The Project Gutenberg eBook of Trotzkopf als Grossmutter

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Title: Trotzkopf als Grossmutter

Author: Suze La Chapelle-Roobol

Illustrator: Willy Planck

Translator: Anna Herbst

Release date: May 5, 2012 [eBook #39619]

Language: German

Credits: Produced by Norbert H. Langkau, Katrin and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK TROTZKOPF ALS GROSSMUTTER ***


Anmerkungen zur Transkription:

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen. Uneinheitliche Schreibweisen (zum Beispiel ehrfurchtsvoll / erfurchtsvoll, hilflos / hülflos, nämlich / nemlich, San Franzisko / San Francisko, Sofa / Sopha, um's Himmels willen / ums Himmelswillen / Ums Himmels willen) wurden beibehalten. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Diese Änderungen sind im Text gekennzeichnet, der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus. Zusätzlich findet sich eine Liste der vorgenommenen Änderungen am Ende des Textes.

Die Illustrationen — mit Ausnahme des Frontispiz — wurden an die inhaltlich passenden Textstellen verschoben.

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original in Antiqua gesetzter Text wurde kursiv markiert.

Anmerkungen zur Transkription (speziell für Handheld):

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen. Uneinheitliche Schreibweisen (zum Beispiel ehrfurchtsvoll / erfurchtsvoll, hilflos / hülflos, nämlich / nemlich, San Franzisko / San Francisko, Sofa / Sopha, um's Himmels willen / ums Himmelswillen / Ums Himmels willen) wurden beibehalten. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Diese Änderungen sind im Text gekennzeichnet. Zusätzlich findet sich eine Liste der vorgenommenen Änderungen am Ende des Textes.

Die Illustrationen — mit Ausnahme des Frontispiz — wurden an die inhaltlich passenden Textstellen verschoben.

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrt gesetzter Text wurde kursiv markiert. Im Original in Antiqua gesetzter Text wurde fett markiert.

Illustration
Titelseite

TROTZKOPF ALS
GROSSMUTTER

VON SUSE LA CHAPELLE-ROOBOL

AUTORISIERTE ÜBERSETZUNG
AUS DEM HOLLÄNDISCHEN VON
ANNA HERBST

MIT 8 TONBILDERN VON WILLY PLANCK

Siebenunddreissigstes bis zweiundvierzigstes Tausend

Logo des Verlags

STUTTGART

GUSTAV WEISE VERLAG

A. g. XIII.

Druck von Carl Hammer (Inh. Wilhelm Herget), Stuttgart.

Großmama, Onkel Heinz ist noch immer nicht da. Wir werden gewiß zu spät an die Bahn kommen.“

„Nein, Irma, du hast Zeit genug, die Fahrt dauert kaum zehn Minuten.“

„Ich hab' solche Sehnsucht nach den Cousinen aus Amerika. Was für einer herrlichen Zeit gehen wir entgegen, nicht wahr, Großmütterchen?“ Und in ausgelassener Fröhlichkeit flog das schlanke, siebzehnjährige Mädchen mit dem schönen, blonden Kraushaar und den dunkelblauen Augen der alten Dame um den Hals.

Mit innigster Liebe schaute die verwitwete Frau Ilse Gontrau ihre Enkelin an. Ihr feines, schmales, von schneeweißem Haar umrahmtes Antlitz trug einen wehmütigen Ausdruck, der jedoch durch ein freundliches Lächeln verklärt wurde.

„Ja, Kind, auch ich bin sehr glücklich, daß Tante Marianne und Onkel Fritz aus Amerika zurückkommen und hier Wohnung nehmen wollen; ich sehne mich sehr danach, die Kinder kennen zu lernen.“

„Ist es nicht unbegreiflich, Großmama, daß Onkel Fritz die beiden Mädchen und den kleinen Karl allein vorausschickt und die drei gar noch in Paris gewesen sind? So 'ne große Reise und solch junge Mädchen!“

„Das hat auch mich in Erstaunen versetzt, liebe Irma. Aber ich denke, wir werden uns noch über vieles wundern. Amerikanische Mädchen sind so ganz anders erzogen als deutsche.“

„Ah, da kommt Onkel Heinz,“ rief Irma, die einen Wagen rollen hörte, und eilig lief sie hinaus.

„Wir wollen gleich gehen, Onkel, es ist schon spät.“

„Nur ruhig,“ versetzte die tiefe Stimme eines alten Mannes, „wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, Jungfer Ungeduld. Ich muß erst einen Augenblick aussteigen, weil mein Fuß nicht so lange in derselben Stellung aushalten kann.“

„Macht die Gicht dir wieder zu schaffen?“

„Ja, natürlich, meine alten Knochen benehmen sich wieder schauderhaft.“

Brummend stieg der Professor aus dem Wagen, humpelte, auf einen Stock gestützt, durch den Flur und trat in das von der Sonne hell erleuchtete Zimmer.

Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, sie hatten seine kraftvolle, breitschultrige Gestalt etwas gebeugt. Das faltige, von schlohweißem Haar und Bart umrahmte Antlitz zeigte oft einen barschen Ausdruck, denn es machte ihm Vergnügen, sich als launischen Brummbären aufzuspielen, aber die von buschigen, schwarzen Brauen beschatteten Augen konnten noch ebenso schalkhaft und humoristisch durch die goldene Brille gucken wie in jungen Jahren.

Von der Gicht gezwungen, die ihn oft wochenlang an den Sessel festbannte, hatte er sich vor längerer Zeit pensionieren lassen. Obwohl er mit Vorliebe behauptete, ganz überflüssig in der Welt zu sein und keinem Menschen etwas nützen zu können, so wußten seine Freunde, wenn sie auch niemals eine derartige Anspielung wagen durften, doch nur zu gut, daß er vielen unentbehrlich war und es in der ganzen Stadt keinen so hilfsbereiten, wohltätigen Mann gab wie den alten Professor Fuchs. —

„Guten Abend, Frau Ilse,“ sagte er, während Irma sich den Hut aufgesetzt hatte und vor Ungeduld zitternd neben ihm stand.

„Sie sind doch noch ausgestiegen? Warum machen Sie sich unnütz müde?“

„Papperlapapp, ich bin kein im Sterben liegendes Jungfräulein. Müde machen! Es ist nicht mehr als recht und billig, daß einer, der den ganzen Tag nichts tut, wenigstens seinen alten Beinen Bewegung macht.“

„Ja,“ entgegnete Frau Ilse zustimmend, denn sie kannte seine kleine Schwäche, bei dem unschuldigsten Widerspruch hitzig aufzufahren; „aber müssen Sie nun nicht gehen?“ fügte sie freundlich hinzu.

„Ach ja, Onkel,“ schmeichelte Irma.

„Na, kleine Kröte, dann komm nur. ‚Kröte‘, das sagte ich auch immer zu deiner Mutter. Und nun wollen wir die Kinder meines andern Lieblings abholen. Wir werden alt, Frau Ilse!“

„Wir sind alt, Onkel Heinz, das Leben hat beinahe mit uns abgerechnet.“

„Unsinn, der Teufel ist alt! Vorwärts, Kind! Auf Wiedersehen, ich komme nochmal mit zurück.“

„Natürlich,“ stimmte Frau Ilse bei. Sie hörte ihn durch den Flur stapfen, den Wagenschlag zuwerfen und die Droschke fortfahren. Nun lehnte sie den Kopf an die Schlummerrolle des Lehnsessels, um wie gewöhnlich um diese Stunde etwas zu ruhen. Jetzt, vor all der Unruhe, die ihrer wartete, hatte sie das doppelt nötig. Aber trotzdem sie die Augen geschlossen hielt und die tiefe Stille, nur unterbrochen von dem regelmäßigen Ticken der schönen, altmodischen Standuhr, geradezu zum Schlummern aufforderte, vermochte Frau Ilse doch nicht einzunicken.

Unwillkürlich schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück, und alle Ereignisse der letzten fünfundzwanzig Jahre zogen an ihrem Geist vorüber. Am Anfang stiegen nur heitere, lichte Bilder vor ihrer Seele auf: der stetig wachsende Erfolg Ruths, ihrer ältesten Tochter, die als Sängerin immer mehr Lorbeeren erntete und sich in der von ihr erwählten Laufbahn sehr glücklich fühlte. Dann kam die Verlobung Mariannes, ihres sanften, lieben Blondköpfchens mit Fritz, dem Sohne ihrer alten Freundin Rosi. Dies Glück war freilich mit Trauer gemischt, da Marianne ihrem Gatten nach San Franzisko folgen mußte. Aber in dem Bewußtsein, daß reiches Glück ihr Kind erwartete, hatten Ilse und Leo sich darein ergeben und ihrem Liebling, unter Tränen lächelnd, Lebewohl gesagt.

Auch als Ruth, die ihre Studien in Berlin und später in Paris fortsetzte, nach einiger Zeit Herz und Hand einem berühmten Geigenkünstler schenkte, hatten die Eltern freudig ihre Einwilligung gegeben. Zwar klagte Frau Ilse, daß ihre Töchter so bald schon das elterliche Nest verließen, doch ihr alter Freund, der Professor, so schwer ihm selbst auch die Trennung von seinen beiden kleinen Kröten fiel, bewies ihr lachend, daß nun die Zeit gekommen sei, ihre Memoiren zu beginnen, und Leo, ihr Gatte, sagte ernsthaft, sie hätten kein Recht, sich zu beklagen. Die Kinder folgten ihrer Bestimmung und täten nichts anderes, als was ihre Eltern auch vor Zeiten getan, sie hätten nur Ursache dankbar zu sein, daß beide den Mann geheiratet, den sie liebten. Ilse, mit ihrem elastischen, lebhaften Charakter, stark in der Liebe ihres Gatten und ihrer Freunde, lernte es, sich ins Unabänderliche zu schicken, und klagte nicht, daß sie mit ihren Kindern in Amerika nur brieflich verkehren und auf diese Weise erfahren konnte, daß ihre Enkel solch liebe Schätzchen seien. Ruth und ihr Mann weilten meist im Auslande oder in den großen Städten Deutschlands, doch dann und wann verbrachten sie einige Wochen bei ihren Eltern, und als sie erst einen Sohn und später ein Töchterchen bekamen, konnte Großmutter Ilse wenigstens diesen Enkeln ihre Liebe beweisen und die Freude genießen, sie von Zeit zu Zeit bei sich zu haben.

