben. Er wird gewiß eines seiner eigenen Werke geben, wenn überhaupt schon etwas von ihm gedruckt sein sollte. Wie können Ihnen nur seine Romane gefallen, Makar Alexejewitsch? Solche Dummheiten! ... Nun, leben Sie wohl! Wie viel ich diesmal geschwätzt habe! Wenn ich mich bedrückt fühle, dann bin ich immer froh, sprechen zu können. Das ist die beste Arznei: ich fühle mich sogleich erleichtert, namentlich wenn ich alles sagen kann, was ich auf dem Herzen habe. Leben Sie wohl, leben Sie wohl, mein Freund! Ihre W. D. 28. Juni. Warwara Alexejewna, meine Liebe! Nun ist’s genug mit dem Grämen! Schämen Sie sich denn nicht? So machen Sie doch ein Ende, mein Kind! Wie können Sie sich nur mit solchen Gedanken abgeben? Sie sind ja gar nicht mehr krank, Herzchen, ganz und gar nicht! Sie blühen einfach, wirklich, glauben Sie mir: nur ein wenig bleich sind Sie noch, aber trotzdem blühen Sie. Und was sind denn das für Träume und Gespenster, die Sie da sehen! Pfui, schämen Sie sich, mein Liebling, lassen Sie es sein, wie es ist! Kümmern Sie sich nicht weiter um diese dummen Träume – so etwas schüttelt man ab. Ganz einfach! Wie kommt es denn, daß ich gut schlafe? Warum fehlt mir denn nichts? Sehen Sie mich einmal an, mein Kind. Lebe froh und zufrieden, schlafe ruhig, bin gesund – mit einem Wort, ein Teufelskerl: und man hat seine wahre Freude daran, es zu sein! Also hören Sie auf, mein Seelchen, schämen Sie sich und bessern Sie sich. Ich kenne doch Ihr Köpfchen, Kind: kaum hat es etwas gefunden, da fängt es gleich wieder an mit dem Grübeln und Grämen, und Sie machen sich von neuem allerlei Gedanken. Schon allein mir zuliebe sollten Sie doch wirklich einmal damit aufhören, Warinka! Bei fremden Menschen dienen? – Niemals! Nein und nein und nochmals nein! Was ist Ihnen eingefallen, daß Sie überhaupt auf solche Gedanken kommen? Und noch dazu wegreisen! Nein, Kind da kennen Sie mich schlecht: das lasse ich nie und nimmermehr zu, einen solchen Plan bekämpfe ich mit allen Kräften. Und wenn ich auch meinen letzten alten Rock vom Leibe verkaufen – wenn mir nur noch das Hemd bleiben würde, aber Not leiden, das sollen und werden Sie bei uns niemals. Nein, Warinka, nein, ich kenne Sie ja! Das sind Torheiten, nichts als Torheiten! Was aber wahr ist, das ist: daß an allem Fedora ganz allein die Schuld trägt – nur sie, dies dumme Frauenzimmer, hat Ihnen diese Gedanken in den Kopf gesetzt. Sie aber, Kind, müssen gar nicht darauf hören, was sie sagt. Sie wissen wahrscheinlich noch nicht alles, mein Seelchen? ... Wissen nicht, daß sie eine dumme, schwatzhafte, unzurechnungsfähige Person ist, die auch ihrem verstorbenen Mann schon das Leben weidlich sauer gemacht hat. Überlegen Sie sich: hat sie Sie nicht geärgert, irgendwie gekränkt? Nein, nein, mein Kind, aus all dem, was Sie da schrieben, wird nichts! Und was sollte denn aus mir werden, wo bliebe ich dann? Nein, Warinka, mein Herzchen, das müssen Sie sich aus dem Köpfchen schlagen. Was fehlt Ihnen denn bei uns? Wir können uns nicht genug über Sie freuen und auch Sie haben uns gern, also bleiben Sie und leben Sie hier friedlich weiter. Nähen Sie oder lesen Sie, oder nähen Sie auch nicht – ganz wie Sie wollen, nur bleiben Sie bei uns! Denn sonst, sagen Sie doch selbst: wie würde das denn aussehen? Ich werde Ihnen Bücher verschaffen – und dann können wir ja auch wieder einmal einen Spaziergang unternehmen. Nur müssen Sie, mein Kind, mit diesen Gedanken jetzt wirklich ein Ende machen und vernünftig werden und sich nicht grundlos um alles Alltägliche sorgen und grämen! Ich werde zu Ihnen kommen, und zwar sehr bald, inzwischen aber nehmen Sie es als mein gerades und offenes Bekenntnis: das war nicht schön von Ihnen, Herzchen, gar nicht schön! Ich bin natürlich kein gelehrter Mensch und ich weiß es selbst, daß ich nichts gelernt habe, daß ich kaum unterrichtet worden bin, aber darum handelt es sich jetzt nicht und das war es auch nicht, was ich sagen wollte – doch für den Ratasäjeff stehe ich ein, da machen Sie, was Sie wollen! Er ist mein Freund, deshalb muß ich ihn verteidigen. Er schreibt gut, schreibt sehr, sehr und nochmals sehr gut. Ich kann Ihnen unter keinen Umständen beistimmen. Er schreibt farbenreich und gewählt, es sind auch Gedanken darin, kurz, es ist sehr schön! Sie haben es vielleicht ohne Anteil gelesen, Warinka, vielleicht waren Sie gerade nicht bei Laune, als Sie lasen, vielleicht hatten Sie sich gerade über Fedora wegen irgend etwas geärgert, oder es ist vielleicht sonst irgendwie ein Unglückstag für Sie gewesen. Nein, Sie müssen das einmal mit Gefühl lesen und aufmerksam, wenn Sie froh und zufrieden und bei guter Laune sind, zum Beispiel wenn Sie gerade ein Konfektchen im Munde haben – dann lesen Sie es noch einmal. Ich will ja nicht sagen (wer hat denn das behauptet?), daß es nicht noch bessere Schriftsteller gibt als Ratasäjeff, ganz gewiß, es gibt bessere, aber deshalb braucht doch Ratasäjeff noch lange nicht schlecht zu sein: sie sind eben alle gut; er schreibt gut und die anderen schreiben meinetwegen auch gut. Außerdem schreibt er, vergessen wir das nicht, nur für sich – tut es, sagen wir, bloß so in seinen Mußestunden – und das merkt man ihm dann an, daß er es tut, und zwar zu seinem Vorteil! Nun leben Sie wohl, mein Kind, schreiben werde ich heute nicht mehr: ich habe da noch etwas abzuschreiben und muß mich beeilen. Also sehen Sie zu, mein Liebling, mein Herzchen, daß Sie sich beruhigen. Möge Gott der Herr Sie behüten, ich aber bin und bleibe Ihr treuer Freund Makar Djewuschkin. P. S. Danke für das Buch, meine Gute, also lesen wir Puschkin. Heute aber komme ich gegen Abend ganz bestimmt zu Ihnen. Mein teurer Makar Alexejewitsch! Nein, mein Freund, nein, es geht nicht, daß ich noch länger hier lebe. Ich habe nachgedacht und eingesehen, daß es sehr falsch von mir ist, eine so vorteilhafte Stelle von der Hand zu weisen. Dort werde ich mir doch wenigstens mein sicheres Stück Brot verdienen. Ich werde mir Mühe geben, ich werde versuchen, mir die Neigung der fremden Menschen zu erwerben, und, wenn es nötig sein sollte, auch meinen Charakter zu ändern. Es ist natürlich schwer und bitter, bei fremden Menschen zu leben, sich ihnen in allem anzupassen, sich selbst zu verleugnen und von ihnen abhängig zu sein, aber Gott wird mir sicher helfen. Man kann doch nicht sein Leben lang menschenfern bleiben! Und ich habe ja auch früher schon Ähnliches erlebt. Zum Beispiel als ich noch in der Pension war. Den ganzen Sonntag spielte ich und sprang munter wie ein echter Wildfang umher, und wenn Mama bisweilen auch schalt – was tat das, ich war doch froh, und im Herzen war es so hell und warm. Kam aber dann der Abend, da fühlte ich mich wieder über alle Maßen unglücklich: um neun Uhr hieß es – nach der Pension zurückkehren! Dort war alles fremd, kalt, streng, die Lehrerinnen waren Montags immer so mürrisch, und ich fühlte mich so bedrückt, so elend, daß die Tränen sich nicht mehr zurückdrängen ließen. Da schlich ich denn leise in einen Winkel und weinte vor lauter Einsamkeit und Verlassenheit. Natürlich hieß es dann, ich sei faul und wolle nicht lernen. Und doch war das gar nicht der Grund, weshalb ich weinte. Dann aber – womit endete es? Ich gewöhnte mich schließlich an alles, und als ich die Pension verlassen mußte, weinte ich gar beim Abschied von den Freundinnen. Nein, es ist nicht gut, daß ich Ihnen und Fedora hier zur Last bin. Der Gedanke ist mir eine Qual. Ich sage Ihnen alles ganz offen, weil ich gewohnt bin, Ihnen nichts zu verhehlen. Sehe ich denn nicht, wie Fedora jeden Morgen schon in aller Frühe aufsteht und sich ans Waschen macht, und dann bis in die späte Nacht hinein arbeitet? – Alte Knochen aber bedürfen der Ruhe. Und sehe ich denn nicht, wie Sie alles für mich opfern, wie Sie sich selbst das Notwendigste versagen, um Ihr ganzes Geld nur für mich auszugeben? Ich weiß doch, daß das über Ihre Verhältnisse geht, mein Freund. Sie schreiben mir, daß Sie eher das Letzte verkaufen würden, als daß Sie mich Not leiden ließen. Ich glaube es Ihnen, mein Freund, ich weiß, daß Sie ein gutes Herz haben, – doch das sagen Sie jetzt nur so. Jetzt haben Sie zufällig überflüssiges Geld, haben ganz unerwartet eine Gratifikation erhalten. Aber dann? Sie wissen doch – ich bin immer krank. Ich kann nicht so arbeiten, wie Sie, obschon ich froh wäre, wenn ich’s könnte, und überdies habe ich auch nicht immer Arbeit. Was soll ich tun? Mich grämen und quälen, indem ich Sie und Fedora für mich sorgen lasse und selbst müßig zusehen muß? Wie könnte ich Ihnen jemals auch nur das Geringste entgelten, wie Ihnen auch nur im geringsten nützlich sein? Inwiefern bin ich Ihnen denn so unentbehrlich, mein Freund? Was habe ich Ihnen Gutes getan? Ich bin Ihnen nur von ganzem Herzen zugetan, ich liebe Sie aufrichtig und von ganzem Herzen, doch das ist auch alles, was ich tun kann. So ist es nun einmal mein bitteres Geschick! Zu lieben verstehe ich – aber Gutes tun, Ihre Wohltaten durch meine Taten erwidern, das kann ich nicht. Also halten Sie mich nicht mehr zurück, überlegen Sie sich meinen Plan nochmals gründlich und sagen Sie mir dann Ihre aufrichtige Meinung. In Erwartung derselben verbleibe ich Ihre W. D. 1. Juli. Unsinn, Warinka, das ist ja alles nichts als Unsinn, reiner Unsinn! Wollte man Sie so sich selbst überlassen, was würden Sie sich da nicht alles ins Köpfchen setzen! Bald bilden Sie sich dieses ein, bald jenes! Ich sehe doch, daß das nichts als Unsinn ist. Was fehlt Ihnen denn bei uns, so sagen Sie doch bloß? Wir lieben Sie und Sie lieben uns, wir sind alle zufrieden und glücklich, – was will man denn noch mehr? Was aber wollen Sie wohl unter fremden Menschen anfangen? Sie wissen noch nicht, was das heißt: fremde Menschen! ... Nein, da müssen Sie mich fragen, denn ich – ich kenne den fremden Menschen und kann Ihnen sagen, wie er ist. Ich kenne ihn, Kind, kenne ihn nur zu gut. Ich habe sein Brot gegessen. Bös ist er, Warinka, sehr böse, so böse, daß das kleine Herz, das man hat, nicht mehr standhalten kann, so versteht er es, einen mit Vorwürfen und Zurechtweisungen und unzufriedenen Blicken zu martern. – Bei uns haben Sie es wenigstens warm und gut, wie in einem Nestchen haben Sie sich hier eingelebt. Wie können Sie uns nun mit einem Male so etwas antun wollen? Was werde ich denn ohne Sie anfangen? Sie sollten mir nicht unentbehrlich sein? Nicht nützlich? Wieso denn nicht nützlich? Nein, Kind, denken Sie mal selbst etwas nach und dann urteilen Sie, inwiefern Sie mir nicht nützlich sein sollten! Sie sind mir sehr, sogar sehr nützlich, Warinka. Sie haben, wissen Sie, solch einen wohltuenden Einfluß auf mich ... Da denke ich jetzt zum Beispiel an Sie und bin ohne weiteres froh gestimmt ... Ich schreibe Ihnen hin und wieder einen Brief, in dem ich alle meine Gefühle ausdrücke, und erhalte darauf eine ausführliche Antwort von Ihnen. Kleiderchen und ein Hütchen habe ich für Sie gekauft, manchmal haben Sie auch einen kleinen Auftrag für mich, na, und dann besorge ich Ihnen eben das Nötige ... Nein, wie sollten Sie denn nicht nützlich sein? Und was soll ich wohl ohne Sie anfangen in meinen Jahren, wozu würde ich allein denn noch taugen? Sie haben vielleicht noch nicht darüber nachgedacht, Warinka, aber denken Sie mal wirklich darüber nach und fragen Sie sich, zu was ich denn noch taugen könnte ohne Sie. Ich habe mich an Sie gewöhnt, Warinka. Und was käme denn dabei heraus, was wäre das Ende vom Liede? – Ich würde in die Newa gehen und damit wäre die Geschichte erledigt. Nein, wirklich, Warinka, was bliebe mir denn ohne Sie noch zu tun übrig?! Ach, Herzchen, Warinka! Da sieht man’s, Sie wollen wohl, daß mich ein Lastwagen nach dem Wolkoff-Friedhof führt, daß irgendeine alte Herumtreiberin meinem Sarge folgt und daß man mich dort in der Gruft mit Erde zuschüttet und dann fortgeht und mich allein zurückläßt. Das ist sündhaft von Ihnen, sündhaft, mein Kind! Wirklich sündhaft, bei Gott, sündhaft! Ich sende Ihnen Ihr Büchelchen zurück, meine kleine Freundin, und wenn Sie, Warinka, meine Meinung über dasselbe wissen wollen, so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich mein Lebtag noch kein einziges so gutes Buch zu lesen bekommen habe. Ich frage mich jetzt selbst, mein Kind, wie ich denn bisher so habe leben können, ein wahrer Tölpel, Gott verzeihe mir! Was habe ich denn getan, mein Leben lang? Aus welchem Walde komme ich eigentlich? Ich weiß ja doch nichts, mein Kind, rein gar nichts! Ich gestehe es Ihnen ganz offen, Warinka: ich bin kein gelehrter Mensch. Ich habe bisher nur wenig gelesen, sehr wenig, fast nichts. „Das Bild des Menschen“ – ein sehr kluges Buch, das habe ich gelesen, dann noch ein anderes: „Vom Knaben, der mit Glöckchen verschiedene Stücke spielt“, und dann „Die Kraniche des Ibykus“. Das ist alles, weiter habe ich nichts gelesen. Jetzt aber habe ich hier, in Ihrem Büchlein, den „Stationsaufseher“ gelesen, und da kann ich Ihnen nur sagen, mein Kind, es kommt doch vor, daß man so lebt und nicht weiß, daß da neben einem ein Buch liegt, in dem ein ganzes Leben dargestellt ist, wie an den Fingern hergezählt, und noch mancherlei, worauf man früher selbst gar nicht verfallen ist. Das findet man nun hier, wenn man solch ein Büchlein zu lesen anfängt, und da fällt einem denn nach und nach vieles ein, und allmählich begreift man so manches und wird sich über die Dinge klar. Und dann, sehen Sie, warum ich Ihr Büchlein noch lieb gewonnen habe: manches Werk, was für eines es auch immer sein mag, das liest man und liest – aber lies meinetwegen, bis dein Schädel platzt, bloß das Verstehen, daran fehlt’s leider! Es ist eben so vertrackt geschrieben und mit soviel Klugheit, daß man es nicht recht begreifen kann. Ich zum Beispiel, – ich bin dumm, ich bin von Natur stumpf, bin schon so geboren, also kann ich auch keine allzu hohen Werke lesen. Dies aber – ja dies liest man und es ist einem fast, als hätte man es selber geschrieben, ganz als stamme es aus dem eigenen Herzen ... Ja, und so mag es auch sein: das Herz, das ist einfach festgenommen und vor allen Menschen umgekehrt, das Inwendige nach außen, und dann ausführlich beschrieben – sehen Sie, so ist es! Und dabei ist es doch so einfach, mein Gott! Ja was! Ich könnte das ja gleichfalls schreiben, wirklich, warum denn nicht? Fühle ich doch ganz dasselbe und genau so, wie es in diesem Büchelchen steht! Habe ich mich doch auch mitunter in ganz derselben Lage befunden, wie beispielsweise dieser Ssamsson Wyrin, dieser Arme! Und wie viele solcher Ssamsson Wyrins gibt es nicht unter uns, ganz genau so arme, herzensgute Menschen! Und wie richtig alles beschrieben ist! Mir kamen fast die Tränen, mein Kind, während ich das las: wie er sich bis zur Bewußtlosigkeit betrank, als das Unglück ihn heimgesucht hatte, und wie er dann den ganzen Tag unter seinem Schafspelz schlief und das Leid mit einem Pünschchen vertreiben wollte und doch herzbrechend weinen mußte, wobei er sich mit dem schmierigen Pelzaufschlag die Tränen von den Wangen wischte, wenn er an sein verirrtes Lämmlein dachte, an sein liebes Töchterchen Dunjäscha! Nein, das ist naturgetreu! Lesen Sie es mal, dann werden Sie sehen: das ist so wahr wie das Leben selbst. Das lebt! Ich habe es selbst erfahren, – das lebt alles, lebt überall rings um mich herum! Da finden wir gleich die Theresa – wozu so weit suchen! – da ist auch unser armer Beamter, – denn der ist doch vielleicht ganz genau so ein Ssamsson Wyrin, nur daß er einen anderen Namen hat und eben zufällig Gorschkoff heißt. Das ist etwas, was ein jeder von uns erleben kann, ich ebenso gut wie Sie, mein Kind. Und selbst der Graf, der am Newskij oder am Newakai wohnt, selbst der kann dasselbe erleben, nur daß er sich äußerlich anders verhalten wird – denn dort bei ihm ist nun einmal äußerlich alles anders, aber auch ihm kann es ebenso gut widerfahren, wie mir. Da sehen Sie, mein Kind, was das heißt, Leben. Sie aber wollen noch wegreisen und uns im Stich lassen! Sie wissen ja gar nicht, was Sie mir damit antun würden, Warinka! Sie würden doch nur sich und mich damit zugrunde richten. Ach, mein Sternchen, so treiben Sie doch um Gottes willen diese wilden Gedanken aus Ihrem Köpfchen und ängstigen Sie mich nicht unnütz! Und wie überhaupt – sagen Sie doch selbst, Sie mein kleines, schwaches Vögelchen, das noch nicht einmal flügge geworden ist –: wie könnten Sie sich denn selbst ernähren, sich vor dem Verderben bewahren und gegen jeden ersten besten Bösewicht verteidigen! Nein, lassen Sie es jetzt gut und genug sein, Warinka, und bessern Sie sich! Hören Sie nicht auf die dummen Ratschläge der anderen und lesen Sie Ihr Büchlein noch einmal durch: das wird Ihnen Nutzen bringen. Ich habe auch mit Ratasäjeff über den „Stationsaufseher“ gesprochen. Der sagte, das sei alles altes Zeug und jetzt erschienen nur Bücher mit Bildern und solche mit Beschreibungen – oder was er da sagte, ich habe es nicht ganz begriffen, wie er es eigentlich meinte. Er schloß aber doch damit, daß Puschkin gut sei und daß er das heilige Rußland besungen habe, und noch verschiedenes andere sagte er mir über ihn. Ja, es ist gut, Warinka, sehr gut: lesen Sie es noch einmal aufmerksam, folgen Sie meinem Rat und machen Sie mich alten Knaben durch Ihren Gehorsam glücklich. Gott der Herr wird Sie dafür belohnen, meine Gute, wird Sie bestimmt belohnen! Ihr treuer Freund Makar Djewuschkin. Mein lieber Makar Alexejewitsch! Fedora hat mir heute die fünfzehn Rubel für den Teppich gebracht. Wie froh sie war, die Arme, als ich ihr drei Rubel gab! Ich schreibe Ihnen in größter Eile. Ich habe soeben die Weste für Sie zugeschnitten, – der Stoff ist entzückend – gelb, mit Blümchen. Ich sende Ihnen ein Buch: es sind darin verschiedene Geschichten, von denen ich einige schon gelesen habe. Lesen Sie unbedingt die mit dem Titel „Der Mantel“.[5] Sie reden mir zu, mit Ihnen ins Theater zu gehen. Wird es aber nicht zu teuer sein? Vielleicht auf die Galerie, das ginge noch. Ich bin schon lange nicht mehr im Theater gewesen, wann zuletzt? Ich fürchte immer nur eines: wird uns der Spaß nicht zu viel kosten? Fedora schüttelt den Kopf und meint, daß Sie anfangen, über Ihre Verhältnisse zu leben. Das sehe auch ich ein. Wieviel haben Sie nicht allein schon für mich ausgegeben! Nehmen Sie sich in acht, mein Freund, daß es kein Unglück gibt. Fedora hat mir da etwas gesagt: daß Sie, wenn ich nicht irre, mit Ihrer Wirtin in Streit geraten seien, weil Sie irgend etwas nicht bezahlt hätten. Ich sorge mich sehr um Sie. Nun, leben Sie wohl. Ich habe eine kleine Arbeit: ich garniere nämlich meinen Hut mit Band. P. S. Wissen Sie, wenn wir ins Theater gehen, werde ich meinen neuen Hut aufsetzen und die schwarze Mantille umnehmen. Werde ich Ihnen so gefallen? 7. Juli. Meine liebe Warwara Alexejewna! Ich komme wieder auf unser gestriges Gespräch zurück. – Ja, mein Kind, auch wir haben seinerzeit dumme Streiche gemacht! So hatte ich mich einstmals wirklich und wahrhaftig in eine Schauspielerin verliebt, sterblich verliebt, jawohl! Und das wäre noch nichts gewesen, das Wunderliche aber war dabei, daß ich sie im Leben überhaupt nicht gesehen und auch im Theater nur ein einziges Mal gewesen war – dennoch verliebte ich mich in sie. Damals wohnten wir, fünf junge, übermütige Leute, alle Wand an Wand und Tür an Tür. Ich geriet in ihren Kreis, geriet ganz von selbst hinein, obschon ich mich zunächst zurückhaltend zu ihnen gestellt hatte. Dann aber, verstehen Sie, um ihnen nicht nachzustehen, ging ich auf alles ein. Und was sie mir nicht von dieser Schauspielerin erzählten! Jeden Abend, so oft Theater gespielt wurde, schob die ganze Kumpanei – für Notwendiges hatten sie nie einen Heller – schob die ganze Kumpanei ins Theater auf die Galerie und klatschte und klatschte und rief immer nur diese eine Schauspielerin hervor – einfach wie die Besessenen gebärdeten sie sich! Und dann ließen sie einen natürlich nicht einschlafen: die ganze Nacht wurde nur von ihr gesprochen, ein jeder nannte sie seine Glascha[6], alle waren sie in sie verliebt, alle hatten sie nur den einen Kanarienvogel im Herzen: Sie! Da regten sie denn schließlich auch mich auf. Ich war ja damals noch ganz jung! Ich weiß selbst nicht mehr, wie es kam, daß ich mit ihnen im Theater saß, oben auf der Galerie. Sehen konnte ich nur ein Eckchen vom Vorhang, dafür aber hörte ich alles. Sie hatte solch ein hübsches Stimmchen – hell, süß, wie eine Nachtigall. Wir klatschten uns die Hände rot und blau, schrien, schrien – mit einem Wort, man hätte uns beinahe am Kragen genommen, ja, einer wurde wirklich hinausgeführt. Ich kam nach Hause, – wie im Nebel ging ich! In der Tasche hatte ich nur noch einen Rubel, bis zum Ersten aber waren es noch gute zehn Tage. Ja, und was glauben Sie, Kind? Am nächsten Tage, auf dem Wege zum Dienst, trat ich in einen Parfümerieladen ein und kaufte für mein ganzes Kapital Parfüm und wohlriechende Seifen – ich vermag selbst nicht mehr zu sagen, wozu ich dies alles damals kaufte. Und dann speiste ich nicht einmal zu Mittag, sondern ging vor ihren Fenstern auf und ab. Sie wohnte am Newskij, im vierten Stock. Ich kam nach Haus, saß ein Weilchen, erholte mich, und dann ging ich wieder auf den Newskij, um ihr von neuem Fensterpromenaden zu machen. So trieb ich’s anderthalb Monate; jeden Augenblick nahm ich Droschken, immer Lichatschi[7], und fuhr hin und her vor ihren Fenstern: kurz, ich brachte all mein Geld durch, geriet obendrein in Schulden, bis ich dann schließlich und von selbst aufhörte, sie zu lieben, und das Ganze mir langweilig wurde. Da sehen Sie, was eine Schauspielerin aus einem ordentlichen Menschen zu machen imstande ist! Doch ich war damals wirklich noch jung, Warinka, noch ganz, ganz jung! ... M. D. 8. Juli. Meine liebe Warwara Alexejewna! Ihr Büchlein, das ich am 6. dieses Monats erhalten habe, beeile ich mich, Ihnen zurückzusenden. Gleichzeitig will ich versuchen, mich mit Ihnen in diesem Briefe zu verständigen. Es ist nicht gut, mein Kind, wirklich nicht gut, daß Sie mich in solch eine Zwangslage gebracht haben. Erlauben Sie, mein Kind: jedem Menschen ist sein Stand von dem Höchsten zugeteilt. Dem einen ist es bestimmt, Generalsepauletten zu tragen, dem anderen, als Schreiber sein Leben zuzubringen – jenem, zu befehlen, diesem, widerspruchslos und in Furcht zu gehorchen. Das ist nun einmal so, ist genau nach den menschlichen Fähigkeiten so eingerichtet: der eine hat die Fähigkeit zu diesem, der andere zu jenem, die Fähigkeiten selbst aber, die stammen von Gott. Ich bin schon an die dreißig Jahre im Dienst. Ich erfülle meine Pflicht mit Peinlichkeit, pflege stets nüchtern zu sein, und habe mir noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Als Bürger und Mensch halte ich mich nach eigener Erkenntnis für einen Mann, der sowohl seine Fehler, wie auch seine Tugenden besitzt. Die Vorgesetzten achten mich und selbst Seine Exzellenz sind mit mir zufrieden – wenn sie mir bisher auch noch keinen Beweis ihrer Zufriedenheit gegeben haben, so weiß ich doch auch so, daß sie mit mir zufrieden sind. Meine Handschrift ist gefällig, nicht allzu groß, aber auch nicht allzu klein, läßt sich am besten mit Kursivschrift bezeichnen, jedenfalls aber befriedigt sie! Bei uns kann allerhöchstens Iwan Prokofjewitsch so gut schreiben wie ich, das heißt, auch der nur annähernd so gut. Mein Haar ist im Dienst allgemach grau geworden. Eine große Sünde wüßte ich nicht begangen zu haben. Natürlich, wer sündigt denn nicht im kleinen? Ein jeder sündigt, und sogar Sie sündigen, mein Kind! Doch ein großes Vergehen oder auch nur eine bewußte Unbotmäßigkeit habe ich nicht auf dem Gewissen – etwa daß ich die öffentliche Ruhe gestört hätte oder so etwas – nein, so etwas habe ich mir nicht vorzuwerfen, nie hat man mich bei so etwas betroffen. Sogar ein Kreuzchen habe ich erhalten – doch was soll man davon reden! Das müßten Sie ja alles wissen, und auch er hätte es wissen müssen, denn wenn er sich schon einmal an das Beschreiben machte, dann hätte er sich eben vorher nach allem erkundigen sollen! Nein, das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, mein Kind! Nein, gerade von Ihnen nicht, Warinka![8] Wie! So kann man denn nicht mehr ruhig in seinem Winkelchen leben – gleichviel wie und wo es auch sein möge – ganz still für sich, ohne ein Wässerchen zu trüben, ohne jemanden anzurühren, gottesfürchtig und zurückgezogen, damit auch die anderen einen nicht anrühren, ihre Nasen nicht in deine Hütte stecken und alles durchschnüffeln: wie sieht es denn bei dir aus, hast du zum Beispiel auch eine gute Weste, hast du auch alles Nötige an Leibwäsche, hast du auch Stiefel und wie sind sie besohlt, was ißt du, was trinkst du, was schreibst du ab? Was ist denn dabei, mein Kind, daß ich, wo das Pflaster schlecht ist, mitunter auf den Fußspitzen gehe, um die Stiefel zu schonen? Warum muß man gleich von einem anderen geschwätzig schreiben, daß er mitunter in Geldverlegenheit sei und dann keinen Tee trinke? Ganz als ob alle Menschen unbedingt Tee trinken müßten! Sehe ich denn einem jeden in den Mund, um nachzusehen, was für ein Stück der Betreffende gerade kaut? Wen habe ich denn schon so beleidigt? Nein, mein Kind, weshalb andere beleidigen, die einem nichts Böses getan haben? Nun, und da haben Sie jetzt ein Beispiel, Warwara Alexejewna, da sehen Sie, was das heißt: dienen, dienen, gewissenhaft und mit Eifer seine Pflicht erfüllen – ja, und sogar die Vorgesetzten achten dich (was man da auch immer reden wird, aber sie achten dich doch), – und da setzt sich nun plötzlich jemand dicht vor deine Nase hin und macht sich ohne alle Veranlassung mir nichts dir nichts daran, eine Schmähschrift über dich zu verfassen, ein Pasquill, so eines, wie es dort in dem Buche steht! Es ist ja wahr, hat man sich einmal etwas Neues angeschafft, so freut man sich darüber, schläft womöglich vor lauter Freude nicht, wie sonst: hat man zum Beispiel neue Stiefel – mit welch einer Wonne zieht man sie an. Das ist wahr, das habe auch ich schon empfunden, denn es ist angenehm, seinen Fuß in einem feinen Stiefel zu sehen: es ist ganz richtig beschrieben! Aber trotzdem wundert es mich aufrichtig, daß Fedor Fedorowitsch das Buch so hat durchgehen lassen und nicht für sich selbst eingetreten ist. Freilich, er ist noch ein junger Vorgesetzter und schreit manchmal ganz gern seine Untergebenen an. Aber weshalb soll er denn das nicht dürfen? Warum soll er ihnen nicht die Leviten lesen, da man mit unsereinem anders doch nicht auskommt? Nun ja, sagen wir, er tut es nur um des Tones willen, – nun, aber auch das ist nötig. Man muß die Zügel stramm halten, muß Strenge zeigen, denn sonst – unter uns gesagt, Warinka – ohne Strenge, ohne Zwang tut unsereiner nichts, ein jeder will doch nur seine Stelle haben, um sagen zu können: „Ich diene dort und dort,“ doch um die Arbeit sucht sich ein jeder, so gut es eben geht, herumzudrücken. Da es aber verschiedene Ränge gibt und jeder Rang den verdienten Rüffel in einer seiner Höhe entsprechend abgestuften Tonart verlangt, so ergibt das naturgemäß verschiedene Tonarten, wenn der Vorgesetzte mal alle durchnimmt, – das liegt nun schon in der Ordnung der Dinge! Darauf ruht doch die Welt, mein Kind, daß immer einer den anderen beherrscht und im Zaum hält, – ohne diese Vorsichtsmaßregel könnte ja die Welt gar nicht bestehen, wo bliebe denn sonst die Ordnung? Nein, ich wundere mich wirklich, wie Fedor Fedorowitsch eine solche Beleidigung unbeachtet hat durchlassen können! Und wozu so etwas schreiben? Zu was ist das nötig? Wird denn jemand von den Lesern auch nur einen Mantel dafür kaufen? Oder ein neues Paar Stiefel? – Nein, Warinka, der Leser liest es und verlangt noch obendrein eine Fortsetzung! Man versteckt sich ja schon sowieso, versteckt sich und verkriecht sich, man fürchtet sich, auch nur seine Nase zu zeigen, weil man davor zittert, bespöttelt zu werden, weil man weiß, daß alles, was es in der Welt gibt, zu einem Pasquill verarbeitet wird. Jetzt, siehst du, zieht dein ganzes bürgerliches wie häusliches Leben durch die Literatur, alles ist gedruckt, gelesen, belacht, verspottet! Man kann sich ja nicht einmal mehr auf der Straße zeigen! Hier ist doch nun alles so genau beschrieben, daß man allein schon am Gange erkannt werden muß! Wenn er sich doch wenigstens zum Schluß geändert und, sagen wir, irgend etwas wieder gemildert hätte, wenn er zum Beispiel nach jener Stelle, an der man seinem Helden die Papierschnitzel auf den Kopf streut, gesagt hätte, daß er bei alledem ein tugendhafter und ehrenhafter Bürger gewesen und eine solche Behandlung von seinen Kollegen nicht verdient hätte, daß er den Vorgesetzten gehorchte und gewissenhaft seine Pflicht erfüllt (hier hätte er dann noch ein Beispielchen hineinflechten können), daß er niemandem Böses gewünscht, daß er an Gott geglaubt und, als er gestorben (wenn er ihn nun einmal unbedingt sterben lassen wollte), von allen beweint worden sei. Am besten aber wäre es gewesen, wenn er ihn, den Armen, gar nicht hätte sterben lassen, sondern wenn er es so gemacht hätte, daß sein Mantel wieder aufgefunden worden wäre, und daß Fedor Fedorowitsch – nein, was sage ich! – daß jener hohe Vorgesetzte Näheres über seine Tugenden erfahren und ihn in seine Kanzlei aufgenommen, ihn auf einen höheren Posten gestellt und ihm noch eine gute Zulage zu seiner bisherigen gegeben hätte, so daß es dann, sehen Sie, so herausgekommen wäre, daß das Böse bestraft wird und die Tugend triumphiert – die anderen Kanzleibeamten dagegen, seine Kollegen, hätten dann alle das Nachsehen gehabt! Ja, ich zum Beispiel hätte es so gemacht: denn so wie er es geschrieben hat – was ist denn dabei Besonderes, was ist dabei Schönes? Das ist ja doch einfach nur irgend so ein Beispiel aus dem alltäglichen niedrigen Leben! Und wie haben _Sie_ sich nur entschließen können, mir ein solches Buch zu senden, meine Gute? Das ist doch ein böswilliges, ein vorsätzlich Schaden bringendes Buch, Warinka. Das ist doch einfach nicht wahrheitsgetreu, denn es ist doch ganz ausgeschlossen, daß es einen solchen Beamten irgendwo geben könnte! Nein, ich werde mich beklagen, Warinka, werde mich ganz einfach und ausdrücklich beklagen! Ihr gehorsamster Diener Makar Djewuschkin. 27. Juli. Mein lieber Makar Alexejewitsch! Ihre Briefe und die letzten Ereignisse haben mich recht erschreckt, und zwar um so mehr, als ich mir anfangs nichts zu erklären wußte – bis Fedora mir dann alles erzählte. Aber weshalb mußten Sie denn gleich so verzweifeln und in einen solchen Abgrund stürzen, Makar Alexejewitsch? Ihre Erklärungen haben mich durchaus nicht befriedigt. Sehen Sie jetzt, daß ich recht hatte, als ich darauf bestand, jene vorteilhafte Stelle anzunehmen? Überdies ängstigt mich mein letztes Abenteuer sehr. Sie sagen, Ihre Liebe zu mir habe Sie veranlaßt, mir manches zu verheimlichen. Ich habe es ja schon damals gewußt, wie sehr ich Ihnen zu Dank verpflichtet war, als Sie mir noch versicherten, daß Sie für mich nur Ihr erspartes Geld ausgäben, welches Sie, wie Sie sagten, auf der Kasse liegen hätten. Jetzt aber, nachdem ich erfahren habe, daß Sie überhaupt kein erspartes Geld besitzen, daß Sie, als Sie zufällig von meiner traurigen Lage erfuhren, nur aus Mitleid beschlossen, Ihr Gehalt, das Sie sich noch dazu vorauszahlen ließen, für mich auszugeben, und daß Sie während meiner Krankheit sogar Ihre Kleider verkauft haben – jetzt sehe ich mich in eine so qualvolle Lage versetzt, daß ich gar nicht weiß, wie ich alles das auffassen und was ich überhaupt denken soll! Ach, Makar Alexejewitsch! Sie hätten es bei der notwendigsten Hilfe, die Sie mir aus Mitleid und verwandtschaftlicher Liebe leisteten, bewenden lassen und nicht unausgesetzt soviel Geld für ganz Unnötiges verschwenden sollen! Sie haben mich hintergangen, Makar Alexejewitsch, Sie haben mein Vertrauen mißbraucht, und jetzt, wo ich hören muß, daß Sie Ihr letztes Geld für meine Kleider, für Konfekt, Ausflüge, Theaterbesuch und Bücher hingegeben haben – jetzt bezahle ich das teuer mit Selbstvorwürfen und der bitteren Reue ob meines unverzeihlichen Leichtsinns, denn ich habe doch alles von Ihnen angenommen, ohne nach Ihrem Auskommen zu fragen. Auf diese Weise verwandelt sich jetzt alles, womit Sie mir einst Freude machen wollten, in eine drückende Last, und alles Gute wird in der Erinnerung von Bedauern verdrängt. Es ist mir in der letzten Zeit natürlich nicht entgangen, daß Sie bedrückt waren, aber obschon ich selbst ahnungsvoll irgendein Unheil erwartete, konnte ich doch das, was jetzt geschehen ist, einfach nicht fassen. Wie! So haben Sie schon in einem solchen Maße den Mut verlieren können, Makar Alexejewitsch! Was werden jetzt diejenigen, die Sie kennen, von Ihnen sagen? Sie, den ich wie alle anderen wegen Ihrer Herzensgüte, Anspruchslosigkeit und Anständigkeit geachtet habe, Sie haben sich plötzlich einem so widerlichen Laster ergeben können, dem Sie doch, soviel mir scheint, früher noch nie gefrönt haben. Ich weiß nicht mehr, was mit mir geschah, als Fedora mir erzählte, daß man Sie in berauschtem Zustande auf der Straße gefunden und die Polizei Sie nach Haus geschafft habe! Ich erstarrte, – obschon ich mich auf etwas Außergewöhnliches gefaßt gemacht hatte, da Sie ja doch schon seit ganzen vier Tagen verschwunden waren. Haben Sie denn nicht daran gedacht, Makar Alexejewitsch, was Ihre Vorgesetzten dazu sagen werden, wenn sie die wirkliche Ursache Ihres Ausbleibens vernehmen? Sie sagen, daß alle über Sie lachen und von unseren Beziehungen erfahren haben, und daß Ihre Nachbarn in ihren Spottreden auch meiner Erwähnung tun. Beachten Sie das nicht, Makar Alexejewitsch und beruhigen Sie sich um Gottes willen! Ferner beunruhigt mich auch noch Ihre Geschichte mit jenen Offizieren, – ich habe nichts Genaueres erfahren können, nur so ein Gerücht. Erklären Sie mir, bitte, was für eine Bewandtnis es damit hat. Sie schreiben, daß Sie sich gefürchtet, mir die Wahrheit mitzuteilen, weil Sie dann vielleicht meine Freundschaft verloren haben würden, daß Sie während meiner Krankheit in der Verzweiflung nur deshalb alles verkauft hätten, um die Kosten bestreiten und somit verhindern zu können, daß man mich ins Hospital brachte, daß Sie soviel Schulden gemacht, wie es Ihnen gerade noch möglich war, und Ihre Wirtin Ihnen jetzt täglich unangenehme Szenen bereite, – aber indem Sie mir alles dies verheimlichten, wählten Sie das Schlechtere. Jetzt habe ich ja doch alles erfahren! Sie wollten mir die Erkenntnis ersparen, daß ich die Ursache Ihrer unglücklichen Lage war, haben mir aber nun durch Ihre Aufführung doppelten Kummer bereitet. Alles das hat mich fast gebrochen, Makar Alexejewitsch. Ach, mein Freund! Unglück ist eine ansteckende Krankheit. Arme und Unglückliche müßten sich fernhalten voneinander, um sich gegenseitig nicht noch mehr ins Elend zu bringen. Ich habe Ihnen solches Unglück gebracht, wie Sie es früher in Ihrem bescheidenen stillen Leben gewiß noch nie erfahren haben. Das quält mich entsetzlich und nimmt mir jede Kraft. Schreiben Sie mir jetzt alles aufrichtig, was dort mit Ihnen geschehen ist und wie Sie sich so weit haben vergessen können. Beruhigen Sie mich, wenn es Ihnen möglich ist. Ich sage das nicht aus Egoismus, sondern nur aus Freundschaft und Liebe zu Ihnen, die nichts aus meinem Herzen tilgen könnte. Leben Sie wohl. Ich erwarte Ihre Antwort mit Ungeduld. Sie haben schlecht von mir gedacht, Makar Alexejewitsch. Ihre Sie von Herzen liebende Warwara Dobrosseloff. 28. Juli. Meine unschätzbare Warwara Alexejewna! Ja: jetzt, wo alles schon vorüber und überstanden ist und alles allmählich wieder ins alte Geleise kommt, kann ich ja zu Ihnen ganz aufrichtig sein, mein Kind. Also: es beunruhigt Sie, was man von mir denken und was man von mir sagen wird. Darauf beeile ich mich, Ihnen mitzuteilen, daß mein Ansehen im Amte mir höher steht, als alles andere. Und da kann ich Ihnen denn, nachdem ich Ihnen von diesen meinen Unglücksfällen und Mißgeschicken berichtet habe, nunmehr mitteilen, daß von meinen Vorgesetzten noch niemand etwas erfahren hat, so daß sie mich alle nach wie vor achten werden. Nur eines fürchte ich: nämlich Klatschgeschichten. Hier zu Haus schrie die Wirtin, aber nachdem ich ihr jetzt mittels Ihrer zehn Rubel einen Teil meiner Schuld bezahlt habe, brummt sie nur noch. Und was die anderen betrifft, so ist es nicht so schlimm: man muß sie nur nicht um Geld bitten, dann sind sie ganz gut. Zum Schluß aber dieser meiner Erklärungen sage ich Ihnen noch, mein Kind, daß Ihre Achtung mir über alles geht, über alles und jedes in der Welt, und damit, daß ich diese nicht eingebüßt habe, tröste ich mich nun in der Zeit meiner Bedrängnis. Gott sei Dank, daß der erste Schlag und die ersten Unannehmlichkeiten vorüber sind, und daß Sie es so milde auffassen, daß Sie mich deshalb nicht für einen treulosen Freund und selbstsüchtigen Menschen halten, weil ich Sie hier bei uns zurückhielt und Sie betrog, Sie liebte und doch nicht die Kraft hatte, mich von Ihnen zu trennen, mein Engel. Ich habe mich mit Eifer von neuem an meine Arbeit gemacht und bin bemüht, durch treue Pflichterfüllung im Dienst mein Vergehen wieder gut zu machen. Jewstafij Iwanowitsch sagte kein Wort, als ich gestern an ihm vorüberging. Ich will Ihnen auch nicht verheimlichen, mein Kind, daß meine Schulden und der schlechte Zustand meiner Kleidung schwer auf mir lasten, aber darauf kommt es ja wieder gar nicht an, und ich bitte Sie nur inständig, sich wegen dieser Nebensachen keine Sorgen zu machen. Sie senden mir noch ein halbes Rubelchen. Warinka, dieses halbe Rubelchen hat mir mein Herz durchbohrt. Also so steht es jetzt, so hat sich das Blatt gewandt! Nicht ich, der alte Dummkopf, helfe Ihnen, mein Engelchen, sondern Sie, mein armes Waisenkindchen, helfen noch mir! Das war sehr gut von Fedora, daß sie Geld verschafft hat. Ich habe vorläufig gar keine Aussichten, irgendwo welches auftreiben zu können, mein Kind, doch sobald sich irgendeine Aussicht auf eine Möglichkeit einstellen sollte, werde ich Ihnen darüber ausführlich näheres schreiben. Nur der Klatsch, der Klatsch beunruhigt mich! Leben Sie wohl, mein Engelchen. Ich küsse Ihr Händchen und bitte Sie flehentlich, nur ja wieder gesund zu werden. Ich schreibe deshalb so kurz, weil ich zum Dienst eilen muß, denn durch Eifer und Fleiß will ich alle meine Versäumnisse nachholen und so mein Gewissen langsam beruhigen. Die ausführlichere Wiedergabe meiner Erlebnisse sowie jener Geschichte mit den Offizieren verschiebe ich auf den Abend. Dann habe ich mehr Zeit. Ihr Sie hoch verehrender und herzlich liebender Makar Djewuschkin. 28. Juli. Warinka, mein Liebes! Ach, Warinka, Warinka! Jetzt ist aber die Schuld auf Ihrer Seite und wird auf Ihrem Gewissen lasten bleiben. Mit Ihrem Brief hatten Sie mich um den Rest von Überlegungskraft gebracht, den ich noch besaß, und mich ganz und gar vor den Kopf gestoßen: erst jetzt, nachdem ich in Muße nachgedacht und mir bis ins innerste Herz hineingeblickt habe, sehe ich und weiß ich wieder, daß ich doch im Recht war, vollkommen im Recht. Ich rede jetzt nicht von meinen drei wüsten Tagen (lassen wir das gut sein, Kind, reden wir nicht mehr davon!), sondern sage nur immer wieder, daß ich Sie liebe und daß es keineswegs unvernünftig von mir war, Sie zu lieben, nein, durchaus nicht unvernünftig! Sie, mein Kind, wissen ja doch noch nichts: aber wenn Sie wüßten, wie das alles kam, warum ich Sie lieben muß, so würden Sie ganz anders reden. Sie sagen ja dies alles nur so, und ich bin überzeugt, daß Sie in Ihrem Herzen ganz anders denken. Mein Kind, ich weiß es ja selbst nicht mehr ganz genau, was ich mit jenen Offizieren eigentlich hatte. Ich muß Ihnen nämlich gestehen, mein Engelchen, daß ich mich bis dahin in der schrecklichsten Lage befand. Stellen Sie sich vor, mein Kind, daß ich mich schon einen ganzen Monat sozusagen nur noch an einem Fädchen hielt. Meine Bedrängnis war so groß, daß ich gar nicht mehr wußte, wo ich mich lassen sollte. Vor Ihnen versteckte ich mich, und hier zu Haus versteckte ich mich gleichfalls, aber meine Wirtin schrie trotzdem allen Menschen die Ohren voll. Ich hätte mir nicht viel daraus gemacht, ich hätte sie ja schreien lassen, die schändliche Person, so viel sie wollte, aber erstens war es doch eine Schande, und zweitens kam hinzu, daß sie Gott weiß woher von unserer Freundschaft erfahren hatte, und da schrie sie denn im ganzen Hause solche Sachen über uns aus, daß mir Hören und Sehen verging und ich mir die Ohren zuhielt. Die anderen aber hielten sich ihre Ohren nicht zu, sondern rissen sie ganz im Gegenteil sperrangelweit auf. Auch jetzt noch weiß ich nicht, mein Kind, wo ich mich vor ihnen verbergen soll ... Und nun, sehen Sie mein Engelchen, diesem Ansturm von Unglück in allen seinen Arten war ich eben nicht gewachsen. Und da hörte ich nun plötzlich von Fedora, daß ein Nichtswürdiger zu Ihnen gekommen sei und Sie mit unverschämten Anträgen beleidigt habe. Daß er Sie tief und grausam beleidigt haben mußte, das konnte ich schon nach mir selbst beurteilen, mein Kind, denn auch ich fühlte mich dadurch tief beleidigt. Ja – und da, mein Engelchen, da verlor ich eben den Verstand, verlor den Kopf und verlor mich selbst vollständig dazu. Ich lief in einer solchen Wut fort, Warinka, wie ich sie mein Lebtag noch nicht empfunden. Ich wollte sogleich zu ihm, zu diesem Verführer, dem nichts mehr heilig war! Doch ich weiß selbst nicht, was ich wollte. Ich wollte jedenfalls, mein Engelchen, daß man Sie nicht beleidigte! Nun, traurig war es! Regen und Schmutz draußen und Weh und Kummer im Herzen! ... Ich gedachte schon zurückzukehren ... Aber da kam das Verhängnis, mein Kind. Ich begegnete dem Jemeljä, dem Jemeljan Iljitsch, – er ist ein Beamter, d. h. er war Beamter, jetzt aber ist er es nicht mehr, denn er wurde aus irgendeinem Grunde davongejagt. – Ich weiß eigentlich nicht, womit er sich jetzt beschäftigt – irgendwie wird er sich wohl schon durchzuschlagen wissen und so gingen wir denn beide. Gingen. – Und dann, – ja, was soll man da reden, Warinka, es ist für Sie doch keine Freude, von den Verirrungen und Prüfungen Ihres Freundes zu lesen – und den Bericht von all dem Unglück mit anzuhören, das er gehabt hat. Am dritten Tage, gegen Abend – der Jemeljä, Gott verzeih ihm, hatte mich aufgehetzt – ging ich schließlich hin zu dem Leutnant. Seine Adresse hatte ich von unserem Hausknecht erfahren. Ich hatte ja doch – da nun einmal die Rede davon ist – schon lange diesen jungen Helden ins Auge gefaßt, hatte ihn schon lange beobachtet, als er noch in unserem Hause wohnte. Jetzt sehe ich ja ein, daß ich mich nicht richtig benommen habe, denn ich war nicht in einem klaren Zustande, als ich mich bei ihm melden ließ, Warinka. Und dann mein Kind, ja dann, offengestanden, davon weiß ich nichts mehr, was dann noch geschah. Ich erinnere mich nur noch, daß sehr viele Offiziere bei ihm waren, oder vielleicht auch, Gott weiß es, sahen meine Augen alles doppelt. Auch weiß ich nicht mehr, was ich dort eigentlich tat, ich weiß nur, daß ich viel sprach, und zwar in ehrlicher Entrüstung. Nun und da wurde ich denn schließlich hinausbefördert und die Treppe hinabgeworfen, d. h. nicht gerade, daß sie mich wortwörtlich hinabgeworfen hätten, aber immerhin: ich wurde hinausbefördert. Wie ich wieder nach Hause kam, das wissen Sie ja schon. Nun und das ist alles, Warinka. Ich habe mir natürlich viel vergeben und meine Ehre hat darunter gelitten, aber von dem ganzen weiß ja doch niemand, von fremden Menschen niemand, außer Ihnen kein Mensch, nun und das ist doch ebenso gut, als wäre überhaupt nichts gewesen. Ja, vielleicht ist es auch wirklich so, Warinka, was meinen Sie? Was ich nämlich ganz genau weiß, das ist, daß im vorigen Jahr Akssentij Ossipowitsch sich bei uns ganz ebenso an Pjotr Petrowitsch vergriff, aber er tat es nicht öffentlich, tat es unter vier Augen. Er ließ ihn in die Wachtstube bitten, ich aber sah alles zufällig mit an: dort nun verfuhr er dann mit ihm, wie er es für richtig befand, jedoch unter voller Wahrung von Ehre und Haltung: denn wie gesagt, es sah niemand etwas davon – außer mir. Ich aber – nun, ich bin doch nichts, d. h. ich will damit nur sagen, daß ich nichts davon habe verlauten lassen, es ist also ganz so, als hätte auch ich nichts gewußt. Nun und nachher haben Pjotr Petrowitsch und Akssentij Ossipowitsch immer so zueinander gestanden, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen. Pjotr Petrowitsch ist, wissen Sie, solch ein Ehrgeiziger, daher hat er denn auch niemand etwas gesagt, und jetzt grüßen sie sich, als ob nichts vorgefallen wäre, und reichen sich sogar die Hand. Ich widerspreche ja nicht, Warinka, ich wage ja gar nicht, Ihnen zu widersprechen, ich sehe es selbst ein, daß ich tief gesunken bin und ich habe sogar, was am schrecklichsten ist, an Selbstachtung viel, ach, sehr viel verloren. Doch das wird mir wahrscheinlich schon von Geburt an so bestimmt gewesen sein: das war eben mein Schicksal, – dem Schicksal aber entgeht man nicht, wie Sie wissen. So, das wäre jetzt die ausführliche Erzählung alles dessen, was mich in meiner Not und meinem Elend noch heimgesucht hat, Warinka. Wie Sie sehen, ist es von der Art, daß es besser wäre, gar nicht daran zu denken. Ich bin krank, mein Kind, und da sind mir alle bessern Gefühle abhanden gekommen. Ich schließe, indem ich Sie, verehrte Warwara Alexejewna, meiner Anhänglichkeit, Liebe und Hochachtung versichere, und verbleibe Ihr ergebenster Diener Makar Djewuschkin. 29. Juni. Mein lieber Makar Alexejewitsch! Ich habe Ihre beiden Briefe gelesen und die Hände zusammengeschlagen! Mein Gott, mein Gott! Hören Sie, mein Freund, entweder verheimlichen Sie mir etwas oder Sie haben mir überhaupt nur einen Teil Ihrer Unannehmlichkeiten geschrieben, oder ... wirklich, Makar Alexejewitsch, aus Ihren Briefen lese ich noch immer eine gewisse Verstörtheit heraus ... Kommen Sie heute zu mir, um Gottes willen kommen Sie! Und hören Sie: kommen Sie einfach zum Mittagessen zu uns. Ich weiß nicht, wie Sie dort leben und wie Sie jetzt mit Ihrer Wirtin stehen. Sie schreiben davon nichts, und zwar scheinbar absichtlich, als wollten Sie wieder etwas verschweigen. Also auf Wiedersehen, mein Freund, kommen Sie unbedingt heute zu uns. Überhaupt wäre es besser, wenn Sie immer bei uns essen würden. Fedora kocht sehr gut. Leben Sie wohl. Ihre Warwara Dobrosseloff. 1. August. Warwara Alexejewna, meine Liebe! Sie freuen sich, mein Kind, daß Gott der Herr Ihnen jetzt Gelegenheit gegeben hat, Gutes mit Gutem zu vergelten und mir Ihre Dankbarkeit zu beweisen. Ich glaube daran, Warinka, und glaube an die Engelsgüte Ihres Herzchens, und will Ihnen keinen Vorwurf machen, nur müssen auch Sie mir nicht wie damals vorwerfen, daß ich auf meine alten Tage ein Verschwender geworden sei. Nun, ich habe eben mal gesündigt, was ist da zu machen! – wenn Sie durchaus wollen, daß es eine Sünde sei. Nur sehen Sie, Warinka, gerade von Ihnen das zu hören, das tut weh! Aber seien Sie mir deshalb nicht böse, daß ich Ihnen das sage. In meinem Herzen ist alles krank, mein Kind. Arme sind eigensinnig: – das ist von der Natur selbst so eingerichtet. Ich habe es auch früher schon beobachtet und selbst gefühlt. Der arme Mensch ist empfindlich: Gottes Welt sieht er anders an, auf jeden Vorübergehenden sieht er mißtrauisch von der Seite, und schaut sich überall argwöhnisch und verwirrt um, und horcht auf jedes Wort – ob da nicht etwa von ihm gesprochen wird? Ob man sich nicht gerade zuflüstert, wie unansehnlich und abgerissen er ausschaue? Ob man sich nicht frage, was er gerade in diesem Augenblick wohl empfinde? Vielleicht auch, wie er denn eigentlich von dieser, und wie er wohl von jener Seite sich ausnehme? Das weiß doch ein jeder, Warinka, daß ein armer Mensch schlechter als ein alter Lappen ist und keinerlei Achtung von anderen Menschen verlangen kann, was man da auch immer schreiben mag! Denn was diese Buchmenschen da schreiben: es bleibt am armen Menschen doch alles so, wie es war. Und weshalb bleibt es so, wie es war? Nun, weil bei einem armen Menschen alles sozusagen mit der linken Seite nach außen sein muß, er darf da nichts tiefinnerlich Verborgenes besitzen, keinen Ehrgeiz beispielsweise oder sonst sowas, das duldet man einfach nicht. Noch neulich sagte mir der Jemeljä, daß man einmal irgendwo eine Kollekte für ihn gemacht habe, und daß er dabei für jeden Heller gewissermaßen einer Besichtigung unterzogen worden sei. Die Menschen waren der Meinung, daß sie ihm ihre Almosen nicht umsonst geben müßten – oh nein: sie zahlten dafür, daß man ihnen einen armen Menschen zeigte. Heutzutage, Kind, werden auch die Wohltaten ganz eigenartig erwiesen ... vielleicht auch, daß sie immer so erwiesen worden sind, wer kann das wissen! Entweder verstehen es die Leute nicht oder sie sind schon gar zu große Meister darin – eins von beiden. Sie haben das vielleicht noch nicht gewußt? Dann merken Sie es sich! Glauben Sie mir, Warinka, wenn ich auch über manches nicht mitreden kann – hierüber weiß ich besser Bescheid, als so mancher andere! Woher aber weiß ein armer Mensch alles dies? Und warum denkt er überhaupt so etwas? Ja, woher weiß er es? – Nun, eben so – aus Erfahrung! Ebensogut wie er weiß, daß dort der feine Herr, der neben ihm geht und sogleich in ein Restaurant treten wird, bei sich selbst denkt: „Was wird wohl dieser arme Beamte da heute zu Mittag speisen? Ich werde mir jedenfalls _sauté aux papillotes_ bestellen, er aber wird vielleicht einen Brei ohne Butter essen!“ – Aber was geht es denn ihn an, daß ich Brei ohne Butter essen werde? Ja, es gibt nun einmal solche Menschen, Warinka, es gibt wirklich solche Menschen, die nur an so etwas denken. Und die gehen dann noch umher, diese nichtsnutzigen Pasquillanten, und schnüffeln überall und sehen nach, ob einer mit dem ganzen Fuß auftritt, oder nur mit der Fußspitze, und notieren es sich noch, daß der und der Beamte in dem und dem Ressort Stiefel trägt, aus denen die nackten Zehen hervorgucken, daß die Ärmel seiner Uniform an den Ellenbogen durchgescheuert sind und Löcher aufweisen – und das beschreiben sie dann alles ganz genau, und obendrein wird’s gedruckt ... Was geht das dich an, daß meine Ellenbogen zerrissen sind? Ja, wenn Sie mir das grobe Wort verzeihen, Warinka, so sage ich Ihnen, daß ein armer Mensch in dieser Beziehung ganz dieselbe Scham empfindet, wie Sie beispielsweise Ihre Mädchenscham empfinden. Sie werden sich doch auch nicht vor allen Leuten – verzeihen Sie mir das grobe Beispiel – auskleiden. Nun, und sehen Sie, genau so ungern sieht es der arme Mensch, daß man in seine Hundehütte hineinblickt, etwa um zu sehen, wie denn da seine Familienverhältnisse sind. Was lag aber für ein Grund vor, mich, Warinka, zusammen mit meinen Feinden, die es auf die Ehre und den guten Ruf eines ehrlichen Menschen abgesehen haben, so zu beleidigen? Nun, und heute saß ich in meinem Bureau ganz mäuschenstill und geduckt, und kam mir selbst wie ein gerupfter Sperling vor, so daß ich vor Scham fast vergehen wollte. Ich schämte mich, Warinka! Man verliert ja unwillkürlich den Mut, wenn man weiß, daß durch das durchgescheuerte Ärmelzeug die Ellenbogen schimmern und die Knöpfe nur noch an einem Fädchen baumeln. Und bei mir war doch alles wie behext, alles buchstäblich wie behext, und in der größten Verwahrlosung! Da verliert man denn ganz unwillkürlich seinen Mut. Ja, wie auch nicht! Selbst Stepan Karlowitsch sagte, als er heute über Dienstliches mit mir zu sprechen begann: er sprach nämlich und sprach, und dann plötzlich entfuhr es ihm ganz unversehens: „Ach ja, Makar Alexejewitsch!“ sprach aber das andere nicht aus, nicht das, was er dachte, nur erriet ich es durch alle seine Gedanken hindurch und errötete so, daß sogar meine Glatze rot wurde. Es hat ja im Grunde nichts zu bedeuten, aber es ist doch immer irgendwie beunruhigend und bringt einen auf ganz schwermütige Gedanken. Sollten Sie vielleicht schon etwas erfahren haben? Gott behüte, wenn Sie nun doch etwas erfahren haben sollten! Ja, wirklich, aufrichtig gesagt, ich habe einen gewissen Menschen stark im Verdacht. Diesen Räubern macht es doch nichts aus! Die verraten einen ohne weiteres! Sie sind fähig, dein ganzes Privatleben für nichts und wieder nichts zu verkaufen! Denen ist gar nichts mehr heilig! Ich weiß jetzt, wessen Streich das ist: Ratasäjeff hat’s getan! Er muß mit jemandem aus unserem Ressort bekannt sein, und da hat er dem Betreffenden so gesprächsweise etwas gesagt, vielleicht auch noch seine Erzählung ganz besonders ausgeschmückt. Oder er hat’s vielleicht in seinem Bureau erzählt, und von dort ist es dann hinausgetragen worden und auch zu uns gekommen. Bei uns zu Hause sind alle ganz genau unterrichtet: sie weisen gar mit dem Finger nach Ihrem Fenster. Ich weiß schon, daß sie’s tun. Und als ich gestern zum Mittagessen zu Ihnen ging, steckten sie aus allen Fenstern die Köpfe hinaus, und die Wirtin sagte, da habe nun der Teufel mit einem Säugling einen Bund geschlossen, und dann drückte sie sich außerdem noch unanständig über Sie aus. Aber alles dies ist noch nichts gegen die schändliche Absicht Ratasäjeffs, uns beide in seine Schriften hineinzubringen und uns in einer pikanten Satire zu schildern. Das hat er selbst gesagt, und mir deuteten es einige gute Freunde im Bureau an. Ich kann jetzt an nichts mehr denken, mein Kind, und weiß nicht einmal, wozu ich mich entschließen muß. Ja, – soll man da noch länger seine Sünde in Abrede stellen, wir haben doch wohl beide Gott den Herrn erzürnt, mein Engelchen! Sie wollten mir, mein Kind, ein Buch schicken, damit ich mich nicht langweile. Lassen Sie es gut sein, Liebling, was mach ich damit! Und was ist denn solch ein Buch? Das ist doch alles nichts Wirkliches! Und auch Satiren und Romane sind Unsinn, nur so um des Unsinns willen geschrieben, nur so, damit müßige Leute etwas zu lesen haben. Glauben Sie mir, mein Kind, was ich Ihnen sage, glauben Sie meiner langjährigen Erfahrung. Und wenn sie Ihnen da von Shakespeare anfangen – in der Literatur, siehst du, gibt es einen Shakespeare! – so ist ja doch auch ihr ganzer Shakespeare Unsinn, nichts als barer Unsinn, und nichts weiter als ein Spott- und Schmähgeschreibe und nur zu solchem Zweck von diesem Pasquillanten verfaßt! Ihr Makar Djewuschkin. 2. August. Mein lieber Makar Alexejewitsch! Ich bitte Sie, beunruhigen Sie sich jetzt nicht mehr! Gott wird uns schon helfen und alles wird wieder gut werden. Fedora hat für sich und mich eine Menge Arbeit verschafft und wir haben uns sehr vergnügt sogleich daran gemacht. Vielleicht werden wir dadurch alles wieder gutmachen können. Fedora sagte mir, sie glaube, daß Anna Fedorowna über alle meine Unannehmlichkeiten in der letzten Zeit genau unterrichtet sei, doch mir ist jetzt alles gleichgültig. Ich bin heute ganz besonders froh gestimmt. Sie wollen Geld borgen – Gott bewahre Sie davor! Damit würden Sie sich noch mehr Unglück auf den Hals laden, denn Sie müssen es zurückzahlen, und Sie wissen doch wohl, wie schwer das ist. Leben Sie jetzt lieber noch etwas sparsamer, kommen Sie öfter zu uns und achten Sie nicht darauf, was Ihre Wirtin da schreit. Was aber Ihre übrigen Feinde und alle Ihnen mißgünstig Gesinnten betrifft, so bin ich überzeugt, daß Sie sich mit ganz grundlosen Befürchtungen quälen, Makar Alexejewitsch! Sie könnten auch etwas mehr auf Ihren Stil achten, ich habe Ihnen schon das vorige Mal gesagt, daß Sie sehr unausgeglichen schreiben. Nun, also leben Sie wohl bis zum Wiedersehen. Ich erwarte Sie unter allen Umständen. Ihre W. D. 3. August. Mein Engelchen Warwara Alexejewna! Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, mein Seelchen, daß ich jetzt doch wieder eine kleine Aussicht habe und damit auch wieder Hoffnung. Aber zunächst erlauben Sie mir eines, mein Kind: Sie schreiben, ich solle keine Anleihe machen? Mein Täubchen, es geht nicht ohne sie. Mir geht es schon schlecht, aber wie wird das erst mit Ihnen sein, es kann Ihnen doch plötzlich etwas zustoßen! Sie sind doch solch ein schwächliches Dingelchen. Also sehen Sie, deshalb sage ich denn auch, daß man sich unbedingt Geld verschaffen muß. Und nun hören Sie weiter. Also zunächst muß ich vorausschicken, daß ich im Bureau neben Jemeljan Iwanowitsch sitze. Das ist nicht jener Jemeljan, von dem ich Ihnen schon erzählt habe. Er ist vielmehr, ganz wie ich, ein Staatsschreiber. Wir beide sind so ziemlich die Ältesten im ganzen Departement, die Alteingesessenen, wie man uns zu nennen pflegt. Er ist ein guter Mensch, ein uneigennütziger Mensch, aber nicht gerade sehr gesprächig, wissen Sie, und eigentlich sieht er immer wie so ein richtiger Brummbär aus. Dafür arbeitet er gut, hat eine sogenannte englische Handschrift, und wenn man die Wahrheit sagen soll, schreibt er nicht schlechter als ich. Er ist dabei ein wirklich ehrenwerter Mensch! Sehr intim sind wir beide nie gewesen, nur so auf „Guten Tag!“ und „Leben Sie wohl!“ haben wir gestanden, doch, was mitunter vorkam, wenn ich sein Federmesser nötig hatte, nun, dann sagte ich eben: „Bitte, Jemeljan Iwanowitsch, Ihr Messerchen, auf einen Augenblick!“ Also eine richtige Unterhaltung gab’s zwischen uns nicht, aber es wurde doch das gesprochen, was man sich so gelegentlich zu sagen hat, wenn man nebeneinander sitzt. Nun aber, sehen Sie, da sagte dieser Mensch heute ganz plötzlich zu mir: „Makar Alexejewitsch, warum sind Sie denn jetzt so nachdenklich?“ Ich sah, der Mensch meinte es gut mit mir – und da vertraute ich mich ihm denn an. So und so, sagte ich, Jemeljan Iwanowitsch, d. h. alles erzählte ich ihm nicht – und natürlich, Gott behüte, werde ich das auch nie tun, denn dazu fehlt mir der Mut, Warinka, aber so dies und jenes habe ich ihm doch anvertraut, mit anderen Worten: ich gestand ihm, daß ich „etwas in Geldverlegenheit“ sei, nun, und so weiter. „Aber Sie könnten doch, Väterchen,“ sagte darauf Jemeljan Iwanowitsch, „könnten sich doch von jemandem Geld leihen, sagen wir zum Beispiel von Pjotr Petrowitsch, der leiht auf Prozente. Ich habe auch von ihm geliehen. Und er nimmt nicht einmal gar so hohe Prozente, wirklich, nicht gar so hohe.“ Nun, Warinka, mein Herz schlug gleich ganz anders vor lauter Freude – es hüpfte nur so! Ich dachte und dachte hin und her und setzte mein Vertrauen auf Gott, der, was kann man wissen, dem Pjotr Petrowitsch vielleicht doch eingibt, daß er mir Geld leiht. Und ich begann schon, alles auszurechnen: wie ich dann meine Wirtin bezahlen und Ihnen helfen und auch mir selbst ein einigermaßen menschliches Aussehen verleihen würde – denn so ist es doch eine wahre Schande, man schämt sich ordentlich, auf seinem Platz zu sitzen, ganz abgesehen davon, daß die Jungen ewig über einen lachen – nun, Gott verzeih’ ihnen! Aber auch Seine Exzellenz gehen mitunter an unserem Tisch vorüber: nun, sagen wir, wenn sie einmal – wovor Gott uns behüte und bewahre! – wenn sie einmal im Vorübergehen einen Blick auf mich zu werfen geruhten und bemerken sollten, daß ich, sagen wir, ungehörig gekleidet bin! Bei Seiner Exzellenz aber sind Sauberkeit und Ordnung die Hauptsache. Sie würden ja wahrscheinlich nichts sagen, aber ich, Warinka, ich würde auf der Stelle sterben vor Scham, – sehen Sie, so würde es sein. Daher nahm ich denn all meinen Mut zusammen, verbarg meine Scheu so gut es ging, und begab mich zu Pjotr Petrowitsch, einerseits voll Hoffnung und andererseits weder tot noch lebendig vor Erwartung – beides zugleich. Nun, was soll ich Ihnen denn sagen, Warinka, es endete mit – nichts. Er war da sehr beschäftigt und sprach gerade mit Fedossei Iwanowitsch. Ich trat von der Seite an ihn heran und zupfte ihn ein wenig am Ärmel: bedeutete ihm, daß ich mit ihm sprechen wolle, mit Pjotr Petrowitsch. Er sah sich nach mir um – und da begann ich denn und sagte ungefähr: „So und so, Pjotr Petrowitsch, wenn möglich, sagen wir etwa dreißig Rubel usw.“ – Er schien mich zuerst nicht ganz zu verstehen, als ich ihm aber dann nochmals alles erklärt hatte, da begann er zu lachen, sagte aber nichts und schwieg wieder. Ich begann von neuem, er aber fragte plötzlich: „Haben Sie ein Pfand?“ – selbst jedoch vertiefte er sich wieder ganz in seine Papiere und schrieb weiter, ohne sich nach mir umzusehen. Das machte mich ein wenig befangen. „Nein,“ sagte ich, „ein Pfand habe ich nicht, Pjotr Petrowitsch“ – und ich erklärte ihm: „So und so, ich werde Ihnen das Geld zurückzahlen, sobald ich meine Monatsgage erhalte, werde es unbedingt tun, werde es für meine erste Pflicht erachten.“ In diesem Augenblick rief ihn jemand und er ging fort, ich blieb aber und erwartete ihn. Er kam denn auch bald wieder zurück, setzte sich, spitzte seine Feder – mich aber bemerkte er gleichsam überhaupt nicht. Ich kam jedoch wieder darauf zu sprechen, „also so und so, Pjotr Petrowitsch, ginge es denn nicht doch irgendwie?“ Er schwieg und schien mich wieder gar nicht zu hören, ich aber stand, stand. – Nun, dachte ich, ich will es doch noch einmal, zum letztenmal, versuchen, und zupfte ihn wieder ein wenig am Ärmel. Er sagte aber keinen Ton, Warinka, entfernte nur ein Härchen von seiner Federspitze und schrieb weiter. Da ging ich denn. Sehen Sie, mein Kind, es sind das ja vielleicht sehr ehrenwerte Menschen, nur stolz sind sie, sehr stolz, – nichts für unsereinen! Wo reichen wir an diese hinan, Warinka! Deshalb, damit Sie es wissen, habe ich Ihnen auch alles das geschrieben. Jemeljan Iwanowitsch begann gleichfalls zu lachen und schüttelte den Kopf, aber er machte mir doch wieder Hoffnung, der Gute. Jemeljan Iwanowitsch ist wirklich ein edler Mensch. Er versprach mir, mich einem gewissen Mann zu empfehlen, und dieser Mann, Warinka, der auf der Wiborger Seite[9] wohnt, leiht gleichfalls Geld auf Prozente. Jemeljan Iwanowitsch sagt, der werde zweifellos geben, dieser ganz bestimmt. Ich werde morgen, mein Engelchen, gleich morgen werde ich zu ihm gehen. Was meinen Sie dazu? Es geht doch nicht ohne Geld! Meine Wirtin droht schon, mich hinauszujagen, und will mir nichts mehr zu essen geben. Und meine Stiefel sind schrecklich schlecht, mein Kind, und Knöpfe fehlen mir überall, und was mir nicht sonst noch alles fehlt! Wenn nun einer der Vorgesetzten eine Bemerkung darüber macht? Es ist ein Unglück, Warinka, wirklich ein Unglück! Makar Djewuschkin. 4. August. Lieber Makar Alexejewitsch! Um Gottes willen, Makar Alexejewitsch, verschaffen Sie so bald als möglich Geld! Ich würde Sie unter den jetzigen Umständen natürlich für keinen Preis um Hilfe bitten, aber wenn Sie wüßten, in welcher Lage ich mich befinde! Ich kann nicht mehr in dieser Wohnung bleiben, ich muß fort! Ich habe die schrecklichsten Unannehmlichkeiten gehabt, Sie können es sich nicht vorstellen, wie aufgeregt und verzweifelt ich bin! Stellen Sie sich vor, mein Freund: heute morgen erscheint bei uns plötzlich ein fremder Herr, ein schon bejahrter Mann, nahezu ein Greis, mit Orden auf der Brust. Ich wunderte mich und begriff nicht, was er von uns wollte. Fedora war gerade ausgegangen, um noch etwas zu kaufen. Er begann mich auszufragen: wie ich lebe, womit ich mich beschäftige, und darauf erklärte er mir – ohne meine Antwort abzuwarten, – er sei der Onkel jenes Offiziers und habe sich über das flegelhafte Betragen seines Neffen sehr geärgert: er sei sehr aufgebracht darüber, daß jener mich in einen schlechten Ruf gebracht habe – sein Neffe sei ein leichtsinniger Bengel, der zu nichts tauge, er aber fühle sich als Onkel verpflichtet, die Schuld seines Neffen zu sühnen und mich unter seinen Schutz zu nehmen. Ferner riet er mir noch, nicht auf die jungen Leute zu hören, er dagegen habe wie ein Vater Mitleid mit mir, empfinde überhaupt väterliche Liebe für mich und sei bereit, mir in jeder Beziehung zu helfen. Ich errötete, wußte aber noch immer nicht, was ich denken sollte, weshalb ich ihm natürlich auch nicht dankte. Er nahm meine Hand und hielt sie fest, obschon ich sie ihm zu entziehen suchte, tätschelte meine Wange, sagte mir, ich sei gar zu reizend, und ganz besonders gefalle es ihm, daß ich in den Wangen Grübchen habe. – Gott weiß, was er da noch sprach! – und zu guter Letzt wollte er mich auch noch küssen: er sei ja schon ein Greis, wie er sagte. Er war so ekelhaft! – Da trat Fedora ins Zimmer. Er wurde ein wenig verlegen und begann wieder damit, daß er mich wegen meiner Bescheidenheit und Wohlerzogenheit überaus achte: er würde es sehr gern sehen, daß ich meine Scheu vor ihm verlöre. Dann rief er Fedora beiseite und wollte ihr unter einem seltsamen Vorwand Geld in die Hand drücken. Doch Fedora nahm es natürlich nicht an. Da brach er denn endlich auf, wiederholte nochmals alle seine Beteuerungen, versprach, mich nächstens wieder zu besuchen und mir dann Ohrringe mitzubringen (ich glaube, er war zum Schluß selbst etwas verlegen). Er riet mir außerdem, in eine andere Wohnung überzusiedeln, und empfahl mir sogar eine, die sehr schön sei und mich nichts kosten würde. Er sagte, daß er mich namentlich deshalb sehr liebgewonnen habe, weil ich ein ehrenwertes und vernünftiges Mädchen sei. Darauf riet er mir nochmals, mich vor der verderbten Jugend in acht zu nehmen, und zum Schluß erklärte er, daß er mit Anna Fedorowna bekannt sei und sie ihn beauftragt habe, mir zu sagen, daß sie mich besuchen werde. Da begriff ich denn alles! Ich weiß nicht mehr, was mit mir geschah – ich habe das zum erstenmal gefühlt und mich zum erstenmal in einer solchen Lage befunden: ich war außer mir! Ich beschämte ihn tüchtig – und Fedora stand mir bei und jagte ihn förmlich aus dem Zimmer. Das ist natürlich Anna Fedorownas Machwerk – woher hätte er sonst etwas von uns erfahren können? Ich aber wende mich an Sie, Makar Alexejewitsch, und flehe Sie an, mir beizustehen. Helfen Sie mir, um Gottes willen, lassen Sie mich jetzt nicht im Stich! Bitte, bitte, verschaffen Sie uns Geld, wenn auch nur ein wenig, wir haben nichts, womit wir die Kosten eines Umzuges bestreiten könnten, hierbleiben aber können wir unter keinen Umständen, das ist ganz ausgeschlossen. Auch Fedora ist der Meinung. Wir brauchen wenigstens fünfundzwanzig Rubel. Ich werde Ihnen dieses Geld zurückgeben, ich werde es mir schon verdienen! Fedora wird mir in den nächsten Tagen noch Arbeit verschaffen, lassen Sie sich daher nicht durch hohe Prozente abschrecken, sehen Sie nicht darauf, gehen Sie auf jede Bedingung ein! Ich werde Ihnen alles zurückzahlen, nur verlassen Sie mich jetzt nicht, um Gottes willen! Es kostet mich viel, Ihnen unter den jetzigen Umständen mit einer solchen Bitte zu kommen, aber Sie sind doch meine einzige Stütze, meine einzige Hoffnung! Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch, denken Sie an mich, und Gott gebe Ihnen Erfolg! W. D. 4. August. Mein Täubchen Warwara Alexejewna! Sehen Sie, gerade alle diese unerwarteten Schläge sind es, die mich erschüttern! Gerade diese schrecklichen Heimsuchungen schlagen mich zu Boden! Dieses Lumpenpack von faden Schmarotzern und nichtswürdigen Greisen will nicht nur Sie, mein Engelchen, auf das Krankenlager bringen, durch alle die Aufregungen, die sie Ihnen bereiten, sondern auch mir wollen sie, diese Schurken, den Garaus machen. Und das werden sie, ich schwöre es, das werden sie! Ich wäre doch jetzt eher zu sterben bereit, als Ihnen nicht zu helfen! Und wenn ich Ihnen nicht helfen könnte, so wäre das mein Tod, Warinka, wirklich mein Tod. Helfe ich Ihnen aber, so fliegen Sie mir schließlich wie ein Vöglein fort, und dann werden Sie von diesen Nachteulen, diesen Raubvögeln, die Sie jetzt aus dem Nestchen locken wollen, einfach umgebracht. Das jedoch ist es, was mich am meisten quält, mein Kind. Aber auch Ihnen, Warinka, trage ich eines nach: warum müssen Sie denn gleich so grausam sein? Wie können Sie nur! Sie werden gequält, Sie werden beleidigt, Sie, mein Vögelchen, mein kleines, armes Herzchen, haben nur zu leiden, und da – da machen Sie sich noch deshalb Sorgen, daß Sie mich beunruhigen müssen, und versprechen, das Geld zurückzuzahlen, und es zu erarbeiten: das aber heißt doch in Wirklichkeit, daß Sie sich bei Ihrer schwachen Gesundheit zuschanden arbeiten wollen, um für mich zum richtigen Termin das Geld zu beschaffen! So bedenken Sie doch bloß, Warinka, was Sie da sprechen! Wozu sollen Sie denn nähen und arbeiten und Ihr armes Köpfchen mit Sorgen quälen und Ihre Gesundheit untergraben? Ach, Warinka, Warinka! Sehen Sie, mein Täubchen, ich tauge zu nichts, zu gar nichts, und ich weiß es selbst, daß ich zu nichts tauge, aber ich werde dafür sorgen, daß ich doch noch zu etwas tauge! Ich werde alles überwinden, ich werde mir noch Privatarbeit verschaffen, ich werde für unsere Schriftsteller Abschriften machen, ich werde zu ihnen gehen, werde selbst zu ihnen gehen und mir Arbeit von ihnen ausbitten, denn sie suchen doch gute Abschreiber, ich weiß es, daß sie sie suchen! Sie aber sollen sich nicht krank arbeiten: nie und nimmer lasse ich das zu! Ich werde, mein Engelchen, ich werde unbedingt Geld auftreiben, ich sterbe eher, als daß ich es nicht tue. Sie schreiben, mein Täubchen, ich solle vor hohen Prozenten nicht zurückschrecken: – das werde ich gewiß nicht, mein Kind, ich werde bestimmt nicht zurückschrecken, jetzt vor nichts mehr! Ich werde vierzig Rubel erbitten, mein Kind. Das ist doch nicht zu viel, Warinka, was meinen Sie? Kann man mir vierzig Rubel auf mein Wort ohne weiteres anvertrauen? Das heißt, ich will nur wissen, ob Sie mich für fähig halten, jemandem auf den ersten Blick hin Zutrauen einzuflößen? So nach dem Gesichtsausdruck, meine ich, und überhaupt – kann man mich da auf den ersten Blick hin günstig beurteilen? Denken Sie zurück, mein Engelchen, denken Sie nach, kann ich wohl einen guten Eindruck auf jemanden machen, der mich zum erstenmal sieht? Bin ich wohl der Mann dazu? Was meinen Sie? Wissen Sie, man fühlt doch solch eine Angst – krankhaft geradezu, wirklich krankhaft! Von den vierzig Rubeln gebe ich fünfundzwanzig Ihnen, Warinka, zwei der Wirtin und den Rest behalte ich für mich, für meine Ausgaben. Zwar sehen Sie: der Wirtin müßte ich eigentlich mehr geben, sogar unbedingt mehr, aber überlegen Sie es sich reiflich, mein Kind, rechnen Sie mal zusammen, was ich nur fürs Allernotwendigste brauche: Sie werden einsehen, daß ich ihr unter keinen Umständen mehr geben kann – folglich lohnt es sich gar nicht, noch weiter darüber zu reden, und man kann die Frage einfach ausschalten. Für fünf Rubel kaufe ich mir ein Paar Stiefel. Ich weiß wirklich nicht, ob ich morgen noch mit den alten in den Dienst gehen kann. Eine Halsbinde wäre wohl auch sehr nötig, da die jetzige schon bald ein Jahr alt ist, doch da Sie mir aus einem alten Schürzchen nicht nur ein Vorhemdchen, sondern auch eine Halsbinde zu verfertigen versprachen, so will ich daran nicht weiter denken. Somit hätten wir Stiefel und Halsbinde. Jetzt noch Knöpfe, mein Liebes! Sie werden doch zugeben, Kindchen, daß ich ohne Knöpfe nicht auskommen kann, von meinem Uniformrock ist aber die Hälfte der Garnitur schon abgefallen. Ich zittere, wenn ich daran denke, daß Seine Exzellenz eine solche Nachlässigkeit bemerken und sagen könnten – ja, was!? Das würde ich ja doch nicht mehr hören, denn ich würde dort sterben, auf der Stelle sterben, tot hinfallen, einfach vor Schande bei dem bloßen Gedanken den Geist aufgeben! Ach ja, mein Kind, das würde ich! – Ja, und dann blieben mir noch nach allen Anschaffungen drei Rubel, die blieben mir dann zum Leben und für ein halbes Pfündchen Tabak, denn sehen Sie, mein Engelchen, ich kann ohne Tabak nicht leben, heute aber ist es schon der neunte Tag, daß ich mein Pfeifchen nicht mehr angerührt habe. Ich hätte ja, offen gestanden, auch so Tabak gekauft, ohne es Ihnen vorher zu sagen, aber man schämt sich vor seinem Gewissen. Sie dort sind unglücklich, Sie entbehren alles, ich aber sollte mir hier gar Vergnügungen leisten? Also deshalb sage ich es Ihnen, daß ich mich nicht mit Gewissensbissen zu quälen brauche. Ich gestehe Ihnen ganz offen, Warinka, daß ich mich jetzt in einer äußerst verzweifelten Lage befinde, das heißt, bisher habe ich in meinem Leben noch nichts Ähnliches durchgemacht. Die Wirtin verachtet mich: von Achtung oder Schätzung – davon kann keine Rede sein. Überall Mangel, überall Schulden, im Dienst aber, wo mich die Kollegen auch früher schon nicht auf Rosen gebettet haben, im Dienst – nun, schweigen wir lieber davon. Ich verberge alles, ich suche es vor allen sorgfältig zu verbergen, und auch mich selbst verberge ich: wenn ich in den Dienst gehe, drücke ich mich nach Möglichkeit unbemerkt und seitlich an allen vorüber. Ich habe gerade nur noch so viel Mut, daß ich Ihnen dies offen eingestehen kann ... Aber wie, wenn er nichts gibt? Nein, es ist besser, Warinka, man denkt gar nicht daran und quält sich nicht unnütz mit solchen Vorstellungen, die einem schon im voraus jeden Mut rauben. Ich schreibe das nur deshalb, um Sie zu warnen und davor zu bewahren, daß Sie nicht im voraus daran denken und sich mit bösen Gedanken quälen. Tun Sie es nicht! Aber, mein Gott, was würde aus Ihnen werden! Freilich würden Sie dann die Wohnung nicht wechseln, vielmehr hier in meiner Nähe bleiben – aber nein, ich käme dann überhaupt nicht mehr zurück, ich würde einfach untergehen, verschwinden, verderben! Da habe ich Ihnen nun wieder eine lange Epistel geschrieben, und hätte mich doch statt dessen rasieren können, denn rasiert sieht man stets etwas sauberer und anständiger aus, das aber hat viel zu sagen und hilft einem immer, wenn man etwas sucht. Nun, Gott gebe es! Ich werde beten und dann – mich auf den Weg machen! M. Djewuschkin. 5. August. Liebster Makar Alexejewitsch! Wenn Sie doch wenigstens nicht verzweifeln würden! Es gibt ohnehin schon Sorgen genug! – Ich sende Ihnen dreißig Kopeken, mehr kann ich nicht. Kaufen Sie sich dafür, was Sie da gerade am notwendigsten brauchen, um sich wenigstens noch bis morgen irgendwie durchzuschlagen. Wir haben selbst fast nichts mehr, was morgen aus uns werden wird – ich weiß es nicht. Es ist traurig, Makar Alexejewitsch! Übrigens sollen Sie deshalb den Kopf nicht hängen lassen: nun, er hat Ihnen nichts gegeben, was ist denn schließlich dabei! Fedora sagt, noch sei es nicht so schlimm, wir könnten noch ganz gut eine Weile hierbleiben – und selbst wenn wir in eine andere Wohnung übergesiedelt wären, hätten wir damit doch nur wenig gewonnen, denn wer es wolle, der könne uns überall finden. Freilich ist es deshalb noch immer nicht schön, jetzt hierzubleiben. Wenn nicht alles so traurig wäre, würde ich Ihnen noch mancherlei schreiben. Was Sie doch für einen sonderbaren Charakter haben, Makar Alexejewitsch! Sie nehmen sich alles viel zu sehr zu Herzen: deshalb werden Sie auch immer der unglücklichste Mensch sein. Ich lese Ihre Briefe sehr aufmerksam und sehe, daß Sie sich in einem jeden dermaßen um mich sorgen und quälen, wie Sie sich um sich selbst noch nie gesorgt und gequält haben. Man wird natürlich sagen, daß Sie ein gutes Herz haben. Ich aber sage, daß Ihr Herz viel zu gut ist. Ich möchte Ihnen einen freundschaftlichen Rat geben, Makar Alexejewitsch. Ich bin Ihnen dankbar, sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben, ich empfinde es tief, glauben Sie mir. Also urteilen Sie jetzt selbst, wie mir zumute ist, wenn ich sehen muß, daß Sie nach all Ihrem Unglück und Ihren Sorgen, deren unfreiwillige Ursache ich gewesen bin, – daß Sie auch jetzt noch nur für mich leben, gewissermaßen sogar nur um meinetwillen leben: meine Freuden sind Ihre Freuden, mein Leid ist Ihr Leid, und meine Gefühle sind Ihnen wichtiger, als Ihre eigenen! Wenn man sich aber den Kummer Fremder so zu Herzen nimmt und mit allen so viel Mitleid empfindet, dann hat man allerdings Ursache, der unglücklichste Mensch zu sein. Als Sie heute nach dem Dienst bei uns eintraten, erschrak ich förmlich bei Ihrem Anblick. Sie sahen so bleich, so abgehärmt und mitgenommen, so zerstört und verzweifelt aus: Sie waren kaum wiederzuerkennen, – und das alles nur deshalb, weil Sie sich fürchteten, mir Ihren Mißerfolg mitzuteilen, mich zu betrüben und zu erschrecken. Als Sie aber sahen, daß ich ob dieses kleinen Unglücks zu lachen begann, da atmeten Sie geradezu befreit auf. Makar Alexejewitsch! So grämen Sie sich doch nicht so, verzweifeln Sie doch nicht, seien Sie doch vernünftig! Ich bitte Sie darum, ich beschwöre Sie! Sie werden sehen, es wird alles gut werden, alles wird sich zum Besseren wenden. Sie machen sich das Leben ganz unnötigerweise schwer, indem Sie sich ewig um andere grämen und sorgen. Leben Sie wohl, mein Freund! Ich bitte Sie nochmals, sorgen Sie sich nicht um mich! W. D. Mein Täubchen Warinka! Nun gut, mein Engelchen, also gut! Sie sind zu der Überzeugung gelangt, daß es noch kein Unglück ist, daß ich das Geld nicht erhalten habe. Nun gut, ich bin also beruhigt und glücklich. Ich bin sogar froh, weil Sie mich Alten nicht verlassen und jetzt in dieser Wohnung bleiben. Ja und wenn man schon alles sagen soll, so muß ich gestehen, daß mein Herz voll Freude war, als ich las, wie Sie in Ihrem Briefchen so schön über mich schrieben und sich über meine Gefühle so lobend äußerten. Ich sage das nicht aus Stolz, sondern weil ich sehe, daß Sie mich gern haben müssen, wenn Sie sich gerade um mein Herz so beunruhigen. Gut: doch was soll man jetzt noch viel von meinem Herzen reden! Das Herz ist eine Sache für sich, – aber Sie sagen da, Kindchen, daß ich nicht kleinmütig sein soll. Ja, mein Engelchen, Sie haben recht, daß es überflüssig ist, daß man ihn wirklich nicht braucht – den Kleinmut, meine ich. Aber, bei alledem: sagen Sie mir jetzt bloß, mein Liebling, in welchen Stiefeln ich mich morgen in den Dienst begeben soll? – Da sehen Sie, mein Kind, wo der Haken sitzt. Dieser Gedanke kann doch einen Menschen zugrunde richten, kann ihn einfach vernichten. Die Hauptursache, meine Gute, ist freilich, daß ich mich nicht um meinetwillen so sorge, daß ich nicht um meinetwillen darunter leide. Mir persönlich ist das doch ganz gleich, und müßte ich auch in der größten Kälte ohne Mantel und Stiefel gehen: ich würde schon alles aushalten, mir macht es nichts aus, ich bin doch ein einfacher, ein geringer Mensch. Aber was werden die Leute dazu sagen? – was werden meine Feinde sagen, und alle diese boshaften Zungen, wenn ich ohne Mantel komme? Man trägt ihn ja doch nur um der Leute willen, und auch die Stiefel trägt man nur ihretwegen. Die Stiefel sind in diesem Falle, mein Kindchen, mein Herzchen, nur zur Aufrechterhaltung der Ehre und des guten Rufes nötig. In zerrissenen Stiefeln aber geht die eine wie der andere verloren – glauben Sie mir, was ich Ihnen sage, mein Kind, verlassen Sie sich auf meine langjährige Erfahrung, hören Sie auf mich Alten, der die Menschen kennt, und nicht auf irgend solche Sudler. Aber ich habe Ihnen ja noch gar nicht ausführlich erzählt, Kind, wie das heute alles in Wirklichkeit war. Ich habe an diesem einen Morgen so viel ausgestanden, so viele Seelenqualen durchgemacht, wie manch einer vielleicht in einem ganzen Jahr nicht. Also nun hören Sie, wie es war: Ich ging ganz, ganz früh von Hause fort, um ihn anzutreffen und dann selbst noch rechtzeitig in den Dienst kommen zu können. Es war solch ein Regenwetter heute, solch ein Schmutz! Nun, ich wickelte mich in meinen Mantel, mein Herzchen, und ging und ging, und dabei dachte ich die ganze Zeit: Lieber Gott! Vergib mir alle meine Übertretungen deiner Gebote und laß meinen Wunsch in Erfüllung gehen! Wie ich an der –schen Kirche vorüberging, bekreuzte ich mich, bereute alle meine Sünden, besann mich aber darauf, daß es mir nicht zusteht, mit Gott dem Herrn so zu unterhandeln. Da versenkte ich mich denn in meine eigenen Gedanken und wollte nichts mehr ansehen. Und so ging ich denn, ohne auf den Weg zu achten, immer weiter. Die Straßen waren leer, und die Menschen, denen man von Zeit zu Zeit begegnete, sahen besorgt und gehetzt aus – freilich war das auch kein Wunder: wer wird denn um diese Zeit und bei diesem Wetter spazieren gehen? Ein Trupp schmutziger Arbeiter kam mir entgegen: die stießen mich roh zur Seite, die Kerle. Da überfiel mich wieder Schüchternheit, mir wurde bange, und an das Geld, um die Wahrheit zu sagen, wollte ich überhaupt nicht mehr denken – geht man auf gut Glück, nun, dann eben auf gut Glück! Gerade bei der Wosnessenskij-Brücke blieb eine meiner Stiefelsohlen liegen, so daß ich selbst nicht mehr weiß, auf was ich eigentlich weiterging. Und gerade dort kam mir unser Schreiber Jermolajeff entgegen, stand still und folgte mir mit den Blicken, fast so, als wolle er mich um ein Trinkgeld bitten. Ach Gott ja, Bruderherz, dachte ich, ein Trinkgeld, was ist ein Trinkgeld! Ich war furchtbar müde, blieb stehen, erholte mich ein bißchen, und dann schleppte ich mich wieder weiter. Jetzt sah ich absichtlich überall hin, um irgendwo was zu entdecken, an das ich die Gedanken hätte heften können, so um mich etwas zu zerstreuen, mich etwas aufzumuntern, aber ich fand nichts: kein einziger Gedanke wollte haften bleiben, und zum Überfluß war ich auch noch so schmutzig geworden, daß ich mich vor mir selber schämte. Endlich erblickte ich in der Ferne ein gelbes hölzernes Haus mit einem Giebelausbau, eine Art Villa: nun, da ist es, dachte ich gleich, so hat es mir auch Jemeljan Iwanowitsch beschrieben – das Haus Markoffs. (Markoff heißt er nämlich, der Mann, der Geld auf Prozente leiht.) Nun, und da gingen mir denn die Gedanken alle ganz durcheinander: ich wußte, daß es Markoffs Haus war, fragte aber trotzdem den Schutzmann im Wächterhäuschen, wessen Haus denn dies dort eigentlich sei, das heißt also, wer darin wohne. Der Schutzmann aber, solch ein Grobian, antwortete mißmutig, ganz als ärgere er sich über mich, und brummte nur so vor sich hin: jenes Haus gehöre einem gewissen Markoff. Diese Polizeibeamten sind alle so gefühllose Menschen – doch was gehen sie mich schließlich an? Immerhin war es ein schlechter und unangenehmer Eindruck. Mit einem Wort: eins kam zum andern. In allem findet man etwas, was gerade der eigenen Lage entspricht oder was man als gewissermaßen zu ihr in Beziehung stehend empfindet: das ist immer so. – An dem Hause ging ich dreimal vorüber, aber je mehr ich ging, um so schlimmer wurde es: nein, denke ich, er wird mir nichts geben, wird mir bestimmt kein Geld geben, ganz gewiß nicht! Ich bin doch ein fremder, ihm völlig unbekannter Mensch, es ist eine heikle Sache, und auch mein Äußeres ist nicht gerade einnehmend. Nun, denke ich, wie es das Schicksal will, dann bereue ich es nachher wenigstens nicht, daß ich es überhaupt nicht versucht habe, der Versuch wird mich ja auch nicht gleich den Kopf kosten! Und so öffnete ich denn leise das Hofpförtchen. Aber nun kam schon das andere Unglück: kaum war ich eingetreten, da stürzte solch ein dummer kleiner Hofhund, so ein richtiger Hackenbeißer, auf mich los und kläffte und kläffte, daß einem die Ohren klangen. Und sehen Sie, immer sind es gerade derartige nichtswürdige kleine Zwischenfälle, mein Kind, die einen aus dem Gleichgewicht bringen und von neuem schüchtern machen, und die ganze Entschlossenheit, zu der man sich schon zusammengerafft hat, wieder vernichten. Ich gelangte halb tot halb lebendig ins Haus – dort aber stieß ich gleich auf ein neues Unglück: ich sah nicht, wohin ich trat und was im halbdunklen Flur neben der Schwelle stand – plötzlich stolperte ich über irgendein hockendes Weib, das gerade Milch aus dem Melkgefäß in Kannen goß, und da verschüttete sie denn die ganze Milch. Das dumme Weib schrie natürlich und keifte sogleich und zeterte: „Siehst du denn nicht, wohin du rennst, mach doch die Augen auf, was suchst du hier?“ und so ging es weiter ohne Unterlaß. Ich schreibe Ihnen das alles, mein Kind, schreibe es nur deshalb, weil mir in solchen Fällen regelmäßig etwas zustößt: das muß mir wohl vom Schicksal schon so bestimmt sein. Ewig gerate ich mit etwas anderem, ganz Nebensächlichem zusammen und durcheinander. Auf das Geschrei hin kam eine alte Hexe zum Vorschein, eine Finnländerin. Ich wandte mich sogleich an sie: ob hier Herr Markoff wohne? Nein, sagte sie zunächst barsch, blieb dann aber stehen und musterte mich eingehend. „Was wollen Sie denn von ihm?“ fragte sie. Nun, ich erklärte ihr alles: „So und so, Jemeljan Iwanowitsch ...“ – erzählte auch alles übrige – kurz: ich käme in Geschäften! Darauf rief die Alte ihre Tochter herbei – die kam: ein erwachsenes Mädchen, und barfuß. „Ruf den Vater. Er ist oben bei den Mietern. Bitte, treten Sie näher.“ Ich trat ein. Das Zimmer war – nun, wie so gewöhnlich diese Zimmer sind: an den Wänden Bilder, größtenteils Porträts von Generälen, ein Sofa, ein runder Tisch, Reseda und Balsaminen in Blumentöpfen – ich denke und denke: soll ich mich nicht lieber drücken, solange es noch Zeit ist? Und bei Gott, mein Kind, ich war wirklich schon im Begriff, fortzulaufen! Ich dachte: ich werde lieber morgen kommen, nächstens, dann wird auch das Wetter besser sein, ich werde noch bis dahin warten! Heute aber ist sowieso die Milch verschüttet, die Generale sehen mich alle so böse an ... Und ich wandte mich, ich gesteh’s wirklich, schon zur Tür, Warinka, da kam auch schon Er: – so, nichts Besonderes, ein kleines, graues Kerlchen, mit solchen, wissen Sie, etwas heimtückischen Äuglein, dabei in einem schmierigen Schlafrock, mit einer Schnur um den Leib. Er erkundigte sich, welches mein Wunsch sei und womit er mir dienen könne, worauf ich ihm sagte: „So und so, Jemeljan Iwanowitsch – etwa vierzig Rubel,“ sagte ich, „die habe ich nötig –.“ Aber ich sprach nicht zu Ende. An seinen Augen schon sah ich, daß ich verspielt hatte. „Nein,“ sagte er, „tut mir leid, ich habe kein Geld. Oder haben Sie ein Pfand?“ Ich begann, ihm zu erklären, daß ich ein Pfand zwar nicht habe, „Jemeljan Iwanowitsch aber – und so weiter,“ mit einem Wort, ich erklärte ihm alles, was da zu erklären war. Er hörte mich ruhig an. „Ja, was,“ sagte er, „Jemeljan Iwanowitsch kann mir nichts helfen, ich habe kein Geld.“ Nun, dachte ich, das sah ich ja schon kommen, das wußte ich, das habe ich vorausgeahnt. Wirklich, Warinka, es wäre besser gewesen, die Erde hätte sich unter mir aufgetan, meine Füße wurden kalt, Frösteln lief mir über den Rücken. Ich sah ihn an und er sah mich an, fast als wolle er sagen: „Nun, geh mal jetzt, mein Bester, du hast hier nichts mehr zu suchen,“ – so daß ich mich unter anderen Umständen zu Tode geschämt hätte. „Wozu brauchen Sie denn das Geld?“ – (das hat er mich wirklich gefragt, mein Kind!). Ich tat schon den Mund auf, nur um nicht so müßig dazustehen, aber er wollte mich gar nicht mehr anhören. „Nein,“ sagte er, „ich habe kein Geld, sonst,“ sagte er, „sonst würde ich mit dem größten Vergnügen ...“ Ich machte ihm wieder und immer wieder Vorstellungen, sagte ihm, daß ich ja nicht viel brauche, daß ich ihm alles wieder zurückgeben würde, genau zum Termin, ja sogar noch vor dem Termin, daß er so hohe Prozente nehmen könne, wie er nur wolle, und daß ich ihm, noch einmal, bei Gott alles zurückzahlen werde. Ich dachte in dem Augenblick an Sie, mein Kind, an Ihr Unglück und an Ihre Not, und dachte auch an Ihr Fünfzigkopekenstückchen. „Nein,“ sagte er, „wer redet hier von Prozenten, aber wenn Sie ein Pfand hätten ... Ich habe im Augenblick kein Geld, bei Gott, ich habe keines, sonst natürlich mit dem größten Vergnügen ...“ Ja, er schwor noch bei Gott, der Räuber! Nun und da, meine Liebe, – ich weiß selbst nicht mehr, wie ich das Haus verließ und wieder auf die Wosnessenskij-Brücke kam. Ich war nur furchtbar müde, kalt war es auch und ich war ganz steifgefroren und kam erst gegen zehn Uhr zum Dienst. Ich wollte meine Kleider etwas abbürsten, vom Schmutz reinigen, aber der Amtsdiener sagte, das gehe nicht an, ich würde die Bürste verderben, die Bürste sei aber Kronseigentum. Da sehen Sie nun, mein Kind, wie ich jetzt von diesen Leuten angesehen werde: als wäre ich noch nicht einmal eine alte Matte, an der man die Füße abwischen kann. Was ist es denn, Warinka, was mich so niederdrückt? – Doch nicht das Geld, das ich nicht habe, sondern alle diese Aufregungen, und daß man mit Menschen in Berührung kommt: all dieses Geflüster, dieses Lächeln, diese Scherzchen! Und Seine Exzellenz kann sich doch auch einmal zufällig an mich wenden oder über mein Äußeres eine Bemerkung machen! Ach, Kind, meine goldenen Zeiten sind jetzt vorüber! Heute habe ich alle Ihre Briefchen nochmals durchgelesen, – traurig, Kind! Leben Sie wohl, mein Täubchen, Gott schütze Sie! M. Djewuschkin. P. S. Ich wollte Ihnen, Warinka, mein Unglück halb scherzhaft beschreiben, Warinka, aber man sieht, daß es mir nicht mehr gelingen will, das Scherzen nämlich. Ich wollte Sie etwas zerstreuen. Ich werde zu Ihnen kommen, ich werde zu Ihnen kommen. 11. August. Warwara Alexejewna! Mein Täubchen! Verloren bin ich, beide sind wir verloren, unrettbar verloren! Mein Ruf, meine Ehre – alles ist verloren! Und ich bin es, der Sie ins Verderben gebracht hat! Ich werde geschmäht, mein Kind, verachtet, verspottet, und die Wirtin beschimpft mich schon laut und vor allen Menschen. Heute hat sie wieder geschrien, geschrien und mich mit Vorwürfen überhäuft, als wäre ich ein Nichts und ein Dreck! Und am Abend begann dann jemand von ihnen bei Ratasäjeff einen meiner Briefe an Sie laut vorzulesen: einen Brief, den ich nicht beendet und in die Tasche gesteckt hatte, und den ich dann irgendwie aus der Tasche verloren haben muß. Mein liebes, liebes Kind, wie haben sie da gelacht! Wie sie uns betitelt haben und wie sie höhnten, wie sie höhnten, die Verräter! Ich hielt es nicht aus und ging zu ihnen und beschuldigte Ratasäjeff des Treubruchs und sagte ihm, daß er ein Falscher sei! Ratasäjeff aber erwiderte mir darauf, ich sei selbst ein Falscher und beschäftige mich nur mit Eroberungen. Ich hätte sie alle getäuscht, sagte er, im Grunde aber sei ich ja sozusagen ein Lovelace! Und jetzt, mein Kind, werde ich nun von allen hier nur noch Lovelace genannt, einen anderen Namen habe ich überhaupt nicht mehr! Hören Sie, mein Engelchen, hören Sie – die wissen doch jetzt alles von uns, sind von allem unterrichtet, und auch von Ihnen, meine Gute, wissen sie alles, alles ist ihnen bekannt, alles, was Sie, mein Engelchen, betrifft! Und auch der Faldoni ist jetzt mit ihnen im Bunde. Ich wollte ihn heute hier in den kleinen Laden schicken, damit er mir ein Stückchen Wurst kaufe, aber nein, er geht nicht, er habe zu tun, sagt er. – Du mußt doch, es ist doch deine Pflicht, sage ich. „Auch was Gutes – meine Pflicht!“ höhnte er, „Sie zahlen doch meiner Herrin kein Geld, folglich gibt’s da nichts von Pflicht.“ Das ertrug ich nicht, Kind, von diesem ungebildeten, frechen Menschen eine solche Beleidigung, und so schalt ich ihn denn einen „Dummkopf!“, er aber sagte mir darauf bloß kurz: „Das sagt mir nun so einer!“ – Ich dachte erst, daß er betrunken sei, hielt es ihm denn auch vor: „Hör mal,“ sagte ich, „du bist wohl betrunken?“ – Er aber grobte mich an: „Haben Sie mir denn was zu trinken gegeben? Sie haben doch nicht einmal so viel, daß Sie sich selber betrinken könnten!“ und dann brummte er noch: „Das soll nun ein Herr sein!“ Da sehen Sie jetzt, wie weit es mit uns gekommen ist, mein Kind! Man schämt sich, zu leben, Warinka! Ganz wie ein Verrufener kommt man sich vor, schlimmer noch als irgendein Landstreicher. Schwer ist es, Warinka! Verloren bin ich, einfach verloren! Unrettbar verloren! M. D. 13. August. Lieber Makar Alexejewitsch! Uns sucht jetzt ein Unglück nach dem anderen heim, auch ich weiß nicht mehr, was man noch tun soll! Was wird nun aus Ihnen werden, auf meine Arbeit können wir uns auch nicht mehr verlassen. Ich habe mir heute mit dem Bügeleisen die linke Hand verbrannt: ich ließ es versehentlich fallen und beschädigte und verbrannte mich, gleich beides zusammen. Arbeiten kann ich nun nicht, und Fedora ist auch schon den dritten Tag krank. Oh, diese Sorge und Angst! Hier sende ich Ihnen dreißig Kopeken: das ist fast das Letzte, was wir haben, Gott weiß, wie gern ich Ihnen jetzt in Ihrer Not helfen würde. Es ist zum Weinen! Leben Sie wohl, mein Freund! Sie würden mich sehr beruhigen, wenn Sie heute zu uns kämen. W. D. 14. August. Makar Alexejewitsch! Was ist das mit Ihnen? Sie fürchten wohl Gott nicht mehr? Und mich bringen Sie um meinen Verstand. Schämen Sie sich denn nicht!? Sie richten sich zugrunde. So denken Sie doch an Ihren Ruf! Sie sind ein ehrlicher, ehrenwerter, strebsamer Mensch – was werden die Menschen sagen, wenn sie das erfahren? Und Sie selbst, Makar Alexejewitsch, Sie werden doch vergehen vor Scham! Oder tut es Ihnen nicht mehr leid um Ihre grauen Haare? So fürchten Sie doch wenigstens Gott! Fedora sagt, daß sie Ihnen jetzt nicht mehr helfen werde, und auch ich kann Ihnen unter diesen Umständen kein Geld mehr schicken. Was haben Sie aus mir gemacht, Makar Alexejewitsch! Sie denken wohl, es sei mir ganz gleichgültig, daß Sie sich so schlecht aufführen. Sie wissen noch nicht, was ich Ihretwegen auszustehen habe! Ich kann mich gar nicht mehr auf unserer Treppe zeigen: alle sehen mir nach, alle weisen mit dem Finger auf mich und sagen solche Schändlichkeiten, – ja, sie sagen geradezu, daß ich mit einem _Trunkenbold ein Verhältnis habe_. Wie glauben Sie, daß mir zumute ist, wenn ich so etwas hören muß! Und wenn man Sie nach Hause bringt, sagt alles mit Verachtung von Ihnen: „Da wird der Beamte wieder gebracht.“ Ich aber – ich schäme mich zu Tode für Sie. Ich schwöre Ihnen, daß ich diese Wohnung hier verlassen werde. Und sollte ich auch Stubenmagd oder Wäscherin werden – hier bleibe ich auf keinen Fall! Ich schrieb Ihnen, daß ich Sie erwarte, Sie sind aber nicht gekommen. Meine Tränen und Bitten sind Ihnen also schon gleichgültig, Makar Alexejewitsch? Aber sagen Sie doch, wo haben Sie denn nur das Geld dazu aufgetrieben? Um Gottes willen, nehmen Sie sich in acht! Sie werden doch sonst verkommen, ganz sicher verkommen! Und diese Schande, diese Schmach! Gestern hat die Wirtin Sie nicht mehr hineingelassen, da haben Sie auf der Treppe die Nacht verbracht – ich weiß alles. Wenn Sie wüßten, wie weh es mir tat, als ich das von Ihnen hören mußte! Kommen Sie zu uns, hier wird es Ihnen leichter werden: wir können zusammen lesen, können von früheren Zeiten reden. Fedora kann uns von ihren Erlebnissen erzählen. Makar Alexejewitsch, tun Sie es mir nicht an, daß Sie sich zugrunde richten, Sie richten damit auch mich zugrunde, glauben Sie es mir! Ich lebe doch nur noch für Sie allein, nur Ihretwegen bleibe ich hier. Und Sie sind jetzt so! Seien Sie doch ein anständiger Mensch, seien Sie doch charakterfest und standhaft, auch im Unglück. Sie wissen doch: Armut ist keine Schande. Und weshalb denn verzweifeln? Das ist doch alles nur vorübergehend. Gott wird uns schon helfen und alles wird wieder gut werden, wenn Sie sich nur jetzt noch etwas zusammennehmen! Ich sende Ihnen zwanzig Kopeken, kaufen Sie sich dafür Tabak, oder was Sie da wollen, nur geben Sie sie um Gottes willen nicht für Schlechtes aus. Kommen Sie zu uns, kommen Sie unbedingt zu uns! Sie werden sich vielleicht wieder schämen, wie neulich – aber lassen Sie das, das wäre ja bloß falsche Scham. Wenn Sie nur aufrichtig bereuen wollten! Vertrauen Sie auf Gott. Er wird alles zum besten wenden. W. D. 19. August. Warwara Alexejewna, mein Kindchen! Ich schäme mich, mein Sternchen, ich schäme mich. Doch übrigens, Liebling, was ist denn dabei so Besonderes? Warum soll man nicht sein Herz etwas erleichtern? Sieh: ich denke dann nicht mehr an meine Stiefelsohlen – eine Sohle ist doch nichts und bleibt ewig nur eine einfache, gemeine, schmutzige Stiefelsohle. Und auch Stiefel sind nichts! Sind doch die griechischen Weisen ohne Stiefel gegangen, wozu also soll sich unsereiner mit einem so nichtswürdigen Gegenstande abgeben? Warum mich deshalb gleich beleidigen und verachten? Ach, Kind, mein Kind, da haben Sie nun etwas gefunden, das Sie mir schreiben können! – Der Fedora aber sagen Sie, daß sie ein närrisches, unzurechnungsfähiges Weib ist, mit allerlei Schrullen im Kopf, und zum Überfluß auch noch dumm, unsagbar dumm! Was aber meine grauen Haare betrifft, so täuschen Sie sich auch darin, meine Gute, denn ich bin noch lange nicht so ein Alter, wie Sie denken. Jemeljä läßt Sie grüßen. Sie schreiben, Sie hätten sich gegrämt und hätten geweint, und ich schreibe Ihnen, daß auch ich mich gegrämt habe und weine. Zum Schluß aber wünsche ich Ihnen Gesundheit und Wohlergehen, und was mich betrifft, so bin ich gleichfalls gesund und wohl und verbleibe mit besten Grüßen, mein Engelchen, Ihr Freund Makar Djewuschkin. 21. August. Sehr geehrtes Fräulein und liebe Freundin, Warwara Alexejewna! Ich fühle es, daß ich schuldig bin, ich fühle es, daß Sie mir viel zu verzeihen haben, aber meiner Meinung nach ist damit nichts gewonnen, Kind, daß ich alles dies fühle. Ich habe das alles auch schon vor meinem Vergehen gefühlt, bin aber dann doch gefallen, im vollen Bewußtsein meiner Schuld. Kind, mein Kind, ich bin nicht hartherzig und böse. Um aber Ihr Herzchen, mein Täubchen, zerfleischen zu können, müßte man gar ein blutdürstiger Tiger sein. Nun, ich habe ein Lämmerherz und, wie Ihnen bekannt sein dürfte, keine Veranlagung zu blutdürstiger Raubtierwildheit. Folglich bin ich, mein Engelchen, nicht eigentlich schuld an meinem Vergehen, ganz wie mein Herz und meine Gedanken nicht schuldig sind. Das ist nun einmal so, und ich weiß es selbst nicht, was oder wer eigentlich die Schuld trägt. Das ist nun schon so eine dunkle Sache mit uns, mein Kind! Dreißig Kopeken haben Sie mir geschickt und dann noch zwanzig Kopeken: mein Herz weinte, als ich Ihre Waisengeldchen in Händen hielt. Sie haben sich das Händchen verbrannt und verletzt und bald werden Sie hungern müssen. Trotzdem schreiben Sie, ich soll mir noch Tabak kaufen. Nun sagen Sie selbst: was sollte ich denn tun? Einfach und ohne alle Gewissensbisse, recht wie ein Räuber Sie armes Waisenkindchen zu berauben anfangen?! Es sank mir eben der Mut, mein Kind, das heißt, zuerst fühlte ich nur unwillkürlich, daß ich zu nichts tauge und daß ich selbst höchstens nur um ein Geringes besser sei, als meine Stiefelsohle. Ja, ich hielt es sogar für unanständig, mich für irgend etwas von Bedeutung, und wärs etwas noch so Geringes, zu halten, sondern fing an, in mir etwas Unwürdiges und bis zu einem gewissen Grade geradezu Gemeines und Niederes zu sehen. Nun, und als ich so die rechte Selbstachtung verloren hatte und mich der Verneinung der eigenen guten Eigenschaften und der Verleugnung meiner Menschenwürde überließ, da war denn schon so gut wie alles verloren, und er konnte kommen, der Sturz, der unvermeidliche! Das war mir offenbar so vom Schicksal bestimmt. Ich aber bin nicht schuld daran. Ich ging nur hinaus, um etwas frische Luft einzuatmen. Doch da kam gleich eins zum anderen: auch die Natur war so regnerisch, verweint und kalt. Und dann kam mir plötzlich noch der Jemeljä entgegen. Er hatte bereits alles versetzt, Warinka, alles, was er besaß, und schon seit zwei Tagen hatte er kein Gotteskorn mehr im Munde gehabt, so daß er bereits solche Sachen versetzen wollte, die man überhaupt nicht versetzen kann, weil doch niemand so etwas als Pfand annimmt. Nun ja, Warinka, da gab ich ihm denn nach, und zwar mehr aus Mitleid mit der Menschheit als aus eigenem Verlangen. So kam es zu jener Sünde, mein Kind! Wir weinten beide, Warinka! – sprachen auch von Ihnen! Er ist ein sehr guter, ein herzensguter Mensch, und ein sehr gefühlvoller Mensch. Das fühlte ich alles, mein Kind, und deshalb ist es denn auch so gekommen, eben weil ich das alles fühlte. Ich weiß, wieviel Dank, mein Täubchen, ich Ihnen schuldig bin! Als ich Sie kennen lernte, begann ich, auch mich selbst besser kennen zu lernen und Sie zu lieben. Bis dahin aber, mein Engelchen, war ich immer einsam gewesen und hatte eigentlich nur so mein Leben verdämmert und gar nicht wirklich auf der Erde gelebt, wie die anderen! Die bösen Menschen, die da ewig sagten, daß meine Erscheinung einfach ruppig sei, und sich schämten, mit mir zu gehen, brachten mich so weit, daß auch ich mich schließlich ruppig fand und mich meiner selbst zu schämen begann. Sie sagten, ich sei stumpfsinnig, und ich dachte auch wirklich, daß ich stumpfsinnig sei. Seitdem Sie aber in mein Leben getreten sind, haben Sie es mir hell gemacht, so daß es in meinem Herzen wie in meiner Seele licht geworden ist. Ich lernte endlich so etwas wie Seelenfrieden kennen und erfuhr, daß ich nicht schlechter war als die anderen. Daß ich dabei bin, wie ich bin, daß ich durch nichts glänze, keinen Schliff besitze, keine Umgangsformen: das ist nun einmal so. Trotzdem bin ich immer noch ein Mensch, ja, bin mit dem Herzen und den Gedanken ein ganzer Mensch! Nun, und dann, als ich fühlte, daß das Schicksal mich verfolgte, als ich, durch das Schicksal erniedrigt, zuließ, daß ich meine Menschenwürde selber vernichtete, als ich unter der Last meiner Anfechtungen zusammenbrach, da habe ich eben den Mut verloren: und das war das Unglück! Doch da Sie jetzt alles wissen, mein Kind, bitte ich Sie unter Tränen, mich nie mehr über diesen Zwischenfall auszufragen oder auch nur davon zu reden, denn mein Herz ist schon ohnehin zerrissen und das Leben wird mir schwer und bitter. Ich bezeuge Ihnen, mein Kind, meine Ehrerbietung und verbleibe Ihr treuer Makar Djewuschkin. 3. September. Ich habe meinen letzten Brief nicht beendet, Makar Alexejewitsch, es fiel mir zu schwer, zu schreiben. Bisweilen habe ich Augenblicke, wo es mich freut, allein zu sein, allein meinem Kummer nachhängen zu können, allein, ganz allein die Qual auszukosten, und solche Stimmungen überfallen mich jetzt immer häufiger. In meinen Erinnerungen liegt etwas mir Unerklärliches, das mich unwiderstehlich gefangen nimmt, und zwar in einem solchen Maße, daß ich oft stundenlang für alles mich Umgebende vollständig unempfindlich bin und die Gegenwart, alles Gegenwärtige, vergesse. Ja, es gibt in meinem jetzigen Leben keinen Eindruck, gleichviel welcher Art, der mich nicht an etwas Ähnliches aus meinem früheren Leben erinnerte, am häufigsten an meine Kindheit, meine goldene Kindheit! Doch nach solchen Augenblicken wird mir immer unsäglich schwer zumute. Ich fühle mich ganz entkräftet, meine Schwärmerei erschöpft mich und meine Gesundheit wird sowieso schon immer schwächer. Doch dieser frische, helle, glänzende Herbstmorgen, wie wir ihn jetzt selten haben, hat mich heute neu belebt und mit Freude erfüllt. So haben wir schon Herbst! O, wie liebte ich den Herbst auf dem Lande! Ich war ja damals noch ein Kind, aber doch fühlte und empfand ich schon alles in gesteigertem Maße. Den Abend liebte ich im Herbst eigentlich mehr als den Morgen. Ich erinnere mich noch – nur ein paar Schritte weit von unserem Hause, am Berge, lag der See. Dieser See – es ist mir, als sehe ich ihn jetzt wirklich vor mir – so hell und rein, wie Kristall! War der Abend ruhig, dann spiegelte sich alles im See. Kein Blatt rührte sich in den Bäumen am Ufer, der See lag blank und regungslos wie ein großer Spiegel. Frisch und kühl! Im Grase blinkt der Tau. In einer Hütte fern am Ufer brennt schon das Herdfeuer, die Herden werden heimgetrieben – da schleiche ich denn heimlich aus dem Hause zum See und schaue und schaue und vergesse ganz, daß ich bin. Ein Bündel Reisig brennt bei den Fischern dicht am Ufer und der Feuerschein fließt in einem langen Streifen auf dem Wasserspiegel zu mir hin. Der Himmel ist blaßblau und kalt und im Westen über dem Horizont ziehen sich rote feurige Streifen, die nach und nach bleicher werden und schließlich ganz blaß vergehen. Der Mond geht auf. Die Luft ist so klar, so regungslos still – bald fliegt ein Vogel auf oder rauscht das Schilf leise unter einem Windhauch – alles, selbst das leiseste Geräusch ist deutlich zu hören. Über dem blauen Wasser erhebt sich langsam weißer Nebel, so leicht und durchsichtig. In der Ferne dunkelt es, es ist, als versinke dort alles im Nebel, in der Nähe aber ist alles so scharf umrissen – das Boot, das Ufer, die Insel – eine alte Tonne, die im Schilf vergessen ist, schaukelt kaum-kaum merklich auf dem Wasser, ein Weidenzweig mit vertrockneten Blättern liegt nicht weit von ihr im Schilf. Eine verspätete Möve fliegt auf, taucht ins Wasser, fliegt wieder auf und verschwindet im Nebel, – und ich schaute und horchte, – wundervoll, so wundervoll war mir zumut! Und doch war ich noch ein Kind! ... Ich liebte den Herbst, namentlich den Spätherbst, wenn das Korn schon eingeerntet ist, die Feldarbeiten beendet sind, man des Abends in den Hütten zusammenkommt und alle sich auf den Winter vorbereiten. Dann werden die Tage dunkler, der Himmel bewölkt sich, die Wälder werden gelb, das Laub fällt von den Bäumen und die Bäume stehen kahl und schwarz, – namentlich abends, wenn sich noch feuchter Nebel erhebt, dann erscheinen sie wie dunkle, unförmige Riesen, wie schreckliche Gespenster. Und wenn man sich auf dem Spaziergang etwas verspätet und hinter den anderen zurückbleibt – wie eilt man ihnen dann nach, und wie groß wird die Bangigkeit! Man zittert wie ein Espenblatt, auf einmal – hinter jenem Baumstamm – hat sich dort nicht etwas Schreckliches versteckt, das gleich hervorlugen wird? Und da fährt der Wind durch den Wald und es braust und rauscht und dazwischen scheinen Stimmen zu heulen und zu klagen, und Blätter fliegen durch die Luft und wirbeln im Winde, und plötzlich zieht rauschend mit gellem Geschrei eine ganze Wolke Zugvögel vorüber. Die Angst wächst ins Riesenhafte, und da ist es – als hörte man jemand, eine fremde Stimme raunen: „Laufe, laufe, Kind, verspäte dich nicht, hier wird alles gleich voll Grauen sein, laufe, Kind!“ – und Entsetzen erfaßt das Herz und man läuft und läuft, bis man außer Atem zu Hause anlangt. Im Hause aber ist Leben und Fröhlichkeit: uns Kindern wird eine Arbeit gegeben, Erbsen auszuhülsen oder Mohnkörnchen aus den Kapseln zu schütteln. Im Ofen prasselt das Feuer, Mama beaufsichtigt lächelnd unsere fröhliche Arbeit und die alte Kinderfrau Uljana erzählt uns schreckliche Märchen von Zauberern und Räubern. Und wir Kinder rücken ängstlich einander näher, aber das Lächeln will doch nicht von den Lippen weichen. Und plötzlich ist alles still ... Hu! da, ein Surren und Klopfen – pocht jemand an der Tür? – Nein, es ist nur das Spinnrad der alten Frolowna! Und wie wir lachen! Dann aber kommt die Nacht, und man kann vor Angst nicht schlafen, Schreckbilder und Träume verscheuchen die Müdigkeit. Und wacht man auf, so wagt man nicht sich zu rühren und liegt zitternd bis zum Morgengrauen unter der Decke. Wenn aber dann die Sonne in das Zimmer scheint, steht man doch wieder frisch und munter auf und schaut neugierig durch das Fenster: auf dem Stoppelfelde liegt silbriger Herbstreif und alle Bäume und Büsche sind bereift. Wie eine dünne Glasscheibe hat sich Eis auf dem See gebildet, und die Vögel zwitschern lustig. Und Sonne, überall Sonne, wie Glas bricht das dünne Eis unter den warmen Strahlen. So hell ist es, so klar, so ... so wonnig! Im Ofen prasselt wieder das Feuer, wir setzen uns an den Tisch, auf dem schon der Ssamowar summt, und durch das Fenster sieht unser schwarzer Hofhund Polkan und wedelt schmeichelnd mit dem Schwanz. Ein Bäuerlein fährt am Hause vorüber, in den Wald, nach Holz. Alle sind so zufrieden, so frohgemut! ... In den Scheunen sind ganze Berge von Korn aufgehäuft, in der Sonne glänzt goldgelb die Strohdeckung der großen, großen Heuschober – es ist eine wahre Lust, das alles anzusehen! Und alle sind ruhig, alle sind froh: alle fühlen den Segen Gottes, der ihnen in der Ernte zuteil wurde, alle wissen, daß sie im Winter nicht darben werden, und der Bauer weiß, daß er seinen Kindern Brot zu geben hat und sie satt sein werden. Deshalb hört man abends die Lieder der Mädchen, die fröhlich ihren Reigen tanzen, deshalb sieht man sie alle am Feiertage ihr Dankgebet im Gotteshause sprechen ... Ach wie wundervoll, wie wundervoll war meine Kindheit! ... Da habe ich jetzt wie ein Kind geweint. Daran sind natürlich nur diese Erinnerungen schuld. Ich habe so lebhaft, so deutlich alles vor mir gesehen, die ganze Vergangenheit lebte auf, und die Gegenwart erscheint mir jetzt doppelt trüb und dunkel! ... Wie wird das enden, was wird aus uns werden? Wissen Sie, ich habe das seltsame Vorgefühl oder sogar die Überzeugung, daß ich in diesem Herbst sterben werde. Ich fühle mich sehr, sehr krank. Ich denke oft an meinen Tod, aber eigentlich möchte ich doch nicht so sterben – würde nicht in dieser Erde ruhen wollen ... Vielleicht werde ich wieder krank, wie im Frühling, denn ich habe mich von jener Krankheit noch nicht erholt. Fedora ist heute für den ganzen Tag ausgegangen und ich bin allein. Seit einiger Zeit fürchte ich mich, wenn ich allein bin: es scheint mir dann immer, daß noch jemand mit mir im Zimmer ist, daß jemand zu mir spricht, und zwar besonders dann, wenn ich aus meinen Träumereien, die mich mit ihren Erinnerungen ganz gefangen nehmen und die Wirklichkeit vergessen lassen, plötzlich erwache und mich umsehe. Es ist mir dann, als habe sich etwas Unheimliches im Zimmer versteckt. Sehen Sie, deshalb habe ich Ihnen auch einen so langen Brief geschrieben: wenn ich schreibe, vergeht es wieder – Leben Sie wohl. Ich schließe meinen Brief, ich habe weder Papier noch Zeit, um weiterzuschreiben. Von dem Gelde für meine verkauften Kleider und den Hut habe ich nur noch einen Rubel. Sie haben Ihrer Wirtin zwei Rubel gegeben, das ist gut: jetzt wird sie hoffentlich eine Weile schweigen. – Versuchen Sie doch, Ihre Kleider irgendwie ein wenig auszubessern. Leben Sie wohl, ich bin so müde. Ich begreife nicht, wovon ich so schwach geworden bin. Die geringste Beschäftigung ermüdet mich. Wenn Fedora mir eine Arbeit verschafft – wie soll ich dann arbeiten? Das ist es, was mir den Mut raubt. W. D. 5. September. Mein Täubchen Warinka! Heute, mein Engelchen, habe ich viele Eindrücke empfangen. Mein Kopf tat mir den ganzen Tag über weh. Um die Kopfschmerzen zu vertreiben, ging ich schließlich hinaus: ich wollte längs der Fontanka wenigstens etwas frische Luft schöpfen. Der Abend war düster und feucht. Jetzt dunkelt es doch schon um sechs! Es regnete nicht, aber es war neblig, was noch unangenehmer zu sein pflegt, als ein richtiger Regen. Am Himmel zogen die Wolken in langen, breiten Streifen dahin. Viel Volk ging auf dem Kai. Es waren lauter schreckliche Gesichter, die ich sah, Gesichter, wie sie einen geradezu schwermütig machen können, betrunkene Kerle, stumpfnäsige finnländische Weiber in Männerstiefeln und mit strähnigem Haar, Handwerker und Kutscher, Herumtreiber jeden Alters, Bengel: irgendein Schlosserlehrling in einem gestreiften Arbeitskittel, so ein ausgemergelter, blutarmer Junge mit schwarzem, rußglänzendem Gesicht, ein Schloß in der Hand, oder irgendein ausgedienter Soldat von Riesengröße, der Federmesserchen und billige unechte Ringe feilbietet – das war das Publikum. Es muß wohl gerade die Stunde gewesen sein, in der sich ein anderes dort gar nicht zeigt! Die Fontanka ist ein breiter und tiefer Kanal, sogar Schiffe können ihn passieren. Frachtkähne lagen da, in einer solchen Menge, daß man gar nicht begriff, wie ihrer nur so viele Platz hatten – denn die Fontanka ist doch immerhin nur ein Kanal und kein Fluß. Auf den Brücken saßen Hökerweiber mit nassen Pfefferkuchen und verfaulten Äpfeln, so schmutzige, garstige Weiber! Es ist nichts, an der Fontanka spazieren zu gehen! Der feuchte Granit, die hohen, dunklen Häuser: unten die Füße im Nebel, über dem Kopf gleichfalls Nebel ... So ein trauriger, so ein dunkler, lichtloser Abend war es heute. Als ich in die nächste Straße, in die Gorochowaja, einbog, war es schon ganz dunkel geworden. Man zündete gerade das Gas an. Ich war lange nicht mehr auf der Gorochowaja gewesen – es hatte sich nicht so gemacht. Eine belebte, großartige Straße! Was für Läden, was für Schaufenster! – alles glänzt nur so und leuchtet ... Stoffe und Seidenzeuge und Blumen unter Glas ... und was für Hüte mit Bändern und Schleifen! Man denkt, das sei alles nur so zur Verschönerung der Straße ausgestellt, aber nein: es gibt doch Menschen, die diese Sachen kaufen und ihren Frauen schenken! Ja, eine reiche Straße! Viele deutsche Bäcker haben dort ihre Läden – das müssen auch wohlhabende Leute sein. Und wieviel Equipagen fahren alle Augenblicke vorüber – wie das Pflaster das nur aushält! Und alles so feine Kutschen, die Fenster wie Spiegel, inwendig alles nur Samt und Seide, und die Kutscher und Diener so stolz, mit Tressen und Schnüren und Degen an der Seite! Ich blickte in alle Wagen hinein und sah dort immer Damen sitzen, alle so geputzt und großartig. Vielleicht waren es lauter Fürstinnen und Gräfinnen? Es war wohl gerade die Zeit, in der sie auf Bälle fahren, zu Diners oder Soupers. Es muß doch sehr eigen sein, eine Fürstin oder überhaupt eine vornehme Dame einmal in der Nähe zu sehen. Ja, das muß sehr schön sein. Ich habe noch niemals eine in der Nähe gesehen: höchstens so in einer Kutsche und im Vorüberfahren. Da mußte ich denn heute immer an Sie denken. – Ach, mein Täubchen, meine Gute! Während ich jetzt wieder an Sie denke, da will mir mein Herz brechen! Warum müssen Sie denn so unglücklich sein, Warinka? Mein Engelchen! Sind Sie denn schlechter, als jene? Sie sind gut, sind schön, sind gebildet, weshalb ist Ihnen da ein solches Los beschieden? Warum ist es so eingerichtet, daß ein guter Mensch in Armut und Elend leben muß, während einem anderen sich das Glück von selbst aufdrängt? Ich weiß, ich weiß, mein Kind, es ist nicht gut, so zu denken: das ist Freidenkerei! Aber offen und aufrichtig, wenn man so über die Gerechtigkeit der Dinge nachdenkt – weshalb, ja, weshalb wird nur dem einen Menschen schon im Mutterschoß das Glück fürs ganze Leben bereitet, während der andere aus dem Findelhaus in die Welt Gottes hinaustritt? Und es ist doch wirklich so, daß das Glück öfter einem Närrchen Iwanuschka zufällt. „Du Närrchen Iwanuschka, wühle nach Herzenslust in den Goldsäcken deiner Väter, iß, trink, freue dich! Du aber, der und der, leck dir bloß die Lippen, mehr hast du nicht verdient, da siehst du, was du für einer bist!“ Es ist sündhaft, mein Kind, ich weiß, es ist sündhaft, so zu denken, aber wenn man nachdenkt, dann drängt sich einem nun einmal ganz unwillkürlich die Sünde in die Gedanken. Ja, dann könnten auch wir in so einer Kutsche fahren, mein Engelchen, mein Sternchen! Hohe Generäle und Staatsbeamte würden nach einem Blick des Wohlwollens von Ihnen haschen – und nicht unsereiner. Sie würden dann nicht in einem alten Kattunkleidchen umhergehen, sondern in Seide und mit funkelnden Edelsteinen geschmückt. Sie würden auch nicht so mager und kränklich sein, wie jetzt, sondern wie ein Zuckerpüppchen, frisch und rosig und gesund aussehen. Ich aber würde schon glücklich sein, wenn ich wenigstens von der Straße zu Ihren hellerleuchteten Fenstern hinaufschauen und vielleicht einmal Ihren Schatten erblicken könnte. Allein schon der Gedanke, daß Sie dort glücklich und fröhlich sind, mein Vögelchen, Sie, mein reizendes Vögelchen, würde mich gleichfalls fröhlich und glücklich machen. Aber jetzt! ... Nicht genug, daß böse Menschen Sie ins Unglück gebracht haben, nun muß auch noch ein Wüstling Sie beleidigen! Doch bloß weil sein Rock elegant ist und er Sie durch eine goldgefaßte Lorgnette betrachten kann, der Schamlose, bloß deshalb ist ihm alles erlaubt, bloß deshalb muß man seine schamlosen Reden noch untertänig anhören! Ist denn darin aber Gerechtigkeit? Und weshalb darf man das? Weil Sie eine Waise sind, Warinka, weil Sie schutzlos sind, weil Sie keinen starken Freund haben, der für Sie eintreten und Ihnen Schutz und Schirm gewähren könnte! Doch was ist das für ein Mensch, was sind das für Menschen, denen es nichts ausmacht, eine schutzlose Waise zu beleidigen? – Das sind eben nicht Menschen, das ist Gesindel, einfach Gesindel, ein irgendetwas, das bloß als Summe zählt, als Begriff, ein trübes Etwas, das es in Wirklichkeit und als Einzelwesen überhaupt nicht gibt – davon bin ich überzeugt. Sehen Sie, _das_ sind sie, diese Leute! Und meiner Ansicht nach, meine Liebe, verdient jener Leiermann, dem ich heute auf der Gorochowaja begegnet bin, viel eher die Achtung der Menschen, als diese. Er schleppt sich zwar nur kläglich umher und sammelt die wenigen Kopeken, um seinen Unterhalt zu bestreiten, dafür aber ist er sein eigener Herr und ernährt sich selbst. Er will nicht umsonst um Almosen bitten, er dreht zur Freude der Menschen seine Orgel, dreht und dreht wie eine aufgezogene Maschine – also mit anderen Worten: womit er eben kann, damit bringt er Nutzen, auch er! Er ist arm, ist bettelarm, das ist wahr, und er bleibt arm, dafür ist er ein ehrenwerter Armer: er ist müde und hinfällig, und es ist kalt draußen, aber er müht sich doch, und wenn seine Mühe auch nicht von der Art ist, wie die der anderen, er müht sich trotzdem. Und von der Art gibt es viele ehrliche Menschen, mein Kind, solche, die im Verhältnis zu ihrer Arbeitsleistung nur wenig verdienen, doch dafür sich vor niemandem zu beugen brauchen, die keinen untertänig grüßen müssen und niemand um Gnadenbrot bitten. Und so einer, wie dieser Leiermann, bin auch ich, das heißt, ich bin natürlich etwas ganz anderes. Aber im übertragenen Sinne, und zwar in einem ehrenwerten Sinne, bin ich ganz so wie er, denn auch ich leiste das, was in meinen Kräften steht. Viel ist es ja nicht, aber doch immer mehr als gar nichts. Ich bin nur deshalb auf diesen Leiermann zu sprechen gekommen, mein Kind, weil ich durch die Begegnung mit ihm heute meine Armut doppelt empfand. Ich war nämlich stehen geblieben, um dem Leiermann zuzusehen. Es waren mir gerade so besondere Gedanken durch den Kopf gegangen – da blieb ich denn stehen und sah ihm zu, um mich von diesen Gedanken abzulenken. Und so stand ich denn da, auch einige Kutscher standen da, auch ein erwachsenes Mädchen blieb stehen, und noch ein anderes, ein ganz kleines Mädchen, das schrecklich schmutzig war. Der Leiermann hatte sich dort vor jemandes Fenster aufgestellt. Da bemerkte ich einen kleinen Knaben, so von etwa zehn Jahren: es wäre ein netter Junge gewesen, wenn er nicht so kränklich, so mager und verhungert ausgesehen hätte. Er hatte nur so etwas wie ein Hemdchen an, und ein dünnes Höschen. So stand er, barfuß wie er war, und hörte mit offenem Mäulchen der Musik zu – Kinder sind eben Kinder! – Augenscheinlich vergaß er sich ganz in kindlichem Entzücken über die Puppen, die auf dem Leierkasten tanzten, seine Händchen und Füßchen aber waren schon blau vor Kälte und dabei zitterte er am ganzen Körper und kaute an einem Ärmelzipfelchen, das er zwischen den Zähnen hielt – in der anderen Hand hatte er ein Papier. Ein Herr ging vorüber und warf dem Leiermann eine kleine Münze zu, die gerade auf das Brett fiel, auf dem die Puppen tanzten. Kaum hörte mein Jungchen die Münze klappern, da fuhr er plötzlich aus seiner Versonnenheit auf, sah sich schüchtern um und glaubte wohl, daß ich das Geld geworfen habe. Und er kam zu mir gelaufen, das ganze Kerlchen zitterte, das Stimmchen zitterte, und er streckte mir das Papier entgegen und sagte: „Bitte, Herr!“ Ich nahm das Papier, entfaltete es und las – nun, man kennt das ja schon: Wohltäter ... und so weiter, drei Kinder hungern, die Mutter liegt im Sterben, habt Erbarmen mit uns! „Wenn ich vor dem Throne Gottes stehen werde, will ich in meiner Fürbitte diejenigen nicht vergessen, die hienieden meinen armen Kindern geholfen haben.“ Was soll man da viel reden, die Sache ist doch klar und oft genug erlebt. Was aber – ja, was sollte ich ihm wohl geben? Nun, so gab ich ihm denn nichts. Dabei tat er mir so leid! So ein armer kleiner Knabe, ganz blau war er vor Kälte, und so hungrig sah er aus, und er log doch nicht, bei Gott, er log nicht! – ich weiß, wie das ist! Schlecht ist nur, daß diese Mütter ihre Kinder nicht schonen und sie halbnackt und bei dieser Kälte hinausschicken. Dessen Mutter ist vielleicht so ein dummes Weib, das nicht weiß, was zu tun seine Pflicht wäre, vielleicht kümmert sich niemand um sie und da sitzt sie denn müßig zu Hause und tut nichts! Vielleicht ist sie aber auch wirklich krank? Nun ja, immerhin könnte sie sich dann an einen Wohltätigkeitsverein wenden, oder sich bei der Polizei melden, wie es sich gehört. Aber vielleicht ist sie einfach eine Betrügerin, die ein hungriges, krankes Kind auf die Straße hinausschickt, um die Leute zu beschwindeln, bis das Kindchen schließlich an irgendeiner Krankheit stirbt? Und was lernt denn der Knabe bei diesem Betteln? Sein Herz wird hart und grausam. Er geht vom Morgen bis zum Abend umher und bettelt. Viele Menschen gehen an ihm vorüber, doch niemand hat Zeit für ihn. Ihre Herzen sind hart, ihre Worte grausam. „Fort! Pack dich! Straßenjunge!“ – das ist alles, was er an Worten zu hören bekommt, und das Herz des Kindes krampft sich zusammen, und vergeblich zittert der arme, verschüchterte Knabe in der Kälte. Seine Hände und Füße erstarren. Wie lange noch, und da – er hustet ja schon – kriecht ihm die Krankheit wie ein schmutziger, scheußlicher Wurm in die Brust, und ehe man sich dessen versieht, beugt sich schon der Tod über ihn, und der Knabe liegt sterbenskrank in irgendeinem feuchten, schmutzigen, stinkenden Winkel, ohne Pflege, ohne Hilfe – das aber ist dann sein ganzes Leben gewesen! Ja, so ist es oft – ein Menschenleben! Ach, Warinka, es ist qualvoll, ein „um Christi willen“ zu hören und vorübergehen zu müssen, ohne etwas geben zu können, und dem Hungrigen sagen zu müssen: „Gott wird dir geben.“ Gewiß, manch ein „um Christi willen“ braucht einen nicht zu berühren. (Es gibt ja doch verschiedene „um Christi willen“, mein Kind.) Manch eines ist gewohnheitsmäßig bettlerhaft, so ein Ton, langgezogen, eingeleiert, gleichgültig. An einem solchen Bettler ohne Gabe vorüberzugehen, ist noch nicht so schlimm, man denkt: der ist Bettler von Beruf, der wird es verwinden, der weiß schon, wie man es verwindet. Aber manch ein „um Christi willen“, das von einer ungeübten, gequälten, heiseren Stimme hervorgestoßen wird, das geht einem wie etwas Unheimliches durch Mark und Bein, – so wie heute, gerade als ich von dem kleinen Jungen das Papier genommen hatte, da sagte einer, der dort am Zaun stand – er wandte sich nicht an jeden –: „Ein Almosen, Herr, um Christi willen!“ – sagte es mit einer so stockenden, hohlen Stimme, daß ich unwillkürlich zusammenfuhr ... unter dem Eindruck einer schrecklichen Empfindung. Ich gab ihm aber kein Almosen: denn ich hatte nichts. Und dabei gibt es reiche Leute, die es nicht lieben, daß die Armen über ihr schweres Los klagen – sie seien „ein öffentliches Ärgernis“, sagen sie, „sie seien lästig“! nichts als „lästig“: – Das Gestöhn der Hungrigen läßt diese Satten wohl nicht schlafen?! Ich will Ihnen gestehen, meine Liebe, ich habe alles dies zum Teil deshalb zu schreiben angefangen, um mein Herz zu erleichtern, zum Teil aber auch deshalb, und zwar zum größten Teil, um Ihnen eine Probe meines guten Stils zu geben. Denn Sie werden es doch sicher schon bemerkt haben, mein Kind, daß mein Stil sich in letzter Zeit bedeutend gebessert hat? Doch jetzt habe ich mich, anstatt mein Herz zu erleichtern, nur in einen solchen Kummer hineingeredet, daß ich ordentlich anfange, selbst von Herzensgrund mit meinen Gedanken Mitgefühl zu empfinden, obschon ich sehr wohl weiß, mein Kind, daß man mit diesem Mitgefühl nichts erreicht ... aber man läßt sich damit wenigstens in einer gewissen Weise Gerechtigkeit widerfahren! Ja, in der Tat, meine Liebe, oft erniedrigt man sich selbst ganz grundlos, hält sich nicht einmal für eine Kopeke wert, schätzt sich für weniger als ein Holzspänchen ein. Das aber kommt, bildlich gesprochen, vielleicht nur daher, daß man selbst verschüchtert und verängstigt ist, ganz so wie jener kleine Junge, der mich heute um ein Almosen bat. Jetzt werde ich, mein Kind, einmal bildlich zu Ihnen reden, in einem Gleichnis, sozusagen. Also hören Sie mich an. Es kommt vor, meine Liebe, daß ich, wenn ich früh am Morgen auf dem Wege zum Dienst bin, mich ganz vergesse beim Anblick der Stadt, wie sie da erwacht und mählich aufsteht, langsam zu rauchen, zu wogen, zu brodeln, zu rasseln und zu lärmen beginnt: so daß man sich vor diesem Schauspiel schließlich ganz klein und gering vorkommt, als hätte man auf seine neugierige Nase von irgend jemand einen Nasenstüber bekommen – und da schleppt man sich denn ganz klein und still weiter, und wagt überhaupt nicht mehr, etwas zu denken! Aber nun betrachten Sie mal, was in diesen schwarzen, verräucherten großen Häusern vorgeht, versuchen Sie, sich das einmal vorzustellen, und dann urteilen Sie selbst, ob es richtig war, sich so ohne Sinn und Verstand so gering einzuschätzen und sich so unwürdigerweise einschüchtern zu lassen. – Vergessen Sie nicht, Warinka, daß ich bloß bildlich spreche, nur so im Gleichnis. Nun, lassen Sie uns also mal nachsehen, was denn dort in diesen Häusern vorgeht. Dort in dem muffigen Winkel eines feuchten Kellerraumes, den nur die Not zu einer Menschenwohnung machen konnte, ist gerade irgendein Handwerker aufgewacht. Im Schlaf hat ihm, sagen wir, die ganze Zeit über nur von einem Paar Stiefel geträumt, das er gestern versehentlich falsch zugeschnitten – ganz als müsse einem Menschen gerade nur von solchen Nichtigkeiten träumen! Nun, – er ist ja Handwerker, ist ein Schuster: bei ihm ist es also noch erklärlich. Er hat kleine Kinder und eine hungrige Frau. Übrigens, nicht Schuster allein stehen mitunter so auf, meine Liebe. Das wäre ja noch nichts und es verlohnte sich auch nicht, sich darüber zu verbreiten, doch nun sehen Sie, mein Kind, was hierbei bemerkenswert ist. In demselben Hause, nur in einem anderen, höher gelegenen Stockwerk, und in einem allerprunkvollsten Schlafgemach hat in derselben Nacht einem vornehmen Herrn vielleicht von ganz denselben Stiefeln geträumt, das heißt, versteht sich, von Stiefeln etwas anderer Art, von einer anderen Fasson, sagen wir, aber doch immerhin Stiefeln ... denn in dem Sinne meines Gleichnisses sind wir schließlich alle ein wenig und irgendwie Schuster. Aber auch das hätte wohl noch nichts auf sich, das Schlimme jedoch ist, daß es keinen Menschen neben jenem Reichen gibt, keinen einzigen, der ihm ins Ohr flüstern könnte: „Laß das doch, denk nicht daran, denk nicht nur an dich allein, du bist doch kein armer Schuster, deine Kinder sind gesund, deine Frau klagt nicht über Hunger, so sieh dich doch um, ob du denn nicht etwas anderes, etwas Edleres und Höheres für deine Sorgen findest, als deine Stiefel!“ Sehen Sie, das ist es, was ich Ihnen durch ein Gleichnis klar machen wollte, Warinka. Es ist das vielleicht ein zu freier Gedanke, aber er kommt einem mitunter, und dann drängt er sich unwillkürlich in einem heißen Wort aus dem Herzen hervor. Und deshalb sage ich denn auch, daß man sich ganz grundlos so gering eingeschätzt, da einen doch nur das Geräusch und Gerassel erschreckt hat! Ich schließe damit, daß Sie, mein Kind, nicht denken sollen, daß es eine böswillige Verdrehung sei, was ich Ihnen hier erzähle, oder daß ich Grillen fange, oder daß ich es aus einem Buch abgeschrieben habe. Nein, mein Kind, das ist es nicht, beruhigen Sie sich: ich verstehe gar nicht, etwas zu verdrehen und schlecht zu machen, auch Grillen fange ich nicht, und abgeschrieben habe ich das erst recht nicht – damit Sie’s wissen! Ich kam recht traurig gestimmt nach Haus, setzte mich an meinen Tisch, machte mir etwas heißes Wasser und schickte mich dann an, ein Gläschen Tee zu trinken. Plötzlich, was sehe ich: Gorschkoff tritt zu mir ins Zimmer, unser armer Wohngenosse. Es war mir eigentlich schon am Morgen aufgefallen, daß er im Korridor immer an den anderen Zimmertüren vorüberstrich und einmal sich scheinbar an mich wenden wollte. Nebenbei bemerkt, mein Kind, ist seine Lage noch viel, viel schlechter, als meine. Gar keinen Vergleich kann man machen! Er hat doch eine Frau und Kinder zu ernähren ... so daß ich, wenn ich Gorschkoff wäre, – ja, ich weiß nicht, was ich an seiner Stelle tun würde! Also, mein Gorschkoff kommt zu mir herein, grüßt – hat wie gewöhnlich ein Tränchen im Auge –, macht so etwas wie einen Kratzfuß, kann aber kein Wort hervorbringen. Ich bot ihm einen Stuhl an, allerdings einen zerbrochenen, denn einen anderen habe ich nicht. Ich bot ihm ferner Tee an. Er entschuldigte sich, entschuldigte sich sehr lange, endlich nahm er doch das Glas. Dann wollte er es unbedingt ohne Zucker trinken, er entschuldigte sich wieder und wieder, als ich ihm versicherte, daß er im Gegenteil unbedingt Zucker dazu nehmen müsse – lange weigerte er sich so, dankte, entschuldigte sich von neuem – schließlich legte er das kleinste Stückchen in sein Glas und versicherte, der Tee sei ungewöhnlich süß. Ja, Warinka, da sehen Sie, wohin die Armut den Menschen zu bringen vermag! „Nun, was gibt es Gutes, Väterchen?“ fragte ich ihn. Ja, so und so, und so weiter, – „seien Sie mein Wohltäter, Makar Alexejewitsch, stehen Sie mir bei, helfen Sie einer armen Familie! Meine Kinder und meine Frau – wir haben nichts zu essen ... ich aber, als Vater – was stellen Sie sich vor, was ich dabei empfinde ...“ Ich wollte ihm etwas entgegnen, er aber unterbrach mich: „Ich fürchte hier alle, Makar Alexejewitsch, das heißt, nicht gerade, daß ich sie fürchte, aber so, wissen Sie, man schämt sich, sie sind alle so stolz und hochmütig. Ich würde Sie, Väterchen, gewiß nicht belästigen,“ sagte er, „ich weiß, Sie haben selbst Unannehmlichkeiten gehabt, ich weiß auch, daß Sie mir nicht viel geben können, aber vielleicht werden Sie mir doch wenigstens etwas – leihen? Ich wage es nur deshalb, Sie zu bitten, weil ich Ihr gutes Herz kenne, weil ich weiß, daß Sie selbst Not gelitten haben, daß Sie selbst arm sind – da wird Ihr Herz eher mitfühlen.“ Und zum Schluß bat er mich noch ausdrücklich, ihm seine „Dreistigkeit und Unverschämtheit“ zu verzeihen. Ich antwortete ihm, daß ich ihm von Herzen gern helfen würde, daß ich aber selbst nichts hätte, oder doch so gut wie nichts. „Väterchen, Makar Alexejewitsch,“ sagte er, „ich will Sie ja nicht um viel bitten,“ – dabei errötete er bis über die Stirn – „aber meine Frau ... meine Kinder hungern ... vielleicht nur zehn Kopeken, Makar Alexejewitsch!“ Was soll ich sagen, Warinka? Mein Herz blutete, als ich seine Bitte um „nur zehn Kopeken“ hörte. Da war ich doch noch reich im Vergleich zu ihm! In Wirklichkeit besaß ich allerdings nur zwanzig Kopeken, mit denen ich für die nächsten Tage rechnete, um mich noch irgendwie bis zum Zahltage durchzuschlagen. Und so sagte ich ihm denn auch, ich könne wirklich nicht ... und ich erklärte ihm die Sache. „Nur ... nur zehn Kopeken, Väterchen, wir hungern doch, Makar Alexejewitsch ...“ Da nahm ich denn mein Geld aus dem Kästchen und gab ihm meine letzten zwanzig Kopeken, mein Kind, – es war immerhin ein gutes Werk. Ja, die Armut, wer die kennt! Es kam noch zu einer kleinen Unterhaltung zwischen uns, und da fragte ich ihn denn so bei Gelegenheit, wie er eigentlich in solche Armut geraten und wie es komme, daß er dabei doch noch in einem Zimmer wohne, für das er im Monat ganze fünf Silberrubel zahlen müsse. Darauf erklärte er mir denn die Sachlage. Er habe das Zimmer vor einem halben Jahr gemietet und die Miete für drei Monate im voraus bezahlt. Dann aber hätten sich seine Verhältnisse so verschlimmert, daß er die weitere Miete schuldig bleiben mußte und auch nicht die Mittel zu einem Umzuge hatte. Inzwischen erwartete er vergeblich das Ende seines Rechtsstreites. Das aber ist so eine verzwickte Sache, Warinka. Er ist nämlich, müssen Sie wissen, in einer gewissen Angelegenheit mit angeklagt, und zwar handelt es sich da um die Schurkereien eines gewissen Kaufmanns, der bei Lieferungen an die Krone irgendwie betrogen hat. Der Betrug wurde aufgedeckt und der Kaufmann in Haft genommen, worauf dieser letztere nun aber auch ihn, den Gorschkoff, in diese Angelegenheit hineinzog. Zwar kann man den Gorschkoff nur einer gewissen Fahrlässigkeit beschuldigen und ihm höchstens den Vorwurf machen, daß er nicht umsichtig genug gewesen sei und den Vorteil der Krone außer Acht gelassen habe. Trotzdem zieht sich die Sache schon ein paar Jahre so hin: es herrscht immer noch nicht volle Klarheit in der Angelegenheit, so daß auch Gorschkoff nicht freigesprochen werden kann, – „der Ehrlosigkeit aber, die man mir vorwirft,“ sagt Gorschkoff, „des Betruges und der Hehlerei bin ich nicht schuldig, nicht im geringsten!“ Das ändert jedoch nichts daran, daß er wegen dieser Sache aus dem Dienst entlassen worden ist, obschon man ihm, wie gesagt, ein eigentliches Verschulden nicht hat nachweisen können. Auch hat er eine nicht unbedeutende Geldsumme, die ihm gehört, und die ihm der Kaufmann nun vor Gericht streitig macht, noch immer nicht durch den Prozeß herausbekommen können, was um so trauriger ist, als damit gleichzeitig, wie er sagte, noch seine Rechtfertigung zusammenhängt. Ich glaube ihm aufs Wort, Warinka, das Gericht aber denkt anders. Es ist, wie gesagt, eine so verzwickte Sache, daß man sie selbst in hundert Jahren nicht entwirren könnte. Kaum hat man sie ein wenig aufgeklärt, da bringt der Kaufmann wieder eine neue Unklarheit hinein und ändert die Lage der Sache abermals. Ich nehme herzlichen Anteil an Gorschkoffs Mißgeschick, meine Liebe, ich kann ihm alles so nachfühlen. Ein Mensch ohne Stellung, niemand will ihn annehmen, da er nun einmal in dem Ruf der Unzuverlässigkeit steht. Was sie erspart hatten, haben sie aufgezehrt. Die Sache kann sich noch lange hinziehen – sie aber müssen doch leben. Und da kam dann noch plötzlich zu so ungelegener Zeit ein Kindchen zur Welt – das verursachte natürlich erst recht Ausgaben. Dann erkrankte der Sohn – wieder Ausgaben. Und der Sohn starb – und das hat neue Ausgaben verlangt. Auch die Frau ist krank und auch er leidet an irgendeiner schleichenden Krankheit. Mit einem Wort, so ein Los ist schwer, sehr schwer! Übrigens, sagte er, die Sache werde sich in einigen Tagen nun doch entscheiden, und zwar sicher günstig für ihn, daran könne man jetzt nicht mehr zweifeln. Ja, er tut mir leid, sehr leid, mein Kind! Ich habe ihn denn auch recht freundlich behandelt. Er ist ja doch ein ganz eingeschüchterter, ängstlich gewordener Mensch, er hat Bedürfnis nach einem aufmunternden Wort, nach etwas Güte und Wohlwollen. Da habe ich ihn denn, wie gesagt, freundlich behandelt. Nun, leben Sie wohl, mein Kind, Christus sei mit Ihnen, bleiben Sie gesund. Mein Täubchen Sie! Wenn ich an Sie denke, ist es mir, als lege sich Balsam auf meine kranke Seele, und wenn ich mich auch um Sie sorge, so sind mir doch auch diese Sorgen eine Lust. Ihr aufrichtiger Freund Makar Djewuschkin. 9. September. Warwara Alexejewna, Sie mein liebes Kind! Ich schreibe Ihnen, ganz außer mir, wie ich bin. Durch diesen Vorfall bin ich so aufgeregt, bis zur Fassungslosigkeit aufgeregt! In meinem Kopf dreht sich noch alles im Kreise. Ich fühle es förmlich, wie sich ringsum alles dreht. Ach, meine Gute, meine Liebe, wie soll ich Ihnen das nun erzählen! Das haben wir uns ja nicht mal träumen lassen! Oder doch – ich glaube, ich habe alles vorausgeahnt, alles vorausgeahnt! Mein Herz hat das schon vorher gewußt, hat gefühlt, wie es kam ... Und wirklich, ich habe neulich etwas Ähnliches im Traume gesehen! Nun hören Sie, was geschehen ist! – Ich werde Ihnen alles erzählen, ohne diesmal auf den Stil Sorgfalt zu verwenden, ganz einfach, wie Gott es mir eingibt. Ich ging heute, wie gewöhnlich, frühmorgens in den Dienst. Komme hin, setze mich, schreibe weiter. Sie müssen nämlich wissen, mein Kind, daß ich gestern gleichfalls geschrieben habe. Nämlich gestern, da kam Timofei Iwanowitsch zu mir und sagte: „Hier ist ein wichtiges Dokument, das schnell abgeschrieben werden muß. Also machen Sie sich sogleich daran – sauber und sorgfältig ... Exzellenz müssen es heute noch unterschreiben.“ Ich muß vorausschicken, mein Engelchen, daß ich gestern gar nicht so war, wie man eigentlich sein muß – will sagen, daß ich eigentlich überhaupt nichts ansehen wollte. Kummer und Gram bedrückten mich. Im Herzen war es kalt, in der Seele dunkel. Meine Gedanken aber waren alle bei Ihnen, mein Sternchen. Nun, und da machte ich mich denn daran, abzuschreiben ... schrieb sauber, gewissenhaft, nur – ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen das genauer erklären soll, ob mich der leibhaftige Gottseibeiuns selber dazu verleitete oder ob da sonst welche geheimen Kräfte mit im Spiel waren, oder ob es einfach so und nicht anders kommen mußte: – nur ließ ich beim Abschreiben eine ganze Zeile aus! So daß denn Gott weiß was für ein Sinn herauskam, wahrscheinlich überhaupt kein Sinn. Das Papier wurde aber gestern zu spät fertig und erst heute Seiner Exzellenz zur Unterschrift vorgelegt. Nun und heute morgen – ich komme wie gewöhnlich hin, und nehme meinen Platz neben Jemeljan Iwanowitsch ein. Ich muß Ihnen bemerken, meine Liebe, daß ich mich seit einiger Zeit noch viel mehr schämte und noch mehr zu verstecken suchte, als früher. Ja, in der letzten Zeit hatte ich überhaupt niemanden mehr anzusehen gewagt. Kaum höre ich irgendwo einen Stuhl rücken, da bin ich schon mehr tot als lebendig. Nun, und heute war alles ebenso: ich duckte mich und saß ganz still, wie ein Igel, so daß Jefim Akimowitsch (der spottlustigste Mensch, den es je auf Gottes Erdboden gegeben hat) plötzlich laut zu mir sagte, so daß alle es hörten: „Na, Makar Alexejewitsch, was sitzen Sie denn da wie solch ein U–u–u?“ – und dabei schnitt er eine Grimasse, daß alle, die dort ringsum saßen, sich die Seiten hielten vor Lachen, und natürlich über mich allein lachten, nicht über ihn. Nun, und da ging es denn los! – Ich klappte meine Ohren zu und kniff auch die Augen zu und rührte mich nicht. So tue ich immer, wenn sie anfangen: dann lassen sie einen eher wieder in Ruhe. Plötzlich höre ich erregte Stimmen, hastige Schritte, ein Laufen, Rufen. Ich höre – täuschen mich nicht meine Ohren? Man ruft mich, ruft meinen Namen, ruft Djewuschkin! Mein Herz erzitterte, ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß mir der Schreck so in die Glieder fuhr, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich saß wie angewachsen auf meinem Stuhl, – ich rührte mich nicht, ich war gleichsam gar nicht mehr ich. Aber da rief man schon wieder, immer näher kam es, schon in nächster Nähe: „Djewuschkin! Djewuschkin! Wo ist Djewuschkin!“ – Ich schlage die Augen auf: vor mir steht Jewstafij Iwanowitsch – und ich höre noch, wie er sagt: „Makar Alexejewitsch, zu Seiner Exzellenz, schnell! Sie haben mit Ihrer Abschrift ein schönes Unheil angerichtet!“ Das war alles, was er sagte, aber es war auch schon genug gesagt, nicht wahr, mein Kind, es war schon genug? Ich erstarrte, ich starb einfach, ich empfand überhaupt nichts mehr, ich ging – das heißt, meine Füße gingen, ich selbst war weder tot noch lebendig. Ich wurde durch ein Zimmer geführt, durch noch eines und noch ein drittes – ins Kabinett – jedenfalls sah ich dann, daß ich dort stand. Rechenschaft darüber, was ich dabei dachte, vermag ich Ihnen nicht zu geben. Ich sah nur, dort standen Seine Exzellenz und um sie herum alle die anderen. Ich glaube, ich habe nicht einmal eine Verbeugung gemacht: ich vergaß sie! Ich war ja so bestürzt, daß meine Lippen und meine Knie zitterten. Aber es war auch Grund dazu vorhanden, mein Kind! Erstens schämte ich mich, und dann, als ich noch zufällig nach rechts in einen Spiegel sah, hätte ich wohl alle Ursache gehabt, in die Erde zu versinken. Hinzu kam: ich hatte mich doch immer so zu verhalten gesucht, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden, so daß es kaum anzunehmen war, daß Seine Exzellenz überhaupt etwas von mir wußten. Vielleicht hatten Exzellenz einmal flüchtig gehört, daß dort im vierten Zimmer ein Beamter Djewuschkin sitzt, aber in nähere Beziehungen waren Exzellenz nie zu ihm getreten. Zuerst sagten Exzellenz ganz aufgebracht: „Was haben Sie hier für einen Unsinn geschrieben, Herr! Wo haben Sie Ihre Augen gehabt! Ein so wichtiges Dokument, das dringend abgesandt werden muß! Und da schreiben Sie etwas so Sinnloses zusammen! Was haben Sie sich dabei eigentlich gedacht, –“ und zugleich wandten sich seine Exzellenz an Jewstafij Iwanowitsch. Ich hörte nur einzelne Worte wie aus dem Jenseits: „Unachtsamkeit! Nachlässigkeit! ... nur Unannehmlichkeiten zu bereiten ...“ Ich tat meinen Mund auf, sagte aber nichts. Ich wollte mich entschuldigen, wollte um Verzeihung bitten, ich konnte aber nicht. Fortlaufen – daran war nicht zu denken, nun aber ... nun geschah plötzlich noch etwas – geschah so etwas, mein Kind, daß ich auch jetzt noch kaum die Feder halten kann vor Scham! – Mein Knopf nämlich – nun, hol’ ihn der Teufel! – mein Knopf, der nur noch an einem Fädchen gebaumelt hatte, fiel plötzlich ab (ich muß ihn irgendwie berührt haben), fiel ab, fiel klingend zu Boden und rollte, rollte – und rollte ausgerechnet zu den Füßen Seiner Exzellenz, fiel und rollte mitten in dieser Grabesstille, die herrschte! Das war also meine ganze Rechtfertigung, meine ganze Entschuldigung, alles was ich Seiner Exzellenz zu sagen hatte! Die Folgen waren auch danach! Seine Exzellenz wurde sogleich auf mein Aussehen und meine Kleider aufmerksam. Ich dachte daran, was ich im Spiegel erblickt hatte – das sagt wohl alles – und plötzlich lief ich meinem Knopf nach und bückte mich, um den Ausreißer wieder einzufangen! Ich hatte eben ganz und gar den Verstand verloren! Ich hockte und haschte nach dem Knopf, der aber rollte und rollte wie ein Kreisel immer in die Runde, ich jedoch tapse umher und kriege und kriege ihn nicht – so daß ich mich also auch noch in bezug auf meine Gewandtheit recht auszeichnete! Da fühlte ich denn, wie mich die letzten Kräfte verließen und alles, alles verloren war! Das ganze Ansehen war hin, der Mensch in mir vernichtet! Obendrein begann es auch noch in meinen beiden Ohren zu summen und dazwischen war es mir, als hörte ich irgendwo hinter der Wand Theresa und Faldoni schimpfen, wie ich sie immer in der Küche schimpfen höre. Endlich hatte ich den Knopf, erhob mich, richtete mich auf – doch anstatt nun die Dummheit einigermaßen gutzumachen und stramm zu stehen, Hände an der Hosennaht – statt dessen drücke ich den Knopf immer wieder an die Stelle, wo er früher angenäht war und wo jetzt nur noch ein paar Fädchen hingen, ganz als müsse das den Knopf dort ankleben, dazu aber lächelte ich noch, ja, bei Gott, ich lächelte noch! Exzellenz wandten sich zunächst ab, dann sahen sie mich wieder an – ich hörte sie nur noch zu Jewstafij Iwanowitsch sagen: „Ich bitte Sie ... sehen Sie doch, wie er aussieht! ... In welchem Zustande! ... Was ist das mit ihm?“ Ach, meine Liebe, was war da noch zu wollen! Hatte mich ausgezeichnet, wie man’s besser nicht machen kann! Ich höre, Jewstafij Iwanowitsch antwortet ihm: „... nichts zuschulden kommen lassen, nichts, Exzellenz, hat sich bisher musterhaft aufgeführt ... gut angeschrieben ... etatsmäßiges Gehalt ...“ „Nun, dann helfen Sie ihm irgendwie,“ sagte Seine Exzellenz, „geben Sie ihm Vorschuß ...“ „Ja, leider hat er schon soviel Vorschuß genommen, schon für soundsoviele Monate. Offenbar sind seine Verhältnisse im Augenblick derart ... seine Aufführung ist sonst, wie gesagt, musterhaft, tadellos ...“ Ich war, mein Engelchen, ich war wie von einem höllischen Feuer umgeben, das mich bei lebendigem Leibe versengte und verbrannte! Ich – ich gab einfach meinen Geist auf, ja, ich starb und war tot. „Nun,“ sagte plötzlich Seine Exzellenz laut, „das muß also nochmals abgeschrieben werden. Djewuschkin, kommen Sie mal her: also schreiben Sie mir das nochmals fehlerlos ab, und Sie, meine Herren ...“ hier wandten sich Seine Exzellenz an die übrigen und erteilten verschiedene Aufträge, so daß sie alle einer nach dem anderen fortgingen. Kaum aber war der letzte gegangen, da zogen Exzellenz schnell die Brieftasche hervor und entnahmen ihr einen Hundertrubelschein. – „Hier ... soviel ich kann, nehmen Sie – lassen Sie’s gut sein ...“ und damit drückten sie mir den Schein in die Hand. Ich, mein Engelchen, ich zuckte zusammen, meine ganze Seele erbebte: ich weiß nicht mehr, wie mir geschah! Ich wollte seine Hand ergreifen, um sie zu küssen, er aber errötete, mein Täubchen, und – ich weiche hier nicht um Haaresbreite von der Wahrheit ab, mein Kind – und er nahm diese meine unwürdige Hand und schüttelte sie, nahm sie ganz einfach und schüttelte sie, ganz als wäre das die Hand eines ihm völlig Gleichstehenden, etwa eines ebensolchen hochgestellten Mannes, wie er selbst einer ist. „Nun, gehen Sie,“ sagte er, „womit ich helfen kann ... Schreiben Sie das nochmals ab, aber machen Sie keine Fehler. Und dies hier, das kann man zerreißen ...