Dann waren traurige Tage gekommen. Das Glück, das Ilse so lange treu geblieben, schien sie zu verlassen, und auch sie mußte die Erfahrung machen, daß in jedem Leben Tränen ebenso notwendig sind wie Freude, um uns zu tüchtigen, gereiften Menschen zu machen. Die Freundschaft zwischen den Althoffs und Gontraus verminderte sich mit den Jahren nicht; im Gegenteil, als auch Nellies Pflegetochter Annie sich mit einem Prediger vermählte und die Stadt verließ, hatten sich die beiden Freundinnen noch inniger an einander geschlossen, und es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht zusammen kamen. Nun fing Nellie, die nie kräftig gewesen war, an zu kränkeln, wollte das aber vor Fred verbergen, der nach Annies Hochzeit wieder mehr denn je von der sorgenden Liebe seiner Frau abhängig geworden war. So merkte er nichts, und selbst vor Ilse verstand Nellie zu verheimlichen, wie elend sie sich oft fühlte. Endlich, während eines ungewöhnlich strengen Winters, fing sie an zu husten, anfangs wollte sie nichts darauf geben, bis der Doktor ihr das Ausgehen entschieden verbot. Die gute Nellie, die immer nur an andere und nie an sich gedacht hatte, wurde ernstlich krank, und als der Frühling seinen Einzug hielt, erlöste ein sanfter Tod sie von ihrem Leiden. Bis zum letzten Augenblick sorgte sie nur um ihren Fred und beklagte schmerzlich, daß er so einsam und traurig zurückbliebe. Hoffnungslos kniete der Direktor an ihrem Sarge und konnte sich nicht vorstellen, wie er ohne sein liebes, treues Frauchen leben solle; täglich ging er zu ihrem Grabe, schmückte es mit frischen Blumen und fühlte sich namenlos unglücklich. Am liebsten weilte er bei Gontraus, wo er mit Ilse stundenlang über seine geliebte Nellie reden konnte. Auch Ilse war untröstlich über den Verlust ihrer Freundin; sie hatte sie treu gepflegt und doch machte sie sich jetzt Vorwürfe, daß sie nicht genug für sie getan und dem sanften, aufopfernden Wesen die Liebe und Hingebung nicht mehr gelohnt hatte. Auch sie fand Trost in Althoffs Gesellschaft und wurde nicht müde ihn zu beklagen und mit ihm zu leiden.

Doch die Zeit ist das beste Heilmittel für alle Wunden, und so geschah es denn auch, daß der Direktor ab und zu seinen täglichen Spaziergang nach dem Friedhof versäumte, auch wieder über andere Dinge redete und nicht mehr so häufig zu Gontraus kam. Eines Abends, als Ilse mit Leo und Onkel Heinz aus einem Konzert heimkehrte, fanden sie eine gedruckte Anzeige vor, die ihr von der Verlobung Dr. Althoffs mit Frau Gebel, der Witwe eines Regierungsrates, Mitteilung machte.

Ilses Enttäuschung kannte keine Grenzen. Heftig warf sie den Brief auf die Erde und erklärte es für eine Schmach, daß Althoff Nellie, seine engelhafte Frau so rasch vergessen habe. Sie wollte ihn nie wiedersehen.

„Das ist doch übertrieben, liebste Ilse,“ sagte Leo. „Bedenke doch, wie Fred von seiner Frau gehegt, gepflegt und verwöhnt war und wie einsam und unglücklich der arme Mann sich nun fühlen mußte. Wenn er aufs neue häusliche Gemütlichkeit und Glück sucht, darfst du ihn wirklich nicht beurteilen.“

„Verehrte Frau,“ fügte der Professor in seinem gewohnten spöttischen Ton hinzu, „nicht alle Männer sind schon in der Wiege zu alten Junggesellen oder vertrockneten Bücherwürmern bestimmt!“

Ihre Worte gossen aber nur Oel ins Feuer. Der Trotzkopf der Jugendzeit, der sich jetzt so selten zeigte, daß man seine Existenz beinahe vergessen hatte, kam wieder einmal zum Vorschein.

„Unsinn,“ rief sie heftig, „natürlich müßt ihr ihm die Stange halten; die Männer sind sich alle gleich, herzlose Egoisten, welche die Liebe einer Frau nicht verdienen und sie nur zu schnell vergessen.“

„Aber Ilse,“ wandte Leo ein.

„Schweig still, du würdest es gerade so machen, wenn ich gestorben wäre,“ klagte sie weinend.

„Das weißt du wohl besser, Liebste,“ nahm Gontrau ernst das Wort. „Aber wir dürfen andere nicht gleich verurteilen, wenn sie unter Umständen anders handeln, als wir an ihrer Stelle getan hätten. Wenn auch nicht alle Männer imstande sind, nur einmal im Leben und für immer zu lieben, so ist es doch sehr gut möglich, daß ihre Zuneigung warm und echt ist.“

„Kein einziger Mann besitzt die Fähigkeit, nur einmal im Leben zu lieben,“ erklärte Ilse, noch immer zürnend, „ausgenommen der meinige,“ fügte sie plötzlich hinzu, den traurigen, vorwurfsvollen Blick bemerkend, mit dem Leo sie anschaute, und sie schmiegte den Kopf an seine Schulter.

Professor Fuchs sah die beiden an, und als Ilses Blick dem seinen begegnete, meinte sie einen eigentümlichen Ausdruck darin zu lesen und fragte:

„Na, Herr Professor, Sie sind natürlich wieder nicht meiner Meinung?“

Aber statt der streitsüchtigen Antwort, die sie zu hören erwartete und auf die gewöhnlich ein hitziger Wortwechsel folgte, erwiderte Onkel Heinz milde:

„Nein, Frau Gontrau, denn ich weiß, daß es Männer gibt, die ebenso treu wie eine Frau zu lieben vermögen, ihr ganzes Leben lang, selbst ohne Gegenliebe und ohne die Hoffnung, jemals glücklich zu werden.“

Gedankenvoll starrte er vor sich hin, und sein Antlitz zeigte denselben Ausdruck, der Ilse jetzt nicht mehr — wie vor vielen Jahren — in Bestürzung versetzte, der sie jetzt nur mit Mitleid erfüllte, warum, wußte sie selbst nicht zu sagen.

Wenn Frau Ilse bei ruhigerer Überlegung auch zugeben mußte, daß Direktor Althoffs Benehmen zu entschuldigen war, so empfing sie ihn doch mit sehr kühler Höflichkeit, als er ihr seine Braut vorstellte. Instinktiv fühlten beide, daß die alte Freundschaft aufgehört hatte, und obwohl sie sich dann und wann sahen, war doch von dem früheren herzlichen Verkehr keine Rede mehr. Ilse konnte es Fred nicht verzeihen, daß er Nellies Platz von einer andern einnehmen ließ. Als es sich nach einiger Zeit herausstellte, daß seine zweite Frau lange nicht so liebevoll und sanft war wie die verstorbene, daß der Direktor recht schön unter dem Pantoffel stand und von Verhätscheln und Verwöhnen keine Rede war, empfand sie nicht das geringste Mitleid mit ihm, sondern erklärte, daß er nur ernte, was er verdient hatte.

Wieder vergingen viele Jahre. Die Enkel in San Franzisko wurden groß und schrieben nette deutsche Briefchen an Großpapa und Großmama Gontrau. Ruths Sohn, der jetzt im vierzehnten Jahre stand, fing an, eine so überraschende musikalische Begabung zu zeigen, daß seine Eltern stark daran dachten, auch ihn die Künstlerlaufbahn einschlagen zu lassen. Da geschah etwas Schreckliches und der schwerste Schlag, der sie treffen konnte, beugte Ilse für eine Zeit völlig nieder.

Obwohl fast sechzig Jahre alt, stand Professor Gontrau doch noch in voller Manneskraft und kam seinen vielen Amtsgeschäften mit Eifer und Treue nach. Ihm und Ilse schwanden die Jahre fast unmerklich dahin, und beide sahen für ihr Alter wunderbar jung und frisch aus. Das kam von dem vielen Glück, das ihnen das Schicksal bescherte, und von der großen Liebe, mit der sie sich gegenseitig umgaben. Da zog sich Gontrau, der nie krank gewesen war, eine Erkältung zu, die er anfänglich vernachlässigte. Sie hatte eine schwere Lungenentzündung zur Folge, die ihn innerhalb einer Woche dahinraffte. So schnell und heftig hatte die Krankheit zugenommen, daß Ruth und ihr Mann, die in Paris weilten, kaum Zeit fanden, an das Sterbebett ihres Vaters zu eilen, und erst ein paar Stunden vor seinem Hinscheiden eintrafen. Sie waren tief betrübt; ihre Kinder, Gustav und die kleine Irma, weinten heiße Tränen, weil der liebe Großpapa, an dem sie so zärtlich hingen, von ihnen ging. Fritz und Marianne schrieben aus San Franzisko trostlose Briefe.

Im Kreise der Rechtsgelehrten, zu dem Professor Gontrau gehörte, herrschte große Betrübnis, aber kein Schmerz war mit der starren Verzweiflung zu vergleichen, die sich Ilses bemächtigt hatte. Von allen Seiten wurden ihr Zeichen der Teilnahme entgegengebracht. Ruth und die Kinder blieben wochenlang bei ihr. Die Tochter bot allem auf, um ihre Mutter zu trösten. Professor Fuchs zeigte in seiner eigenartigen Weise, wie innig er mit der Witwe fühlte. Flora Werner kam selbst vom Lande herein und war so herzlich, daß Onkel Heinz, der sie immer noch überspannt gefunden und sich nie viel aus ihr gemacht hatte, sich ganz mit ihr aussöhnte. Doch alles war vergebens, Ilse wollte keinen Trost gelten lassen. Bis dahin noch eine hübsche, stattliche Dame hatte sie sich im Laufe weniger Monate in eine alte Frau mit schneeweißem Haar verwandelt; die früher so lebhaften Augen starrten erloschen aus dem bleichen, hager gewordenen Antlitz, die stets so beschäftigten Hände lagen tagelang müßig im Schoß!

Mit Tränen in den Augen hatte Ruth sie oft umarmt und angefleht, sich um aller derer willen, die sie so innig liebten, doch ein wenig aufzuraffen.