“ Jetzt, mein Kind, hören Sie an, was ich beschlossen habe: Sie und Fedora bitte ich, und wenn ich Kinder hätte, würde ich ihnen befehlen, daß sie zu Gott beten sollten, und zwar so: daß sie für den eigenen leiblichen Vater nicht beten, für Seine Exzellenz aber tagtäglich und bis an ihr Lebensende beten sollten! Und ich will Ihnen noch etwas sagen, und das sage ich feierlichst – also passen Sie auf, mein Kind: ich schwöre es, daß ich – so groß auch meine Not war und wie sehr ich auch unter unserem Geldmangel gelitten habe, zumal, wenn ich an Ihre Not und Ihr Ungemach dachte und desgleichen an meine Erniedrigung und Unfähigkeit – also ungeachtet alles dessen schwöre ich Ihnen, daß diese hundert Rubel mir nicht soviel wert sind, wie diese eine Tatsache, daß Seine Exzellenz selbst und leibhaftig mir, dem Trunkenbold, dem Geringsten unter den Geringen, die Hand, diese meine unwürdige Hand zu drücken geruhten! Damit haben sie mich mir selbst zurückgegeben. Damit haben sie meinen Geist von den Toten auferweckt, mir das Leben für ewig versüßt, und ich bin fest überzeugt, daß – so sündig ich auch vor dem Allerhöchsten sein mag – mein Gebet für das Glück und Wohlergehen Seiner Exzellenz doch bis zum Throne Gottes dringen und von ihm erhört werden wird! – Mein Liebes, mein Kind! Ich bin jetzt in einer Gemütserregung, wie ich sie noch nie erlebt habe. Mein Herz klopft zum Zerspringen und ich fühle mich so erschöpft, als wäre mir alle Kraft abhanden gekommen. Ich sende Ihnen hiermit 45 Rubel. 20 Rubel gebe ich der Wirtin und den Rest von 35 behalte ich für mich: davon will ich mir für 20 Kleidungsstücke anschaffen, und 15 bleiben dann zum Leben. Nur haben mich alle diese Eindrücke heute morgen so erschüttert, daß ich mich ganz schwach fühle. Ich werde mich etwas hinlegen. Ich bin jetzt übrigens ganz ruhig, vollständig ruhig. Es ist nur noch so wie ein Druck auf dem Herzen und irgendwo dort in der Tiefe spüre ich, wie meine Seele bebt und zittert. Ich werde zu Ihnen kommen. Noch bin ich wie betäubt von all diesen Empfindungen ... Gott sieht alles, mein Kind, alles! Ihr würdiger Freund Makar Djewuschkin. 10. September. Mein bester Makar Alexejewitsch! Ich freue mich unendlich über Ihr Glück und weiß die Hilfe Ihres Vorgesetzten in ihrer ganzen Güte zu würdigen. So können Sie jetzt endlich aufatmen und sich von Ihren Sorgen erholen! Aber nur um eines bitte ich Sie: geben Sie das Geld um Gottes willen nicht wieder für unnütze Sachen aus! Leben Sie ruhig und still, leben Sie möglichst sparsam, und bitte, fangen Sie jetzt an, jeden Tag etwas Geld beiseite zu legen, damit Sie nicht wieder so in Not geraten! Um uns brauchen Sie sich wirklich nicht mehr zu sorgen. Werden uns schon durchschlagen. Wozu haben Sie uns soviel Geld geschickt, Makar Alexejewitsch? Wir brauchen es doch gar nicht ... Wir sind zufrieden mit dem, was wir uns verdienen. Es ist wahr, wir werden bald zum Umzuge Geld nötig haben, aber Fedora hofft, daß man ihr jetzt endlich eine alte Schuld abtragen wird. Ich behalte also für alle Fälle zwanzig Rubel, den Rest sende ich Ihnen zurück. Geben Sie das Geld nur nicht für Unnötiges aus, Makar Alexejewitsch! Leben Sie wohl! Leben Sie jetzt ganz ruhig, werden Sie gesund und fröhlich. Ich würde Ihnen mehr schreiben, fühle mich aber schrecklich müde. Gestern lag ich den ganzen Tag im Bett. Das ist gut, daß Sie mich besuchen wollen. Tun Sie es doch, bitte, recht bald, Makar Alexejewitsch. Ich erwarte Sie. Ihre W. D. Meine liebe Warwara Alexejewna! Ich flehe Sie an, meine Liebe, verlassen Sie mich jetzt nicht, jetzt, wo ich vollkommen glücklich und mit allem zufrieden bin! Mein Täubchen! Hören Sie nicht auf Fedora! Ich verspreche Ihnen, alles zu tun, was Sie nur wollen. Ich werde mich gut aufführen, allein schon aus Hochachtung für Seine Exzellenz werde ich mich ehrenhaft und anständig aufführen. Wir werden einander wieder selige Briefe schreiben, werden uns gegenseitig unsere Gedanken mitteilen, und unsere Freuden und Sorgen – wenn es wieder einmal Sorgen geben sollte – miteinander teilen: und so werden wir denn wieder einträchtig und glücklich miteinander leben. Wir werden uns mit der Literatur beschäftigen ... Mein Engelchen! In meinem Leben hat sich doch jetzt alles zum besseren gewendet. Meine Wirtin läßt wieder mit sich reden. Theresa ist bedeutend klüger geworden und sogar Faldoni wird diensteifrig. Mit Ratasäjeff habe ich mich ausgesöhnt. Ich ging in meiner Freude selbst zu ihm. Er ist wirklich ein guter Kerl, mein Kind, und was man von ihm Schlechtes gesagt hat, beruht auf Unsinn und Irrtum: jetzt habe ich erfahren, daß alles nur eine häßliche Verleumdung gewesen ist. Er hat gar nicht daran gedacht, eine Satire auf uns zu machen. Er hat es mir selbst gesagt. Er las mir sein neuestes Werk vor. Und was das betrifft, daß er mich damals Lovelace benannt hat: nun – so ist das ja gar nichts Schlechtes oder gar eine unanständige Bezeichnung. Er hat mir nämlich jetzt die Bedeutung erklärt. Lovelace ist ein Fremdwort und bedeutet ungefähr „ein gewandter Bursche“, oder wenn man es hübscher, sozusagen literarischer ausdrücken will: „ein schneidiger Kavalier“. Sehen Sie, das bedeutet es, nicht aber irgend so etwas – anderes! Es war also ein ganz unschuldiger Scherz von ihm, mein Engelchen. Ich ungebildeter Dummkopf habe es nur gleich für eine Beleidigung gehalten. Nun, und da habe ich mich denn auch deswegen heute bei ihm entschuldigt ... Das Wetter ist heute so schön, Warinka. Am Morgen hatten wir zwar leichten Frost, aber das tut nichts: dafür ist die Luft jetzt etwas frischer. Ich ging und kaufte mir ein Paar Stiefel – es sind wirklich tadellos schöne Stiefel, die ich gekauft habe. Dann ging ich noch etwas auf dem Newskij spazieren. Habe dann die Zeitung gelesen. Ja, richtig! und das Wichtigste habe ich vergessen, Ihnen zu erzählen! Also hören Sie jetzt, wie es war: Heute morgen knüpfte ich mit Jemeljan Iwanowitsch und mit Akssentij Michailowitsch ein Gespräch an: wir sprachen von Seiner Exzellenz. Ja, Warinka, Seine Exzellenz sind nicht nur gegen mich so gütig gewesen. Sie haben schon vielen Gutes erwiesen und die Herzensgüte Seiner Exzellenz ist aller Welt bekannt. Viele, viele Menschen rühmen diese Güte und vergießen Tränen der Dankbarkeit, wenn sie der ihnen erwiesenen Hilfe gedenken. Exzellenz haben unter anderem eine arme Waise bei sich im Hause erzogen, und die ist dann verheiratet worden, an einen angesehenen Beamten, der zu den nächsten Untergebenen Seiner Exzellenz gehört, und Exzellenz haben ihr dann auch noch eine Aussteuer mitgegeben. Ferner haben Exzellenz auch noch den Sohn einer armen Witwe in einer Kanzlei untergebracht, und noch viel, viel Gutes haben Exzellenz den Menschen erwiesen. Ich hielt es für meine Pflicht, mein Kind, auch mein Scherflein beizusteuern und erzählte allen laut, was Exzellenz an mir getan: ich erzählte ihnen alles, ich verheimlichte nichts. Meine Verlegenheit steckte ich dabei in die Tasche. Was Verlegenheit, was Ansehen, wenn es sich um so etwas handelt! Ganz laut erzählte ich es, so daß alle es hören konnten, ja, ganz laut, um die edelmütigen Taten Seiner Exzellenz allen kundzutun! Ich sprach mit Eifer und Begeisterung und errötete nicht: im Gegenteil, ich war stolz, daß ich so etwas erzählen konnte. Und ich erzählte alles (nur von Ihnen, mein Kind, erzählte ich zum Glück nichts, über Sie ging ich vernünftigerweise mit Stillschweigen hinweg), aber von meiner Wirtin und Faldoni, und von Ratasäjeff und Markoff und von meinen Stiefeln – alles das erzählte ich rückhaltlos. Manche spotteten wohl ein bißchen, oder eigentlich spotteten alle – alle lachten wenigstens! Wahrscheinlich haben sie an meiner Erscheinung etwas Lächerliches gefunden. Vielleicht haben sie auch nur über meine Stiefel gelacht – ja, ganz sicher nur über meine Stiefel! Aber in irgendeiner schlechten Absicht haben sie gewiß nicht gelacht, das hätten sie nie und nimmer tun können. Es kam eben nur so, es war ihre Jugend – oder weil sie wohlhabende Leute sind. In einer schlechten, einer häßlichen Absicht jedenfalls – da hätten sie mich und meine Worte bestimmt nicht verspottet. Das heißt, ich meine: etwa über Seine Exzellenz lachen – das hätten sie unter keinen Umständen getan. Hab’ ich nicht recht, Warinka? Ich kann eigentlich noch immer nicht ganz zur Besinnung kommen, mein Kind. Alle diese Geschehnisse haben mich so verwirrt! Haben Sie auch Holz zum Heizen? Sehen Sie nur zu, daß Sie sich nicht erkälten, Warinka, wie leicht ist das geschehen! Ich bete zu Gott, mein Kind, er möge Sie behüten und beschützen. Haben Sie zum Beispiel wollene Strümpfchen oder was da sonst von warmen Kleidungsstücken für den Winter nötig ist? Seien Sie nur vorsichtig, mein Täubchen. Wenn Ihnen von solchen Sachen etwas fehlen sollte, dann kränken Sie mich Alten nicht, dann wenden Sie sich sogleich an mich. Jetzt sind ja die schlechten Zeiten vorüber und vor uns liegt das Leben so hell und so schön! Aber es war doch eine traurige Zeit, Warinka! Nun ja, was soll man da noch reden, jetzt, da sie überstanden ist! Wenn erst Jahre darüber vergangen sein werden, dann werden wir auch an diese Zeit lächelnd zurückdenken. Nicht wahr, wie wenn man heute so an seine Jugendjahre zurückdenkt! Was man da nicht alles durchgemacht hat! Wie oft hatte man nicht einen einzigen Kopeken in der Tasche. Kalt war man, hungrig war man, aber dabei doch immer lustig. Morgens ging man über den Newskij, begegnete einem netten Gesichtchen – und da wurde man denn für den ganzen Tag glücklich. Eine schöne, eine wunderschöne Zeit war es doch, mein Kind! Es ist schön, in der Welt zu leben, Warinka! Namentlich in Petersburg. Ich habe gestern mit Tränen in den Augen vor Gott dem Herrn meine Sünden bereut, damit er mir alle meine Sünden, die ich in dieser traurigen Zeit begangen habe, verzeihen möge, als da sind: Freidenkerei, Leichtsinn und Spiel. Und Ihrer, mein Kind, habe ich in meinem Gebet mit Rührung gedacht. Sie allein, mein Engelchen, haben mich getröstet und gestärkt, haben mir guten Rat erteilt und mir mit Ihrem Beistand über alles Schwere hinweggeholfen. Das werde ich, mein Kind, Ihnen niemals vergessen. Ihre Briefchen habe ich heute alle einzeln abgeküßt, mein Täubchen, mein Engelchen! Nun, und jetzt – leben Sie wohl! Ich habe gehört, daß hier in der Nähe jemand eine Uniform zu verkaufen hat. Nun werde ich mich auch äußerlich wieder etwas instand setzen. Leben Sie wohl, mein Engelchen, leben Sie wohl, auf Wiedersehen! Ihr Ihnen innig zugetaner Makar Djewuschkin. 15. September. Mein lieber Makar Alexejewitsch! Ich bin in schrecklicher Aufregung. Hören Sie, was geschehen ist. Ich ahne etwas Verhängnisvolles. Urteilen Sie selbst, mein bester Freund: Herr Bükoff ist in Petersburg! Fedora ist ihm begegnet. Er ist in einem Wagen an ihr vorübergefahren, hat sie erkannt, hat sogleich befohlen, anzuhalten, ist dann selbst auf sie zugegangen und hat sie gefragt, wo ich wohne. Sie hat es natürlich nicht gesagt. Darauf hat er lachend die Bemerkung hingeworfen – na, er wisse ja schon, wer bei ihr sei. (Offenbar hat ihm Anna Fedorowna alles erzählt.) Da ist Fedora zornig geworden und hat ihm gleich dort auf der Straße Vorwürfe gemacht, ihm gesagt, daß er ein sittenloser Mensch sei und ganz allein die Schuld an meinem Unglück trage. Darauf hat er erwidert, wenn man keinen Kopeken habe, müsse man allerdings unglücklich sein! Fedora sagt, sie habe ihm darauf erklärt, daß ich mich sehr wohl mit meiner Hände Arbeit ernähren, daß ich heiraten oder schlimmstenfalls eine Stelle hätte annehmen können, jetzt aber sei mein Glück für immer vernichtet: ich sei außerdem krank und werde wohl bald sterben. Darauf hat er erwidert, ich sei noch gar zu jung, in meinem Kopfe gäre es noch, und er hat hinzugefügt, unsere Tugenden seien wohl ein bißchen trüb geworden (das sind genau seine Worte). Wir dachten schon, Fedora und ich, daß er nicht wisse, wo wir wohnen, doch plötzlich, gestern – kaum war ich ausgegangen, um im Gostinnyj Dworr einige Zutaten zu kaufen – da taucht er ganz unerwartet hier auf! Wahrscheinlich hat er mich nicht zu Hause antreffen wollen. Zunächst hat er Fedora lange über unser Leben ausgefragt und alles bei uns genau betrachtet, auch meine Handarbeit. Und dann hat er plötzlich gefragt: „Was ist denn das für ein Beamter, der mit euch bekannt ist?“ In diesem Augenblick sind Sie gerade über den Hof gegangen und da hat Fedora auf Sie hingewiesen: er hat lebhaft zum Fenster hinausgesehen und dann gelacht. Auf Fedoras Bitte, fortzugehen, da ich von all dem Kummer ohnehin schon krank sei und es mir sehr unangenehm wäre, ihn hier zu sehen, hat er nichts geantwortet und eine Weile geschwiegen: dann hat er gesagt, daß er „nur so“ gekommen sei, er habe gerade nichts zu tun gehabt, und schließlich hat er Fedora 25 Rubel geben wollen, die sie natürlich nicht angenommen hat. Was könnte das alles zu bedeuten haben? Weshalb, wozu ist er zu uns gekommen? Ich begreife nicht, woher er alles über uns erfahren haben kann? Ich verliere mich in allen möglichen Mutmaßungen. Fedora sagt, Axinja, ihre Schwägerin, die bisweilen zu uns kommt, sei gut bekannt mit der Wäscherin Nastassja, ein Vetter von dieser Nastassja aber sei Amtsdiener in dem Bureau, in dem einer der besten Freunde des Neffen von Anna Fedorowna angestellt ist. Sollte der Klatsch nicht auf diesem Umwege zu ihm gedrungen sein? Wir wissen selbst nicht, was wir denken sollen. Könnte er wirklich noch einmal zu uns kommen? Der bloße Gedanke daran entsetzt mich! Als Fedora mir gestern das alles erzählte, erschrak ich so, daß ich fast ohnmächtig wurde – vor Angst. Was wollen diese Menschen von mir? Ich will nichts mehr von ihnen wissen! Was gehe ich sie an? Ach, wenn Sie wüßten, in welcher Angst ich jetzt lebe: jeden Augenblick fürchte ich, Bükoff werde sogleich ins Zimmer treten. Was wird aus mir werden! Was erwartet mich? Um Christi willen, kommen Sie sogleich zu mir, Makar Alexejewitsch! Ich flehe Sie an, kommen Sie! 18. September. Meine liebe Warwara Alexejewna! Heute ist in unserem Hause etwas unendlich Trauriges, Unerklärliches und ganz Unerwartetes geschehen. Doch ich will Ihnen alles der Reihenfolge nach erzählen. Also das Erste war, daß unser armer Gorschkoff freigesprochen wurde. Das Urteil war wohl schon lange eine beschlossene Sache, aber erst für heute hatte man die Verkündung des Endspruches festgesetzt. Die Sache endete für ihn sehr günstig. All der Dinge, deren man ihn beschuldigt hatte – der Unachtsamkeit, Nachlässigkeit usw. – wurde er freigesprochen. Das Gericht stellte in vollem Umfange seine Ehre wieder her und verurteilte den Kaufmann zur Auszahlung jener bedeutenden Geldsumme an Gorschkoff, so daß sich jetzt auch seine äußere Lage mit einem Schlage gebessert hat, da das Geld ganz sicher ist und vom Kaufmann auf gerichtlichem Wege eingezogen werden wird. Das Wichtigste aber war natürlich, daß der Schandfleck entfernt wurde, der mit dieser Anklage auf seiner Ehre lag. Mit einem Wort, alle seine Wünsche gingen in Erfüllung. Gegen drei Uhr kam er nach Hause. Er war kaum wiederzuerkennen. Sein Gesicht war bleich wie Kreide. Die Lippen zitterten, und dabei lächelte er in einem fort – so umarmte er seine Frau und die Kinder. Wir gingen alle, eine ganze Schar, zu ihm, um ihn zu beglückwünschen. Ich glaube, unsere Handlungsweise rührte ihn sehr, er dankte nach allen Seiten und drückte einem jeden mehrmals die Hand. Ja, es schien sogar, als ob er ordentlich gewachsen sei, wenigstens hielt er sich weit strammer, als sonst, und auch die Augen tränten nicht mehr, sondern glänzten förmlich. Er war so erregt, der Arme. Keine zwei Minuten hielt er es auf ein und derselben Stelle aus: alles nahm er in die Hand, um es sogleich wieder zurückzulegen, bald faßte er die Stuhllehnen an, lächelte, dankte, dann setzte er sich, stand jedoch gleich wieder auf, setzte sich von neuem und sprach Gott weiß was alles zusammen. Einmal sagte er: „Meine Ehre, ja, meine Ehre – ein guter Name, der bleibt jetzt meinen Kindern ...“ und Sie hätten hören müssen, wie er das sagte! Die Augen standen ihm voll Tränen, und auch wir waren den Tränen nahe. Ratasäjeff wollte wohl ablenken und sagte deshalb: „I, was, Väterchen, was macht man mit der Ehre, wenn man nichts zu essen hat! Geld, Väterchen, Geld ist die Hauptsache. Für das Geld, ja dafür können Sie Gott danken!“ – und dabei klopfte er ihm auf die Schulter. Mir schien es, als ob Gorschkoff sich dadurch irgendwie gekränkt fühlte. Nicht gerade, daß er den Beleidigten gespielt hätte, aber er sah doch den Ratasäjeff so eigentümlich an und nahm zur Antwort dessen Hand von seiner Schulter. Früher jedenfalls wäre das nicht geschehen, mein Kind. Übrigens sind die Charaktere verschieden. Ich zum Beispiel hätte in der Freude ganz sicher nicht gleich den Stolzen gespielt. Macht man doch, meine Liebe, macht man doch oft genug einen ganz unnötigen Bückling, macht ihn aus keinem anderen Grunde, als einzig aus überflüssiger Weichheit oder in einer Anwandlung gar zu großer Gutherzigkeit ... Doch handelt es sich hier nicht um mich – „Ja,“ sagte Gorschkoff nach einer Weile, „auch das Geld ist gut. Gott sei Dank ... Gott sei Dank ...“ Und dann wiederholte er noch mehrmals vor sich hin: „Gott sei Dank ... Gott sei Dank ...“ Seine Frau bestellte ein etwas reichlicheres und besseres Mittagessen. Unsere Wirtin kochte es selbst. Unsere Wirtin ist nämlich im Grunde eine gute Frau. Bis zum Essen konnte Gorschkoff keinen Augenblick stillsitzen. Er ging zu allen in die Zimmer, gleichviel, ob man ihn aufgefordert hatte oder nicht. Er trat ganz einfach ein, lächelte in seiner Weise, setzte sich auf einen Stuhl, sagte irgend etwas, oder sagte auch nichts – und dann ging er wieder. Bei unserem Seemann, bei dem man gerade spielte, nahm er sogar Karten in die Hand und man ließ ihn auch als vierten mitspielen. Er spielte, spielte, brachte aber nur Verwirrung ins Spiel und warf die Karten nach drei oder vier Runden wieder hin. „Nein, ich habe ja nur so ...“ soll er gesagt haben, „ich habe ja nur so ...“ und damit ist er wieder aus dem Zimmer gegangen. Mir begegnete er im Korridor, ergriff meine beiden Hände und sah mir lange in die Augen, aber mit einem ganz eigentümlichen Blick. Dann drückte er meine Hände und ging fort, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, einem gleichfalls ganz eigentümlichen Lächeln, das so unbeweglich, so bedrückend war, wie das Lächeln eines Toten. Seine Frau weinte vor Freude. Es war bei ihnen heute wie ein rechter Feiertag. Das Mittagessen war bald beendet. Dann, nach dem Essen, hat er plötzlich zu seiner Frau gesagt: „Ich will mich jetzt ein wenig hinlegen,“ – und damit hatte er sich auch schon auf dem Bett ausgestreckt. Gleich darauf rief er sein Töchterchen zu sich, legte die Hand auf das Kinderköpfchen und streichelte es immer wieder. Dann wandte er sich von neuem an seine Frau: „Wo ist denn Petinka? Unser Petjä,“ fragte er, „unser Petinka? ...“ Die Frau bekreuzte sich und sagte, daß Petinka doch tot sei. „Ja, ja, ich weiß, ich weiß schon, Petinka ist jetzt im Himmelreich.“ Die Frau merkte, daß er gar nicht so wie sonst war, daß die Erlebnisse an diesem Tage ihn ganz erschüttert hatten, und sagte deshalb, er solle doch versuchen, einzuschlafen und auszuruhen. „Ja, gut ... ich werde gleich ... ich will nur ein wenig ...“ und damit drehte er sich auf die Seite, lag ein Weilchen, dann wandte er sich wieder zurück und wollte wohl noch etwas sagen. Die Frau hat ihn noch gefragt: „Was ist, mein Freund?“ – aber er antwortete schon nicht mehr. „Nun, er wird wohl eingeschlafen sein,“ sagte sie sich und ging aus dem Zimmer, um mit der Wirtin Notwendiges zu besprechen. Nach etwa einer Stunde kam sie zurück – der Mann, sah sie, war noch nicht aufgewacht, er schlief noch ganz ruhig, ohne sich zu rühren. Sie dachte: mag er nur schlafen und setzte sich wieder an ihre Arbeit. Sie erzählt, daß sie wohl über eine halbe Stunde so gesessen habe, doch könne sie nicht mehr sagen, an was sie eigentlich gedacht, obschon sie in Nachdenken versunken gewesen sei, nur habe sie den Mann ganz vergessen. Plötzlich aber sei sie wieder zu sich gekommen, und zwar habe ein gewisses beunruhigendes Gefühl sie aus ihrer Traumverlorenheit aufgeschreckt, und da sei ihr zunächst nur die Grabesstille im Zimmer aufgefallen. Sie blickte auf das Bett und sah, daß ihr Mann immer noch so lag, wie vor anderthalb Stunden. Da trat sie denn zu ihm und berührte ihn – er aber war schon kalt: ja, er war tot, Kind, Gorschkoff war tot, war ganz plötzlich gestorben, wie vom Blitz getroffen. Woran er aber gestorben ist, das mag Gott wissen! Das ist’s, was mich so erschüttert hat, Warinka, daß ich noch immer nicht recht zur Besinnung kommen kann. Ich kann es nicht glauben, daß ein Mensch so einfach – stirbt! Dieser arme, unglückliche Mensch! Warum mußte er denn gerade jetzt an seinem ersten Freudentage sterben! Ja, das Schicksal, das Schicksal! Die Frau ist ganz aufgelöst in Tränen, noch ganz verstört von dem furchtbaren Schreck. Das kleine Mädchen aber hat sich verschüchtert in einen Winkel verkrochen. Bei ihnen ist jetzt nur ein einziges Kommen und Gehen. Es soll noch eine ärztliche Untersuchung stattfinden ... so heißt es, genau weiß ich das nicht. Leid tut es mir, ach, so leid! Es ist doch traurig, wenn man bedenkt, daß man wirklich weder Tag noch Stunde weiß ... Man stirbt so einfach mir nichts dir nichts weg und aus ist es ... Ihr Makar Djewuschkin. 19. September. Meine liebe Warwara Alexejewna! Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, mein Kind, daß Ratasäjeff mir Arbeit verschafft hat, Arbeit für einen Schriftsteller. – Heute kam einer zu ihm und brachte so ein dickes Manuskript – Gott sei Dank, viel Arbeit. Nur ist es alles so unleserlich geschrieben, daß ich gar nicht weiß, wie ich das entziffern soll, dabei wird die Arbeit so schnell verlangt. Außerdem handelt es von so schweren Dingen, daß man es gar nicht mal recht verstehen kann. Über den Preis sind wir auch schon einig geworden: 40 Kopeken pro Bogen. Ich schreibe Ihnen das alles nur deshalb, meine Liebe, um Sie schneller wissen zu lassen, daß ich jetzt noch obendrein einen Nebenverdienst haben werde. Und nun leben Sie wohl, Kind. Ich will mich gleich an die Arbeit machen. Ihr treuer Makar Djewuschkin. 23. September. Mein teurer Freund, Makar Alexejewitsch! Ich habe Ihnen drei Tage lang nicht geschrieben, mein Freund, und doch war es eine Zeit großer Sorge und Aufregung für mich. Vor drei Tagen war Bükoff bei mir. Ich war allein, Fedora war ausgegangen. Ich öffnete die Tür und erschrak dermaßen, als ich ihn erblickte, daß ich mich nicht von der Stelle rühren konnte. Ich fühlte, wie ich erbleichte. Er trat, wie das so seine Art ist, mit lautem Lachen ins Zimmer, nahm ganz ungeniert einen Stuhl und setzte sich. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Fassung wiedergewann. Endlich setzte ich mich wieder ans Fenster, an meine Arbeit! Er hörte übrigens bald auf, zu lachen. Augenscheinlich hat ihn mein Aussehen doch überrascht. Ich habe ja in der letzten Zeit so abgenommen, meine Wangen und Augen sind eingefallen, und ich war so bleich wie eine Tote ... Ja, es muß allerdings schwer sein für die, die mich vor einem Jahre gekannt haben, mich jetzt wiederzusehen. Er betrachtete mich lange und aufmerksam, endlich heiterte sich seine Miene wieder auf. Er machte irgendeine Bemerkung – ich weiß nicht mehr, was ich antwortete – und lachte wieder. Eine ganze Stunde saß er so bei mir, fragte mich nach diesem und jenem und unterhielt sich mit mir ganz ungezwungen. Endlich, bevor er aufbrach, erfaßte er meine Hand und sagte (ich schreibe es Ihnen wortwörtlich): „Warwara Alexejewna! Unter uns gesagt: Anna Fedorowna, Ihre Verwandte und meine alte Bekannte und Freundin, ist ein höchst gemeines Weib.“ (Er benannte sie außerdem noch mit einem ganz unanständigen Wort.) „Sie hat jetzt auch Ihre Kusine vom rechten Wege abgelenkt, und auch Sie hat sie dem Verderben zuführen wollen. Na, aber auch ich habe mich in diesem Falle recht als Schuft gezeigt: doch schließlich, was soll man darüber viel Worte verlieren, das ist so eine alltägliche Geschichte, wie das Leben sie eben mit sich bringt.“ Wieder lachte er laut. Darauf bemerkte er, daß er kein glänzender Redner sei, daß er das Wichtigste, was er zu sagen hatte, ja, was zu verschweigen ihm seine Anständigkeit einfach verboten hätte, bereits gesagt habe, und daß er daher das Übrige in kurzen Worten zu erklären gedenke. Und so tat er es auch: er erklärte mir, daß er um meine Hand anhalte, daß er es für seine Pflicht erachte, mir meine Ehre wiederzugeben, daß er reich sei und mich nach der Hochzeit auf sein Gut im Steppengebiet bringen werde. Dort gedenke er Hasen zu jagen, nach Petersburg aber wolle er nie mehr zurückkehren, denn das Großstadtleben sei ihm widerwärtig. Außerdem habe er hier einen Neffen, einen hoffnungslosen Taugenichts, wie er ihn nannte, und er habe sich geschworen, diesen um die erwartete Erbschaft zu bringen. Hauptsächlich deshalb habe er sich entschlossen, zu heiraten, das heißt, er wolle rechtmäßige Erben hinterlassen. Darauf äußerte er sich noch über unsere Wohnung, meinte, es wäre schließlich kein Wunder, daß ich krank geworden sei, wenn ich in einer so jämmerlichen Hintertreppenstube wohne, und prophezeite mir meinen nahen Tod, wenn ich noch lange hierbliebe. In Petersburg seien die Wohnungen überhaupt elend, sagte er, und dann fragte er, ob ich nicht irgendeinen Wunsch habe. Ich war so erschreckt durch seinen Antrag, daß ich plötzlich – ich weiß selbst nicht, weshalb – in Tränen ausbrach. Er hielt sie natürlich für Tränen der Dankbarkeit und sagte, er sei von jeher überzeugt gewesen, daß ich ein gutes, gefühlvolles und gebildetes Mädchen sei, doch habe er sich nicht früher zu seinem Antrag entschlossen, als nachdem er alles Nähere über mich und meine Lebensführung erfahren. Hierauf erkundigte er sich nach Ihnen, sagte, er wisse bereits alles, Sie seien ein anständiger Mensch, und er wolle nicht in Ihrer Schuld stehen – ob Ihnen 500 Rubel genug wären für alles, was Sie für mich getan haben? Als ich ihm darauf antwortete, daß Sie für mich das getan, was man mit Geld nicht zu bezahlen vermöge, sagte er, das sei Unsinn; so etwas käme wohl in Romanen vor, ich sei noch jung und beurteile das Leben nach Büchern: Romane aber setzten jungen Mädchen bloß verschrobene Ideen in den Kopf, und überhaupt möchte er von Büchern ohne weiteres behaupten, daß sie nur die Sitten verdürben, weshalb er Bücher nicht leiden könne. Er riet mir, erst sein Alter zu erreichen, dann könne ich von Menschen reden, „dann erst,“ sagte er, „werden Sie die Menschen kennen gelernt haben.“ Darauf riet er mir, über seinen Antrag nachzudenken und mir alles reiflich zu überlegen, denn es wäre ihm sehr unangenehm, wenn ich einen so wichtigen Schritt unüberlegt tun würde, und er fügte noch hinzu, daß Unbedachtsamkeit und stürmische Entschlüsse die unerfahrene Jugend stets ins Verderben zu führen pflegten, doch sei es sein größter Wunsch, eine zusagende Antwort von mir zu erhalten: andernfalls werde er sich gezwungen sehen, in Moskau eine Kaufmannstochter zu heiraten, da er, wie gesagt, nun einmal geschworen habe, seinen nichtsnutzigen Neffen um die Erbschaft zu bringen. Darauf erhob er sich und legte fünfhundert Rubel auf meinen Stickrahmen, für Naschwerk, wie er sagte, und er zwang mich fast mit Gewalt, sie dort liegen zu lassen. Zum Schluß sagte er noch, daß ich auf dem Gute wie ein Pfannkuchen aufgehen, dick, rosig und gesund werden würde, ich könne dort essen, soviel ich nur wolle. Augenblicklich habe er hier entsetzlich viel zu tun, die Geschäfte hätten ihn schon den ganzen Tag in Anspruch genommen und er sei auch nur auf kurze Zeit zu mir gekommen. Damit ging er ... Ich habe lange nachgedacht, viel hin und her gegrübelt und mich recht gequält, mein Freund, und endlich habe ich mich entschlossen. Ja: ich werde ihn heiraten, ich muß seinen Antrag annehmen. Wenn mich jemand von meiner Schande erlösen, mir meine Ehre wiedergeben und mich in Zukunft vor Armut und Entbehrungen und Unglück bewahren kann, so ist er ganz allein derjenige, der es vermag. Was soll ich denn sonst von der Zukunft erwarten, was noch vom Schicksal verlangen? Fedora sagt, daß man sein Glück nicht verscherzen dürfe, nur fragte sie gleich darauf seufzend, was man denn in diesem Falle Glück nennen solle. Ich jedenfalls finde keinen anderen Ausweg für mich, mein guter Freund. Was soll ich tun? Mit der Arbeit habe ich ohnehin schon meine ganze Gesundheit untergraben. Ununterbrochen arbeiten – das kann ich nicht. Bei fremden Menschen dienen? – Ich käme um vor Leid, und überdies würde ich niemanden zufriedenstellen. Ich bin von Natur kränklich, deshalb würde ich Fremden immer nur zur Last fallen. Natürlich gehe ich ja auch jetzt nicht in ein Paradies, aber was soll ich denn tun, mein Freund, was soll ich denn tun? Was soll ich denn vorziehen? Ich habe Sie nicht um Ihren Rat gebeten. Ich wollte ganz allein alles überlegen. Mein Entschluß, den ich Ihnen jetzt mitgeteilt habe, steht fest und ich werde ihn sogleich auch Bükoff mitteilen, da er schon sowieso und mit Ungeduld meine endgültige Entscheidung erwartet. Er sagte mir, daß seine Geschäfte keinen Aufschub dulden, er müsse abreisen, und „wegen dieser Nichtigkeiten“ könne er die Abreise doch nicht aufschieben. Nur Gott in seiner heiligen und unerforschlichen Macht über mein Schicksal weiß, ob ich glücklich sein werde, aber mein Entschluß ist gefaßt. Man sagt, Bükoff sei ein guter Mensch: er wird mich achten, und vielleicht werde ich ihn gleichfalls achten. Was aber sollte man wohl noch mehr von unserer Ehe erwarten? Ich teile Ihnen alles mit, Makar Alexejewitsch, denn ich weiß, daß Sie meinen ganzen Jammer verstehen werden. Versuchen Sie nicht, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Ihre Bemühungen wären zwecklos. Erwägen Sie lieber in Ihrem eigenen Herzen alle Gründe, die mich zu diesem Schritt veranlaßt haben. Anfangs regte es mich sehr auf, doch jetzt bin ich ruhiger. Was mich erwartet – ich weiß es nicht. Was geschehen wird, das wird geschehen, wie Gott es schickt! ... Bükoff ist gekommen, ich kann den Brief nicht beenden. Ich wollte Ihnen noch vieles sagen. Bükoff ist schon hier. 23. September. Kind, Warwara Alexejewna! Ich beeile mich, Kind, Ihnen zu antworten. Ich, Kind, ich beeile mich, Ihnen zu erklären, daß ich – daß ich erstaunt bin. Alles das ist doch ganz sicher irgendwie nicht so ... Gestern haben wir Gorschkoff beerdigt. Ja, das ist so, Warinka, das ist so; Bükoff hat ehrenhaft gehandelt; nur eines, sehen Sie, meine Liebe, Sie haben ihm also wirklich zugesagt? Natürlich wirkt in allem Gottes Wille. Das ist so, das muß unbedingt so sein, das heißt, hier – auch hier muß unbedingt Gottes Wille wirken. Die Vorsehung des himmlischen Schöpfers hat natürlich, obschon uns unerforschlich, immer nur das Wohl der Menschen im Sinn, und das Schicksal ganz ebenso, ganz ebenso wie Gott. Fedora nimmt auch Anteil an Ihnen. Natürlich, Sie werden jetzt glücklich sein, Kind, Sie werden in Reichtum und Überfluß leben, mein Täubchen, mein Sternchen, ich kann mich ja nicht sattsehen an Ihnen, mein Engelchen, – nur eins, sehen Sie, Warinka, wie denn das, warum so schnell? ... Ja, die Geschäfte – Herr Bükoff hat Geschäfte vor ... natürlich – wer hat denn nicht Geschäfte, auch er kann sie haben. Ich habe ihn gesehen, als er von Ihnen fortging. Ein imponierender Mann, sogar ein sehr imponierender Mann, das heißt eine imposante Erscheinung, eine sogar sehr imposante Erscheinung. Nur ist das alles ... nein, es ist ja gar nicht das, um was es sich eigentlich handelt. Ich, sehen Sie, ich bin schon jetzt gar nicht mehr ich selbst. Wie werden wir denn künftig einander Briefe schreiben? Und ich, ja und ich – wie bleibe ich denn hier so allein zurück? Ich, sehen Sie, mein Engelchen, ich erwäge, wie Sie mir das da geschrieben haben, in meinem Herzen erwäge ich alles, alle diese Gründe, meine ich, und so weiter. Ich hatte schon fast den zwanzigsten Bogen abgeschrieben, da kam dann plötzlich dieses Ereignis! Kind, Kind, wenn Sie jetzt wegreisen wollen, so müssen Sie doch noch verschiedene Einkäufe machen, verschiedene Stiefelchen und Kleidchen, und da, meine ich, kommt es denn sehr gelegen, daß ich gerade ein gutes Magazin kenne, an der Gorochowaja – erinnern Sie sich noch, wie ich es Ihnen einmal beschrieb? – Aber nein! Was rede ich, was fällt Ihnen ein, mein Kind, was denken Sie! Sie dürfen doch nicht, es ist ganz unmöglich: Sie können jetzt einfach nicht so ohne weiteres fortfahren! Sie müssen doch große Einkäufe machen, Sie müssen einen Wagen mieten. Überdies ist auch das Wetter jetzt so schlecht, sehen Sie doch nur, es regnet wie aus Eimern, unaufhörlich regnet es, und überdies ... es wird doch noch kalt werden, mein Engelchen, Ihr Herzchen wird es kalt haben, Sie werden erfrieren! Und Sie fürchten doch jeden fremden Menschen: und nun wollen Sie mit diesem da fortfahren! Wie soll ich denn hier so allein zurückbleiben? Ja! Die Fedora sagt, daß ein großes Glück Sie erwarte ... aber die Fedora ist doch eine harte Person und will mir mein Letztes nehmen. Werden Sie heute zur Abendmesse in die Kirche gehen, mein Kind? Ich würde dann auch hingehen, um Sie ein Weilchen zu sehen. Es ist wahr, Kind, es ist richtig, daß Sie ein gebildetes, gutes, gefühlvolles Mädchen sind, nur wissen Sie, – mag er doch lieber eine Kaufmannstochter heiraten! Was meinen Sie, Kind? Mag er doch lieber eine Kaufmannstochter heiraten! – Ich werde zu Ihnen kommen, Warinka, sobald es dunkelt, werde ich auf ein Stündchen hinüberkommen. Jetzt wird es doch schon früh dunkel, also dann komme ich. Ganz bestimmt auf ein Stündchen! Jetzt erwarten Sie Bükoff, das weiß ich, aber wenn er fortgegangen ist, dann ... Also warten Sie, Kindchen, ich komme unbedingt ... Ihr Makar Djewuschkin. 27. September. Mein Freund Makar Alexejewitsch! Herr Bükoff sagt, ich müsse mindestens drei Dutzend Hemden von holländischer Leinewand haben. Daher müssen wir so schnell wie möglich Weißnäherinnen für zwei Dutzend suchen, denn wir haben entsetzlich wenig Zeit. Herr Bükoff ärgert sich, weil er nicht geahnt hat, wie er sagt, daß diese Lappen soviel Schererei verursachen können. Unsere Hochzeit wird in fünf Tagen stattfinden, und am Tage darauf reisen wir ab. Herr Bükoff hat Eile und sagt, für diese Dummheiten brauche man nicht soviel Zeit zu vergeuden. Ich bin von all den Scherereien schon so müde, daß ich mich kaum noch auf den Füßen halten kann. Es gibt noch ganze Berge Arbeit, und doch, weiß Gott, wäre es besser, wenn nichts von all diesen Sachen nötig wäre. Ja, und noch etwas: wir kommen mit den Spitzen nicht aus, wir müssen noch welche zukaufen, denn Herr Bükoff sagt, er wünsche nicht, daß seine Frau wie eine Küchenmagd gekleidet gehe, ich müsse „alle Gutsbesitzersfrauen in den Schatten stellen“ – das sind seine Worte. Also bitte, lieber Makar Alexejewitsch, gehen Sie zu Madame Chiffon (Gorochowaja, Sie wissen schon) und bitten Sie sie, uns schnell einige Nähterinnen zu schicken, dies erstens, und zweitens, daß sie sich selbst herbemühen möge: sie soll eine Droschke nehmen. Ich bin heute krank. Hier in unserer neuen Wohnung ist es so kalt und alles ist in schrecklicher Unordnung. Herrn Bükoffs Tante kann kaum noch atmen vor Altersschwäche. Ich fürchte, daß sie vielleicht noch vor unserer Abreise sterben könnte, doch Herr Bükoff sagt, das habe nichts auf sich, sie würde sich schon wieder erholen. Im Hause bei uns steht so ziemlich alles auf dem Kopf. Da Herr Bükoff nicht hier wohnt, laufen die Leute nach allen Seiten fort und tun, was sie gerade wollen. Oft ist Fedora die einzige, die wir zu unserer Bedienung haben. Herrn Bükoffs Kammerdiener, der hier nach dem Rechten sehen soll, ist schon seit drei Tagen verschwunden. Herr Bükoff kommt jeden Morgen angefahren und ärgert sich, gestern aber hat er den Hausknecht geprügelt, weshalb er dann mit der Polizei Unannehmlichkeiten bekam ... Ich habe hier im Augenblick keinen Menschen, mit dem ich Ihnen den Brief zusenden könnte. Ich schreibe Ihnen durch die Stadtpost. Ach, natürlich, das Wichtigste hätte ich fast vergessen! Sagen Sie Madame Chiffon, daß sie die Spitzen umtauschen und neue, zu dem gestern gewählten Muster passende, aussuchen, und daß sie dann selbst zu mir kommen soll, um mir die neue Auswahl zu zeigen. Und dann sagen Sie ihr noch, daß ich mich in bezug auf die Garnitur anders bedacht habe: sie muß gleichfalls gestickt werden. Ja und noch etwas: Die Buchstaben in den Taschentüchern soll sie in Tamburinstickerei nähen, verstehen Sie? – in Tamburinstickerei und nicht blank. Also vergessen Sie es nicht: Tamburinstickerei! So, und da hätte ich doch noch etwas vergessen! Sagen Sie ihr, um Gottes willen, daß die Blättchen auf der Pelerine erhaben ausgenäht werden müssen, die Ranken in Kordonstich, oben aber, an den Kragen muß sie dann noch eine Spitze nähen, oder eine breite Falbel. Bitte, sagen Sie ihr das, Makar Alexejewitsch. Ihre W. D. P. S. Ich schäme mich so, daß ich Sie wieder mit meinen Aufträgen belästige. Vorgestern sind Sie ja schon den ganzen Nachmittag gelaufen. Doch was soll ich tun! Bei uns im Hause gibt es überhaupt keine Ordnung und ich selbst bin krank. Also ärgern Sie sich nicht gar zu sehr über mich, Makar Alexejewitsch. Es ist ja solch ein Jammer! Ach, was wird das noch werden, mein Freund, mein lieber, mein guter Makar Alexejewitsch! Ich fürchte mich, an die Zukunft auch nur zu denken. Es ist mir, als hätte ich tausend schlimme Vorahnungen und mein Kopf ist wie eingenommen. P. S. Um Gottes willen, mein Freund, vergessen Sie nur nichts von dem, was Sie Madame Chiffon zu sagen haben. Ich fürchte, Sie verwechseln mir alles. Also merken Sie es sich nochmals: Tamburinstickerei und _nicht_ blank! W. D. 27. September. Meine liebe Warwara Alexejewna! Ihre Aufträge habe ich alle gewissenhaft ausgeführt. Madame Chiffon sagte, daß sie auch schon an Tamburinstickerei gedacht habe: das sei vornehmer, sagte sie, oder was sie da sagte – ich habe es nicht ganz begriffen, aber es war so etwas. Ja und dann, Sie hatten dort etwas von einer Falbel geschrieben, da sprach sie denn auch von dieser Falbel. Nur habe ich, mein Kind, leider vergessen, was sie mir von der Falbel sagte. Ich weiß nur noch, daß sie sehr viel über diese Falbel zu sagen hatte. Solch ein schändliches Weib! Was war es doch? Nun, sie wird es Ihnen heute noch alles selbst sagen. Ich bin nämlich, mein Kind, ich bin nämlich ganz wirr im Kopfe. Heute bin ich auch nicht in den Dienst gegangen. Nur ängstigen Sie sich, meine Liebe, ganz unnötigerweise. Für Ihre Ruhe und Zufriedenheit bin ich bereit, in alle Läden Petersburgs zu laufen. Sie schreiben, daß Sie sich fürchten, in die Zukunft zu blicken, oder an sie auch nur zu denken. Aber heute um sieben werden Sie doch alles erfahren. Madame Chiffon wird selbst zu Ihnen kommen. – Also verzweifeln Sie deshalb nicht. Hoffen Sie, Kind, vielleicht wird sich doch noch alles zum besten wenden. Nun ja, aber da ist nun wieder diese verwünschte Falbel, die kommt mir nicht aus dem Sinn, das geht nur so – Falbel, Falbel, Falbel! ... Ich würde auf ein Augenblickchen zu Ihnen kommen, mein Engelchen, würde unbedingt auf ein Weilchen vorsprechen, ich habe mich auch schon zweimal Ihrer Tür genähert, aber Bükoff, das heißt, ich wollte sagen, Herr Bükoff ist immer so böse, und da ist es wohl nicht gerade angebracht ... Nicht wahr? ... Ihr Makar Djewuschkin. 28. September. Mein lieber Makar Alexejewitsch! Um Gottes willen, eilen Sie sogleich zum Juwelier! Sagen Sie ihm, daß er die Ohrgehänge mit Perlen und Smaragden nicht arbeiten soll. Herr Bükoff sagt, die seien zu teuer, das risse ein Loch in seinen Beutel. Er ärgert sich. Er sagt, daß es ihm ohnehin schon ein Heidengeld koste und daß wir ihn plündern. Und gestern sagte er, wenn er diese Ausgaben vorausgesehen hätte, würde er sich die Sache noch sehr überlegt haben. Er sagt, daß wir sogleich nach der Trauung abreisen werden, ich solle mir also keine Illusionen machen: es kämen weder Gäste, noch werde nachher getanzt werden, die Feste seien noch weit im Felde, ich solle mir nur nicht einbilden, gleich tanzen zu können. So spricht er jetzt! Und Gott weiß doch, ob ich das alles nötig habe, oder nicht! Herr Bükoff hat doch selbst alles bestellt. Ich wage nicht, ihm zu widersprechen: er ist so heftig. Was wird nur aus mir werden?! W. D. 28. September. Mein Täubchen, meine liebe Warwara Alexejewna! Ich, das heißt der Juwelier sagt – gut. Von mir aber wollte ich nur sagen, daß ich erkrankt bin und nicht aufstehen kann. Gerade jetzt, wo so viel zu besorgen ist, wo Sie meiner Hilfe bedürfen, jetzt müssen die Erkältungen kommen, ist das nicht ganz verkehrt! Auch habe ich Ihnen noch mitzuteilen, daß zur Vollendung meines Unglücks Seine Exzellenz heute geruht haben, sehr böse zu sein: sie haben sich über Jemeljan Iwanowitsch geärgert, haben sehr gescholten und sahen zu guter Letzt ganz erschöpft aus, so daß sie mir über alle Maßen leid getan haben. Sie sehen, ich teile Ihnen alles mit. Ich wollte Ihnen eigentlich noch einiges schreiben, aber ich fürchte, Ihnen damit nur unnütz Zeit zu rauben. Ich bin ja doch, mein Kind, ein dummer Mensch, bin ungebildet und unwissend, schreibe, wie es gerade kommt und was mir einfällt, so daß Sie vielleicht dort irgendwie so etwas ... ich kann ja nicht wissen was ... Ach, nun, was soll man da reden! Ihr Makar Djewuschkin. 28. September. Warwara Alexejewna, mein Herzchen! Heute habe ich Fedora gesehen und gesprochen, mein Täubchen. Sie sagt, Sie werden schon morgen getraut und übermorgen reisen Sie ab! Herr Bükoff habe schon die Pferde bestellt. Über Seine Exzellenz habe ich Ihnen bereits geschrieben, mein Kind. Ja und dann: die Rechnungen der Madame Chiffon habe ich durchgesehen: es stimmt alles, nur daß es sehr teuer ist. Aber warum ärgert sich denn Herr Bükoff über Sie? Nun, so seien Sie glücklich, Kind! Ich freue mich. Ja, ich werde mich immer freuen, wenn Sie glücklich sind, Kind! Ich würde morgen in die Kirche kommen, Kind, aber ich kann nicht, mein Kreuz schmerzt. Doch wie wird es denn nun mit den Briefen – ich komme wieder darauf zurück –, wie werden wir uns denn jetzt schreiben, wer wird sie uns zustellen, Kind? Ja, was ich noch sagen wollte: Sie haben Fedora so sehr beschenkt, meine Gute! Damit haben Sie ein gutes Werk getan, das war schön von Ihnen. Für jede gute Tat wird der Herr Sie segnen. Nichts bleibt unbelohnt und der Tugend ist immer Gottes Lohn gewiß. Kind, mein Kind! Ich würde Ihnen vieles schreiben, ich würde Ihnen jede Stunde, jede Minute schreiben, immer nur schreiben! Ich habe hier noch ein Büchlein von Ihnen, „Bjelkins Erzählungen“, das ist noch bei mir geblieben. Aber wissen Sie, Kind, lassen Sie das bei mir, nehmen Sie mir das nicht fort, schenken Sie es mir ganz, mein Täubchen! Nicht deshalb, weil ich diese Geschichten etwa gar so gern nochmals lesen möchte. Aber Sie wissen doch selbst, Kind, der Winter kommt, die Abende werden lang: da wird man denn traurig – und da ist es dann gut, wenn man etwas zum Lesen hat. Ich, mein Kind, ich werde aus meiner Wohnung in Ihre alte Wohnung ziehen und werde als Mieter bei Fedora leben. Von dieser ehrenwerten alten Frau werde ich mich jetzt für keinen Preis mehr trennen. Zudem ist sie auch so arbeitsam. Gestern habe ich mir in Ihrer verlassenen Wohnung alles genau angesehen. Dort ist noch Ihr kleiner Stickrahmen mit der angefangenen Arbeit: es ist ja alles geblieben, unangerührt, wie es war. Ich habe auch Ihre Stickerei betrachtet. Dann sind da noch verschiedene kleine Flickchen geblieben. Auf ein Stückchen von einem meiner Briefe haben Sie angefangen, Garn aufzuwickeln. In Ihrem Tischchen fand ich noch einen Bogen Postpapier, auf dem Sie geschrieben haben: „Mein lieber Makar Alexejewitsch! Ich beeile mich“ – und nichts weiter. Offenbar hat Sie da jemand gleich zu Anfang unterbrochen. In der Ecke hinter dem Schirm steht Ihr schmales Bettchen ... Mein Täubchen Sie!!! Nun, schon gut, schon gut, leben Sie wohl. Antworten Sie mir nur um Gottes willen etwas auf meinen Brief, und recht bald! Makar Djewuschkin. 30. September. Mein Freund, mein lieber Makar Alexejewitsch! Nun ist es geschehen! Mein Los hat sich entschieden. Ich weiß nicht, was die Zukunft mir bringen wird, aber ich füge mich in den Willen des Herrn. Morgen reisen wir. Zum letztenmal nehme ich jetzt Abschied von Ihnen, mein einziger, mein treuer, lieber, guter Freund! Sind Sie doch mein einziger Verwandter, der in der Not treu zu mir gehalten hat! Grämen Sie sich nicht um mich, leben Sie glücklich, denken Sie zuweilen an mich und möge Gott Sie segnen. Ich werde Ihrer oft gedenken und Sie in meinem Gebet nicht vergessen. So ist denn jetzt auch diese Zeit vorüber! Es sind wenig frohe Erinnerungen, die ich aus der Vergangenheit ins neue Leben mitnehme, um so wertvoller und lieber wird mir daher Ihr Andenken, um so teurer werden Sie selbst meinem Herzen sein. Sie sind mein einziger Freund, nur Sie allein haben mich hier geliebt. Ich bin doch nicht blind gewesen, ich habe es doch gesehen und gewußt, wie Sie mich liebten! Mein Lächeln genügte, um Sie glücklich zu machen, eine Zeile von mir söhnte Sie mit allem aus. Jetzt müssen Sie sich daran gewöhnen, ohne mich auszukommen. Wie werden Sie nur so allein hier weiterleben? Wer wird hier bei Ihnen sein, mein guter, unschätzbarer, einziger Freund! Ich überlasse Ihnen das Buch, den Stickrahmen, den angefangenen Brief. Wenn Sie diese angefangenen Zeilen sehen, so lesen Sie in Gedanken weiter: lesen Sie in Gedanken weiter, lesen Sie alles, was Sie von mir gern gehört oder gelesen hätten, alles, was ich Ihnen hätte schreiben können – was aber würde ich Ihnen jetzt nicht alles schreiben! Vergessen Sie nicht Ihre arme Warinka, die Sie aufrichtig und von ganzem Herzen geliebt hat. Ihre Briefe sind alle bei Fedora in der Kommode geblieben, in der obersten Schublade. Sie schreiben, daß Sie krank seien. Ich würde Sie besuchen, aber Herr Bükoff läßt mich heute nicht fort. Ich werde Ihnen schreiben, mein Freund, das verspreche ich Ihnen, aber nur Gott allein weiß, was alles geschehen kann. Deshalb lassen Sie uns jetzt für immer Abschied voneinander nehmen, mein Freund, mein Täubchen, wie Sie mich nennen, mein Liebster! Auf immer! ... Ach, wie ich Sie jetzt umarmen würde, Sie! Leben Sie wohl, mein Freund, leben Sie recht, recht, recht wohl! Seien Sie glücklich! Bleiben Sie gesund. Nie werde ich vergessen, für Sie zu beten. O! wenn Sie wüßten, wie schwer mir zumut ist, wie qualvoll bedrückt meine Seele ist! Herr Bükoff ruft mich. Ihre Sie ewig liebende W. P. S. Meine Seele ist so voll, so voll von Tränen ... Sie drohen, mich zu ersticken, zu zerreißen! Leben Sie wohl, Makar Alexejewitsch! Gott! wie ist es traurig! Vergessen Sie mich nicht, vergessen Sie nicht Ihre arme Warinka. W. Kind, Warinka, mein Täubchen, mein Liebling! Man bringt Sie fort, Sie fahren. Ja, jetzt wäre es doch besser, man risse mir das Herz aus der Brust, als daß man Sie so von mir fortbringt! Wie ist denn das nur möglich! Wie können Sie nur? Sie weinen, und doch fahren Sie?! Da habe ich soeben Ihren Brief erhalten, der stellenweise noch feucht ist von Tränen. So wollen Sie im Herzen vielleicht gar nicht fortfahren? Vielleicht will man Sie mit Gewalt fortbringen? Es tut Ihnen leid um mich? Ja, aber – dann lieben Sie mich doch! Wie ist denn das? Was soll jetzt geschehen? Ihr Herzchen wird es dort nicht aushalten, es ist dort öde, häßlich und kalt. Die Sehnsucht wird Ihr Herzchen krank machen, die Trauer wird es zerreißen. Sie werden dort sterben, man wird Sie dort in die feuchte Erde betten, und es wird dort niemand sein, der Sie beweint! Herr Bükoff wird immer Hasen jagen ... Ach, Kind, Kind, zu was haben Sie sich da entschlossen? Wie konnten Sie denn nur so etwas tun? Was haben Sie getan, was haben Sie getan, was haben Sie sich selbst angetan! Man wird Sie doch dort ins Grab bringen, man wird Sie dort einfach umbringen, mein Engelchen! Sie sind doch ein Kind, wie ein Federchen, so zart und schwach! Und wo war ich denn eigentlich? Habe ich Dummkopf denn hier mit offenen Augen geschlafen! Sah ich denn nicht, daß ein Kindskopf sich etwas Unmögliches vornahm, wußte ich denn nicht, daß dem Kinde einfach nur das Köpfchen versagte! Da hätte ich doch ganz einfach – aber nein! Ich stehe da wie ein richtiger Tölpel, denke weder, noch sehe ich etwas, als sei das gerade das Richtige, als ginge die ganze Sache mich gar nichts an, und laufe sogar noch nach Falbeln! ... Nein, Warinka, ich werde aufstehen, bis morgen werde ich vielleicht schon soweit sein, dann stehe ich einfach auf! Und dann, dann werde ich mich einfach unter die Räder werfen. Ich lasse Sie nicht fortfahren! Ja was, was ist denn das eigentlich, wie geht denn das zu? Mit welchem Recht geschieht das denn alles? Ich werde mit Ihnen fahren! Ich werde Ihrem Wagen nachlaufen, wenn Sie mich nicht in den Wagen aufnehmen, und ich werde laufen, solange ich noch kann, bis mir der Atem ausgeht, bis ich meinen Geist aufgebe! Wissen Sie denn überhaupt, was dort ist, was Sie erwartet, dort, wohin Sie fahren, Kind? Wenn Sie das noch nicht wissen, dann fragen Sie mich, ich weiß es! Dort ist nichts als die Steppe, meine Liebe, nichts als flache, kahle, endlose Steppe: hier, wie meine Hand, so nackt! Dort leben nur stumpfe, gefühllose Bauernweiber und rohe, betrunkene Kerle. Jetzt ist dort auch schon das Laub von den Bäumen gefallen, dort regnet es, dort ist es kalt – und dorthin fahren Sie! Nun, Herr Bükoff hat eine Beschäftigung: er wird da seine Hasen jagen. Aber was werden Sie dort anfangen? Sie wollen Gutsherrin sein, mein Kind? Aber, mein Engelchen! – so sehen Sie sich doch nur an, sehen Sie denn nach einer Gutsherrin aus? Wie ist das nur alles möglich, Warinka? An wen werde ich denn jetzt noch Briefe schreiben, Kind? Ja! so bedenken Sie und fragen Sie sich doch bloß dies eine: an wen wird er denn jetzt noch Briefe schreiben können? Und wen kann ich denn jetzt noch mein Kind, mein liebes Kind nennen, wem gebe ich diesen zärtlichen Namen, zu wem sage ich dies liebe Wort? Wo soll ich Sie denn noch finden, mein Engelchen? Ich werde sterben, Warinka, ich werde bestimmt sterben. Nein, solchem Unglück ist mein Herz nicht gewachsen! Ich habe Sie wie das Sonnenlicht geliebt, wie mein leibliches Töchterchen liebte ich Sie, ich liebte alles an Ihnen, mein Liebling! Nur für Sie allein lebte ich! Ich habe ja auch gearbeitet und geschrieben, bin spazieren gegangen und habe meine Beobachtungen in meinen Briefen wiedergegeben, nur weil Sie, mein Kind, hier in meiner Nähe lebten. Sie haben das vielleicht nicht gewußt, aber es war wirklich so, es war wirklich so! Doch hören Sie, Kind, so bedenken Sie und überlegen Sie doch, mein Täubchen, wie ist denn das nur möglich, daß Sie uns verlassen? – Nein, meine Liebe, das geht ja nicht, geht ganz und gar nicht! Das ist völlig ausgeschlossen! Es regnet doch, Sie aber sind so kränklich – Sie werden sich bestimmt erkälten. Ihre Reisekutsche wird durchnäßt werden, ein Wagen ist kein Haus – sie wird bestimmt durchnäßt werden! Und kaum werden Sie aus der Stadt hinausgefahren sein, da wird ein Rad brechen, oder der ganze Wagen bricht. Hier in Petersburg werden doch die Wagen schrecklich schlecht gebaut! Ich kenne doch alle diese Wagenbauer: denen ist es nur um die Fasson zu tun, um irgend so ein Spielzeug herzustellen, aber von Dauerhaftigkeit kann dabei keine Rede sein. Ich schwöre es Ihnen, glauben Sie mir, diese Wagen taugen alle nichts! Ich werde mich, Kind, vor Herrn Bükoff auf die Knie niederwerfen und ihm alles sagen, alles! Und auch Sie, Kind, werden ihn zu überzeugen suchen! Sie werden ihm alles vernünftig auseinandersetzen und ihn so überzeugen! Sagen Sie ihm einfach, daß Sie hierbleiben, daß Sie nicht mit ihm fahren können! ... Ach, warum hat er nicht in Moskau eine Kaufmannstochter geheiratet? Hätte er sich doch dort eine Kaufmannstochter ausgesucht! Das wäre für alle besser gewesen, die würde viel besser zu ihm passen, ich weiß schon, warum! Ich aber würde Sie dann hier behalten. Was ist er Ihnen denn, Kind, dieser Bükoff? Wodurch ist er Ihnen denn plötzlich so lieb und wert geworden? Vielleicht ist er es Ihnen deshalb geworden, weil er Ihnen Falbeln kauft und alles dieses – deshalb etwa? Wozu sind denn diese Falbeln? Wozu hat man die nötig? Es ist doch, Kind, nur ein Stück Zeug, solch ein Falbel! Hier aber handelt es sich um ein Menschenleben, Falbeln aber sind doch, mein Kind, einfach nur Lappen, wirklich – nichts anderes, als nichtsnutzige Lappen! Ich aber, ich kann Ihnen doch gleichfalls solche Falbeln kaufen, ich muß nur auf mein nächstes Gehalt warten, dann kaufe auch ich Ihnen diese Falbeln, mein Kind, und ich weiß schon wo, ich kenne dort einen kleinen Laden, nur müssen Sie noch etwas Geduld haben, wie gesagt, bis ich mein Gehalt bekomme, mein Engelchen, Warinka! Gott, Gott! So fahren Sie denn wirklich mit Herrn Bükoff fort in die Steppe, auf immer fort! Ach, Kind! ... Nein, Sie müssen mir noch schreiben, noch ein Briefchen schreiben Sie mir über alles, und wenn Sie schon fort sind, dann schreiben Sie mir auch von dort einen Brief. Denn sonst, mein Engelchen, wäre dies der letzte Brief, das aber kann doch nicht sein, daß dies der letzte Brief sein soll! Denn wie, wie sollte das, so plötzlich – der letzte, wirklich der letzte Brief sein? Aber nein, ich werde doch schreiben, und auch Sie müssen mir schreiben ... Fängt doch gerade jetzt mein Stil an, besser zu werden ... Ach, Kind, aber was heißt Stil! Schreibe ich Ihnen doch jetzt so, ohne selbst zu wissen, was ich schreibe, ich weiß nichts, gar nichts weiß ich und will auch nichts durchlesen, nichts verbessern, nichts, nichts. Ich schreibe nur, um zu schreiben, immer noch mehr zu schreiben ... Mein Täubchen, mein Liebling, mein Kind Sie! Der Doppelgänger I. Es war kurz vor acht Uhr morgens, als der Titularrat Jakoff Petrowitsch Goljädkin nach langem Schlaf erwachte. Er blinzelte zunächst nur ein wenig, gähnte verschlafen, streckte langsam die Glieder, und erst nach und nach öffnete er die Augen vollständig. Doch blieb er noch eine gute Weile regungslos in seinem Bett liegen, wie eben ein Mensch, der sich selbst noch nicht ganz klar darüber zu werden vermag, ob er nun wirklich schon erwacht und rings von Wirklichkeit umgeben ist, oder ob er noch schläft und nur ein Traumbild vor sich sieht. Bald jedoch klärten sich seine Sinne so weit, daß er mit besserem Bewußtsein und regerer Vernunft die geschauten Eindrücke in sich aufnehmen und in der Tat als bereits längst bekannte und ganz alltägliche Wirklichkeit erkennen konnte. Wohl vertraut blickten ihn die grünlichen, verräucherten und ewig bestaubten Wände seines kleinen Zimmers an, wohl vertraut seine rotbraune Kommode und die Stühle von derselben Farbe, wohlvertraut der rotbraune Tisch und der türkische Diwan mit dem in der Grundfarbe rötlichen, doch grüngeblümten Wachsleinwandbezug, und wohlvertraut schließlich auch die gestern abend in der Eile abgeworfenen Kleider, die in einem Haufen auf eben diesem Diwan lagen. Bei alledem sah auch noch der unfreundliche Herbsttag mit seinem trüben, fast schmutzig trüben Licht so griesgrämig und so mißvergnügt durch die grauen Fensterscheiben ins Zimmer, daß Herr Goljädkin unmöglich daran zweifeln konnte, daß er sich in keinem Wolkenkuckucksheim befand, sondern in Petersburg, in der Hauptstadt des russischen Reiches, und zwar in seiner eigenen Wohnung, in einem großen, vier Stockwerke hohen Hause, das an der Straße lag, die man die Schestilawotschnaja nennt. Nachdem er zu dieser wichtigen Erkenntnis gelangt war, schloß Herr Goljädkin, plötzlich vor Schreck zusammenzuckend, zunächst blitzschnell wieder die Augen, um, wenn möglich, weiterzuschlafen – ganz als wäre nichts geschehen. Doch hielt er diesen Zustand nicht lange aus, denn plötzlich – es war noch keine Minute vergangen – fuhr er von neuem auf und sprang diesmal sofort aus dem Bett, ganz als seien seine Gedanken endlich auf denjenigen Punkt gestoßen, um den sie bis dahin aus Mangel an jeglicher Ordnung in blinder Reihenfolge ergebnislos gekreist hatten. Kaum war er nun aus dem Bett gesprungen, so war das erste, was er tat, daß er zu dem runden Spiegelchen stürzte, das auf der Kommode stand. Und obwohl das verschlafene Gesicht mit den kurzsichtigen Augen und dem ziemlich gelichteten Haupthaar, das ihm aus dem Spiegel entgegenschaute, von so unbedeutender Art war, daß es ganz entschieden sonst keines einzigen Menschen Aufmerksamkeit hätte fesseln können, schien der Besitzer desselben doch mit dem Erblickten sehr zufrieden zu sein. „Das wäre was Nettes,“ murmelte Herr Goljädkin halblaut vor sich hin, „gerade was Nettes, wenn mir heute irgend etwas fehlen würde, wenn zum Beispiel irgend so etwas ... sagen wir, ein Pustelchen aufgekeimt wäre, oder eine ähnliche Unannehmlichkeit. Aber bis jetzt ist noch alles gut gegangen ... jawohl: vorläufig ist alles gut!“ Und damit setzte Herr Goljädkin, sehr erfreut über diese Feststellung, den Spiegel wieder auf die Kommode, worauf er selbst, obschon er noch barfuß und nur mit einem Hemde bekleidet war, zum Fenster eilte, um mit großer Neugier in den Hof hinabzuspähen. Offenbar wurde er durch das, was er dort unten erblickte, vollkommen zufriedengestellt, denn ein Lächeln erhellte sein Antlitz. Dann – nachdem er zuvor noch einen Blick hinter die Scheidewand in die Kammer Petruschkas, seines „Kammerdieners“, geworfen und sich überzeugt hatte, daß Petruschka nicht anwesend war – schlich er leise zum Tisch, schloß das Schubfach auf, suchte im verborgensten Winkel dieses Schubfaches zwischen alten vergilbten Papieren und anderem Kram, bis er schließlich eine abgenutzte grüne Brieftasche zutage förderte, die er vorsichtig aufklappte, um ebenso vorsichtig und mit wonnevollem Entzücken und offenbarem Genuß in das geheimste Täschchen hineinzuspähen. Wahrscheinlich blickten auch die grünen und grauen und blauen und roten Papierchen, die sich darin befanden, ebenso freundlich und zustimmend Herrn Goljädkin an, wie er sie: wenigstens legte er die offene Tasche mit geradezu strahlender Miene vor sich auf den Tisch, worauf er sich zum Ausdruck seines Vergnügens kräftig die Hände rieb. Endlich beugte er sich wieder über die Brieftasche und entnahm dem letzten und verborgensten Täschchen das ganze, ihn so ungemein erfreuende bunte Paketchen Papier, um zum hundertsten Male – bloß vom letzten Abend gerechnet – die Geldscheine nachzuzählen, wobei er jeden Schein gewissenhaft mit Daumen und Zeigefinger rieb, damit ihm nicht etwa zwei für einen durchgingen. „Siebenhundertfünfzig Rubel in Papiergeld!“ murmelte er dann vor sich hin. „Siebenhundertfünfzig Rubel ... eine große Summe! Eine sehr annehmbare Summe,“ fuhr er mit bebender, vor Wonne ganz weich klingender Stimme in seinem Selbstgespräch fort, indem er das Paket mit den Geldscheinen in der geschlossenen Hand wog und bedeutsam dazu lächelte: „Sogar eine überaus annehmbare Summe! Sogar für einen jeden eine überaus annehmbare Summe! Ich wollte den Menschen sehen, für den diese Summe eine geringe Summe wäre! Eine solche Summe kann einen Menschen weit bringen ...“ „Aber was ist denn das?“ fuhr Herr Goljädkin aus seinem fröhlichen Gedankengang plötzlich auf, „wo ist denn mein Petruschka?“ Und er begab sich, immer noch ohne weitere Bekleidung, zum zweiten Male zur Scheidewand – doch Petruschka war auch diesmal in seiner Kammer nicht zu erblicken. Statt seiner stand dort nur der Samowar auf der Diele und brummte und ärgerte sich und kochte vor Wut, unter der unausgesetzten Drohung, jeden Augenblick überzulaufen, indem er mit heißestem Eifer in den Gutturallauten seiner sich überstürzenden und unverständlichen Sprache brodelnd und zischend Herrn Goljädkin sagen zu wollen schien: So nimm mich doch endlich, guter Mann, ich bin ja schon längst und vollkommen fertig und mehr wie bereit! „Das ist doch des Teufels!“ dachte Herr Goljädkin, „diese faule Bestie kann einen Menschen ja um seine letzte Geduld bringen! Wo er sich nur wieder herumtreibt?!“ Und in gerechtem Unwillen öffnete er die Tür zum Vorzimmer – einem kleinen Korridor, aus dem eine Tür auf den Treppenflur führte – und erblickte dort seinen Diener, den eine stattliche Anzahl dienstbarer Geister, aus der Nachbarschaft und von der verschiedensten Art, eifrig umringte. Petruschka erzählte und die anderen hörten zu. Augenscheinlich mißfiel jedoch sowohl das Thema der Unterhaltung wie die Unterhaltung selbst Herrn Goljädkin nicht wenig. Er rief sogleich seinen Petruschka und kehrte nicht nur unzufrieden, sondern ordentlich aus dem Gleichgewicht gebracht in sein Zimmer zurück. „Diese Bestie ist ja wahrhaftig bereit, für weniger als eine Kopeke einen Menschen zu verkaufen, um wieviel mehr noch seinen Brotherrn,“ dachte er bei sich, „und das hat er, oh, das hat er auch schon getan, ich wette, daß er’s getan hat! – Nun, was?“ wandte er sich an den eingetretenen Petruschka. „Die Livree ist gebracht worden, Herr.“ „Dann zieh sie an und komm her.“ Petruschka tat, wie ihm befohlen, und erschien darauf mit einem dummen Grinsen wieder im Zimmer seines Herrn, diesmal in einem unbeschreiblich seltsamen Aufzuge. Er trug einen grünen, bereits stark mitgenommenen Dienerfrack mit mehr als schadhaften goldenen Tressen, eine Livree, die für einen Menschen gemacht worden war, der mindestens um eine Elle länger sein mußte, als Petruschka. In der Hand hielt er einen gleichfalls mit Goldtressen und mit grünen Federn garnierten Hut, und an der Seite hing ihm ein Dienerschwert in einer ledernen Scheide. Zur Vervollständigung des Bildes sei noch erwähnt, daß Petruschka, der seiner ausgesprochenen Vorliebe für alles Bequeme zufolge fast nur im Negligee zu gehen pflegte, auch jetzt, trotz Hut und Schwert und Frack, barfuß erschienen war. Herr Goljädkin betrachtete seinen Petruschka von allen Seiten, schien aber zufriedengestellt zu sein. Die Livree war offenbar zu irgendeinem feierlichen Vorhaben gemietet worden. Auffallend war an Petruschka noch, daß er während der Musterung, deren ihn sein Herr unterzog, seltsam erwartungsvoll und mit größter Neugier jede Bewegung dieses seines Herrn verfolgte, was Herrn Goljädkin, der es merkte, geradezu befangen machte. „Nun, und die Equipage?“ „Auch die Equipage ist gekommen.“ „Für den ganzen Tag?“ „Für den ganzen Tag. Fünfundzwanzig Rubel.“ „Und auch die Stiefel sind gebracht worden?“ „Auch die Stiefel sind gebracht worden.“ „Esel! Kannst du nicht einfach jawohl sagen? Gib sie her!“ Nachdem Herr Goljädkin dann seine Zufriedenheit mit der Leistung des Schusters ausgedrückt hatte, wollte er Tee trinken, sich waschen und rasieren. Letzteres tat er sehr gewissenhaft, auch beim Waschen legte er viel Sorgfalt an den Tag, doch vom Tee trank er nur eilig im Vorübergehen, und dann machte er sich sofort an die weitere Bekleidung seiner Person. Zunächst zog er ein Paar fast nagelneuer Beinkleider an, dann ein Plätthemd mit Knöpfen, die ganz so aussahen, als wären sie von Gold, und eine Weste mit sehr grellen, aber netten Blümchen. Um den Hals band er sich eine bunte, seidene Krawatte, und zu guter Letzt zog er noch seinen Uniformrock an, der gleichfalls fast ganz neu und sorgfältig gebürstet war. Während des Ankleidens schaute er mehrmals mit liebevollen Blicken auf seine neuen Stiefel hinab, hob bald diesen, bald jenen Fuß, betrachtete mit Wohlgefallen die Form, und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, wobei sein beredtes Mienenspiel, das hier und da entfernt an ein Gesichterschneiden gemahnte, seinen Gedanken beifällig zustimmte. Übrigens war Herr Goljädkin an diesem Morgen sehr zerstreut, weshalb ihm denn auch das sonderbare Spiel der Mundwinkel und Augenbrauen Petruschkas, während ihm dieser beim Ankleiden behilflich war, völlig entging. Als endlich alles getan, was zu tun war, und Herr Goljädkin vollständig angekleidet dastand, steckte er als Letztes noch seine Brieftasche in die Brusttasche, weidete sich nochmals am Anblick Petruschkas, der inzwischen Stiefel angezogen hatte und folglich gleichfalls vollständig angekleidet war –, und als er sich dann sagen mußte, daß „somit alles fertig“ sei und folglich kein Grund vorhanden, noch länger zu warten, wandte er sich eilig und geschäftig und mit einer leisen Herzensunruhe dem Ausgang zu und eilte die Treppe hinab. Eine hellblaue Mietsequipage mit eigentümlichem Wappen fuhr donnernd vom Hof unter den Torbogen und hielt vor der Treppe. Petruschka, der noch mit dem Kutscher und ein paar anderen Maulaffen schnell ein Augenzwinkern austauschte, klappte den Wagenschlag zu, rief mit einer ganz ungewohnten Stimme und kaum zurückgehaltenem Lachen „fahr zu!“ zum Kutscher hinauf, sprang selbst auf den Dienersitz hinten am Wagen – und dann rollte das Ganze donnernd und knatternd, wackelnd und klirrend über das holperige Steinpflaster unter dem Torbogen auf die Straße hinaus und weiter zum Newskij Prospekt. Kaum hatte die hellblaue Equipage den Torbogen verlassen, als Herr Goljädkin sich auch schon geschwind die Hände rieb und sichtbar, doch unhörbar vor sich hinlachte, wie eben ein Mensch von heiterer Gemütsart, dem ein köstlicher Streich gelungen ist und der sich darüber selbst königlich freut, zu lachen pflegt. Übrigens schlug dieser Anfall von Lustigkeit sogleich in eine andere Stimmung um: das Lachen im Gesicht Herrn Goljädkins wich plötzlich einem eigentümlich besorgten Ausdruck. Obgleich das Wetter feucht und trübe war, ließ er beide Fenster herab und begann vorsichtig nach den Vorübergehenden auszuschauen, um dann blitzschnell wieder eine sozusagen vornehme Miene aufzusetzen, sobald er bemerkte, daß jemand ihn ansah. An einer Straßenkreuzung – der Wagen bog gerade von der Liteinaja auf den Newskij Prospekt – zuckte er mit einem Male wie von einer höchst unangenehmen Empfindung zusammen, als wäre ihm jemand versehentlich auf ein Hühnerauge getreten, und zog sich schleunigst in den dunkelsten Winkel seiner Equipage zurück, in den er sich fast mit einem Angstgefühl hineindrückte. Die Ursache seines Schrecks war nichts anderes, als daß er plötzlich zwei junge Beamte erblickt hatte, die seine Kollegen waren. Zum Unglück hatten diese auch ihn erblickt und, wie es Herrn Goljädkin schien, in höchster Verwunderung angestarrt: als trauten sie ihren Augen nicht, ihren Kollegen in einem solchen Aufzuge zu sehen. Der eine von ihnen hatte sogar mit dem Finger nach ihm gewiesen. Ja, es schien Herrn Goljädkin, daß der andere ihn laut beim Namen angerufen habe, was doch auf der Straße entschieden unzulässig war. Doch unser Held versteckte sich und tat, als hätte er nichts gehört. „Diese dummen Jungen!“ dachte er statt dessen bei sich selbst, „was ist denn da für eine Veranlassung, sich zu wundern? Ein Mensch in einer Equipage! Der Betreffende mußte eben einmal in einer Equipage fahren, und da hat er sich eine gemietet! Weshalb sich da aufregen? Aber ich kenne sie ja! – grüne Jungen, die noch versohlt werden müßten! Die haben nichts als Tingeltangel im Kopf! Wie sie sich amüsieren können, das ist ihr ganzer Lebensinhalt. Ich würde ihnen mal etwas sagen, etwas ...“ Herr Goljädkin stockte und erstarrte vor Schreck: rechts neben seiner Equipage war ein ihm merkwürdig bekanntes Paar feuriger Kasaner Pferde aufgetaucht, in blitzendem Geschirr vor einem eleganten offenen Wagen, der seine Equipage alsbald überholte. Der Herr aber, der im Wagen saß, und zufällig den gerade recht unvorsichtig zum Fenster hinausschauenden Kopf Herrn Goljädkins erblickte, war allem Anscheine nach gleichfalls höchlichst erstaunt über diese Begegnung, und indem er sich so weit als möglich vorbeugte, blickte er mit dem größten Interesse gerade nach jenem Winkel der Equipage, in den sich unser Held wieder schleunigst zurückgezogen hatte. Der Herr im offenen Wagen war Staatsrat Andrej Philippowitsch, der Chef derselben Abteilung, der Herr Goljädkin angehörte. Herr Goljädkin sah und begriff sehr wohl, daß sein hoher Vorgesetzter ihn erkannt hatte, daß er ihm starr in die Augen sah, und ein Entrinnen oder Verstecken vollkommen ausgeschlossen war, und er fühlte, wie er unter seinem Blick bis über die Ohren errötete, doch – „Soll ich grüßen, oder soll ich nicht?“ fragte sich unser Held trotzdem unentschlossen und in unbeschreiblich qualvoller Beklemmung, „soll ich ihn erkennen oder soll ich tun, als wäre ich gar nicht ich, sondern irgendein anderer, der mir nur zum Verwechseln ähnlich sieht? – und soll ich ihn ansehen, genau so, als läge gar nichts vor? – Jawohl, ich bin einfach nicht ich – und damit basta!“ beschloß Herr Goljädkin mit stockendem Herzschlag, ohne den Hut vor Andrej Philippowitsch zu ziehen und ohne seinen Blick von ihm wegzuwenden. „Ich ... ich, ich bin eben einfach gar nicht ich,“ dachte er unter Gefühlen, als müsse er auf der Stelle vergehen, „gar nicht ich, ganz einfach, bin ein ganz anderer – und nichts weiter!“ Bald jedoch hatte der Wagen die Equipage überholt und damit war der Magnetismus, der in den Blicken des Gestrengen gelegen hatte, gebrochen. Freilich, Herr Goljädkin war immer noch feuerrot und lächelte und murmelte Unverständliches vor sich hin ... „... Es war doch eine Dummheit von mir, nicht zu grüßen,“ sagte er sich endlich in besserer Erkenntnis, „ich hätte ganz ruhig und dreist handeln sollen, offen und anständig, – einfach: so und so, Andrej Philippowitsch, bin eben gleichfalls zu einem Diner geladen, sehen Sie!“ Und da leuchtete es ihm erst so recht ein, wie groß der Fehler war, den er begangen hatte: er wurde nochmals feuerrot, runzelte die Stirn und warf einen fürchterlichen und zugleich herausfordernden Blick nach dem Wagenwinkel ihm gegenüber, als wolle er mit diesem einen Blick auf der Stelle seine sämtlichen Feinde niederschmettern. Plötzlich aber kam ihm ein Gedanke – wie eine höhere Eingebung war es: er zog an der Schnur, die an den linken Arm des Kutschers gebunden war, ließ anhalten und befahl, nach der Liteinaja zurückzufahren. Herr Goljädkin empfand nämlich das dringende Bedürfnis, zu seiner eigenen Beruhigung etwas sehr Wichtiges seinem Arzt Krestjan Iwanowitsch mitzuteilen. Er war freilich erst seit kurzer Zeit mit ihm bekannt – er hatte ihn erst in der vergangenen Woche zum erstenmal besucht, um in irgendeiner Angelegenheit seinen Rat einzuholen, aber ... der Arzt soll doch, wie man sagt, so etwas wie ein Beichtiger des Menschen sein, dessen Pflicht es ist, seinen Patienten zu kennen. „Wird das nun auch das Richtige sein?“ fragte sich unser Held, von gelinden Zweifeln erfaßt, indem er vor dem Portal eines fünf Stockwerke hohen Hauses an der Liteinaja, vor dem er hatte halten lassen, ausstieg, „wird das nun auch das Richtige sein? – und gut und wohl? und zur rechten Zeit?“ fuhr er auf der Treppe beim Hinaufsteigen fort, und er holte tief Atem, um das Herz, das die Angewohnheit hatte, auf fremden Treppen regelmäßig stärker zu pochen, ein wenig ausruhen zu lassen. „Aber – was? – was ist denn dabei? Ich komme doch nur in meiner eigenen Angelegenheit, dabei ist nichts Anstößiges, nichts, das zu tadeln wäre ... Es würde dumm sein, sich zu verstecken. Gerade auf diese Weise tue ich, als hätte ich nichts Besonderes ... als käme ich eben nur so im Vorüberfahren ... Da wird er sich doch sagen müssen, daß es nun einmal so ist und daß etwas anderes überhaupt nicht möglich war.