„Ich kann nicht, Kind,“ lautete die traurige Antwort, „selbst wenn ich wollte. Glaube mir, das beste für mich wäre, wenn ich deinem teuren Vater bald folgen könnte.“

Mit zusammengezogenen Brauen und einem Gesicht, das sich je länger je mehr verdüsterte, bemerkte Onkel Heinz, der fast täglich in dem Gontrauschen Hause weilte, diese traurige Veränderung. Anfangs hatte er das größte Verständnis für Ilse gehabt und nicht gewußt, wie zart er mit ihr umgehen sollte. Allmählich aber sah er die Sachen mit andern Augen an und beschloß einmal ein ernstes Wort zu reden.

„Wissen Sie, Frau Gontrau,“ begann er, als er mit ihr allein war, „woraus wir, meiner Ansicht nach, Trost schöpfen können, wenn wir unsre Liebsten verloren haben?“

Ilse schlug die brennenden Augenlider auf und schaute ihn fragend, mit einem Schimmer von Interesse an.

„Wenn wir in ihrem Geiste weiterleben,“ fuhr der alte Mann fort, „wenn wir genau dasselbe tun, womit wir sie glücklich machten, als sie noch bei uns weilten.“

„Vielleicht,“ versetzte Ilse mit bitterm Lächeln.

„Sie aber tun das nicht,“ fuhr Onkel Heinz erbarmungslos fort. „Oder glauben Sie, der gute Gontrau würde sich darüber freuen, wenn er wüßte, daß Sie sich so gehen lassen, sich sogar gegen die Liebe Ihrer Kinder gleichgültig zeigen und auf dem besten Wege sind, Ihre Gesundheit zu zerstören und sich aufzureiben?“

„Zum Glück weiß er das nicht.“

„Sind Sie dessen ganz sicher? Und selbst wenn dem so wäre, der Gedanke, in dem Geist und Sinn unserer lieben Verstorbenen weiter zu leben, ist ein festes, köstliches Band, das uns mit ihnen verbindet. Jedenfalls finde ich Sie in Ihrem Leid ganz besonders egoistisch und undankbar.“

Ilse stand auf, ihre trüben Augen fingen an zu funkeln, etwas von ihrer alten Natur wurde wach in ihr, und sie rief entrüstet: „Wie dürfen Sie es wagen, so zu mir zu sprechen? Ich verlange nichts, als daß man mich mit meinem Schmerz allein läßt! Egoistisch, undankbar! Wie sollte ich Ursache haben, dankbar zu sein, ich, über die das größte Leid gekommen ist, das eine Frau treffen kann!“

Onkel Heinz ließ sich jedoch nicht abschrecken; er war schon froh, daß er sie aus ihrer Apathie aufgerüttelt hatte, und fuhr ruhig fort:

„Egoistisch, weil Sie nur an sich denken und ganz vergessen, daß es Ihre Pflicht ist — und nichts weiter als Ihre Pflicht und Schuldigkeit — für Ihre Kinder zu leben und ihnen durch doppelte Liebe den Vater zu ersetzen. Undankbar, weil Sie all das Gute nicht erkennen, was Ihnen noch geblieben ist. Wer sind Sie denn, Frau Ilse, und auf welchen Standpunkt stellen Sie sich eigentlich, um so viel vom Leben fordern zu dürfen?“

„Ich?“ stammelte sie verständnislos.

„Ja, Sie,“ wiederholte er heftig. „Alle Segnungen, die ein Menschenleben glücklich gestalten können, sind Ihnen zu teil geworden. Sie haben eine sorgenlose Jugend genossen, waren schön und gesund, durften den Mann heiraten, den Sie unaussprechlich liebten. Ihre Kinder haben Ihnen nie eine trübe Stunde bereitet; auch an irdischen Glücksgütern fehlte es nicht. Mehr als dreißig Jahre waren Sie mit Ihrem Manne vereint und haben die denkbar größte Seligkeit erfahren.“

„Ja, aber eben gerade deshalb ist es jetzt so fürchterlich,“ schluchzte Ilse. „Gerade weil ich meinen Mann so geliebt habe, so glücklich mit ihm gewesen bin, kann ich ihn nicht entbehren, und es ist so trostlos, ohne ihn leben zu müssen. Aber davon wissen Sie nichts, das können Sie nicht verstehen.“

Onkel Heinz lächelte traurig.

„Nein, das kann ich natürlich nicht verstehen; aber wissen Sie, Frau Gontrau, was ich außerdem auch nicht verstehe? Daß Sie sich niemals die Frage vorgelegt haben, in welchen Beziehungen Sie denn so viel besser, weiser und liebenswürdiger sind als andre, um so bevorzugt zu werden. Denn ich sage Ihnen, tausende schmachten nach dem Glück, das Ihnen mühelos in den Schoß gefallen ist. Tausende müssen im Leben sich begnügen, die reichbesetzte Tafel anderer zu sehen, und lernen, sich neidlos an fremdem Glück zu freuen, ohne daß ihnen von den begehrenswerten Schätzen das Geringste zu teil wird.“

Seine Stimme klang seltsam bewegt, was ihr nicht entging; und als sie durch ihre Tränen zu ihm aufschaute, sah sie, daß er ganz gerührt war. Freundlich reichte sie ihm die Hand und flüsterte:

„Sie haben Recht, ich will mich zusammennehmen.“

Und sie hielt Wort. Zwar wurde sie nicht mehr die alte Ilse, die sie früher gewesen war, aber sie lernte, sich in das Unabänderliche schicken, zehrte vom Glück, das sie früher besessen hatte, und konnte dankbar sein für das, was ihr geblieben war. Niemand, selbst Ruth nicht, erfuhr, was der alte Professor mit ihr verhandelt hatte. Ihre Kinder schrieben die günstige Veränderung der alles heilenden Zeit zu.

Einige Jahre später baten Ruth und ihr Gatte, Heinrich von Holten, Großmama Ilse, ihr Töchterchen Irma auf unbestimmte Zeit in ihr Haus zu nehmen. Durch ihren Beruf gezwungen, waren sie viel auf Reisen und konnten nie lange an einem Ort verweilen. Dies unstäte Leben mußte die Erziehung des heranwachsenden Mädchens ungünstig beeinflussen. Mit Gustav war das etwas anderes; der Knabe spielte bereits so meisterhaft Klavier, daß er seine Eltern nicht nur begleitete, sondern sich schon selber öffentlich hören ließ. Irma aber war nicht künstlerisch veranlagt, für sie paßte dies ruhelose Leben nicht. Mit welcher Freude Frau Ilse die Bitte ihrer Tochter erfüllte, läßt sich denken. Sie fühlte sich oft sehr einsam, und nun, wo die hübsche, lustige Irma ihr Gesellschaft leistete, erwachte wieder viel von ihrer früheren Lebenslust.

Alle diese Ereignisse zogen an Ilses Geist vorüber, während sie in ihrem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer saß. Sie erkannte, wie sie es eigentlich Onkel Heinz verdankte, daß sie nun mit Freuden der Ankunft ihrer unbekannten Großkinder entgegensah, und sich auf die spätere Heimkehr von Fritz und Marianne aus dem fernen Lande freuen konnte; und ein Gefühl der Dankbarkeit gegen ihren alten Freund erfüllte sie. —

Unterdessen waren Professor Fuchs und Irma auf dem Bahnhof angelangt und schritten ziemlich ungeduldig auf dem überdachten Bahnsteig hin und her, um die Ankunft des Zuges zu erwarten.

„Glaubst du, daß wir sie schnell herausfinden, Onkel?“ fragte Irma.

„Aber natürlich, sie werden Lärm genug machen.“

„Ich bin so schrecklich neugierig; wenn der Zug nur erst käme, es ist nicht mehr auszuhalten!“

Ein schriller, langgezogener Pfiff in der Ferne, ein immer lauter werdendes Getöse verriet, daß die Wartezeit ein Ende hatte.

„Ruhig!“ mahnte Onkel Heinz, als Irma ihn mitten ins Menschengewühl hineinziehen wollte. „Glaubst du, mir macht's Vergnügen, auf meinen schmerzenden Fuß getreten zu werden? Wir bleiben hier stehen, dicht neben dem Eingang, da müssen sie vorbeikommen, und wir können sie nicht verfehlen.“

Irma wäre lieber weitergegangen, aber sie nahm sich zusammen, reckte sich, so viel sie konnte, und bemühte sich, mit ihren scharfen Augen die Erwarteten zu entdecken.

„Ach, ich fürchte, sie sind nicht da,“ flüsterte sie enttäuscht.

„Ich glaube, du bist meine Cousine Irma von Holten,“ sagte plötzlich eine helle Stimme in reinstem Deutsch dicht neben ihr, und vor ihr standen zwei junge Mädchen mit einem Knaben von etwa zehn Jahren.

„Maud! Agnes!“ rief Irma erfreut, „seid ihr's wirklich? Ach wie schön, daß wir euch gefunden haben.“

Sie war doch etwas verlegen und warf rasch einen Seitenblick auf die Amerikaner. Die beiden Mädchen waren groß und schlank, trugen sehr einfache Reisekostüme von dunklem Stoff, gut, aber ohne jede Verzierung gearbeitet, um den Hals einen weißen Kragen mit einer hübsch geschlungenen Krawatte. Irma fand, daß sie jungenhaft aussahen, besonders Maud, deren dunkles Haar kurz geschnitten war. Beide trugen Filzhüte mit einem breiten glatten Band und einer steif aufrechtstehenden Hahnenfeder. Der Knabe sah allerliebst aus. Er war klein für sein Alter, hatte aber ein kluges, verschmitztes Gesicht. Mit seinem langen Beinkleid, seiner kurzen Jacke und hohem Hut glich er einem Herrn en miniature. Alle drei schienen ihren Handkoffer mit Vergnügen selbst zu tragen; in ihrer Kleidung wie in ihrem Äußern lag etwas höchst Korrektes, und sie sahen durchaus nicht ermüdet und abgespannt aus.

„Sie müssen Onkel Heinz sein,“ sagte Maud, auf den Professor zutretend, „Vater und Mutter haben uns so viel von Ihnen erzählt, daß wir sie überall herausfinden würden.“

„Na, na, ihr Taugenichtse, eure Eltern haben mich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, was können sie da noch von mir behalten haben?“ fragte der Professor, dessen Antlitz vor Freude strahlte.

„O,“ nahm der kleine Karl das Wort, „Sie sind gewiß nur ein bißchen weißer geworden, aber den Spitzbart und das lustige Gesicht haben Sie wohl immer gehabt.“

„Nu hör' mir einer so 'nen Junker Naseweis an, was sagst du zu so 'nem Dandy, Irma?“

Die Amerikaner waren so zutraulich und liebenswürdig, daß es Irma nach kaum fünf Minuten schien, als hätten sie sich schon seit Jahren gekannt.

An der Treppe, die vom Bahnsteig hinunterführte, bot Agnes Onkel Heinz den Arm, und der kleine Junge lief voraus, öffnete die Türen des Wartesaales und sah sich sofort nach dem Wagen um. Dienstfertig riß er den Schlag auf, half den jungen Damen und Onkel Heinz beim Einsteigen und kletterte, da im Innern kein Platz mehr für ihn war, auf den Bock; das alles tat er mit einer Gewandheit und Selbstverständlichkeit, als ob er zwanzig und nicht zwölf Jahre alt wäre.

„Aber wir vergessen ja das Gepäck,“ rief Irma, „wo sind eure Koffer?“

„Wir haben nichts weiter als unser Handgepäck,“ entgegnete Maud.

„Nichts als diese kleinen Köfferchen, und damit habt ihr eine solche Reise gemacht?“

„Nun, was brauchen wir mehr? Ein gutes, handfestes Reisekostüm, eine seidene Bluse und ein heller Rock, das genügt. Wäsche kann man an jedem Ort kaufen oder waschen lassen. Viel Gepäck auf der Reise ist unpraktisch.“

Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen vor dem Hause der Frau Gontrau. Die Doppeltüre öffnete sich, noch ehe der Kutscher klingeln konnte. Bebend vor Rührung stieg Irma zuerst aus und ging ins Vorzimmer. Dort stand Großmutter Ilse und hieß ihre Enkelkinder mit Tränen in den Augen willkommen.

„Liebste, beste Großmutter! Sehen wir dich endlich?“ riefen die Mädchen, und alle drei eilten zu gleicher Zeit auf sie zu.

Während einiger Minuten hörte man nichts als unterdrücktes Schluchzen, Liebkosungen und einzelne Ausrufe. Endlich beruhigten sich die Gemüter ein wenig und entzückt schaute Ilse die Kinder an.

„Sehen Sie mal, Onkel Heinz,“ rief sie erregt, „ist Maud nicht ihrem Vater wie aus den Augen geschnitten? Und Agnes, du gleichst auf ein Haar deiner lieben Mutter, auch so blond und sanft. Wann kommen eure Eltern, liebe Kinder?“

„In sechs Wochen etwa, Großmama. Wir müssen erst ein Haus mieten und einrichten.“

„Wem seh ich ähnlich, Großmama?“ fragte Karl.

„Das weiß ich noch nicht, mein lieber Junge.“

„Die Mutter sagt,“ nahm Maud das Wort, „daß er viel vom Großvater hat,“ und sie schaute nach einem lebensgroßen Porträt Leos, das an der Wand hing.

Das gab Ilse einen Stich ins Herz. Ach, wie oft hatte Leo sich auf das Wiedersehen mit seinen Kindern und Enkeln gefreut; wie innig hatte er gewünscht, daß sein Schwiegersohn Fritz einen Wirkungskreis in ihrer Nähe finden und seinem Adoptivvaterlande Lebewohl sagen möchte. Nun, wo sich sein Wunsch erfüllte, konnte er sich nicht mehr daran erfreuen. Verräterisch bebten die Lippen der alten Frau, da bemerkte sie, wie Onkel Heinz sie ernst und ermutigend anschaute. Der Gedanke, daß er nur zu gut verstand, was in ihr vorging, gab ihr Kraft; tapfer schluckte sie die Tränen hinunter und sagte heiter:

„Aber Kinder, ihr müßt ja totmüde sein. Irma, führe sie nach oben und zeige ihnen ihre Zimmer, dann können sie sich vor dem Abendessen etwas ruhen.“

„Nicht nötig, Großmama,“ fiel Agnes lebhaft ein. „Wir haben heute nacht im Zuge herrlich geschlafen und es uns ganz bequem gemacht. Das Einzige, was uns nottut, ist etwas zu essen. Nicht wahr, Maud? Nicht, Karl?“

„O, dann gehen wir gleich zu Tisch,“ schlug Ilse vor. „Folgt mir nur ins Eßzimmer, Kinder. Kommen Sie, Onkel Heinz!“

Lachend nahm sie den Arm des alten Herrn und schritt voraus, während Irma sich im Stillen wunderte, wie man länger als zwanzig Stunden in einer Tour reisen und dann erklären konnte, nicht müde zu sein.

Bald war die ganze Familie gemütlich um die Abendtafel versammelt. Der Tisch war festlich gedeckt mit einem weißen Tuch, in das mit feiner, blauer Baumwolle Figuren und Sprüche eingestickt waren, und zeigte Überfluß an wertvollem, altdeutschem Porzellan, schön geschliffenem Kristall, Blumen und Früchten. An dem altmodischen kupfernen Kronleuchter waren alle Kerzen entzündet und auf dem Buffet von Eichenholz standen sogar ein paar Flaschen Sekt in Eis.

Die amerikanischen Gäste taten dem Festmahl die größte Ehre an, und alle schwatzten lustig und lebhaft durcheinander.

„Kinder,“ fragte Ilse im Laufe des Gesprächs, „wie gefällt euch Paris?“

„Herrlich, Großmama. Eine großartige, fröhliche Stadt. Entzückend mit all den großen Plätzen und Parks, dem vielen Grün und der Blumenpracht. Jetzt war es ganz besonders schön, denn Flieder und Kastanien standen in vollster Blüte.“

„Herrscht nicht ein schrecklicher Trubel dort?“

„Nein, bei uns geht's lebhafter zu, da gibt's viel mehr Lärm und Hasten, und die Menschen haben mehr zu tun, aber in Paris ist alles eleganter, reicher.“

„War's euch nicht angst, so ganz allein in der großen fremden Stadt?“ fragte Irma neugierig.

„Ganz allein?“ rief Karl lachend; „wir waren doch zu dritt.“

„Ja, aber ihr seid doch so jung und wart fremd und hattet keine Bekannten, die euch herumführen und euch alles zeigen konnten.“

Maud lachte. „Wir kannten niemand; Tante Ruth hat, glaube ich, an einige Familien geschrieben, sich unserer anzunehmen. Aber wir fanden es so umständlich, erst Besuche zu machen, das nahm uns Zeit, und es gab doch so viel zu sehen.“

„Das ist schade,“ meinte Ilse. „Ohne Begleitung konntet ihr doch nicht in die Theater gehen, und dadurch habt ihr viel verloren.“

„Ich verstehe dich nicht, Großmama, wir sind in verschiedenen Theatern gewesen.“

„Allein?“

„Wir drei und manchmal wir beide, wenn es für Karl zu spät wurde.“

„Ihr beiden jungen Mädchen allein, des Abends, im Pariser Theater,“ sagte Ilse erstaunt, „wußten eure Eltern das?“

„Natürlich, Großmama. Wir gehen immer allein aus, überall hin. Alle amerikanischen Mädchen tun das, und niemand findet etwas darin.“

„Ich würde das nicht wagen,“ gestand Irma.

„Was bist du für ein Dummchen,“ fuhr Maud fort. „Wie umständlich und lästig ist es, immer von irgend jemand abhängig zu sein. Wir sind's gewöhnt, alles allein und selbständig zu besorgen. Und das ist wirklich das einzig Richtige.“

„Aber Kinder,“ fragte Ilse, „habt ihr in Paris denn nie eine unangenehme Begegnung gehabt?“

„Nicht ein einzigesmal, Großmama,“ versicherte Agnes. „Niemand achtete auf uns, ruhig und still, den Reiseführer in der Hand, gingen wir unsres Weges. Hatten wir was zu fragen, wiesen die Leute uns stets freundlich und höflich zurecht. Wir waren immer sehr einfach gekleidet, und jeder sah gleich, daß wir Fremde waren.“

„Nun,“ nahm die Großmutter wieder das Wort, „ich versichere euch, daß in meiner Jugend niemand so was gewagt hätte. Und ich war noch ein kecker Tollkopf, aber davor wäre mir doch bange gewesen. Was sagen Sie dazu, Onkel Heinz?“

Der alte Herr hatte behaglich schmunzelnd zugehört.

„O!“ meinte er, „mir gefällt das alles ausgezeichnet; Sie wissen ja, daß ich auf die übertriebenen Formen und Komplimente nichts gebe. Ich bin für die amerikanischen Mädchen. Und da nun gerade der Sekt eingegossen wird, schlage ich vor, sie leben zu lassen.“

Fröhlich stimmte jeder in dies Lebehoch ein; aber nun war es spät geworden, und man trennte sich. Die jungen Gäste wurden auf ihre Zimmer geführt, und bald herrschte tiefste Stille im ganzen Hause.

Dekoration

Am nächsten Morgen sandte die strahlende Maisonne Lichtfunken durch die Stäbe der heruntergelassenen Jalousien in Irmas Zimmer, und endlich gelang es ihr, das junge Mädchen aufzuwecken. Irma richtete sich auf und schaute umher in dem hübschen Gemach mit den hell bezogenen Möbeln und den weißen, mit blauen Schleifen aufgenommenen Gardinen. Sie rieb sich die Augen, nickte den Bildern ihrer Eltern und ihres Bruders, die auf dem Schreibtisch standen, einen Morgengruß zu und dann, ohne daß sie sich recht darauf besinnen konnte, fiel ihr ein, daß gestern abend etwas sehr Nettes passiert war. Ach ja, die Ankunft der amerikanischen Cousinen! Sie sah nach der Uhr und merkte mit Schrecken, daß es schon sehr spät war und sie die Zeit verschlafen hatte. Eilig sprang sie aus dem Bett und kleidete sich an.

Bei Großmama schadete das nichts, die machte kein böses Gesicht, wenn sie ein bißchen spät herunterkam, aber was würden die amerikanischen Cousinen denken? Irma war ein recht verwöhntes Kind, ein verzogenes Püppchen; da sie aber so liebenswürdig, sanft und herzlich war, ließ Großmutter Ilse ihr in ihren kleinen Liebhabereien und Neigungen, die sie nur noch bezaubernder machten, ihren freien Willen. Sie war nicht eitler als die meisten jungen Mädchen, obwohl sie wußte, daß sie ein reizendes Gesichtchen hatte, mit blauen Vergißmeinnichtaugen und einer Fülle krausen goldblonden Haares. Sie hielt sehr darauf, nett angezogen zu sein, und brauchte viel Zeit zur Toilette, aber das Resultat war dann auch stets ein so befriedigendes, daß die Großmutter, selbst wenn sie zuweilen über solche Zeitvergeudung schalt, sich heimlich gestehen mußte, daß das kleine Ding unwiderstehlich reizend aussah.