“ Mit diesen Gedanken beschäftigt, stieg Herr Goljädkin zum zweiten Stockwerk empor und blieb vor einer Tür stehen, an der ein kleines Messingschild befestigt war, das die Aufschrift trug: Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz, Doktor der Medizin und Chirurgie. Als unser Held stehen geblieben war, bemühte er sich zunächst, seiner Physiognomie einen anständigen, harmlos freundlichen und in etwa sogar liebenswürdigen Ausdruck zu verleihen, worauf er sich anschickte, den Klingelzug zu ziehen. Kaum aber war er im Begriff, dies zu tun, da fiel ihm plötzlich noch rechtzeitig ein, daß es vielleicht doch besser wäre, erst am nächsten Tage vorzusprechen, und daß es ja heute gar nicht so notwendig sei. Doch in diesem Augenblick vernahm er Schritte auf der Treppe, und das bewirkte wiederum, daß er sogleich seinen neuen Entschluß aufgab und so, wie es kam und kommen sollte, doch mit der entschlossensten Miene, an der Tür Krestjan Iwanowitschs die Klingel zog. II. Der Doktor der Medizin und Chirurgie, Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz, ein überaus gesunder, obschon bejahrter Mann mit dichten, bereits ergrauenden Augenbrauen und ebensolchem Backenbart, einem ausdrucksvollen, funkelnden Blick, mit dem allein er dem Anscheine nach schon Krankheiten zu vertreiben vermochte, und, nicht zu vergessen, mit einem bedeutenden Orden, den er auch vormittags schon auf der Brust trug, saß an diesem Morgen wie gewöhnlich in seinem Kabinett, bequem im Stuhl zurückgelehnt, trank den Kaffee, den ihm seine Frau persönlich zu bringen pflegte, rauchte eine Zigarre und schrieb von Zeit zu Zeit Rezepte für seine Patienten. Nachdem er soeben ein solches für einen leidenden alten Herrn aufgeschrieben und diesen zur Tür geleitet hatte, setzte sich Krestjan Iwanowitsch wieder in seinen Sessel und erwartete den nächsten Leidenden. Herr Goljädkin trat ein. Ersichtlich hatte Krestjan Iwanowitsch gerade diesen Herrn nicht im geringsten erwartet – und wie es schien, wünschte er auch gar nicht, ihn vor sich zu sehen, denn in seinem Gesicht machte sich im ersten Augenblick eine gewisse Unruhe bemerkbar, die aber schon im nächsten Augenblick einem seltsamen, man kann wohl sagen, recht unzufriedenen Ausdruck wich. Da nun Herr Goljädkin seinerseits fast immer den Mut und gewissermaßen auch sich selbst verlor, sobald er jemanden in seinen eigenen kleinen Angelegenheiten anreden mußte, so geriet er auch diesmal beim ersten Satz, der bei ihm stets im wahren Sinn des Wortes der Stein des Anstoßes war, in nicht geringe Verwirrung, murmelte irgend etwas, das wohl so etwas wie eine Entschuldigung sein sollte, und da er nun entschieden nicht mehr wußte, was weiter tun, nahm er einen Stuhl und – setzte sich. Doch kaum war das geschehen, da fiel es ihm auch schon ein, daß er unaufgefordert Platz genommen hatte, errötete ob seiner Unhöflichkeit, und beeilte sich, um seinen Verstoß gegen den guten Ton möglichst ungeschehen zu machen, sogleich wieder aufzustehen. Leider kam er erst nach dieser „Tat“ zur Besinnung und begriff trotz seiner etwas wirren Verfassung, daß er der ersten Dummheit nur eine zweite hatte folgen lassen, weshalb er sich schnell zur dritten entschloß, indem er irgend etwas wie zu seiner Rechtfertigung murmelte, dazu lächelte, verwirrt errötete, vielsagend verstummte und sich schließlich wieder hinsetzte, diesmal jedoch endgültig, worauf er sich auf alle Fälle mit einem gewissen herausfordernden Blick gleichsam sicherstellte, der die ungeheure Macht besaß, sämtliche Feinde Herrn Goljädkins im Geiste niederzuschmettern und zu vernichten. Überdies drückte besagter Blick die vollkommene Unabhängigkeit Herrn Goljädkins aus, d. h. er gab deutlich zu verstehen, daß Herr Goljädkin niemanden etwas anzugehen wünsche und daß er wie alle Menschen ein Mensch für sich sei. Krestjan Iwanowitsch räusperte sich, hustete – beides offenbar zum Zeichen seines Einverständnisses und des Beifalls, den er dem gewählten Standpunkt zollte – und richtete seinen Inspektorenblick fragend auf Herrn Goljädkin. „Ich bin, wie Sie sehen, Krestjan Iwanowitsch,“ begann Herr Goljädkin mit einem Lächeln, „bin gekommen, um Sie nochmals mit meinem Besuch zu belästigen ... wage es, Sie nochmals um Ihre Nachsicht zu bitten ...“ Herrn Goljädkin fiel es offenbar schwer, sich kurz und bündig auszudrücken. „Hm ... ja!“ äußerte sich dazu Krestjan Iwanowitsch, indem er langsam den Rauch ausstieß und die Zigarre auf den Tisch legte, „aber Sie müssen die Vorschriften befolgen, anders geht es nicht! Ich habe Ihnen doch erklärt, daß Ihre Behandlung in einer Veränderung der Lebensweise bestehen muß ... Also etwa Zerstreuungen, sagen wir, etwa Besuche bei Freunden ... außerdem dürfen Sie auch der Flasche nicht feind sein ... fröhliche Gesellschaft sollten Sie nicht meiden ...“ Hier machte Herr Goljädkin, der immer noch lächelte, schnell die Bemerkung, daß er, wie er annehme, ganz ebenso lebe, wie alle, daß er seine eigene Wohnung habe und dieselben Zerstreuungen, wie die anderen ... daß er natürlich auch noch das Theater besuchen könne, zumal er ja gleichfalls, ganz wie alle anderen, die Mittel dazu habe, daß er tagsüber im Amte sei, abends aber bei sich zu Hause ... ja, er deutete flüchtig an, daß es ihm, wie ihm scheine, nicht schlechter ginge als anderen, daß er, wie gesagt, seine eigene Wohnung habe, und auch noch den Petruschka. Hier stockte Herr Goljädkin plötzlich. „Hm! nein, diese Lebensweise ist es nicht, aber ich wollte Sie etwas anderes fragen. Ich möchte ganz im allgemeinen nur wissen, ob Sie gern in munterer Gesellschaft sind, ob Sie die Zeit lustig verbringen ... Nun, etwa, ob Sie jetzt ein melancholisches oder ein heiteres Leben führen?“ „Ich ... Herr Doktor ...“ „Hm! ... ich sage Ihnen,“ unterbrach ihn der Doktor, „daß Sie ein von Grund aus verändertes Leben führen und in gewissem Sinne auch Ihren Charakter von Grund aus verändern müssen.“ – Krestjan Iwanowitsch betonte das „von Grund aus“ ganz besonders, worauf er, um der größeren Wirkung willen, eine kleine Pause folgen ließ, nach der er eindringlich fortfuhr: „Sie dürfen der Geselligkeit nicht aus dem Wege gehen, Sie müssen das Theater und den Klub besuchen, und vor allem geistigen Getränken nicht abhold sein. Zu Hause zu sitzen, ist nicht ratsam ... oder vielmehr – Sie dürfen überhaupt nicht zu Hause sitzen.“ „Aber, Krestjan Iwanowitsch – ich liebe doch die Stille,“ wandte Herr Goljädkin ein, indem er den Doktor bedeutsam ansah und offenbar nach Worten suchte, die seine Gedanken am besten hätten ausdrücken können, „in meiner Wohnung sind nur ich und Petruschka ... das heißt, mein Diener, Herr Doktor. Ich will damit sagen, Krestjan Iwanowitsch, daß ich meinen eigenen Weg gehe, und ganz für mich lebe, Herr Doktor. Wirklich: ich lebe ganz für mich, und wie mir scheint, bin ich von niemandem abhängig. Gewiß: ich gehe zuweilen spazieren ...“ „Was? ... Ja, so! Nun, jetzt bereitet das Spazierengehen einem gerade kein Vergnügen: das Wetter ist nicht danach.“ „Ja, das allerdings nicht, Herr Doktor. Aber sehen Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich bin ein stiller Mensch, wie ich Ihnen bereits mitzuteilen, glaube ich, die Ehre hatte, und mein Weg führt mich nicht mit anderen zusammen. Der allgemeine Lebensweg ist breit, Krestjan Iwanowitsch ... Ich will ... ich will damit nur sagen ... Entschuldigen Sie, ich bin kein Meister in der Redekunst, Krestjan Iwanowitsch ...“ „Hm! ... Sie sagen ...“ „Ich sage oder bitte vielmehr, mich zu entschuldigen, Krestjan Iwanowitsch, da ich kein Meister in der Redekunst bin,“ versetzte Herr Goljädkin in halbwegs gekränktem Tone, doch merklich verwirrt und unsicher. „In dieser Beziehung bin ich ... bin ich, wie gesagt, nicht so wie andere,“ fuhr er mit einem eigentümlichen Lächeln fort, „ich verstehe nicht logisch zu reden ... ebensowenig wie der Rede Schönheit zu verleihen ... das habe ich nicht gelernt. Dafür aber, Krestjan Iwanowitsch, handle ich: ja, dafür handle ich, Krestjan Iwanowitsch.“ „Hm! ... Wie denn ... wie handeln Sie denn?“ forschte Krestjan Iwanowitsch. Darauf folgte beiderseitiges Schweigen. Der Arzt blickte etwas seltsam und mißtrauisch Herrn Goljädkin an, der auch seinerseits heimlich einen recht mißtrauischen Blick auf ihn warf. „Ich ... sehen Sie, Krestjan Iwanowitsch,“ fuhr Herr Goljädkin schließlich im selben Tone fort, ein wenig gereizt und zugleich verwundert über das Verhalten Krestjan Iwanowitschs, „ich liebe, wie gesagt, die Ruhe und nicht die gesellschaftliche Unruhe und den Lärm und alles das. Dort bei ihnen, sage ich, in der großen Gesellschaft, dort muß man verstehen, das Parkett mit den Stiefeln zu polieren ...“ – hierbei scharrte auch Herr Goljädkin leicht mit dem Fuß auf dem Fußboden –, „dort wird das verlangt, und auch Geist und Witz wird dort verlangt ... duftige Komplimente muß man dort zu sagen verstehen ... sehen Sie, so etwas wird dort verlangt! Ich aber habe das alles nicht gelernt, sehen Sie, alle diese Kniffe sind mir fremd, ich habe keine Zeit gehabt, so etwas zu lernen. Ich bin ein einfacher Mensch, bin nicht erfinderisch, es ist auch nichts äußerlich Bestechendes an mir. Damit strecke ich die Waffen, Krestjan Iwanowitsch; ich strecke sie einfach, das heißt, ich lege sie hin ... indem ich in diesem Sinne rede.“ Alles dies brachte unser Held mit einer Miene vor, die deutlich zu erkennen gab, daß er es nicht im geringsten bedauere, daß er „in diesem Sinne“ die Waffen strecke und „jene Kniffe“ nicht gelernt habe, – vielmehr ganz im Gegenteil! Krestjan Iwanowitsch sah, während er zuhörte, mit einem sehr unangenehmen Gesichtsausdruck zu Boden und schien schon einiges vorauszusehen oder vielleicht auch nur zu ahnen. Der langen Rede Herrn Goljädkins folgte ein ziemlich langes und bedeutsames Schweigen. „Sie sind, glaube ich, ein wenig vom Thema abgekommen,“ sagte schließlich Krestjan Iwanowitsch halblaut, „ich habe Sie, offen gesagt, nicht ganz verstanden.“ „Ich bin, wie gesagt, kein Meister in der Redekunst, Krestjan Iwanowitsch ... ich hatte bereits die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich im Schönreden kein Meister bin,“ versetzte Herr Goljädkin diesmal in scharfem und energischem Tone. „Hm! ...“ „Krestjan Iwanowitsch!“ fuhr darauf unser Held etwas stiller fort, doch mit einer vielsagenden Klangfarbe in seiner Stimme, die etwas feierlich anmutete, welchen Eindruck er dadurch noch verstärkte, daß er nach jedem Satz eine kleine Kunstpause machte. „Krestjan Iwanowitsch! als ich hier eintrat, begann ich mit Entschuldigungen. Jetzt wiederhole ich es und bitte Sie nochmals um Nachsicht für eine kurze Zeit. Ich habe vor Ihnen, Krestjan Iwanowitsch, nichts zu verbergen. Ich bin ein kleiner Mensch, wie Sie wissen. Doch zu meinem Glück tut es mir nicht leid, daß ich ein kleiner Mensch bin. Sogar im Gegenteil, Krestjan Iwanowitsch: ich bin sogar stolz darauf, daß ich kein großer, sondern nur ein kleiner Mensch bin. Ich bin kein Ränkeschmied, – und auch darauf bin ich stolz. Ich tue nichts heimlich und hinterrücks, sondern offen und ohne alle Berechnung, und obschon auch ich meinerseits jemandem schaden könnte, und das sogar sehr, und obschon ich sogar weiß, wem und wie, das heißt, wem ich schaden könnte und wie das anzustellen wäre, so will ich mich mit solchen Sachen doch nicht befassen und wasche lieber in dieser Beziehung meine Hände in Unschuld. Ja, in dieser Beziehung wasche ich sie, Krestjan Iwanowitsch – in diesem Sinne!“ Herr Goljädkin verstummte für einen Augenblick sehr ausdrucksvoll. Er hatte mit bescheidenem Stolz gesprochen. „Ich pflege, wie ich Ihnen, Krestjan Iwanowitsch, bereits sagte,“ fuhr er fort, „ich pflege offen, ohne Umschweife und Umwege vorzugehen: ich verachte Umwege und überlasse sie anderen. Ich bemühe mich nicht, jene zu erniedrigen, die vielleicht reiner sind als wir beide ... das heißt, ich wollte sagen, als unsereiner, Krestjan Iwanowitsch, als unsereiner, und nicht, als wir beide. Ich liebe keine halben Worte, elende Heuchelei und Falschheit mag ich nicht, Verleumdung und Klatsch verachte ich. Eine Maske trage ich nur, wenn ich mich maskiere, gehe aber nicht tagtäglich mit einer solchen unter die Menschen. Jetzt frage ich Sie nur, Krestjan Iwanowitsch, wie Sie sich an Ihrem Feinde rächen würden, an Ihrem ärgsten Feinde – an dem, den Sie für einen solchen hielten?“ schloß Herr Goljädkin plötzlich mit einem herausfordernden Blick auf Krestjan Iwanowitsch. Herr Goljädkin hatte zwar jedes Wort so deutlich ausgesprochen, wie man es deutlicher nicht hätte aussprechen können: ruhig, klar, verständlich und mit Überzeugung, indem er von vornherein des größten Eindrucks gewiß war – doch blickte er jetzt nichtsdestoweniger mit Unruhe, mit großer Unruhe, sogar mit äußerst großer Unruhe Krestjan Iwanowitsch an. Der ganze Mensch war nur noch Blick und erwartete fast schüchtern in peinigender Ungeduld die Antwort Krestjan Iwanowitschs. Doch wer beschreibt die Verwunderung und Überraschung Herrn Goljädkins, als er sehen mußte, daß Krestjan Iwanowitsch statt dessen nur etwas in den Bart murmelte, dann seinen Stuhl näher an den Tisch rückte und endlich ziemlich trocken, doch noch ganz höflich erklärte, daß seine Zeit sehr knapp bemessen sei und er ihn nicht ganz verstehe: übrigens sei er ja gern bereit, zu tun, was in seinen Kräften stünde, doch alles übrige, was nicht zur Sache gehöre, gehe ihn nichts an. Damit griff er zur Feder, nahm ein Blatt Papier, schnitt einen Zettel für das Rezept zurecht und sagte, daß er sogleich aufschreiben werde, was nottue. „Nein, es tut nichts not, Krestjan Iwanowitsch! Nein, wirklich, glauben Sie mir, es tut hier gar nichts not!“ versicherte Herr Goljädkin, der plötzlich vom Stuhl aufstand und Krestjan Iwanowitschs rechte Hand ergriff. „Nein, Krestjan Iwanowitsch, hier tut gar nichts not ...“ Doch während er das noch sprach, ging bereits eine seltsame Veränderung in ihm vor. Seine grauen Augen blitzten eigentümlich, seine Lippen bebten und alle Muskeln seines Gesichts begannen zu zucken und sich zu bewegen. Er erzitterte am ganzen Körper. Nachdem er im ersten Augenblick Krestjan Iwanowitschs Hand erfaßt und festgehalten hatte, stand er jetzt unbeweglich, als traue er sich selbst nicht und erwarte eine Eingebung, die ihm sagte, was er nun weiter tun solle. Doch da geschah etwas ganz Unerwartetes. Krestjan Iwanowitsch saß zunächst etwas verdutzt auf seinem Platz und sah Herrn Goljädkin sprachlos mit großen Augen an, ganz wie jener auch ihn ansah. Dann stand er langsam auf und faßte Herrn Goljädkin am Rockaufschlag. So standen sie eine ganze Weile regungslos, ohne einen Blick voneinander abzuwenden. Goljädkins Lippen und Kinn begannen zu zittern, und plötzlich brach unser Held in Tränen aus. Schluchzend, schluckend nickte er mit dem Kopf, schlug sich mit der Hand vor die Brust und erfaßte mit der linken Hand gleichfalls den Rockaufschlag Krestjan Iwanowitschs: er wollte irgend etwas sprechen, erklären, vermochte aber kein Wort hervorzubringen. Da besann sich Krestjan Iwanowitsch, schüttelte seine Verwunderung ab und nahm sich zusammen. „Beruhigen Sie sich, regen Sie sich nicht auf, setzen Sie sich!“ sagte er, und versuchte, ihn auf den Stuhl zu drücken. „Ich habe Feinde, Krestjan Iwanowitsch, ich habe Feinde ... ich habe gehässige Feinde, die sich verschworen haben, mich zugrunde zu richten ...“ beteuerte Herr Goljädkin, ängstlich flüsternd. „Oh, das wird nicht so schlimm sein mit Ihren Feinden! Denken Sie nicht an so etwas! Das ist ganz überflüssig. Setzen Sie sich, setzen Sie sich nur ruhig hin,“ fuhr Krestjan Iwanowitsch fort, und es gelang ihm auch, Herrn Goljädkin zum Sitzen zu bringen: er setzte sich endlich, verwandte aber keinen Blick von Krestjan Iwanowitsch. Diesem schien das jedoch nicht zu behagen: er wandte sich bald von ihm fort und begann, in seinem Kabinett auf und ab zu schreiten. Sie schwiegen beide eine lange Zeit. „Ich danke Ihnen, Krestjan Iwanowitsch,“ brach endlich Herr Goljädkin das Schweigen, indem er sich mit gekränkter Miene vom Stuhl erhob, „ich bin Ihnen sehr dankbar und weiß es zu schätzen, was Sie für mich getan haben. Ich werde Ihre Freundlichkeit bis zum Tode nicht vergessen.“ „Schon gut! Bleiben Sie nur sitzen!“ antwortete Krestjan Iwanowitsch in ziemlich strengem Tone auf den Ausfall Herrn Goljädkins, den er hierdurch zum zweitenmal zum Sitzen brachte. „Nun, was haben Sie denn? Erzählen Sie mir doch, was Sie dort Unangenehmes vorhaben,“ fuhr Krestjan Iwanowitsch fort, „und was sind denn das für Feinde, von denen Sie sprachen? Um was handelt es sich denn, erzählen Sie mir doch!“ „Nein, Krestjan Iwanowitsch, davon wollen wir jetzt lieber nicht reden,“ lenkte Herr Goljädkin gesenkten Blickes ab, „das wollen wir vorläufig bleiben lassen ... bis zu einer gelegeneren Zeit ... bis zu einer besseren Zeit, Krestjan Iwanowitsch, bis zu einer bequemeren Zeit, wenn alles bereits zutage getreten, die Maske von gewissen Gesichtern abgerissen und dann, wie gesagt, gar manches aufgedeckt sein wird. Jetzt aber – das heißt vorläufig ... und nach dem, was hier vorgefallen ist ... werden Sie doch selbst zugeben, Krestjan Iwanowitsch ... Gestatten Sie, Ihnen einen Guten Morgen zu wünschen.“ – Und damit griff Herr Goljädkin plötzlich entschlossen nach seinem Hut. „Tja, nun ... wie Sie wollen ... hm ...“ Es folgte ein kurzes Schweigen. „Ich meinerseits, das wissen Sie, würde ja gern tun, was in meinen Kräften steht ... und ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute ...“ „Ich verstehe Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie: ich verstehe Sie jetzt vollkommen. Jedenfalls bitte ich um Entschuldigung, daß ich Sie belästigt habe.“ „Hm ... nein, ich wollte Ihnen nicht das sagen. Übrigens – wie Sie wollen. Was die Medikamente betrifft, so können Sie fortfahren, dieselben zu nehmen ...“ „Das werde ich, wie Sie sagen, Krestjan Iwanowitsch, das werde ich, – dieselben Medikamente und aus derselben Apotheke ... Heutzutage ist Apotheker sein schon eine große Sache, Krestjan Iwanowitsch ...“ „Was? In welch einem Sinne wollen Sie das gesagt haben?“ „In einem ganz gewöhnlichen Sinne, Krestjan Iwanowitsch. Ich will nur sagen, daß die Welt heutzutage so ist ...“ „Hm ...“ „Und daß jetzt ein jeder Bengel, nicht nur ein Apothekerbengel, vor einem anständigen Menschen die Nase hoch trägt.“ „Hm! Wie meinen Sie denn das?“ „Ich rede von einem bestimmten Menschen, Krestjan Iwanowitsch ... von unserem gemeinsamen Bekannten ... sagen wir zum Beispiel – nun, meinetwegen von Wladimir Ssemjonowitsch ...“ „Ah! ...“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch: auch ich kenne einige Menschen, denen an der öffentlichen Meinung nicht gar so viel gelegen ist, um nicht mitunter die Wahrheit zu sagen.“ „Ah! ... Und wie denn das?“ „Ja so. Doch das ist nebensächlich! Ich meine nur: sie verstehen zuweilen, so ein Bonbon mit Füllung zu verabreichen.“ „Was? ... Was zu verabreichen?“ „Ein Bonbon mit Füllung, Krestjan Iwanowitsch: das ist so eine russische Redensart. Sie verstehen zum Beispiel, zur rechten Zeit jemandem zu gratulieren, – es gibt solche Leute, Krestjan Iwanowitsch.“ „Zu gratulieren, sagen Sie?“ „Zu gratulieren, Krestjan Iwanowitsch, wie es vor einigen Tagen einer meiner näheren Bekannten tat! ...“ „Einer Ihrer näheren Bekannten ... hm! ja aber wie denn das?“ forschte Krestjan Iwanowitsch, der Herrn Goljädkin jetzt aufmerksam beobachtete. „Ja, einer meiner näheren Bekannten gratulierte einem anderen gleichfalls sehr nahen Bekannten und sogar Freunde zum Assessor, zu dem er neuerdings ernannt worden war. Und da sagte er denn wörtlich: ‚Freue mich aufrichtig, Wladimir Ssemjonowitsch, Ihnen zum Assessor gratulieren zu können, empfangen Sie meinen _aufrichtigen_ Glückwunsch. Ich freue mich um so mehr über diesen Fall, als es heutzutage bekanntlich keine Klatschbasen mehr gibt‘.“ – Und Herr Goljädkin nickte listig mit dem Kopf und blickte blinzelnd zu Krestjan Iwanowitsch hinüber ... „Hm. Gesagt hat das also ...“ „Gesagt, gewiß gesagt, Krestjan Iwanowitsch, und indem er es sagte, blickte er noch zu Andrej Philippowitsch hinüber, der nämlich der Onkel unseres Nesthäkchens Wladimir Ssemjonowitsch ist. Aber was geht das mich an, daß er zum Assessor aufrückte? Was schert das mich? Nur – sehen Sie, er will doch heiraten, er, dem die Lippen noch nicht trocken von der Kindermilch geworden sind. Das sagte ich ihm denn auch. Ganz einfach sagte ich es ihm. Doch – jetzt habe ich Ihnen wirklich alles erzählt. Gestatten Sie daher, daß ich aufbreche und mich entferne.“ „Hm ...“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch, erlauben Sie mir jetzt, wiederhole ich, mich zu entfernen. Doch hier – um gleich zwei Sperlinge mit einem Stein zu treffen – nachdem ich den Jüngling mit den Klatschbasen so aufs Trockene gesetzt hatte, wandte ich mich an Klara Olssuphjewna – die ganze Sache spielte sich vorgestern bei Olssuph Iwanowitsch ab –, sie aber hatte gerade eine gefühlvolle Romanze gesungen, – da sagte ich ihr ungefähr: ‚Ja, eine gefühlvolle Romanze haben Sie gesungen, nur hört man Ihnen nicht reinen Herzens zu.‘ Und damit spielte ich, verstehen Sie, spielte ich deutlich darauf an, daß man eigentlich nicht – sie im Auge hat, sondern weiter blickt ...“ „Ah! Nun und was tat er?“ „Er biß in die Zitrone, Krestjan Iwanowitsch, wie man zu sagen pflegt, sogar ohne die Miene zu verziehen.“ „Hm ...“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch. Auch dem Alten sagte ich ungefähr: ‚Olssuph Iwanowitsch, ich weiß, was ich Ihnen schuldig bin,‘ sagte ich, ‚ich weiß die Wohltaten, die Sie mir fast von Kindesbeinen an erwiesen haben, zu schätzen. Aber öffnen Sie jetzt die Augen, Olssuph Iwanowitsch,‘ sagte ich. ‚Schauen Sie mit offenen Augen um sich. Ich selbst gehe offen und ehrlich vor, Olssuph Iwanowitsch.‘“ „Ah, also so!“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch, so ist es ...“ „Nun, und er?“ „Ja, was sollte er, Krestjan Iwanowitsch? Brummte da etwas: dies und jenes, ich kenne dich, Se. Exzellenz sei ein guter Mensch – und so weiter, und so weiter – verbreitete sich ausführlich darüber ... Aber was hilft das! Er ist eben, wie man sagt, schon etwas altersschwach geworden.“ „Hm! Also so steht es jetzt!“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch. Und alle sind wir doch so – was rede ich vom Alten! – Der ist wohl schon mit einem Bein im Grabe, wie man zu sagen pflegt. Es braucht da nur irgendeine Weiberklatschgeschichte in Umlauf gebracht zu werden, so ist auch er gleich mit beiden Ohren dabei. Anders geht es nicht ...“ „Klatschgeschichten, sagen Sie?“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch, sie haben eine Klatschgeschichte in Umlauf gebracht. Beteiligt haben sich daran außer anderen unser Bär und dessen Neffe, unser Nesthäkchen: Erst haben sie sich mit alten Weibern zusammengetan und dann die Sache ausgeheckt. Was glauben Sie wohl, was sie ersonnen haben – um einen Menschen zu töten?“ „Zu töten?“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch, um einen Menschen zu töten, um ihn moralisch zu töten. Sie haben das Gerücht verbreitet ... ich rede immer von einem nahen Bekannten ...“ Krestjan Iwanowitsch nickte mit dem Kopf. „Sie haben über ihn das Gerücht verbreitet ... Offen gestanden, Krestjan Iwanowitsch, ich schäme mich fast, so etwas nur auszusprechen!“ „Hm ...“ „Das Gerücht verbreitet, sage ich, daß er sich bereits schriftlich verpflichtet habe, zu heiraten: daß er bereits der Bräutigam einer anderen sei ... Und was glauben Sie wohl, Krestjan Iwanowitsch, der Bräutigam wessen?“ „Nun?“ „Der Bräutigam einer Köchin, einer Deutschen, die ihn beköstigt: und anstatt seine Schuld für das Essen zu bezahlen, habe er um ihre Hand angehalten!“ „Das haben sie also verbreitet?“ „Können Sie es glauben, Krestjan Iwanowitsch? Eine Deutsche, eine gemeine, schamlose, unverschämte Person, die Karolina Iwanowna heißt, wenn Sie es wissen wollen ...“ „Ich gestehe, daß ich meinerseits ...“ „Ich verstehe, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie, und fühle auch meinerseits ...“ „Sagen Sie, bitte, wo wohnen Sie jetzt?“ „Wo ich jetzt wohne, fragen Sie?“ „Ja ... ich will ... Sie lebten doch früher, glaube ich ...“ „Gewiß, Krestjan Iwanowitsch, gewiß lebte ich, gewiß lebte ich auch früher, wie sollte ich nicht!“ unterbrach ihn schnell Herr Goljädkin mit einem leisen Lachen, nachdem er mit seiner Antwort Krestjan Iwanowitsch ein wenig stutzig gemacht hatte. „Nein, Sie haben mich falsch verstanden; ich wollte meinerseits ...“ „Ich wollte gleichfalls, Krestjan Iwanowitsch, ich wollte gleichfalls meinerseits!“ fuhr Herr Goljädkin lachend fort. „Aber ich, verzeihen Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich halte Sie ja schon unverantwortlich lange auf. Sie werden mir, hoffe ich, jetzt gestatten ... Ihnen einen Guten Morgen zu wünschen ...“ „Hm ...“ „Ja, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie, ich verstehe Sie jetzt vollkommen,“ versetzte unser Held ein wenig geziert. „Also, wie gesagt, gestatten Sie, Ihnen einen Guten Morgen zu wünschen ...“ Damit verbeugte sich unser Held und verließ das Zimmer, begleitet von den Blicken Krestjan Iwanowitschs, der ihm in höchster Verwunderung nachsah. Während Herr Goljädkin die Treppe hinabstieg, schmunzelte er und rieb sich froh die Hände. Draußen angelangt, atmete er tief die frische Luft ein, und da er sich jetzt wieder frei fühlte, war er fast bereit, sich für den glücklichsten Sterblichen zu halten, mit welchen Gefühlen er schon den Weg zu seinem Departement einschlagen wollte, – als plötzlich eine Equipage ratternd vorfuhr und vor dem Portal hielt: er starrte sie zunächst unverständlich an, doch plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Petruschka riß bereits den Wagenschlag auf. Ein seltsames und höchst unangenehmes Gefühl erfaßte den ganzen Herrn Goljädkin. Für einen Augenblick schien er wieder zu erröten. Wie ein Stich traf es ihn. Im Begriff, den Fuß auf den Wagentritt zu setzen, wandte er sich plötzlich um und sah hinauf zu den Fenstern Krestjan Iwanowitschs. Richtig! Dort stand Krestjan Iwanowitsch am Fenster, strich sich mit der Rechten seinen Backenbart und blickte neugierig und aufmerksam unserem Helden nach. „Dieser Doktor ist dumm,“ dachte Herr Goljädkin, indem er einstieg, „äußerst dumm. Es ist ja möglich, daß er seine Kranken ganz gut kuriert, aber immerhin ... er selbst ist unglaublich dumm.“ Herr Goljädkin setzte sich, Petruschka rief: „Fahr zu!“ und die Equipage rollte davon, wieder geradeaus zum Newskij Prospekt. III. Als sie wieder auf dem Newskij Prospekt angelangt waren, ließ Herr Goljädkin vor dem Gostinnyj Dworr[10] halten, stieg aus, trat in Begleitung Petruschkas schnell unter die Arkaden und begab sich unverzüglich zum Juwelierladen. Schon an der Miene Herrn Goljädkins konnte man erkennen, daß er an diesem Morgen unendlich viele Gänge vorhatte. Nachdem er bei dem Juwelier ein ganzes Teebesteck zum Preise von tausendfünfhundert Rubeln, ein Zigarettenetui von sehr origineller Form und ein vollständiges Rasierzeug in Silber, ferner noch dies und jenes, kleine, nette und auch nützliche Sächelchen ausgesucht und von allen diesen Dingen im Preise mehr oder weniger abgehandelt hatte, schloß er seinen Kauf damit, daß er sich an den Juwelier wandte und versprach, am nächsten Tage wiederzukommen oder vielleicht auch noch an diesem selben Tage die Sachen abholen zu lassen. Er notierte sich die Nummer des Juwelierladens, hörte höflich den Juwelier an, dem es sehr um eine „kleine Anzahlung“ zu tun war, versprach auch eine solche, verabschiedete sich von dem etwas betreten dreinschauenden Manne, als wäre nichts geschehen, worauf er unter den Arkaden weiterging, begleitet von einem ganzen Schwarm von Straßenhändlern, die alle etwas feilboten, und begab sich, immer gefolgt von Petruschka, nach dem er sich übrigens fortwährend umsah, in einen anderen Laden. Unterwegs trat er auch noch in eine Wechselbude und wechselte seine sämtlichen größeren Geldscheine gegen kleinere ein, obgleich er dabei verlor – doch wurde seine Brieftasche dadurch bedeutend dicker, was Herrn Goljädkin augenscheinlich sehr angenehm war. Dann suchte er einen anderen Laden auf, in dem er, wieder für eine ansehnliche Summe, Damenstoffe auswählte. Auch hier versprach er dem Kaufmann, am nächsten Tage wiederzukommen, notierte sich die Nummer des Geschäfts, und auf die Frage nach der Anzahlung versprach er, sie schon rechtzeitig zu leisten. Darauf trat er noch in verschiedene andere Läden ein, wählte aus, handelte, stritt oft lange mit den Verkäufern, ging sogar zwei- bis dreimal fort, um dann doch zurückzukehren, – kurz, er entfaltete eine ungeheure Tätigkeit. Vom Gostinnyj Dworr begab sich unser Held nach einem bekannten Möbelmagazin, wo er Möbel für sechs Zimmer bestellte. Er begutachtete auch noch verschiedene Modeartikel, versicherte dem betreffenden Kaufmann, daß er unbedingt noch an diesem Tage nach den Sachen schicken werde, und verließ das Geschäft wieder mit dem Versprechen, einen Teil anzuzahlen. Und so besuchte er noch ein paar andere Handlungen, in denen sich dasselbe wiederholte. Mit einem Wort, das Ende seiner Besorgungen war gar nicht abzusehen. Endlich aber schien diese Art von Beschäftigung Herrn Goljädkin selbst langweilig zu werden. Ja, plötzlich stellten sich bei ihm, Gott weiß weshalb, Gewissensbisse ein. Um keinen Preis würde er eingewilligt haben, wenn ihm jemand den Vorschlag gemacht hätte, ihm jetzt z. B. Andrej Philippowitsch in den Weg zu führen, oder auch nur Krestjan Iwanowitsch. Endlich schlug die Uhr vom Rathausturm drei und nun setzte sich Herr Goljädkin endgültig in seine Equipage, d. h. er gab alle weiteren Einkäufe auf. Aus denen, die er bereits gemacht, befanden sich wirklich in seinem Besitz nur ein Paar Handschuhe und ein Fläschchen Parfüm, das er für einen Rubel fünfundfünfzig Kopeken erstanden hatte. Da drei Uhr nachmittags immerhin noch ziemlich früh für ihn war, so ließ er sich zu einem bekannten Restaurant am Newskij fahren, das er selbst freilich nur vom Hörensagen kannte, stieg aus und trat ein, um einen kleinen Imbiß zu nehmen, sich etwas zu erholen und so die Zeit bis zur bestimmten Stunde zu verbringen. Er aß nur ein belegtes Brötchen, also wie einer, dem ein reiches Diner bevorsteht, d. h. er aß nur, um sich, wie man zu sagen pflegt, gegen Magenknurren zu sichern, kippte auch nur ein einziges Gläschen dazu, setzte sich dann in einen der bequemen Sessel und nahm nach einem etwas unsicheren Blick auf seine Umgebung ein Zeitungsblatt zur Hand. Er las zwei Zeilen, stand dann wieder auf, blickte in den Spiegel, rückte an seinen Kleidern, strich sich über das Haar; trat darauf zum Fenster und sah, daß seine Equipage noch dort stand ... kehrte dann wieder zu seinem Sessel zurück, griff wieder nach der Zeitung ... Kurz, man sah es ihm an, daß er aufgeregt und ungeduldig zugleich war. Er sah nach der Uhr, sah, daß es erst ein Viertel nach drei war und daß er folglich noch ziemlich lange zu warten habe, sagte sich gleichzeitig, daß es nicht angehe, so lange hier zu sitzen, ohne etwas zu genießen, und bestellte eine Tasse Schokolade, nach der er im Augenblick gar kein Verlangen verspürte. Als er dann die Schokolade ausgetrunken und zugleich festgestellt hatte, daß die Zeit ein wenig vorgerückt war, brach er auf, ging zur Kasse und wollte bezahlen. Plötzlich schlug ihn jemand auf die Schulter. Er sah sich um und erblickte zwei seiner Kollegen – dieselben, denen er am Morgen an der Straßenecke begegnet war, – zwei junge Leute, die ihm sowohl an Jahren wie an Rang bedeutend nachstanden, und mit denen unser Held weder besonders befreundet, noch offen verfeindet war. Selbstverständlich wurde von beiden Seiten eine gewisse Stellung und Haltung gewahrt, doch an ein Sichnähertreten hatte noch niemals jemand von ihnen gedacht. Jedenfalls war diese überraschende Begegnung hier im Restaurant Herrn Goljädkin äußerst unangenehm. „Jakoff Petrowitsch, Jakoff Petrowitsch!“ riefen beide wie aus einem Munde, „Sie hier? – aber was in aller Welt ...“ „Ah, Sie sind es, meine Herren!“ unterbrach sie Herr Goljädkin etwas verwirrt und verletzt durch die Verwunderung der jungen, dem Range nach unter ihm stehenden Beamten. Innerlich war er fast empört über ihren ungenierten Ton, spielte aber äußerlich – übrigens notgedrungen – den Harmlosen und bemühte sich tapfer, seinen Mann zu stellen. „Also desertiert, meine Herren, hehehe! ...“ Und um seine Überlegenheit dieser Kanzleijugend gegenüber zu bewahren, mit der er sich sonst nie eingelassen hatte, wollte er einem von ihnen gönnerhaft auf die Schulter klopfen; zum Unglück aber mißriet seine Herablassung gänzlich und aus der jovial herablassend gedachten Geste wurde etwas ganz anderes. „Nun, und was macht denn unser Bär, – der sitzt wohl noch? ...“ „Wer das? Wen meinen Sie?“ „Mit dem Bären? Als ob Sie nicht wüßten, wen wir den Bären nennen? ...“ Herr Goljädkin wandte sich lachend wieder zur Kasse, um das zurückgegebene Geld in Empfang zu nehmen. „Ich rede von Andrej Philippowitsch, meine Herren,“ fuhr er fort, sich wieder ihnen zuwendend, doch jetzt mit sehr ernstem Gesicht. Die beiden jungen Beamten tauschten untereinander einen Blick aus. „Der sitzt natürlich noch, hat sich aber nach Ihnen erkundigt, Jakoff Petrowitsch,“ antwortete einer von ihnen. „Also er sitzt noch, ah! In dem Fall – lassen wir ihn sitzen, meine Herren. Und er hat sich nach mir erkundigt, sagen Sie?“ „Ja, ausdrücklich, Jakoff Petrowitsch. Aber was ist denn heute mit Ihnen los?! Parfümiert, geschniegelt und gestriegelt, – Sie sind ja ein ganzer Stutzer geworden?! ...“ „Ja, meine Herren, wie Sie sehen.“ – Herr Goljädkin blickte zur Seite und lächelte gezwungen. Als die anderen sein Lächeln bemerkten, brachen sie in lautes Lachen aus. Herr Goljädkin fühlte sich gekränkt und setzte eine hochmütige Miene auf. „Ich will Ihnen etwas sagen, meine Herren,“ begann unser Held nach kurzem Schweigen, als habe er sich entschlossen – „mochte es denn so sein!“ – sie über etwas Wichtiges aufzuklären. „Sie, meine Herren, kennen mich alle, doch bisher haben Sie mich nur von der einen Seite gekannt. Einen Vorwurf kann man deshalb niemandem machen, zum Teil, das gebe ich selbst zu, war es meine eigene Schuld.“ Herr Goljädkin preßte die Lippen zusammen und sah die beiden bedeutsam an. Jene tauschten wieder einen Blick aus. „Bisher, meine Herren, haben Sie mich nicht gekannt. Es ist hier weder der richtige Ort noch die richtige Zeit zu ausführlichen Erklärungen. Deshalb will ich Ihnen nur ein paar kurze Worte sagen. Es gibt Menschen, meine Herren, die Umwege und Schliche nicht lieben, und die sich wirklich nur zum Maskenball maskieren. Es gibt Menschen, die in der Geschicklichkeit, das Parkett mit den Stiefeln zu polieren, nicht den einzigen Lebenszweck und die Bestimmung der Menschheit sehen. Es gibt auch solche Menschen, meine Herren, die sich nicht für restlos glücklich und ihr Leben schon für ausgefüllt halten, wenn zum Beispiel das Beinkleid ihnen gut sitzt. Und es gibt schließlich auch Menschen, die sich nicht gern ohne jeden Grund ducken und müßigerweise scharwenzeln, sich einschmeicheln und den Leuten um den Mund reden, und die, was die Hauptsache ist, meine Herren, ihre Nase nicht dorthin stecken, wohin man Sie die Nase zu stecken nicht gebeten hat ... So, meine Herren, jetzt habe ich alles gesagt – erlauben Sie mir daher, mich Ihnen zu empfehlen ...“ Herr Goljädkin stockte. Da die beiden jungen Beamten in ihrer Wißbegier jetzt vollkommen befriedigt waren, brachen sie höchst unhöflich in schallendes Gelächter aus. Herr Goljädkin wurde feuerrot vor Empörung. „Lachen Sie nur, meine Herren, lachen Sie nur – vorläufig! Leben Sie erst etwas länger in der Welt, dann werden Sie schon sehen!“ sagte er mit gekränkter Würde, nahm seinen Hut und ging bereits zur Tür. „Doch eins will ich Ihnen noch sagen, meine Herren,“ fuhr er fort, sich zum letztenmal zu den beiden Herren zurückwendend, „wir sind jetzt hier gewissermaßen unter vier Augen. Also vernehmen Sie meine Grundsätze, meine Herren: mißlingt es, so werde ich mich trotzdem zusammennehmen – gelingt es aber, so habe ich gesiegt, doch in keinem Fall will ich die Stellung eines anderen untergraben. Ich bin kein Ränkeschmied, und bin stolz darauf, daß ich es nicht bin. Zum Diplomaten würde ich nicht taugen. Man sagt, meine Herren, daß der Vogel von selbst auf den Jäger fliege. Das ist wahr, ich geb es zu: doch wer ist hier der Jäger, und wer der Vogel? Das ist die Frage, meine Herren!“ Herr Goljädkin verstummte beredt und mit dem vielsagendsten Gesichtsausdruck, d. h. indem er die Brauen hochzog und die Lippen zusammenpreßte, beides bis zur äußersten Möglichkeit – verbeugte sich und trat hinaus, die anderen in höchster Verwunderung zurücklassend. „Wohin jetzt?“ fragte Petruschka ziemlich unwirsch, da es ihn offenbar schon langweilte, in der Kälte zu warten und sich von Ort zu Ort schleppen zu lassen. „Wohin befehlen?“ fragte er kleinlauter, als er den fürchterlichen, alles vernichtenden Blick auffing, mit dem unser Held sich an diesem Morgen schon zweimal versehen hatte und mit dem er sich jetzt beim Verlassen des Restaurants zum drittenmal waffnete. „Zur Ismailoffbrücke.“ „Zur Ismailoffbrücke!“ rief Petruschka dem Kutscher zu. „Das Diner ist bei ihnen erst nach vier angesagt, oder sogar erst um fünf,“ dachte Herr Goljädkin, „wird es jetzt nicht noch zu früh sein? Übrigens kann ich ja ganz gut auch etwas früher erscheinen. Außerdem ist es nur ein Familiendiner. Da kann man also ganz _sans façon_ ... wie feine Leute zu sagen pflegen. – Weshalb sollte ich denn nicht _sans façon_ erscheinen können? Unser Bär sagte ja auch, daß alles ganz _sans façon_ sein werde, da kann doch auch ich ...“ So dachte Herr Goljädkin, doch dessen ungeachtet wuchs seine Aufregung und wurde mit jedem Augenblick größer. Man merkte es ihm an, daß er sich zu etwas äußerst Mühevollem – um nicht mehr zu sagen – vorbereitete: er flüsterte leise vor sich hin, gestikulierte mit der rechten Hand, blickte in einem fort zu den Fenstern hinaus, kurz, man hätte wahrlich alles eher vermuten können, als daß er sich zu einer guten Mahlzeit begab, die noch dazu „im Familienkreise“ eingenommen werden sollte, ganz _sans façon_, wie feine Leute zu sagen pflegen. Kurz vor der Ismailoffbrücke wies Herr Goljädkin dem Kutscher das Haus, zu dem er ihn fahren sollte. Die Equipage rollte wieder mit ohrenbetäubendem Getöse unter den Torbogen und weiter auf den Hof, wo sie vor dem Portal des rechten Flügels hielt. Im selben Augenblick bemerkte Herr Goljädkin an einem Fenster des zweiten Stockwerkes eine junge Dame, der er, kaum daß er sie erblickt, eine Kußhand zuwarf. Übrigens wußte er selbst nicht, was er tat, zumal er in dieser Minute entschieden mehr tot als lebendig war. Beim Aussteigen war er bleich und unsicher. Er trat ein, nahm den Hut ab, rückte mechanisch an seinen Kleidern und begann – mit einem sonderbaren Schwächegefühl in den Knien: es war, als zitterten sie – die Treppe hinaufzusteigen. „Olssuph Iwanowitsch?“ fragte er den Bedienten, der ihm die Tür öffnete. „Zu Haus ... das heißt nein, der Herr sind nicht zu Haus.“ „Wie? Was sagst du, mein Lieber? Ich – ich bin eingeladen, mein Bester. Du kennst mich doch?“ „Wie denn nicht! Aber ich habe Befehl, den Herrn nicht zu empfangen.“ „Wie ... mein Bester ... du irrst dich gewiß. Ich bin es. Und ich bin doch eingeladen, ich ... ich komme zum Diner, mein Bester,“ sagte Herr Goljädkin und warf schnell seinen Paletot ab, in der deutlichen Absicht, sogleich die Zimmer zu betreten. „Verzeihen der Herr, das geht nicht. Ich habe Befehl, den Herrn nicht eintreten zu lassen, man will den Herrn nicht empfangen. Ich habe Befehl!“ Herr Goljädkin erbleichte. Da ging eine Tür auf und Gerassimowitsch, der alte Diener Olssuph Iwanowitschs, erschien. „Da sehen Sie, Jemeljan Gerassimowitsch, der Herr will eintreten, ich aber ...“ „Sie aber sind ein Dummkopf, Alexejewitsch. Gehen Sie und schicken Sie den Schuft Ssemjonytsch her. – Entschuldigen Sie,“ wandte er sich darauf höflich, doch in sehr bestimmtem Tone an Herrn Goljädkin, „es geht nicht. Es ist ganz unmöglich. Man läßt sich entschuldigen, man kann nicht empfangen.“ „Ist Ihnen das gesagt worden, daß man nicht empfangen kann?“ fragte Herr Goljädkin unentschlossen. „Verzeihen Sie, Gerassimowitsch, aber weshalb kann man denn nicht?“ „Es geht nicht. Ich habe angemeldet; darauf wurde mir gesagt: bitte, zu entschuldigen. Es ist unmöglich.“ „Aber weshalb denn? Wie ist denn das? Wie ...“ „Erlauben Sie, erlauben Sie ...“ „Aber weshalb, warum denn nicht? Das geht doch nicht so! Melden Sie ... Was soll denn das heißen! Ich bin zum Diner ...“ „Erlauben Sie, erlauben Sie! ...“ „Nun ja, freilich, das ist eine andere Sache – wenn man zu entschuldigen bittet. Aber wie ist denn das, Gerassimowitsch, das ... so erklären Sie mir doch! ...“ „Erlauben Sie, erlauben Sie!“ unterbrach ihn wieder Gerassimowitsch, indem er ihn recht nachdrücklich mit dem Arm zur Seite schob, um zwei Herren eintreten zu lassen. Die Eintretenden waren: Andrej Philippowitsch und sein Neffe Wladimir Ssemjonowitsch. Beide blickten sehr verwundert Herrn Goljädkin an. Andrej Philippowitsch machte bereits Miene, ihn anzureden, doch Herr Goljädkin hatte seinen Entschluß schon gefaßt: er trat schnell aus dem Vorzimmer und sagte gesenkten Blicks, rot und mit einem Lächeln in dem verwirrten Gesicht: „Ich komme später, Gerassimowitsch, ich werde ... ich hoffe, daß alles sich bald aufklären wird,“ sagte er vom Treppenflur aus ... „Jakoff Petrowitsch, Jakoff Petrowitsch ...“ ertönte die Stimme Andrej Philippowitschs. Herr Goljädkin hatte schon den ersten Treppenabsatz erreicht. Er wandte sich schnell zurück und sah hinauf zu Andrej Philippowitsch. „Was wünschen Sie, Andrej Philippowitsch?“ fragte er ziemlich scharf. „Was ist das mit Ihnen, Jakoff Petrowitsch? Was ist hier ...“ „Nichts, Andrej Philippowitsch. Ich gehe hier niemanden etwas an. Das ist meine Privatangelegenheit, Andrej Philippowitsch.“ „Wa–as?“ „Ich sage Ihnen, Andrej Philippowitsch, daß das mein Privatleben ist, und daß man, wie mir scheint, hinsichtlich meiner offiziellen Beziehungen hier, nichts Tadelnswertes finden kann.“ „Was! Was reden Sie da ... hinsichtlich Ihrer offiziellen ... Was ist mit Ihnen geschehen, mein Herr?“ „Nichts, Andrej Philippowitsch, ganz und gar nichts ... ein verzogenes Mädchen, nichts weiter ...“ „Was ... Was?“ Andrej Philippowitsch wußte nicht, was er vor lauter Verwunderung denken sollte. Herr Goljädkin, der, während er mit Andrej Philippowitsch sprach, auf dem Treppenabsatz von unten nach oben blickte und so aussah, als wolle er seinem Abteilungschef jeden Augenblick ins Gesicht springen, trat, als er dessen Verwirrung gewahrte, eine Stufe höher. Andrej Philippowitsch wich etwas zurück. Herr Goljädkin stieg wieder eine und dann noch eine Stufe höher – Andrej Philippowitsch blickte sich unruhig um. Da sprang Herr Goljädkin plötzlich schnell noch über die anderen Stufen hinauf – doch noch schneller sprang Andrej Philippowitsch zurück ins Vorzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Herr Goljädkin sah sich allein im Treppenhaus. Es wurde ihm dunkel vor den Augen. Ohne einen Gedanken im Kopf, stand er, scheinbar in Nachdenken versunken, regungslos auf einem Fleck. Oder vielleicht dachte er doch an eine ähnliche Situation, in der er sich vor kurzer Zeit befunden hatte? Er flüsterte dann etwas vor sich hin, das halbwegs wie ein Seufzer klang, und zwang sich zu einem schmerzlichen Lächeln. Da vernahm er plötzlich Stimmen und Schritte, unten auf der Treppe – Gäste, die Olssuph Iwanowitsch eingeladen hatte. Herr Goljädkin kam wieder zu sich, klappte schnell den Waschbärkragen an seinem Herbstpaletot auf, um nicht erkannt zu werden, und begann, stolpernd, unsicher, zitternd und bebend die Treppe hinabzusteigen. Er fühlte eine große Schwäche in sich, eine gewisse Abgetaubtheit in allen Gliedern. Er wäre nicht imstande gewesen, ein lautes Wort zu sprechen. Als er hinaustrat, war er noch so verwirrt, daß er nicht wartete, bis seine Equipage vorfuhr, sondern selbst über den schmutzigen Hof zu ihr hin ging. Im Begriff, einzusteigen, empfand Herr Goljädkin plötzlich den größten Wunsch, in die Erde zu versinken oder mitsamt der Equipage in ein Mauseloch zu verschwinden, denn es schien ihm, oder richtiger, er fühlte und wußte plötzlich mit tödlicher Sicherheit, daß jetzt alles, was es an Lebewesen in der Wohnung Olssuph Iwanowitschs gab, an den Fenstern stand und ihn mit den Blicken verfolgte. Und er wußte auch, daß er auf der Stelle tot hinfallen würde, wenn er sich jetzt nach diesen Fenstern umsehen würde. „Was lachst du, Tölpel?“ fuhr er Petruschka an, der ihm beim Einsteigen helfen wollte. „Worüber soll ich denn lachen? Wohin jetzt?“ „Nach Hause, sofort ...“ „Zurück nach Hause!“ rief Petruschka dem Kutscher zu und kletterte auf seinen Dienersitz. „Wie der Kerl krähen kann!“ dachte Herr Goljädkin wütend. Die Equipage hatte inzwischen schon die Ismailoffbrücke erreicht. Plötzlich griff unser Held nach der Schnur, riß an ihr wie ein Verzweifelter und schrie seinem Kutscher zu, daß er wieder umkehren solle. Der Kutscher wendete die Pferde und nach kaum zwei Minuten fuhr die Equipage wieder auf den Hof zu Olssuph Iwanowitsch. „Nicht, nicht, zurück, Esel, zurück!“ schrie plötzlich Herr Goljädkin, der Kutscher aber schien diesen Gegenbefehl schon vorausgesehen zu haben: denn ohne ein Wort des Widerspruchs und ohne vor dem Portal anzuhalten, fuhr er rund um den Hof und wieder hinaus auf die Straße. Herr Goljädkin aber fuhr nicht nach Hause, sondern befahl, nicht weit von der Ssemjonoffbrücke, in eine kleine Querstraße einzubiegen und vor einem Restaurant von recht unansehnlichem Aussehen zu halten. Dort stieg er aus, bezahlte den Kutscher und wurde auf diese Weise seine Equipage los. Petruschka schickte er nach Hause, wo er ihn erwarten sollte. Dann trat er ins Restaurant, wünschte ein Zimmer für sich und bestellte ein Mittagessen. Er fühlte sich sehr schlecht. In seinem Kopf war ein einziges Chaos. Lange ging er im Zimmer erregt auf und ab: endlich setzte er sich auf einen Stuhl, stützte den Kopf in die Hände und nahm sich mit aller Gewalt zusammen, um über seine gegenwärtige Situation nachzudenken und irgendeinen Entschluß zu fassen. IV. Das Fest, das feierliche Fest, das zu Ehren des Geburtstages Klara Olssuphjewnas, der einzigen Tochter des Staatsrats Berendejeff, der seinerzeit Herrn Goljädkins Gönner gewesen war, stattfand und durch ein glänzendes Diner eröffnet wurde, – ein Diner, wie es die Wände der Beamtenwohnungen an der Ismailoffbrücke und im näheren Umkreise daselbst noch nicht gesehen hatten, das eher an ein Krönungsmahl Belsazars als an ein Diner zu Ehren eines einzelnen Geburtstagskindes erinnerte – zumal ihm hinsichtlich des Glanzes, der Pracht und der Delikatessen, unter denen sich Champagner, Austern und Früchte von Jekissejeff und Miljutin[11] befanden, entschieden etwas Babylonisches anhaftete, – dieses feierliche Fest, das durch ein so feierliches Diner eröffnet wurde, sollte seinen Abschluß finden in einem glänzenden Ball, der nach Zahl und Rang der Tanzenden zwar nur ein kleiner Familienball war, zu dem man noch die nächsten Bekannten hinzugezogen hatte, der aber nach dem Geschmack, der bei ihm entwickelt wurde, immerhin als glänzend bezeichnet werden mußte. Ich gebe natürlich ohne weiteres zu, daß solche Bälle auch anderweitig gegeben werden, jedoch – selten. Solche Bälle, die eher einem Familienfreudenfeste gleichen, als dem, was man so Bälle nennt, können nur in solchen Häusern gegeben werden, wie es das Haus des Staatsrats Berendejeff ist. Ja, ich bezweifle sogar sehr, daß alle Staatsräte sich solche Bälle leisten können. O, wäre ich doch ein Dichter! – doch, versteht sich, mindestens einer wie Homer oder Puschkin, denn mit einer geringeren Begabung dürfte man sich an diese Aufgabe gar nicht heranwagen – also: wäre ich ein Dichter, dann, meine verehrten Leser! dann würde ich Ihnen in leuchtenden Farben mit kühnem Pinsel diesen ganzen hochfeierlichen Tag zu schildern versuchen. Oder nein, ich würde meine Schilderung mit dem Diner beginnen, und zwar gerade mit jenem weihevollen Augenblick, in dem das erste Glas auf das Wohl der Königin des Festes geleert wurde. Ich würde Ihnen diese Gäste schildern, die in andächtigem Schweigen erwartungsvoll verharrten, in einem Schweigen, das mehr der Beredsamkeit eines Demosthenes glich, als – nun, als einem Schweigen. Ich würde Ihnen diesen Andrej Philippowitsch schildern, der als ältester unter den Gästen ein gewisses Recht auf den Vorrang hatte, wie er sich im Schmuck seines Silberhaares und der entsprechenden Orden auf der Brust von seinem Platze erhob und zum Kelch mit dem funkelnden Weine griff – mit dem Weine, der aus einem fernen Königreich herbeigeschafft war, um so erhabenen Augenblicken erst die rechte Weihe zu verleihen, – mit dem Weine, der eher dem Nektar der Götter gleicht, als irdischem Rebensaft. Ich würde Ihnen die glücklichen Eltern der Königin des Festes und die Schar ihrer Gäste schildern, die, dem Beispiel Andrej Philippowitschs folgend, gleichfalls zu ihren Gläsern griffen und die erwartungsvollen Blicke auf den Redner hefteten. Ich würde Ihnen schildern, wie dieser oft genannte Andrej Philippowitsch mit geradezu tränenfeuchten Augen toastete und auf das Wohl des Geburtstagskindes trank ... Doch, wäre ich auch der größte Dichter, nie würde meine Kunst ausreichen, um die ganze Weihe dieses Augenblicks zu geben, als die Königin des Festes, Klara Olssuphjewna selbst, mit dem Rosenhauch der Seligkeit und jungfräulichen Verschämtheit auf dem lieblichen Antlitz, der Mutter im Überschwang der Gefühle in die Arme sank, wie die zärtliche Mutter vor Rührung leise zu weinen begann und wie bei der Gelegenheit dem Vater und Herrn des Hauses, dem ehrwürdigen Greise und Staatsrat Olssuph Iwanowitsch, den der langjährige Dienst der Gehfähigkeit beraubt und den dafür das Schicksal mit einem Vermögen, einem großen Hause, mehreren Gütern und einer so schönen Tochter belohnt hatte – wie diesem ehrwürdigen Greise, sage ich, vor lauter Ergriffenheit die Tränen über die Wangen rollten, und wie er mit zitternder Stimme stammelte, Seine Exzellenz sei ein guter Mensch. Ich brächte es nicht fertig, Ihnen die diesem Anblick unverzüglich folgende allgemeine Herzerhebung wahrheitsgetreu zu schildern, – diese eigenartige Stimmung, die sich sogar in dem Benehmen eines jungen Registrators äußerte, der – obschon er in diesem Augenblick mehr wie ein Staatsrat als wie ein Registrator aussah – gleichfalls seine Rührung nicht zu unterdrücken vermochte und seine Augen feucht werden fühlte. Andrej Philippowitsch dagegen sah in seiner Ergriffenheit keineswegs nach einem Staatsrat und Abteilungschef aus, sondern nach ganz etwas anderem ... nur vermag ich nicht zu sagen, wonach eigentlich – aber jedenfalls nicht nach einem Staatsrat. Er war etwas Höheres! Und dann ... O! Mir fehlen all die großen, feierlichen Worte, deren man in erster Linie bedarf, um jene wundervollen erhebenden Augenblicke wiederzugeben, die gleichsam zum Beweise dessen geschaffen sind, daß und wie mitunter die Tugend über jede Art von Schlechtigkeit, Freidenkerei, Laster und Neid den Sieg davonträgt! Ich will nichts weiter darüber sagen, und nur schweigend – das sagt mehr, als es Worte vermöchten – auf jenen glücklichen Jüngling hinweisen, der sechsundzwanzig Lenze zählt, auf jenen Neffen Andrej Philippowitschs, den jungen Wladimir Ssemjonowitsch, der sich nun gleichfalls erhob und gleichfalls toastete, während auf ihm die tränenfeuchten Blicke der Eltern des Geburtstagskindes ruhten, die stolzen Blicke Andrej Philippowitschs, die verschämten der Königin des Festes, die begeisterten der Gäste und die noch in bescheidenen Grenzen zurückgehalten neidischen Blicke einiger jungen Kollegen dieses ausgezeichneten Jünglings. Ich will nichts weiter sagen, obwohl ich nicht umhin kann, zu bemerken, daß in besagtem Jüngling, – der übrigens eher an einen Greis erinnerte, als an einen Jüngling, wenn auch in einem für ihn vorteilhaften Sinne des Wortes – in dieser feierlichen Minute alles, von seinen blühenden Wangen bis zu seinem jüngst erworbenen Assessortitel, förmlich vernehmbar sprach: seht, bis zu welch einer Höhe Tüchtigkeit, Ordentlichkeit, Sittsamkeit einen Menschen emporheben können! Ich will nicht weiter beschreiben, wie zu guter Letzt Anton Antonowitsch Ssjetotschkin, ein Kollege Andrej Philippowitschs und einst auch Olssuph Iwanowitschs, der außerdem ein alter Hausfreund und Taufvater Klara Olssuphjewnas war, – ein Greis mit weichem Silberhaar – nun auch seinerseits eine Rede halten wollte und mit einer Stimme wie ein krähender Hahn fröhliche Knüttelverse vorbrachte; wie er dadurch, daß er, wenn man sich so ausdrücken darf, anständiger Weise jeden Anstand vergaß, die ganze Gesellschaft bis zu Tränen erheiterte, und wie Klara Olssuphjewna ihn zum Dank für diesen liebenswürdigen Beitrag auf Wunsch der Eltern einen Kuß gab. Ich begnüge mich damit, nur anzudeuten, daß die Gäste, die sich nach einem solchen Mahle naturgemäß einander nahestehend und verbrüdert fühlen mußten, zum Schluß doch vom Tisch aufstanden, daß die älteren Jahrgänge und solideren Leute sich nach kurzem Herumstehen in plaudernden Gruppen in ein anderes Zimmer zurückzogen, wo sie, um die kostbare Zeit nicht zu verlieren, sogleich an den Spieltischen Platz nahmen und würdevoll die Karten zu mischen begannen; daß die Damen, die sich im Saal versammelt hatten, alle ungeheuer liebenswürdig waren und sich alsbald lebhaft über die verschiedensten Dinge unterhielten; daß endlich der hochverehrte Gastgeber unter Zuhilfenahme von Krücken und auf Wladimir Ssemjonowitsch und Klara Olssuphjewna gestützt, im Saal unter den Damen erschien, und, da Liebenswürdigkeit ansteckend ist, gleichfalls sehr liebenswürdig wurde und sich entschloß, einen bescheidenen, kleinen Ball zu improvisieren, trotz der Unkosten, die ein solcher verursacht; daß zu diesem Zweck ein gewandter Jüngling, nämlich derselbe Wladimir Ssemjonowitsch, persönlich nach Musikanten geschickt wurde, und wie dann, als diese – ganze elf an der Zahl – erschienen waren, um halb neun Uhr abends die erste Aufforderung zum Tanz in den lockenden Tönen einer französischen Quadrille erklang, der die weiteren Tänze folgten ... Es versteht sich wohl von selbst, daß meine Feder zu schwach und zu stumpf ist, um, wie es sich gehört, diesen durch die Liebenswürdigkeit des greisen Gastgebers veranstalteten Ball zu schildern. Ja, und wie könnte ich, frage ich, wie könnte ich, der bescheidene Erzähler der in ihrer Art gewiß sehr beachtenswerten Erlebnisse Herrn Goljädkins, – wie könnte ich diese außergewöhnliche Mischung von Schönheit, Vornehmheit und Heiterkeit, von liebenswürdiger Solidität und solider Liebenswürdigkeit, von Schelmerei und Freude, alle die Reize dieser Beamtendamen, die eher Feen als Damen glichen – mit ihren rosa angehauchten Lilienschultern und Gesichtchen, mit ihren himmlischen Gestalten und reizend hervorlugenden Füßchen –: ja, wie könnte ich alles das schildern? Wie könnte ich diese glänzenden Kavaliere schildern, wie sie heiter und wohlerzogen, gesetzt, gutmütig, aufgeräumt und anstandsvoll, ein wenig benebelt dastanden, in den Tanzpausen rauchten, oder auch nicht rauchten, und sich in ein fernes grünes Zimmerchen zurückzogen, – wie diese Herren Beamten, die alle, ausnahmslos, einen Rang und zumeist auch eine Familie besaßen, – wie diese jungen Offiziere, die von den Begriffen der Eleganz und den Gefühlen des Selbstbewußtseins tief durchdrungen waren, die mit ihren Damen größtenteils nur Französisch sprachen, oder, falls es Russisch war, dann doch nur in den höchsten Ausdrücken, so wie sich das bei Komplimenten und tiefsinnigen gesellschaftlichen Phrasen von selbst versteht, – wie diese Dandys, die sich nur im Rauchzimmer einige liebenswürdige Abweichungen von besagtem hohen Tone erlaubten und sich in freundschaftlicher Kürze ausdrückten, in Redewendungen, wie z. B.: „Eh, du Petjka, hast ja den Walzer wie geschmiert getanzt!“ oder: „Na, du, Wassjä, scheinst ja bei deiner Dame großartig abgeschnitten zu haben!“ Alles das zu schildern, meine verehrten Leser, dazu reicht, wie gesagt, meine Begabung nicht aus, und deshalb schweige ich lieber. Wenden wir uns daher wieder Herrn Goljädkin zu, dem wirklichen und einzigen Helden unserer durchaus wahrheitsgetreuen Erzählung. Herr Goljädkin befand sich währenddessen in einer, sagen wir kurz, sehr seltsamen Lage. Er hielt sich nämlich gleichfalls dort auf, d. h. er war nicht gerade auf dem Ball, aber genau genommen doch so gut wie auf dem Ball. Er war wie immer ein freier Mensch, ein Mensch für sich, und ging niemanden etwas an. Nur stand er, während man dort oben tanzte, nicht – wie soll ich sagen – nicht ganz gerade. Er stand nämlich – es ist etwas peinlich, das zu sagen – er stand nämlich währenddessen im Flur der Küchentreppe des Hauses. Es hatte das nichts weiter auf sich, daß er dort stand: er war auch dort ein freier Mensch, ein Mensch für sich, wie immer. Er stand, meine verehrten Leser, er stand in einem Winkel, in dem es zwar nicht gerade wärmer, doch dafür etwas dunkler war, stand halbwegs verborgen hinter einem großen Schrank und einem alten Wandschirm, stand zwischen verschiedenem Gerümpel, Hausgerät und anderem Kram, und wartete vorläufig nur die Zeit ab, gewissermaßen wie ein müßiger Zuschauer, dem das Schauspiel selbst nicht sichtbar ist. Er wartete und beobachtete – ja, meine verehrten Leser – er wartete und beobachtete vorläufig nur. Übrigens konnte er jeden Augenblick gleichfalls eintreten ... warum auch nicht? Er brauchte nur aus seinem Versteck hervorzukommen und weiterzugehen: und er kam wie jeder andere in den Saal, mit der größten Leichtigkeit. Indessen aber – während er dort schon die dritte Stunde in der Kälte stand, eingekeilt zwischen der Wand, dem Schrank und dem Schirm und neben verschiedenem Gerümpel, Hausgerät und anderen Sachen – zitierte er in einem fort, wenn auch bloß in Gedanken, sich zum Trost und zur Rechtfertigung seiner Handlungsweise, einen Ausspruch des französischen Ministers Villèle seligen Angedenkens, daß nämlich „alles zu seiner Zeit an die Reihe komme, wenn man nur die Geduld zum Abwarten habe“. Diesen Ausspruch hatte Herr Goljädkin einst in einem übrigens ganz belanglosen Buch gelesen und sich gemerkt, weshalb er ihn sich denn jetzt, und zwar sehr zur rechten Zeit, wieder ins Gedächtnis rufen konnte. Erstens paßte dieser Ausspruch ganz vortrefflich zu seiner augenblicklichen Lage, und zweitens, was kommt einem Menschen schließlich nicht in den Sinn, wenn er in einem Treppenflur, in Dunkelheit und Kälte, drei Stunden lang auf den glücklichen Ausgang seines Vorhabens wartet? Während Herr Goljädkin, wie gesagt, sehr zur rechten Zeit den passenden Ausspruch zitierte, fiel ihm gleichzeitig aus einem unbekannten Grunde die Lebensgeschichte des einstigen türkischen Wesirs Marzimiris ein, und gleich darauf diejenige der schönen Markgräfin Louise, deren Biographie er gleichfalls einmal gelesen hatte. Dann fiel ihm auch noch ein, daß die Jesuiten nach dem Grundsatz zu handeln pflegten, daß jedes Mittel durch den Zweck geheiligt werde, daß man also jedes Mittel anwenden könne, wenn man damit nur das Ziel erreiche. Diese historische Tatsache flößte Herrn Goljädkin eine gewisse Hoffnung ein, doch schon im nächsten Augenblick meinte er – „Ach was, Jesuiten!“ – die Jesuiten, die könne er allesamt ins Bockshorn jagen, die seien dümmer als dumm. Wenn sich nur das Büfettzimmer auf einen Augenblick leeren wollte (das Zimmer, von dem aus eine kleine Tür unmittelbar nach dem Flur führte, in dem Herr Goljädkin sich aufhielt), dann würde er ganz ohne alle Jesuiten, nämlich ohne weiteres – dort eintreten und schnurstracks durch das Büfettzimmer ins Teezimmer gehen und von dort durch das Zimmer, in dem man Karten spielte, und von dort weiter in den Saal, in dem getanzt wurde. Und er würde hindurch gehen, würde tatsächlich und ohne jede Rücksicht oder irgendwelche Bedenken, ungeachtet aller Hindernisse, hindurchgehen – würde einfach so durchschlüpfen, im Handumdrehen, und, noch eh’ ihn jemand bemerkte, mitten im Saal stehen! Dort aber – o! was er dann dort zu machen hatte, das wußte er selbst schon ganz genau. Also in einem solchen Zustande befand sich unser Held, obschon es übrigens schwer zu erklären wäre, was alles während des Wartens in ihm vorging. Die Sache war nämlich die, daß er bis zum Hause und bis in den Treppenflur den Weg glücklich gefunden hatte: weshalb, fragte er sich, sollte er ihn auch nicht finden? – weshalb sollte er nicht eintreten, wenn doch alle anderen eintraten? So kam er bis in den Flur, doch weiter wagte er nicht vorzudringen, wagte es wenigstens nicht offen und allen sichtbar ... aber das nicht etwa deshalb, weil er es nicht _wagte_, sondern so, weil er es eben selbst nicht wollte, weil er lieber kein Aufsehen erregte – nur das war der Grund. Und da wartete er eben, wartete ganz mäuschenstill geschlagene drei Stunden. Weshalb sollte er auch nicht warten? Hat doch auch Villèle gewartet! „Ach was, Villèle!“ dachte Herr Goljädkin, „was hat Villèle damit zu schaffen! Aber wie könnte ich jetzt ... einfach dort eintreten? ... Ach du Eckensteher, du vermaledeiter!“ verwünschte er sich selbst, samt seinem Kleinmut, und kniff sich vor Wut mit der steifgefrorenen Hand in die steifgefrorene Wange, „du Narr, der du bist, du elender Goljädka[12], da hat dich das Schicksal grad’ richtig benannt, indem es dir einen solchen Namen gab! ...“ Übrigens waren diese Schmeicheleien, mit denen er sich plötzlich selbst bedachte, nur so eine zeitweilige kleine Gedankenverirrung, ohne jeden sichtbaren Zweck oder besonderen Grund. Dann wagte er sich ein wenig aus seinem Versteck hervor und schlich zur Tür: der Augenblick war günstig – im Büfettzimmer war kein Mensch. Herr Goljädkin sah das alles durch das kleine Fenster der Tür. Schon legte er die Hand auf die Klinke, um zu öffnen und schnell hineinzuschlüpfen – doch plötzlich fragte er sich: „Soll ich? ... Soll ich eintreten oder lieber nicht? ... Ach was, ich trete ein! ... weshalb sollte ich denn nicht? Dem Mutigen gehört die Welt!“ Doch als er sich damit schon angefeuert und ermuntert hatte – flüchtete er plötzlich, für ihn selbst ganz unerwartet, wieder hinter den Schirm zurück. „Nein,“ dachte er, „wenn nun jemand in das Zimmer kommt? Da haben wir’s! – da sind richtig welche eingetreten. Worauf wartete ich denn, als niemand dort war? Warum trat ich nicht ein? Wenn man doch so ... ganz einfach sich ein Herz fassen und ohne weiteres und geradezu hineindringen könnte! ... Ja, schön gesagt, wenn der Mensch nun einmal solch einen Charakter hat! Daß es doch solch eine Veranlagung geben muß! Da ist dir das Herz wieder gleich in die Hühnerbeine gefallen! Ja, den Mut verlieren, das ist eben alles, was unsereiner kann. Nichts ausrichten oder alles verpfuschen – das einzig Mögliche! Das können wir! Jetzt steh’ hier wie ein Tölpel und sieh zu, was aus dir wird! Zu Haus könnte man jetzt ein Täßchen Tee trinken ... Das wäre eigentlich ganz angenehm. So aber – spät zurückkehren? ... Petruschka würde brummen ... Soll ich nicht einfach jetzt gleich nach Haus gehen? Der Teufel hole die ganze Geschichte! Ich gehe nach Haus und damit basta!“ Doch kaum hatte Herr Goljädkin diesen Entschluß gefaßt, als er plötzlich schon an der Tür stand, mit zwei Schritten in das Büfettzimmer schlüpfte, Paletot und Hut abwarf und beides schnell irgendwohin in einen Winkel stopfte, schnell an seinen Kleidern rückte und sich umsah: dann ... dann schlich er leise in das Teezimmer, von dort schlüpfte er fast unbemerkt durch das Spielzimmer – es gingen gerade ein paar andere Herren an den Tischen vorüber, – und dann ... dann ... ja dann vergaß Herr Goljädkin alles, was ringsum war oder geschah, und befand sich im Saal. Zum Unglück wurde in dem Augenblick gerade nicht getanzt. Die Damen saßen oder gingen umher in malerischen Gruppen. Die Herren standen hier und dort in leiser Unterhaltung beisammen oder forderten Damen zum nächsten Tanz auf. Herr Goljädkin bemerkte jedoch nichts davon. Er sah nur Klara Olssuphjewna, neben ihr Andrej Philippowitsch und Wladimir Ssemjonowitsch, dann noch zwei oder drei Offiziere – und vielleicht ein paar junge Beamte, die alle, wie man auf den ersten Blick erkennen konnte, hinsichtlich ihrer Laufbahn zu den verschiedensten Hoffnungen berechtigten ... Vielleicht sah er auch noch ein paar andere Gestalten. Oder nein: er sah eigentlich nichts, oder doch so gut wie nichts, wenigstens sah er niemanden an, und bewegte sich nicht aus eigener Kraft, sondern gleichsam einer fremden folgend, die ihn, ohne nach seinem Willen zu fragen, obschon er ganz entschieden keinen eigenen mehr besaß, immer weiter schob, immer weiter, und durch die er, indem er ihr folgte, auf diese Weise unaufgefordert in einem fremden Ballsaal erschien. Da ihm aber alle Sinne zu vergehen drohten, oder vielleicht auch schon mehr oder weniger vergangen waren, trat er versehentlich einem Geheimrat auf den Fuß, trat auf die Schleppe einer ehrwürdigen Matrone, verwickelte sich mit den Füßen in einer Spitzengarnitur, der er etliche Risse beibrachte, stieß stolpernd an einen Diener, der mit einem Präsentierteller an ihm vorüberging, stieß vielleicht noch jemanden, ohne es selbst zu gewahren, oder richtiger, ohne alle die einzelnen Unglücksfälle noch auseinanderhalten zu können, – bis er plötzlich nur eines begriff: daß er vor Klara Olssuphjewna stand. Zweifellos wäre er in diesem Augenblick mit der größten Bereitwilligkeit in den Boden versunken: doch was nicht geht, das geht nun einmal nicht, ebensowenig wie Geschehenes sich ungeschehen machen läßt. Was sollte er tun? Mißlingt es, dann ... – Wo waren seine Grundsätze? Wie waren sie? Jedenfalls war Herr Goljädkin – darin hatte er vollkommen recht – kein Meister in der Kunst, das Parkett mit den Stiefelsohlen zu polieren ... Möglich, daß er daran dachte ... vielleicht kamen ihm auch die Jesuiten in den Sinn ... Alles, was dort ringsum ging und stand und plauderte und lachte – verstummte plötzlich wie durch einen Zauberschlag. Man sah sich um, man fragte sich mit den Blicken, aller Augen richteten sich auf ihn, und allmählich drängte man sich näher. Herr Goljädkin sah und hörte selbst nichts davon – er stand und sah zu Boden und gab sich sein Ehrenwort, daß er sich noch in dieser Nacht erschießen werde. Und nachdem er sich sein Ehrenwort gegeben, dachte er: „Nun komme, was wolle!“ Doch plötzlich vernahm er zu seiner eigenen größten Verwunderung, daß er zu sprechen begann. Er begann mit der üblichen Gratulation und dann folgten einige sogar sehr geschickte und vernünftige Worte, mit denen er ihr Glück und alles Gute wünschte. Die Gratulation ging tadellos vonstatten, doch bei den Wünschen wurde er unsicher – wurde er unsicher und fühlte, daß er, sobald er nur einmal stockte, dann überhaupt nicht weiter können würde, und ... und so stockte er denn auch und konnte – konnte in der Tat nicht mehr weiter ... und alles ging zum Teufel. Er stand ... und errötete! Hochrot stand er da und wußte sich nicht zu helfen ... und in seiner Hilflosigkeit sah er plötzlich auf und sah und – erstarrte ... Alles stand, alles schwieg, alles wartete: unter den Fernerstehenden erhob sich ein Geflüster, unter den Näherstehenden leises Gelächter. Herr Goljädkin warf einen verlorenen Blick auf Andrej Philippowitsch, doch der Blick, der ihn aus dessen Augen traf, war derart, daß er unseren Helden, wenn er nicht ohnehin schon tot, vollkommen tot gewesen wäre, auf der Stelle getötet hätte. Alles schwieg. „Das ... das gehört zu meinen persönlichen Angelegenheiten und fällt in mein Privatleben, Andrej Philippowitsch,“ brachte Herr Goljädkin kaum hörbar hervor, „das ist kein dienstliches Erlebnis, Andrej Philippowitsch ...“ „Schämen Sie sich, mein Herr, schämen Sie sich!“ sagte Andrej Philippowitsch halblaut mit einem unbeschreiblichen Ausdruck des Unwillens, – sagte es, reichte Klara Olssuphjewna den Arm und führte sie fort von Herrn Goljädkin. „Ich brauche mich nicht zu schämen, Andrej Philippowitsch,“ erwiderte Herr Goljädkin leise, sah auf und ließ seinen unglücklichen Blick über die Umgebung irren, als wolle er sich zunächst über seine eigentliche Stellung inmitten dieser verwunderten Gesellschaft klar werden. „Das ... das hat doch nichts zu sagen, meine Herren! Was ist denn dabei? Nun was, das kann doch einem jeden zustoßen,“ murmelte Herr Goljädkin kaum verständlich, schüchtern ein wenig zur Seite tretend, um sich der ihn umringenden Schar zu entziehen. Man trat vor ihm zurück und gab ihm den Weg frei. So schob sich unser Held denn zwischen zwei Reihen neugieriger und verwunderter Beobachter weiter. Das Verhängnis leitete ihn. Herr Goljädkin fühlte es selbst, daß er dem Verhängnis preisgegeben war. Natürlich hätte er viel darum gegeben, wenn er jetzt wieder im Flur hinter dem Schrank hätte stehen, wenn er sich „ohne Verletzung des gesellschaftlichen Anstandes“ unbemerkt wieder dorthin hätte zurückziehen können! Doch da das leider ausgeschlossen war, so sah er sich nach einer Möglichkeit um, sich wenigstens im Saal irgendwo zu verstecken oder in einem möglichst unbeachteten Winkel zu verbergen, um dann dort meinetwegen bis zum Morgen auszuharren, bescheiden, anständig, ganz für sich, ohne die geringste Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ohne jemanden anzurühren, um auf diese Weise gleichzeitig das Wohlwollen der Gäste wie die Verzeihung des Hausherrn zu erwerben. Er hatte übrigens die Empfindung, als untergrübe irgend etwas den Boden, auf dem er stand, als wanke dieser Boden bereits, als müsse er selbst sogleich fallen. Endlich erreichte er einen stillen Winkel, in den er sich zurückzog, worauf er sich bemühte, wie ein fremder Zuschauer auszusehen, der niemanden etwas anging und der selbst mit ziemlichem Gleichmut dem Treiben zusah, indem er sich auf die Lehnen zweier Stühle stützte, die er gewissermaßen wie eine schützende Barrikade festhielt, während er sich ehrlich bemühte, mit möglichst heiterem Blick die ihn immer noch anschauenden Gäste Olssuph Iwanowitschs zu betrachten. Von allen am nächsten stand ihm ein junger, schlanker Offizier, vor dem Herr Goljädkin sich wie ein richtiger Käfer vorkam. „Diese beiden Stühle, Herr Leutnant, diese beiden Stühle sind für zwei Damen bestimmt: der eine für Klara Olssuphjewna, der andere für die Prinzessin Tschewtschechanowa, – ich stehe hier nur, damit sie nicht von anderen fortgenommen werden,“ stammelte Herr Goljädkin unter Herzklopfen, indem er seinen flehenden Blick auf den jungen Leutnant richtete. Statt einer Antwort wandte sich dieser schweigend mit einem wahrhaft vernichtenden Lächeln von ihm ab. Nach dieser verletzenden Zurückweisung auf der einen Seite wollte Herr Goljädkin auf der anderen Seite sein Glück versuchen, und wandte sich mit irgendeiner Bemerkung an einen überaus würdevollen Rat, dessen Brust einer unserer höchsten Orden schmückte. Doch der Herr Rat maß ihn mit einem Blick, daß Herr Goljädkin glaubte, ihm sei eiskaltes Wasser über den Rücken gegossen worden. Er verstummte und beschloß, lieber zu schweigen, um kein weiteres Ärgernis hervorzurufen und mit seinem Schweigen zu sagen, daß er ein Mensch für sich sei, ein Mensch wie alle anderen, und daß er sich seiner Meinung nach nichts zuschulden kommen lasse. Zu diesem Zweck, das heißt um diese Gedanken wortlos auszudrücken, heftete er seine Blicke auf den Aufschlag seines Uniformrockes, doch nach einiger Zeit sah er wieder auf und heftete sie auf einen Herrn von überaus ehrwürdigem Äußeren. „Dieser Herr trägt eine Perücke,“ dachte Herr Goljädkin, „und wenn man ihm diese Perücke abnähme, würde man einen vollständig kahlen Kopf sehen.“ Bei dieser Beobachtung erinnerte sich Herr Goljädkin alles dessen, was er über die arabischen Emire gelesen hatte: daß sie zum Zeichen ihrer Verwandtschaft mit Mohammed gleichfalls einen grünen Turban trügen, unter dem auch nur ein nackter, das heißt haarloser Kopf sichtbar wurde. Von den Köpfen der Emire sprangen seine Gedanken auf türkische Pantoffeln über, und bei der Gelegenheit erinnerte er sich noch, daß Andrej Philippowitsch gewöhnlich Stiefel trug, die mehr bequemen Pantoffeln glichen, als Stiefeln. Doch allmählich wurde er mit seiner Umgebung vertrauter und begann, weniger ängstlich, hierhin und dorthin zu schauen. „Wenn zum Beispiel dieser Kandelaber plötzlich herabfiele, gerade auf die versammelte Gesellschaft, so würde ich sogleich zu Klara Olssuphjewna stürzen und sie retten. Und wenn sie dann in Sicherheit wäre, würde ich zu ihr sagen: ‚Beunruhigen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein, das hatte nichts auf sich, ich aber bin Ihr Retter.‘ Und dann ...“ Hier blickte Herr Goljädkin nach jener Richtung, in der er Klara Olssuphjewna zuletzt gesehen hatte, und da erblickte er plötzlich Gerassimowitsch, den alten Diener Olssuph Iwanowitschs. Gerassimowitsch kam mit einer besorgten und gewissermaßen offiziell-feierlichen Miene gerade auf ihn zu. Herr Goljädkin zuckte zusammen und runzelte die Stirn unter dem jähen Eindruck einer unbestimmten und gleichzeitig sehr unangenehmen Empfindung. Ganz mechanisch blickte er sich nach beiden Seiten um: ihm kam nämlich plötzlich der Gedanke, daß es vielleicht sehr gut und ratsam wäre, sich jetzt schnell und geschickt irgendwie – so ... zu drücken, daß niemand es bemerkte, – ganz einfach zu verschwinden, als hätte er nie hier gestanden. Doch noch bevor unser Held sich zu irgend etwas entschließen oder gar etwas tun konnte, stand dieser Gerassimowitsch schon vor ihm. „Sehen Sie dort, Gerassimowitsch,“ wandte sich unser Held mit einem Lächeln an den alten Diener, „sagen Sie einem von den Dienstboten – sehen Sie dort die Kerze im Kandelaber? Sie wird sogleich fallen, sie steht schon ganz schief. Sagen Sie nur schnell, daß man sie wieder gerade einsetzt – sie wird wirklich sogleich fallen, Gerassimowitsch ...“ „Die Kerze? Nein, die Kerze steht ganz gerade, aber es ist dort jemand, der Sie sprechen will.“ „Wer ist denn das, Gerassimowitsch?“ „Ja, das weiß ich nicht zu sagen, wer er ist. Ein Mensch, den irgend jemand geschickt hat. Er fragte, ob Jakoff Petrowitsch Goljädkin hier sei. So rufen Sie ihn, bat er mich, er müsse Sie in einer sehr wichtigen und unaufschiebbaren Angelegenheit sprechen ... so sagte er ...“ „Nein, Gerassimowitsch, Sie täuschen sich. Sie werden sich verhört haben, Gerassimowitsch.“ „Schwerlich ...“ „Nein, Gerassimowitsch, nicht ‚schwerlich‘, in diesem Falle kann es nicht ‚schwerlich‘ der Fall sein, Gerassimowitsch. Niemand kann hier nach mir fragen, Gerassimowitsch, niemand kann mich hier sprechen wollen, ich bin hier ganz allein und für mich, das heißt, ich gehe hier keinen Menschen etwas an, Gerassimowitsch.“ Herr Goljädkin holte tief Atem und sah sich um. Natürlich! Alles, was im Saale war, alles hatte sich mit Augen und Ohren ihm zugewandt und schwieg in nahezu feierlicher Erwartung. Die Herren standen etwas näher und horchten gespannt, die Damen im Hintergrunde schienen erregt zu tuscheln. Sogar der Hausherr erschien in Herrn Goljädkins nächster Nähe, und obschon er äußerlich durch nichts verriet, daß er an den Erlebnissen Herrn Goljädkins lebhaften und unmittelbaren Anteil nahm, zumal in dieser Angelegenheit die äußerste Haltung gewahrt werden mußte, so fühlte und sagte sich unser Held doch unverzüglich, daß der entscheidende Augenblick für ihn herangekommen war. Herr Goljädkin sah es deutlich, daß sich ihm jetzt oder nie die Gelegenheit zu einem kühnen Handstreich bot, die Gelegenheit zur Beschämung und Vernichtung seiner Feinde. Herr Goljädkin war erregt. Herr Goljädkin empfand plötzlich eine gewisse Begeisterung und wandte sich wieder an den wartenden Gerassimowitsch und begann mit zitternder, doch feierlicher Stimme: „Nein, mein Freund, mich will niemand sprechen. Du irrst dich. Ja, ich sage noch mehr: du hast dich auch heute vormittag geirrt, als du mir zu versichern suchtest ... als du es wagtest, mir zu versichern, sage ich“ – Herr Goljädkin erhob die Stimme – „daß Olssuph Iwanowitsch, mein Wohltäter seit undenklichen Zeiten, der mir in gewissem Sinne den Vater ersetzt hat, mir in der Stunde der feierlichsten Freude seines Vaterherzens die Tür habe weisen lassen.“ Herr Goljädkin sah sich selbstzufrieden, doch mit tiefem Gefühl im Kreise um. In seinen Augen erglänzten Tränen. „Ich wiederhole es, mein Freund, du hast dich geirrt, hast dich grausam und unverzeihlich geirrt ...“ Der Augenblick war in der Tat feierlich. Herr Goljädkin fühlte es, daß seine Rede einen Eindruck, einen großen Eindruck gemacht hatte. Herr Goljädkin stand, bescheiden den Blick zu Boden gesenkt, und erwartete die Umarmung Olssuph Iwanowitschs. Unter den Gästen machte sich eine gewisse Aufregung und Verwunderung bemerkbar, und selbst der unerschütterliche Gerassimowitsch, der im Begriff war, wieder „schwerlich“ zu sagen, stockte, noch bevor er es aussprach, und blieb stumm ... Da setzte plötzlich das Orchester ein und spielte eine rauschende Polka. Alles zerstob! Herr Goljädkin zuckte zusammen, Gerassimowitsch zog sich schleunigst zurück, und alles, was im Saal war, geriet wie ein Meer ins Wogen: da schwebte bereits das erste Paar, Wladimir Ssemjonowitsch mit Klara Olssuphjewna im Arm, und als zweites der Leutnant mit Prinzeß Tschewtschechanowa. Die Zuschauer drängten sich entzückt und begeistert herbei und lächelten vor Lust beim Anblick des neuen Tanzes – der rauschenden und alle Köpfe verdrehenden Polka. Herr Goljädkin war vollständig vergessen. Doch nach einiger Zeit geriet wieder alles durcheinander, der Rhythmus der allgemeinen Bewegung setzte aus, die Musik verstummte ... Klara Olssuphjewna war atemlos, mit geröteten Wangen und ganz erschöpft auf einen Stuhl gesunken. Alle Herzen flogen der bezaubernden Königin des Festes zu, alle eilten zu ihr, um ihr Komplimente zu sagen und für das Vergnügen, das man beim Anblick ihres Tanzes empfunden, zu danken, und – da stand auch schon Herr Goljädkin vor ihr. Er war bleich und sah aus, als wisse er selbst nicht, was er tat. Er lächelte aus irgendeinem Grunde und schob bittend den Arm vor, sie zum Tanze auffordernd. Klara Olssuphjewna sah zwar sehr verwundert zu ihm auf, erhob sich aber ganz mechanisch und legte ebenso mechanisch die Hand auf seinen Arm. Herr Goljädkin beugte sich nach vorn, zuerst einmal, dann zum zweiten Male, erhob gleichzeitig einen Fuß, mit dem er irgendwie nach hinten ausschlug, dann stampfte er plötzlich auf, und dann ... ja, dann stolperte er über seine eigenen Beine ... Er hatte gleichfalls mit ihr tanzen wollen! Klara Olssuphjewna kam plötzlich zu sich und schrie leise auf: im Nu stürzten alle herbei, um sie von Herrn Goljädkin zu befreien, und im Augenblick sah sich unser Held mindestens schon zehn Schritte weit von ihr fortgedrängt, sah sich von einem empörten Kreise umgeben, vernahm das Gekreisch und die Klagen von zwei alten Damen, die er während seines Rückzuges gestoßen oder getreten hatte – er wußte es selbst nicht. Die Aufregung war unbeschreiblich: alles rief, schrie, sprach durcheinander. Das Orchester verstummte. Unser Held drehte sich im Kreise und lächelte und murmelte halb bewußtlos allerlei vor sich hin: daß er doch gleichfalls ... weshalb denn nicht ... die Polka sei ein neuer Tanz und er könne nichts dafür ... ein Tanz, erfunden zur Unterhaltung und zur Zerstreuung der Damen ... doch wenn es mit dem Tanzen nun einmal nicht ginge, so sei er ja bereit, zurückzutreten ... Leider schien sich aber niemand um seine Bereitwilligkeit zu kümmern. Unser Held fühlte nur, daß eine Hand sich um seinen Oberarm legte und eine andere kräftig gegen seinen Rücken drückte und daß man ihn in irgendeiner Richtung weiterschob. Und diese Richtung war – das sah er plötzlich – die Tür. Herr Goljädkin wollte irgend etwas sagen, irgend etwas tun ... oder nein, er wollte gar nichts mehr. Er lächelte nur, lächelte unbewußt. Seine nächste Empfindung war dann, daß man ihm den Mantel anzog und den Hut auf den Kopf drückte, irgendwie schief auf die Stirn und in die Augen. Dann befand er sich, wie ihm schien, einen Moment im Treppenflur, in der Dunkelheit und Kälte, dann auf der Treppe. Plötzlich stolperte er und glaubte, in einen Abgrund zu fallen: er wollte gerade aufschreien – doch da stand er schon auf dem Hof. Die frische Nachtluft wehte ihn an, er stand und fühlte nur ein Drehen im Kopf. Da vernahm er mit einem Male die gedämpften Klänge der Musik, die wieder einsetzte. Er zuckte zusammen und plötzlich erinnerte er sich an alles! Seine Kräfte, die ihn völlig verlassen hatten, waren wie mit einem Schlage wieder da. Er fuhr auf, griff sich an den Kopf und stürzte fort, gleichviel wohin, in die Luft, in die Freiheit, geradeaus – wohin ihn nur die Füße trugen. V. Von den Türmen der Stadt schlug es gerade Mitternacht, als Herr Goljädkin auf den Kai des Fontankakanals in der Nähe der Ismailoffbrücke hinauslief, um sich vor seinen Feinden zu retten, vor seinen Feinden und Verfolgern, dem Gekreisch der empörten alten und dem Ach und Weh der jungen Damen, und vor den tötenden Blicken Andrej Philippowitschs. Herr Goljädkin fühlte sich nicht bloß vernichtet, wie man das so zu sagen pflegt, sondern vollständig und buchstäblich erschlagen – erschlagen und tot, und wenn er im Augenblick doch noch die Fähigkeit des Laufens behielt, so war das entschieden nur mit einem Wunder zu erklären, einem Wunder, an das zu glauben er sich schließlich selber weigerte. Das Wetter war grauenvoll – eine Petersburger Novembernacht: naß, neblig, dunkel, mit jenem Regen und Schnee, die alle Gaben des Petersburger Novemberwetters, wie Rheumatismus, Schnupfen, Influenza und alle möglichen sonstigen Erkältungen und Entzündungen mit sich brachten und in sich trugen. Der Wind heulte durch die menschenleeren Straßen und über den Kanal, daß das schwarze Wasser in der Fontanka sich unheimlich regte, rüttelte eilig an den spärlichen Laternen, die auf sein Pfeifen mit leisem Kreischen und Knarren antworteten, was dann alles zusammen wie eine weinerlich schrille, fernher schwirrende Musik klang, die jedem Petersburger so gut bekannt ist. Die vom Winde zerrissenen Regenströme samt dem nassen Schnee trafen – als kämen sie aus einer Feuerspritze – den armen Herrn Goljädkin fast horizontal und schnitten und stachen ihn ins Gesicht wie mit tausend Nadeln. Durch das nächtliche Schweigen, das nur fernes Wagenrollen, das Heulen des Windes und das Knarren der Laternen unterbrach, hörte man das trostlose Tropfen des Wassers von den Dächern und Fenstervorsprüngen auf die Steine des Trottoirs, und das leise gurgelnde murmelnde Rauschen in den Regenröhren und Rinnsteinen. Keine Menschenseele war nah und fern zu sehen, und es konnte ja auch um diese Zeit und bei diesem Wetter niemand zu sehen sein. So eilte denn auf dem Trottoir an der Fontanka nur Herr Goljädkin, ganz allein mit seiner Verzweiflung, durch die Dunkelheit und den Regen, eilte in seiner eigentümlichen Gangart mit schnellen, kleinen, trippelnden Schritten wie im Trab halb laufend, immer weiter, um so schnell wie möglich die Schestilawotschnaja zu erreichen, unter den Torbogen zu schlüpfen und dann die Treppe hinaufzueilen, bis er in seiner Wohnung in Sicherheit war. Doch obschon der Schnee und Regen und alles das, was sich kaum nennen und schildern läßt, wenn die Novemberstürme Petersburg heimsuchen, von allen Seiten zugleich auf Herrn Goljädkin niederging und ihn schonungs- und erbarmungslos mitnahm, ihm bis auf die Knochen ging, die Augen blendete und ihn fast vom Wege blies, als habe das Wetter sich mit seinen Feinden verbündet und sich mit allen gegen ihn verschworen: so konnte doch diese letzte Heimsuchung Herrn Goljädkin, der an diesem Tage schon genugsam vom Unglück verfolgt worden war, merkwürdigerweise nicht den Rest geben, ja sie kam ihm, kann man sagen, kaum ernsthaft und wirklich zu Bewußtsein – so erschüttert war er durch das, was er vor wenigen Minuten im Hause des Staatsrats Berendejeff hatte erleben müssen! Selbst wenn ihn ein ganz Ahnungsloser in diesem Augenblick von der Seite hätte beobachten können, wie er so, gleichsam blind und taub, durch das Unwetter einhertrabte, – er hätte doch sogleich diese ganze fürchterliche und unerträgliche Qual erraten und wohl gesagt, Herr Goljädkin sehe aus, als wolle er sich vor sich selbst verstecken, als wolle er am liebsten vor sich selbst fortlaufen. Und so war es auch wirklich. Ja, wir können sogar sagen, daß Herr Goljädkin sich am liebsten auf der Stelle vernichtet, in Staub und Nichts verwandelt hätte. Er hörte weder, noch sah oder begriff er etwas von dem, was ihn umgab: er sah aus, als spüre er nichts von Regen und Schnee, nichts vom Winde und vom Unwetter. Die eine Galosche, die für den rechten Stiefel etwas zu groß war, fiel ab, doch Herr Goljädkin eilte weiter, ohne es überhaupt zu bemerken. Er war so verwirrt, daß er mehrmals jäh stehen blieb, von nichts anderem erfüllt, als von dem Gedanken an eine unfaßbare Schmach, und daß er dann unbeweglich, wie zu einer Bildsäule erstarrt, mitten auf dem Trottoir stand: in diesen Augenblicken starb er fast, verging er – bis er dann plötzlich zusammenfuhr und wie ein Irrsinniger weiterlief, lief und lief, ohne sich umzusehen, als wolle er sich vor Verfolgern retten oder als gelte es, irgendeinem furchtbaren Unglück zu entrinnen. Sein Zustand war in der Tat beängstigend ... Endlich blieb er vor Erschöpfung stehen, stützte sich auf das Geländer am Kanal und starrte auf das schwarze Wasser der Fontanka. So stand er eine lange Zeit. Was er dachte, läßt sich nicht genau sagen, aber jedenfalls war seine Verzweiflung so groß, die Qual so ungeheuerlich und sein Mut so erschöpft, daß er alles vergaß, alles, das Haus an der Ismailoffbrücke und seine Wohnung an der Schestilawotschnaja, selbst vergaß, wo er sich im Augenblick befand ... Und warum sollte er auch nicht? Es war doch nichts mehr daran zu ändern, was ging es ihn im Grunde noch an? ... Plötzlich aber ... plötzlich zuckte er am ganzen Körper zusammen und sprang unwillkürlich ein paar Schritte zur Seite. Mit einer unerklärlichen Unruhe sah er sich um: es war niemand zu sehen, es konnte nichts Besonderes geschehen sein, und doch ... und doch schien es ihm, daß im Augenblick jemand neben ihm, dicht neben ihm gestanden hatte, gleichfalls auf das Geländer gestützt, und – seltsam! – es war, als habe der Betreffende ihm sogar etwas gesagt, schnell und kurz und nicht ganz deutlich, aber irgend etwas ihm Naheliegendes, etwas, das ihn persönlich anging. „Wie, oder sollte mir das ... nur so vorgekommen sein?“ fragte sich Herr Goljädkin, indem er sich nochmals suchend umsah. „Aber wo bin ich denn? ... Oh!“ schloß er kopfschüttelnd, fuhr aber doch fort, unruhig, mit einem beklemmenden Gefühl, ja sogar mit einer gewissen Angst, alle Kräfte zusammenzunehmen, um mit seinen kurzsichtigen Blicken in die trübe, feuchte Dunkelheit zu spähen. Es war aber nichts Verdächtiges zu sehen: nichts Besonderes fiel ihm auf. Es schien alles ruhig zu sein, alles wie es sein mußte, es schneite nur stärker als vorher und in größeren Flocken: keine zwanzig Schritte weit konnte man sehen, so stockfinster war es. Und der Wind heulte noch eintöniger, noch klagender sein banges Lied, ganz wie ein Bettler, der nicht von einem läßt und traurig um ein Almosen bittet, um sein Leben fristen zu können. „E–eh! was ist denn das mit mir?“ fragte sich Herr Goljädkin, und er setzte seinen Weg fort, blickte sich aber immer noch etwas unsicher um. Inzwischen bemächtigte sich seiner eine neue Empfindung: es war wie eine Beklemmung, und doch wieder nicht, es war wie Angst ... und doch anders als Angst ... Ein fieberhaftes Zittern lief durch seinen ganzen Körper und zerrte an allen Sehnen. Der Augenblick war unerträglich. „Nun, was ist denn dabei,“ murmelte er endlich, um sich etwas zu ermuntern, „was tut es denn? Vielleicht hat so etwas nichts auf sich und geht niemandem an die Ehre. Vielleicht war das gerade nötig,“ fuhr er fort, ohne selbst zu verstehen, was er sprach, „vielleicht wird das gerade zum Guten führen, mir noch ein Glück eintragen, weshalb also ungehalten sein, wenn ich ihnen allen einmal zu Dank verpflichtet sein kann?“ Mit diesen beruhigenden und tröstenden Erwägungen beschäftigt, schüttelte Herr Goljädkin den Schnee von sich ab, der schon mit einer dicken Schicht seinen Hut und Kragen, die Schultern und Stiefel bedeckte, – doch jene seltsame Empfindung, jene dunkle Beklemmung konnte er nicht abschütteln. Irgendwo fern fiel ein Kanonenschuß[13]. Das ist aber ein Wetter, dachte unser Held, hu! wenn es nicht noch eine Überschwemmung gibt? Das Wasser muß doch schon bedeutend gestiegen sein ... Kaum hatte Herr Goljädkin das gedacht, als er nicht weit vor sich einen Menschen erblickte, der ihm entgegenkam, – wohl ebenso wie er selbst ein verspäteter Fußgänger. Es war offenbar eine ganz zufällige Begegnung, die nichts weiter zu bedeuten hatte. Doch Herr Goljädkin wurde aus einem unbekannten Grunde ängstlich und verlor sogar ein wenig den Kopf. Nicht, daß er einen Mörder oder Dieb gefürchtet hätte, – nein, das nicht, aber ... „was kann man wissen, wer er ist,“ fuhr es ihm durch den Sinn, „vielleicht ist auch er hier im Spiel, ja vielleicht ist er sogar die Hauptperson und kommt mir jetzt nicht zufällig entgegen, sondern in einer besonderen Absicht, um meinen Weg zu kreuzen und mich anzurempeln ...“ Möglicherweise dachte Herr Goljädkin dies auch nicht, sondern empfand nur eine Sekunde lang etwas Ähnliches und äußerst Unangenehmes. Er hätte auch gar nicht Zeit zum Denken gehabt: der Fremde war keine zwei Schritte mehr von ihm entfernt. Herr Goljädkin beeilte sich seiner Gewohnheit gemäß, eine Miene aufzusetzen, die deutlich zu erkennen gab, daß er, Goljädkin, ein Mensch für sich sei und niemanden etwas angehe, daß der Weg für alle breit genug, und er, Goljädkin selbst, niemanden anrühre und ruhig vorübergehe. Plötzlich aber stand er wie vom Blitz getroffen, und dann wandte er sich schnell zurück und sah dem anderen nach, der kaum an ihm vorübergegangen war, – wandte sich zurück, als habe ihn jemand an einer Schnur herumgerissen. Der Unbekannte entfernte sich schnell im Schneetreiben. Er ging gleichfalls sehr eilig, war gleichfalls ganz vermummt, hatte den Hut in die Stirn gezogen und den Kragen aufgeschlagen, und ging ganz wie er, Herr Goljädkin, mit kleinen, schnellen, trippelnden Schritten, ein wenig wie im Trab. „Was ... was ist das?“ murmelte Herr Goljädkin mit einem ungläubigen Lächeln, – schauderte aber doch am ganzen Körper zusammen. Es lief ihm kalt über den Rücken. Inzwischen verschwand der Unbekannte vollends in der Dunkelheit, auch seine Schritte waren nicht mehr zu hören, Herr Goljädkin aber stand immer noch und sah ihm nach. Erst allmählich kam er wieder zu sich. „Was ist das mit mir,“ dachte er ärgerlich, „bin ich denn etwa rein von Sinnen oder ... oder ganz verrückt?“ Und er ging wieder seines Weges, beschleunigte aber immer mehr den Schritt und bemühte sich, an gar nichts zu denken. Ja er schloß sogar die Augen, um nicht zu denken. Plötzlich, durch das Heulen des Windes und das Geräusch des Unwetters, vernahm er wieder schnelle Schritte in der Nähe. Er fuhr zusammen und öffnete die Augen. Vor ihm, etwa zwanzig Schritte weit, tauchte von neuem irgendein dunkles Menschlein auf, das ihm eilig entgegenkam. Die Entfernung verringerte sich schnell. Herr Goljädkin konnte schon deutlicher seinen neuen Schicksalsgenossen erkennen, – und plötzlich schrie er auf vor Überraschung und Entsetzen. Seine Füße wurden schwach. Es war das derselbe, ihm schon bekannte Passant, der vor etwa zehn Minuten an ihm vorübergegangen war, und der ihm jetzt plötzlich wieder entgegenkam. Das Erlebnis war seltsam und unheimlich. Herr Goljädkin war so überrascht, daß er stehen blieb, zitterte, irgend etwas sagen wollte, und – plötzlich dem Unbekannten nachlief, ja, er rief ihn sogar an, wahrscheinlich, um ihn schneller zu erreichen. Der Unbekannte blieb auch wirklich stehen, etwa zehn Schritte weit von Herrn Goljädkin, und zwar gerade im Schein der nächsten Laterne, so daß man ihn deutlich erkennen konnte, – blieb stehen, wandte sich nach Herrn Goljädkin um und wartete mit ungeduldiger Miene darauf, was jener nun sagen werde. „Verzeihen Sie, ich habe mich vielleicht nur getäuscht,“ stammelte unser Held mit zitternder Stimme. Der Unbekannte wandte sich schweigend und sichtlich ungehalten wieder von ihm ab und ging schnell weiter, als wolle er sich beeilen, die verlorenen zwei Sekunden einzuholen. Herr Goljädkin aber zitterte am ganzen Körper und vermochte sich kaum auf den Füßen zu halten. Mit einem Stöhnen sank er auf einen der Prellsteine am Trottoir. Er hatte wirklich allen Grund, so die Fassung zu verlieren. Dieser Unbekannte war ihm jetzt tatsächlich bekannt erschienen. Doch das hätte allein noch nicht viel besagt. Aber er hatte ihn ja erkannt, hatte ihn jetzt vollkommen erkannt, diesen Menschen! Er hatte ihn schon gesehen, hatte ihn – ja, hatte ihn irgend einmal gesehen, sogar vor ganz kurzer Zeit. Aber wo? – wo konnte das gewesen sein? – und wann? War es nicht erst vor einem Tage gewesen? Übrigens war nicht das die Hauptsache, daß Herr Goljädkin ihn schon gesehen hatte. Es war ja auch fast gar nichts Besonderes an diesem Menschen – auf den ersten Blick hätte dieser Mensch entschieden keines anderen Menschen Aufmerksamkeit erregt. Er war eben ein Mensch, wie alle anderen, war natürlich auch anständig, wie alle anständigen Menschen, und vielleicht besaß er sogar irgendwelche Vorzüge – mit einem Wort: er war auch ein Mensch für sich. Herr Goljädkin empfand weder Haß noch Feindschaft noch selbst eine Abneigung gegen diesen Menschen, sogar im Gegenteil! Nur (und gerade in diesem Umstande lag die Hauptbedeutung), nur hätte er für nichts in der Welt eine zweite Begegnung mit ihm gewünscht, und nun noch gar eine, wie jetzt in der Nacht. Wir können sogar noch mehr verraten! Herr Goljädkin kannte diesen Menschen ganz genau, er wußte sogar, wie er hieß, mit dem Familiennamen und mit dem Ruf- und Vatersnamen. Und doch hätte er ihn selbst für alle Schätze der Welt nicht mit Namen genannt, – er wollte ihn nicht nennen, wollte es nicht einmal zugeben, daß jener so und so hieß. Wie lange Herr Goljädkin auf dem Prellstein saß, was er dachte oder empfand, das vermag ich nicht zu sagen, doch als er endlich wieder zu sich kam, raffte er sich plötzlich auf und begann zu laufen – und er lief, was er nur laufen konnte, ohne sich umzusehen. Der Atem ging ihm aus, er stolperte zweimal, fiel fast hin – und bei der Gelegenheit verlor er auch die andere Galosche. Endlich gab er das Laufen auf, verlangsamte den Schritt, um Atem zu schöpfen, sah sich schnell um und stellte fest, daß er, ohne es zu merken, schon eine ganze Wegstrecke längs der Fontanka zurückgelegt hatte, ging dann über die Anitschkoffbrücke, ging über den Newskij und stand schließlich an der Straßenkreuzung des Newskij Prospekt und der Liteinaja. Dann bog er in die Liteinaja ein. Er glich in diesem Augenblick einem Menschen, der am Rande eines Abgrundes steht, unmittelbar vor einem Absturz, der den Boden schon unter sich wanken fühlt und im nächsten Augenblick in die Tiefe stürzen wird: einem, der all dies weiß und selbst sieht, und der doch nicht die Kraft hat und auch nicht die Geistesgegenwart, auf den noch feststehenden Boden zurückzuspringen, und nicht die Willensstärke, den Blick von der gähnenden Tiefe abzuwenden: die Tiefe zieht ihn vielmehr an, zieht ihn und läßt ihn nicht los, und so springt er denn schließlich beinahe selbst hinab, nur um den unvermeidlichen Untergang zu beschleunigen. Herr Goljädkin wußte und fühlte es, er war überzeugt, daß ihm sogleich, noch unterwegs, etwas Verhängnisvolles zustoßen, daß er z. B. wieder jenem Unbekannten begegnen würde: doch – so seltsam es auch erscheinen mag – er wünschte diese Begegnung jetzt beinahe selbst herbei, wünschte sie schneller herbei, so schnell wie möglich. Da er sie doch für unvermeidlich hielt, wollte er, daß dem Zustande je eher je lieber ein Ende bereitet werde, gleichviel wie, aber nur rasch, rasch! Währenddessen lief er immer noch, lief als bewege ihn eine fremde Macht, denn von seinem eigenen Wesen fühlte er nichts als eine unendliche Erschöpfung und Abgespanntheit: er konnte auch nichts mehr denken, obwohl seine Gedanken sich im Vorübergehen wie Dornen an alles und jedes hefteten. Ein verirrtes Hündchen, das vor Nässe und Kälte nur so zitterte, schloß sich ihm an und lief neben ihm her, lief mit flinken dünnen Beinchen, eingekniffener Rute und zurückgelegten Ohren, und von Zeit zu Zeit sah es schüchtern und verständnisvoll zu ihm auf. Ein ferner, längst schon vergessen gewesener Gedanke oder vielmehr die Erinnerung an etwas vor langer Zeit einmal Geschehenes kam ihm jetzt in den Sinn und begann in seinem Kopfe zu hämmern, und hämmerte und hämmerte und ließ sich nicht abweisen. „Dieses gemeine Hündchen!“ murmelte Herr Goljädkin vor sich hin, ohne sich selbst zu verstehen. Endlich erblickte er den Unbekannten wieder, gerade wie er um die Straßenecke bog. Nur kam er ihm jetzt nicht wieder entgegen, sondern ging vor ihm her in derselben Richtung, ging wenige Schritte vor ihm und eilte ebenso wie er in leichtem Trab. Bald hatten sie die Schestilawotschnaja erreicht. Herrn Goljädkins Herzschlag setzte aus: der Unbekannte blieb gerade vor dem Hause stehen, in dem Herr Goljädkin wohnte. Man hörte die Klingel unter dem Torbogen und fast in demselben Augenblick auch schon das Kreischen des eisernen Riegels. Das Pförtchen wurde geöffnet, der Unbekannte beugte sich und verschwand. Im nächsten Augenblick hatte auch Herr Goljädkin das Pförtchen erreicht und schlüpfte am Hausknecht vorüber, der irgendetwas brummte; er lief auf den Hof und erblickte wieder den Unbekannten, den er einen Moment aus dem Auge verloren hatte. Er erblickte ihn gerade noch beim Eingang zu der Treppe, die zu Herrn Goljädkins Wohnung hinaufführte. Herr Goljädkin eilte ihm nach. Die Treppe war dunkel, feucht und schmutzig. Neben allen Türen stand Hausgerät und alles mögliche andere, so daß ein Fremder, der zum erstenmal und noch dazu im Dunkeln diese Treppe hinaufstieg, mindestens eine halbe Stunde lang zum Erklimmen derselben bedurfte. Trotzdem setzte man sich immer wieder dem aus, daß man sich Hals und Beine brach, verwünschte immer wieder nicht nur die Treppe, sondern mit dieser auch seine Bekannten, die sich in einer Wohnung niedergelassen, zu der der Zugang soviel Mühe kostete. Doch jener Unbekannte, den Herr Goljädkin verfolgte, schien mit den Eigenheiten der Treppe ganz vertraut zu sein, als wohne er in demselben Hause: er eilte mit der größten Leichtigkeit hinauf, ohne auch nur einmal zu zögern, als wäre ihm jede Stufe bekannt. Herr Goljädkin hatte ihn fast eingeholt: ja, zwei- oder dreimal schlug sogar der Mantelsaum des Unbekannten an seine Nase. Das Herz stand ihm still. Der geheimnisvolle Fremde blieb gerade vor der Tür der Wohnung des Herrn Goljädkin stehen. Und Petruschka – was zu einer anderen Zeit Herrn Goljädkin sehr in Verwunderung gesetzt hätte, – Petruschka, ganz als hätte er gewartet und sich noch nicht schlafen gelegt, öffnete sofort die Tür und kam dem eintretenden Menschen mit dem Licht in der Hand entgegen. Ganz außer sich trat der Held unserer Erzählung in seine Wohnung. Ohne Hut und Mantel im Vorraum abzulegen, blieb er, wie vom Donner gerührt, auf der Schwelle seines Zimmers stehen. Alle Vorahnungen Herrn Goljädkins erfüllten sich vollständig, alles, was er gefürchtet hatte, trat jetzt in die Erscheinung. Der Atem ging ihm aus, der Kopf schwindelte ihm. Der Unbekannte saß vor ihm auf seinem Bett, gleichfalls im Hut und Mantel: er lächelte ein wenig, blinzelte ihm zu und nickte freundschaftlich mit dem Kopfe. Herr Goljädkin wollte schreien, konnte aber nicht – wollte irgendwie protestieren, doch die Kräfte reichten nicht. Die Haare standen ihm zu Berge und er setzte sich starr vor Schreck neben den anderen hin. Dazu hatte er freilich Ursache. Herr Goljädkin erkannte sofort seinen nächtlichen Freund. – Sein nächtlicher Freund aber war niemand anders als er selbst – ja: Herr Goljädkin selbst, ein anderer Herr Goljädkin und doch Herr Goljädkin selbst – mit einem Wort und in jeder Beziehung war er das, was man einen Doppelgänger nennt. * * * * * VI. Am anderen Morgen, genau um acht Uhr, erwachte Herr Goljädkin in seinem Bett. Sofort erschienen mit erschreckender Deutlichkeit vor seinen erregten Sinnen und in seinem Gedächtnis alle die außergewöhnlichen Ereignisse, die er gestern gehabt, erschien die ganze wilde und unwahrscheinliche Nacht mit ihren fast mysteriösen Ereignissen. Eine so grausame, eine so höllische Bosheit von seiten seiner Feinde und besonders dieser letzte Beweis ihrer Bosheit ließ Herrn Goljädkins Herz zu Eis erstarren. Dazu schien alles das so sonderbar unverständlich und wüst, schien so sinnlos und ganz und gar unglaubhaft, daß es ihm wirklich schwer wurde, daran zu glauben. Herr Goljädkin wäre sogar sehr geneigt gewesen, das alles einfach für einen Traum, für eine augenblickliche Verwirrung seiner Phantasie, für eine vorübergehende Umnachtung seines Geistes anzusehen, wenn er nicht zu seinem Glück und aus seiner bitteren Lebenserfahrung heraus gewußt hätte, bis wohin die Bosheit bereits manchen Menschen gebracht hat, wie weit die Grausamkeit eines Feindes gehen kann, der sich für seine verletzte Ehre rächen mochte. Obendrein legten die zerschlagenen Glieder Herrn Goljädkins, sein schmerzender Kopf, sein verstauchtes Kreuz, sein bösartiger Schnupfen um so fühlbarer Zeugnis ab und bestanden unabweislich auf der Wirklichkeit des nächtlichen Spazierganges samt allen Abenteuern, die mit ihm verbunden gewesen waren. Und schließlich wußte ja Herr Goljädkin schon längst, daß sie da etwas gegen ihn vorbereiteten, daß noch etwas anderes dahintersteckte! Aber was denn? Nach reiflicher Überlegung beschloß Herr Goljädkin zu schweigen, sich zu fügen und in der Sache fürs erste nichts zu tun. „So haben sie mich vielleicht nur erschrecken wollen, und wenn sie sehen, daß ich nichts tue, nicht protestiere und mich in alles füge, dann werden sie vielleicht zurücktreten, von selbst zurücktreten, als erste zurücktreten.“ Das waren die Gedanken, die im Kopfe Herrn Goljädkins umgingen, als er sich im Bette ausstreckte, um seine zerschlagenen Glieder zu fühlen, und auf das gewohnte Erscheinen Petruschkas im Zimmer wartete. Er wartete bereits eine ganze Viertelstunde und hörte, wie der Faulpelz Petruschka hinter dem Verschlag den Samowar anmachte, aber er konnte sich nicht entschließen, ihn zu rufen. Sagen wir offen: Herr Goljädkin fürchtete sich ein wenig, Petruschka Aug’ in Aug’ gegenüberzustehen. „Denn, weiß Gott –,“ dachte er, „weiß Gott, wie der Schuft diese ganze Sache ansieht. Er schweigt und schweigt und macht sich dabei seine eigenen Gedanken.“ Endlich knarrte die Tür und Petruschka erschien mit dem Teebrett in beiden Händen. Herr Goljädkin schielte schüchtern nach ihm hin und wartete ungeduldig, was nun geschehen – wartete, ob er nicht endlich über den Vorfall wenigstens etwas sagen würde. Doch Petruschka sagte nichts, im Gegenteil, er war noch schweigsamer, finsterer und erboster als gewöhnlich und warf unter seinen zusammengezogenen Brauen hervor nur mürrische Blicke ins Zimmer. Man konnte daraus entnehmen, daß er äußerst unzufrieden war. Nicht ein einziges Mal sah er seinen Herrn an, was, nebenbei gesagt, Herrn Goljädkin sehr unangenehm berührte. Er stellte alles, was er gebracht hatte, auf den Tisch, kehrte um und ging schweigend hinter seinen Verschlag. „Er weiß, er weiß alles, der Taugenichts!“ murmelte Herr Goljädkin, während er seinen Tee einnahm. Unser Held jedoch richtete keine Frage an seinen Diener, obgleich dieser noch einige Male, aus verschiedenen Anlässen, ins Zimmer kam. Herr Goljädkin war in einer sehr bewegten Gemütsverfassung. Peinlich war es ihm vor allem, in die Kanzlei zu gehen. Er hatte ein starkes Vorgefühl, daß dort irgend etwas nicht ganz richtig sein würde. „Wenn du da hingehst,“ dachte er, „kannst du über irgend etwas stolpern! Ist es nicht besser, hier noch etwas abzuwarten? Mögen sie da tun – was sie wollen: ich werde heute hierbleiben und Kräfte sammeln, werde meine Gedanken über die Sache in Ordnung bringen, um dann den günstigen Augenblick zu erhaschen und, wie so ein Guß kalten Wassers über den Kopf, ohne selbst mit der Wimper zu zucken, vor ihnen auftauchen.“ Während Herr Goljädkin so über die Sache nachdachte, rauchte er eine Pfeife nach der anderen. Die Zeit verging indessen schnell – es war bereits fast halb zehn geworden. „Siehe da, es ist schon halb zehn Uhr,“ dachte Herr Goljädkin, „es ist jetzt wirklich zu spät geworden. Dazu bin ich krank, versteht sich, krank, durchaus krank – wer sagt, daß es nicht so ist? Was geht es mich an! Und wenn man jemanden schickt, der hier nachsehen soll – ja, was geht das mich an? Mir tut der Rücken weh, ich habe Husten, Schnupfen, und schließlich darf ich bei diesem Wetter gar nicht ausgehen, ich kann mich ernstlich erkälten und sogar sterben – die Sterblichkeit ist ja zurzeit so groß ...“ Mit solchen Gründen beruhigte Herr Goljädkin schließlich sein Gewissen vollkommen und rechtfertigte sich so im voraus vor dem Verweis, der ihm von Andrej Philippowitsch bevorstand – „wegen Vernachlässigung des Dienstes“. Überhaupt liebte es unser Held bei allen ähnlichen Gelegenheiten, sich vor sich selbst durch die verschiedensten Vernunftgründe zu verteidigen und auf diese Weise sein Gewissen vollkommen zu beruhigen. So hatte er denn auch jetzt sein Gewissen vollkommen beruhigt, griff nach der Pfeife, klopfte sie aus: doch kaum hatte er ordentlich zu rauchen begonnen – als er plötzlich vom Diwan sprang, seine Pfeife fortwarf, sich lebhaft wusch, rasierte und frisierte, seine Uniform und alles Übrige anzog, einige Papiere ergriff und in die Kanzlei davoneilte. Herr Goljädkin trat schüchtern in seine Bureauabteilung ein, in zitternder Erwartung von etwas sehr Unangenehmem, in einer Erwartung, die unklar und dunkel und daher um so unangenehmer war. Schüchtern setzte er sich auf seinen Platz neben seinem Bureauvorsteher Anton Antonowitsch Ssjetotschkin. Ohne sich umzublicken oder sich durch etwas ablenken zu lassen, vertiefte er sich in den Inhalt seiner vor ihm liegenden Papiere. Er hatte beschlossen und sich das Wort gegeben, sich so wenig wie möglich einer Herausforderung auszusetzen und sich vor allem, was ihn kompromittieren könnte, vor unbescheidenen Fragen, vor allerlei Scherzen und Anspielungen auf den gestrigen Abend möglichst weit weg zu halten. Er beschloß sogar, von den gewöhnlichen Höflichkeiten im Verkehr mit seinen Kollegen abzusehen, und zum Beispiel Fragen nach dem Befinden usw. zu unterlassen. Doch andererseits war es ganz unmöglich, daß es dabei bleiben konnte. Unruhe und Ungewißheit über etwas ihm nahe Bevorstehendes waren für ihn viel quälender, als das Bevorstehende selbst. Und daher, trotz des Versprechens, das er sich gegeben hatte, auf nichts einzugehen, was es auch sei, und sich von allem fernzuhalten, erhob Herr Goljädkin doch zuweilen den Kopf und sah heimlich und verstohlen zur Seite nach rechts und links, und beobachtete die Gesichter seiner Mitarbeiter, um aus ihren Mienen zu schließen, ob etwas Neues und Besonderes bevorstehe und aus irgendwelchen Absichten vor ihm verborgen werde. Er setzte ohne weiteres voraus, daß eine Verbindung zwischen den gestrigen Vorfällen und allem bestand, was um ihn her vorging. Aus diesen Nöten heraus wünschte er schließlich, und Gott weiß wie er es wünschte, daß sich alles nur so schnell wie möglich entscheiden möge, wenn es dabei auch ein Unglück gäbe! Doch wie schnell Herrn Goljädkin das Schicksal auch ereilte: kaum hatte er dies zu wünschen gewagt, als seine Zweifel plötzlich gelöst wurden, und zwar auf die allersonderbarste und unerwartetste Weise. Die Tür aus dem anderen Zimmer knarrte plötzlich leise und schüchtern, als wollte sie damit vorausschicken, daß die eintretende Person herzlich unbedeutend sei, und eine Gestalt, die Herrn Goljädkin sehr bekannt vorkam, tauchte auf und näherte sich schüchtern dem Tisch, an dem unser Held saß. Unser Held wagte seinen Kopf nicht zu erheben, er streifte die Gestalt nur flüchtig mit einem kurzen Blick, doch er erkannte alles, begriff alles bis in die kleinsten Einzelheiten. Er entbrannte vor Scham und steckte seinen armen Kopf in die Papiere mit der gleichen Absicht, wie der Vogel Strauß seinen Kopf in den Sand steckt, wenn er vom Jäger verfolgt wird. Der Neuangekommene verneigte sich vor Andrej Philippowitsch und man hörte darauf dessen förmliche, höfliche Stimme, mit der die Vorgesetzten in allen Kanzleien die neueingetretenen Untergebenen empfangen. „Setzen Sie sich hierher,“ wandte sich Andrej Philippowitsch an ihn und wies den Neuling an den Tisch Anton Antonowitschs, „setzen Sie sich Herrn Goljädkin gegenüber, Sie werden gleich beschäftigt werden.“ Andrej Philippowitsch schloß damit, daß er den Neuangekommenen mit einer höflich einladenden Gebärde sich selbst überließ und sich sofort wieder in seine Papiere vertiefte, die in ganzen Haufen vor ihm lagen. Herr Goljädkin erhob endlich seine Augen, und wenn er nicht in Ohnmacht fiel, so geschah es nur deshalb nicht, weil er schon vorher alles das vorausgefühlt hatte, weil er schon im voraus von allem unterrichtet war und die Ankunft des Neulings bereits in seiner Seele geahnt hatte. Die erste Bewegung Herrn Goljädkins war, sich rasch umzublicken, ob sich nicht ein Flüstern ringsum erhob, ob nicht irgendein Kanzleiwitz vernehmbar wurde, oder sich ein Gesicht vor Erstaunen verzog und schließlich nicht irgend jemand vor Schreck vom Stuhle fiel. Doch zur größten Verwunderung Herrn Goljädkins ereignete sich nichts Ähnliches. Das Benehmen der Herren Mitarbeiter und Kollegen setzte ihn in Erstaunen und schien ihm vollständig unerklärlich. Herr Goljädkin erschrak fast vor diesem ungewöhnlichen Schweigen. Die Tatsache sprach für sich selbst. Die Sache war sonderbar, sinnlos, ohnegleichen. Es mußte einen verwundern. Alles das ging Herrn Goljädkin selbstverständlich durch den Kopf. Er fühlte sich wie auf einem kleinen Feuer gebraten. Und wahrlich: es hatte seinen Grund. Derjenige, welcher Herrn Goljädkin gegenüber saß, war – der Schrecken Herrn Goljädkins, war – die Schande Herrn Goljädkins, war – der gestrige Albdruck Herrn Goljädkins, kurz, war Herr Goljädkin selbst. Doch nicht dieser Herr Goljädkin, der mit aufgerissenem Munde und mit der Feder in der Hand auf dem Stuhle dasaß, nicht dieser, der als Gehilfe seines Bureauvorstehers seinen Dienst ausübte, nicht dieser, der sich in der Menge zu vergraben und zu verstecken liebte, nicht der schließlich, dessen Verhalten deutlich aussprach: „Rühre mich nicht an und auch ich werde dich nicht anrühren,“ oder: „Rührt mich nicht an, denn ich rühre euch auch nicht an ...“ Nein, das war ein anderer Herr Goljädkin, ein vollkommen anderer, und zugleich doch einer, der vollkommen ähnlich dem ersteren war. Von gleichem Wuchs, derselben Gestalt und Haltung, ebenso gekleidet, ebenso kahlköpfig – kurz, es war nichts, aber auch nichts zur vollkommenen Ähnlichkeit vergessen worden, so daß, wenn man die beiden nebeneinander aufgestellt hätte, niemand, aber auch wirklich niemand hätte sagen können, wer der wirkliche Herr Goljädkin und wer der nachgemachte sei, wer der alte und wer der neue, wer das Original und wer die Kopie. Unser Held war jetzt in der Lage eines Menschen, über den, wenn der Vergleich möglich ist, jemand zum Spaß ein Brennglas hält. „Ist es ein Traum oder ist es keiner,“ dachte er, „ist es die Gegenwart oder die Fortsetzung von gestern. Wie kommt das, mit welchem Recht geht das alles hier vor? Wer hat diesen Beamten hier hingesetzt, und wer gab ihm das Recht, sich zu setzen? Schlafe ich? Träumt es mir?“ Herr Goljädkin betastete sich selbst, betastete auch noch einen anderen ... Nein, es war nicht nur ein Traum. Herr Goljädkin fühlte, wie ihm der Schweiß in Strömen herunterrann, fühlte, daß sich mit ihm noch etwas nie Dagewesenes und nie Gesehenes ereignete: und zur Vollendung des Unglücks begriff und fühlte Herr Goljädkin selbst das Fatale, das darin lag, in einer so verwickelten Sache das Urbild und Beispiel zu sein. Er begann an seiner eigenen Existenz zu zweifeln, und obgleich er vorher auf alles vorbereitet gewesen war und selbst gewünscht hatte, daß sich seine Zweifel irgendwie lösen möchten, so war für ihn diese Tatsache doch ganz unerwartet eingetreten. Die Angst drückte ihn nieder und quälte ihn. Vorübergehend war er seiner Gedanken und seines Gedächtnisses vollständig beraubt. Wenn er nach solchen Augenblicken wieder zu sich kam, so bemerkte er, daß er ganz mechanisch und unbewußt seine Feder über das Papier führte. Da er sich selbst nicht mehr trauen konnte, fing er an, alles Geschriebene nachzuprüfen, und siehe da, – er begriff nichts davon. Endlich stand der andere Herr Goljädkin auf, der bis dahin ruhig und ehrbar dagesessen hatte, und verschwand mit seiner Arbeit durch die Tür, in die andere Abteilung. Herr Goljädkin blickte sich um, – nichts, alles war still: zu hören war nur das Kratzen der Federn, das Geräusch beim Umwenden der Blätter und das Geflüster in denjenigen Ecken, die am weitesten von dem Platz Andrej Philippowitschs ablagen. Herr Goljädkin sah Anton Antonowitsch, den Bureauvorsteher, an, und da der Gesichtsausdruck unseres Helden durchaus mit seinen gegenwärtigen Gedanken übereinstimmte, folglich in mancher Beziehung sehr auffallend war, so legte der gute Anton Antonowitsch die Feder beiseite und erkundigte sich mit außergewöhnlicher Teilnahme nach der Gesundheit Herrn Goljädkins. „Ich bin, Anton Antonowitsch ... ich bin ... Gott sei Dank,“ antwortete stotternd Herr Goljädkin, „ich, Anton Antonowitsch ... bin vollkommen gesund. Mir fehlt ... Anton Antonowitsch – gar nichts,“ fügte er entschlossen hinzu, da er offenbar Anton Antonowitsch nicht ganz zu überzeugen vermochte. „Aber, aber mir scheint es, daß Sie doch nicht so ganz gesund sind: übrigens, es wäre kein Wunder! Besonders jetzt bei diesem Wetter! Wissen Sie ...“ „Ja, Anton Antonowitsch, ich weiß, daß das Wetter schlecht ist ... Ich, Anton Antonowitsch, ich ... spreche nicht davon,“ fuhr Herr Goljädkin fort, indem er Anton Antonowitsch durchdringend ansah. „Ich, sehen Sie, Anton Antonowitsch, ich weiß eigentlich nicht, ... das heißt, ich möchte sagen ... wie Sie die Sache auffassen, Anton Antonowitsch ...“ „Was? Ich habe Sie ... wissen Sie ... ich muß gestehen, nicht ganz verstanden; Sie ... wissen Sie ... erklären Sie sich deutlicher, woran Sie sich hierbei stoßen,“ sagte Anton Antonowitsch, der sich nicht wenig betroffen fühlte, da er sah, daß Herrn Goljädkin die Tränen in die Augen traten. „Ich weiß wirklich nicht ... hier, Anton Antonowitsch ... hier ist – ein Beamter, Anton Antonowitsch ...“ „Nun! Ich verstehe noch immer nichts.“ „Ich möchte sagen, Anton Antonowitsch, daß hier ein neueingetretener Beamter ist.“ „Ja, stimmt; er heißt auch wie Sie.“ „Was?“ rief Herr Goljädkin aus. „Ich sage: er trägt denselben Namen. Er heißt auch Goljädkin. Ist es nicht Ihr Bruder?“ „Nein, Anton Antonowitsch, ich ...“ „Hm! sagen Sie bitte, – mir schien es, daß es sogar ein sehr naher Verwandter von Ihnen sein müßte. Wissen Sie, es ist da eine Familienähnlichkeit vorhanden.“ Herr Goljädkin erstarrte vor Verwunderung und die Zunge versagte ihm zeitweise ihren Dienst. So einfach über eine so unerhörte, noch nie dagewesene Sache zu sprechen, eine Sache, die jeden interessierten Beobachter in Erstaunen versetzt hätte, und von einer Familienähnlichkeit zu reden, wo es sich um ein Spiegelbild handelte! „Ich, wissen Sie, was ich Ihnen raten möchte, Jakoff Petrowitsch,“ fuhr Anton Antonowitsch fort. „Gehen Sie doch zum Doktor und sprechen Sie mit ihm. Wissen Sie, Sie sehen durchaus krank aus. Ihre Augen sind so sonderbar ... wissen Sie, so einen besonderen Ausdruck haben sie ...“ „Nein, Anton Antonowitsch, ich fühle freilich, das heißt, ich möchte fragen, wie dieser Beamte? ...“ „Nun?“ „Das heißt, haben Sie nicht bemerkt, Anton Antonowitsch, haben Sie nicht an ihm etwas Besonderes bemerkt ... etwas – Unverkennbares?“ „Das heißt?“ „Das heißt, ich möchte sagen, Anton Antonowitsch, eine erstaunliche Ähnlichkeit mit irgend jemandem, das heißt zum Beispiel mit mir. Sie sprachen soeben, Anton Antonowitsch, von einer Familienähnlichkeit, Sie machten so eine beiläufige Bemerkung ... Wissen Sie, daß es Zwillinge gibt, die sich wie zwei Tropfen Wasser gleichen, so daß man sie nicht voneinander unterscheiden kann? Nun, sehen Sie, das meinte ich –“ „Ja,“ sagte Anton Antonowitsch, ein wenig nachdenklich – als ob er jetzt zum erstenmal über die Sache wirklich erstaunt wäre. „Ja, Sie haben recht, die Ähnlichkeit ist tatsächlich erstaunlich und man könnte wirklich den einen für den andern nehmen,“ fügte er hinzu und riß die Augen immer weiter auf. „Und, wissen Sie, Jakoff Petrowitsch, es ist sogar eine ganz sonderbare phantastische Ähnlichkeit, wie man zu sagen pflegt, das heißt, genau so wie Sie ... Haben Sie bemerkt, Jakoff Petrowitsch? Ich wollte Sie sogar selbst danach fragen. Ja, ich gestehe, anfangs habe ich zu wenig darauf geachtet. Ein Wunder, ein wirkliches Wunder, das! Und wissen Sie, Jakoff Petrowitsch, Sie sind doch kein Hiesiger? Ich meine nur ...“ „Nein.“ „Er ist auch kein Hiesiger. Vielleicht ist er aus demselben Orte, wo Sie her sind. Ich wage nur zu fragen, wo hat sich Ihre Mutter zuletzt dauernd aufgehalten?“ „Sie sagten ... Sie sagten, Anton Antonowitsch, daß er kein Hiesiger ist?“ „Ja, er ist nicht von hier. Wirklich, wie das sonderbar ist,“ fuhr der gesprächige Anton Antonowitsch fort, für den es ein rechter Feiertag war, wenn er einmal tüchtig schwatzen konnte, „es kann wirklich Anteil erregen! Wie oft geht man an so etwas vorüber, ohne es zu bemerken! Übrigens, regen Sie sich nicht darüber auf. Das pflegt vorzukommen. Wissen Sie – ich werde Ihnen was erzählen, dasselbe passierte meiner Tante, mütterlicherseits; sie hat sich auch einmal, es war kurz vor dem Tode, doppelt gesehen ...“ „Nein, ich ... entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, Anton Antonowitsch, – ich, Anton Antonowitsch, wollte wissen, wie es mit diesem Beamten steht, das heißt, welche Stellung er hier einnimmt.“ „Er kam an die Stelle des kürzlich verstorbenen Ssemjon Iwanowitsch. Dessen Posten war frei geworden, und so wurde er angestellt. Nein, wirklich, dieser gute Ssemjon Iwanowitsch, drei Kinder hat er hinterlassen, sagt man, eines kleiner als das andere. Die Witwe ist seiner Exzellenz zu Füßen gefallen. Man sagt übrigens, sie habe Geld, sie verheimliche es nur.“ „Nein, Anton Antonowitsch, ich meine den Umstand ...“ „Das heißt, nun, ja! Warum beschäftigt Sie denn das so sehr? Ich sage Ihnen doch: regen Sie sich nicht auf. Das ist schon so der Wille Gottes, und es ist Sünde, gegen ihn zu murren. Darin sieht man Gottes Weisheit. Und Sie, Jakoff Petrowitsch, sind doch nicht schuld daran. Als ob es keine Wunder auf der Welt gäbe! Die Mutter Erde ist freigebig, und Sie werden doch nicht dafür zur Verantwortung gezogen. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: ich denke, Sie haben doch gehört, wie die siamesischen Zwillinge mit dem Rücken aneinander gewachsen sind, sie leben, essen und schlafen zusammen und verdienen viel Geld, sagt man.“ „Erlauben Sie, Anton Antonowitsch ...“ „Ich verstehe Sie, ich verstehe! Ja! nun, ja, was? Tut nichts! Ich sage Ihnen doch, nach meiner persönlichen Überzeugung haben Sie sich keineswegs aufzuregen. Was ist denn darüber zu sagen? Er ist doch ein Beamter wie sie alle, und als Beamter, offenbar, ein tüchtiger Mensch. Er sagt, er heiße Goljädkin, sei nicht von hier und führe den Titel Titularrat. Er hat selbst mit Seiner Exzellenz gesprochen.“ „Und was hat er gesagt?“ „Nichts Besonderes, sagt man, er habe genügende Erklärungen gegeben und die Gründe dargelegt, sagt man, so und so: Ew. Exzellenz, ich habe kein Vermögen, ich wünsche zu dienen, und besonders unter Ihrer schmeichelhaften Leitung ... nun, und wie sich das so gehört ... er hat sich, wissen Sie, sehr geschickt ausgedrückt. Ein kluger Mensch muß er sein. Nun, versteht sich, er kam ja auch mit einer Empfehlung, ohne die geht’s doch nicht ...“ „So!? von wem denn? ... Das heißt, ich wollte sagen, wer hat denn in diese schmutzige Angelegenheit seine Hand gesteckt?“ „Ja! Es muß eine gute Empfehlung gewesen sein, Seine Exzellenz, sagt man, und Andrej Philippowitsch hätten gelacht.“ „Gelacht, Exzellenz und Andrej Philippowitsch?“ „Ja, sie hätten gelacht und gesagt: nun gut! und sie hätten nichts dagegen, wenn er nur seine Pflicht tue!“ „Nun, und weiter. Das belebt mich wieder, Anton Antonowitsch, ich flehe Sie an – und weiter.“ „Erlauben Sie, nun, ja, nun, es hat doch nichts zu bedeuten, ich sage Ihnen, regen Sie sich nicht auf, die Sache hat nichts Bedenkliches.“ „Nein? Ich, das heißt – ich wollte Sie fragen, Anton Antonowitsch, ob Seine Exzellenz nichts mehr hinzugefügt hat ... über mich, zum Beispiel?“ „Das heißt, wie denn? Ach so! Nein, nichts, nichts, Sie können ganz ruhig sein. Wissen Sie, natürlich ist der Umstand sehr sonderbar ... aber ich selbst – ich habe mir anfangs überhaupt nichts dabei gedacht. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir nichts dabei dachte, bis Sie, Sie selbst, mich darauf aufmerksam gemacht haben. Seine Exzellenz hat nichts gesagt,“ fügte der gute Anton Antonowitsch hinzu und erhob sich vom Stuhl. „Sehen Sie, ich ... Anton Antonowitsch ...“ „Ach, Sie entschuldigen mich, bitte, ich schwatze hier von Nichtigkeiten und da ist eine wichtige Sache zu erledigen. Ich muß mich beeilen.“ „Anton Antonowitsch,“ hörte man soeben die klangvolle Stimme Andrej Philippowitschs, „Seine Exzellenz fragt nach Ihnen.“ „Sofort, sofort Andrej Philippowitsch, sofort, ich komme schon.“ Und Anton Antonowitsch griff nach einem Pack Papiere, lief zuerst zu Andrej Philippowitsch und darauf ins Kabinett Seiner Exzellenz. „Wie ist denn das nun?“ dachte Herr Goljädkin bei sich. „So ist also das Spiel jetzt bei uns? Von daher weht der Wind? ... Das ist nicht übel, die Dinge haben so die beste Wendung genommen,“ sagte sich unser Held, rieb sich die Hände und fühlte vor Freude kaum den Stuhl unter sich. „Unsere Sache ist also eine gewöhnliche Sache und erweist sich als etwas ganz Nichtiges. In der Tat, es kümmert sich niemand darum, sie sitzen alle, diese Räuber, und arbeiten: das ist nett, wirklich nett! Einen guten Menschen liebe ich, habe ich geliebt und werde ihn immer lieben ... Doch, wenn man denkt, diesem Anton Antonowitsch ist schwer ... zu trauen! Er ist bereits sehr alt und vergißt den Zusammenhang. Eine vorzügliche, eine großartige Sache ist es, daß Seine Exzellenz nichts gesagt hat und ihn so zuließ. Das ist gut, das gefällt mir! Was hat nur dieser Andrej Philippowitsch sich mit seinem Lachen da einzumischen? Was geht es ihn an? Du alter Strick! Immer läufst du mir über den Weg, wie eine schwarze Katze! Immer kommt er den Menschen in die Quere, immer den Menschen in die Quere ...“ Herr Goljädkin blickte sich wieder um und wieder belebte sich seine Hoffnung. Er fühlte sich aber doch noch von gewissen vagen Gedanken, und von nicht gerade guten Gedanken, sehr beunruhigt. Es kam ihm sogar in den Sinn, mit den Beamten anzubändeln, den Hasen sozusagen zu stellen, vielleicht am Schluß der Kanzleistunde oder in Dienstangelegenheiten mit ihnen anzubändeln und zwischendurch im Gespräche zu bemerken: „meine Herren, so und so, ob da nicht eine erstaunliche Ähnlichkeit, ein sonderbarer Umstand, eine witzige Komödie?“, – um auf diese Weise die Tiefe der Gefahr zu sondieren. „Denn in einem tiefen Abgrund hausen die Teufel,“ schloß in Gedanken unser Held. Übrigens war das nur ein flüchtiger Gedanke von Herrn Goljädkin, denn er bedachte sich noch beizeiten. Er begriff, daß es ihn zu weit führen konnte. „So ist nun einmal deine Natur!“ sagte er zu sich selbst, und schlug sich leicht mit der Hand vor die Stirn. „Gleich fängst du wieder an zu phantasieren und dich zu freuen, du ehrliche Seele, du! Nein, besser, wir warten noch ein wenig, Jakoff Petrowitsch, wir halten aus und warten!“ Nichtsdestoweniger, und wie wir bereits erwähnten, war Herr Goljädkin voll Hoffnung und wie von den Toten auferstanden. „Tut nichts,“ dachte er, „mir ist es gerade zumut, als ob mir fünfhundert Pud vom Herzen gefallen wären! Was ist das für eine Sache! Er aber – er, – nun möge er nur dienen, möge er nur ruhig und zu seiner Gesundheit dienen! Wenn er nur niemandem hinderlich wird, wenn er nur niemanden stört, dann mag er dienen – ich habe nichts dagegen!“ Währenddessen vergingen die Stunden im Fluge und es schlug bereits vier Uhr. Die Kanzlei wurde geschlossen. Andrej Philippowitsch griff nach seinem Hut, und wie gewöhnlich folgten alle seinem Beispiel. Herr Goljädkin verzögerte seinen Aufbruch und ging absichtlich später als die anderen, er war der Letzte und trat hinaus, als die anderen sich bereits in die verschiedenen Richtungen zerstreuten. Auf der Straße fühlte er sich wie im Paradies, so daß in ihm der Wunsch aufstieg, einen Umweg zu machen und über den Newskij zu gehen. „Das nenne ich Schicksal!“ sagte unser Held, „diese unerwartete Wendung der ganzen Sache. Und was für ein Wetterchen, mit Frost und Schlittenbahn! Das ist was für den Russen, der Frost belebt ihn ordentlich von neuem, den russischen Menschen. Ich liebe den russischen Menschen, und Schnee liebe ich und Kälte liebe ich ...“ So äußerte sich bei Herrn Goljädkin das Entzücken, und doch fühlte er etwas wie Unruhe in seinem Herzen nagen, so daß er nicht wußte, womit er sich beschwichtigen sollte. „Nun ja, warten wir noch einen Tag – und dann erst wollen wir uns freuen. Was mag das nur eigentlich sein, was mich da so beunruhigt!? Nun, denken wir doch nach, sehen wir zu! Denke nach, junger Freund, denke nach. Also erstens: ein Mensch, der genau so wie du ist. Nun, was ist weiter dabei? Wenn es solch einen Menschen gibt, muß ich denn gleich darüber weinen? Was geht’s mich an? Ich halte mich fern von ihm: ich pfeife auf ihn, und das ist alles! Mag er dienen! Nun, und was sie da von den siamesischen Zwillingen reden ... wozu siamesisch? Nehmen wir an, es sind Zwillinge – auch große Menschen haben ihre Wunderlichkeiten gehabt. Aus der Geschichte ist bekannt, daß der berühmte Ssuworoff wie ein Hahn krähte ... Nun, das tat er wohl alles nur aus Politik; und die großen Feldherren ... übrigens, was gehen mich die Feldherren an? Ich lebe so für mich und will niemanden kennen und im Gefühl meiner Unschuld verachte ich jeden Feind. Ich bin kein Intrigant und ich bin stolz darauf. Nein, offenherzig, angenehm, liebenswürdig ...“ Plötzlich verstummte Herr Goljädkin, blieb stehen, zitterte wie ein Blatt am Baum und schloß auf einen Augenblick seine Augen. In der Hoffnung jedoch, daß der Gegenstand seines Schreckens nur eine Illusion sei, öffnete er seine Augen wieder und schielte schüchtern nach rechts. Nein, es war keine Illusion! ... Neben ihm trippelte sein Bekannter von heute morgen, lächelte ihm zu, sah ihm ins Gesicht und schien auf die Gelegenheit zu warten, um mit ihm ein Gespräch anzufangen. Es kam aber nicht dazu. So gingen sie beide etwa fünfzig Schritte weiter. Das ganze Bestreben Herrn Goljädkins ging nun dahin, sich immer mehr in seinen Mantel einzuhüllen und seine Mütze so tief wie möglich über die Augen zu ziehen. Es erhöhte noch die „Beleidigung“, daß Mantel und Hut seines Freundes genau den seinen glichen. „Geehrter Herr,“ sagte endlich unser Held, indem er sich mühte, fast flüsternd zu sprechen, ohne dabei seinen Freund anzusehen, „mir scheint, wir haben einen verschiedenen Weg ... Ich bin sogar fest davon überzeugt,“ sagte er nach einigem Schweigen. „Und schließlich bin ich auch fest davon überzeugt, daß Sie mich verstanden haben,“ fügte er ziemlich streng zum Schluß hinzu. „Ich hätte gewünscht,“ sagte endlich der Freund, „ich hätte gewünscht, und Sie werden mir großmütig verzeihen ... ich weiß nicht, an wen ich mich hier wenden soll ... meine Verhältnisse, – ich hoffe Sie verzeihen mir meine Aufdringlichkeit, – es schien mir sogar, Sie hätten heute morgen Anteil an mir genommen. Meinerseits fühlte ich auf den ersten Blick Zuneigung für Sie, ich ...“ Hier wünschte Herr Goljädkin in Gedanken seinen neuen Kollegen unter die Erde – „Wenn ich gewagt hätte zu hoffen, daß Sie, Jakoff Petrowitsch, geneigt wären, mich anzuhören ...“ „Wir ... wir ... wollen lieber zu mir gehen,“ antwortete ihm Herr Goljädkin. „Wir wollen hinüber auf die andere Seite des Newskij gehen, dort wird es bequemer für uns sein, und leichter, in die Nebengasse einzubiegen ... Wir gehen lieber in eine Nebengasse.“ „Schön. Gehen wir in eine Nebengasse,“ sagte schüchtern und bescheiden Herrn Goljädkins Begleiter, als ob er durch den Ton seiner Antwort ausdrücken wollte, daß er in seiner Lage auch mit einer Nebengasse zufrieden sei. Was nun Herrn Goljädkin anbelangt, so begriff er überhaupt nicht mehr, was mit ihm vorging. Er traute sich selber nicht und hatte sich von seinem Erstaunen noch nicht erholt. VII. Er kam erst wieder zu sich, als er sich bereits auf der Treppe zu seiner Wohnung befand. „Ach ich Schafskopf, ich!“ schimpfte er sich selbst in Gedanken, „wohin führe ich ihn jetzt? Ich lege ja selbst meinen Kopf in die Schlinge. Was wird Petruschka sagen, wenn er uns beide zusammen sieht. Was wird dieser Schuft zu denken wagen – und er ist sowieso schon so mißtrauisch ...“ Doch zur Reue war es bereits zu spät. Herr Goljädkin klopfte, die Tür wurde geöffnet und Petruschka nahm seinem Herrn sowie dem Gast die Mäntel ab. Herr Goljädkin schielte mit einem Blick nach Petruschka hin, um in seine Physiognomie einzudringen und womöglich hinter seine Gedanken zu kommen. Doch zu seiner großen Verwunderung sah er, daß sein Diener auch nicht daran dachte, sich zu wundern, sogar im Gegenteil, etwas Derartiges, wie diesen seltsamen Besuch erwartet zu haben schien. Freilich sah er auch jetzt noch recht wie ein Wolf aus, der sich anschickte, jemanden zu fressen. „Sind sie heute nicht alle irgendwie verhext,“ dachte unser Held, „ist es nicht ganz so, als wären sie alle von Dämonen besessen! Etwas Besonderes muß vorgehen oder in der Luft liegen. Zum Teufel, was ist das für eine Qual!“ Mit solchen Gedanken führte Herr Goljädkin seinen Gast ins Zimmer und forderte ihn höflichst auf, sich zu setzen. Der Gast befand sich offenbar in höchster Verwirrung, war sehr schüchtern und folgte gehorsam allen Bewegungen seines Wirtes, fing dessen Blicke auf und bemühte sich scheinbar, seine Gedanken zu erraten. Etwas Gedrücktes, Erniedrigtes und Erschrockenes lag in all seinen Gebärden, so daß er, wenn ein solcher Vergleich gestattet ist, in diesem Augenblick einem Menschen ähnlich sah, der aus Mangel an eigenen Kleidern sich fremder bedient. Die Ärmel sind zu kurz, die Taille sitzt fast unter den Achseln und jeden Augenblick zieht er sich seine zu kurze Weste zurecht: bald dreht er sich zur Seite und scheint sich verstecken zu wollen, bald sieht er wieder allen in die Augen und horcht, ob die Leute nicht über ihn sprechen, über ihn lachen, sich seiner schämen – und der Arme errötet, windet sich in fürchterlichster Verlegenheit, und Ehrgeiz und Selbstgefühl leiden maßlos. Herr Goljädkin legte seinen Hut aufs Fenster – durch eine unvorsichtige Bewegung fiel er auf den Boden. Der Gast stürzte sofort herbei, um ihn aufzuheben, den Staub abzuwischen und ihn auf den früheren Platz zu legen. Seinen eigenen Hut legte er aber neben sich auf den Fußboden und selbst nahm er nur auf dem Rande des Stuhles Platz. Dieser kleine Umstand öffnete Herrn Goljädkin sofort die Augen über ihn. Er begriff, daß der andere großen Mangel litt, und nun wußte er mit einem Mal, wie er das Gespräch mit ihm beginnen sollte. Der Gast seinerseits schwieg immer noch, er wartete scheinbar, sei es nun aus Schüchternheit oder Ehrfurcht, daß der Wirt den Anfang machte – übrigens, mit Bestimmtheit ließ es sich nicht sagen, das war schwer zu entscheiden. In diesem Augenblick trat Petruschka ein, blieb an der Tür stehen, sah aber weder seinen Herrn noch den Gast an, sondern blickte auf die entgegengesetzte Seite. „Befehlen Sie zwei Portionen Mittag zu bringen?“ fragte er nachlässig, mit barscher Stimme. „Ich, ich weiß nicht ... Sie – ja, mein Sohn, bringe zwei Portionen.“ Petruschka ging. Herr Goljädkin blickte seinen Gast an. Dieser errötete bis über die Ohren. Herr Goljädkin war ein guter Mensch, und deshalb, aus Seelengüte, stellte er folgende Theorie auf: „Armer Mensch,“ dachte er, „in seiner Stellung ist er erst einen Tag. Wahrscheinlich hat er in seinem Leben viel gelitten, vielleicht ist das bißchen saubere Kleidung alles was er besitzt und zum Essen reicht es nicht mehr. Wie erbärmlich er aussieht! Nun, tut nichts: das ist einesteils sogar besser so ...“ „Entschuldigen Sie, daß ich ...“ begann Herr Goljädkin, „übrigens, erlauben Sie, zu fragen, wie ich Sie nennen soll?“ „Mich? ... ich heiße ... Jakoff Petrowitsch,“ sagte fast flüsternd der Gast, als hätte er ein schlechtes Gewissen, als schäme er sich, als bäte er um Entschuldigung, daß auch _er_ Jakoff Petrowitsch heiße. „Jakoff Petrowitsch,“ wiederholte unser Held, außerstande, seine Erregung zu verbergen. „Ja, genau so ist es ... Ich bin ein Namensvetter von Ihnen,“ antwortete bescheiden der Gast und wagte schüchtern zu lächeln. Er wollte noch etwas Scherzhaftes sagen, doch unterbrach er sich sofort, nahm eine ernste und unterwürfige Miene an, als er bemerkte, daß sein Wirt nicht zu Scherzen aufgelegt war. „Sie ... erlauben Sie zu fragen, was verschafft mir die Ehre? ...“ „Da ich Ihre Großmütigkeit und Wohltätigkeit kenne,“ unterbrach ihn eilig, doch mit schüchterner Stimme sein Gast und erhob sich ein wenig vom Stuhl, „wagte ich mich an Sie zu wenden und um Ihre Bekanntschaft und Gönnerschaft zu bitten ...“ Er suchte seine Worte stockend zusammen und bemühte sich, nicht allzu schmeichelhafte Ausdrücke zu wählen, wohl um sich vor seinem eigenen Ehrgefühl nicht herabzusetzen – aber auch, um allzu kühne Worte, die eine Gleichstellung beansprucht hätten, zu vermeiden. Überhaupt konnte man sagen, daß sich der Gast des Herrn Goljädkin wie ein wohlanständiger Bettler mit geflicktem Frack und guten Papieren in der Tasche benahm – gleich einem, der noch nicht geübt war, die Hand so auszustrecken, wie es sich vielleicht empfahl. „Sie setzen mich in Verwunderung,“ sagte Herr Goljädkin, sich umsehend, betrachtete dann die Wände und schließlich wieder den Gast. „Worin könnte ich Ihnen ... ich, das heißt ich wollte nur sagen, in welcher Beziehung und womit könnte ich Ihnen nützlich sein?“ „Ich, Jakoff Petrowitsch, ich fühlte mich auf den ersten Blick zu Ihnen hingezogen und: verzeihen Sie mir großmütig, ich hoffte auf Sie – ich wagte zu hoffen, Jakoff Petrowitsch. Ich ... ich bin ein ganz hilfloser Mensch, Jakoff Petrowitsch, ich habe viel durchgemacht, Jakoff Petrowitsch, und will nun wieder von neuem ... Da ich aber erfahren habe, daß Sie – nicht nur diese schönen Seeleneigenschaften besitzen, sondern außerdem noch ein Namensvetter von mir sind ...“ Herr Goljädkin runzelte die Stirn. „... Mein Namensvetter sind und aus derselben Stadt wie ich gebürtig, so beschloß ich, mich an Sie zu wenden und Ihnen meine schwierige Lage vorzustellen.“ „Schön, schön! Ich weiß nur wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll,“ antwortete etwas betroffen Herr Goljädkin. „Nach dem Essen wollen wir sehen ...“ Der Gast verbeugte sich. Man brachte das Mittagessen. Petruschka deckte den Tisch und trug auf. Gast und Wirt begannen es zu verzehren. Das Essen dauerte nicht lange, denn beide beeilten sich. Der Wirt beeilte sich, weil er nicht bei Laune war und obendrein fand, daß das Essen schlecht sei – er fand es zum Teil deshalb, weil er seinen Gast gut bewirten wollte, und zum Teil auch deshalb, weil er ihm zu zeigen gedachte, daß er nicht wie ein Bettler lebte. Und der Gast wiederum befand sich in großer Verlegenheit und Erregung. Nachdem er Brot genommen und ein Stück Fleisch gegessen hatte, fürchtete er sich, die Hand nach einem zweiten und besseren Stück auszustrecken. Er versicherte darum unaufhörlich, daß er durchaus nicht hungrig und daß das Essen sehr gut sei, und daß er sich bis zu seinem Tode daran erinnern werde. Nach dem Essen zündete sich Herr Goljädkin eine Pfeife an und reichte seinem Freunde und Gast eine andere. Beide setzten sich einander gegenüber und der Gast begann seine Erzählung. Die Erzählung des zweiten Herrn Goljädkin dauerte drei bis vier Stunden. Es war die Geschichte seiner Wirrnisse, die sich aus den unbedeutendsten und kläglichsten Umständen zusammensetzte. Es handelte sich um den Dienst bei irgendeiner Behörde in einem Gouvernement, um Staatsanwälte und Präsidenten, es handelte sich um Kanzleiintrigen, handelte von der Verworfenheit eines der Beamten, von einem Revisor und dem plötzlichen Wechsel des Vorgesetzten und davon, wie Herr Goljädkin der Jüngere unter alledem ganz unschuldig zu leiden gehabt hätte. Ferner von seiner alten Tante Pelageja Ssemjonowna, und wie er durch die Intrigen seiner Feinde seine gute Stellung verlor und zu Fuß nach Petersburg kam, wie er hier in Petersburg in Not geriet, lange Zeit hindurch vergeblich eine Stellung suchte, immer mehr und mehr verarmte und zuletzt auf der Straße lebte, hartes Brot aß, das er mit seinen Tränen aufweichte, und nachts auf der Erde schlief. Wie dann endlich ein guter Mensch sich seiner annahm, ihm eine Empfehlung gab und in großmütiger Weise zu der neuen Stellung verhalf. Der Gast weinte bei dieser Erzählung und wischte sich mit einem karierten Taschentuch, das wie ein Wachstuch aussah, in einem fort die Tränen aus den Augen. Er schloß damit, daß er Herrn Goljädkin alles offen mitgeteilt und sich ihm ganz anvertraut habe, weil er nichts zum Leben besitze, noch um sich anständig einzurichten, und nicht einmal eine Uniform anschaffen könne. Auf seine Stiefel dürfe er sich auch nicht mehr verlassen. Die Uniform, die er trage, habe er nur auf Zeit geliehen. Herr Goljädkin war wirklich aufrichtig gerührt. Und obwohl die Geschichte seines Gastes eine ganz gewöhnliche war, legten sich dessen Worte doch wie himmlisches Manna auf seine Seele. Die Sache war nämlich die: Herr Goljädkin verlor durch die Erzählung seine letzten Zweifel, er gab seinem Herzen die Freiheit wieder und nannte sich selbst in Gedanken einen Dummkopf. Alles war ja so natürlich! Wozu hatte er sich so beunruhigt, sich so aufgeregt! Zwar gab es da noch einen peinlichen Umstand, aber auch der war nicht gar so schlimm: er konnte doch den Menschen nicht zugrunde richten und seine Karriere zerstören, wenn der Mensch unschuldig war und die Natur selbst sich hier eingemischt hatte! Außerdem bat ihn der Gast um seinen Schutz, er weinte und klagte sein Schicksal an, er schien so harmlos, ohne Bosheit und Hinterlist und war so erbärmlich und nichtig vor ihm. Er machte sich vielleicht im geheimen selbst Vorwürfe über die Ähnlichkeit seines Gesichtes mit dem seines Wirtes. Er führte sich so vorzüglich auf und suchte seinem Wirte zu gefallen und sah ganz so drein wie ein Mensch, der sich Gewissensbisse macht und sich vor dem anderen schuldig fühlt. Kam die Rede zum Beispiel auf einen strittigen Punkt, so stimmte der Gast sofort der Meinung Herrn Goljädkins bei. Wenn irgendwie aus Versehen seine Meinung von der Meinung Herrn Goljädkins abwich und er es bemerkte, so verbesserte er sich sofort und erklärte alsbald, daß er ganz derselben Meinung sei wie sein Wirt, daß er ganz so denke wie dieser und alles mit denselben Augen ansähe. Kurz, der Gast gab sich die größte Mühe, Herrn Goljädkin zu gefallen, sozusagen in ihm aufzugehen, und Herr Goljädkin wiederum überzeugte sich davon, daß sein Gast in jeder Beziehung ein liebenswürdiger Mensch sei. Es wurde inzwischen Tee gereicht. Es war neun Uhr. Herr Goljädkin war in sehr angenehmer Stimmung, heiter und angeregt, und ließ sich nun in ein sehr lebhaftes und bemerkenswertes Gespräch mit seinem Gast ein. Herr Goljädkin liebte es manchmal, bei heiterer Stimmung etwas Interessantes zu erzählen. So auch jetzt: er erzählte seinem Gast viel aus dem Petersburger Leben, von dessen Schönheit und seinen Vergnügungen, vom Theater, von den Klubs und den schönen Bildern, auch davon, wie zwei Engländer aus England nach Petersburg gekommen seien, nur um sich das Gitter des Sommergartens anzusehen und dann gleich wieder fortzufahren. Auch vom Dienst erzählte er, von Olssuph Iwanowitsch und Andrej Philippowitsch, und davon, daß Rußland von Stunde zu Stunde seiner Größe entgegengehe, daß „die Künste in ihm blühten“; von einer Anekdote, die er neulich in der „Biene“ gelesen, und von den Schlangen Indiens, die außergewöhnliche Kraft hätten; und noch von vielem anderen. Kurz Herr Goljädkin war vollkommen zufrieden. Erstens, weil er jetzt vollkommen ruhig sein konnte; zweitens weil er seine Feinde nun nicht mehr fürchtete, sondern sie am liebsten gleich zum entscheidenden Zweikampf herausgefordert hätte; drittens, weil er selbst als Gönner auftrat und endlich, weil er ein gutes Werk tat. Im Innersten gestand er sich übrigens ein, daß er in diesem Augenblick doch noch nicht ganz glücklich sein konnte, daß in ihm immer noch ein Würmchen steckte, wenn es auch nur ein ganz kleines war, das aber nichtsdestoweniger noch an seinem Herzen nagte. Es quälte ihn auch die Erinnerung an den gestrigen Abend bei Olssuph Iwanowitsch. Er hätte jetzt viel darum gegeben, wenn – dieses Gestern nicht gewesen wäre. „Übrigens, es tut gar nichts!“ schloß endlich unser Held und gab sich das feste Versprechen, sich in Zukunft immer gut aufzuführen und sich nicht mehr selbst in solche Verlegenheiten zu bringen. Da Herr Goljädkin jetzt ganz aus sich herausgegangen war und sich fast glücklich fühlte, so stieg auch in ihm der Wunsch auf, sein Leben zu genießen. Petruschka mußte also einen Rum bringen und Punsch bereiten. Der Gast und der Wirt leerten darauf ein, zwei Gläschen. Der Gast wurde jetzt noch liebenswürdiger als zuvor und zeigte seinerseits nicht nur einen gefälligen und offenen Charakter, sondern ging ganz auf die Stimmung des Herrn Goljädkin ein, freute sich über seine Freude und sah auf ihn, wie auf seinen einzigen und aufrichtigen Wohltäter. Er ergriff die Feder und ein Stück Papier und bat Herrn Goljädkin, nicht zu sehen, was er schreiben werde, und als er darauf geendet hatte, überreichte er dem Gastgeber feierlich das Geschriebene. Es war ein sehr gefühlvoller Vierzeiler, mit schöner Handschrift geschrieben und, wie es schien, vom Gast selbst verfaßt. Er lautete folgendermaßen: Wenn auch du mich je vergißt, Ich vergeß dich nicht; Wechselvoll ist alles Leben, Drum vergiß mich nicht! Mit Tränen in den Augen umarmte Herr Goljädkin seinen Gast und voll von Mitgefühl und Überschwang weihte er ihn in seine verschiedenen großen und kleinen Geheimnisse ein, in denen besonders von Andrej Philippowitsch und Klara Olssuphjewna die Rede war. „Nun, wir beide, Jakoff Petrowitsch, werden uns schon gegenseitig verstehen,“ beteuerte unser Held seinem Gast. „Wir werden miteinander, Jakoff Petrowitsch, wie zwei leibliche Brüder leben, wie zwei Fische im Wasser! Wir, Freundchen, wollen schon schlau sein und ihnen eine Intrige drehen ... und sie ordentlich an der Nase herumführen. Sage aber niemandem etwas davon. Ich kenne ja, Jakoff Petrowitsch, deinen Charakter: du wirst natürlich sofort alles erzählen müssen, du aufrichtige Seele, du! Doch, Brüderchen, halte dich lieber fern von ihnen!“ Der Gast stimmte ihm in allem bei, dankte Herrn Goljädkin und zerfloß in Tränen. „Weißt du, Jascha,“ fuhr Herr Goljädkin mit schwacher, zitternder Stimme fort, „du, Jascha, bleibe jetzt bei mir, wenn du willst – auf immer. Wir werden uns zusammen einleben. Was meinst du, Bruder? Du brauchst dich nicht zu beunruhigen, klage auch nicht, daß zwischen uns ein so sonderbares Verhältnis besteht: zu murren, Freund, ist Sünde; die Natur hat’s so gewollt! Die Mutter Natur ist weise, siehst du, so ist es, Jascha! Ich liebe, ich liebe dich, liebe dich brüderlich, sage ich dir. Aber zusammen, Jascha, da wollen wir ihnen einen Streich spielen.