Denselben Gedanken hatten auch die amerikanischen Cousinen, als Irma nun endlich in einem blau und weiß gestreiften Morgenkleide sich zu ihnen gesellte, und der kleine Karl, der sich bereits im Zimmer seiner Schwestern befand, erklärte Irma für das schönste Mädchen, das er je gesehen.

„Dummer Junge!“ rief sie lachend, aber geschmeichelt fühlte sie sich doch. „Was ist das mit euch?“ fuhr sie fort, erstaunt erst die beiden Mädchen ansehend und dann im Zimmer umherblickend.

Maud und Agnes waren, wie Karl, bereits zum Ausgehen gerüstet, bis auf Hut und Handschuhe. Aber auch das Zimmer war schon völlig fertig, die Betten gemacht, die Waschtische in Ordnung gebracht, überall Staub gewischt, ja Agnes war beschäftigt, den Pflanzen, die auf dem Balkon standen, Wasser zu geben.

„Warum habt ihr das alles selbst besorgt?“ fragte Irma verwundert.

„Das sind wir so gewöhnt.“

„Aber dazu sind doch die Dienstmädchen da.“

„Gewiß,“ versetzte Maud, „doch wir lieben es nicht, uns bedienen zu lassen. Was wir selbst tun können, tun wir auch selber. Bei uns haben wir keine Bedienten in dem Sinne, wie ihr das versteht. Zu gewissen Arbeiten, die wir nicht verrichten können, kommen Leute stundenweise jeden Tag; dann gehen sie wieder. Sie werden fast als unsres Gleichen angesehen. Die Mutter erzählte uns, daß es hier ganz anders ist, aber so rasch können wir uns daran nicht gewöhnen.“

Großmutter Ilse erwartete das junge Volk im Eßzimmer, dessen weit offenstehende Glastüren in den Garten führten. Nach dem Frühstück wurde ein Tagesprogramm entworfen. Die Mädchen wollten sich am liebsten gleich nach einer passenden Wohnung umsehen. Sie ersuchten Großmama und Irma nachzudenken, welches Stadtviertel das geeignetste wäre, damit sie keine unnötigen Wege zu machen brauchten.

„Aber erst,“ erklärte Maud, „muß ich zwei Briefe schreiben, oder besser, du, Agnes, schreibst den an unsre Eltern, das erspart Zeit. Den andern muß ich selbst erledigen.“

Sie wurde dabei rot, und Irma forschte lachend:

„Ist er so wichtig, daß du ihn nicht bis zum Nachmittag aufschieben kannst?“

„Ja,“ versetzte Maud, „denn dieser Brief ist für meinen Verlobten bestimmt.“

Großmama und Irma machten erstaunte Gesichter.

„Du bist schon Braut, mein Kind?“ fragte erstere. „Und davon erfuhr ich nichts. Das ist doch nicht auf der Reise zustande gekommen?“ fügte sie hinzu, fürchtend, daß ihre Enkelin ohne Wissen der Eltern einen unüberlegten Schritt getan haben möchte.

„Nein, Großmama,“ erwiderte Maud ruhig. „John und ich, wir sind schon fast ein Jahr verlobt. Er ist eine Waise, Vater und Mutter haben es vom ersten Tage an gewußt. Der Vater hielt es für besser, nicht darüber zu reden, denn es dauert noch ein Jahr, bis John fertig ist und wir heiraten können. Daher haben wir nichts davon in unseren Briefen erwähnt, aber ich wollte es dir natürlich gleich mitteilen.“

„Und was ist dein Bräutigam?“

„Im Augenblick Heizer auf einer Lokomotive.“

„Was!“ riefen Ilse und Irma, im höchsten Grade erstaunt, wie aus einem Munde.

„Heizer auf einer Lokomotive,“ wiederholte das junge Mädchen mit größter Gemütsruhe.

„Ist er denn ein Arbeitsmann?“ fragte Irma kleinlaut.

Maud fing an zu lachen.

„Hab' nur keine Angst. Mein John ist Ingenieur und wird übers Jahr zweiter Direktor einer großen Dampfmaschinenfabrik. Aber er muß auch praktisch lernen und daher dient er eine Zeitlang als einfacher Arbeiter.“

„Ein gewöhnlicher Heizer,“ nahm Irma das Wort, und ihre blauen Augen wurden immer größer vor Verwunderung, „mit 'nem Arbeitskittel und schwarzem Gesicht und schmutzigen Händen?“

Maud ärgerte sich ein bißchen, Agnes aber brach in lustiges Gelächter aus.

„Was bist du doch für ein dummes Gänschen, Irma; wenn er sich gewaschen und umgezogen hat, sieht ihm niemand seine Beschäftigung an. John geht nicht in seinem Arbeitsrock in Gesellschaft.“

„Überdies,“ fiel Maud ein, „ist ein Arbeiter bei uns gerade so gut ein Gentleman wie jeder andere, es kommt nur auf die Persönlichkeit an. Uns ist gelehrt, daß keine Arbeit schändet.“

„Da hast du ganz recht,“ meinte Ilse, „aber du mußt es meiner kleinen Irma nicht übelnehmen, daß sie etwas erstaunt ist. Sind die Sitten und Gebräuche in Amerika auch anders, im Grunde genommen haben wir doch dieselben Ansichten. So willst du uns also bald wieder verlassen, Maud?“

„In einem Jahr kommt John, um mich zu holen, Großmama.“

„Und du, Agnes.“

„O, du behältst mich zunächst bei dir, vielleicht für immer; ich habe keinen Verlobten in Amerika.“

Die jungen Mädchen schrieben ihre Briefe, und dann gingen sie mit Irma auf Wohnungssuche. Ilse wollte nach einem Wagen schicken, Maud aber erklärte, sie fände es bequemer zu Fuß zu gehen, dann könnten sie sich besser umschauen. Die Großmama mußte den Gedanken, sie zu begleiten, aufgeben, denn sie fürchtete die Anstrengung, auch bedurften ihre energischen Enkelinnen ihres Rates nicht, denn sie wußten genau, was sie brauchten. So konnte sie ihnen die Sache getrost überlassen. Irma ging zum Vergnügen mit. Sie gesellte sich zu Agnes, während Maud und Karl vorauswanderten, und eifrig beratschlagten. Die deutsche Cousine wunderte sich immer mehr und mehr über den Takt, die Ruhe und Geschäftskenntnisse, welche die fremden jungen Mädchen an den Tag legten. Sie erkundigten sich nach allem, sprachen mit Hauseigentümern und Verwaltern, machten solche praktische Bemerkungen, daß sogar die Männer sie erstaunt betrachteten, und endlich glückte es ihnen, dicht vor der Stadt ein geräumiges, von einem hübschen Garten umgebenes Haus zu mieten. Maud schlug vor, der Besitzer solle noch denselben Abend mit dem Kontrakt zu Frau Gontrau kommen, da die Sache eile. Das Haus konnten sie sofort beziehen, es sah sehr gut erhalten aus und bedurfte nur geringer Reparaturen.

„Ich glaube, daß ich arg dumm bin,“ sagte Irma seufzend, als sie, munter plaudernd, den Heimweg antraten. „Erst fand ich es sehr komisch, daß ihr allein herkamet und ein Haus für eure Eltern mieten solltet. Meinen Eltern würde es nie einfallen, mir einen solchen Auftrag zu geben. Ich würde es auch nicht können, denn noch nie in meinem Leben bin ich handelnd aufgetreten.“

„Dann wird es hohe Zeit,“ fand Maud. „Wie alt bist du eigentlich, Irma?“

„Siebzehn.“

„Agnes ist achtzehn, und ich werde nächstens zwanzig.“

„O, du kommst mir wie dreißig vor,“ rief Irma, „das heißt,“ fuhr sie erschrocken fort, „nicht in deinem Äußern, denn mit dem hübschen kurzen Gelock siehst du wie sechzehn aus, aber in deinem Tun und Lassen. Du bist so schrecklich verständig, ganz wie eine Frau.“

„Das will ich meinen,“ sagte Maud ruhig.

„Mach nur nicht so ein erschrecktes Gesicht, Irmachen,“ nahm Agnes freundlich das Wort. „Du brauchst nicht handelnd aufzutreten; du bist gerade so ein liebes, hübsches, kleines Ding, das sein Leben lang verhätschelt und beschützt werden muß.“

„Das möchte ich auch. Mir ist so bange vor emanzipierten Frauen.“

Maud mußte lachen. „Wir sind nicht emanzipiert. Wir haben nur gelernt, uns wenn nötig selbst zu helfen und unabhängig und frei aufzutreten, wo es gerade angebracht ist.“

„Aber ich will nicht unabhängig auftreten,“ beharrte Irma. „Wenn ich mal heirate, will ich von meinem Manne ganz abhängig sein, ihn als mir überlegen betrachten, als meinen Herrn und Gebieter; er aber muß mich verwöhnen, verhätscheln und in mir das kostbarste und schönste Wesen sehen, das ihm anvertraut ist. Er muß mich geradezu anbeten.“

„Das würde mir nicht genügen,“ erwiderte Maud und ihre Mundwinkel zuckten verächtlich. „Ich will meinem Manne Gefährtin und Helferin sein, keine Puppe, kein Schmuckstück.“

Irma antwortete nichts, sie nahm den Arm ihrer jüngeren Cousine. Ohne recht zu wissen weshalb, fühlte sie sich mehr zu Agnes hingezogen — ob das kam, weil diese sie schon zweimal schön und unwiderstehlich genannt hatte? Sie gestand sich das selbst nicht ein, fand Maud auch sehr lieb, aber die war drei Jahre älter und — Braut. Da war es wohl natürlich, daß sie sich mit Agnes inniger befreundete.

Die Mädchen baten Großmutter Ilse, nach dem Mittagessen das Haus mit ihnen zu besehen, ehe es endgültig gemietet wurde. Onkel Heinz, der sich erkundigen wollte, ob die Reisenden gut geschlafen hätten, schloß sich ihnen an. Beide waren höchst befriedigt, Ilse, weil das Haus nur ein Viertelstündchen von ihrer Wohnung entfernt lag, und der Professor, weil die Zimmer so geräumig, hoch und luftig waren. In heiterer, fast ausgelassener Stimmung durchschritten und besichtigten sie sämtliche Räume, und die Mädchen erzählten schon, wie sie alles einrichten wollten, als Ilse plötzlich erschrocken ausrief:

„Aber Kinder, wann geht ihr denn zu eurer Tante Elisabeth?“

Der kleine Karl schnitt Irma ein Gesicht, daß sie losprustete, Agnes sonniges Antlitz trübte sich und Maud sagte:

„Aber Großmama, dazu haben wir doch vor der Hand keine Zeit; es eilt auch nicht.“

„Doch, liebes Kind; sie ist die einzige Schwester deines Vaters.“

„Papa konnte Tante Elisabeth nie leiden; er machte sich nichts aus ihren Briefen,“ ergänzte Karl.