“ So waren sie beim dritten und vierten Glase Punsch und bei der Brüderschaft angelangt, als Herr Goljädkin sich von zwei Empfindungen beherrscht fühlte: die eine war, daß er außergewöhnlich glücklich sei, und die andere – daß er schon nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Der Gast wurde natürlich aufgefordert, bei ihm zu übernachten. Das Bett wurde irgendwie aus zwei Reihen Stühlen hergestellt. Herr Goljädkin der Jüngere erklärte, unter so freundschaftlichem Schutz sei auch auf dem härtesten Lager weich zu schlafen; er befinde sich jetzt wie im Paradiese, zumal er in seinem Leben schon viel Ungemach und Kummer ertragen habe und man auch nicht wissen könne, was ihm noch in Zukunft alles bevorstehe! ... Herr Goljädkin der Ältere protestierte dagegen und fing an, ihm darzulegen, wie man in Zukunft seine Hoffnung auf Gott setzen müsse. Der Gast war natürlich vollkommen mit allem einverstanden: auch damit, daß es nichts Höheres und Größeres gebe als Gott. Darauf bemerkte Goljädkin der Ältere, daß die Türken in mancher Beziehung durchaus recht hätten, mitten im Schlaf sogar den Namen Gottes anzurufen. Im übrigen verteidigte er den türkischen Propheten Mohammed gegen die Verleumdungen mancher Gelehrten und erkannte in ihm einen großen Politiker, bei welcher Gelegenheit er auf einen algerischen Barbier zu sprechen kam, eine Figur aus einem Witzblatt. Wirt und Gast lachten anhaltend über die Gutmütigkeit dieses Türken und konnten sich andererseits nicht genug über den vom Opium erzeugten Fanatismus der Türken wundern. Endlich begann der Gast sich zu entkleiden und Herr Goljädkin begab sich hinter den Verschlag, zum Teil aus Gutmütigkeit, um seinen Gast, diesen vom Unglück verfolgten Menschen, nicht in Verlegenheit zu setzen, im Falle er nicht im Besitze eines ordentlichen Hemdes sein sollte – zum Teil auch, um mit Petruschka zu sprechen, ihn aufzumuntern und auch ihm womöglich etwas von seinem Glück mitzuteilen. Es muß gesagt werden, daß Petruschka ihn immer noch beunruhigte. „Du, Pjotr, lege dich schlafen!“ sagte Herr Goljädkin milde, als er in den Verschlag seines Dieners eintrat, „du lege dich jetzt schlafen, morgen aber um acht Uhr mußt du mich wecken. Hast du verstanden, Petruschka?“ Herr Goljädkin sprach ungemein zärtlich und milde zu ihm, aber Petruschka schwieg. Er machte sich an seinem Bett zu schaffen und wandte sich nicht einmal nach seinem Herrn um, wie es sich doch gehört hätte. „Hast du gehört, Pjotr?“ fuhr Herr Goljädkin fort. „Du legst dich jetzt zu Bett und morgen, Petruschka, wirst du mich um acht Uhr wecken; hast du mich verstanden?“ „Schon gut, schon gut!“ antwortete Petruschka. „Nun, nun, Petruschka, ich sage ja nur so, damit du ruhig und zufrieden bist. Denn, sieh, wir sind jetzt alle miteinander glücklich und ich wünsche, daß du es auch sein mögest. Ich wünsche dir jetzt eine gute Nacht, schlafe wohl, Petruschka, schlafe wohl. Wir alle müssen arbeiten. Du, Freund, denke nicht etwa, daß ich ...“ Herr Goljädkin brach plötzlich ab. „Bin ich nicht zu weit gegangen?“ dachte er. „So ist es immer, ich gehe immer zu weit.“ Unser Held verließ Petruschka sehr unzufrieden mit sich selbst. Die Grobheit und Ungezogenheit Petruschkas hatten ihn beleidigt. „Dieser Schelm, sein Herr erweist ihm solche Ehre und er empfindet das nicht einmal,“ dachte Herr Goljädkin. „Übrigens ist das bei dieser Sorte immer so!“ Er wankte ein wenig, als er ins Zimmer zurückkehrte, und da er sah, daß der Gast sich bereits hingelegt hatte, setzte er sich auf einen Augenblick zu ihm aufs Bett. „Gestehe es doch ein, Jascha,“ begann er flüsternd mit wackelndem Kopf: „Du bist doch ein Taugenichts! Du bist ein Namensdieb, weißt du das auch? ... Das bist du mir schuldig!“ fuhr er in familiärem Tone fort, sich mit seinem Gast zu unterhalten. Schließlich verabschiedete er sich freundschaftlich von ihm, um selbst auch schlafen zu gehen. Der Gast hatte mittlerweile bereits zu schnarchen begonnen. Herr Goljädkin legte sich lächelnd ins Bett und murmelte vor sich hin: „Nun, heute bist du betrunken, mein Täubchen, Jakoff Petrowitsch, ein Taugenichts bist du, ein Hungerleider – dein Name sagt es schon!! Worüber hast du dich denn so zu freuen? Morgen wirst du dafür weinen, du Affe: was ist mit dir denn zu machen?“ Nun aber überkam ihn ein ganz sonderbares Gefühl, ähnlich wie Zweifel und Bedauern. „Bist zu weit gegangen,“ dachte er, „jetzt brummt mir der Kopf und ich bin betrunken ... und konntest nicht an dich halten, du Dummkopf, und hast drei Körbe voll Blech geredet, und dabei willst du noch feine Intrigen spinnen, du Esel! Freilich, Großmut und Vergeben ist eine Tugend, doch immerhin: es steht schlimm mit dir! Da liegt er nun!“ Und Herr Goljädkin stand auf, nahm das Licht in die Hand und ging auf den Fußspitzen noch einmal an das Bett, um seinen schlafenden Gast zu betrachten. Lange stand er da, in tiefes Nachdenken versunken: „Ein unangenehmes Bild das! Geradezu ein Pasquill! Ein leibhaftiges Pasquill! Oh, die Sache hat einen Haken!“ Doch endlich legte sich auch Herr Goljädkin schlafen. In seinem Kopf rumorte es. Seine Sinne schwanden ihm, er bemühte sich, noch an etwas sehr Interessantes zu denken, etwas sehr Wichtiges zu entscheiden, über eine sehr kitzliche Sache zu einem Urteil zu gelangen – aber er konnte nicht mehr. Der Schlaf nahm sein Haupt, und so schlief er denn fest ein, wie gewöhnlich Leute schlafen, die zu trinken nicht gewohnt sind und plötzlich fünf Gläser Punsch in angenehmer Gesellschaft getrunken haben. VIII. Wie gewöhnlich, erwachte Herr Goljädkin am anderen Tage um acht Uhr. Sofort erinnerte er sich aller Begebenheiten des vergangenen Abends – erinnerte sich, und sein Gesicht wurde finster. „Habe ich mich aber gestern wie ein Dummkopf benommen!“ dachte er, erhob sich ein wenig und sah zu dem Bette seines Gastes hinüber. Doch wie groß war sein Erstaunen, als er weder den Gast noch das Bett im Zimmer erblickte! „Was hat denn das zu bedeuten?“ hätte Goljädkin beinahe laut aufgeschrien. „Was soll denn das heißen? Was hat denn das wieder zu bedeuten?“ Während Herr Goljädkin, ohne etwas zu begreifen, mit offenem Munde auf die leere Stelle starrte, öffnete sich die Tür und Petruschka trat mit dem Teebrett ins Zimmer. „Wo ist er, wo ist er?“ brachte unser Held mit kaum hörbarer Stimme hervor und wies mit dem Finger auf die leere Stelle. Zuerst antwortete ihm Petruschka gar nicht, er sah nicht einmal seinen Herrn an, sondern wandte seine Augen nur stumm in die rechte Ecke des Zimmers, so daß Herr Goljädkin auch gezwungen wurde, rechts in die Ecke zu sehen. Erst nach einigem Schweigen erwiderte Petruschka mit rauher und grober Stimme: „Der Herr ist nicht zu Haus.“ „Du Dummkopf, ich bin doch dein Herr, Petruschka!“ sagte Herr Goljädkin ratlos und starrte seinen Diener mit großen Augen an. Petruschka schwieg, doch blickte er Herrn Goljädkin in einer Weise an, daß dieser bis über die Ohren errötete. In seinem Blick lag ein so beleidigender Vorwurf, der Schimpfworten gleich war. Herr Goljädkin ließ die Hände sinken und sagte kein Wort. Endlich bemerkte Petruschka, der _andere_ sei vor anderthalb Stunden bereits ausgegangen und habe nicht mehr warten wollen. Die Auskunft klang sehr wahrscheinlich und glaubwürdig; offenbar belog ihn Petruschka nicht, denn was seinen beleidigenden Blick und die Bezeichnung _der andere_ anbetraf, so waren diese wohl durch einen unangenehmen Umstand veranlaßt worden. Herr Goljädkin begriff denn auch, wenn auch nur dunkel, daß hier etwas nicht in Ordnung war, und daß das Schicksal ihm etwas vorzubehalten schien, das nicht angenehm war. „Gut, wir werden sehen,“ dachte er bei sich, „wir werden sehen und werden daran glauben müssen ... Ach, du grundgütiger Gott!“ stöhnte er plötzlich mit ganz veränderter Stimme, „oh, warum habe ich ihn aufgefordert, weshalb habe ich das alles getan? Ich habe selbst den Kopf in die Schlinge gelegt, und habe mir dazu noch die Schlinge mit eigenen Händen gedreht. Ach, du Dummkopf, du Dummkopf! Und du konntest auch nichts anderes tun, als dich verplappern wie ein kleiner Junge, wie irgend so ein Kanzlist, wie ein rangloser Lump, wie ein weicher Lappen, ein verfaulter Lumpen, du Schwätzer, du! ... Ach, ihr meine Heiligen! Gedichte hat der Schelm gemacht, von seiner Liebe zu mir gesprochen! Wie ist das nur alles möglich gewesen ... Wie kann ich diesem Lumpen nun auf anständige Weise die Tür weisen, wenn er zurückkommen sollte? Versteht sich, es gibt ja verschiedene Möglichkeiten: So und so, bei meinem geringen Gehalt ... oder, man kann ihm auch Furcht einjagen, kann sagen, aus Rücksicht auf dieses und jenes sei ich genötigt, ihm zu erklären ... das heißt, er solle die Hälfte für Wohnung und Kost bezahlen und das Geld im voraus abgeben! Hm! Zum Teufel, nein, das wäre gemein. Nicht zartfühlend genug! Oder, wäre es nicht vielleicht besser, Petruschka auf ihn loszulassen, so daß der es ihm einsalzte, ihn vernachlässigte und angrobte? um ihn auf diese Art los zu werden?! Man müßte sie aufeinanderhetzen ... Nein, zum Teufel auch, nein! Das wäre gefährlich, und dann auch, von dem Standpunkte aus betrachtet ... nun, durchaus nicht schön! Durchaus, durchaus nicht schön! Aber, wenn er jetzt nun gar nicht wiederkommt? Auch das wäre nicht angenehm. Habe mich doch gestern abend so verplappert! ... Das ist schlimm, wirklich schlimm! Ach, das ist eine schöne Geschichte, oh, ich Dummkopf! Kannst du nicht endlich lernen, wie du dich zu benehmen hast, kannst du dich nicht endlich beherrschen! Nun, wenn er jetzt kommt und absagt? Gebe Gott, daß er kommt! Ich wäre ja selig, wenn er nur käme ...“ So philosophierte Herr Goljädkin, trank dabei seinen Tee und sah nach der Wanduhr. „Es ist bereits drei Viertel auf neun, ... es ist Zeit, zu gehen. Aber was wird nun werden! Was wird geschehen? Ich würde gar zu gern wissen, was wohl eigentlich dahintersteckt ... – wozu alle diese Ränke und Intrigen dienen sollen? Es wäre gut, zu wissen, was eigentlich alle diese Leute denken und welche Schritte sie tun wollen ...“ Herr Goljädkin konnte sich vor Ungeduld nicht mehr beherrschen, er warf die Pfeife fort, zog sich an und begab sich in das Departement – mit dem Wunsche, wenn möglich, die Gefahr selbst aufzusuchen und sich persönlich zu vergewissern. Denn eine Gefahr gab es: das wußte er genau, eine Gefahr gab es!!! „Aber wir wollen sie sehen ... und unterkriegen,“ beschloß Herr Goljädkin, während er im Vorraum Galoschen und Mantel ablegte. „Wir werden diesen Dingen sofort auf den Grund kommen, sofort!“ Entschlossen, irgendwie zu handeln, nahm unser Held eine würdige Miene an und war eben im Begriff, in das nächstliegende Zimmer einzutreten, als er plötzlich noch an der Tür auf seinen Bekannten und Busenfreund stieß. Herr Goljädkin der Jüngere schien jedoch Herrn Goljädkin den Älteren gar nicht zu bemerken, obgleich sie fast mit den Nasen aufeinander rannten. Herr Goljädkin der Jüngere schien offenbar sehr beschäftigt zu sein, er hatte es eilig, wurde ganz rot, nahm eine sehr geschäftige und offizielle Miene an, so daß ihm jeder am Gesicht ablesen konnte: „scht, ich bin kommandiert zu ganz besonderen Aufträgen ...“ „Ah, Sie sind’s, Jakoff Petrowitsch!“ sagte unser Held und griff nach der Hand seines gestrigen Gastes. „Nachher, nachher, entschuldigen Sie mich, nachher,“ rief Herr Goljädkin der Jüngere, und wollte davoneilen. „Aber, erlauben Sie, Sie wollten doch, Jakoff Petrowitsch ...“ „Was wollte ich? Erklären Sie sich schnell.“ Dabei blieb der gestrige Gast des Herrn Goljädkin widerstrebend vor diesem stehen und neigte sein Ohr zur Nase des anderen. „Ich wollte Ihnen nur sagen, Jakoff Petrowitsch, daß ich sehr erstaunt bin – über den Empfang ... einen Empfang, den ich durchaus nicht erwartet habe.“ „Alles hat seinen Weg. Gehen Sie zum Sekretär Seiner Exzellenz, und darauf begeben Sie sich, wie es sich gehört, zum Chef der Kanzlei. Sie haben wohl eine Bittschrift? ...“ „Ich verstehe Sie nicht, Jakoff Petrowitsch! Sie setzen mich einfach in Erstaunen, Jakoff Petrowitsch! Wahrscheinlich haben Sie mich nicht wiedererkannt oder Sie belieben zu scherzen ... – bei der angeborenen Heiterkeit Ihres Charakters.“ „Ach, das sind Sie!“ sagte Herr Goljädkin der Jüngere, als hätte er erst jetzt Herrn Goljädkin den Älteren erkannt, – „ja so, Sie sinds? Nun, wie haben Sie geruht?“ Herr Goljädkin der Jüngere lächelte ein wenig, ein wenig offiziell, und zwar durchaus nicht, wie es sich gehörte (denn auf jeden Fall hätte er Herrn Goljädkin dem Älteren seine Dankbarkeit beweisen sollen), er aber lächelte nur sehr formell und offiziell und fügte dabei hinzu, daß er seinerseits sehr froh darüber sei, daß Herr Goljädkin so gut geruht habe. Dann verneigte er sich etwas, bewegte sich hin und her, sah nach rechts, nach links, senkte die Augen zu Boden, wandte sich nach der Seitentür, flüsterte ihm eilig zu, daß er einen „ganz besonderen Auftrag“ habe, und schlüpfte ins nächste Zimmer. Kaum gesehen – war er schon verschwunden. „Da haben wir’s, das ist nicht übel! ...“ murmelte unser Held, einen Augenblick starr vor Verwunderung, „da haben wir’s! Also so stehen die Sachen! ...“ Herr Goljädkin fühlte, wie ihm ein Kribbeln über den Körper lief. „Übrigens,“ fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, „übrigens habe ich das längst gewußt, ich habe es ja längst vorausgefühlt, daß er in einem besonderen Auftrag ... nämlich, gestern sagte ich’s noch, daß dieser Mensch in einem besonderen Auftrage ...“ „Haben Sie Ihre gestrigen Papiere fertiggestellt, Jakoff Petrowitsch?“ fragte ihn Anton Antonowitsch Ssjetotschkin, als Herr Goljädkin sich neben ihn setzte, „haben Sie sie hier?“ „Hier,“ flüsterte Herr Goljädkin, der den Bureauvorsteher ganz verloren anschaute. „So, so! Ich fragte darum, weil Andrej Philippowitsch bereits zweimal nach ihnen verlangte, und weil es möglich, daß Seine Exzellenz sie jeden Augenblick einfordern werden ...“ „Sie sind fertig ...“ „Nun, gut, gut.“ „Ich, Anton Antonowitsch, habe doch immer meine Schuldigkeit getan, so wie es sich gehört, und, erfreut über die mir anvertrauten Arbeiten, wie ich zu sein pflege, beschäftige ich mich mit ihnen gewissenhaft.“ „Ja ... nun ... was wollen Sie denn damit sagen?“ „Ich? Nichts, Anton Antonowitsch. Ich wollte nur erklären, Anton Antonowitsch, daß ich ... das heißt, ich wollte sagen, daß mitunter Neid und Bosheit niemanden verschonen und sich ihre tägliche, abscheuliche Beute suchen ...“ „Entschuldigen Sie, ich verstehe Sie nicht ganz. Das heißt, auf wen wollen Sie anspielen?“ „Das heißt, ich wollte nur sagen, Anton Antonowitsch, daß ich meinen Weg gerade gehe und einen krummen Weg verabscheue, daß ich kein Intrigant bin, und daraus, wenn es erlaubt ist, sich so auszudrücken, gerechterweise stolz sein kann ...“ „Ja–a. Das stimmt, wenigstens kann ich, so wie ich darüber denke, Ihrer Meinung vollständig zustimmen: doch erlauben Sie mir, Jakoff Petrowitsch, zu bemerken, daß es einem Menschen in guter Gesellschaft nicht erlaubt ist, einem alles ins Gesicht zu sagen – wenn Sie das zu tun wünschen, nun, so ist es Ihr freier Wille. Ich aber, mein Herr, lasse mir keine Unverschämtheiten ins Gesicht sagen. Ich, mein Herr, bin im kaiserlichen Dienst grau geworden und erlaube mir auf meine alten Tage auch keine Frechheiten ... –“ „Ne–i–n, ich, Anton Antonowitsch, sehen Sie, Anton Antonowitsch, Sie scheinen, Anton Antonowitsch, mich nicht ganz verstanden zu haben. Erbarmen Sie sich, Anton Antonowitsch, ich kann meinerseits nur auf Ehre versichern, daß ...“ „Ich muß, ebenfalls meinerseits, mich zu entschuldigen bitten. Ich bin nach alter Art erzogen, und es ist für mich zu spät, nach Ihrer Art umzulernen. Für den Dienst des Vaterlandes war mein Verständnis, wie es scheint, bis jetzt genügend. Wie Sie selbst wissen, mein Herr, besitze ich das Ehrenzeichen – für fünfundzwanzigjährige untadelhafte Dienstzeit ...“ „Ich verstehe, Anton Antonowitsch, ich verstehe das meinerseits vollkommen. Aber nicht das habe ich gemeint, ich habe von der Maske gesprochen, Anton Antonowitsch ...“ „Von der Maske?“ „Das heißt, Sie scheinen wieder ... ich fürchte, Anton Antonowitsch, daß Sie auch hier meine Gedanken anders auffassen, den Sinn meiner Rede, wie Sie selbst sagen, anders auffassen. Ich entwickele ja nur meine Anschauung, habe die Idee, Anton Antonowitsch, daß es jetzt selten Leute ohne Maske gibt, und daß es schwer ist, unter der Maske einen Menschen zu erkennen ...“ „N–u–n, wissen Sie, das ist nicht immer so schwer. Manchmal ist es sogar sehr leicht und man braucht nicht weit zu suchen.“ „Nein, wissen Sie, Anton Antonowitsch, ich behaupte ja nur für meine Person, daß ich mich nie einer Maske bedienen würde, oder doch nur, wenn es die Gelegenheit verlangte, zum Karneval oder sonst in heiterer Gesellschaft, daß ich mich aber vor Leuten im täglichen Leben, im übertragenen Sinne gesprochen, niemals maskieren würde. Das ist es, was ich sagen wollte, Anton Antonowitsch.“ „Nun, lassen wir das jetzt, ich habe offen gestanden jetzt keine Zeit dazu,“ sagte Anton Antonowitsch, der von seinem Stuhle aufstand und einige Papiere zur Meldung bei Seiner Exzellenz zusammenlegte. „Ihre Sache wird sich, wie ich voraussetze, ohne Verzögerung von selbst aufklären. Sie werden selbst sehen, wen Sie anzuklagen und wen Sie zu beschuldigen haben, mich aber bitte ich, mit weiteren privaten und den Dienst beeinträchtigenden Unterhaltungen zu verschonen ...“ „Nein, ich ... Anton Antonowitsch,“ rief Herr Goljädkin, ein wenig erbleichend, dem sich entfernenden Anton Antonowitsch noch nach, „ich, Anton Antonowitsch, habe an dergleichen überhaupt nicht gedacht ...“ „Was hat denn das wieder zu bedeuten?“ sagte Herr Goljädkin zu sich selbst, als er allein geblieben war. „Woher weht denn dieser Wind, und was soll denn dieser neue Winkelzug wieder bringen?“ In demselben Augenblick, als unser verdutzter und halbtoter Held sich vorbereitete, diese neue Frage zu beantworten, hörte man im Nebenzimmer ein Geräusch und kurze Zeit darauf geschäftige Bewegung. Die Tür wurde aufgerissen und Andrej Philippowitsch, der soeben in Dienstangelegenheiten im Kabinett Seiner Exzellenz gewesen war, erschien aufgeregt in der Tür und rief nach Herrn Goljädkin. Herr Goljädkin, der wohl wußte, um was es sich handelte und der Andrej Philippowitsch nicht warten lassen wollte, sprang von seinem Platz und bereitete sich vor, so wie es sich gehörte, das verlangte Papier noch einmal schnell zu überfliegen, um es dann selbst zu Andrej Philippowitsch und ins Kabinett seiner Exzellenz zu tragen. Plötzlich aber schlüpfte, an Andrej Philippowitsch vorüber, Herrn Goljädkin der Jüngere durch die Tür und stürzte sich, kaum daß er im Zimmer war, mit wichtiger und sehr geschäftiger Miene geradeaus auf Herrn Goljädkin den Älteren, der alles eher erwartete, als einen solchen Überfall ... „Die Papiere, Jakoff Petrowitsch, die Papiere ... Seine Exzellenz geruht, Sie zu fragen, ob sie fertig sind?“ flüsterte eilig und kaum hörbar der Freund Herrn Goljädkins des Älteren. „Andrej Philippowitsch erwartet Sie ...“ „Ich weiß schon, daß er mich erwartet,“ entgegnete ihm Herr Goljädkin der Ältere gleichfalls eilig und flüsternd. „Nein, Jakoff Petrowitsch: ich bin nicht so, Jakoff Petrowitsch, ich bin ganz anders, Jakoff Petrowitsch, und nehme herzlich Anteil ...“ „Womit ich Sie ergebenst bitte, mich zu verschonen. Erlauben Sie, erlauben Sie, bitte ...“ „Sie müssen auf jeden Fall einen Umschlag herumlegen, Jakoff Petrowitsch, und in die dritte Seite legen Sie ein Zeichen, Jakoff Petrowitsch ...“ „Aber so erlauben Sie mir doch endlich ...“ „Hier ist doch ein Tintenfleck, Jakoff Petrowitsch! Haben Sie den Tintenfleck bemerkt? ...“ Jetzt rief Andrej Philippowitsch schon zum zweitenmal nach Herrn Goljädkin. „Sofort, Andrej Philippowitsch, nur noch einen Augenblick, hier, gleich ... werter Herr, verstehen Sie kein Russisch?“ „Am besten wäre es, ihn mit dem Federmesser auszukratzen, Jakoff Petrowitsch, überlassen Sie es lieber mir: rühren Sie selbst lieber gar nicht daran, Jakoff Petrowitsch, verlassen Sie sich ganz auf mich, ich werde mit dem Federmesser ...“ Andrej Philippowitsch rief zum dritten Male nach Herrn Goljädkin. „Aber hören Sie, wo ist denn da ein Tintenfleck? Ich sehe hier überhaupt nichts ...“ „Und sogar ein sehr großer Tintenfleck, hier, sehen Sie, hier! Erlauben Sie, ich habe ihn soeben gesehen, hier, erlauben Sie ... Wenn Sie mir nur erlauben wollten, Jakoff Petrowitsch, ich würde hier schon aus Mitgefühl mit dem Federmesser, Jakoff Petrowitsch, mit dem Messer und aus aufrichtigem Herzen ... sehen Sie, so, so muß man’s tun ...“ Plötzlich und ganz unerwartet vergewaltigte Herr Goljädkin der Jüngere Herrn Goljädkin den Älteren in einem sekundenlangen Kampfe, der sich zwischen ihnen entspann: und entschieden ganz gegen den Willen des letzteren nahm er das vom Vorgesetzten verlangte Papier, und statt aus aufrichtigem Herzen den Tintenfleck mit dem Messerchen zu entfernen, wie er treulos Herrn Goljädkin dem Älteren versichert hatte – riß er plötzlich die verlangten Papiere an sich, steckte sie unter den Arm, war in zwei Sätzen neben Andrej Philippowitsch, der von alledem nichts bemerkt hatte, und flog mit ihm ins Kabinett seines Chefs. Herr Goljädkin der Ältere stand versteinert da an seinem Platz, in den Händen das Federmesser, als ob er soeben etwas radieren wollte ... Unser Held begriff diese neue Tatsache nicht sofort. Er konnte noch nicht zu sich kommen. Er fühlte wohl den Schlag, konnte sich aber über seine Folgen nicht klar werden. In schrecklicher und ganz unbeschreiblicher Verzweiflung riß er sich endlich von der Stelle los und stürzte gleichfalls geradeaus ins Kabinett seines Chefs, indem er unterwegs den Himmel anflehte, es möge sich alles dort zum besten wenden ... Im letzten Zimmer vor dem Kabinett des Chefs stieß er mit Andrej Philippowitsch und seinem Namensvetter fast mit der Nase zusammen. Beide kehrten schon zurück. Herr Goljädkin trat zur Seite. Andrej Philippowitsch sprach heiter und vergnügt. Der Namensvetter Herrn Goljädkins des Älteren lächelte gleichfalls, lief in ehrfurchtsvoller Entfernung neben ihm her und flüsterte mit seliger Miene Andrej Philippowitsch etwas ins Ohr, worauf Andrej Philippowitsch wohlwollend seinen Kopf hin und her wiegte. Sofort begriff unser Held die Situation. Tatsache war, daß seine Arbeit, wie er nachher erfuhr, die Erwartungen Seiner Exzellenz noch übertroffen hatte und gerade zur rechten Zeit vorgelegt worden war. Seine Exzellenz waren äußerst zufrieden damit, und man sagte sogar, er habe sich bei Herrn Goljädkin dem Jüngeren dafür bedankt: man sagte, er würde bei Gelegenheit nicht vergessen ... – Natürlich, das erste, was Herr Goljädkin tun mußte, war – protestieren, aus allen Kräften protestieren, bis zum äußersten protestieren. Ohne sich zu besinnen, bleich wie der Tod, stürzte er sich auf Andrej Philippowitsch. Doch nachdem Andrej Philippowitsch vernommen hatte, daß die Angelegenheit eine Privatsache des Herrn Goljädkin sei, weigerte er sich, ihm Gehör zu schenken, mit der entschiedenen Bemerkung, er habe kaum für seine eigenen Angelegenheiten einen Augenblick Zeit übrig. Die Trockenheit des Tones und die Entschiedenheit der Abweisung wirkten auf Herrn Goljädkin niederschmetternd. „Besser, ich versuche es von einer anderen Seite ... besser, ich gehe zu Anton Antonowitsch.“ Zum Unglück für Herrn Goljädkin war jedoch auch Anton Antonowitsch nicht zu sprechen: auch er war irgendwie beschäftigt! „Nicht ohne Absicht bat er mich, ihn mit Erklärungen und Gesprächen zu verschonen,“ dachte unser Held. „In dem Falle bleibt mir nichts anderes übrig, als Seine Exzellenz selbst anzurufen.“ Immer noch ganz bleich und verwirrt, wobei ihm der Kopf rund ging, wußte Herr Goljädkin nicht, wozu er sich entschließen sollte, und setzte sich an seinen Tisch. „Es wäre viel besser, wenn das alles nicht wäre,“ dachte er ununterbrochen bei sich selbst. „In der Tat dürfte eine so verwickelte, dunkle Geschichte gar nicht möglich sein. Erstens ist das alles Unsinn, und zweitens ist so etwas überhaupt nicht möglich. Wahrscheinlich hat mir alles nur so geschienen, oder es geschah in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Wahrscheinlich war ich es selbst, der hinging ... und habe mich für den anderen gehalten ... kurz und gut – es ist eine ganz unmögliche Geschichte.“ Kaum war Herr Goljädkin zu diesem Schluß gekommen, als Herr Goljädkin der Jüngere, beladen mit Papieren, die er in beiden Händen und unter dem Arme trug, ins Zimmer flog. Im Vorbeigehen machte er Andrej Philippowitsch ein paar notwendige Bemerkungen, unterhielt sich mit noch jemandem, sagte sogar einem dritten Liebenswürdigkeiten, und da Herr Goljädkin der Jüngere offenbar keine Zeit zu verschwenden hatte, wollte er aller Wahrscheinlichkeit nach das Zimmer sofort wieder verlassen, als er zum Glück Herrn Goljädkins des Älteren an der Tür mit ein paar jungen Beamten zusammenstieß und im Vorbeigehen auch mit ihnen zu sprechen begann. Herr Goljädkin der Ältere stürzte geradewegs auf ihn zu. Als Herr Goljädkin der Jüngere das Manöver des Herrn Goljädkin des Älteren bemerkte, blickte er mit großer Unruhe um sich, suchte, wohin er sich am schnellsten verkriechen könnte. Doch unser Held hatte seinen gestrigen Freund bereits am Ärmel gepackt. Die Beamten drängten sich um die beiden Titularräte und warteten gespannt, was nun kommen würde. Der Ältere begriff sehr wohl, daß die Stimmung jetzt gegen ihn war, begriff, daß sie alle gegen ihn intrigierten. Um so mehr mußte er sich selbst beherrschen ... Der Augenblick war entscheidend. „Nun?“ fragte Herr Goljädkin der Jüngere Herrn Goljädkin den Älteren, ihn dreist anschauend. Herr Goljädkin der Ältere wagte kaum zu atmen. „Ich weiß nicht, mein Herr,“ begann er, „wie ich Ihr sonderbares Betragen zu mir erklären soll.“ „Nun, fahren Sie fort, mein Herr.“ Herr Goljädkin der Jüngere sah dabei im Kreise um sich und zwinkerte den anderen Beamten zu, als gäbe er ihnen das Zeichen, daß jetzt die Komödie beginne. „Die Unverschämtheit Ihres Benehmens, mein verehrter Herr, spricht im vorliegenden Falle noch mehr gegen Sie ... als es meine Worte tun könnten. Hoffen Sie nicht, Ihr Spiel zu gewinnen: es steht schlecht ...“ „Nun, Jakoff Petrowitsch, jetzt sagen Sie mir mal, wie Sie geschlafen haben?“ antwortete Herr Goljädkin der Jüngere und sah Herrn Goljädkin dem Älteren gerade in die Augen. „Sie, verehrter Herr, vergessen sich vollständig,“ sagte der Ältere vollständig fassungslos und fühlte dabei kaum mehr den Boden unter den Füßen. „Ich hoffe, daß Sie Ihren Ton ändern werden ...“ „Mein Lieber!“ erwiderte Herr Goljädkin der Jüngere, schnitt Herrn Goljädkin dem Älteren eine ziemlich unehrerbietige Grimasse und kniff ihn plötzlich ganz unerwartet mit seinen beiden Fingern in seine ziemlich dicke rechte Backe. Unser Held fuhr auf wie ein Feuerbrand. Kaum hatte jedoch der Freund des Herrn Goljädkin bemerkt, daß sein Gegner an allen Gliedern zitterte, dabei stumm vor Verwunderung und rot wie ein Krebs war, und so, bis zum Äußersten gebracht, sich zu einem Überfall auf ihn entschließen wollte – als er ihm auf die allerunverschämteste Weise zuvorkam. Er klopfte Herrn Goljädkin noch zweimal auf die Backe, kniff sie noch einmal, und spielte so mit ihm sein Spiel, während der andere immer noch unbeweglich und sprachlos vor Erstaunen dastand, zum nicht geringen Ergötzen der um sie herumstehenden Beamtenschaft. Herr Goljädkin der Jüngere, mit seiner schamlosen Seele ging noch weiter, er klopfte schließlich Herrn Goljädkin den Älteren auf den vollen Magen und sagte dazu mit einem giftigen Lächeln: „Mach’ keine dummen Streiche, mein Lieber, keine dummen Streiche, Jakoff Petrowitsch! Wir wollten ja zusammen Intrigen spinnen, Jakoff Petrowitsch, Intrigen.“ Noch bevor unser Held nach dieser letzten Attacke zu sich kommen konnte, lächelte Herr Goljädkin der Jüngere den Umstehenden verständnisinnig zu, setzte eine sehr geschäftige Miene auf, schlug die Augen zu Boden, kugelte sich wie ein Igel zusammen, murmelte etwas über „einen besonderen Auftrag“, trippelte mit seinen kurzen Füßen davon und verschwand im Nebenzimmer. Unser Held traute seinen Augen nicht und konnte vor Erstaunen noch immer nicht zu sich kommen ... Endlich erst, als er dann zu sich kam, wurde ihm klar, daß er beleidigt war, in gewissem Sinne verloren – daß sein Ruf beschmutzt und befleckt, er selbst in Gegenwart von anderen lächerlich gemacht worden war, beschimpft von demjenigen, von dem er gestern noch gehofft hatte, daß er sein einziger, bester Freund werden würde, und er erkannte, daß er sich vor der ganzen Welt blamiert hatte, und als ihm das so recht zum Bewußtsein gekommen war, da besann er sich nicht lange, sondern – stürzte seinem Feinde nach, ohne auch nur an die Zeugen seiner Erniedrigung zu denken. „Sie alle stecken miteinander unter einer Decke,“ dachte er bei sich, „einer steht für den anderen und einer hetzt den anderen gegen mich auf.“ Doch kaum hatte unser Held die ersten zehn Schritte gemacht, als er einsah, daß jede Verfolgung umsonst war. Deshalb kehrte er um. „Du wirst mir nicht entkommen,“ dachte er, „du kommst mir noch in die Falle und wirst als Wolf Lämmertränen weinen!“ Mit wütender Kaltblütigkeit und mit entschlossener Energie ging Herr Goljädkin zu seinem Stuhl und setzte sich auf ihn nieder. „Du wirst mir nicht entkommen,“ wiederholte er noch einmal. Jetzt handelte es sich bei ihm nicht mehr um eine passive Verteidigung, seine Haltung sah nach Entschlossenheit aus, und wer Herrn Goljädkin in diesem Augenblick sah, wie er puterrot und kaum seiner Erregung mächtig seine Feder ins Tintenfaß steckte, und mit welcher Wut er seine Zeilen aufs Papier warf, der mußte wohl im voraus begreifen, daß diese Sache nicht so einfach verlaufen würde. In der Tiefe seiner Seele faßte er einen Entschluß und in der Tiefe seines Herzens schwor er sich, ihn auch auszuführen. Dabei wußte er aber noch gar nicht so recht, wie er hier vorgehen sollte, besser gesagt, er wußte überhaupt noch nichts Bestimmtes – aber das Einzelne, meinte er, das war ja gleichgültig! „Mit Anmaßung und Unverschämtheit, verehrter Herr, richten Sie in unserer Zeit nichts aus. Anmaßung und Unverschämtheit, mein verehrter Herr, führen nicht zum Guten, sondern zum Galgen. Nur Grischka Otrepieff[14] allein, mein Herr, erdreistete sich, das blinde Volk durch Anmaßung und Unverschämtheit zu betrügen, und auch das gelang ihm nur auf sehr, sehr kurze Zeit.“ Ungeachtet des letzteren Umstandes beschloß Herr Goljädkin, zu warten, bis die Maske von manchen Gesichtern fallen und alles aufgedeckt werden würde. Dazu mußten aber die Kanzleistunden erst zu Ende gehen. Bis dahin wollte unser Held nichts unternehmen. Dann aber würde er zu Maßregeln greifen – dann würde er wissen, was er zu tun hatte. Dann würde er wissen, welcher Plan zu entwerfen war, um den „Hochmut zu fällen“ und die „kriechende Schlange ohnmächtig in den Staub zu treten“. Er konnte es doch nicht erlauben, daß man ihn wie einen Lappen behandelte, mit dem man schmutzige Stiefel reinigt! Das konnte er sich doch unmöglich gefallen lassen, besonders in diesem Falle nicht! Wäre unserem Helden nicht dieser letzte Schimpf angetan worden, vielleicht hätte er sich doch noch entschließen können, sich zu überwinden und zu schweigen, oder wenigstens nicht so erbittert zu handeln. Er hätte sich dann vielleicht nur ein wenig herumgestritten und klar bewiesen, daß er in seinem Recht sei, hätte schließlich, wenn auch zuerst nur ein wenig, nachgegeben, und dann noch ein wenig nachgegeben, und sich am Ende überhaupt mit ihnen ausgesöhnt – besonders wenn ihm seine Gegner feierlich zugestanden hätten, daß er in seinem Recht sei. Daraufhin würde er sich ganz sicher ausgesöhnt haben und vielleicht, wer konnte es wissen, vielleicht wäre daraus eine neue Freundschaft entstanden, eine heiße, starke Freundschaft, eine viel, viel größere Freundschaft, als die gestrige, eine, durch die diese gestrige ganz verdunkelt worden wäre. So würde denn zuletzt die Feindschaft zweier Menschen beseitigt gewesen sein, und die beiden Titularräte konnten froh und glücklich miteinander leben – hundert Jahre lang! Um schließlich die Wahrheit zu sagen: Herr Goljädkin fing bereits an, ein wenig zu bereuen, daß er für sich und sein Recht zu weit gegangen sei und sich dafür nur Unannehmlichkeiten bereitet hatte. „Hätte er nachgegeben,“ dachte Herr Goljädkin, „hätte er gesagt, daß alles das nur Scherz sei“: Herr Goljädkin hätte ihm verziehen, ganz und gar verziehen, zumal, wenn er es laut bekennen wollte! „Aber als einen Wischlappen lasse ich mich nicht behandeln, besonders nicht von solchen Leuten. Oh, und daß gerade ein so verworfener Mensch den Versuch mit mir macht! Ich bin kein Lappen, nein, mein Herr, ich bin kein Lump!“ Kurz, unser Held war zu allem entschlossen. „Sie selbst, mein Herr sind an allem schuld!“ Er beschloß also – zu protestieren, mit allen Kräften und bis zur letzten Möglichkeit – zu protestieren. Er war schon so ein Mensch! Er hätte es nie erlaubt, sich beleidigen und noch viel weniger, sich „als Wischlappen“ benutzen zu lassen: „von einem so verkommenen Menschen“! Darüber ließ sich nicht streiten, nein, nicht streiten. Vielleicht, wenn es jemand gewollt hätte, Herrn Goljädkin „in einen Lappen“ zu verwandeln, wäre es ihm ohne Widerspruch und ganz ungestraft gelungen. (Herr Goljädkin fühlte das nämlich selbst manchmal.) Doch wäre das dann gar nicht Herr Goljädkin gewesen, sondern eben ... irgendein Lappen – wenn auch trotzdem kein so einfacher Lappen, sondern einer voll von Ehrgeiz und voll von Gefühlen, allerdings ganz unverantwortlichen Gefühlen, Gefühlen, die hinter den schmutzigen Falten des Lappens steckten! Die Stunden zogen sich unglaublich lange dahin. Endlich schlug es vier. Bald darauf erhoben sich alle, um nach dem Vorgang des Chefs nach Hause zu gehen. Herr Goljädkin mischte sich unter die Menge: es entging ihm aber nichts, er verlor denjenigen, den er suchte, nicht aus den Augen. Zuletzt sah unser Held, wie sein Freund zu den Kanzleidienern lief, die die Mäntel ausgaben. In der Erwartung des Mantels schwänzelte er nach seiner gemeinen Gewohnheit um sie herum. Der Augenblick war entscheidend. Herr Goljädkin drängte sich irgendwie durch die Menge, da er nicht zurückbleiben wollte, und bemühte sich auch um seinen Mantel. Doch, natürlich: man gab seinem Freund zuerst den Mantel, weil es ihm auch hier gelungen war, sich einzuschmeicheln. Herr Goljädkin der Jüngere warf sich den Mantel um und blickte dabei Herrn Goljädkin dem Älteren ironisch offen und frech ins Gesicht, um ihn auf diese Weise zu ärgern. Dann sah er sich, seiner Gewohnheit gemäß, rings um, bändelte mit allen Beamten an, wahrscheinlich, um auf sie einen guten Eindruck zu machen, sagte dem einen ein Wort, flüsterte dem andern etwas ins Ohr, schmeichelte einem dritten, lächelte einem vierten zu, reichte dem fünften die Hand und schlüpfte vergnügt die Treppe hinab. Herr Goljädkin der Ältere stürzte ihm nach, zu seiner unbeschreiblichen Genugtuung erreichte er ihn auf der letzten Stufe und packte ihn am Kragen seines Mantels. Herr Goljädkin der Jüngere schien ein wenig überrascht zu sein und blickte mit verstörtem Gesicht um sich. „Wie soll ich das verstehen?“ flüsterte er endlich mit leiser Stimme Herrn Goljädkin zu. „Mein Herr, wenn Sie ein anständiger Mensch sind, so werden Sie sich unserer freundschaftlichen Beziehungen von gestern erinnern,“ sagte unser Held. „Ach ja. Nun, wie steht’s? Haben Sie gut geschlafen?“ Die Wut raubte für einen Augenblick Herrn Goljädkin die Sprache. „Ich habe – sehr gut geschlafen, mein Herr ... Doch erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Ihr Spiel sehr schlecht steht ...“ „Wer sagt das? Das sagen meine Feinde!“ antwortete hastig jener, der sich auch Herr Goljädkin nannte, und befreite sich bei diesen Worten ganz unerwartet aus den schwachen Händen des wirklichen Herrn Goljädkin. Befreit stürzte er die Treppe hinunter, sah sich um und erblickte eine Droschke – er lief auf sie zu, setzte sich hinein und war im Augenblick den Augen des Herrn Goljädkin des Älteren verschwunden. Unser verzweifelter und von allen verlassener Titularrat blickte sich zwar auch um, fand aber keine Droschke mehr. Er wollte laufen, doch seine Knie brachen zusammen. Mit verstörtem Gesicht und offenem Munde stützte er sich kraftlos und gebrochen an eine Straßenlaterne und stand so einige Augenblicke auf dem Trottoir. Herr Goljädkin schien wie vernichtet zu sein, für ihn war wohl alles verloren ... IX. Alles, offenbar alles, sogar seine eigene Natur, hatte sich gegen Herrn Goljädkin verschworen: doch war er noch auf den Füßen und unbesiegt! Ja er fühlte es, noch war er unbesiegt und nach wie vor bereit zu kämpfen. Er rieb sich mit solchem Gefühl und mit solcher Energie die Hände, als er nach der ersten Betäubung zu sich kam, daß man schon beim bloßen Anblick Herrn Goljädkins sofort darauf schließen konnte, daß er nicht nachgeben würde. Übrigens, die Gefahr lag auf der Hand, war offensichtlich; Herr Goljädkin fühlte das auch; doch wie sollte er ihr entgegentreten, sie packen? – das war die Frage. Im Augenblick tauchte sogar der Gedanke im Kopfe Herrn Goljädkins auf, „wie wenn er einfach alles so ließe, auf alles verzichtete? Was wäre denn dabei? Nun, einfach nichts! Ich werde für mich sein, als ob ich’s nicht wäre,“ dachte Herr Goljädkin, „ich lasse alles so gehen, wie es geht; ich bin einfach nicht ich, und das ist alles. Er ist auch für sich, mag er auch verzichten, er schwänzelt herum und dreht sich, der Schelm – mag er doch nachgeben! Ja, das ist es! Ich werde ihn mit Güte fangen. Und wo ist die Gefahr? Nun, was für eine Gefahr denn? Ich wünschte, es zeigte mir jemand, worin denn die Gefahr liegt? Eine einfache Sache! Eine ganz einfache Sache! ...“ Hier verstummte Herr Goljädkin. Die Worte erstarben ihm auf der Zunge; er machte sich sogar Vorwürfe über diese Gedanken, er schalt sich feig und niedrig; indessen, die Sache rührte sich nicht von der Stelle. Er fühlte dabei, daß es für ihn von großer Notwendigkeit sei, sich für etwas zu entschließen; ja, er hätte viel darum gegeben, wenn ihm jemand gesagt, wozu er sich entschließen sollte. Wie sollte er das aber wissen! Übrigens, da war ja auch gar nichts zu wissen! Auf jeden Fall und um keine Zeit zu verlieren nahm er sich eine Droschke und fuhr so schnell wie möglich nach Haus. „Nun, wie fühlst du dich denn jetzt?“ dachte er bei sich, „wie erlauben Sie sich jetzt zu fühlen, Jakoff Petrowitsch? Was tust du jetzt? Was tust du jetzt, du Feigling, du Schurke, du! Hast dich selbst bis zum letzten gebracht, jetzt heulst du und klagst du!“ So verspottete sich Herr Goljädkin selbst, als er in eine alte klapprige Droschke stieg. Sich selbst zu verspotten und seine Wunde aufzureißen, bereitete nämlich Herrn Goljädkin augenblicklich ein großes Vergnügen, fast eine Genugtuung. „Nun, wenn jetzt,“ dachte er, „irgendein Zauberer käme, oder wenn man mir offiziell erklärte: gib, Goljädkin, einen Finger deiner rechten Hand – und wir sind quitt; es wird keinen anderen Goljädkin geben und du wirst wieder glücklich sein, nur deinen Finger wirst du nicht mehr haben – so würde ich den Finger geben, würde ihn bestimmt geben, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Zum Teufel mit alledem!“ schrie endlich der Titularrat außer sich, „nun, wozu das alles? wozu ist das alles nötig gewesen, warum mußte denn das gerade mir passieren und keinem anderen! Und alles war so gut zu Anfang, alle waren zufrieden und glücklich: wozu war denn gerade das jetzt nötig! Übrigens mit Worten wird hier nichts erreicht, hier muß gehandelt werden.“ Und somit wäre Herr Goljädkin beinahe zu einem Entschluß gekommen, als er in seine Wohnung trat. Er griff sofort nach der Pfeife, zog an ihr aus allen Kräften und stieß nach rechts und links dicke Rauchwolken aus, wobei er in außerordentlicher Erregung im Zimmer auf und ab lief. Unterdessen begann Petruschka den Tisch zu decken. Endlich hatte Herr Goljädkin seinen Entschluß gefaßt: er warf plötzlich seine Pfeife hin, nahm den Mantel um, sagte, er werde nicht zu Hause speisen und lief hinaus. Auf der Treppe holte ihn Petruschka keuchend ein und übergab ihm den vergessenen Hut. Herr Goljädkin nahm den Hut und wollte sich noch irgendwie, so nebenbei, vor den Augen Petruschkas rechtfertigen, damit Petruschka sich nur nicht wegen dieses sonderbaren Umstandes, daß er den Hut vergessen, seine Gedanken machte. Da Petruschka ihn aber nicht einmal ansah und sofort zurückging, setzte auch Herr Goljädkin ohne weitere Erklärungen seinen Hut auf, lief die Treppe hinunter und redete sich Mut ein: daß sich alles vielleicht noch zum besten kehren werde und die Sache sich noch beilegen ließe ... Doch Schüttelfrost packte ihn. Er trat auf die Straße hinaus, nahm eine Droschke und fuhr zu Andrej Philippowitsch. „Übrigens, wäre es morgen nicht besser?“ dachte Herr Goljädkin, als er die Klingel zur Wohnung Andrej Philippowitschs zog – „ja, und was hätte ich ihm auch Besonderes zu sagen? Wirklich, nichts Besonderes. Die Sache ist ja so erbärmlich, so miserabel, einfach zum Ausspeien! ... Was doch nicht alles die Umstände machen ...“ und Herr Goljädkin zog plötzlich an der Glocke; die Glocke ertönte, und von innen hörte man Schritte nahen ... Jetzt verwünschte sich Herr Goljädkin selbst wegen seiner Übereiltheit und Unverfrorenheit. Die jüngst erlebten Unannehmlichkeiten, die Herr Goljädkin wohl kaum vergessen hatte, und der Zusammenstoß mit Andrej Philippowitsch, – alles fiel ihm mit einem Male wieder ein. Doch zum Fortlaufen war es nun bereits zu spät: die Tür wurde geöffnet. Zum großen Glück des Herrn Goljädkin antwortete man ihm, Andrej Philippowitsch sei von der Kanzlei nicht nach Hause zurückgekehrt und werde auch außer dem Hause speisen. „Ich weiß, wo er speist: bei der Ismailoffbrücke speist er,“ dachte bei sich unser Held und war außer sich vor Freude. Auf die Anfrage des Dieners, wen er melden solle, sagte er, Herr Goljädkin, schon gut, mein Freund, schon gut, ich werde schon später wiederkommen, mein Freund, – und er eilte darauf mit einer gewissen Freudigkeit und Behendigkeit die Treppe hinab. Auf der Straße beschloß er, seine Droschke zu entlassen und den Kutscher zu bezahlen. Als der Kutscher ihn noch um ein Trinkgeld anging: „habe gewartet, Herr, lange gewartet, und meinen Gaul vorhin nicht geschont ...“ da gab er ihm, und sogar mit großem Vergnügen, fünf Kopeken Trinkgeld und ging zu Fuß weiter. „Die Sache ist nämlich die,“ dachte Herr Goljädkin, „daß sie in Wirklichkeit so nicht bleiben kann; wenn man’s sich aber überlegt, und vernünftig überlegt – was ist denn eigentlich dabei zu machen? Man muß sich unwillkürlich fragen, wozu sich quälen, wozu sich hier herumschlagen? Die Sache ist nun einmal geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen! Überlegen wir uns einmal: es erscheint ein Mensch – ein Mensch erscheint mit genügenden Empfehlungen, das heißt, ein fähiger Beamter mit gutem Betragen, nur daß er arm ist und Unannehmlichkeiten erlebt hat ... Aber, Armut ist kein Laster: ich muß also abtreten. Nun, in der Tat, was ist das für ein Unsinn? Es hat sich so gemacht, die Natur hat’s gewollt, daß ein Mensch dem andern, wie ein Wassertropfen dem andern ähnlich sieht, der eine die vollendete Kopie des anderen ist: sollte man ihn deshalb etwa _nicht_ anstellen, wenn das Schicksal allein, wenn das blinde Glück allein daran schuld ist? Soll man ihn deshalb wie einen Verworfenen behandeln und ihn nicht zum Dienst zulassen? Wo bliebe denn da die Gerechtigkeit? So ein armer, verlorener und geängstigter Mensch: da muß einem ja das Herz wehtun und das Mitleid einen packen! Ja! Das wäre wohl eine schöne Obrigkeit, wenn sie so gedacht hätte, wie ich es tue, ich Dummkopf! Nein, nein, und sie hat gut getan, daß sie den armen Menschen versorgte ...“ „Nun, schön,“ fuhr Herr Goljädkin fort, „nehmen wir an, zum Beispiel, wir seien Zwillinge, von der Natur so geschaffen, wie wir sind, nun ja, und – das wäre einfach alles. Ja, das wäre alles! Nun, und was wäre denn dabei? Einfach, nichts! Man könnte es ja allen Beamten mitteilen ... und, wenn ein Fremder in unsere Abteilung käme, der würde auch sicher nichts Unpassendes oder gar Beleidigendes in diesem Umstand sehen. Es liegt darin sogar etwas Rührendes, der Gedanke, daß Gott dort zwei Zwillinge geschaffen und die edle Obrigkeit, die das Gebot Gottes achtet, sie beide versorgt hat. Freilich, freilich,“ und Herr Goljädkin hielt den Atem an und senkte ein wenig seine Stimme, „freilich, freilich wäre es besser, wenn all dies Rührende lieber nicht wäre und es lieber überhaupt keine Zwillinge gäbe ... Der Teufel möge das alles holen! Wozu war das alles nötig? Warum konnte es wenigstens nicht aufgeschoben werden? Herr du meine Güte! Da hat der Teufel etwas Schönes eingebrockt! Er hat einmal schon so einen Charakter, schlechte, verlogene Manieren, – so ein Schuft, so ein Lump, so ein Schmeichler und Schmarotzer, so ein Goljädkin! Er wird sich noch am Ende schlecht aufführen und meinen Namen schänden, der Taugenichts, jetzt habe ich das Vergnügen, auf ihn aufzupassen. Welch eine Strafe ist das! Übrigens, wozu habe ich das nötig! Nun, er ist ein Taugenichts, ein Schuft ... mag er es sein, der andere ist dafür ein – Ehrenmann. Er ist also der Schuft, ich aber bin der Anständige! Nun, dann werden sie sagen: – dieser Goljädkin ist ein Schuft, auf den achtet nicht und verwechselt ihn nicht mit dem anderen; der andere aber ist ehrlich und tugendhaft, bescheiden und nicht boshaft, sehr gut im Dienste und würdig einer Rangerhöhung: so ist’s! Nun gut ... aber wie haben sie ihn denn da ... so verwechselt! Ach, du mein Gott! Was für ein Unglück das ist! ...“ Mit diesen Gedanken beschäftigt und sich alles hin und her überlegend, lief Herr Goljädkin immer weiter, ohne auf den Weg zu achten, und ohne eigentlich zu wissen, wohin? Erst auf dem Newskij Prospekt kam er zu sich und auch nur dank dem Zufall, daß er mit einem Vorübergehenden so zusammenstieß, daß vor seinen Augen Funken sprühten. Herr Goljädkin wagte kaum den Kopf zu erheben und murmelte nur eine Entschuldigung. Erst als der andere schon in einer bedeutenden Entfernung von ihm war, wagte er endlich seine Nase zu erheben und sich umzusehen: wie und wo er sich eigentlich befand? Als er nun bemerkte, daß er gerade vor dem Restaurant stand, in dem er sich damals erfrischt hatte, bevor er sich zur Galatafel bei Olssuph Iwanowitsch aufmachte, fühlte unser Held plötzlich ein mächtiges Kneifen und Rumoren im Magen. Er erinnerte sich, daß er noch nichts genossen hatte, daß ihm auch kein ähnliches Diner bevorstand, wie damals, und so lief er denn eilig die Treppe zum Restaurant hinauf, um so schnell wie möglich und unbemerkt eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Obgleich das Restaurant ein wenig teuer war, beschäftigte dieser kleine Umstand Herrn Goljädkin nicht im geringsten: sich mit solchen Kleinigkeiten abzugeben, hatte Herr Goljädkin jetzt keine Zeit. Im hell erleuchteten Raum auf dem Büfett lag eine große Anzahl Delikatessen aller Art, die dem Geschmack eines verwöhnten Großstädters entsprachen. Das Büfett war daher ständig von einer Menge wartender Menschen belagert. Der Kellner konnte kaum mit dem Eingießen, Geldempfangen und -zurückgeben fertig werden. Auch Herr Goljädkin mußte seine Zeit abwarten und streckte endlich seine Hand bescheiden nach einem Teller mit kleinen Pasteten aus. Dann ging er damit in eine Ecke, wandte den Anwesenden den Rücken zu und aß mit Appetit. Darauf ging er zum Büfett zurück, legte das Tellerchen auf den Tisch und da er den Preis kannte, so legte er dafür 10 Kopeken daneben, machte dem Kellner ein Zeichen, als wollte er sagen: „hier liegt das Geld für eine Pastete usw.“ „Sie haben einen Rubel und zehn Kopeken zu bezahlen,“ sagte der Kellner. Herr Goljädkin war nicht wenig erstaunt. „Wie meinen Sie das? – Ich ... ich ... habe, glaube ich, nur eine Pastete genommen ...“ „Sie haben elf genommen,“ sagte mit der größten Bestimmtheit der Kellner. „Wie ... wie mir scheint ... irren Sie sich ... Ich habe, glaube ich, wirklich nur eine Pastete genommen.“ „Ich habe nachgezählt: Sie nahmen elf Stück. Was Sie genommen haben, müssen Sie auch bezahlen – bei uns wird nichts umsonst verabfolgt.“ Herr Goljädkin war einfach starr. „Welche Zaubereien gehen mit mir jetzt wieder vor?“ dachte er. Der Kellner wartete gespannt auf Herrn Goljädkins Entschluß. Herr Goljädkin lenkte bereits die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er griff daher so schnell wie möglich in die Tasche, um den Silberrubel sofort zu bezahlen und von der Schuld loszukommen. „Nun, wenn elf, dann elf,“ dachte er und wurde rot wie ein Krebs, „was ist denn auch dabei, wenn man elf Pastetchen ißt? Nun, der Mensch war eben hungrig, und darum aß er elf Pastetchen: nun, er aß sie zu seiner Gesundheit – da ist doch nichts zu verwundern, dabei ist doch nichts Lächerliches ...“ Plötzlich gab es Herrn Goljädkin innerlich einen Ruck, er blickte auf und begriff sofort – das ganze Rätsel, die ganze Zauberei! In der Tür zum Nebenzimmer, hinter dem Rücken des Kellners, mit dem Gesicht zu Herrn Goljädkin gewandt, stand in derselben Tür, die unser Held vorhin als Spiegelglas angesehen, stand ein Mensch, stand er, stand Herr Goljädkin selbst – nicht der alte Herr Goljädkin, der Held unserer Erzählung, sondern der andere Herr Goljädkin, der neue Herr Goljädkin. Dieser andere Herr Goljädkin befand sich offenbar in der allerbesten Laune. Er lächelte Herrn Goljädkin dem Älteren zu, nickte mit dem Kopf, zwinkerte mit den Augen, trippelte ein wenig hin und her und sah ganz so aus, als ob er, wenn man auf ihn zutreten wollte, sofort ins Nebenzimmer verschwinden und dort durch die Hintertür entwischen würde ... – jede Verfolgung wäre vergebens gewesen! In seinen Händen befand sich noch das letzte Stück Pastete, welches er soeben vor den Augen des Herrn Goljädkin vor Vergnügen schmatzend in seinen Mund steckte. „Man hat mich mit dem Halunken verwechselt!“ dachte Herr Goljädkin und fühlte, wie er sich schämte. „Er hat es gewagt mich öffentlich bloßzustellen! Sieht ihn denn niemand? Nein, es scheint ihn wirklich niemand zu bemerken ...“ Herr Goljädkin warf den Rubel auf den Tisch, als hätte er sich an ihm alle Finger verbrannt, und schien das freche Lächeln des Kellners gar nicht zu bemerken – dieses siegesbewußte Lächeln ruhiger Überlegenheit und Macht. Er drängte sich durch die Menge und stürzte zur Tür hinaus. „Gott sei gelobt, daß ich nicht noch ganz anders bloßgestellt wurde!“ dachte Herr Goljädkin der Ältere. „Dank ihm, dem Räuber, und Dank dem Schicksal, daß diesmal noch alles so gut abging. Nur der Kellner wurde frech, aber er war doch in seinem Recht! Es kostete doch einen Rubel und zehn Kopeken, also war er doch im Recht – ... ohne Geld wird niemandem etwas gegeben! Wenn er auch noch so höflich ...“ Alles das sagte sich Herr Goljädkin, als er die Treppe hinabging. Kaum aber war er an der letzten Stufe angelangt, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und über und über errötete, daß ihm die Tränen in die Augen traten. So sehr fühlte er sich nun doch in seiner Eitelkeit verletzt. Als er eine Minute in dieser Weise unbeweglich dagestanden hatte, stampfte er plötzlich mit dem Fuße auf, sprang mit einem Satz von der Treppe auf die Straße und ohne sich umzusehen, ohne seine Müdigkeit zu fühlen, begab er sich nach Haus, in die Schestilawotschnaja-Straße. Zu Hause angelangt, nahm er sich nicht einmal die Zeit, seinen Mantel auszuziehen. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, sich häuslich niederzulassen und seine Pfeife zu rauchen, setzte er sich, so wie er war, auf den Diwan, nahm Tinte und Feder und ein Stück Briefpapier und begann mit vor innerer Erregung zitternden Händen folgenden Brief zu schreiben: „Mein geehrter Herr Jakoff Petrowitsch! Ich würde nicht zur Feder greifen, wenn nicht die Umstände und Sie, geehrter Herr, mich dazu nötigten. Glauben Sie mir, daß nur die Notwendigkeit mich dazu zwingt, in solche Erörterungen mit Ihnen einzutreten, darum bitte ich Sie im voraus, diese meine Handlung nicht als eine Absicht zu betrachten, Sie, mein verehrter Herr zu beleidigen, sondern – sondern als eine unumgängliche Folge der Umstände, die uns zueinander in Beziehung gebracht haben.“ „So scheint es mir gut, anständig und höflich geschrieben zu sein, wenn auch nicht ohne Kraft und Bestimmtheit ... Beleidigt kann er sich dadurch nicht fühlen. Und außerdem, bin ich in meinem Recht,“ dachte Herr Goljädkin beim Durchlesen des Geschriebenen. „Ihr unerwartetes und seltsames Erscheinen, mein geehrter Herr, in der stürmischen Nacht, nach einem ausfallenden und rohen Benehmen meiner Feinde gegen mich, deren Namen ich aus Verachtung derselben verschweige, war die Ursache aller dieser Mißverständnisse, die in gegenwärtiger Zeit zwischen uns bestehen. Ihr hartnäckiges Bestreben, mein geehrter Herr, mit aller Gewalt in mein Sein und in meinen Lebenskreis einzudringen, übersteigt alle Grenzen der Höflichkeit und des einfachen Anstandes. Ich denke, es genügt, Sie daran zu erinnern, mein verehrter Herr, daß Sie sich meiner Papiere und meines Namens bedient haben, um sich bei der Regierung einzuschmeicheln – um eine Auszeichnung zu erlangen, die Sie selbst nicht verdient haben. Auch lohnt es sich nicht, Sie an Ihre vorbedachte, beleidigende Absicht zu erinnern, der nötigen Rechtfertigung mir gegenüber aus dem Wege zu gehen. Und zuletzt, um nicht alles zu sagen, möchte ich noch Ihre sonderbare Handlungsweise im Restaurant mir gegenüber erwähnen. Weit davon entfernt, etwa die unnötige Ausgabe eines Rubels zu bedauern, fühle ich doch einen heftigen Unwillen bei der Erinnerung an Ihre deutliche Absicht, mein geehrter Herr, meiner Ehre zu schaden, und das noch dazu in Gegenwart einiger Personen, die mir zwar unbekannt, aber offenbar aus der guten Gesellschaft waren ...“ „Bin ich nicht zu weit gegangen?“ dachte Herr Goljädkin. „Wird das nicht zu viel sein? Ist das nicht beleidigend – diese Anspielung auf die gute Gesellschaft zum Beispiel? Nun, da ist nichts zu wollen! Man muß ihm Charakter zeigen. Übrigens kann man ihm zur Besänftigung zum Schluß ein wenig schmeicheln, ihm Butter aufs Brot schmieren. Wir wollen sehen.“ „Doch ich hätte, verehrter Herr, Sie mit meinem Brief nicht belästigt, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß Ihr edles Herz und Ihr offener und gerader Charakter Ihnen selbst die Mittel zeigen werden, um alles wieder so gut zu machen, wie es vordem gewesen ist. In dieser Hoffnung wage ich davon überzeugt zu sein, daß Sie meinen Brief nicht in beleidigendem Sinne auffassen werden, daß Sie aber auch nicht verfehlen werden, mir schriftlich eine Erklärung, durch die Vermittelung meines Dieners, zukommen zu lassen. In dieser Erwartung habe ich die Ehre zu sein, geehrter Herr, Ihr gehorsamster Diener. J. Goljädkin.“ „Nun, das wäre jetzt alles sehr gut. Die Sache wäre also erledigt: die Sache ging nun schon bis zu schriftlichen Erklärungen. Aber wer ist schuld daran? Er selbst ist schuld daran: er bringt einen Menschen so weit, eine schriftliche Erklärung zu verlangen. Und ich bin in meinem Recht ...“ Nachdem Herr Goljädkin noch einmal den Brief durchgelesen hatte, faltete er ihn zusammen, adressierte ihn und rief dann Petruschka. Petruschka erschien wie immer mit verschlafenen Augen und bei sehr schlechter Laune. „Du, mein Lieber, nimm diesen Brief ... verstehst du?“ Petruschka schwieg. „Du nimmst ihn und bringst ihn ins Departement, dort suchst du den diensttuenden Beamten auf, den Verwaltungssekretär Wachramejeff. Wachramejeff hat heute den Tagdienst. Verstehst du das?“ „Verstehe.“ „‚Verstehe!‘ kannst du das nicht höflicher sagen. Du fragst also nach dem Beamten Wachramejeff und sagst ihm: so und so, der Herr hat befohlen, Sie von ihm zu grüßen und bittet Sie gefälligst, im Adressenregister unserer Behörde nachzuschlagen, wo der Titularrat Goljädkin wohnt?“ Petruschka schwieg, und wie es Herrn Goljädkin schien, lächelte er. „Nun also, Pjotr, du fragst ihn nach seiner Adresse und wo der neueingetretene Beamte Goljädkin wohnt: verstehst du?“ „Ich verstehe.“ „Du fragst nach der Adresse und bringst nach dieser Adresse diesen Brief: verstehst du?“ „Ich verstehe.“ „Wenn du dort bist ... dort, wohin du diesen Brief bringst, so wird dieser Herr, dem du diesen Brief gibst, Herr Goljädkin also ... Was lachst du, Schafskopf?“ „Warum soll ich lachen? Was geht’s mich an! Ich habe nichts ... unsereins hat nichts zu lachen ...“ „Nun also ... wenn dann der Herr dich fragen sollte, wie es mit deinem Herrn steht ... wenn er dich also irgendwie ausfragen möchte – so schweigst du und antwortest nur: ‚Meinem Herrn geht es gut, er bittet um eine schriftliche Antwort auf seinen Brief.‘ Verstehst du?“ „Verstehe.“ „Also, fort mit dir.“ „Da hat man seine Mühe mit solch einem Schafskopf! Er lacht. Warum lacht er denn? Es wird von Tag zu Tag immer schlimmer mit ihm, wie wird das schließlich ... Ach, vielleicht wird sich doch noch alles zum Guten wenden ... Dieser Schuft wird sich sicher jetzt noch zwei Stunden herumtreiben oder überhaupt nicht mehr zurückkommen ... Man kann ihn ja nirgendwohin schicken. Welch ein Unglück das ist ... welch ein Unglück! ...“ Unser Held entschloß sich also im Vollgefühl seines ganzen Unglücks, zu der passiven Rolle einer zweistündigen Erwartung Petruschkas. Eine Stunde lang ging er im Zimmer auf und ab, rauchte, warf dann wieder seine Pfeife weg und griff nach einem Buch. Darauf legte er sich auf den Diwan, griff dann wieder zur Pfeife und lief dann wieder im Zimmer auf und ab ... Er wollte sich’s überlegen, konnte aber seine Gedanken nicht zusammenhalten. Endlich ertrug er diesen aufreibenden Zustand nicht länger, und Herr Goljädkin beschloß bei sich, lieber wieder zu handeln. „Petruschka wird vor einer Stunde nicht zurückkommen,“ dachte er, „ich kann also den Schlüssel dem Hausknecht geben – und selbst werde ich unterdessen ... der Sache auf die Spur kommen und meinerseits etwas für sie tun.“ Ohne Zeit zu verlieren, griff Herr Goljädkin nach seinem Hut, verließ das Zimmer, schloß seine Wohnung zu, ging zum Hausknecht, händigte dem den Schlüssel ein, zusammen mit zehn Kopeken Trinkgeld – Herr Goljädkin wurde in letzter Zeit ungeheuer freigebig – und ging – ging, wohin ihn der Weg führte. Er ging zu Fuß in die Richtung der Ismailoffbrücke. Der Gang dauerte eine halbe Stunde. Als er das Ziel seiner Wanderung erreicht hatte, ging er geradeaus auf den Hof des ihm bekannten Hauses und blickte zu den Fenstern der Wohnung des Staatsrats Berendejeff hinauf. Mit Ausnahme von dreien, mit roten Vorhängen verhangenen Fenstern waren die übrigen alle dunkel. „Bei Olssuph Iwanowitsch gibt es heute keine Gäste,“ dachte Herr Goljädkin, „sie werden wohl jetzt allein zu Hause sitzen.“ Nachdem unser Held einige Zeit auf dem Hof gestanden hatte, wollte er sich augenscheinlich zu etwas entschließen. Aber es sollte anders kommen. Herr Goljädkin winkte mit der Hand ab und kehrte zurück auf die Straße. „Nein, nicht hierher hatte ich zu gehen! Was soll ich denn hier machen? ... Ich werde besser tun ... selbst die Sache zu untersuchen.“ Mit diesem Entschluß begab sich Herr Goljädkin in sein Departement. Der Weg war nicht kurz, dazu war er furchtbar schmutzig und nasser Schnee fiel in dichten Flocken, doch für unseren Helden schien es keine Hindernisse mehr zu geben. Er war nicht wenig ermüdet und ganz und gar durchnäßt und beschmutzt, „wenn schon, denn schon: das heißt, wenn man das Ziel erreichen will!“ Und Herr Goljädkin näherte sich in der Tat bald seinem Ziele. Die dunkle Masse eines großen, öffentlichen Gebäudes stieg in der Ferne vor ihm auf. „Halt!“ dachte er, „wohin gehe ich und was werde ich hier machen? Nehmen wir an, ich erfahre, wo er wohnt; unterdessen wird Petruschka bereits zurückgekehrt sein und mir die Antwort gebracht haben. Ich verliere nur meine teure Zeit umsonst, ganz umsonst. Nun, tut nichts, man kann alles wieder gut machen ... Ach, es war überhaupt nicht nötig, auszugehen! Aber so bin ich nun einmal. Ob es nötig ist oder nicht, ich muß immer vorauslaufen ... Hm! ... Wieviel Uhr ist es? Sicherlich schon neun Uhr. Petruschka könnte kommen und mich nicht zu Hause antreffen. Ich habe wirklich eine Dummheit begangen, daß ich ausging ... Ach, wirklich, diese Konfusion!“ Nachdem unser Held auf diese Weise zur Überzeugung gekommen war, daß er eine Dummheit begangen, lief er sofort zurück zu seiner Schestilawotschnaja-Straße. Erschöpft und durchnäßt kam er dort an und erfuhr schon vom Hausknecht, daß Petruschka nicht einmal daran gedacht hatte, wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. „Nun ja, das habe ich ja geahnt –,“ dachte unser Held: „Und dabei ist es schon neun Uhr! Solch ein Taugenichts! Immer muß er sich betrinken! Herr du meine Güte! Zum Unglück habe ich ihm schon seinen Lohn bezahlt, damit er Geld in den Händen hat.“ Mit diesen Gedanken schloß Herr Goljädkin seine Wohnung auf, machte Licht, kleidete sich aus, steckte seine Pfeife an und müde, zerschlagen, hungrig, wie er war, legte er sich in Erwartung Petruschkas auf den Diwan. Düster brannte die Kerze und ihr Licht flackerte an den Wänden ... Herr Goljädkin starrte vor sich hin, dachte und dachte und schlief endlich ein, wie tot. Er erwachte sehr spät. Das Licht war ganz niedergebrannt und flammte noch hin und wieder auf, um dann ganz zu erlöschen. Herr Goljädkin sprang auf, ihn schauerte, und plötzlich erinnerte er sich an alles, mit einem Male an alles! Hinter dem Verschlag hörte man Petruschka schnarchen. Herr Goljädkin stürzte ans Fenster – nirgendwo ein Licht zu sehen. Er öffnete das Fenster – alles war totenstill. Die Stadt schlief. Es mußte zwei oder drei Uhr nachts sein ... richtig, die Uhr hinter dem Verschlag schlug zwei. Herr Goljädkin stürzte in den Verschlag. Irgendwie, nach langen Anstrengungen, gelang es ihm, Petruschka zu wecken und ihn im Bett aufzurichten. In diesem Augenblick verlöschte das Licht vollkommen. Es vergingen zehn Minuten, bis Herr Goljädkin ein anderes Licht fand und es anzündete. In der Zeit war aber Petruschka von neuem eingeschlafen. „Ach, du Halunke, du Taugenichts!“ schimpfte ihn Herr Goljädkin und rüttelte ihn wieder auf. „Wirst du wohl aufwachen, wirst du wohl aufstehen!“ Nach halbstündiger Anstrengung gelang es Herrn Goljädkin, seinen Diener vollständig aufzuwecken und ihn aus dem Verschlag herauszuziehen. Da erst bemerkte unser Held, daß Petruschka vollkommen betrunken war und sich kaum auf den Füßen halten konnte. „Du Taugenichts!“ schrie Herr Goljädkin, „du Lump! Am liebsten würdest du mir wohl, weiß der Himmel was antun! Gütiger Gott, wo hast du den Brief gelassen? Ach, du meine Güte, was ist nur aus ihm geworden ... Und warum habe ich ihn geschrieben? Da stehe ich nun mit meinem Ehrgeiz. Wozu stecke ich meine Nase da hinein! Das habe ich davon ... Und du, du Räuber, wohin hast du den Brief gesteckt? Wem hast du ihn abgegeben? ...“ „Ich habe niemandem einen Brief gegeben, und habe überhaupt keinen Brief gehabt ... so ist’s!“ Herr Goljädkin rang seine Hände vor Verzweiflung. „Höre, Pjotr ... höre ... höre mich an ...“ „Ich höre ...“ „Wohin bist du gegangen? Antworte ...“ „Wohin ich gegangen ... zu guten Menschen bin ich gegangen! Was ist denn dabei?“ „Ach, du mein grundgütiger Gott! Wohin gingst du zuerst? Warst du in der Kanzlei? ... Du, höre mich an, Pjotr: du bist vielleicht betrunken?“ „Ich betrunken? Da soll ich doch gleich auf der Stelle ...“ „Nein, nein, das tut ja nichts, daß du betrunken bist ... Ich fragte ja nur so ... gut, gut, daß du betrunken bist: ich meinte ja nur, Petruschka ... Du hast vielleicht vorhin alles vergessen und erinnerst dich jetzt ... Nun, denke nach, du warst vielleicht bei Wachramejeff – warst du oder warst du nicht?“ „Ich war nicht und solchen Beamten gibt es gar nicht. Und wenn man mich auch sogleich ...“ „Nein, nein, Pjotr! Nein, Petruschka, ich sage ja nichts. Du siehst doch, daß ich nichts ... Nun, was ist denn dabei? Nun, draußen war es kalt, feucht und der Mensch trinkt ein wenig, nun, und was will denn das besagen? Ich bin doch nicht böse deshalb. Ich selbst habe heute etwas getrunken, mein Lieber. Gestehe es nur ein, denke nur nach, mein Lieber, warst du heute beim Wachramejeff?“ „Nun, wenn es so ist, mein Wort darauf ... ich war da ... und wenn ich auch sogleich ...“ „Nun, gut, gut, Petruschka, wenn du dagewesen bist. Siehst du, ich ärgere mich doch nicht ... Nu, nu,“ fuhr unser Held fort, seinen Diener aufzurütteln, schüttelte ihn an der Schulter, lächelte ihm zu ... „nun, und da hast du ein Schlückchen getrunken, du Taugenichts, nur ein wenig ... für zehn Kopeken ein Schlückchen? Du Saufbold! Nun, tut nichts. Siehst du, daß ich nicht böse bin ... Hörst du, ich bin gar nicht böse darüber, mein Lieber ...“ „Nein, wie Sie wollen, ich bin aber doch kein Saufbold. Bei guten Menschen bin ich gewesen, denn ich bin kein Säufer, bin niemals ein Säufer gewesen ...“ „Nun, schön, Petruschka! Höre doch, Pjotr: ich will dich ja auch gar nicht schimpfen, wenn ich dich einen Säufer nenne. Ich habe dir das nur zur Beruhigung gesagt, in einem versöhnlichen Sinne habe ich es dir gesagt. Wenn man einen Menschen in diesem Sinne schimpft, so fühlt er sich geschmeichelt, Petruschka. Ein anderer liebt es sogar! ... Nun, Petruschka, sage mir jetzt aufrichtig, wie einem Freunde ... warst du beim Wachramejeff, und gab er dir die Adresse?“ „Und auch die Adresse gab er, auch die Adresse. Ein guter Beamter ist er! ‚Und dein Herr,‘ sagte er, ‚auch dein Herr ist ein guter Mensch. Und also sage ihm ... ich lasse deinen Herrn grüßen,‘ sagte er, ‚und sage ihm, ich liebe und verehre deinen Herrn, weil dein Herr,‘ sagt er, ‚ein guter Mensch ist, und du, Petruschka, bist auch ein guter Mensch, siehst du‘ ...“ „Ach, du mein Gott! Und die Adresse, die Adresse! Judas du!“ Die letzten Worte sprach Herr Goljädkin fast flüsternd. „Und die Adresse ... auch die Adresse hat er gegeben.“ „Nun, wo wohnt er denn, der Beamte Goljädkin, der Titularrat Goljädkin?“ „‚Goljädkin wohnt,‘ sagt er, ‚in der Schestilawotschnaja-Straße. So wie du in die Schestilawotschnaja eintrittst,‘ sagt er, ‚so wohnt er rechts die Treppe hinauf, im vierten Stock. Dort,‘ sagt er, ‚wohnt Goljädkin ...‘“ „Bandit, du!“ schrie ihn unser Held an, der endlich die Geduld verlor: „Du Taugenichts! Das bin doch ich, das bin ja ich, von dem du sprichst. Da ist aber ein anderer Goljädkin, und von diesem anderen spreche ich, du Räuber, du!“ „Nun, wie Sie wollen! Was geht’s mich an! Wie Sie wollen! ...“ „Aber der Brief, der Brief? ...“ „Welcher Brief? Es war ja gar kein Brief, ich habe keinen Brief gesehen.“ „Wohin hast du ihn denn gelegt, du Halunke, du!?“ „Ich habe ihn abgegeben, den Brief habe ich abgegeben. ‚Grüße ihn,‘ sagt er, ‚grüße und danke deinem Herrn. Grüße,‘ sagt er, ‚deinen Herrn ...‘“ „Wer hat denn das gesagt? Hat Goljädkin das gesagt?“ Petruschka schwieg ein wenig, dann grinste er übers ganze Gesicht und sah seinem Herrn gerade in die Augen. „Hörst du, du Räuber!“ begann Herr Goljädkin, schnaubend vor Wut, „was hast du mit mir gemacht? Sage doch, sage, was hast du mit mir gemacht? Du hast mich vernichtet, du Bösewicht! Hast mir meinen Kopf von den Schultern gerissen. So ein Judas!“ „Nun, wie Sie wollen! Was geht das mich an?“ sagte in bestimmtem Tone Petruschka und zog sich hinter seine Scheidewand zurück. „Komm her, hierher, du Räuber! ...“ „Nun, ich komme jetzt nicht mehr zu Ihnen, überhaupt nicht mehr. Was geht’s mich an! Ich gehe zu den guten Menschen ... Gute Menschen, die ehrlich und ohne Falsch leben und niemals doppelt sind ...“ Herrn Goljädkin erstarrten die Füße und Hände und der Atem ging ihm aus ... „J–a–a,“ fuhr Petruschka fort, „die sind nicht doppelt und beleidigen nicht Gott und die Menschen!“ „Du Taugenichts, du bist ja betrunken! Du gehe jetzt lieber schlafen, du Räuber! Aber morgen werde ich dir schon zeigen! ...“ sagte Herr Goljädkin mit kaum hörbarer Stimme. Petruschka murmelte auch noch etwas: dann hörte man nur noch, wie er sich aufs Bett legte, daß es in allen Fugen krachte, wie er laut gähnte und sich ausstreckte, und dann, wie man sagt, den Schlaf des Gerechten schlief und mächtig schnarchte. Herr Goljädkin war mehr tot als lebendig. Das Betragen Petruschkas, seine sonderbaren, wenn auch sehr entfernten Anspielungen, über die man sich „folglich nicht zu ärgern braucht“, um so weniger, da er betrunken war, und schließlich die ganze bösartige Wendung, die die Sache nahm – alles das erschütterte Herrn Goljädkin bis auf den Grund. „Und was plagte mich, ihn mitten in der Nacht zu wecken?“ fragte sich unser Held, am ganzen Körper vor krankhafter Erregung zitternd, „und was plagte mich, mit einem betrunkenen Menschen anzubändeln! Und was kann man denn von einem betrunkenen Menschen erwarten? Jedes Wort ist ja gelogen! Worauf spielte er eigentlich an, dieser Räuber? Mein Gott, mein Gott! Und wozu habe ich alle diese Briefe geschrieben, ich Selbstmörder, ich Selbstmörder! Konnte ich denn nicht schweigen?! Mußte es denn geschehen? Wozu denn? Mein Ehrgeiz wird mich noch umbringen. Wenn aber meine Ehre leidet – seine Ehre muß man doch retten! Ach, ich Selbstmörder, ich!“ So sprach Herr Goljädkin, auf seinem Diwan sitzend, und wagte sich vor Furcht kaum zu bewegen. Plötzlich fielen seine Augen auf einen Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit im höchsten Grade erregte. In der Furcht, es könnte eine Illusion, eine Täuschung seiner Phantasie sein, wagte er kaum, vor Hoffnung, Angst und unbeschreiblicher Neugier, seine Hand danach auszustrecken. Nein, es war keine Täuschung, es war Wirklichkeit. Keine Illusion! Der Brief war ein Brief, ein wirklich an ihn adressierter Brief. Herr Goljädkin griff nach dem Brief auf dem Tisch. Sein Herz schlug heftig. „Wahrscheinlich hat ihn dieser Schuft gebracht,“ dachte er, „hat ihn dort hingelegt und ihn dann vergessen; so wird es wohl gewesen sein, sicher wird es so gewesen sein ...“ Der Brief war von Wachramejeff, jenem Beamten und ehemaligen Freunde Goljädkins. „Das habe ich übrigens alles geahnt,“ dachte unser Held, „und alles, was im Briefe hier stehen wird, habe ich ebenfalls geahnt ...“ Der Brief lautete folgendermaßen: „Sehr geehrter Herr Jakoff Petrowitsch! Ihr Diener ist betrunken und es läßt sich nichts Gescheites aus ihm herausbringen. Aus dem Grunde ziehe ich es vor, Ihnen schriftlich zu antworten. Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich bereit bin, Ihren Auftrag, den mir übergebenen Brief an eine gewisse Person zu befördern, mit aller Gewissenhaftigkeit und Treue auszuführen. Diese Person, die Ihnen sehr bekannt ist, und ein mir untreu gewordener Freund, dessen Namen ich verschweigen will (denn ich möchte nicht unnütz dem Ruf eines unschuldigen Menschen schaden!) wohnt mit uns zusammen in der Wohnung Karolina Iwanownas, und zwar in demselben Zimmer, in dem früher, als Sie noch bei uns waren, der Infanterieoffizier aus Tamboff lebte. Diese Person gehört zu den ehrlichen Leuten, zu denen, die ein aufrichtiges Herz haben, was man bekanntlich nicht bei allen findet. Die Bekanntschaft mit Ihnen beabsichtige ich von heute ab vollständig abzubrechen, in dem freundschaftlichen Verhältnis, in dem wir früher miteinander verkehrten, können wir nicht mehr zueinander stehen, und darum bitte ich Sie, sehr geehrter Herr, beim Empfang dieses meines aufrichtigen Briefes, mir unverzüglich die mir zukommenden zwei Rubel für das Rasiermesser ausländischen Fabrikats, das ich Ihnen verschaffte, zu schicken. Wie Sie sich erinnern werden, hatte ich es Ihnen bereits vor sieben Monaten auf Abzahlung überlassen, und zwar noch zu der Zeit, als Sie mit uns zusammen bei Karolina Iwanowna lebten, die ich von ganzem Herzen achte und verehre. Ich tue es aus dem Grunde, da Sie, nach der Behauptung kluger Leute, Ihre Selbstbeherrschung und Ihren guten Ruf verloren haben und der Verkehr mit Ihnen für junge, sittsame und unverdorbene Menschen daher sehr gefährlich geworden ist. Denn manche Leute leben nicht in Ehrbarkeit und dazu sind ihre Worte falsch und ihre wohlanständige Haltung ist verdächtig. Es wird immer Leute geben, die sich der Verteidigung von Karolina Iwanowna annehmen werden, die stets von gutem Betragen und eine ehrbare Dame gewesen ist und die dazu ein Mädchen, wenn auch nicht von jungen Jahren, so doch aus anständiger ausländischer Familie ist. Man hat mich gebeten, Ihnen dieses von mir aus in meinem Briefe beiläufig in Erinnerung zu bringen. Auf jeden Fall werden Sie schon alles zu seiner Zeit erfahren, falls Sie es bis jetzt noch nicht erfahren haben sollten, obgleich Sie nach Aussagen verständiger Leute an allen Enden der Residenz in schlechtem Rufe stehen, und wenigstens an vielen Stellen Auskunft über sich selbst, geehrter Herr, erhalten können. Zum Schluß teile ich Ihnen noch mit, sehr geehrter Herr, daß die Ihnen bekannte Person, deren Namen ich aus wohlbegründeten Ursachen hier nicht erwähnen möchte, von allen wohlgesinnten Menschen sehr geachtet wird. Überdies ist sie von angenehmem, heiterem Charakter, in ihrem Beruf wie unter den Menschen sehr beliebt, treu ihrem Wort und jeder Freundschaft, wie sie denn niemals diejenigen beleidigt und verleumdet, mit denen sie sich in freundschaftlicher Beziehung befindet. Immerhin verbleibe ich Ihr ergebenster Diener N. Wachramejeff. P. S. Ihren Diener jagen Sie fort: er ist ein Trinker und wird Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach viel zu schaffen machen. Nehmen Sie doch Eustachius, der früher hier bei mir diente und gegenwärtig stellenlos ist. Ihr Diener ist ja nicht nur ein Trinker, er ist auch ein Dieb, denn noch in der vorigen Woche hat er Karolina Iwanowna ein Pfund Zucker zu billigerem Preise verkauft, das er, meiner Meinung nach, nur in kleinen Portionen zu verschiedener Zeit von Ihnen gestohlen haben kann. Ich schreibe es Ihnen, da ich Ihnen Gutes wünsche, ungeachtet dessen, daß manche Personen nur zu beleidigen und die Menschen zu betrügen verstehen, besonders anständige Leute von gutem und ehrlichem Charakter. Außerdem versuchen sie diese noch hinter dem Rücken schlecht zu machen, und zwar nur aus Neid, weil sie sich selbst zu ihnen nicht rechnen können. W.