„Und doch hat er sicher gesagt, daß ihr gleich nach eurer Ankunft sie besuchen sollt,“ beharrte Ilse. „Was meinen Sie, Onkel Heinz?“

„Ach, was sollen die Kinder bei so 'ner langweiligen alten Jungfer?“

„Siehst du wohl, Großmama! Onkel Heinz muß es doch wissen,“ riefen die Mädchen wie aus einem Munde.

„Nein, Onkel Heinz weiß es nicht,“ erklärte Ilse bestimmt, dem Professor einen unzufriedenen Blick zuwerfend. „Denken Sie doch, wie einsam Tante Elisabeth ist! Seit dem Tode eurer Großmutter, der alten Frau Rosi Müller, lebt sie ganz allein. Nun sind die Kinder ihres einzigen Bruders aus Amerika gekommen, und es würde mehr als unartig und herzlos sein, wenn ihr sie nicht aufsuchen wolltet.“

„Großmama hat recht,“ pflichtete Maud bei, „morgen früh wollen wir zu ihr gehen.“

„Ich geh' aber nicht mit,“ rief Irma, „ich hab' keine Lust, getadelt zu werden wie ein kleines Kind. Jedesmal, wenn ich zu Fräulein Müller komme, muß ich anzügliche Bemerkungen hören, bald über meine Frisur, dann über meine Toilette, ja, einmal hat sie sich sogar herausgenommen mir zu sagen, daß du mich verziehst, Großmama.“

„Da hat sie aber vollkommen recht,“ stimmte Ilse lachend zu. „Du wirst mitgehen, Irma, schon um deinen Cousinen den Weg zu zeigen.“

„Ja,“ flüsterte Agnes, „komm nur mit, nachher lachen wir zusammen über die ‚old maid‘.“

Das Haus wurde gemietet, und während des ganzen übrigen Nachmittags und Abends stellten die Mädchen lange Listen von allem auf, was sie zur Einrichtung brauchten, denn sie wollten so bald wie möglich mit ihren Einkäufen beginnen. —

Pastor Adolf Müller war ungefähr sechs Jahre, nachdem sein Sohn Fritz sich mit Marianne Gontrau verheiratet hatte und nach San Franzisko gezogen war, gestorben. Rosi und ihre einzige Tochter Elisabeth hatten das freundliche Pfarrhaus verlassen müssen und waren nach einem andern Stadtteil übergesiedelt. Dort hatten sie eine Wohnung ganz nach ihrem Geschmack gefunden — ein düsteres, ziemlich großes Haus mit zwei Stockwerken, einem langen Korridor und einer Küche. Die dunkel tapezierten Zimmer wurden mit schweren, massiven Mahagonimöbeln ausgestattet. Rosi liebte helle Farben und neumodisches Mobiliar nicht, und Elisabeth teilte ihren Geschmack. Die Schränke, Tische und Stühle waren so glänzend poliert, daß ein Spiegel überflüssig schien, obgleich einer in schwarzem Rahmen über dem Kamin hing. Nirgends war ein Stäubchen zu entdecken, und alles stand fein säuberlich an der Wand in Reih und Glied, denn Rosi ärgerte sich über die verrückte Sitte, im Salon alles bunt durcheinander zu stellen. Die Kissen und gepolsterten Sitze der Sessel und Sophas waren mit riesigen gefältelten Schonern bedeckt, denn die beiden Damen, die wenig ausgingen, sich außer in der Kirche nie an öffentlichen Orten zeigten und selten Besuch bei sich sahen, beschäftigten sich vorzugsweise mit Handarbeiten. Durch die Heirat der Kinder wurde der Umgang mit der Familie Gontrau aufrecht erhalten, da aber auf beiden Seiten keine große Sympathie herrschte, nahm der Verkehr auch im Laufe der Jahre nicht zu. Rosi billigte es nicht, daß Ilses älteste Tochter Ruth einen Künstler geheiratet hatte, daß sie selbst Konzerte gab und viel mit Künstlern, ja sogar mit Schauspielern verkehrte. Leo und Ilse ertrugen Rosis beschränkte Ansichten um der Kinder willen, hüteten sich aber vor einem intimen Umgang.

Diese Umgebung war sicher nicht geeignet, um aus Elisabeth, die an sich schon ein steifes, zurückhaltendes Wesen besaß, ein fröhliches, liebenswürdiges Menschenkind zu machen. In ihrer Jugend hatte sie unter dem Druck gelebt, der seit Fritzens Flucht aus dem Elternhause jahrelang auf Rosi und Adolf lastete. Als später alles zum Guten ausschlug und Fritz als ein tüchtiger, vermögender self-made man aus der Fremde heimkehrte, galten alle Liebe, alle Aufmerksamkeiten ihm, und die bescheidene Elisabeth, die sich stets bemüht hatte, ihrer Mutter in strengster Pflichterfüllung nachzueifern, war ganz in den Hintergrund getreten. Der Pastor sah das wohl ein, er hatte aber nie viel zu sagen gehabt. Er bemühte sich, Rosi klar zu machen, daß sie Elisabeth in die Gesellschaft einführen müßten, damit sie ihre Jugend genießen könne. Rosi war nicht seiner Meinung; je stiller und unbeachteter ein junges Mädchen seinen Weg ging, desto besser. Ein ernster Mann wüßte es zu schätzen, wenn er ein Mädchen heiratete, das unbekannt und unbesprochen durch die Welt ging und dessen Tugenden im eignen Hause zur vollen Geltung kamen. Aber trotzdem erhielt Elisabeth nie einen Heiratsantrag. Anfangs war sie darüber unglücklich und beneidete ihre, in dieser Hinsicht bevorzugten Freundinnen.

Als die Jahre vergingen und die Aussichten immer mehr schwanden, wurde sie verbittert. Nachdem der Vater gestorben und sie mit der Mutter die düstere, kasernenartige Wohnung bezogen hatte, ergingen sich beide in lieblosen Gedanken und scharfen Äußerungen. Die eine verurteilte die Mütter, die alles daran setzten, ihren Töchtern einen Mann zu kapern, und die andre brach den Stab über die Mädchen, die den jungen Leuten nachliefen und dadurch ein Schandfleck ihres Geschlechtes wurden.

Solange die Mutter lebte, die mit ihr fühlte und für die sie sorgen konnte, verknöcherte Elisabeth noch nicht ganz, aber als sie nach ihrem Tode allein auf der Welt stand, wurde sie die unangenehme, bissige alte Jungfer, die sich für nichts interessierte als für die Sauberkeit und Ordnung in ihrem Haushalt, für einige Wohltätigkeitsbestrebungen, die mit echter Menschenliebe und Selbstverleugnung wenig zu schaffen hatten, für ihre Sammlung von Häkelmustern und für die Gesundheit ihrer Katze, ihres Kanarienvogels und ihres Hundes. Sie wurde geizig, mißtrauisch und klatschhaft; die Leute mieden und verlachten sie. Nur wenige hatten Mitleid mit ihr und sahen ein, daß sie wohl eine verrückte alte Jungfer, aber doch eigentlich ein beklagenswertes Geschöpf war, verdorben durch Erziehung und häusliche Verhältnisse. Ilse Gontrau, die selbst viel gelitten — erst durch Nellies Tod und dann vor allem durch den Verlust ihres geliebten Leo — urteilte milder und konnte es nicht leiden, wenn Elisabeth Müller von allen, besonders von den Männern und dem jungen Volke verspottet und lächerlich gemacht wurde. Sie sah in ihr eine arme Verlassene, an der das Glück mitleidslos vorübergegangen war. Wenn sie auch zugeben mußte, daß der Gegenstand ihres Mitleids höchst unsympathisch war; wenn sie auch für ihre guten Absichten stets unangenehme Redensarten zu hören bekam, sie blieb fest in ihren Bemühungen und gab sich daher auch jetzt erst zufrieden, als die Mädchen mit Karl sich am nächsten Morgen auf den Weg zu Tante Elisabeth machten.

„Brr!“ sagte der kleine Junge, „was für 'ne Straße! Das ist ja rein zum Gruseln.“

„Dort wohnt die Tante, in dem Haus mit den Spionen und den grünen Rollläden,“ belehrte Irma.

„Nicht verlockend,“ meinte Maud. „Warum steht bei dem herrlichen Wetter nirgends ein Fenster auf?“

„Damit kein Staub hineinkommt.“

„Glaubst du, Irma, daß sie uns was Leckeres anbieten wird?“ fragte Karl.

„Selbstverständlich. Aber wenn sie es tut, Kinder, nur nicht danken. Sie wagt gewiß nicht, es zu unterlassen, in der stillen Hoffnung, daß wir dankend ablehnen werden. Denn geizig ist sie!“

„So wird sie mir wohl keine Zigarre anbieten?“

„Kleiner Affe!“ rief Irma lachend, „darf er denn rauchen, Agnes?“

„Nein, Papa hat's ihm streng verboten, trotzdem tut er es manchmal doch.“

„Still, nicht klatschen,“ flüsterte Karl mit einem besorgten Blick auf Maud, die jedoch nicht acht gegeben hatte, sondern ihr ganzes Interesse der großen, dunkel gestrichenen Haustüre und den mit Rollläden und doppelten Vorhängen versehenen Fenstern widmete.

Sie zogen die Klingel und mußten lange warten. Endlich öffnete sich die Tür und ein bejahrtes Dienstmädchen mit sauren Mienen, in einem dunkelblauen Wollkleide mit kurzen Ärmeln und einer großen Leinenschürze, erschien in derselben.

„Ist Fräulein Müller zu Hause?“ fragte Irma.

„Ja, gnädiges Fräulein,“ lautete die Antwort mit einem keineswegs freundlichen Blick auf die kleine Gesellschaft.