“ Nachdem unser Held den Brief Wachramejeffs gelesen hatte, blieb er noch lange unbeweglich auf seinem Diwan sitzen. Ein neues Licht schien den dichten, rätselhaften Nebel zu durchdringen, der ihn seit zwei Tagen umgab. Unser Held fing allmählich an, alles, alles zu begreifen ... Er versuchte sich vom Diwan zu erheben und einige Male durch das Zimmer zu gehen, um sich zu ermuntern und seine zerstreuten Gedanken zu sammeln und sie auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren – um dann reiflich seine Lage zu überlegen. Aber, als er nun aufstehen wollte, fiel er kraftlos und ohnmächtig auf seinen Diwan zurück. „Das habe ich ja alles vorausgefühlt! Aber was schreibt er denn und was ist der Sinn seiner Worte? Den Sinn verstehe ich noch, aber wohin führt das alles? Wenn er doch einfach sagte: so ist es und so, verlangt wird das und das, ich würde es sofort tun! Der ganze Gang der Sache ist ein so unangenehmer! Wenn es doch bereits Morgen wäre und ich mich der Sache annehmen könnte! Denn jetzt weiß ich, was ich machen würde. So und so, sage ich, ich bin bereit, zur Vernunft zu kommen, doch meine Ehre gebe ich nicht preis, aber ... aber, die bekannte Person, diese unangenehme Persönlichkeit, wie hat sie sich denn da hineingemischt? Und warum hat sie sich da hineingemischt? Ach, wenn es doch schon Morgen wäre! Bis dahin werden sie über mich lästern, gegen mich intrigieren! Die Hauptsache – nur keine Zeit verlieren! Jetzt, zum Beispiel, sollte ich da nicht einen Brief schreiben: so und so, und das und das, bin damit und damit einverstanden. – Und morgen, wenn nur erst die Sonne aufgeht, oder noch früher ... werde ich von der anderen Seite entgegenarbeiten und den Burschen zuvorkommen ... Sie werden nur lästern über mich, ja, und das ist alles!“ Herr Goljädkin griff nach dem Papier, nahm die Feder und schrieb folgende Antwort auf den Brief des Gouvernements-Sekretärs Wachramejeff: „Sehr geehrter Herr Nestor Ignatjewitsch! Mit gekränktem Herzen und voll Verwunderung las ich Ihren für mich so beleidigenden Brief, denn ich habe wohl verstanden, daß Sie mit den nicht wohlanständigen, falschen und lügnerischen Personen mich bezeichnen wollen. Mit aufrichtigem Bedauern sehe ich, wie schnell und wie tief die Verleumdung Wurzeln gefaßt hat, zum Schaden meines Wohlergehens, meiner Ehre und meines guten Namens. Und um so beleidigender ist es, als sogar ehrliche und wirklich wohlmeinende Leute und hauptsächlich die, welche mit einem offenen und geraden Charakter begabt sind, sich von dem Leben anständiger Leute abwenden und an einem anderen und tief verderbten teilnehmen, wie es Menschen führen, welche in jener Sittenlosigkeit versunken sind, die zum Unglück unserer Zeit unter uns so schädliche Früchte zeitigt. Zum Schlusse teile ich Ihnen mit, daß ich es für meine heilige Pflicht halte, Ihnen meine Schuld von zwei Rubeln unverzüglich zurückzuerstatten. Was Ihre Anspielung, sehr geehrter Herr, anbelangt, in bezug auf eine sehr bekannte Person weiblichen Geschlechts und in bezug auf die Absichten, Berechnungen und verschiedenen Ränke dieser Person, so kann ich Ihnen nur sagen, sehr geehrter Herr, daß ich alle diese Anspielungen bloß halbwegs verstanden habe. Erlauben Sie mir auch, geehrter Herr, meine anständige Gesinnung und meinen ehrlichen Namen unbefleckt zu erhalten. Auf jeden Fall bin ich bereit, auf persönliche Erklärungen einzugehen, da ich die mündliche Erörterung der schriftlichen vorziehe: Jedenfalls bin ich zu friedlicher, gegenseitiger Verständigung bereit. Daher ersuche ich Sie, sehr geehrter Herr, meine Bereitwilligkeit zur persönlichen Aussprache dieser Person anzuzeigen und sie zu bitten, die Zeit und den Ort des Zusammentreffens zu bestimmen. Es war mir schmerzlich, mein geehrter Herr, Ihre Anspielungen zu lesen, als hätte ich Sie beleidigt, Ihre frühere Freundschaft zu mir verraten, und mich im schlechten Sinne über Sie ausgesprochen. Ich schreibe alle diese Mißverständnisse schnöder Verleumdung, dem Neid mir gegenüber zu, und zwar derjenigen, die ich mit Recht meine erbittertsten Feinde nennen kann. Aber wahrscheinlich wissen diese nicht, daß die Unschuld durch sich selbst stark ist, wissen nicht, daß die Unverschämtheit und Frechheit früher oder später zu einer allgemeinen Verachtung führt, die sie treffen wird, und daß solche Personen durch ihre eigenen schlechten Absichten und die Verworfenheit ihres Herzens zugrunde gehen müssen. Zum Schluß bitte ich Sie noch, geehrter Herr, jenen Personen zu sagen, daß ihre sonderbare Anmaßung und ihre unedlen phantastischen Wünsche und Bestrebungen, andere aus der Stellung zu verdrängen, die sie durch ihre Verdienste einnehmen, nur Erstaunen und Bedauern erweckt und sie selbst für das Irrenhaus reif macht. Überdies sind solche Bestrebungen durch das Gesetz strengstens verboten, was meiner Meinung nach durchaus gerecht ist, da jeder mit seiner eigenen Stellung zufrieden sein muß. Alles hat seine Grenzen, und wenn das ein Scherz sein soll, so ist es ein unwürdiger Scherz, ich sage mehr: ein unsittlicher Scherz, denn ich versichere Ihnen, mein geehrter Herr, daß meine Anschauung über die Stellung eines jeden hier auf Erden auf ethischen Voraussetzungen beruht. In jedem Falle habe ich die Ehre, zu sein Ihr gehorsamer Diener J. Goljädkin.“ X. Man kann sagen, daß die Erlebnisse des gestrigen Tages Herrn Goljädkin bis auf den Grund seines Seins erschüttert hatten. Unser Held schlief sehr schlecht, das heißt, er konnte nicht einmal auf fünf Minuten wirklich einschlafen. Es war ihm, als hätte irgendein mutwilliger Schelm ihm geschnittene Schweineborsten ins Bett gestreut. Die ganze Nacht verbrachte er im Halbschlaf und drehte sich fortgesetzt von der einen Seite auf die andere. Schlief er einmal – stöhnend, ächzend – auf einen Augenblick ein, so erwachte er im nächsten sofort wieder, und alles das war begleitet von einem seltsamen Gefühl der Trauer, unklaren Erinnerungen und widerlichen Traumgesichtern, mit einem Wort von allem, was es nur an Unangenehmem geben kann ... So erschien ihm in rätselhaftem Halbdunkel die Gestalt Andrej Philippowitschs, eine trockene Erscheinung, mit bösem Blick und gefühllos höflicher Sprechweise ... Als aber Herr Goljädkin die Absicht zeigte, auf Andrej Philippowitsch zuzugehen, um sich auf seine Weise zu rechtfertigen, „so oder so,“ sich jedenfalls zu rechtfertigen und ihm zu beweisen, daß er durchaus nicht so sei, wie seine Feinde ihn schilderten, daß er vielmehr ein ganz anderer sei, und außer seinen gewöhnlichen ihm angeborenen Fähigkeiten noch diese und jene besitze – da erschien plötzlich eine ihm durch ihre übelwollende Gesinnung nur zu bekannte Person und durch ein empörendes Mittel wurden auf einmal alle Bemühungen des Herrn Goljädkin vereitelt, und Herr Goljädkin sah vor seinen eigenen Augen seine Würde und seine Ansprüche auf Beachtung endgültig in den Schmutz gezogen, während diese Person seine, jawohl, seine Stellung im Dienst wie in der Gesellschaft einnahm. Dann wieder ging Herr Goljädkin die Empfindung eines Nasenstübers durch den Kopf, den er vor kurzem erhalten und demütig hingenommen hatte: war es nun im gewöhnlichen Leben oder in dienstlicher Angelegenheit gewesen – jedenfalls war es unmöglich, gegen diesen Nasenstüber sich zu wehren und ihn abzulehnen oder zu leugnen ... Während aber Herr Goljädkin sich noch den Kopf darüber zerbrach, warum es denn so unmöglich war, sich gegen diesen Nasenstüber zu wehren – ging der Nasenstüber unmerklich in eine andere Form über – in die Form einer ziemlich bekannten, kleinen, aber doch bedeutenden Nichtsnutzigkeit, die er gesehen oder gehört oder selbst unlängst vollbracht hatte, und zwar nicht etwa aus schlechter Absicht oder aus einem gemeinen Antrieb, sondern so – nun, so – aus Zufall, aus Zartgefühl ... vielleicht auch aus seiner vollkommenen Hilflosigkeit heraus, und schließlich, weil ... weil, nun, Herr Goljädkin wußte sehr gut, warum! Dabei errötete Herr Goljädkin sogar im Traum, und weil er sich beherrschen wollte, murmelte er vor sich hin, daß man, zum Beispiel, jetzt Charakterfestigkeit zeigen müsse ... Es kam nur darauf an, was Charakterfestigkeit eigentlich sei ... und wie man sie auffassen solle. Doch mehr als alles andere, reizte es Herrn Goljädkin und versetzte ihn in Wut, daß gerade in diesem Augenblick, gerufen oder ungerufen, die Person auftauchte, die ihm in ihrer fast karikaturenhaften Abscheulichkeit nur zu bekannt war, und ihm, obwohl ihm damit gar nichts Neues, sondern nur zu Bekanntes gesagt wurde, mit einem bösartigen Lächeln zuflüsterte: „Wozu denn Charakterfestigkeit! Und welche Charakterfestigkeit hätten wir beide, Jakoff Petrowitsch, wohl aufzuweisen! ...“ Dann träumte Herrn Goljädkin wiederum, daß er sich in einer prächtigen Gesellschaft befände, die sich durch Geist und den vornehmen Ton aller anwesenden Personen auszeichnete: daß er, Goljädkin, sich seinerseits durch Liebenswürdigkeit und Scharfsinn auszeichnete, daß alle ihn liebten, sogar einige seiner Feinde, die zugegen waren, sich ihm zugetan zeigten, was Herr Goljädkin sehr angenehm empfand, daß ihm alle den Vorzug gaben und er selbst, Goljädkin, mit Vergnügen anhören durfte, wie der Wirt einen seiner Gäste beiseite führte, um ihm Lobenswertes über Herrn Goljädkin zu sagen ... Doch plötzlich, mir nichts dir nichts, erschien wieder dasselbe mißvergnügte und mit wahrhaft tierischen Zügen begabte Gesicht des Herrn Goljädkin _junior_ und zerstörte den ganzen Triumph und den Ruhm des Herrn Goljädkin _senior_, verdunkelte seine glänzende gesellschaftliche Erscheinung, trat ihn abermals in den Schmutz und bewies allen klar, daß Herr Goljädkin der Ältere, daß der wirkliche Goljädkin – gar nicht der wirkliche sei, sondern ein nachgemachter, während er, er selbst, der wirkliche wäre ... Herr Goljädkin der Ältere aber, der sei, sagte er, durchaus nicht derjenige, als der er erscheine, sondern bald dieser, bald jener: und folglich habe er auch gar nicht das Recht, zu der Gesellschaft so trefflicher Leute von gutem Ton zu gehören! Und alles das geschah so schnell, daß Herr Goljädkin der Ältere vor Erstaunen nicht einmal den Mund zu öffnen vermochte – daß er nur noch zusehen konnte, wie sich schon alle mit Leib und Seele dem abscheulichen und falschen Herrn Goljädkin hingegeben hatten und sich mit der tiefsten Verachtung von ihm, dem wahren und so unschuldigen Herrn Goljädkin, abwandten. Es gab keine Person mehr, bis auf die unbedeutendste der ganzen Gesellschaft, bei der sich nicht Herr Goljädkin, der falsche, mit seinen süßen Manieren und auf seine geschmeidige Art eingeschmeichelt hätte und vor denen er nicht, seiner Gewohnheit gemäß, Weihrauch ausstreute, angenehmen und süßduftenden Weihrauch, so daß die auf diese Weise angeräucherten Personen bis zu Tränen niesen mußten – zum Zeichen ihres höchsten Vergnügens. Und was die Hauptsache war – alles das geschah in einem Augenblick: die Geschwindigkeit des Vorgangs war erstaunlich! Kaum gelang es dem falschen Herrn Goljädkin, sich dem einen zu nähern, als es ihm auch schon gelang, das Wohlwollen des andern zu gewinnen – und im selben Augenblick stand er auch schon bei dem dritten. Er schmeichelte hin, schmeichelte her, schmeichelte sich im stillen ein, entriß jedem ein Lächeln des Wohlwollens und kratzte vor ihm mit seinen kurzen, runden, übrigens recht steifen Beinchen – und siehe da, schon machte er einem Neuen den Hof und schloß mit ihm Freundschaft. Den Mund konnte man kaum öffnen, nicht aus dem Erstaunen heraus konnte man kommen, und er war schon bei einem vierten, und mit diesem vierten in denselben Beziehungen! Fabelhaft: einfach Zauberei schien es zu sein! Und alle waren sie entzückt von ihm und alle liebten ihn und bemühten sich um ihn. Alle wiederholten im Chor, daß seine Liebenswürdigkeit und sein blitzender Humor unvergleichlich höher stände, als die Liebenswürdigkeit und der Geist des anderen Herrn Goljädkin, und beschämten dadurch diesen wirklichen und unschuldigen Herrn Goljädkin und wandten sich von dem wahren Herrn Goljädkin ab, und jagten den wohlgesinnten Herrn Goljädkin, den durch seine Nächstenliebe bekannten echten Herrn Goljädkin mit Puffern und Nasenstübern einfach hinaus! ... Außer sich, voll Schreck und Kummer, lief der bemitleidenswerte Herr Goljädkin auf die Straße und wollte sich eine Droschke nehmen, um geradewegs zu seiner Exzellenz zu fliehen, und wenn nicht zu ihm, dann doch wenigstens zu Andrej Philippowitsch, aber o Schrecken! Der Droschkenkutscher weigerte sich, Herrn Goljädkin aufzunehmen, „wie, Herr, kann man einen Menschen doppelt fahren? Ew. Wohlgeboren, ein guter Mensch bemüht sich, in Ehrbarkeit zu leben, aber nicht so wie Sie – nicht ... irgendwie – doppelt!!“ Sprachlos vor Scham sah der doch so vollkommen ehrenwerte Herr Goljädkin sich um, und konnte sich so selbst und mit seinen eigenen Augen überzeugen, daß der Droschkenkutscher, so wie Petruschka, der offenbar mit ihm unter einer Decke steckte, im Recht waren, denn der andere, der nichtsnutzige Herr Goljädkin stand in der Tat in greifbarer Nähe neben ihm und seinen schlechten Gewohnheiten gemäß, war er auch hier, in diesem kritischen Augenblick, im Begriff, etwas sehr Gemeines zu tun, etwas, das allerdings keinen edlen Charakter bewies, wie er ihn durch Erziehung erhalten haben sollte – keinen Anstand, keine Form, keinen Takt, mit denen der widerwärtige Herr Goljädkin der Zweite doch bei jeder Gelegenheit zu prahlen pflegte. Ohne sich zu besinnen, voll Scham und Verzweiflung floh der unglückliche und ehrenwerte Herr Goljädkin von dannen, floh, lief, wohin ihn seine Füße trugen, wohin das Schicksal ihn führen würde. Doch bei jedem Schritt, den er machte, bei jedem Aufschlag seiner Füße auf das harte Trottoir, sprang wie aus der Erde hervor, ein ebensolcher Herr Goljädkin, jener andere Herr Goljädkin, jener verworfene, ruchlose, abscheuliche Zweite. Und alle diese Ebenbilder begannen nun, kaum, daß sie erschienen, einer dem anderen nachzulaufen. In einer langen Kette, wie einer Reihe gespenstischer Wesen, zogen sie sich hinter Herrn Goljädkin dem Älteren her, so daß es ganz unmöglich war, ihnen zu entfliehen, so daß dem bedauernswerten Herrn Goljädkin der Atem stockte, so daß zuletzt eine furchtbare Anzahl solcher Ebenbilder sich ansammelte, so daß ganz Petersburg von ihnen überschwemmt war und ein Polizist, der diese Störung der öffentlichen Ruhe schließlich bemerkte, sich veranlaßt sah, alle diese Ebenbilder am Kragen zu packen, und sie auf die Wache zu führen ... Gebannt und erstarrt vor Schrecken erwachte unser Held und gebannt und erstarrt vor Schrecken fühlte er sich auch noch im wachen Zustande nicht besser. Schwer und quälend war ihm zumute ... Er hatte ein Gefühl, als ob ihm jemand das Herz aus der Brust risse ... Endlich konnte es Herr Goljädkin nicht länger aushalten. „Das darf nicht sein!“ rief er mit Entschlossenheit aus, und erhob sich vom Bett, woraufhin er vollständig wach wurde. Der Tag hatte augenscheinlich längst begonnen. Im Zimmer war es ganz außergewöhnlich hell. Die Sonnenstrahlen drangen durch die gefrorenen Fensterscheiben und zerstreuten sich verschwenderisch im Zimmer, was Herrn Goljädkin nicht wenig verwunderte. Denn nur zu Mittag konnte die Sonne zu ihm hineinsehen, und zu anderer Stunde war so etwas, soweit Herr Goljädkin sich erinnern konnte, nie vorgekommen. Während unser Held noch ganz verwundert darüber nachdachte, begann die Wanduhr hinter dem Vorschlag zu schnurren – was ankündigte, daß sie gleich darauf schlagen werde. „Nun, aufgepaßt!“ dachte Herr Goljädkin und horchte auf, in gespannter Erwartung ... Doch zu seiner höchsten Verwunderung holte die Uhr aus und schlug nur ein einziges Mal. „Was ist denn das für eine Geschichte?“ rief unser Held aus und sprang jetzt endgültig aus dem Bett. Wie es schien, traute er seinen eigenen Ohren nicht und lief hinter den Verschlag. Die Uhr zeigte wirklich „eins“. Herr Goljädkin blickte auf Petruschkas Bett, doch im Zimmer war von Petruschka keine Spur zu sehen. Sein Bett war augenscheinlich schon lange gemacht, und seine Stiefel waren nirgends zu erblicken, ein unzweifelhaftes Zeichen, daß Petruschka wirklich nicht zu Hause war. Herr Goljädkin stürzte zur Tür: die Tür war verschlossen. „Wo ist denn Petruschka?“ fuhr er flüsternd fort, in schrecklicher Erregung, an allen Gliedern zitternd. Plötzlich kam ihm ein Gedanke ... Herr Goljädkin stürzte an den Tisch, übersah ihn, suchte und – richtig: sein gestriger Brief an Wachramejeff war nicht da ... Petruschka war auch nicht im Verschlag ... die Uhr war eins ... und im gestrigen Brief von Wachramejeff waren einige Punkte, übrigens, auf den ersten Blick sehr unklare Punkte, die sich gleichwohl für ihn jetzt vollkommen aufklärten ... Also auch Petruschka war erkauft worden! Das war es! „So, jawohl, so wird alles zu einem Knoten von Ränken und Verrat!“ rief Herr Goljädkin aus, schlug sich an die Stirn und riß immer noch mehr die Augen auf. „Also im Nest dieser abscheulichen Deutschen verbirgt sich die ganze Macht der bösen Kräfte! Sie hat mich nur höchst geschickt ablenken wollen, indem sie mich auf die Ismailoffbrücke wies, die Augen schlug sie nieder, diese nichtsnutzige Hexe, und hat auf mich in dieser Weise geheime Anschläge gemacht!!! So ist es! Wenn man die Sache von dieser Seite betrachtet, dann ist es eben so! Und die Erscheinung dieses Taugenichts ist auch darauf zurückzuführen: so gehört eines zum anderen. Sie hatten ihn schon lange vorbereitet und für den schwarzen Tag zurecht gemacht. So also ist’s, wie sich jetzt alles aufklärt! Doch wie ist das nur gekommen? Nun, tut nichts! Noch ist keine Zeit verloren! ...“ Hierbei erinnerte sich Herr Goljädkin mit Schrecken daran, daß es bereits halb zwei Uhr nachmittags sei. „Wie, wenn es ihnen inzwischen gelungen ...“ Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust ... „Doch nein, nein, sie lügen, es gelingt ihnen nicht, – wollen doch sehen ...“ Er kleidete sich schnell irgendwie an, ergriff Papier und Feder und schrieb folgenden Brief: „Mein geehrter Herr Jakoff Petrowitsch! Entweder Sie oder ich, aber wir beide – ganz unmöglich! Und darum erkläre ich Ihnen, daß Ihr sonderbarer, lächerlicher und unsinniger Wunsch, sich für meinen Zwillingsbruder auszugeben, zu nichts anderem führen wird, als zu Ihrem vollständigen Ruin. Ich bitte Sie daher, und um Ihres eigenen Vorteils willen, ehrenwerten Leuten mit wohlgesinnten Absichten den Weg frei zu geben. Im anderen Fall bin ich bereit, selbst zu den äußersten Maßregeln zu greifen. Ich lege die Feder hin und warte ... Im übrigen stehe ich zu Ihrer Verfügung – auch mit der Pistole. J. Goljädkin.“ Unser Held rieb sich energisch die Hände, als er dieses Schreiben beendet hatte. Dann zog er sich den Mantel an, setzte den Hut auf, öffnete mit einem zweiten Schlüssel die Tür und begab sich in die Kanzlei. Er ging auch bis zum Departementsgebäude, konnte sich aber nicht entschließen hinein zu gehen, denn es war wirklich schon zu spät. Die Uhr des Herrn Goljädkin zeigte halb drei. Plötzlich erregte ein scheinbar sehr nebensächlicher Umstand einiges Bedenken bei Herrn Goljädkin. Aus einer Ecke des Gebäudes tauchte nämlich mit einem Male eine erhitzte und keuchende Figur auf, schlich sich verstohlen auf die Treppe und von dort in den Vorraum. Es war der Schreiber Ostaffjeff, ein Mensch, der Herrn Goljädkin genau bekannt, ein Mensch, der zuweilen für einige zehn Kopekenstücke zu allem bereit war. Da Herr Goljädkin die schwache Seite Ostaffjeffs kannte und richtig vermutete, daß er, der offenbar gerade aus einer benachbarten Kneipe kam, wahrscheinlich mehr denn je Verlangen nach Kopeken empfand, so entschloß sich unser Held, diese nicht zu sparen. Er ging sofort auf die Treppe und folgte Ostaffjeff in den Vorraum, rief ihn an und forderte ihn geheimnisvoll auf, mit ihm zur Seite zu treten, in ein verstohlenes Winkelchen hinter einem großen eisernen Ofen. Nachdem er ihn dahin geführt hatte, begann unser Held ihn auszufragen. „Nun, wie mein Freund, wie ist’s damit ... Du verstehst mich doch? ...“ „Ich höre, Ew. Wohlgeboren und wünsche Ew. Wohlgeboren Gesundheit.“ „Gut, mein Lieber, schon gut; ich danke dir, mein Lieber. Nun, aber, wie steht es denn, mein Lieber?“ „Wonach geruhen Sie zu fragen?“ Ostaffjeff hielt dabei die Hand vor den Mund. „Nun sieh, mein Lieber, ich spreche davon ... Du brauchst aber nun nicht etwa zu denken ... Sage, ist Andrej Philippowitsch hier? ...“ „Er ist hier.“ „Und die Beamten sind auch hier?“ „Und die Beamten auch, wie es sich gehört.“ „Und Seine Exzellenz gleichfalls?“ „Und auch Seine Exzellenz.“ Wieder legte der Schreiber seine Hand vor den Mund und blickte neugierig und verwundert Herrn Goljädkin an. Wenigstens schien es unserem Helden so. „Und es ist nichts Besonderes vorgefallen, mein Lieber?“ „Nein, gar nichts, gar nichts.“ „Und von mir, mein Lieber, ist da nicht dort so ... irgendwas von mir zu hören gewesen? ... Wie? Nur so, mein Freund, verstehst du?“ „Nein, es ist bis jetzt nichts zu hören gewesen,“ wieder legte der Schreiber seine Hand vor den Mund und sah Herrn Goljädkin sehr sonderbar an. Unser Held versuchte jetzt aus dem Gesicht Ostaffjeffs herauszulesen, ob er etwas vor ihm verheimliche. Und wirklich schien in ihm etwas vor sich zu gehen. Ostaffjeff wurde nämlich immer trockener, fast unhöflich und zeigte für Herrn Goljädkin lange nicht mehr soviel Teilnahme, wie zu Anfang des Gespräches. „Er ist auf gewisse Weise in seinem Recht,“ dachte Herr Goljädkin, „was gehe ich ihn eigentlich an? Vielleicht hat er auch schon von anderer Seite ein Geschenk empfangen? Vielleicht kommt er gerade ... und ich treffe ihn, weil – Aber auch ich werde ihm ...“ Herr Goljädkin begriff, daß die Zeit für das Trinkgeld gekommen war. „Hier, mein Lieber ...“ „Danke ergebenst, Ew. Wohlgeboren.“ „Ich werde dir noch mehr geben.“ „Schön, Ew. Wohlgeboren.“ „Jetzt, sofort werde ich dir noch mehr geben, und wenn die Sache beendigt ist, gebe ich dir noch einmal soviel. Verstehst du?“ Der Schreiber schwieg, er stand kerzengerade vor Herrn Goljädkin und sah ihn unbeweglich an. „Nun, jetzt sprich: ist etwas über mich zu hören? ...“ „Es scheint, daß bis jetzt noch ... davon ... nichts, bis jetzt wenigstens.“ Ostaffjeff antwortete in Pausen und ganz wie Herr Goljädkin, nahm auch er eine geheimnisvolle Miene an, zog die Augenbrauen hoch, sah zur Erde, versuchte den richtigen Ton zu treffen, kurz, tat alles, um auch noch das Versprochene zu verdienen, denn das Erhaltene sah er bereits für etwas endgültig von ihm Erworbenes an. „Also, es ist noch nichts bekannt? ...“ „Bis jetzt noch nichts.“ „Doch höre, ... es wird vielleicht ... noch bekannt werden? ...“ „Versteht sich, späterhin wird es vielleicht bekannt werden.“ „Schlimm!“ dachte unser Held. „Höre: hier hast du noch, mein Freund.“ „Danke ergebenst, Ew. Wohlgeboren.“ „War Wachramejeff gestern hier? ...“ „Ja, er war hier.“ „War nicht sonst noch jemand hier? Denke mal nach, mein Lieber!“ Der Schreiber suchte einen Augenblick in seinen Erinnerungen: offenbar fiel ihm nichts ein. „Nein, es war sonst niemand hier.“ „Hm!“ Es folgte ein Schweigen. „Höre, Lieber, noch eins: sage mir alles was du weißt.“ „Zu Befehl.“ „Sage mir, Lieber, wie ist er angeschrieben?“ „So ... gut ... –“ antwortete der Schreiber und sah mit großen Augen auf Herrn Goljädkin. „Wie das, ... gut –?“ „Das heißt, so ...“ Ostaffjeff zog die Augenbrauen noch bedeutend höher. Er stand dumm da und wußte entschieden nicht, was er antworten sollte. „Schlimm!“ dachte Herr Goljädkin. „Weiß man sonst etwas über Wachramejeff?“ „Ja, alles ganz wie früher.“ „Denke mal nach.“ „Ja, man sagt ...“ „Nun, was denn? ...“ Ostaffjeff bedeckte mit der Hand seinen Mund. „Ist nicht ein Brief von ihm da, an mich?“ „Ja, heute ging der Kanzleidiener Michejeff zu Wachramejeff in die Wohnung, ging zu einer Deutschen – wenn es nötig ist, kann ich auch hingehen und fragen?“ „Tu es, sei so gut, mein Lieber, um’s Himmels willen! Das heißt, ich meine nur so ... Du, mein Lieber, denke dir nichts dabei ... wie gesagt, ich meine nur so ... Ja, frage nach, mein Lieber, forsche, ob man da etwas vorbereitet – auf meine Rechnung? Und was er tun wird? Das muß ich wissen, versuche es zu erfahren, mein Lieber, ich werde dir dafür danken, mein Lieber ...“ „Zu Befehl, Ew. Wohlgeboren. Ihren Platz nahm heute Iwan Ssemjonowitsch ein.“ „Iwan Ssemjonowitsch? Ach! Ja! Wirklich!“ „Andrej Philippowitsch befahlen ihm, sich auf Ihren Platz zu begeben.“ „Wirklich? Aus welcher Veranlassung? Versuche es zu erfahren, mein Lieber; versuche alles zu erfahren – und ich werde dir danken, mein Lieber, das ist es ja, was ich nötig habe und wissen muß ... Du aber, glaube nur ja nicht, mein Lieber ...“ „Verstehe, verstehe, ich gehe sogleich –. Und Sie, Ew. Wohlgeboren, Sie gehen heute nicht hin?“ „Nein, mein Lieber, ich bin nur so ... ich bin nur so gekommen, um zu sehn, mein Lieber – ich würde dir aber dankbar sein, mein Lieber ...“ „Zu Befehl.“ Der Schreiber lief schnell und eilig die Treppe hinauf und Herr Goljädkin blieb allein. „Schlimm!“ dachte er. „Ach, schlimm, schlimm! Ach, sehr schlimm steht jetzt unsere Sache! Was hatte das alles zu bedeuten? Was bedeuteten einige Anspielungen dieses Kerls, und von wem gehen sie aus? Ah! Jetzt weiß ich’s. Sie haben die Sache erfahren und ihn infolgedessen hingesetzt. Übrigens, was ... hingesetzt? Dieser Andrej Philippowitsch hat Iwan Ssemjonowitsch befohlen, sich hinzusetzen, doch warum hat er ihn hingesetzt, zu welchem Zweck hat er ihn hingesetzt? Wahrscheinlich haben sie erfahren ... Dieser Wachramejeff intrigiert, das heißt, nicht Wachramejeff, er ist so dumm, wie ein Stück Holz, dieser Wachramejeff! Sie machen das alles für ihn und haben diesen Halunken nun hingesetzt. Oh, die Deutsche hat sie bestochen, die Einäugige! Ich hatte immer den Verdacht, daß diese Intrige nicht so einfach ist, und daß hinter diesem Altweiberklatsch etwas steckt ... Dasselbe habe ich auch Krestjan Iwanowitsch gesagt, daß sie sich geschworen haben, im moralischen Sinne einen Menschen zu morden – und da bedienen sie sich denn Karolina Iwanownas. Nein, hier sind Meister an der Arbeit, das sieht man! Hier, mein Herr, erkennt man eine Meisterhand und nicht die Wachramejeffs. Wie gesagt, dieser Wachramejeff ist dumm, doch ich weiß, wer für sie alle jetzt arbeitet: dieser Schurke ist es, dieser Usurpator meines Namens ist es! An ihm allein hängt alles, was ja auch zum Teil seine Erfolge in der Gesellschaft bewiesen haben. Es wäre wirklich wünschenswert, zu wissen, auf welchem Fuße er jetzt ... was er dort bei ihnen gilt? Doch wozu haben sie diesen Iwan Ssemjonowitsch genommen? Zum Teufel, wozu hatten sie denn den nötig? Ganz als ob sich kein anderer finden ließe. Übrigens, wen sie auch dahin gesetzt hätten, es wäre doch immer dasselbe gewesen! Das einzige, was ich weiß, ist, daß mir dieser Iwan Ssemjonowitsch schon längst verdächtig vorkam: so ein alter widerlicher Kerl! Man sagt, er leihe Geld aus und nehme Wucherzinsen. Doch das macht ja alles der Bär, in alle diese Sachen hat sich der Bär eingemischt. Das fing so an, bei der Ismailoffbrücke fing es an: so war es ...“ Hierbei verzog Herr Goljädkin gar schrecklich sein Gesicht, ganz, als hätte er in eine Zitrone gebissen – jedenfalls dachte er an etwas für ihn sehr Unangenehmes. „Nun, tut nichts, und übrigens!“ dachte er, „ich werde schon für mich stehen ... Warum kommt denn der Ostaffjeff nicht? Wahrscheinlich haben sie ihn dort aufgehalten! Es ist zum Teil gut, daß ich so intrigiere und auch meinerseits Schlingen lege. Ostaffjeff brauche ich nur ein Trinkgeld zu geben und so habe ich ihn – auf meiner Seite. Vielleicht tun sie das auch ihrerseits und intrigieren ihrerseits durch ihn gegen mich? Denn der Schurke sieht aus wie ein Räuber, der reine Räuber! Er verheimlicht alles, der Schuft! ‚Nein, nichts,‘ sagt er, ‚ich danke, Ew. Wohlgeboren,‘ sagt er. Solch ein Räuber!“ Man hörte ein Geräusch ... Herr Goljädkin kroch ganz in sich zusammen und sprang hinter den Ofen. Jemand kam die Treppe herunter und ging auf die Straße. „Wer kann da jetzt weggegangen sein?“ dachte Herr Goljädkin bei sich. Nach einer Weile hörte man wieder Schritte ... Jetzt konnte es Herr Goljädkin nicht mehr aushalten, er streckte ein wenig seine Nase aus dem Versteck heraus, zog sie aber schnell wieder zurück, als wäre sie ihm mit einer Nadel gestochen worden. Dieses Mal konnte man sich ja denken, wer da kam, ... der Schuft, der Intrigant und Verderber selbst ... Er ging vorüber, wie gewöhnlich, mit seinen gemeinen, kleinen Schrittchen, und warf seine Beinchen aus, ganz als wolle er jemandem ein Bein stellen. „Schurke!“ murmelte unser Held vor sich hin. Übrigens konnte es Herrn Goljädkin nicht entgehen, daß der Schurke unter dem Arm eine große grüne Mappe trug, die Seiner Exzellenz gehörte. „Also wieder in besonderen Aufträgen,“ dachte Herr Goljädkin, verkroch sich noch mehr und wurde rot vor Ärger. Kaum war Herr Goljädkin der Jüngere an Herrn Goljädkin dem Älteren vorübergegangen, ohne ihn zu bemerken, als man zum dritten Male Schritte hörte: wie Herr Goljädkin sich gedacht, waren es die Schritte eines Schreibers. Wirklich: es war das glänzende Gesicht eines Schreibers, das zu ihm hinter den Ofen sah: nur war es nicht das Gesicht Ostaffjeffs, sondern das eines anderen Schreibers, Pissarenko genannt. Das setzte Herrn Goljädkin in Erstaunen. „Warum hat er andere in das Geheimnis eingeweiht?“ dachte unser Held. „Ach, diese Schurken – alle! Es gibt nichts Heiliges für sie!“ „Nun, mein Lieber?“ sagte er zu Pissarenko gewandt. „Von wem kommst du, mein Lieber? ...“ „In Ihrer Sache gibt es noch nichts Neues, gar keine Nachrichten, wenn was kommen sollte, so werde ich es Ihnen überbringen.“ „Und Ostaffjeff?“ „Der, Ew. Wohlgeboren, kann jetzt nicht abkommen. Seine Exzellenz ist schon zweimal durch unsere Abteilung gekommen, und auch ich habe keine Zeit.“ „Danke dir, mein Lieber, danke dir ... Aber du sagst mir doch ...“ „Bei Gott, ich habe keine Zeit ... Jeden Augenblick werden wir gerufen ... Aber belieben Sie hier noch stehen zu bleiben, wenn etwas in betreff Ihrer Sache geschieht, so werden wir Sie benachrichtigen. –“ „Warte, warte, mein Lieber! Sofort mein Lieber! ... Hier, nimm diesen Brief, mein Lieber, ich werde dir danken, mein Freund.“ „Gut!“ „Gib ihn ab, mein Lieber, gib ihn Herrn Goljädkin.“ „Goljädkin?“ „Ja, mein Lieber, Herrn Goljädkin.“ „Schön! Ich werde ihn geben, sobald ich Zeit finde. Sie aber bleiben hier inzwischen stehen. Hier wird Sie niemand sehen ...“ „Nein, mein Lieber, du mußt nicht denken ... daß ich hier stehe, damit mich niemand sieht. Ich, mein Freund, werde nicht mehr hier ... ich werde dort in der Nebenstraße warten. Dort ist ein Kaffeehaus, dort werde ich warten, und wenn etwas passiert, wirst du mich benachrichtigen, verstehst du?“ „Schön. Gehen Sie nur, ich verstehe ...“ „Ich werde mich dir dankbar erweisen, mein Lieber!“ rief Herr Goljädkin dem Schreiber nach, der sich endlich von ihm befreit hatte. „Der Schuft wurde ordentlich grob zuletzt,“ dachte unser Held und schlich sich hinter dem Ofen hervor. „Dort steckt noch ein Haken ... Das ist klar ... Zuerst war er so, dann so ... Übrigens, vielleicht mußte er sich auch wirklich beeilen. Vielleicht haben sie dort viel zu tun. Und Seine Exzellenz ging zweimal durch ihre Abteilung ... Aus welcher Veranlassung geschah das wohl? Ach! nun, einerlei! Übrigens, tut nichts ... vielleicht –; nun, wir werden ja sehen ...“ Herr Goljädkin hatte bereits die Tür geöffnet und wollte soeben auf die Straße hinaustreten, als plötzlich, gerade in dem Augenblick, der Wagen Seiner Exzellenz rasselnd vorfuhr. Herrn Goljädkin war das kaum erst bewußt geworden, als auch schon die Tür der Equipage von innen geöffnet wurde und der in ihr sitzende Herr auf die Treppe hinaussprang. Der Betreffende aber war niemand anders, als jener Herr Goljädkin der Jüngere, welcher, wie er selbst gesehen hatte, vor etwa zehn Minuten weggegangen war. Doch Herr Goljädkin der Ältere erinnerte sich gleichzeitig, daß die Wohnung der Exzellenz sich in der nächsten Nähe befand. „Er war in besonderem Auftrage ...“ dachte sich unser Held. Unterdessen hatte Herr Goljädkin der Jüngere aus dem Wagen die dicke grüne Aktenmappe und einige andere Papiere hervorgezogen, gab dem Kutscher noch einen Befehl, öffnete die Tür, stieß mit ihr beinahe gegen Herrn Goljädkin den Älteren und – als ob er ihn beleidigen und absichtlich nicht bemerken wollte – eilte schnell die Treppe zur Kanzlei hinauf. „Schlimm!“ dachte Herr Goljädkin. „Was hat die Sache doch jetzt für eine Wendung genommen! Gott, mein Gott!“ Einen Augenblick stand unser Held unbeweglich da, dann faßte er sich endlich. Ohne lange nachzudenken, doch unter starkem Herzklopfen, an allen Gliedern zitternd, lief er gleichfalls die Treppe hinauf, seinem Ebenbilde nach. „Mag es sein, wie es ist, was geht’s mich an! Ich bin hier Nebensache!“ Im Vorraum nahm er seinen Hut ab, zog Mantel und Galoschen aus. Als Herr Goljädkin in das Bureau eintrat, war es bereits halbdunkel. Weder Andrej Philippowitsch noch Anton Antonowitsch waren anwesend. Beide befanden sich im Kabinett des Direktors, um Meldungen zu machen. Der Direktor wiederum war, wie es hieß, von neuem zur Exzellenz geeilt. Infolge dieser Umstände, und da es bereits, wie gesagt, zu dunkeln begonnen hatte, auch die Bureauzeit sich ihrem Ende näherte, hatten die Beamten, vorzugsweise die jüngeren, sich bereits süßer Beschäftigungslosigkeit ergeben. Sie gingen auf und ab, unterhielten sich miteinander, balgten sich und lachten. Und einige der allerjüngsten, die ranglosesten unter den noch ranglosen Beamten, hatten im stillen, begünstigt durch das allgemeine Geräusch, in einer Ecke am Fenster, „Schrift oder Adler“ zu spielen begonnen. Herr Goljädkin, der sich zu benehmen wußte und zudem das lebhafte Bedürfnis fühlte, sich jemandem anzuschließen, ging auf einen Kollegen zu, mit dem er sich sonst gut stand, wünschte ihm einen guten Tag usw. Aber man erwiderte die Höflichkeit des Herrn Goljädkin auf eine seltsame Weise. Er wurde unangenehm überrascht durch die allgemeine Kälte, Trockenheit und man kann wohl sagen Strenge des Empfanges. Es reichte ihm niemand die Hand. Einige sagten einfach „guten Tag“ und wandten sich ab, andere nickten nur mit dem Kopf, irgend jemand wandte sich einfach um, als hätte er ihn nicht bemerkt, und einige sogar – und was Herrn Goljädkin am meisten beleidigte – einige aus der ranglosesten Jugend, halbe Kinder, die, wie Herr Goljädkin sich ganz richtig ausdrückte, nur erst „Adler oder Schrift“ zu spielen verstanden und sich im übrigen umherzutreiben pflegten – umgaben Herrn Goljädkin und gruppierten sich um ihn, so daß sie ihm beinahe den Durchgang versperrten. Alle blickten sie ihn mit einer beleidigenden Neugier an. Das war entschieden ein schlechtes Zeichen! Herr Goljädkin fühlte es und bereitete sich vernünftigerweise vor, seinerseits nichts zu bemerken. Plötzlich trat aber ein ganz unerwarteter Umstand ein, der, wie man sagt, Herrn Goljädkin vollständig vernichtete. In dem Kreis der jungen, ihn umgebenden Kollegen erschien plötzlich und gerade für Herrn Goljädkin in dem allerpeinlichsten Augenblick – erschien Herr Goljädkin der Jüngere, wie immer fröhlich, wie immer mit einem Lächeln auf den Lippen, wie immer tänzelnd, kurz, wie immer als der geborene Spaßmacher und Gesellschaftsmensch, der er war, mit leichter Zunge und leichten Füßen, so wie er stets erschien, so wie er schon früher, so wie er noch gestern erschienen war, als er so ungelegen und verhängnisvoll wie nur möglich für Herrn Goljädkin auftauchte. Schmunzelnd beweglich, mit einem Lächeln, das allen zu sagen schien: „Guten Abend“, drehte er sich im Kreise der Beamten herum, reichte dem die Hand, klopfte diesem auf die Schulter; umarmte schnell den dritten, erklärte dem vierten, mit welchen Aufträgen er für Seine Exzellenz beschäftigt gewesen sei, wohin er gefahren war, was er getan und was er mit sich gebracht hatte; den fünften, offenbar seinen besten Freund, küßte er auf den Mund – kurz, alles geschah genau so, wie es Herrn Goljädkin dem Älteren geträumt hatte. Nachdem er genug herumgesprungen war und alle auf seine Art begrüßt und für sich eingenommen hatte, ob es nun nötig oder unnötig war, hatte er nur Herrn Goljädkin den Älteren, wohl aus Versehen, noch gar nicht bemerkt: erst jetzt reichte er ihm die Hand. Und wahrscheinlich –, und auch nur aus Versehen –, weil er den betrügerischen Herrn Goljädkin den Jüngeren jetzt erst bemerkte, ergriff unser Held sofort und gierig und ganz unerwartet dessen Hand und drückte sie auf die allerkräftigste, freundschaftlichste Weise, drückte sie mit ganz sonderbarer innerer Bewegung und mit den rührendsten Gefühlen. Es ist schwer zu sagen, ob unser Held dabei einem plötzlichen Antriebe folgte und durch die eine Bewegung seines scheinheiligen Feindes verführt wurde – oder ob er in seiner tiefsten Seele die ganze furchtbare Größe seiner Hilflosigkeit spürte und erkannte. Denn Tatsache war, daß Herr Goljädkin der Ältere, bei gesundem Verstande, aus freiem Willen und vor allen Zeugen feierlich die Hand dessen drückte, den er doch seinen Todfeind nannte. Aber wie groß war seine Verwunderung, das Entsetzen und die Wut, wie groß war der Schreck und die Schande Herrn Goljädkin des Älteren, als sein Verräter und Todfeind, der hinterlistige Herr Goljädkin der Jüngere, den begangenen Fehler des unschuldigen und treulos verratenen Menschen bemerkte und gefühllos, schamlos, mitleidslos, gewissenlos, mit unerhörter Niedertracht und Grobheit, plötzlich seine Hand aus der Hand Herrn Goljädkins des Älteren riß. Und nicht genug damit, daß er ihm seine Hand entzog und sie abwischte, als hätte er sie durch etwas Unreines beschmutzt – er spie auch noch zur Seite und begleitete das mit einer höchst beleidigenden Gebärde. Und noch nicht genug damit, er zog auch noch sein Taschentuch heraus und wischte sich auf die unerlaubteste Weise die Finger ab, dies sich auf einen Augenblick in der Hand des Herrn Goljädkin befunden hatten. Nach diesem Verfahren sah sich Herr Goljädkin der Jüngere nach seiner niederträchtigen Gewohnheit im Kreise um, tat es, damit alle sein Benehmen bemerken sollten, blickte allen verständnisinnig in die Augen und bemühte sich offenbar, bei allen einen ungünstigen Eindruck von Herrn Goljädkin dem Älteren hervorzurufen. Das Benehmen des widerwärtigen Herrn Goljädkins des Jüngeren schien jedoch offenbar eher Unwillen bei den Anwesenden hervorzurufen. Sogar die „Jugend“ bezeugte ihre Unzufriedenheit. Ringsum erhob sich Gespräch und Murren. Die allgemeine Bewegung konnte Herrn Goljädkin dem Älteren nicht entgehen. Doch plötzlich – ein rechtzeitiges Wort, ein gelungener Witz von den Lippen Herrn Goljädkins des Jüngeren – und die letzte Hoffnung unseres Helden wurde wieder zerstört und die Wage neigte sich von neuem zugunsten seines Todfeindes. „Das ist unser russischer Faublas, meine Herren! Erlauben Sie, Ihnen den jungen Faublas vorzustellen,“ quiekte Herr Goljädkin der Jüngere mit der ihm eigenen Frechheit – und wies dabei auf den ganz erstarrten echten Herrn Goljädkin. „Küssen wir uns, mein Herzchen!“ fuhr er in unerträglicher Familiarität fort, indem er auf den von ihm verräterisch Betrogenen zutrat. Dieser nichtswürdige Scherz Herrn Goljädkins des Jüngeren war es, der ein williges Echo fand, um so mehr, als in ihm eine Anspielung auf einen Umstand enthalten schien, der augenscheinlich allen bekannt war. Unser Held fühlte die Arme seines Feindes auf seinen Schultern lasten. Doch er hatte sich schon gefaßt. Mit glühenden Blicken, mit bleichem Gesicht und einem starren Lächeln riß er sich aus der Menge los und mit unsicheren, wankenden Schritten begab er sich geradewegs zum Kabinett Seiner Exzellenz. Im Vorzimmer stieß er jedoch auf Andrej Philippowitsch, der soeben das Kabinett Seiner Exzellenz verlassen hatte. Und obgleich auch noch eine Menge anderer unbeteiligter Personen anwesend war, schenkte unser Held diesen doch nicht die geringste Aufmerksamkeit. Entschlossen, kühn, innerlich darüber selbst verwundert, doch seiner Kühnheit sich rühmend, redete er vielmehr unumwunden Andrej Philippowitsch an, der über diesen plötzlichen Überfall nicht wenig erstaunt war. „Wie! ... Was wollen Sie ... was ist Ihnen gefällig?“ fragte der Abteilungschef, ohne den auf ihn zustolpernden Herrn Goljädkin weiter anzuhören. „Andrej Philippowitsch, ich ... kann ich, Andrej Philippowitsch, kann ich jetzt Aug’ in Aug’ eine Unterredung mit Seiner Exzellenz haben?“ sagte klar und deutlich unser Held und sah mit einem sehr entschlossenen Blick auf Andrej Philippowitsch. „Was? Natürlich: nicht.“ Andrej Philippowitsch maß Herrn Goljädkin vom Kopf bis zu den Füßen. „Ich, Andrej Philippowitsch – ich möchte nämlich meine Verwunderung ausdrücken, daß hier niemand den Usurpator und Schurken erkennt.“ „W–a–a–s?“ „Den Schurken, Andrej Philippowitsch.“ „Von wem belieben Sie zu sprechen?“ „Von einer bekannten Person, Andrej Philippowitsch. Ja, Andrej Philippowitsch, ich spiele auf eine bekannte Person an. Ich bin in meinem Recht ... Ich denke, Andrej Philippowitsch, daß die Regierung solch eine innere Regung, wie ich sie verspüre, unterstützen müßte,“ fügte Herr Goljädkin hinzu, offenbar ganz außer sich geraten. „Andrej Philippowitsch ... Sie sehen doch selbst, Andrej Philippowitsch, daß diese Regung in mir echt ist und meine wohlgesinnten Ansichten und Absichten ausdrückt – den Chef als einen Vater anzusehen, die Regierung als einen Vater anzusehen und sein Schicksal ihr blindlings anzuvertrauen. So, so ist es ... also so ...“ Herrn Goljädkins Stimme fing an zu zittern, sein Gesicht wurde dunkelrot und zwei Tränen hingen an seinen Wimpern. Als Andrej Philippowitsch Herrn Goljädkin in dieser Weise reden hörte, war er so verwundert, daß er unwillkürlich einige Schritte zurücktrat. Dann blickte er sich sehr unruhig um ... Es ist schwer zu sagen, wie die Sache geendigt hätte ... Plötzlich öffnete sich die Tür zum Kabinett Seiner Exzellenz und dieser selbst trat in Begleitung einiger Beamter heraus. Alle, die im Zimmer waren, schlossen sich ihm an. Seine Exzellenz rief Andrej Philippowitsch zu sich und ging, sich mit ihm unterredend, weiter. Als sich bereits alle aus dem Zimmer entfernt hatten, besann sich auch Herr Goljädkin. Unterwürfig suchte er Schutz unter den Flügeln Anton Antonowitsch Ssjetotschkins, der seinerseits hinter allen her hinkte, mit einem, wie es Herrn Goljädkin schien, sehr strengen und nachdenklichen Gesicht. „Auch dort bin ich abgefallen, auch dort habe ich nur Unfug angerichtet,“ dachte Herr Goljädkin bei sich, „nun, tut nichts. Ich hoffe, wenigstens Sie, Anton Antonowitsch, werden geneigt sein, mich anzuhören und sich für meine Sache zu verwenden,“ wandte er sich an diesen mit leiser und noch vor Erregung zitternder Stimme. „Von allen verlassen, wende ich mich an Sie. Ich verstehe nicht, was die Worte Andrej Philippowitschs bedeuten, Anton Antonowitsch. Können Sie sie mir erklären, wenn möglich ...“ „Zu seiner Zeit wird sich alles erklären,“ antwortete ihm nach einer langen Pause streng Anton Antonowitsch, und, wie es Herrn Goljädkin schien, mit einer Miene, die deutlich ausdrückte, daß Anton Antonowitsch durchaus nicht wünschte, das Gespräch weiter fortzusetzen. „Sie werden in kurzer Zeit alles erfahren, noch heute werden Sie formell von allem unterrichtet werden.“ „Was heißt das, formell, Anton Antonowitsch? Warum denn gerade formell?“ fragte kleinlaut unser Held. „Nicht uns kommt es zu, Jakoff Petrowitsch, darüber zu urteilen, wie die Regierung entscheidet.“ „Warum denn die Regierung, Anton Antonowitsch,“ fragte Herr Goljädkin noch kleinlauter, „warum denn die Regierung? Ich sehe keinen Grund, warum man hier die Regierung beunruhigen sollte, Anton Antonowitsch ... Sie wollen mir vielleicht etwas in bezug auf das Gestrige sagen, Anton Antonowitsch?“ „Nein, nicht das Gestrige: dort hinkt noch etwas anderes bei Ihnen.“ „Was hinkt denn bei mir, Anton Antonowitsch? Mir scheint, Anton Antonowitsch, daß nichts an mir hinkt ...“ „Schlaue Mätzchen wollten Sie machen!“ unterbrach Anton Antonowitsch den völlig bestürzten Herrn Goljädkin in scharfem Ton. Herr Goljädkin zuckte zusammen und wurde weiß wie ein Tuch. „Freilich, Anton Antonowitsch,“ sagte er mit kaum hörbarer Stimme, „wenn man nur die Stimme der Verleumdung und die unserer Feinde hört, ohne die Rechtfertigung von der anderen Seite zuzulassen, dann, freilich ... freilich, Anton Antonowitsch, dann muß man unschuldig leiden, Anton Antonowitsch, unschuldig und um nichts leiden.“ „Ja – ja – ja, aber Ihr boshafter Angriff auf den Ruf eines wohlgesitteten Mädchens aus einer ehrenwerten, achtenswerten und bekannten Familie, die Ihnen Wohltaten erwiesen hat? ...“ „Welch ein Angriff, Anton Antonowitsch?“ „Ja – ja – ja. Und dann Ihr Betragen dem anderen Mädchen gegenüber, wenn auch einem armen, doch von ehrlicher ausländischer Herkunft – davon wissen Sie wohl auch nichts?“ „Erlauben Sie, Anton Antonowitsch ... belieben Sie mich, Anton Antonowitsch, anzuhören ...“ „Und Ihr treuloses Verfahren gegen eine andere Person – und die verleumderische Beschuldigung dieser anderen Person in Dingen, in denen Sie selbst, gerade Sie, gesündigt haben? Wie nennt man denn das?“ „Ich, Anton Antonowitsch, ich habe ihn nicht hinausgeworfen,“ sprach zitternd unser Held – „und Petruschka, das heißt, meinen Diener, habe ich nicht dazu angehalten ... Er hat mein Brot gegessen, Anton Antonowitsch, hat meine Gastfreundschaft genossen,“ fügte ausdrucksvoll und mit tiefem Gefühl unser Held hinzu, so daß ihm das Kinn zu zittern anfing und er schon wieder Tränen vergießen wollte. „Das sagen Sie mir so, Jakoff Petrowitsch, daß er Ihr Brot gegessen,“ erwiderte Anton Antonowitsch und in seiner Stimme hörte man ordentlich die Hinterlist, so daß sich das Herz Herrn Goljädkins schmerzhaft zusammenzog. „Erlauben Sie noch eines, Anton Antonowitsch, untertänigst zu fragen, ist von alledem etwas Seiner Exzellenz bekannt?“ „Selbstverständlich! Doch entschuldigen Sie mich bitte jetzt, ich habe keine Zeit, mit Ihnen ... Heute noch werden Sie alles erfahren, was Sie zu erfahren nötig haben.“ „Erlauben Sie, um’s Himmels willen, noch einen Augenblick, Anton Antonowitsch.“ „Später, später, erzählen Sie später ...“ „Nein, Anton Antonowitsch: ich, sehen Sie, hören Sie nur, Anton Antonowitsch ... Ich liebe durchaus nicht die Freigeisterei, Anton Antonowitsch: ich fliehe sie: ich bin durchaus bereit, und ich habe sogar die Idee gehabt ...“ „Gut, gut. Ich habe schon gehört.“ „Nein, das haben Sie nicht gehört, Anton Antonowitsch. Das ist etwas ganz anderes, Anton Antonowitsch, das ist gut, wirklich gut und angenehm zu hören ... Ich gebe diese Idee zu, wie schon gesagt, Anton Antonowitsch, daß durch die Fügung Gottes zwei ganz ähnliche Wesen geschaffen wurden, und daß die Regierung, die diese Fügung Gottes sah, diese beiden Zwillinge versorgt hat. Das ist gut, Anton Antonowitsch, Sie sehen, daß das sehr gut ist, und daß ich weit entfernt von aller Freidenkerei bin. Ich sehe die wohltätige Behörde als Vater an. Der Staat – das heißt, die wohltätige Regierung, und Sie ... das heißt ... ein junger Mensch muß seinen Dienst tun. Unterstützen Sie mich, Anton Antonowitsch ... stehen Sie mir bei, Anton Antonowitsch ... Ich tue nichts Böses, Anton Antonowitsch ... um Gottes willen, noch ein Wort ... Anton Antonowitsch ...“ Aber Anton Antonowitsch war schon weit entfernt von Herrn Goljädkin ... Unser Held wußte nicht mehr, wo er stand, was er hörte, was er tat und was mit ihm geschah, so sehr erschütterte und verwirrte ihn alles Gehörte und Geschehene. Mit flehenden Blicken suchte er unter der Menge von Beamten nach Anton Antonowitsch, um sich noch weiter vor dessen Augen zu rechtfertigen und ihm irgend etwas Edles und Angenehmes von sich zu sagen ... Doch zugleich begann, nach und nach, ein neues Licht durch die Verwirrung des Herrn Goljädkin zu dringen, ein neues, schreckliches Licht, das ihm plötzlich die Aussicht in bis jetzt vollkommen unbekannte, ganz ungeahnte Umstände eröffnete ... In diesem Augenblick stieß jemand unseren Helden in die Seite. Er blickte sich um. Vor ihm stand Pissarenko. „Den Brief, Ew. Wohlgeboren.“ „Ah! ... Du bist schon dort gewesen, mein Lieber?“ „Nein, den hat man schon morgens um zehn Uhr hierher gebracht. Ssergej Michejeff brachte ihn aus der Wohnung des Gouvernements-Sekretärs Wachramejeff.“ „Gut, mein Freund, gut, ich werde dir dafür erkenntlich sein, mein Lieber.“ Mit diesen Worten steckte Herr Goljädkin den Brief in die Seitentasche seines Uniformrockes und knöpfte den letzteren von oben bis unten zu, dann blickte er sich um und bemerkte zu seiner Verwunderung, daß er sich bereits in der Vorhalle des Departements befand, umgeben von Beamten, die dem Ausgange zuströmten, da die Kanzleistunden ihr Ende hatten. Herr Goljädkin hatte diesen letzteren Umstand nicht nur nicht bemerkt, er konnte auch nicht begreifen, daß er sich plötzlich in Mantel und Galoschen befand und seinen Hut in der Hand hielt. Jetzt standen die Beamten alle unbeweglich in ehrfurchtsvoller Erwartung da. Die Ursache war nämlich die: Exzellenz selbst wartete unten auf seine Equipage, die sich aus irgendwelchen Gründen verspätet hatte, und führte mit zwei Räten und Andrej Philippowitsch ein sehr interessantes Gespräch. Etwas entfernt von ihnen stand Anton Antonowitsch Ssjetotschkin und noch einige andere Beamte, die beflissen mitlachten, als sie sahen, daß Seine Exzellenz zu scherzen und zu lachen beliebte. Die Beamten, die sich oben auf der Treppe drängten, lachten gleichfalls, wohl in Erwartung, daß Exzellenz wieder lachen würde. Und es lächelte auch der dicke aufgeblasene Portier Fedossejitsch, der mit Ungeduld den Augenblick seiner täglichen Genugtuung erwartete, die darin bestand, daß er mit einem gewaltigen Ruck die eine Hälfte der großen Tür aufriß, um dann, zu einem Bogen sich tief hinabbiegend, Seiner Exzellenz ehrerbietig den Weg freizugeben. Doch mehr als alle freute sich offenbar der unwürdige, unehrenwerte Feind Herrn Goljädkins. In diesem Augenblick vergaß er sogar die um ihn stehenden Beamten, bei denen er sich sonst immer nach seiner unangenehmen Manier so beliebt zu machen suchte, und ließ die gute Gelegenheit unbenutzt, es auch jetzt zu tun. Er verwandelte sich ganz in Augen und Ohren und beugte sich weit vor, wahrscheinlich um Seine Exzellenz besser sehen und hören zu können, und hin und wieder nur, an der krampfhaften Bewegung der Hände und Füße, bemerkte man die Aufregung seiner Seele. „Sieh, wie er sich Mühe gibt!“ dachte unser Held. „Tut, als wäre er ein Günstling, der Schurke! Ich möchte gern wissen, wie er es nur macht, um sich in der höheren Gesellschaft zu behaupten. Weder Geist, noch Charakter, noch Bildung, noch Gefühl: aber es gelingt dem Schurken! Mein Gott, wie schnell doch ein Mensch vorwärts kommen kann – wenn man das bedenkt – und sich überall anfreundet! Ich will darauf schwören, daß dieser Mensch noch weit kommen wird, Glück hat so ein Schuft! Ich möchte nur wissen, was er ihnen da zusteckt? Welche Beziehungen und Geheimnisse zwischen ihnen bestehen? Mein Gott! Wie, wenn auch ich mit ihm ein wenig ... – wenn ich ihn vielleicht fragen würde ... so und so ... ich werde vom Kampf zurücktreten ... nehmen wir einfach an, ich sei der Schuldige ... ich weiß doch, Exzellenz, es muß auch neue Beamte geben ... über alles aber, was mich angeht, über dieses Dunkle, Unerklärliche werde ich mich nicht mehr aufregen ... Auch widersprechen werde ich nicht mehr und alles in Geduld und Ergebung tragen – wie? Sollte ich nicht so handeln? ... Er ist sonst nicht zu fangen, der Halunke, und mit Worten nicht zu schlagen. Vernunft kann man ihm auch nicht in den Kopf bringen! Also ... wollen wir es versuchen. Sollte es sein, daß ich einen günstigen Augenblick erwische, so werde ich es versuchen ...“ In seiner Unruhe, Sorge und Verwirrung fühlte er, daß es so nicht bleiben könne, daß der entscheidende Augenblick gekommen sei, um sich endlich mit jemandem auseinanderzusetzen. Unser Held bewegte sich daher ein wenig auf die Stelle zu, wo sein abscheulicher und rätselhafter Feind stand, doch in demselben Augenblick rollte die langerwartete Equipage Seiner Exzellenz vor die Tür. Fedossejitsch riß die Tür auf, machte drei Bogen nacheinander, während Seine Exzellenz an ihm vorüberging. Die Wartenden stürzten alle auf einmal zum Ausgang und drängten Herrn Goljädkin den Älteren von Herrn Goljädkin dem Jüngeren ab. „Du entgehst mir nicht!“ dachte unser Held, und schob sich durch die Menge, ohne den anderen aus dem Auge zu verlieren. Die Menge hatte sich endlich zerstreut, unser Held fühlte sich wieder befreit und stürzte seinem Feinde nach. XI. Atemlos und wie auf Flügeln eilte Herr Goljädkin dem sich seinerseits gleichfalls sehr beeilenden Ebenbilde nach. Er fühlte in sich eine außerordentlich große Energie. Und doch, ungeachtet dieser Energie, schien es Herrn Goljädkin, daß ihn eine kleine Mücke, wenn eine solche zurzeit in Petersburg gelebt hätte, mit Leichtigkeit mit ihren Flügeln überholen könnte. Er fühlte, daß er vor Schwäche förmlich zusammensank, daß ihn nur eine ganz fremde Kraft weitertrug, daß er selbst nicht mehr gehen konnte und seine Füße den Dienst versagten. Konnte sich alles das überhaupt noch zum besten wenden? „Zum besten oder nicht zum besten,“ dachte Herr Goljädkin, atemlos vom Laufen, „daß die Sache ... doch verspielt ist ... darüber besteht jetzt nicht mehr der kleinste Zweifel ... daß ich vollständig verloren bin, das ist ja bekannt ... beschlossen ... entschieden und unterschrieben!“ Aber ungeachtet dessen war unser Held doch wie von den Toten auferstanden, es war, als hätte er eine Schlacht gewonnen und einen großen Sieg erfochten, als es ihm endlich gelang, seinen Feind, der soeben im Begriff war, seinen Fuß auf den Tritt eines Wagens zu setzen, am Mantel zu packen. „Geehrter Herr! Geehrter Herr!“ rief Herr Goljädkin dem Jüngeren zu, froh, daß er ihn doch noch erwischt ... „Geehrter Herr, ich hoffe, daß Sie ...“ Aber: „Nein, hoffen Sie schon bitte lieber nichts,“ antwortete ablehnend der gefühllose Feind Herrn Goljädkins, während er sich zugleich aus allen Kräften bemühte, mit dem anderen Fuß in den Wagen zu gelangen und seinen Mantel aus den Händen Herrn Goljädkins zu befreien, – denselben Mantel, an den sich Herr Goljädkin seinerseits mit allen ihm von Natur zu Gebote stehenden Kräften geklammert hielt. „Jakoff Petrowitsch! Nur zehn Minuten ...“ „Entschuldigen Sie, ich habe keine Zeit.“ „Sehen Sie doch selbst ein, Jakoff Petrowitsch ... bitte, Jakoff Petrowitsch ... Um Christi willen, Jakoff Petrowitsch ... Sehen Sie doch ein ... daß ich mich mit Ihnen aussprechen muß ... gleich auf dem Fuße ... in einer Sekunde, Jakoff Petrowitsch! ...“ „Mein Lieber, ich habe keine Zeit,“ erwiderte der lügnerische Feind Herrn Goljädkins in einem unehrerbietig-familiären Tone und mit erheuchelter Güte. „Zu einer anderen Zeit, glauben Sie mir, von ganzer Seele und aus vollem Herzen; aber jetzt – jetzt ist es wirklich unmöglich ...“ „Du Schurke!“ dachte unser Held ... Aber: „Jakoff Petrowitsch!“ rief er kläglich, „Ihr Feind bin ich niemals gewesen. Böse Menschen haben mich unbilligerweise verleumdet ... Meinerseits bin ich bereit ... Ist es Ihnen gefällig, Jakoff Petrowitsch, so könnten wir beide zusammen ... dort in dieses Café gehen und aus vollem Herzen, wie Sie soeben so schön sagten, und in gerader, edler Offenheit – ... dann wird sich alles von selbst aufklären. – Ja, Jakoff Petrowitsch! Dann wird sich alles von selbst aufklären ...“ „Ins Café? Schön. Ich habe nichts dagegen, nur unter einer Bedingung, du mein besseres Selbst ... unter einer Bedingung – daß sich dort alles von selbst aufklärt. Das heißt in einer Weise, mein Lieber ...“ Herr Goljädkin der Jüngere stieg aus dem Wagen und klopfte unserem Helden unverschämt vertraulich auf die Schulter. „Freund meiner Seele, für dich, Jakoff Petrowitsch, bin ich bereit, überall hinzugehen! So ein Schelm, wirklich, er macht mit den Menschen, was er will!“ fuhr der verlogene Freund Herrn Goljädkins fort, indem er sich mit leichtem Lächeln tänzelnd um ihn herum drehte. Das von der Hauptstraße ziemlich weit entfernte Café, wohin die beiden Herren gingen, war in diesem Augenblicke vollkommen leer. Eine dicke Deutsche erschien hinter dem Ladentisch, als beim Eintritt die Türglocke ertönte. Herr Goljädkin ging mit seinem unwürdigen Freunde in das zweite Zimmer, wo ein glattgekämmter Kellner sich eben bemühte, das erloschene Feuer im Ofen wieder anzufachen. Auf Wunsch des Herrn Goljädkin des Jüngeren wurde Schokolade gebracht. „Ein unvergleichliches Weibchen!“ bemerkte Herr Goljädkin der Jüngere, indem er Herrn Goljädkin dem Älteren schalkhaft zulächelte. Unser Held errötete und schwieg. „Ach, ja, ich habe vergessen, entschuldigen Sie, ich kenne Ihren Geschmack. Wir, mein Herr, haben eine Vorliebe für schlanke Deutsche. Wir, Jakoff Petrowitsch, redliche Seele, wir ziehen Schlanke vor, wenn sie noch nicht aller Vorzüge bar sind. Wir nehmen bei ihnen unsere Wohnung, verderben ihre Sittlichkeit, schenken ihnen ob der Bier- und Milchsuppen, die sie kochen, unser Herz und geben ihnen schriftliche Versprechen ... das ist’s, was wir tun, du Faublas, du Verführer!“ Auf diese Weise machte Herr Goljädkin eine sehr unnütze und boshaft schlaue Anspielung auf eine bekannte Person weiblichen Geschlechts, lächelte unserem Helden dabei unter dem Anschein der Liebenswürdigkeit zu und trug eine erlogene Freude über das Zusammentreffen mit ihm zur Schau. Als er aber bemerkte, daß Herr Goljädkin der Ältere durchaus nicht so dumm und unerfahren war, um alles hinzunehmen, beschloß er, seine Taktik zu ändern und sich noch rücksichtsloser zu geben. Und nun zeigte sich die ganze Abscheulichkeit des falschen Herrn Goljädkin, der mit wahrhaft empörender Unverschämtheit und Vertraulichkeit dem biederen und wahren Herrn Goljädkin auf die Schulter klopfte und, nicht genug damit, ihn auf eine unpassende, in anständiger Gesellschaft ganz ungewohnte Weise und nur, um seine Abscheulichkeit noch zu übertrumpfen, ohne auf den Widerstand des empörten Herrn Goljädkin zu achten, einfach in die Backe kniff. Beim Anblick dieser Verworfenheit verstummte, innerlich rasend, unser Held ... fürs erste wenigstens. „Das ist die Sprache meiner Feinde,“ sagte er schließlich, nachdem er sich vernünftigerweise bezähmt hatte, mit zitternder Stimme. Im selben Augenblick sah unser Held aber unruhig nach der Tür. Herr Goljädkin der Jüngere war offenbar so vorzüglicher Laune und bereit zu allerlei weiteren kleinen Scherzen, wie sie an öffentlichen Orten unerlaubt und überhaupt in der höheren Gesellschaft nicht zum guten, sondern zum sehr schlechten Ton gehören. „Nun, in diesem Falle, wie Sie wollen,“ erwiderte Herr Goljädkin der Jüngere ernsthaft Herrn Goljädkin dem Älteren und setzte seine mit unanständiger Gier geleerte Tasse auf den Tisch. „Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen, übrigens ... wie leben Sie denn jetzt, Jakoff Petrowitsch?“ „Ich kann Ihnen nur eines sagen, Jakoff Petrowitsch,“ antwortete ihm kaltblütig und mit Würde unser Held, „Ihr Feind bin ich niemals gewesen.“ „Hm ... nun, aber Petruschka? Petruschka heißt er doch ... nun ja, wie geht es ihm? Gut? Ganz wie früher?“ „Ja, ganz wie früher, Jakoff Petrowitsch,“ antwortete ein wenig erstaunt Herr Goljädkin der Ältere. „Ich verstehe Sie nicht, Jakoff Petrowitsch ... ich, meinerseits ... aufrichtig und anständig wie ich bin, Jakoff Petrowitsch ... sagen Sie selbst, Jakoff Petrowitsch ...“ „Ja, aber Sie wissen doch, Jakoff Petrowitsch,“ antwortete mit leiser und wehmütiger Stimme Herr Goljädkin der Jüngere, um auf diese Weise Reue und Bedauern vorzutäuschen, „Sie wissen doch selbst, in unserer Zeit ist es schwer ... Ich verlasse mich auf Sie, Jakoff Petrowitsch, Sie sind ja ein kluger Mensch, urteilen Sie doch selbst,“ sagte Herr Goljädkin der Jüngere, um unserem Helden in seiner gemeinen Art zu schmeicheln. „Das Leben ist kein Spiel, das wissen Sie doch, Jakoff Petrowitsch,“ schloß wieder vielsagend Herr Goljädkin der Jüngere und stellte sich auf diese Weise als klugen und gelehrten Menschen hin, der über hohe Dinge zu urteilen verstand. „Meinerseits, Jakoff Petrowitsch,“ antwortete unser Held voll Bewegung, „meinerseits verachte ich jeden Nebenweg und ich gestehe aufrichtig und geradeaus ... und stelle die ganze Sache damit auf einen anständigen Grund und Boden ... und kann offen und ehrlich behaupten, Jakoff Petrowitsch ... daß mein Gewissen vollkommen rein ist! Sie wissen selbst, Jakoff Petrowitsch, die gegenseitige Verirrung ... vielleicht nur ein Mißverständnis ... alles ist möglich – das Urteil der Welt und die Meinung der blinden Masse ... Ich sage es aufrichtig, Jakoff Petrowitsch, alles ist möglich! Und ich sage noch mehr, Jakoff Petrowitsch ... wenn man so urteilt, wenn man von einem edlen und hohen Standpunkt aus auf diese Sache sieht, und ohne falsche Scham, Jakoff Petrowitsch ... es ist mir sogar angenehm zu bekennen, daß ich auf Irrwege geraten war, ja, es ist mir sogar angenehm, das einzugestehen. Sie können sich das doch selbst sagen, Sie sind doch ein kluger Mann und obendrein edel. Ohne Scham, ohne falsche Scham, bin ich bereit, dies einzugestehen ...“ so schloß unser Held würdevoll. „Das ist Schicksal, Verhängnis, Jakoff Petrowitsch ... doch lassen wir das alles,“ sagte mit einem Seufzer Herr Goljädkin der Jüngere. „Gebrauchen wir lieber die kurzen Minuten unseres Zusammenseins zu einem nützlicheren und angenehmeren Gespräch, – wie es sich zwischen Kollegen geziemt ... Es gelang mir in der Tat nicht, in dieser ganzen Zeit zwei Worte mit Ihnen zu reden. Daran bin ich nicht schuld, Jakoff Petrowitsch!“ „Ich auch nicht, Jakoff Petrowitsch,“ unterbrach ihn freudig unser Held – „ich auch nicht. Mein Herz sagt mir, Jakoff Petrowitsch, daß ich in allen diesen Dingen nicht schuld bin. In diesem Fall wollen wir das Schicksal anklagen, Jakoff Petrowitsch,“ fügte Herr Goljädkin der Ältere in versöhnlichem Tone hinzu. Seine Stimme wurde nach und nach schwächer und zitterte. „Nun, wie steht es denn im allgemeinen mit Ihrer Gesundheit?“ fragte der Verworfene mit süßer Stimme. „Ich huste ein wenig,“ antwortete noch süßer unser Held. „Nehmen Sie sich in acht. Jetzt gibt es so böse Winde, man kann sich sehr leicht eine Lungenentzündung holen, ich gestehe Ihnen, daß ich mich allmählich daran gewöhne, unter allen meinen Kleidungsstücken noch Flanell zu tragen.“ „Es ist wahr, Jakoff Petrowitsch, man sollte sich lieber keine Lungenentzündung holen ... Jakoff Petrowitsch!“ stieß nach kurzem Schweigen unser Held hervor, „Jakoff Petrowitsch! Ich sehe, daß ich mich geirrt habe ... Ich denke mit Rührung an die glücklichen Augenblicke, die uns vergönnt waren, zusammen zu verbringen, unter meinem armen, aber ich kann wohl sagen, unter meinem gastfreundlichen Dach.“ „In Ihrem Brief haben Sie sich nicht so ausgedrückt,“ bemerkte halb vorwurfsvoll, aber mit vollem Recht und der Wahrheit entsprechend (wenn auch nur in diesem einen Fall) Herr Goljädkin der Jüngere. „Jakoff Petrowitsch! Ich irrte mich ... Ich sehe es jetzt ganz deutlich, daß ich mich in dem unglücklichen Brief geirrt habe. Jakoff Petrowitsch, es ist mir peinlich, Sie anzusehen, Jakoff Petrowitsch, glauben Sie es mir ... Geben Sie mir den Brief zurück, damit ich ihn vor Ihren Augen zerreißen kann, Jakoff Petrowitsch, oder, wenn das nicht mehr möglich ist, dann lesen Sie ihn umgekehrt – ich meine, ganz und gar im umgekehrten Sinne, das heißt, in freundschaftlicher Absicht, indem Sie allen Worten in meinem Brief den umgekehrten Sinn beilegen. Ich habe mich geirrt ... Verzeihen Sie mir, Jakoff Petrowitsch, ich habe mich ganz und gar geirrt, Jakoff Petrowitsch.“ „Was sagen Sie?“ fragte zerstreut und gleichgültig der treulose Freund Herrn Goljädkins des Älteren. „Ich sagte, daß ich mich ganz und gar geirrt habe, Jakoff Petrowitsch, und daß ich meinerseits ganz ohne falsche Scham ...“ „Ah! Nun gut, das ist sehr gut, daß Sie sich geirrt haben,“ antwortete ihm grob Herr Goljädkin der Jüngere. „Ich hatte sogar, Jakoff Petrowitsch, die Idee,“ fügte unser Held in seiner anständigen Weise offenherzig hinzu, ohne die Falschheit seines verlogenen Freundes zu bemerken, „ich hatte sogar die Idee, daß hier zwei ganz ähnliche ...“ „Ah, das ist Ihre Idee! ...“ Hier stand der durch seine Ruchlosigkeit bekannte Herr Goljädkin der Jüngere auf und griff nach seinem Hut. Ohne die schlechte Absicht zu bemerken, erhob sich auch Herr Goljädkin der Ältere, mit gutmütigem Lächeln seinen Pseudofreund ansehend, und in seiner Unschuld bemühte er sich noch weiter, ihm zu schmeicheln und ihn für die neue Freundschaft zu gewinnen ... „Leben Sie wohl, Ew. Exzellenz!“ rief plötzlich Herr Goljädkin der Jüngere. Unser Freund zuckte zusammen und bemerkte im Gesicht seines Freundes etwas Satanisches und nur um ihn los zu werden, legte er in die ausgestreckte Hand des Verruchten zwei Finger seiner Hand. Nun aber ... nun überstieg die Schamlosigkeit Herrn Goljädkins des Jüngeren alle Grenzen und erschöpfte das Maß menschlicher Geduld, das man haben konnte. Nachdem er die zwei Finger Herrn Goljädkins des Älteren gedrückt hatte, wiederholte der Unwürdige –: wahrhaftig, er tat es – vor den Augen des Herrn Goljädkin seinen schamlosen Scherz von heute morgen ... Herr Goljädkin der Jüngere hatte bereits sein Taschentuch wieder eingesteckt, mit dem er seine Finger abgewischt, als Herr Goljädkin der Ältere erst zu sich kam und dem anderen ins Nebenzimmer nachstürzte, wohin sich sein unversöhnlicher Feind nach seiner schändlichen Gewohnheit verkrochen hatte. Als ob nichts geschehen wäre, stand er vor dem Büfett und aß Kuchen, während er ganz ruhig, wie ein rechter Lebemann der Dame am Büfett den Hof machte. „In Gegenwart von Damen ist es nicht erlaubt,“ dachte unser Held und ging gleichfalls ans Büfett, ganz besinnungslos vor Aufregung. „Nicht wahr, das Weibchen ist nicht übel! Wie denken Sie darüber?“ begann von neuem Herr Goljädkin _junior_ mit seinen unpassenden Bemerkungen, denn er rechnete offenbar mit der unendlichen Geduld Herrn Goljädkins. Die dicke Deutsche ihrerseits sah auf ihre beiden Gäste mit blöden Augen, da sie wohl die russische Sprache nicht verstand, und lächelte nur zuvorkommend. Bei den schamlosen Worten Herrn Goljädkins des Jüngeren sprang unser Held auf, und unfähig, sich noch länger zu beherrschen, stürzte er sich endlich auf ihn, um ihn zu zerreißen und um ein Ende mit ihm – mit allem zu machen. Doch Herr Goljädkin der Jüngere war nach seiner üblen Gewohnheit schon längst auf und davon und befand sich bereits auf der Treppe. Aber auch Herr Goljädkin der Ältere raffte sich auf und folgte, so schnell als möglich, seinem Beleidiger, der sich in eine Droschke setzte, die offenbar auf ihn gewartet hatte, und deren Kutscher wohl mit ihm in Einvernehmen stand. Als die Dame am Büfett die Flucht ihrer beiden Gäste bemerkte, schrie sie auf und klingelte aus aller Kraft mit der Glocke. Unser Held wandte sich rasch um, warf ihr Geld hin, für sich und den schamlosen Menschen, der natürlich wieder nicht bezahlt hatte, verlangte auch nichts zurück, raste nur hinaus, und ungeachtet dieser Verzögerung gelang es ihm noch, seinen Feind zu ergreifen. Unser Held klammerte sich mit allen ihm von Natur zur Gebote stehenden Kräften an die Droschke und lief einige Straßen lang mit ihr, bis es ihm schließlich gelang, in die Droschke hineinzuklettern, die Herr Goljädkin der Jüngere freilich aus allen Kräften verteidigte. Der Kutscher bearbeitete unterdessen seinen alten Gaul, der seiner schlechten Gewohnheit nach sofort in einen Galopp verfiel und bei jedem dritten Schritt mit den Hinterbeinen ausschlug, mit der Knute, mit den Zügeln, und selbst mit den Füßen. Endlich hatte sich unser Held die Droschke erobert. Er stemmte sich mit dem Rücken an den Kutscher, war also mit dem Gesicht und Knie an Knie seinem Feinde zugewandt. Mit der rechten Hand hielt er den schäbigen Pelzkragen seines Feindes gepackt. So fuhren die beiden Feinde eine Zeitlang schweigend dahin. Unser Held wagte kaum zu atmen, der Weg war erbärmlich und bei jedem Schritt wankte er hin und her und war in ständiger Gefahr, sich den Hals zu brechen. Dazu wollte sein erbitterter Feind sich ihm immer noch nicht ergeben, mühte sich vielmehr, seinen Gegner in den Schmutz hinauszuwerfen. Das Wetter war, was zu allen Unannehmlichkeiten noch hinzukam, geradezu entsetzlich. Der Schnee fiel in dicken nassen Flocken, die in den offenen Mantel des wirklichen Herrn Goljädkin eindrangen. Ringsum war es dunkel und man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Es war daher schwer zu erraten, wohin und durch welche Straßen sie fuhren ... Herrn Goljädkin schien es dabei, als erlebte er etwas, das ihm bereits längst bekannt war. Einen Augenblick suchte er sich zu vergewissern, und dachte nach, ob er nicht gestern abend schon etwas Ähnliches – geahnt hatte – ... im Traum –? Endlich erreichte sein Zustand die äußerste Grenze. Schreiend wollte er sich auf seinen Gegner stürzen. Doch der Schrei erstarb auf seinen Lippen. Es gab einen Augenblick, in dem Herr Goljädkin alles zu vergessen schien und überzeugt war, daß das ganze gar nichts bedeute, sondern nur so, nur so irgendwie, auf unerklärliche Weise geschehen sei, und daß es in dem Falle eine ganz verlorene Sache wäre, dagegen anzukämpfen. Doch plötzlich und fast im selben Augenblick, als unser Held zu diesem Schluß kam, veränderte ein unvorsichtiger Stoß die Lage der Dinge. Herr Goljädkin fiel wie ein Mehlsack aus der Droschke und erkannte während des Falles ganz vernünftiger Weise, daß er sich wirklich ganz zur unrechten Zeit erhitzt hatte. Als er wieder aufgesprungen war, sah er, daß sie irgendwo angelangt waren: die Droschke stand auf einem Hof, und Herr Goljädkin sah auf den ersten Blick, daß es der Hof des Hauses war, in dem – Olssuph Iwanowitsch wohnte. In demselben Augenblick bemerkte er, daß sich sein Freund bereits auf der Treppe zu Olssuph Iwanowitsch befand. In seiner Not und Verzweiflung wollte er schon seinem Feinde nachjagen, doch zu seinem Glück bedachte er sich noch beizeiten. Er vergaß nicht, den Kutscher zu bezahlen, trat auf die Straße hinaus und lief so schnell er konnte und wohin ihn seine Füße trugen. Es schneite wie vorhin und es war feucht und dunkel. Unser Held ging nicht, sondern flog, und warf alle und alles auf seinem Wege um – Männer, Weiber und Kinder, und stolperte selbst über die Männer, Weiber und Kinder, die er umgeworfen hatte. Um ihn und hinter ihm her hörte man erschreckte Stimmen ... hörte schreien, rufen ... Doch Herr Goljädkin, schien es, war nicht bei Besinnung und schenkte alledem nicht die geringste Aufmerksamkeit ... Er kam erst zu sich, als er sich bei der Ssemjonoffbrücke befand und da auch nur dank dem Umstande, daß es ihm gelungen war, zwei Weiber, die Eßwaren trugen, umzurennen und dabei selbst zu Fall zu kommen. „Das tut nichts,“ dachte Herr Goljädkin, „alles das kann sich noch zum besten wenden!