„Nun, dann können wir wohl eintreten.“

„Nicht so rasch, bitte, ich weiß doch nicht, ob das Fräulein empfangen will.“

„Dann fragen Sie, aber so lange brauchen wir doch nicht hier auf der Matte zu stehen.“

„Wen soll ich melden?“

„Mich kennen Sie doch, Fräulein Irma von Holten? Und dann sagen Sie, daß die Nichten und der Neffe aus Amerika da sind.“

„So,“ erwiderte die Magd mit einem mißtrauischen Blick auf die Fremdlinge. „Treten Sie unterdes nur ein, aber bitte die Füße gut abzuputzen, draußen ist es schmutzig.“

„Ach, so was, die Straße ist knochentrocken,“ murmelte Irma, während sie den Cousinen und Karl voranging in den Salon.

„Was für ein freches Geschöpf,“ sagte Agnes.

„Wart' nur, Kind, das ist erst das Vorspiel, die Herrin ist noch ganz anders. Aber findet ihr es hier nicht außerordentlich gemütlich?“

Maud und Karl prusteten los, während Agnes sich neugierig umschaute.

Es war ein großes Gemach, aber es roch dumpfig und feucht, als ob es lange nicht gelüftet worden wäre. Vor dem hohen, breiten Fenster, das auf einen Hof hinausging, hingen schwere, dunkle Übergardinen. Dunkel waren auch Tapeten und Möbel, die wie Soldaten in Reih und Glied an den Wänden standen. Das goldene Sonnenlicht, die fröhlichen Farben der ersten hellen Sommertage waren sorgfältig ausgesperrt; hier schien alles düster, winterlich, feucht und bedrückend.

Maud, Karl und Irma hatten jedes auf der Kante eines Stuhles Platz genommen, ohne den Mut zu finden, ihn auch nur ein wenig von der Wand zu rücken.

Niemand kam.

„Brr,“ machte Irma, „hier bekommt man fast Lust, etwas ganz Tolles zu begehen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.“

„Weißt du, was hier das Hübscheste ist?“ fragte Agnes, mit dem Fuß über den Boden gleitend.

„Nun?“

„Der Boden, das schönste Parkett kann nicht besser sein.“

In der Tat war der Linoleumteppich so glatt gebohnt, daß man bei jedem Schritt in Gefahr geriet, zu fallen.

„Herrlich zum Tanzen!“ rief Irma, und plötzlich sprang sie auf, faßte Agnes um die Taille und walzte mit ihr durch das Zimmer.

„Haltet ein, das dürft ihr nicht,“ bat Maud erschrocken, die beiden aber hörten nicht und Karl, von ihnen angesteckt, wurde nun auch ausgelassen, fing an mit den Fäusten auf dem Tisch zu trommeln und mit lauter Stimme zu singen:

Come boys, push along
And let us all be gay.
Illustration

„Mein Gott, was geht hier vor?“ ertönte plötzlich eine angsterfüllte Stimme. Die Türe wurde geöffnet und Tante Elisabeth, durch den Lärm in ihrem sonst so stillen Hause zu Tode erschreckt, schaute hinein, gefolgt von der nicht minder entsetzten Grete.

„Das sind keine Amerikaner, gnädiges Fräulein,“ rief letztere, „das sind Wilde. Der Junge wird das Haus noch einreißen.“

Die Mädchen ließen sich los, und lachend wandte Irma sich dem alten Fräulein zu.

„Seien Sie nicht böse, Fräulein Müller. Wir machten ein Tänzchen, um uns die Zeit zu vertreiben, da Sie sich gar nicht sehen ließen. Dies sind Ihre Nichten Maud und Agnes, und der Bengel da ist Karl.“

„Vorgestern sind wir angekommen, liebe Tante,“ sagte Maud freundlich, „und hoffen, daß du froh bist, uns zu sehen.“

„Seid willkommen, ihr Mädchen,“ entgegnete die Tante und gab jeder einen Kuß. Karl reichte sie die Hand; vor dem Knaben mit seinem Schelmengesicht und den übermütig blitzenden Augen hatte sie buchstäblich Furcht. „Aber ich muß doch sagen, daß ihr eine sonderbare Manier habt, Besuche zu machen. Ist das Mode in Amerika?“

„Nein, Tante,“ erwiderte Agnes lachend. „Da ist nur dein gebohnter Fußboden schuld. So köstlich glatt, das verlockt unwiderstehlich zu einem Tänzchen. Wenn du das Zimmer ausräumst, kannst du im Winter hier eine herrliche Tanzgesellschaft geben.“

„So, die geb' ich aber nicht,“ klang es ziemlich gereizt zurück. „Grete, sieh mal nach, ob keine zu argen Schrammen im Boden sind, und reib' auch den Tisch ab, der Junge hat mit seinen warmen Händen Flecken darauf gemacht.“

Eine unbehagliche Stille entstand. Maud fühlte sich durch diesen mehr als unfreundlichen Empfang beleidigt. Irma und Agnes traten sich unter dem Tisch auf die Füße und wechselten beredte Blicke. Karl aber, dem es sofort klar wurde, daß er seine Tante nicht ausstehen könne, sann auf einen neuen Streich, mit dem er sie ärgern wollte. Tante Elisabeth betrachtete ihre Nichten neugierig und eingehend. Die Mädchen mißfielen ihr dank ihrer höchst einfachen Kleidung nicht; diese war ihr lieber wie Irmas Toilette, die immer höchst elegant und nach der neuesten Mode war. Aber daß Maud ihr Haar kurz geschnitten trug, fand sie lächerlich.

„Warum trägst du dein Haar wie ein Junge?“ fragte sie.

„Weil ich es bequem und praktisch finde, Tante.“

„Aber doch auch, weil es dir gut steht?“ meinte Irma.

„Jawohl, stünde es mir schlecht, so würde ich es nicht tun.“

„Ihr habt nette Kostüme an,“ fuhr Tante Elisabeth fort. „Geht ihr immer so dunkel und einfach gekleidet?“

Maud biß sich auf die Lippen; dies unhöfliche Ausfragen ärgerte sie, Agnes versetzte aber lachend:

„O nein, das sind unsre Reisekleider, und es ist bequem, wenn die ganz einfach sind. Aber bei feierlichen Gelegenheiten geben die amerikanischen Frauen und Mädchen viel auf Toilette. Wenn wir wieder kommen, wirst du uns in großer Gala sehen, Tante.“

„Das ist nicht nötig,“ erwiderte Fräulein Müller steif. „Ich gebe nichts darauf; ich halte nur auf Einfachheit und Tüchtigkeit. Doch nun erzählt mir, wie es euren Eltern geht und wann sie hier eintreffen!“

Die Mädchen berichteten dies und das von ihrer Reise, ihrem Aufenthalt in Paris und ihren Plänen, wie sie das Haus, welches sie hier gemietet hatten, einrichten wollten. Das berührte Tante Elisabeth unangenehm. Ihr kaltes Antlitz mit den regelmäßigen Zügen und dem tadellos gescheitelten, noch dunklen Haar ward immer länger und länger. Es mißfiel ihr im höchsten Grade, daß so junge Mädchen allein aus einem andern Erdteile — und gar noch über Frankreich — nach Deutschland reisten und das für das Natürlichste und Einfachste von der Welt hielten. Sie selbst war in ihrem ganzen Leben nie über einige Meilen im Umkreis ihres Geburtsortes herausgekommen, und sie verurteilte jeden, der ihren engherzigen Ansichten nicht beipflichtete. Diese Kinder hatten sicher die Abenteuerlust vom Vater, ihrem Bruder Fritz geerbt, der auch mit fünfzehn Jahren aus dem Elternhause entlief, weil er sich der heiligen Zucht und Ordnung nicht fügen wollte, die dort dank dem strengem Regiment ihrer Mutter herrschten. Als sie im Lauf der Unterhaltung merkte, daß die Mädchen von ihren Eltern nicht mehr als Kinder, sondern als gleichberechtigte erwachsene Menschen behandelt wurden, fing sie an, mit der Neugierde einer unverbesserlichen alten Jungfer allerhand unbescheidene Fragen zu stellen. Wieviel Miete sie für das Haus zahlten? Wie groß das Einkommen ihres Vaters wäre? Wieviel Kleidergeld sie erhielten? Ob ihr Vater hier auf demselben Fuße leben könnte wie in Amerika? &c. &c.

Irma amüsierte sich köstlich über die Art, wie Maud und Agnes, ohne unhöflich zu sein, mit großem Takt auf all diese Fragen ausweichende Antworten gaben; und Tante Elisabeth mußte zu ihrem Ärger erfahren, daß sie keine kleinen Kinder, die sie nach Herzenslust ausforschen konnte, vor sich hatte, sondern ein paar kluge, verständige Mädchen, die nicht mehr sagten, als sie für richtig hielten.

„Tante,“ ließ Karl sich plötzlich vernehmen, „darf das Fenster nicht geöffnet werden?“

„Wozu, mein Junge?“

„Ich finde, daß es hier so abscheulich riecht.“

Die alte Dame wurde rot.

„Du kannst deine Bemerkungen für dich behalten, lieber Neffe,“ sagte sie giftig. „Das Fenster — bleibt geschlossen. Ich habe keine Lust, mich dir zu Liebe zu erkälten.“

Wieder setzte sie ihre Unterhaltung mit Maud fort. Karl sah nach Irma hin, die ihm lächelnd zunickte.

„Tante,“ fing er von neuem an.

„Was, kleiner Kerl?“

„Ich hab solchen Durst. Hast du nicht ein Glas Limonade oder Obst für uns?“

„Ein gut erzogenes Kind fordert nicht, sondern wartet, bis ihm etwas angeboten wird,“ entgegnete die Tante streng. „Sind alle Kinder in Amerika so ungesittet und schlecht erzogen wie dieser Junge, Nichte Maud?“

Aber nun war's mit Mauds Selbstbeherrschung vorbei.

„Nein, Tante,“ versetzte sie scharf. „Bei uns sind die Kinder, gerade wie Karl, sehr gut und gesittet erzogen, und die Leute sind gastfrei und freundlich, so daß sie sich wundern, wenn sie bei andern das gerade Gegenteil sehen.“

Noch nie hatte Irma Maud so nett gefunden, wie in diesem Augenblick. Agnes und Karl freuten sich diebisch. Tante Elisabeth wurde dunkelrot. Am liebsten hätte sie den frechen Kindern die Tür gewiesen, aber bei reiflicher Überlegung hielt sie es doch für besser, so zu tun, als hätte sie den Stich nicht verstanden. Mit sauersüßer Miene sagte sie daher zu ihrem Neffen:

„Du möchtest also ein Stück Kuchen haben, mein Jungchen?“

„Davon hab' ich doch nichts gesagt,“ verteidigte sich Karl, doch auf einen Wink von Maud schwieg er. Die Tante schloß ein Fach des schweren Mahagonibuffets mit schwarzer Marmorplatte auf und holte eine Blechbüchse heraus. Sie bot den Mädchen an, die dankend ablehnten, und der kleine Junge zog ein Gesicht beim Anblick der altbackenen, trocken gewordenen Stückchen Sandkuchen, aber probieren wollte er sie doch.