“ Er griff in die Tasche, um die Weiber mit einem Rubel für die rings verstreuten Kringel, Äpfel, Nüsse usw. zu entschädigen. Plötzlich wurde Herr Goljädkin von einem neuen Licht erleuchtet: in der Tasche fand er den Brief, den ihm der Schreiber am Morgen überreicht hatte. Er erinnerte sich unter anderem, daß sich hier, nicht weit entfernt, ein bekanntes Gasthaus befand, und so lief er denn, ohne Zeit zu verlieren, sofort dahin, setzte sich an einen mit einem Talglicht erleuchteten Tisch, schenkte niemandem und nichts seine Aufmerksamkeit, hörte den Kellner nicht, der ihn nach seinen Wünschen fragte, zerbrach das Siegel und begann den folgenden Brief zu lesen, der ihn nun allerdings vollständig fassungslos machte: „Edler, für mich leidender und auf ewig meinem Herzen teurer Mann! Ich leide, ich gehe zugrunde – rette mich! Der Verleumder, der Intrigant und durch seine Nichtswürdigkeit bekannte Mensch hat mich mit seinen Netzen umstrickt und mich zugrunde gerichtet. Ich fiel! – Doch er ist mir zuwider, aber du! ... Man hat uns voneinander gerissen, meine Briefe an dich gestohlen – und alles das tat der Unwürdige, indem er sich seiner besten Eigenschaft bediente – der Ähnlichkeit mit dir. Jedenfalls kann man schlecht sein und dennoch durch Geist, Gefühl und angenehme Manieren entzücken ... Ich gehe zugrunde! Man wird mich mit Gewalt verheiraten, und am meisten intrigiert dafür mein Vater und Wohltäter, Staatsrat Olssuph Iwanowitsch, der die Rolle, die ich im Hause und in der höheren Gesellschaft spiele, für sich in Anspruch nehmen will ... Aber ich bin entschlossen und widersetze mich, mit allen mir von der Natur geliehenen Mitteln. Erwarte mich heute im Wagen um neun Uhr vor den Fenstern unserer Wohnung. Bei uns ist wieder Ball und der schöne Leutnant wird da sein. Ich werde herauskommen und wir fliehen dann. Gibt es doch auch noch andere Beamtenstellen, in denen man seinem Vaterlande dienen kann. Jedenfalls, denke daran, mein Freund, daß die Unschuld stark ist durch sich selbst! Lebe wohl, erwarte mich im Wagen vor der Haustür. Ich flüchte mich in den Schutz deiner Arme, punkt zwei Uhr nach Mitternacht. Dein bis zum Grabe! Klara Olssuphjewna.“ Nachdem unser Held den Brief gelesen hatte, war er einige Augenblicke wie betäubt. In schrecklicher Angst, in schrecklicher Aufregung, bleich wie ein Tuch, mit dem Brief in der Hand ging er im Zimmer auf und ab. Zum Übermaß seines Mißgeschicks und seiner Lage, bemerkte unser Held nicht, daß er der Gegenstand gespannter Aufmerksamkeit von seiten aller Anwesenden war. Die Unordnung seiner Kleidung, seine heftige Aufregung, sein Auf und Ab, das Gestikulieren mit beiden Händen, vielleicht einige rätselhafte Worte, die er in Selbstvergessenheit laut gesprochen – alles das machte wahrscheinlich auf die Anwesenden keinen gerade guten Eindruck und namentlich dem Kellner schien er verdächtig. Endlich bemerkte unser Held, der plötzlich zu sich kam, daß er mitten im Zimmer stand und fast unhöflich einen Greis von ehrwürdigem Aussehen anstarrte, der nach Beendigung seiner Mahlzeit vor dem Gottesbilde gebetet hatte und jetzt seinen Blick von Herrn Goljädkin nicht abwandte. Verwirrt blickte unser Held um sich und bemerkte nun, daß alle, wirklich alle, ihn mit mißtrauischen und bösen Blicken betrachteten. Plötzlich verlangte ein verabschiedeter Offizier mit rotem Kragen laut die „Polizeinachrichten“. Herr Goljädkin fuhr zusammen und errötete: dabei senkte er seine Augen zu Boden und bemerkte seine in Unordnung geratene Kleidung. Die Stiefel, die Beinkleider und die ganze linke Seite waren vollständig beschmutzt, die Schuhriemen offen, der Rock an mehreren Stellen zerrissen. Tief bekümmert trat unser Held an einen Tisch und sah, daß ein Angestellter ihn ununterbrochen und frech beobachtete. Ganz verloren und niedergedrückt fing nun unser Held an, den Tisch zu betrachten, vor dem er stand. Auf dem Tische standen gebrauchte Teller, von einem beendeten Mittagessen, lagen schmutzige Servietten und soeben gebrauchte Löffel, Gabeln und Messer. „Wer hat denn hier gegessen?“ dachte unser Held. „Doch nicht etwa ich? Alles ist ja möglich! Ich habe vielleicht gegessen und es nur nicht bemerkt.“ Als Herr Goljädkin aufblickte, bemerkte er wieder den Kellner neben sich, der im Begriff schien, ihm etwas zu sagen. „Wieviel haben Sie von mir zu bekommen?“ fragte unser Held mit zitternder Stimme. Ein lautes Gelächter erschallte rings um Herrn Goljädkin. Auch der Kellner lachte. Herr Goljädkin begriff, daß er wieder einmal eine schreckliche Dummheit begangen hatte. Als er das einsah, wurde er so verwirrt, daß er genötigt war, in die Tasche nach dem Taschentuch zu greifen, wahrscheinlich nur, um irgend etwas zu tun und nicht so dazustehen. Doch zu seiner und aller Anwesenden Verwunderung zog er mit seinem Taschentuch zugleich ein Medizinfläschchen heraus, das ihm vor vier Tagen Krestjan Iwanowitsch, der Doktor, verschrieben hatte. „Das ist die Medizin aus jener Apotheke,“ ging es Herrn Goljädkin durch den Kopf und plötzlich zuckte er zusammen und schrie auf vor Schreck. Ein neues Licht ging ihm auf ... Die dunkle, widerlich rote Flüssigkeit schimmerte mit ihrem bösen Glanz vor den Augen des Herrn Goljädkin ... Das Fläschchen fiel zu Boden und zerbrach in Stücke. Unser Held schrie nochmals auf und sprang ein paar Schritte vor der umherspritzenden Flüssigkeit zurück ... er zitterte an allen Gliedern und der Schweiß brach ihm aus Stirn und Schläfen. „Der Mensch ist ja krank!“ rief man. Inzwischen erhob sich im Raum eine Bewegung und ein Gedränge. Alle umringten Herrn Goljädkin. Alle redeten auf ihn ein, einige faßten ihn sogar am Rock. Doch unser Held stand da, unbeweglich, er sah nichts, er hörte nichts, er fühlte nichts ... Endlich riß er sich los und stürzte davon. Er stieß zurück, die ihn halten wollten, sprang fast ohne Besinnung in die erste beste Droschke und floh nach Haus. Im Vorzimmer seiner Wohnung begegnete er Michejeff, dem Kanzleidiener, mit einem Schreiben in der Hand. „Ich weiß, mein Freund, ich weiß alles!“ antwortete mit schwacher, kläglicher Stimme unser Held. „Das ist ein offizieller ...“ Das Schreiben war an Herrn Goljädkin gerichtet, mit einer Unterschrift von Andrej Philippowitsch versehen, und in ihm wurde er aufgefordert, alle in seinen Händen befindlichen Akten dem Kanzleidiener zu übergeben. Herr Goljädkin nahm das Schreiben und gab dem Diener ein Zehnkopekenstück, trat in sein Zimmer und sah, wie Petruschka seine Sachen in einen Haufen zusammenpackte, offenbar in der Absicht, Herrn Goljädkin zu verlassen, und bei Karolina Iwanowna, die ihn seinem Herrn abspenstig gemacht hatte, deren Eustaphia zu ersetzen. XII. Petruschka trat ein, sonderbar nachlässig, mit einer triumphierenden Miene. Man sah ihm an, daß er sich irgend etwas dabei dachte und sich vollkommen in seinem Recht fühlte. Auch sah er ganz so aus, wie jemand, der keinen Dienst mehr ausübte, der bereits der Diener eines anderen war, und nicht mehr der seines früheren Herrn. „Nun, siehst du, mein Lieber,“ begann atemschöpfend unser Held. „Wieviel Uhr ist es jetzt?“ Petruschka begab sich schweigend hinter den Verschlag, kehrte darauf langsam zurück und meldete in ziemlich gleichgültigem Tone, daß es bald halb acht Uhr sei! „Nun gut, mein Lieber, gut. Siehst du, mein Lieber ... erlaube, daß ich dir sage, mein Lieber, daß zwischen uns, scheinbar, jetzt alles zu Ende ist.“ Petruschka schwieg. „Nun, und jetzt, da zwischen uns alles zu Ende ist, sage mir aufrichtig, wie ein Freund sage mir, wo du warst, mein Lieber?“ „Wo ich war? Bei guten Menschen war ich.“ „Ich weiß es, mein Freund, ich weiß es. Ich war mit dir immer zufrieden, mein Lieber und werde dir ein gutes Zeugnis geben ... Nun, wirst du denn jetzt bei ihnen dienen?“ „Herr, Sie belieben ja selbst zu wissen ... Ein guter Mensch kann einen nichts Schlechtes lehren.“ „Ich weiß es, mein Lieber, ich weiß es. Gute Menschen gibt es jetzt selten. Schätze sie hoch, mein Freund. Nun, wer sind sie denn?“ „Das ist doch bekannt, wer ... jedenfalls kann ich bei Ihnen, Herr, nicht länger dienen. Sie belieben das selbst zu wissen.“ „Ich weiß es, mein Lieber, ich weiß es, ich kenne deinen Eifer, ich habe alles gesehen, alles bemerkt. Ich, mein Freund, achte dich. Ich achte jeden guten und ehrlichen Menschen, auch wenn er nur ein Diener ist.“ „Nun, das ist bekannt. Unsereiner muß dahin gehen, wo es besser ist. So ist’s. Sie belieben zu wissen, Herr, ohne einen guten Menschen kann ich nicht ... –“ „Schon gut, mein Lieber, schon gut. Ich weiß es ... Nun, hier hast du dein Geld und ein Zeugnis. Jetzt umarmen wir uns, und verzeihen uns gegenseitig ...“ Petruschka blickte ihn an. „Nun, mein Lieber, bitte ich dich noch um einen Dienst, um einen letzten Dienst,“ sagte Herr Goljädkin in feierlichem Tone. „Siehst du, mein Lieber, alles ist möglich. Kummer, mein Freund, herrscht auch in Palästen, und man kann ihm nirgends entgehen. Du weißt, mein Freund, ich war gegen dich immer freundlich ...“ Petruschka schwieg. „Ich war, dachte ich, immer freundlich gegen dich, mein Lieber ... Aber sag, was haben wir denn jetzt noch an Wäsche, mein Lieber?“ „Alles was da ist! Leinene Hemden sechs, Socken drei Paar, vier Vorhemden, eine Flanelljacke, Unterbeinkleider zwei. Sie wissen ja selbst alles. Ich, Herr, rühre von dem Ihrigen nichts an ... Ich, Herr, hüte Ihr Eigentum ... Ich, Herr, es ist Ihnen doch bekannt, habe mir nie eine Sünde ... Herr, Sie wissen doch selbst, Herr ...“ „Ich glaube dir, mein Freund, ich glaube Dir. Nicht das meine ich, mein Freund, nicht das, siehst du, mein Freund ...“ „Es ist bekannt, Herr, und wir wissen es ja! Als ich damals noch beim General Stolbujäkoff diente, da entließen sie mich, als sie selbst nach Saratoff reisten ... ein Gut haben sie dort ...“ „Nein, mein Freund, ich rede nicht davon, denke nicht etwa ... mein lieber Freund ...“ „Das ist bekannt. Wie sollte wohl unsereins – Sie belieben das ja selbst zu wissen –, Leute verleumden! Aber mit mir war man überall zufrieden. Das waren Minister, Generäle, Senatoren, Grafen. Ich diente bei vielen, beim Fürsten Swintschatkin, beim Hauptmann Pereborkin, beim General Njedobaroff, sie fuhren alle auf ihre Güter ... Das ist doch bekannt ...“ „Gewiß, mein Freund, gewiß, gut, mein Freund, gut. Siehst du, mein Freund, auch ich werde jetzt verreisen ... Jeder hat seinen Weg, mein Lieber, und keiner weiß, wohin er verschlagen wird! ... Jetzt, mein Freund, muß ich mich umkleiden. Gib mir die Uniform heraus, andere Beinkleider, Tücher, Betten, Kissen ...“ „Soll ich alles in ein Bündel packen?“ „Ja, mein Freund, meinetwegen alles in ein Bündel! Wer weiß, was noch alles mit mir geschehen wird! ... Nun, jetzt, mein Lieber, gehe und hole mir einen Wagen ...“ „Einen Wagen?“ „Ja, mein Freund, einen Wagen, einen bequemen – miete einen auf längere Zeit! Aber du, mein Freund, mußt nicht etwa denken ...“ „Wollen Sie weit fahren? ...“ „Ich weiß es nicht, mein Freund, das weiß ich selbst nicht. Ich denke, ein Federbett muß man auch hineinlegen. Wie denkst du, mein Freund? Ich verlasse mich ganz auf dich, mein Lieber ...“ „Wünschen Sie sofort abzufahren?“ „Ja, mein Freund, ja! Die Umstände verlangen es ... so steht es, mein Lieber, so steht es ...“ „Ich verstehe, Herr! Damals, bei uns im Regiment, war das mit einem Leutnant ebenso: von einem Gutsbesitzer weg ... entführte er sie ...“ „Entführte? ... Wie! Mein Lieber, du ...“ „Ja, entführte, und im nächsten Ort wurden sie getraut. Alles war schon vorbereitet worden ... Es gab eine Verfolgung. Der jetzt verstorbene Fürst jagte ihnen selbst nach, nun ... die Sache wurde beigelegt ...“ „Sie wurden getraut. Ja? ... Du, mein Lieber, wie weißt du denn das, mein Lieber?“ „Nun, das ist doch bekannt! Die Erde trägt das Gerücht weiter, Herr! Wir wissen doch alles, Herr. Natürlich, wer ist denn ohne Sünde? Aber, ich sage Ihnen jetzt nur, Herr, einfach, geradeaus, Herr: wenn das jetzt so ist, so sage ich Ihnen, Herr, daß Sie einen Feind haben, einen Nebenbuhler, Herr, einen starken Nebenbuhler, so ist’s! ...“ „Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Du weißt es also auch, mein Lieber ... Nun, darin kann ich mich ganz auf dich verlassen! Was sollen wir also tun, mein Freund, was kannst du mir raten?“ „Aber, Herr, wenn Sie sich auf solche Sachen gelegt haben, Herr, dann müssen Sie noch etwas dazukaufen, wie Laken, Kissen, ein anderes Federpfühl, ein zweischläfriges, eine gute Decke ... hier beim Nachbarn unten ist eine Verkäuferin, Herr, die hat einen Fuchspelz zu verkaufen, den könnte man sich ansehen, sofort hingehen, ansehen und kaufen. Sie werden ihn nötig haben, Herr, ein schöner Fuchspelz mit Atlas bezogen ...“ „Schon gut, mein Freund, schon gut; ich bin ganz mit dir einverstanden; ich verlasse mich ganz auf dich. Meinetwegen, also den Pelz ... Aber nur schnell, schnell! Um Gottes willen, schnell! Ich werde auch den Pelz kaufen, nur bitte – schnell! Es ist bald acht Uhr, schneller, um Gottes willen, schneller, mein Freund! Beeile dich, mein Freund! ...“ Petruschka warf das Bündel Wäsche, Kissen, Decken, Laken und all den anderen Kram zu Boden und stürzte aus dem Zimmer. Herr Goljädkin griff unterdessen noch einmal zum Brief, doch lesen konnte er ihn nicht. Mit beiden Händen griff er nach seinem armen Kopf und lehnte sich vor Verwunderung an die Wand. Denken konnte er an nichts, tun konnte er auch nichts, er wußte selbst nicht, was er beginnen sollte. Endlich, als er bemerkte, daß die Zeit verstrich, und weder Petruschka noch der Fuchspelz erschienen war, entschloß sich Herr Goljädkin, selbst zu gehen. Als er die Tür zum Flur öffnete, hörte er unten auf der Treppe lärmen, sprechen, zetern ... Einige Nachbarsleute schrien und stritten sich – und Herr Goljädkin wußte sofort, worüber. Er hörte Petruschkas Stimme und darauf Schritte nahen. „Gütiger Himmel! sie werden die ganze Welt zusammenrufen!“ stöhnte Herr Goljädkin, rang die Hände vor Verzweiflung und stürzte zurück in sein Zimmer. Dort warf er sich fast besinnungslos auf den Diwan, mit dem Gesicht in die Kissen. Nachdem er einen Augenblick so gelegen hatte, sprang er wieder auf und ohne Petruschka zu erwarten, zog er seine Galoschen und seinen Mantel an, setzte seinen Hut auf, griff nach seinen Papieren und stürzte auf die Treppe hinaus. „Es ist nichts nötig, mein Lieber! Ich werde selbst, ich werde alles selbst besorgen. Laß nur vorläufig alles so stehen, unterdessen wird sich vielleicht das Ganze zum besten wenden,“ flüsterte Herr Goljädkin eilig Petruschka zu, dem er auf der Treppe begegnete. Darauf lief er die Treppe hinunter und zum Hause hinaus. Sein Herz stand ihm still – er konnte sich zu nichts entschließen ... Was sollte er beginnen, wie sollte er in dieser kritischen Lage handeln ... „Nun, wie soll ich handeln? Herr, du mein Gott, das mußte gerade noch kommen!“ rief er endlich verzweifelt aus und strich ziellos die Straße entlang, „das mußte gerade noch kommen! Wenn nur das nicht wäre, gerade das, dann würde sich noch alles ordnen und beilegen lassen, mit einem Schlage, mit einem gewandten und festen Schlage würde es sich machen lassen. Ich lasse mir den Finger abschneiden, daß es sich machen ließe! Und ich weiß sogar, auf welche Weise es zu machen ginge. Es würde so gemacht werden: Ich würde also – ich würde das und das, das heißt würde so und so sagen ... ‚mein Herr, mit Erlaubnis gesagt, solche Sachen tut man nicht, mein sehr geehrter Herr, solche Sachen tut man nicht und mit Betrug erreicht man gar nichts: ein Usurpator, mein Herr, ist ein unnützer Mensch, das heißt ein Mensch, der seinem Vaterlande keinen Nutzen bringt. Verstehen Sie das? Verstehen Sie das wohl, mein sehr geehrter Herr?!‘ So, – ja so wäre es zu machen! ...“ „Doch übrigens, – nein: wie ist das ... Das wäre auch nicht das Richtige, durchaus nicht das Richtige ... Was lüge ich, Dummkopf, Erzdummkopf! Ich, Selbstmörder, ich ... Du verworfener Mensch, so wird es nun kommen! ... Wohin soll ich mich jetzt verkriechen? Was werde ich zum Beispiel jetzt mit mir anfangen? Wozu tauge ich jetzt noch? Wozu taugst du jetzt noch, Goljädkin, du Unwürdiger! Was – nun? Einen Wagen muß ich nehmen. Also nimm, bitte, einen Wagen für sie, sonst macht sie sich die Füßchen naß, wenn es keinen Wagen gibt ... oh, wer hätte das denken können? Ei, ei, meine Dame, ei, ei, mein wohlanständiges Fräulein! Sie haben sich ausgezeichnet, meine Herrin, ausgezeichnet ... Und das kommt alles von der schlechten Erziehung. Wie ich das jetzt übersehe und es durchschaut habe – so ist alles Sittenlosigkeit. Man hätte ihr von Jugend auf – die Rute, tüchtig die Rute geben sollen, sie aber haben sie statt dessen mit Konfekt und allen Süßigkeiten gefüttert und der Alte selbst heulte ihr die Ohren voll: ‚Ach, du meine Liebe, meine Gute, ich werde dich an einen Grafen verheiraten! ...‘ Und was ist dabei herausgekommen? Sie hat uns jetzt ihre Karten gezeigt, da – habt ihr es, das ist mein Spiel! Wenn sie sie doch zu Hause erzogen hätten, statt sie in die Pension zu der französischen Madame zu geben, irgend so einer Emigrantin! Da lernen sie wohl viel Gutes, bei der Emigrantin ... und – da kommt dann so etwas heraus! Gehen Sie jetzt und freuen Sie sich! ‚Seien Sie mit dem Wagen um so und so viel Uhr unter meinem Fenster und singen Sie eine gefühlvolle spanische Romanze: ich werde Sie erwarten, ich weiß, daß Sie mich lieben, fliehen wir zusammen, um in einer Hütte zu leben!‘ Doch, am Ende geht das nicht an: wenn Sie schon so weit gehen, meine Dame ... das geht nicht an! Die Gesetze verbieten es, ein ehrliches und unschuldiges Mädchen ohne Einwilligung der Eltern aus dem Elternhause zu entführen! Und schließlich auch: warum? Ich sehe gar keine Notwendigkeit. Mag sie heiraten, wie es sich gehört, und wen das Geschick ihr bestimmt hat, das wäre eine vernünftige Sache. Ich aber bin ein Beamter und kann deshalb meine Stellung verlieren. Ich, meine Dame, kann deshalb vor Gericht kommen! Sehen Sie, so ist’s, wenn Sie das noch nicht gewußt haben! Diese Deutsche hat das alles eingebrockt, dieser ganze Wirrwarr geht von ihr aus. Deshalb haben sie einen Menschen verleumdet. Deshalb haben sie Weibergeschwätz über ihn ausgedacht, auf den Rat Andrej Philippowitschs. Von dort kommt alles her. Denn sonst, warum haben sie Petruschka hineingezogen? Was hat denn der mit der Sache zu schaffen? Was hat der Schelm bei ihr zu tun? ‚Nein, es geht nicht, meine Dame, es geht wirklich nicht, ich kann nicht ... Für dieses Mal, meine Dame, müssen Sie mich schon entschuldigen. Das kommt alles von Ihnen, meine Dame, nicht von der Deutschen, nicht von der Hexe, sondern einfach von Ihnen selbst. Denn die Hexe ist eine gute Frau, die Hexe ist an nichts schuld, sondern Sie, meine Dame, Sie sind schuld – so ist es! Sie, meine Dame, bringen mich vors Gericht, – unter falschen Anschuldigungen ...‘ Da muß der Mensch zugrunde gehen, da muß der Mensch an sich selbst zugrunde gehen und kann sich selbst nicht erhalten, – wie kann man denn da noch heiraten! Und wie wird denn das alles enden? Und was soll daraus jetzt werden? Ich würde viel darum geben, wenn ich das wissen könnte! ...“ So dachte unser Held in seiner Verzweiflung. Als er plötzlich zu sich kam, bemerkte er, daß er irgendwo auf der Liteinaja stand. Das Wetter war schauderhaft, es taute, vom Himmel fiel Regen und Schnee zusammen, genau wie zu jener unvergeßlichen Stunde um Mitternacht, als das Unglück Herrn Goljädkins seinen Anfang nahm. „Was wäre das für eine Reise,“ dachte Herr Goljädkin, nach dem Wetter sehend, „das wäre einfach Selbstmord ... Herr des Himmels, wo soll ich denn hier einen Wagen finden? Dort in der Ecke scheint etwas Schwarzes zu dämmern! Wir wollen sehen! ... Herr, du mein Gott,“ fuhr unser Held fort und lenkte seine wankenden Schritte auf die Seite hin, wo so etwas Ähnliches wie ein Wagen stand. „Nein, ich weiß, was ich tue! Ich gehe zu ihm, falle ihm zu Füßen und werde ihn, wenn’s nötig ist, anflehen. So und so: in Ihre Hände lege ich mein Schicksal, in die Hände der Behörde, Ew. Exzellenz, beschützen Sie und begnadigen Sie einen Menschen. Es wäre ein ungesetzliches Verfahren: richten Sie mich nicht zugrunde, ich flehe Sie an, als meinen Vater flehe ich Sie an, verlassen Sie mich nicht ... Retten Sie meine Ehre, meinen Namen, meine Familie ... Retten Sie mich vor dem Bösewicht, vor dem verworfenen Menschen ... Er ist ein anderer Mensch, Ew. Exzellenz, und auch ich bin ein anderer Mensch! Er ist einer für sich und ich bin einer für mich, wirklich, ich bin ganz für mich, Ew. Exzellenz, ich bin etwas ganz für mich. Ew. Exzellenz, so ist’s! Das heißt, ich kann gar nicht Er sein! Ändern Sie das, befehlen Sie, das zu ändern mit ihm und diesem ganzen Doppeltsein! ... Zum Beispiel für andere, Ew. Exzellenz! Ich spreche zu Ihnen, wie zu meinem Vater! Die Behörde, die wohltätige und ehrwürdige Behörde, sollte so etwas unterstützen ... Es liegt meiner Bitte etwas Moralisches zugrunde. Das heißt, wie gesagt, ich wende mich an die Behörde, wie an einen Vater, und vertraue ihr mein Schicksal an. Ich werde nicht murren, ich selbst werde mich von allen zurückziehen, so ist’s!“ „Nun, mein Lieber, bist du frei?“ „Ja, Herr.“ „Habe den Wagen für den Abend nötig ...“ „Belieben Sie weit zu fahren, Herr?“ „Den Abend, den Abend: wie es kommt, mein Lieber, wie es kommt.“ „Wünschen Sie außerhalb der Stadt zu fahren?“ „Ja, mein Freund, vielleicht auch das. Ich weiß es selbst noch nicht genau, mein Lieber, ich kann es deshalb ganz bestimmt noch nicht sagen. Siehst du, mein Lieber, es kann sich noch alles zum besten wenden. Es ist ja bekannt, mein Freund ...“ „Ja, freilich, Herr, Gott gebe es!“ „Ja, mein Freund, ja ich danke dir, mein Lieber. Aber was nimmst du dafür, mein Lieber? ...“ „Belieben Sie sofort zu fahren?“ „Ja, sofort, das heißt, nein, an einer Stelle wartest du ein wenig ... so, nur ein wenig, nicht lange, mein Lieber ...“ „Ja, wenn Sie mich schon auf den ganzen Abend nehmen wollen, so kann ich bei diesem Wetter nicht weniger als sechs Rubel ...“ „Nun gut, mein Lieber, schon gut, ich danke dir, mein Lieber. Und jetzt kannst du mich gleich fahren, mein Lieber.“ „Steigen Sie ein: erlauben Sie, ich habe hier noch ein wenig zurechtzumachen ... Steigen Sie nur ein. Wohin befehlen Sie zu fahren?“ „Zur Ismailoffbrücke, mein Freund.“ Der Droschkenkutscher kletterte auf den Bock und setzte seine beiden Gäule, die er nur mit aller Gewalt vom Heusack wegreißen konnte, in der Richtung auf die Ismailoffbrücke in Bewegung. Doch plötzlich zog Herr Goljädkin an der Schnur, ließ den Wagen anhalten und bat mit flehender Stimme den Kutscher, nicht zur Ismailoffbrücke, sondern in eine bestimmte andere Straße zu fahren. Der Kutscher kehrte um und in zehn Minuten stand die Equipage Herrn Goljädkins vor dem Hause, welches Seine Exzellenz bewohnte. Herr Goljädkin stieg aus dem Wagen, bat seinen Kutscher inständig, zu warten und lief selbst mit zitterndem und zagendem Herzen die Treppe hinauf, in den zweiten Stock. Er klingelte, die Tür wurde geöffnet und unser Held befand sich im Vorzimmer der Exzellenz. „Ist Ihre Exzellenz zu Hause?“ wandte sich Herr Goljädkin an den Menschen, der ihm die Tür öffnete. „Was wünschen Sie?“ fragte ihn der Lakai, der Herrn Goljädkin vom Kopf bis zu den Füßen betrachtete. „Ich, mein Freund, heiße Goljädkin, Titularrat Goljädkin. Ich wünsche – Exzellenz zu sprechen ...“ „Warten Sie bis morgen.“ „Mein Freund, ich kann nicht warten: meine Sache ist zu wichtig ... meine Sache duldet keinen Aufschub ...“ „Ja, von wem kommen Sie denn? Haben Sie eine Aufforderung?“ „Nein, mein Freund, ich komme nur so ... Melde mich, mein Freund, sage: so und so, um zu erklären ... Und ich werde mich dir dankbar erweisen, mein Lieber ...“ „Es ist nicht erlaubt. Mir ist streng befohlen, niemanden vorzulassen. Es sind Gäste da. Kommen Sie morgen um zehn Uhr ...“ „Melden Sie mich an, mein Lieber, ich kann unmöglich warten! Sie, mein Lieber, werden sonst die Verantwortung ...“ „So geh doch, melde ihn. Bist mir auch ein Fauler!“ sagte ein anderer Lakai, der sich auf einer Bank rekelte und bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte. „Ach was, faul! Es ist nun einmal befohlen, niemanden vorzulassen, verstehst du? Die Empfangsstunden sind am Morgen.“ „Melde ihn trotzdem! Glaubst wohl, es könnte deiner Zunge schaden!“ „Na, ich kann ihn ja anmelden, meiner Zunge wird’s nicht schaden! Es ist aber befohlen ... Treten Sie in dieses Zimmer.“ Herr Goljädkin trat in das nächste Zimmer. Auf dem Tisch stand eine Uhr, er sah, daß es halb neun war. In seinem Innern tobte die Unruhe. Er wollte schon wieder umkehren, doch im selben Augenblick rief der Diener, der an der Schwelle zum nächsten Zimmer stand, laut seinen Namen. „Das ist mal eine Stimme!“ dachte in unbeschreiblicher Verwirrung unser Held. „Was werde ich nur sagen? Ich werde sagen: so und so ... so ist’s ... ich bin gekommen, demütig und untertänigst zu bitten ... geruhen Sie, mich anzuhören – ... Doch nun ist die ganze Sache verdorben, alles in den Wind zerstreut. Oder ... was tut’s ...“ Er hatte übrigens keine Zeit, weiter nachzudenken. Der Lakai kehrte zurück und führte Herrn Goljädkin ins Kabinett Seiner Exzellenz. Als unser Held eintrat, fühlte er sich wie geblendet, er konnte überhaupt nichts sehen ... Zwei – drei Gestalten tauchten undeutlich vor seinen Augen auf: „Nun, das sind wohl die Gäste,“ ging es Herrn Goljädkin durch den Kopf. Schließlich konnte unser Held den Stern auf dem schwarzen Frack der Exzellenz deutlich erkennen. Damit kam er denn zur Besinnung und erhielt wenigstens sein Unterscheidungsvermögen wieder ... „Was gibt’s?“ fragte eine bekannte Stimme Herrn Goljädkin. „Titularrat Goljädkin, Ew. Exzellenz.“ „Nun?“ „Ich bin gekommen, um zu erklären ...“ „Wie? Was?“ „Ja, so ist es. Das heißt, so und so, ich bin gekommen, um zu erklären, Ew. Exzellenz ...“ „Sie ... ja, wer sind Sie denn eigentlich?“ „Ti–ti–tu–lar–rat ... Goljädkin, Ew. Exzellenz.“ „Nun, was wünschen Sie?“ „Das heißt, so und so, ich betrachte Sie als meinen Vater: ich selbst halte mich ganz aus der Sache, und bitte Sie nur, mich vor meinem Feinde zu beschützen, – das ist alles!“ „Was heißt das?“ „Es ist doch bekannt ...“ „Was ist bekannt?“ Herr Goljädkin verstummte: sein Kinn fing an zu zittern ... „Nun?“ „Ich dachte, moralisch, – Ew. Exzellenz ... ich meinte, in moralischem Sinne: Ew. Exzellenz als Vater anerkennen ... das heißt, so und so, beschützen Sie mich, unter Trä–ä–nen bi–bi–tte ich, so etwas zu – zu – un–ter–stützen ...“ Seine Exzellenz wandte sich ab. Unser Held konnte für einen Augenblick wieder nichts mehr wahrnehmen. Seine Brust war wie zusammengepreßt. Der Atem ging ihm aus. Er wußte nicht mehr, wie er sich auf den Beinen halten sollte ... Er schämte sich und unsagbar traurig war ihm zumute. Gott weiß, was ihn erwartete ... Als unser Held wieder zu sich kam, bemerkte er, daß Seine Exzellenz mit seinen Gästen sehr lebhaft sprach und sich mit ihnen zu beraten schien. Einen der Gäste erkannte Herr Goljädkin. Es war Andrej Philippowitsch. Den anderen dagegen erkannte er nicht, obgleich ihm das Gesicht sehr bekannt schien: eine hohe volle Erscheinung, in älteren Jahren, mit buschigen Brauen, mächtigem Backenbart und scharfem, ausdrucksvollem Gesicht. Am Halse des Unbekannten hing ein Orden und eine Zigarre stak zwischen den Zähnen. Der Unbekannte rauchte, und ohne die Zigarre aus dem Munde zu nehmen; nickte er bedeutsam mit dem Kopfe, von Zeit zu Zeit zu Herrn Goljädkin hinüberblickend. Herr Goljädkin fühlte sich fürchterlich unbehaglich. Er wandte seinen Blick zur Seite, und dabei bemerkte er – einen sehr sonderbaren Gast. In der Tür, die unser Held bis jetzt für einen Spiegel angesehen hatte, wie es ihm schon einmal passiert war – erschien er – wir wissen ja schon, wer: der Bekannte und Freund Herrn Goljädkins. Herr Goljädkin der Jüngere hatte sich bis dahin offenbar in einem kleinen Zimmer aufgehalten, um schnell etwas niederzuschreiben. Jetzt hatte man ihn wohl nötig und er war – erschienen. Mit Papieren unter dem Arm, ging er auf Seine Exzellenz zu und in Erwartung, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenken werde, gelang es ihm auch, sich alsbald sehr geschickt ins Gespräch und in die Beratung mit einzumischen. Er nahm seinen Platz hinter dem Rücken Andrej Philippowitschs ein und wurde teilweise verdeckt von dem Unbekannten, der die Zigarre rauchte. Ohne weiteres nahm Herr Goljädkin der Jüngere Anteil am Gespräch, dem er mit Eifer folgte, zu dem er mit dem Kopfe nickte, während er in einem fort lächelte und jeden Augenblick Seine Exzellenz ansah, ganz als flehte er mit seinen Blicken um die Erlaubnis, auch ein Wörtchen einzuflechten. „Schurke!“ dachte Herr Goljädkin und trat unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. In diesem Augenblicke kehrte sich Seine Exzellenz um und näherte sich selbst, etwas unentschieden, Herrn Goljädkin. „Nun, gut, gut: gehen Sie mit Gott. Ich werde Ihre Sache nachprüfen, und Sie werde ich begleiten lassen ...“ Seine Exzellenz blickte auf den Unbekannten mit dem Backenbart. Dieser nickte zum Zeichen seiner Einwilligung mit dem Kopf. Herr Goljädkin empfand es und verstand nur zu genau, daß man ihn für etwas anderes nahm und ihn durchaus nicht so behandelte, wie es sich gehörte. „So oder so, aber erklären muß ich mich,“ dachte er, „das heißt: so und so, Ew. Exzellenz!“ Hierbei richtete er in der Verwirrung seine Augen zu Boden und zu seiner äußersten Verwunderung sah er auf den Stiefeln Seiner Exzellenz einen großen weißen Fleck. „Sind sie wirklich geplatzt?“ dachte Herr Goljädkin. Doch bald entdeckte Herr Goljädkin, daß die Stiefel Seiner Exzellenz durchaus nicht geplatzt waren, sondern nur stark funkelten, ein Phänomen, das sich daraus erklärte, daß die Stiefel von Lack waren und stark glänzten. „Das nennt man aber blank sein,“ dachte Herr Goljädkin, und als er seinen Blick wieder erhob, erkannte er, daß es Zeit war, zu reden, weil die Sache sich sonst zu einem schlechten Ende wenden konnte ... Unser Held trat also einen Schritt nach vorn. „Das heißt ... so und so ... Ew. Exzellenz,“ sagte er. „Ich meine doch, einen falschen Namen zu tragen, ist in unserer Zeit doch wohl nicht erlaubt.“ Seine Exzellenz antwortete ihm nichts mehr, sondern zog nur heftig an der Glockenschnur. Unser Held trat noch einen Schritt vor. „Er ist ein gemeiner und verdorbener Mensch, Ew. Exzellenz,“ sagte unser Held, ohne sich zu besinnen, ersterbend vor Furcht, und wies trotz alledem kühn und entschlossen auf seinen unwürdigen Doppelgänger, der sich diesen Augenblick dicht bei Seiner Exzellenz zu schaffen machte. „So und so ... das heißt ... ich spiele auf eine bestimmte Person an.“ Auf diese Worte Herrn Goljädkins folgte eine allgemeine Bewegung. Andrej Philippowitsch und der Unbekannte nickten sich gegenseitig zu. Seine Exzellenz riß noch einmal ungeduldig aus allen Kräften an der Glockenschnur, um seine Leute herbeizurufen. In diesem Augenblick trat Herr Goljädkin der Jüngere vor. „Ew. Exzellenz,“ sagte er, „untertänigst bitte ich um die Erlaubnis, sprechen zu dürfen.“ In der Stimme Herrn Goljädkins des Jüngeren lag äußerste Entschlossenheit. Alles an ihm drückte aus, daß er sich vollkommen in seinem Recht fühlte. „Erlauben Sie zu fragen,“ begann er von neuem, eifrig einer Antwort Seiner Exzellenz zuvorkommend, und wandte sich diesmal an Herrn Goljädkin selbst. „Erlauben Sie zu fragen, in wessen Gegenwart Sie sich so auszudrücken belieben? Wissen Sie, vor wem Sie stehen und in wessen Kabinett Sie sich befinden? ...“ Herr Goljädkin der Jüngere war außer sich vor Erregung und ganz rot vor Zorn und Unwillen: Tränen der Empörung traten ihm in die Augen. „Die Herren Bassawrjukoff!“ rief in diesem Augenblick der Lakai mit lauter Stimme, indem er in der Tür des Kabinetts erschien. „Eine berühmte adelige Familie aus Klein-Rußland,“ dachte Herr Goljädkin und fühlte im selben Augenblick, wie eine Hand sich ihm in sehr freundschaftlicher Weise auf den Rücken legte. Zugleich legte sich ihm noch eine Hand auf den Rücken und das gemeine Ebenbild von Herrn Goljädkin lief voran und zeigte nach der Tür, als wiese er ihm den Weg – Herr Goljädkin fühlte es deutlich, wie er gewaltsam auf die große Ausgangstür des Kabinetts hinbewegt wurde. „Genau so wie bei Olssuph Iwanowitsch,“ dachte er, als er sich schon im Vorzimmer befand, begleitet von zwei Lakaien Seiner Exzellenz und von seinem unvermeidlichen Ebenbilde. „Den Mantel, den Mantel, den Mantel meines Freundes! Den Mantel meines besten Freundes!“ schrie der verworfene Mensch, riß den Mantel aus den Händen des Dieners und warf zur allgemeinen Erheiterung den Mantel Herrn Goljädkin über den Kopf. Während Herr Goljädkin unter seinem Mantel wieder hervorkroch, hörte er deutlich das Gelächter der Diener. Doch er achtete nicht darauf und kümmerte sich um nichts. Ruhig trat er aus dem Vorzimmer auf die hellerleuchtete Treppe hinaus. Herr Goljädkin der Jüngere folgte ihm. „Leben Sie wohl, Ew. Exzellenz!“ rief dieser Herrn Goljädkin dem Älteren nach. „Schurke!“ sagte unser Held außer sich. „Nun, meinetwegen ein Schurke ...“ „Verworfener Mensch! ...“ „Nun, meinetwegen auch ein verworfener Mensch ...“ antwortete dem würdigen Herrn Goljädkin sein unwürdiger Feind mit der ihm eigenen Gemeinheit und sah frech, oben von der Treppe hinunter und ohne die Augen niederzuschlagen Herrn Goljädkin an, als forderte er ihn auf, so weiter fortzufahren. Unser Held spie aus vor Empörung und stürzte zum Hause hinaus. Er war so zerschlagen, daß er kaum wußte, wie er in den Wagen gelangte. Als er endlich zu sich kam, sah er, daß er an der Fontanka entlang fuhr. „Wahrscheinlich fährt er nach der Ismailoffbrücke,“ dachte Herr Goljädkin. Hier wollte Herr Goljädkin noch etwas denken, doch es gelang ihm nicht: es war etwas so Entsetzliches, das zu erklären unmöglich schien ... „Nun, tut nichts,“ schloß unser Held und fuhr weiter zur Ismailoffbrücke. XIII. ... Es schien, daß das Wetter sich bessern wollte. Der nasse Schnee, der bis jetzt in großen Massen niederfiel, wurde allmählich dünner und immer dünner, und hörte schließlich fast ganz auf. Der Himmel wurde klarer und hin und wieder sah man Sterne blinken. Es war jedoch noch immer feucht, schmutzig und schwül, besonders für Herrn Goljädkin, der ohnehin nur mühsam atmen konnte. Sein durchnäßter und schwerer Mantel umhüllte mit einer unangenehmen warmen Feuchtigkeit seine Glieder und lastete schwer auf dem ganz ermüdeten und vor Müdigkeit fast erschöpften Herrn Goljädkin. Ein Schüttelfrost überlief seinen Körper mit spitzen scharfen Nadeln. Die Erschöpfung preßte ihm kalten Schweiß auf die Stirn. Herr Goljädkin fühlte sich so elend, daß er sogar vergaß, wie bei sonstigen Gelegenheiten, mit der ihm eigenen Charakterfestigkeit seine Lieblingsphrase zu wiederholen: daß sich das alles ganz bestimmt noch zum besten wenden würde. „Übrigens, das hat alles noch nichts zu sagen,“ behauptete unser starker und in seiner Tapferkeit unerschütterlicher Held nur, indem er sich vom Gesicht das kalte Wasser wischte, das in Strömen vom Rande seines runden Hutes tropfte, der, aufgeweicht und durchnäßt wie er war, das Wasser nicht mehr aufnehmen konnte. Da unser Held, wie gesagt, der Meinung war, daß das alles noch nichts zu sagen hätte, so versuchte er sich wenigstens auf den dicken Holzklotz zu setzen, der sich auf dem Hofe von Olssuph Iwanowitsch neben einem großen Holzstoß befand. Natürlich war von der spanischen Serenade nicht die Rede: viel eher mußte er an seinen, wenn auch nicht großen, so doch immerhin warmen, gemütlichen und verborgenen Winkel zurückdenken. Nebenbei gesagt, sehnte er sich jetzt geradezu nach dem Winkel auf dem Treppenflur der Wohnung von Olssuph Iwanowitsch, in dem unser Held, früher, zu Anfang unserer Geschichte, zwei Stunden lang hinter einem Schrank, zwischen alten Schirmen und allerlei Gerümpel, gestanden hatte. Die Sache war nämlich die, daß Herr Goljädkin auch jetzt bereits zwei Stunden auf dem Hofe Olssuph Iwanowitschs stand. Doch mit dem verborgenen und gemütlichen Winkel waren diesmal Hindernisse verbunden, die es früher nicht gegeben hatte. Erstens war der Schlupfwinkel wahrscheinlich bemerkt und infolgedessen waren seit der Geschichte auf dem Balle bei Olssuph Iwanowitsch gewisse Maßregeln getroffen worden. Zweitens mußte er auf das verabredete Zeichen von Klara Olssuphjewna warten, denn es war doch sicher von einem solchen verabredeten Zeichen die Rede gewesen! So war es immer, sagte er sich, und „nicht mit uns wird es anfangen, und nicht mit uns wird es aufhören“. Herr Goljädkin erinnerte sich übrigens eines Romans, den er schon vor langer Zeit gelesen hatte, in dem die Heldin unter denselben Umständen ihrem Alfred ein Zeichen gab: mit einem rosa Band, das sie ans Fenster befestigte. Ein rosa Band aber, in der Nacht und beim Petersburger Klima, das ja durch seine Feuchtigkeit bekannt ist, ging denn doch nicht an, nein: das war einfach unmöglich! „Hier kann von Serenaden nicht die Rede sein,“ dachte unser Held, „besser ist sicher, ich verhalte mich still! Und suche mir einen anderen Platz!“ Und richtig, er suchte sich einen Platz aus, gerade den Fenstern gegenüber, bei seinem Holzstoß. Natürlich gingen über den Hof verschiedene Leute, Stalljungen und Kutscher, die Wagen rasselten, die Pferde wieherten usw. Immerhin war der Platz sehr bequem: ob man ihn nun bemerkte oder nicht bemerkte – jedenfalls hatte der Platz den Vorteil, daß die Sache im Schatten vor sich ging und Herrn Goljädkin niemand sehen konnte, er selbst aber alles sah. Die Fenster der Wohnung waren hell erleuchtet. Es schien wieder eine feierliche Gesellschaft bei Olssuph Iwanowitsch versammelt zu sein. Musik war übrigens noch nicht zu vernehmen. „Es wird wohl kein Ball stattfinden, sondern nur so eine Gesellschaft sein,“ dachte Herr Goljädkin. „Ja, ist es denn auch heute?“ ging es ihm dann durch den Kopf, „habe ich mich nicht im Datum getäuscht? Es kann sein, alles kann sein ... alles ist möglich! Vielleicht war der Brief gestern geschrieben worden und hat mich nicht erreicht, weil Petruschka ihn vergessen hatte. So ein Schurke! Oder er ist zu morgen bestimmt ... so, daß ich ... erst morgen alles hätte vorbereiten sollen, das heißt, mit dem Wagen hätte warten sollen ...“ Hier überlief es unseren Helden eiskalt, er griff nach dem Briefe in der Tasche, um sich zu überzeugen. Doch zu seiner Verwunderung fand sich kein Brief in der Tasche. „Wie kommt denn das?“ flüsterte zu Tode erschrocken Herr Goljädkin: „Wo kann er sein? Sollte ich ihn verloren haben? Das fehlte noch!“ stöhnte er auf. „Wenn er jetzt in schlechte Hände kommt? Ja, vielleicht ist es schon geschehen! Herrgott! Was kann sich daraus ergeben! Das wäre ja ... Ach, du mein verfluchtes Schicksal!“ Herr Goljädkin zitterte wie ein Espenblatt bei dem Gedanken, daß vielleicht sein übelwollender Doppelgänger, als er ihm den Mantel über den Kopf geworfen, damit das Ziel verfolgt hatte, ihm den Brief zu entwenden, von dem er vielleicht bei den Feinden Herrn Goljädkins etwas erfahren hatte. „Da hätte er einen Beweis!“ dachte Herr Goljädkin, „einen Beweis ... und was für einen Beweis! ...“ Nach dem ersten Anfall dieses kalten Entsetzens stieg Herrn Goljädkin das Blut heiß in den Kopf. Stöhnend und zähneknirschend faßte er nach seiner glühenden Stirn, setzte sich wieder auf den Holzklotz und fing an nachzudenken ... Aber seine Gedanken hatten keinen Zusammenhang. Es tauchten verschiedene Gesichter auf und er erinnerte sich plötzlich bald undeutlich, bald wieder fest umrissen längst vergessener Vorgänge – Motive dummer Lieder, die ihm durch den Kopf gingen ... Es war ein Elend, ein Elend, ein übernatürliches Elend! „Gott, mein Gott!“ dachte unser Held, sich mühsam fassend, zugleich mit dem Versuch, das dumpfe Schluchzen in der Brust zu unterdrücken, „gib mir Festigkeit in der unerschöpflichen Tiefe meines Mißgeschicks! Daß ich verloren bin, vollständig verloren – darüber besteht kein Zweifel, das liegt in der Ordnung der Dinge, denn es kann ja doch nicht anders sein! Erstens habe ich meine Stellung verloren, ganz und gar verloren, wie sollte ich auch nicht ... Zweitens – ... Oder sollte es doch noch eine Möglichkeit geben? Mein Geld, nehmen wir an, reicht noch für die erste Zeit: ich nehme mir irgendeine kleine Wohnung, einige Möbel sind nötig. Petruschka wird zwar nicht mehr bei mir sein. Doch ich kann auch ohne den Schuft auskommen ... nun schön, ich kann ausgehen und zurückkommen, wann es mir paßt, und Petruschka wird nichts mehr zu brummen haben, wenn ich spät nach Hause komme. Darum ist es auch besser ohne ihn ... Nun, nehmen wir also an, daß das alles sehr gut ginge. Nur handelt es sich noch immer nicht darum, noch immer nicht darum! ...“ Dabei tauchte wieder das Bewußtsein der Lage in Herrn Goljädkin auf, in der er sich unmittelbar befand. Er blickte um sich. „Ach, du mein großer Gott! Herr, du mein Gott! Was rede ich denn jetzt davon?“ dachte er, und griff wieder ganz und gar verloren nach seinem brummenden Kopf. „Belieben Sie nicht bald zu fahren, Herr?“ ertönte plötzlich eine Stimme neben ihm. Herr Goljädkin fuhr zusammen, denn vor ihm stand sein Kutscher, gleichfalls bis auf die Haut durchnäßt. Er war vom Warten ungeduldig geworden und wollte nach seinem Herrn hinter dem Holzstoß sehen. „Ich, mein Lieber, tut nichts ... Ich, mein Freund, komme bald, sehr bald, sehr bald – warte noch ein wenig ...“ Der Kutscher ging fort und brummte etwas in den Bart. „Was mag er da brummen?“ dachte Herr Goljädkin unter Tränen, „ich habe ihn doch für den ganzen Abend genommen, ich bin durchaus in meinem Recht, so ist es! Für den Abend habe ich ihn genommen, und damit ist die Sache erledigt. Mag er da stehen, einerlei! Das hängt von meinem Willen ab. Willigt er ein, oder willigt er nicht ein. Und wenn ich hier hinter dem Holz stehe, so ist das ganz gleich ... – er hat hier nichts zu meinen: will der Herr hinter dem Holz stehen, so mag er es tun ... seiner Ehre wird das nicht schaden! So ist’s! So ist’s meine Dame, wenn Sie es wissen wollen. Und in einer Hütte, meine Dame, das heißt, so und so, kann in unserer Zeit niemand mehr leben. Und ohne gute Sitten geht es in unserer erwerbstätigen Zeit auch nicht mehr, meine Dame, wofür Sie selbst jetzt ein bedauernswertes Beispiel sind ... Das heißt, Titularrat soll man sein, und dabei am Ufer des Meeres in einer Hütte leben! Erstens, meine Dame, braucht man an den Ufern des Meeres keine Titularräte und zweitens hätten wir da überhaupt nicht zum Titularrat aufrücken können. Nehmen wir an, ich sollte beispielsweise eine Bittschrift einreichen: das heißt, so und so, möchte Titularrat werden ... begünstigen Sie mich trotz meiner Feinde ... dann wird man Ihnen sagen, meine Dame, daß es ... viele Titularräte gibt, und daß Sie hier nicht bei der Emigrantin sind, wo Sie gute Sitten lernen sollen, um als gutes Beispiel zu dienen. Sittsamkeit, meine Dame, bedeutet, zu Hause bleiben, den Vater ehren und nicht vor der Zeit an Freier denken. Die Freier, meine Dame, finden sich schon mit der Zeit von selbst – so ist’s! Freilich muß man verschiedene Talente besitzen wie: Klavierspielen, Französisch sprechen, in der Geschichte, Geographie, Religion und Arithmetik bewandert sein, – so ist’s! Mehr ist auch nicht nötig. Und dazu dann die Küche. Jedenfalls sollte jedes sittsame Mädchen die Küche beherrschen! Aber so? Erstens wird man Sie, meine Schöne, meine verehrte Dame, nicht sich selbst überlassen, man wird Ihnen nachsetzen und wird Sie zwingen, in ein Kloster zu gehen. Und was, meine Dame, was befehlen Sie denn, das ich tun soll? Befehlen Sie mir dann vielleicht, meine Dame, daß ich wie in dummen Romanen mich auf den nächsten Hügel setzen und in Tränen zerfließen soll, indem ich auf die kalten Mauern sehe, die Sie umschließen? Oder soll ich etwa der Vorschrift einiger schlechter deutscher Poeten und Romanschriftsteller folgen und freiwillig sterben? Wollen Sie das, meine Dame? Erlauben Sie mir, Ihnen in aller Freundschaft auszudrücken, daß die Dinge so nicht gehen, und daß man Sie und Ihre Eltern ordentlich strafen müßte, weil sie Ihnen französische Bücher zum Lesen gegeben haben. Denn französische Bücher lehren einen nichts Gutes. Das ist Gift ... reines Gift, meine Dame! Oder denken Sie etwa, erlauben Sie, daß ich Sie frage, denken Sie etwa, wir entfliehen ungestraft und ... leben dann in einer Hütte am Meer! Fangen an, von Gefühlen zu reden, miteinander wie die Tauben zu girren und verbringen so unser Leben in Zufriedenheit und Glück! Und wenn dann ein Kleines kommt, dann werden wir ... – dann sagen wir so und so, lieber Vater und Staatsrat Olssuph Iwanowitsch, ein Kleines ist da, also nehmen Sie bei der Gelegenheit Ihren Fluch zurück und segnen Sie uns! Nein, meine Dame, das geht wieder nicht an und auf das Girren hoffen Sie nicht, denn von alledem wird’s nichts geben. Heute ist der Mann der Herr, und eine gute wohlerzogene Frau muß ihm in allem gehorchen. Zärtlichkeiten liebt man in unserer erwerbstätigen Zeit nicht, die Zeiten Jean Jacques Rousseaus sind vorüber. Heutzutage kommt der Mann zum Beispiel hungrig aus dem Dienst, und ‚Herzchen‘, fragt er seine Frau, ‚hast du nicht etwas zu essen, einen Hering, ein Gläschen Schnaps?‘ Also müssen Sie, meine Dame, Schnaps und Hering bereit halten. Der Mann ißt mit Appetit, um Sie aber kümmert er sich gar nicht, er sagt nur: ‚Geh in die Küche, mein Kätzchen, und sieh nach dem Mittagessen.‘ Er küßt Sie vielleicht nur einmal in der Woche, und auch das tut er sehr gleichgültig! ... So ist unsere Art, meine Dame, ja, und auch das tun wir nur gleichgültig! ... So ist es, wenn man sich’s genau überlegt, wenn es darauf ankommt ... Ja, und was soll ich dabei? Warum, meine Dame, haben Sie denn gerade mich mit Ihren Launen bedacht? ‚Tugendhafter, für mich leidender und meinem Herzen teurer Mann‘ usw. Ich passe ja gar nicht zu Ihnen, meine Dame! Sie wissen ja selbst, daß ich im Komplimentemachen kein Meister bin und es nicht liebe, Damen gefühlvollen Unsinn vorzuschwatzen, meine Erscheinung ist auch nicht danach. Lügenhafte Prahlerei und Falschheit werden Sie bei mir nicht finden, das sage ich Ihnen jetzt in aller Aufrichtigkeit. Ich besitze einen offenen Charakter und einen gesunden Verstand: mit Intrigen gebe ich mich nicht ab. Das heißt: ich bin kein Intrigant und darauf bin ich stolz – so ist’s! ... Guten Menschen gegenüber trage ich keine Maske, und um Ihnen alles zu sagen ...“ Plötzlich fuhr Herr Goljädkin zusammen. Das rote Gesicht seines Kutschers mit ganz durchnäßtem Bart blickte wieder nach ihm hinter den Holzstoß ... „Ich komme sofort, mein Freund! Ich komme sofort, mein Freund, weißt du. Ich komme sofort, sofort ...“ wiederholte Herr Goljädkin wie beschwörend mit zitternder und weinerlicher Stimme. Der Kutscher kratzte sich hinter den Ohren, glättete seinen Bart, trat einen Schritt zurück, blieb wieder stehen und blickte mißtrauisch Herrn Goljädkin an. „Ich komme sofort, mein Freund: Ich, siehst du ... mein Freund ... ich werde nur ein wenig, nur eine Sekunde noch – hier ... Siehst du, mein Freund ...“ „Wahrscheinlich werden Sie gar nicht fahren?“ sagte endlich der Kutscher und trat entschlossen auf Herrn Goljädkin zu. „Nein, mein Freund, ich werde sofort fahren. Ich, siehst du, mein Freund, warte nur ...“ „Ja, Herr ...“ „Ich, siehst du, mein Freund ... Aus welchem Dorfe bist du, mein Lieber?“ „Wir sind Leibeigene ...“ „Ist dein Herr gut? ...“ „Ziemlich.“ „Ja, mein Lieber, ja. Danke der Vorsehung, mein Freund! Suche gute Menschen! Gute Menschen sind jetzt selten geworden, mein Lieber. Er gibt dir Essen und Trinken, mein Lieber, also ist er ein guter Mensch. Denn oft erlebst du, mein Freund, daß auch bei Reichen die Tränen fließen ... Du siehst hier ein beklagenswertes Beispiel. So ist’s, mein Lieber ...“ Dem Kutscher schien Herr Goljädkin leid zu tun. „Nun, wie Sie wollen, ich werde warten. Wird es noch lange dauern?“ „Nein, mein Freund, nein. Ich werde, weißt du, nicht mehr lange warten, mein Lieber ... Wie denkst du darüber, mein Freund? Ich werde mich auf dich verlassen. Ich werde hier nicht länger mehr warten ...“ „Dann werden Sie also fahren?“ „Nein, mein Lieber! Nein, ich danke dir ... hier ... wieviel hast du zu bekommen, mein Lieber?“ „Was wir abgemacht, Herr: bezahlen Sie, bitte. Ich habe lange gewartet, Herr, Sie werden mich armen Menschen nicht schädigen, Herr.“ „Nun, da, nimm, mein Lieber, da hast du’s!“ Dabei gab ihm Herr Goljädkin sechs Rubel und beschloß ernstlich, keine Zeit mehr zu verlieren, das heißt, einfach fortzugehen, um so mehr, da die Sache jetzt doch schon entschieden und der Kutscher entlassen war. Folglich brauchte er hier nicht mehr zu warten, er kletterte also hinter dem Holz hervor, ging zum Hoftor hinaus, wandte sich nach links und begann, ohne sich umzusehen, keuchend und doch fast freudig, davonzulaufen. „Vielleicht wird sich noch alles zum besten wenden,“ dachte er, „und ich bin auf diese Weise dem Unglück entronnen.“ Und wirklich wurde Herrn Goljädkin plötzlich ganz leicht ums Herz. „Ach, wenn doch alles wieder gut würde!“ dachte unser Held, glaubte aber selbst kaum daran. „Ich werde von dort ...“ dachte er. „Nein, besser, von der Seite, das heißt, so ...“ Während er sich auf diese Weise mit Zweifeln quälte und den Schlüssel zu ihrer Lösung suchte, war unser Held bis zur Ssemjonoffbrücke gerannt und beschloß hier, nachdem er sich’s reiflich überlegt hatte, – wieder umzukehren. „So wird’s besser sein!“ dachte er. „Ich komme von der anderen Seite, das heißt, so. Dann bin ich ein unbeteiligter Zuschauer und die Sache hat ihr Ende. Ich bin also nur Zuschauer, eine Nebenperson, weiter nichts, und was da auch vorgehen mag – daran bin ich nicht schuldig! So ist’s! So wird es jetzt sein!“ Nachdem er einmal beschlossen hatte, umzukehren, kehrte unser Held auch wirklich wieder um – sehr zufrieden darüber, daß er, dank seinem glücklichen Einfall, jetzt nur eine ganz unbeteiligte Person vorstellen würde. „So ist es besser: so hast du nichts zu verantworten, du siehst nur zu – weiter nichts!“ Die Rechnung war richtig, und die Sache mochte damit ihr Ende haben! Durch diesen Gedanken beruhigt, begab er sich wieder in den friedlichen Schatten des ihn beschützenden Holzstoßes und begann von neuem aufmerksam nach den Fenstern zu blicken. Dieses Mal hatte er nicht lange zu beobachten und zu warten. Es zeigte sich plötzlich an allen Fenstern eine lebhafte Bewegung, Gestalten tauchten auf, die Vorhänge wurden geöffnet, eine ganze Gruppe von Leuten drängte sich an die Fenster Olssuph Iwanowitschs, alle sahen auf den Hof hinaus und schienen etwas zu suchen. Geschützt durch seinen Holzstoß, begann auch unser Held seinerseits neugierig der allgemeinen Bewegung zu folgen, er wandte voll Teilnahme seinen Kopf nach links und nach rechts, soweit es ihm der Schatten seines Holzstoßes, der ihn verbarg, erlaubte. Plötzlich fuhr er zusammen und hätte sich beinahe vor Schreck hingesetzt. Ihm schien es mit einem Male, und er war sofort vollkommen davon überzeugt, daß man, wenn man jemanden suchte, niemand anderen suchen konnte, als ihn selbst: als Herrn Goljädkin. Denn alle blickten nach ihm hin. Davonzulaufen war unmöglich: man hätte ihn gesehen ... Der entsetzte Herr Goljädkin preßte sich enger und enger, so nah als es möglich war, an das Holz und bemerkte dabei erst jetzt, daß der Schatten des Stoßes ihn nicht mehr ganz bedeckte. Wie gern wäre unser Held nun in ein Mauseloch gekrochen! und hätte dort ruhig und friedlich gesessen! wenn es nur gegangen wäre! Doch ging es nicht, entschieden ging es nicht! In seiner Angst sprang er endlich auf und sah entschlossen nach allen Fenstern zugleich hin. Das war noch das Beste! ... Und plötzlich errötete er über und über. Alle hatten sie ihn bemerkt, alle winkten sie ihm mit den Händen und nickten mit den Köpfen, alle riefen sie ihm zu. Die Fenster wurden geöffnet, Viele Stimmen hörte man rufen ... „Ich wundere mich, warum man diese Mädchen nicht von Kindheit an durchgeprügelt hat,“ murmelte unser Held vor sich hin, ganz und gar verwirrt. Plötzlich kam _er_ (es ist bekannt _wer_) die Treppe herunter gelaufen, im Uniformrock ohne Hut, kam atemlos auf ihn zugestürzt und heuchelte äußerste Freude darüber, daß er endlich Herrn Goljädkin erblickt hatte. „Jakoff Petrowitsch!“ lispelte der verworfene Mensch. „Jakoff Petrowitsch, Sie hier? Sie werden sich erkälten. Hier ist es kalt, Jakoff Petrowitsch. Kommen Sie doch hinein!“ „Nein, Jakoff Petrowitsch, es tut mir nichts, Jakoff Petrowitsch,“ murmelte unser Held mit schüchterner Stimme. „Aber das geht nicht! Das geht nicht! Jakoff Petrowitsch, man bittet Sie, gefälligst einzutreten, man erwartet Sie. Erweisen Sie uns doch die Ehre und kommen Sie, bitte, Jakoff Petrowitsch, kommen Sie!“ „Nein, Jakoff Petrowitsch, ich, sehen Sie – es wäre besser ... wenn ich nach Hause ginge. Jakoff Petrowitsch ...“ antwortete unser Held, und verging zugleich vor Scham und vor Schreck. „Nein, nein, nein!“ flüsterte der widerliche Mensch, „nein, nein, nein, für nichts in der Welt! Gehen wir!“ sagte er entschlossen und zog Herrn Goljädkin den Älteren mit sich zur Treppe. Herr Goljädkin wollte durchaus nicht gehen, da aber alle nach ihm sahen und ein Widerstreben dumm gewesen wäre, so ging unser Held – übrigens, man kann nicht sagen, daß er ging, denn er wußte selbst nicht, was mit ihm geschah. Es war ja doch alles gleichgültig! Noch bevor sich unser Held recht besinnen und sein Äußeres etwas in Ordnung bringen konnte, befand er sich schon im Saal. Er sah bleich, zerstört und verwirrt aus, seine trüben Augen irrten über die ganze Gesellschaft – Entsetzen! Der Saal, alle Zimmer – alles, alles war überfüllt. Menschen gab es in Unmengen, Damen, ein ganzer Blumengarten: sie alle drängten sich um Herrn Goljädkin, sie alle strebten auf ihn zu, sie alle wollten Herrn Goljädkin auf ihre Schultern heben, wobei er das Gefühl hatte, er schwebe in einer bestimmten Richtung. „Doch nicht etwa zur Tür,“ ging es Herrn Goljädkin durch den Kopf. Und wirklich, sie trugen ihn, zwar nicht nach der Tür – wohl aber gerade zum Lehnstuhl von Olssuph Iwanowitsch. Neben dem Lehnstuhl an der anderen Seite stand Klara Olssuphjewna, bleich, düster und traurig, doch wundersam geschmückt. Besonders fielen Herrn Goljädkin die kleinen weißen Blümchen auf, die in ihren schwarzen Haaren eine prachtvolle Wirkung übten. Auf der anderen Seite des Lehnstuhls stand Wladimir Ssemjonowitsch, im schwarzen Frack, mit seinen neuen Ordensbändern im Knopfloch. Herrn Goljädkin führte man, wie gesagt, an der Hand gerade aus Olssuph Iwanowitsch zu. Auf der einen Seite führte ihn Herr Goljädkin der Jüngere, der sich sehr anständig und ehrbar hielt, worüber Herr Goljädkin der Ältere außer sich vor Freude war – und auf der anderen Seite wurde er von Andrej Philippowitsch begleitet, der eine höchst feierliche Miene zur Schau trug. „Was soll das?“ dachte Herr Goljädkin. Als er aber bemerkte, daß man ihn zu Olssuph Iwanowitsch brachte, wurde er plötzlich wie von einem Blitz erleuchtet. Der Gedanke an den entwendeten Brief tauchte in seinem Kopfe auf. In schrecklicher Angst stand unser Held vor dem Lehnstuhl Olssuph Iwanowitschs. „Was werden sie jetzt mit mir tun?“ dachte er bei sich. „Natürlich werden sie mit Aufrichtigkeit, unerschütterlicher Ehrbarkeit ... das heißt ... so und so, usw.“ Doch was unser Held befürchtet hatte, trat nicht ein. Olssuph Iwanowitsch schien Herrn Goljädkin sehr wohlwollend zu empfangen, und wenn er ihm auch nicht die Hand reichte, so wiegte er doch seinen ehrfurchteinflößenden Graukopf, feierlich und zugleich traurig, mit einem gütigen Ausdruck. So schien es wenigstens Herrn Goljädkin. Ihm kam es sogar vor, als ob Tränen im Blick Olssuph Iwanowitschs lägen: er schlug seine Augen auf und bemerkte, daß auch an den Wimpern Klara Olssuphjewnas eine Träne blinkte – und mit den Augen Wladimir Ssemjonowitschs schien es ihm nicht anders zu sein – sogar die unerschütterliche ruhige Würde Andrej Philippowitschs war dem allgemeinen tränenreichen Mitgefühle verfallen, – auch der Jüngling, der dem alten Staatsrat Olssuph Iwanowitsch so ähnlich sah, weinte bereits bittere Tränen ... Oder schien das vielleicht alles Herrn Goljädkin nur so, da er selbst deutlich fühlte, wie ihm die heißen Tränen über die kalten Backen rannen ... Die Stimme voll Tränen, versöhnt mit den Menschen und seinem Schicksal und im Augenblick voll Liebe, nicht nur zu Olssuph Iwanowitsch, sondern zu allen Gästen, sogar zu seinem gefährlichen Doppelgänger, der durchaus nicht mehr böse, der gar nicht mehr der Doppelgänger zu sein schien, sondern ein ganz gleichgültiger und liebenswürdiger Mensch, – also wandte sich unser Held an Olssuph Iwanowitsch. Aber er vermochte nicht auszudrücken, was seine Seele erfüllte, in der sich so viel angesammelt hatte, er konnte nichts sagen, nicht das geringste, und nur mit einer beredten Handbewegung wies er schweigend auf sein Herz ... Schließlich führte Andrej Philippowitsch – wohl um das Gefühl des Greises zu schonen – Herrn Goljädkin ein wenig zur Seite. Leise lächelnd und irgend etwas vor sich hinmurmelnd, vielleicht auch verwundert, doch jedenfalls ganz versöhnt mit seinem Schicksal und den Menschen, begann unser Held die dichte Masse der Gäste zu durchschneiden. Alle gaben ihm den Weg frei, alle sahen ihn mit so sonderbarer Neugierde und mit unerklärlicher, rätselhafter Teilnahme an. Unser Held ging ins zweite Zimmer: überall die gleiche Aufmerksamkeit. Er hörte undeutlich, wie alle ihm folgten, wie sie jeden seiner Schritte beobachteten, wie sie sich heimlich gegenseitig anstießen und über etwas sehr Merkwürdiges sprachen, urteilten, flüsterten und die Köpfe wiegten. Herr Goljädkin hätte furchtbar gern erfahren, wovon sie sprachen! Als er sich umblickte, bemerkte unser Held neben sich Herrn Goljädkin den Jüngeren. Er fühlte die Notwendigkeit, seine Hand zu ergreifen und ihn beiseite zu führen. Herr Goljädkin bat darauf „Jakoff Petrowitsch“ inständigst, ihn bei allen seinen Unternehmungen behilflich zu sein und ihn im kritischen Augenblick nicht zu verlassen. Herr Goljädkin der Jüngere nickte eifrig mit dem Kopf und drückte kräftig die Hand Herrn Goljädkins des Älteren. Vor überströmenden Gefühlen zitterte das Herz in der Brust unseres Helden. Er glaubte zu ersticken, er fühlte, wie ihn irgend etwas mehr und mehr beengte, wie alle die Blicke, die auf ihn gerichtet waren, ihn verfolgten und zu Boden drückten ... Herr Goljädkin sah im Vorübergehen auch jenen Rat, der auf seinem Kopfe eine Perücke trug. Der Herr Rat sah ihn mit strengem, fragendem Blick an, der durch die allgemeine Teilnahme keineswegs gemildert wurde ... Unser Held beschloß, gerade auf ihn zuzugehen, er wollte ihm zulächeln, sich ihm erklären, doch gelang ihm seine Absicht nicht. In dem Augenblick, als er es tun wollte, verlor Herr Goljädkin vollständig sein Gedächtnis ... Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß er sich, in einem weiten Kreise von Gästen, um sich selber drehte. Plötzlich rief man aus dem anderen Zimmer nach Herrn Goljädkin. Der Ruf verbreitete sich über die ganze Menge. Alles regte sich auf, alles geriet in Bewegung, alles stürzte zur Tür des ersten Saales. Unser Held wurde beinahe auf den Händen hinausgetragen, wobei der Herr Rat mit der Perücke Seite an Seite mit ihm zu stehen kam. Endlich ergriff er seine Hand und setzte sich dem Lehnstuhl Olssuph Iwanowitschs gegenüber, übrigens, in einer ziemlich weiten Entfernung von ihm. Alle, die im Zimmer waren, setzten sich in einem großen Kreise um Olssuph Iwanowitsch und Herrn Goljädkin. Alles wurde still und ruhig, alle beobachteten ein feierliches Schweigen, alle richteten ihre Blicke auf Olssuph Iwanowitsch und schienen etwas Besonderes zu erwarten. Herr Goljädkin bemerkte, wie sich neben dem Lehnstuhl von Olssuph Iwanowitsch, gerade gegenüber dem Herrn Rat, der andere Herr Goljädkin und Andrej Philippowitsch aufstellten. Das Schweigen dauerte an: man erwartete also wirklich etwas. „Genau so, wie wenn in irgendeiner Familie jemand im Begriff ist, eine lange Reise anzutreten. Man müßte nur noch aufstehen und ein Gebet sprechen,“ dachte unser Held. Plötzlich entstand eine ungewöhnliche Bewegung und unterbrach Herrn Goljädkins Gedankengang. Endlich schien das Langerwartete einzutreten. „Er kommt, er kommt!“ ging es durch die Menge. „Wer kommt?“ ging es Herrn Goljädkin durch den Kopf und er zuckte vor einem sonderbaren Gefühl zusammen. „Es ist Zeit!“ sagte der Rat und sah bedeutungsvoll Andrej Philippowitsch an. Dieser sah darauf Olssuph Iwanowitsch an. Feierlich nickte Olssuph Iwanowitsch mit seinem Kopfe. „Erheben wir uns,“ wandte sich der Rat an Herrn Goljädkin. Alle erhoben sich. Dann ergriff der Rat die Hand des Herrn Goljädkin des Älteren und Andrej Philippowitsch die Hand Herrn Goljädkins des Jüngeren und führten sie beide feierlich mitten durch die sie umgebende Menge. Unser Held sah verwundert um sich, doch man wies ihn sofort auf Herrn Goljädkin den Jüngeren, der ihm bereits die Hand entgegenstreckte. „Man will uns wohl versöhnen,“ dachte unser Held, streckte ihm gleichfalls freundschaftlich seine Hände entgegen, und reichte ihm sogar seine Backe zum Kusse. Dasselbe tat auch der andere Herr Goljädkin ... Da schien es aber Herrn Goljädkin dem Älteren, daß sein treuloser Freund ein wenig lächelte: ganz so, als lächelte er schelmisch die sie umgebende Menge an und als tauchte etwas Böses in dem unedlen Gesicht Herrn Goljädkins des Jüngeren auf – die Grimasse des Judaskusses ... Im Kopfe Herrn Goljädkins dröhnte es und vor seinen Augen wurde es dunkel: ihm schien eine endlose Reihe Goljädkinscher Ebenbilder mit großem Geräusch durch die Tür ins Zimmer zu strömen – doch es war schon zu spät! Der Judaskuß war schon gegeben worden, und ... Da geschah etwas ganz Unerwartetes ... Die Türen des Saales wurden ausgerissen und auf der Schwelle erschien ein Mensch, bei dessen Anblick Herr Goljädkin zu Eis erstarrte. Seine Füße klebten am Boden. Ein Schrei erstarb auf den Lippen. Übrigens hatte Herr Goljädkin schon früher alles gewußt und Ähnliches geahnt ... Der Unbekannte näherte sich selbstbewußt und feierlich Herrn Goljädkin. Herr Goljädkin erkannte seine Gestalt nur zu gut. Er hatte ihn gesehen, nur zu oft gesehen, kürzlich noch gesehen ... Der Unbekannte war ein hochgewachsener Mensch in schwarzem Frack mit einem hohen Orden am Halse und trug einen schwarzen Backenbart. Es fehlte ihm nur noch die Zigarre im Munde, um die Ähnlichkeit voll zu machen. Der Blick des Unbekannten ließ, wie gesagt, Herrn Goljädkin vor Schreck erstarren. Mit wichtiger und feierlicher Miene ging der schreckliche Mensch auf unseren bedauernswerten Helden zu ... Unser Held reichte ihm die Hand. Der Unbekannte ergriff sie und zog ihn an sich. Mit verlorenem Ausdruck blickte unser Held um sich. „Das ist ... das ist Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz, Doktor der Medizin und Chirurgie, Ihr alter Bekannter, Jakoff Petrowitsch!“ lispelte irgendeine widerliche Stimme Herrn Goljädkin ins Ohr. Er blickte sich um: er war es wieder, der abscheuliche, der in der Seele verderbte Doppelgänger Herrn Goljädkins. Eine boshafte Freude glänzte auf seinem Gesicht, triumphierend rieb er sich die Hände, triumphierend wandte er seinen Kopf ringsum, triumphierend trippelte er zu allen und jedem, und es schien beinahe, als wollte er vor Entzücken anfangen zu tanzen. Schließlich sprang er vor, entriß einem Diener das Licht, um Herrn Goljädkin und Krestjan Iwanowitsch zu leuchten. Herr Goljädkin hörte deutlich, wie alle, die im Saale waren, ihm folgten, sich ihm nachdrängten, sich gegenseitig stießen und einstimmig Herrn Goljädkin nachriefen: „Das hätte nichts zu sagen! er, Jakoff Petrowitsch, brauche sich nicht zu fürchten, da Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz doch sein alter Bekannter sei! ...“ Endlich traten sie auf die große hellerleuchtete Treppe hinaus. Auch hier war eine Menge Volk versammelt. Geräuschvoll wurde die Tür aufgerissen und Herr Goljädkin befand sich auf der Vortreppe mit Krestjan Iwanowitsch. Vor ihr stand eine Equipage, bespannt mit vier Pferden, die vor Ungeduld schnauften. Der schadenfrohe Herr Goljädkin der Jüngere lief die drei Stufen hinab und öffnete selbst den Wagen. Krestjan Iwanowitsch forderte mit einer Handbewegung Herrn Goljädkin auf, Platz zu nehmen. Starr vor Schrecken blickte Herr Goljädkin zurück: die ganze hellerleuchtete Treppe war von Menschen besetzt: neugierige Augen blickten ihn von allen Seiten an. Selbst Olssuph Iwanowitsch saß auf dem obersten Treppenabsatz, saß ruhig in seinem Sessel und betrachtete voll Anteil und Aufmerksamkeit alles, was vorging. Alle warteten. Ein Gemurmel der Ungeduld lief durch die Menge, als Herr Goljädkin zurückblickte. „Ich hoffe, daß hier nichts Tadelnswertes ... nichts, was Veranlassung zur Strenge geben, nichts, was sich auf meine dienstlichen Verhältnisse beziehen könnte –?“ brachte unser Held verwirrt hervor. Gemurmel und Geräusch erhob sich rings, alle schüttelten verneinend den Kopf. Tränen stürzten Herrn Goljädkin aus den Augen. „Ist dem Fall – bin ich bereit ... ich vertraue mich vollkommen ... ich lege mein Geschick in die Hände Krestjan Iwanowitschs ...“ Kaum hatte Herr Goljädkin das gesagt, daß er sein Geschick in die Hände Krestjan Iwanowitschs lege, als ein fürchterlicher, ein ohrenbetäubender Freudenschrei dem ihn umringenden Kreise entfuhr und unheilverkündend aus der ganzen wartenden Menge widerhallte. Da faßten Krestjan Iwanowitsch und Andrej Philippowitsch, jeder von einer Seite, Herrn Goljädkin unter den Arm und setzten ihn in den Wagen, der Doppelgänger aber half, nach seiner verräterischen Angewohnheit, noch von hinterrücks. Der arme Herr Goljädkin warf zum letzten Male einen Blick auf alle und alles und stieg, zitternd wie ein Katzenjunges, das man mit kaltem Wasser begossen hat – wenn der Vergleich erlaubt ist – mit Hilfe der anderen in die Equipage. Sogleich nach ihm stieg auch Krestjan Iwanowitsch ein. Der Wagenschlag wurde zugeklappt. Ein Peitschenknall – und die Pferde zogen an ... alles lief in Scharen zu beiden Seiten mit ... alles geleitete Herrn Goljädkin. Gellende, ganz unbändige Schreie seiner Feinde folgten ihm als Abschiedsgrüße auf den Weg. Eine Zeitlang hielten noch mehrere Gestalten mit dem Gefährt gleichen Schritt und sahen in den Wagen hinein. Allmählich jedoch wurden ihrer immer weniger, bis sie schließlich verschwanden und nur noch der schamlose Doppelgänger Herrn Goljädkins übrig blieb. Die Hände in den Taschen seiner grünen Uniformbeinkleider, so lief er mit zufriedenem Gesicht bald links, bald rechts neben dem Wagen einher: hin und wieder legte er die Hand auf den Wagenschlag, steckte den Kopf fast durch das Fenster und warf Herrn Goljädkin zum Abschied Kußhände zu. Doch auch er wurde schließlich des Laufens müde und tauchte immer seltener auf – bis er endlich verschwand und fortblieb ... Dumpf fühlte Herr Goljädkin sein Herz klopfen. Das Blut pochte heiß in seinem Kopf. Er empfand eine beklemmende Schwüle und glaubte, ersticken zu müssen. Er wollte die Kleider aufreißen und seine Brust entblößen, um sie mit Schnee zu kühlen. Dann kam endlich, wie ein großes Vergessen, Bewußtlosigkeit über ihn ... Als er wieder zu sich kam, sah er, daß der Wagen auf einem ihm unbekannten Wege fuhr. Links und rechts zogen sich dunkle Wälder hin. Es war öde und leer. Plötzlich erstarrte er vor Schreck: zwei flammende Augen sahen ihn aus dem Dunkel an und in diesen zwei Augen funkelte teuflische Freude. „Das ist gar nicht Krestjan Iwanowitsch. Wer ist das? Oder ist er es doch? Ja! Das ist Krestjan Iwanowitsch! Nur ist es nicht der frühere, sondern ein anderer Krestjan Iwanowitsch! Ein entsetzlicher Krestjan Iwanowitsch ist es! ...“ „Krestjan Iwanowitsch, ich ... ich bin, glaube ich, ein Mensch für mich ... und ein Nichts – Krestjan Iwanowitsch, ein Nichts von einem Menschen,“ begann unser Held zaghaft und zitternd, wohl, um durch seine Unterwürfigkeit und Demut den entsetzlichen Krestjan Iwanowitsch zum Mitleid zu bewegen. „Sie bekommen von der Krone freie Wohnung, Beheizung, Beleuchtung, Bedienung, was wollen Sie denn noch?“ ertönte wie ein Todesurteil streng und furchtbar die Antwort Krestjan Iwanowitschs. Unser Held stieß einen Schrei aus und griff sich an den Kopf. Das war es: und das hatte er schon lange geahnt! Fußnoten [1] Ein Stadtteil von Petersburg. E. K. R. [2] Die Hauptstraßen auf Wassilij-Ostroff werden „Linien“ genannt. E. K. R. [3] Diminutiv von Pjotr. E. K. R. [4] Größte Kaufhalle in Petersburg. E. K. R. [5] Eine der Meistererzählungen Gogols. E. K. R. [6] Abkürzung von Glafira. E. K. R. [7] (sprich: Lichatschi) die beste und teuerste Art Droschken in den größeren Städten. E. K. R. [8] Der Vorwurf bezieht sich auf die Erzählung „Der Mantel“, die Warwara Alexejewna ihm gesandt und auf die sie ihn noch ausdrücklich aufmerksam gemacht hatte. Der Held der Erzählung – gleichfalls ein kleiner Beamter – gleicht Makar Alexejewitsch so auffallend, daß dieser glaubt, Gogol habe ihn, Makar Alexejewitsch, geschildert und damit bloßgestellt. – Fedor Fedorowitsch ist der Name eines der Vorgesetzten jenes kleinen Helden der Erzählung. E. K. R. [9] Ein Stadtteil von St. Petersburg. E. K. R. [10] Große Kaufhalle in Petersburg. E. K. R. [11] Berühmte Kolonialwarenhandlungen in St. Petersburg. E. K. R. [12] Armer Schlucker. E. K. R. [13] Das Warnungszeichen von der Peter-Paulus-Festung, daß das Wasser der Newa steigt und die niedriger gelegenen Stadtteile zu überschwemmen droht. E. K. R. [14] Der eigentliche Name des falschen Demetrius. E. K. R. Anmerkungen zur Transkription Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach: F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. Zweite Abteilung: Vierzehnter Band R. Piper & Co. Verlag, München, 1920. Sechstes bis zehntes Tausend Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert. Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): Ssjetotschkin (Ssetotschkin) Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher): [S. 87]: ... Was wollen Sie denn noch von mir? Fedora sagt, das ... ... Was wollen sie denn noch von mir? Fedora sagt, das ... [S. 98]: ... geschehen? Nun, sagen wird zum Beispiel, und nehmen ... ... geschehen? Nun, sagen wir zum Beispiel, und nehmen ... [S. 124]: ... Ihr Gehalt, daß Sie sich noch dazu vorauszahlen ... ... Ihr Gehalt, das Sie sich noch dazu vorauszahlen ... [S. 180]: ... weil Sie schutzlos sind, weil sie keinen starken ... ... weil Sie schutzlos sind, weil Sie keinen starken ... [S. 261]: ... ihm auch, Herr Goljädkin zum Sitzen zu bringen: er ... ... ihm auch, Herrn Goljädkin zum Sitzen zu bringen: er ... [S. 314]: ... der nächsten Laterne, so daß man ihm deutlich erkennen ... ... der nächsten Laterne, so daß man ihn deutlich erkennen ... [S. 417]: ... etwas endgültig vor ihm Erworbenes an. ... ... etwas endgültig von ihm Erworbenes an. ... [S. 418]: ... „Ja, heute ging der Kanzleidiener Micheleff zu ... ... „Ja, heute ging der Kanzleidiener Michejeff zu ... [S. 431]: ... trat in Begleitung einiger Beamten heraus. Alle, die ... ... trat in Begleitung einiger Beamter heraus. Alle, die ... [S. 465]: ... auf dem Liteinij Prospekt stand. Das Wetter war ... ... auf der Liteinaja stand. Das Wetter war ... *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ARME LEUTE; DER DOPPELGÄNGER *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the trademark license is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. Project Gutenberg eBooks may be modified and printed and given away—you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. 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