„Willst du noch eins?“ fragte die Tante, zuschauend, wie er mit langen Zähnen daran kaute.

„Nein, danke, es ist eine Kunst das hinunterzuwürgen, ohne dabei zu trinken.“

„Wir müssen gehen,“ nahm Maud rasch das Wort, bevor Fräulein Müller zu antworten vermochte. „Großmama wird nicht wissen, wo wir geblieben sind.“

Ein steifer Abschied folgte. Im Korridor jagte Karl der Tante noch einen Todesschreck ein, indem er die Miez, die um die Türe guckte, beim Anblick der Fremden aber scheu zurückhuschte, anzischte. Doch lief die Geschichte ohne weiteres Unglück ab.

„Was für ein Wesen!“ rief Agnes entrüstet, als sie auf der Straße waren. „Nie wieder geh' ich zu ihr.“

„Das werden wir doch wohl müssen,“ seufzte Maud. „Sie ist Papas einzige Schwester, aber glücklicherweise mag er sie auch nicht.“

„Du hast ihr's ordentlich gegeben,“ sagte Irma, „und über den Karl hätte ich mich beinahe totgelacht.“

„Na wart' man,“ brummte Karl, „so 'nen Ekel gibt's nicht noch mal auf der Welt! Aber wenn ich wieder komme, kann sie was erleben; entweder steck' ich das Haus an oder tue sonst etwas, das die ganze Wohnung auf den Kopf stellt.“

Ilse machte ein ärgerliches Gesicht, als die Mädchen ihr erregt ihre Erlebnisse bei Tante Elisabeth schilderten. Sie versuchte zu beschwichtigen und behauptete, daß die Kinder übertrieben, aber Onkel Heinz, der auch bei Gontraus speiste, lachte laut und rief:

„Unsinn, die Kröten haben recht; die Müller ist eine unausstehliche alte Jungfer. Ihr Mädchen, heiratet um's Himmels willen, denn nun seht ihr, was aus einem Frauenzimmer wird, das keinen Mann kriegt.“

„Aber Herr Professor,“ wandte Ilse ein. „Was setzen Sie da wieder den Kindern für dummes Zeug in den Kopf? Als ob eine unverheiratete Frau nicht auch ein nützliches Glied der Gesellschaft sein könnte. Die Ehe erhöht nicht ihren Wert, das kann einzig und allein ihre Persönlichkeit tun.“

„Unsinn,“ brummte der alte Herr. „Eine alte Jungfer ist ein Unding — sie entspricht nicht ihrer Bestimmung.“

„Und ein alter Junggeselle, Onkelchen?“ fragte Agnes schalkhaft, beide Hände um seinen Arm schlingend.

„Der ebensowenig, mein Kind, aber der verdient wenigstens dein ganzes Mitleid.“

„O, was für 'ne Logik! Daß du nicht geheiratet hast, ist doch deine eigene Schuld, während Tante Elisabeth wahrscheinlich nichts dafür kann. Vielleicht hat nie jemand um sie geworben.“

„Doch, sie kann dafür,“ behauptete Onkel Heinz, dem das Widersprechen noch immer ein Bedürfnis war. „Solch unangenehme Geschöpfe wie sie, kommen schon als alte Jungfer auf die Welt. Ich rat euch noch mal, Kinder, hütet euch davor, macht, daß ihr heiratet, damit man euch nicht in einen Topf werfen kann mit solchen Wesen, die, nur weil sie Unterröcke tragen, sich für berechtigt halten, Frauen genannt zu werden.“

„Ich will's nicht hören, daß Sie so zu meinen Enkelinnen reden,“ rief Ilse, ehrlich entrüstet. „Ich sage euch im Gegenteil, ihr Mädchen, heiratet nicht, außer wenn ihr das Glück habt, den Mann zu finden, den ihr von ganzer Seele und mit ganzem Herzen zu lieben imstande seid. Eine alte Jungfer braucht durchaus kein lächerliches Wesen zu sein. Ich kenne viele, die gerade so hoch, ja noch höher stehen als manche verheiratete Frau. Das müssen doch auch Sie zugeben, Professor, wenn Sie gerecht sein wollen.“

„Ach was,“ nahm Onkel Heinz das Wort, der als er sah, wie ernst seine alte Freundin die Geschichte nahm, wieder einlenken wollte, „Sie haben mich nur nicht verstanden, Frau Ilse.“

„Ich meine, Sie waren deutlich genug.“

„Es ist doch ein Unterschied zwischen einer alten Jungfer und einer unverheirateten Dame. Und jetzt wollen wir zu Tisch gehen. Von so 'ner unfruchtbaren Diskussion werd' ich hungrig.“

Dekoration

Nun folgte eine geschäftige Zeit. Jeden Tag hatten die Mädchen Einkäufe zu machen. Tischler, Stukkateure, Tapezierer, Maler und Zimmerleute schafften um die Wette. Es wurde gut und eifrig gearbeitet, und ehe vier Wochen vergangen waren, sah das Haus, in dem die Familie Müller aus Amerika wohnen sollte, schon recht hübsch und einladend aus. Die Mädchen richteten alles nach eigenem Geschmack ein. Die Eltern hatten nur im allgemeinen angegeben, wie jedes Zimmer möbliert und ausgestattet werden sollte.

Anfangs fanden Großmutter Ilse und Irma es ziemlich ungemütlich. In der Schlafstube standen eiserne Bettstellen ohne Vorhänge, auf dem feingeflochtenen Eisendraht nur eine Matratze von Seegras. Keine Mulldraperien um den Toilettentisch, und vor den hohen Fenstern nur Binsenvorhänge. Die Tapeten ließen sich leicht mit Wasser reinigen. Die Möbel waren zierlich, aber höchst einfach in Form und Stil, die Stühle meist mit Sitzen von feinem Flechtwerk. Wenig Zierrat, alles konnte bequem umgestellt und gesäubert werden. Nirgends Portieren oder Übergardinen; das waren, wie die Mädchen behaupteten, nur Staubfänger. In allen Zimmern und Gängen elektrische Klingeln und Beleuchtung. In der Küche ein Lift, um das Essen nach oben zu befördern, und Hähne zu kaltem und heißem Wasser in sämtlichen Schlafstuben. Kein Luxus, aber viel Komfort. Tante Elisabeth, die auch einmal die Wohnung besichtigte, mißbilligte alle diese Neuerungen auf's höchste und jammerte über die Unsummen, welche die modernen Einrichtungen verschlangen. Sie tadelte ihre Nichten, daß sie mit jugendlicher Unbesonnenheit zu Werke gegangen wären, und meinte, ihr Bruder könnte trotz seiner Vorliebe für amerikanische Verhältnisse solche Tollheiten unmöglich gut heißen. Aber Maud brachte sie dadurch zum Schweigen, daß sie ihr erwiderte, es wäre alles ganz genau nach den Wünschen und Anordnungen ihrer Eltern eingerichtet.

Die Tante begnügte sich nun damit, mißbilligend den Kopf zu schütteln und, heimgekehrt, der alten Grete ihr Leid zu klagen und auf die neumodischen Leute zu sticheln, die in ihren Häusern alles durch Maschinen verrichten ließen und sich durch alle möglichen Bequemlichkeiten über die Maßen verwöhnten.

Als das Haus fertig war und auch der Garten mit seinen breiten Kiespfaden und dem Tennisplatz im Hintergrunde sich in schönster Ordnung befand, mußten Ilse und Irma doch gestehen, daß es sehr nett aussah, wenn sie es zuerst auch ein wenig kalt und nüchtern gefunden hatten. Sämtliche Zimmer waren geräumig und hell, während das gar zu grelle Sonnenlicht durch Markisen gedämpft werden konnte. Von allen Seiten drang frische Luft herein, wo es aber nötig war, gab es Doppelfenster, die dem Zug den Eintritt wehrten. Nirgends etwas überflüssiges, nirgends ein Mangel an dem Nötigen und Nützlichen; überall herrschte auch eine harmonische Übereinstimmung der Farben, die dem Auge wohl tat. Maud und Agnes legten mit ihrer Arbeit Ehre ein, und auch Karl hatte tapfer mitgeholfen. Kein Wunder, daß sie der Ankunft ihrer Eltern mit größter Ungeduld entgegensahen.

Herr und Frau Müller befanden sich schon seit einiger Zeit auf der Heimreise und konnten in etwa acht Tagen eintreffen. Kurz zuvor kamen auch Irmas Eltern mit Gustav aus Berlin, um die Verwandten aus Amerika willkommen zu heißen. Maud und Agnes waren entzückt von ihrer Tante Ruth und deren Mann. Am Tage nach ihrer Ankunft gaben sie im Familienkreise ein Konzert, bei dem auch Onkel Heinz nicht fehlte. Er war immer glückselig, wenn Ruth im Hause ihrer Mutter als Gast weilte, seine Zuneigung zu ihr blieb sich stets gleich, und auch ihren Gatten verehrte er als großen Künstler.

Ruth von Holten war eine stattliche, schöne Frau in der Vollkraft ihres Lebens. Sie glich sehr ihrer Mutter, als diese jünger war und ehe Schmerz und Kummer ihren Zügen einen sanften wehmütigen Ausdruck verliehen hatten. Ihr Name als Sängerin war auch im Auslande rühmlichst bekannt; überall erregte sie mit ihrer schönen, in vorzüglicher Schule gebildeten Stimme und ihrem warmen Vortrage Aufsehen. Ihr Gatte, ein großer Geigenkünstler, war ihr in den ersten Jahren ihrer Ehe ein guter Lehrmeister gewesen. Wo das geniale Paar sich zeigte, ward es mit Jubel empfangen. Auch Gustav fing an, sich als Klavierspieler einen Namen zu machen. Er war ein stiller, junger Mensch, mit den verträumten Augen seines Vaters. Er freute sich, die Cousinen aus Amerika kennen zu lernen, aber die heitere, schalkhafte Agnes setzte ihn oft in Verlegenheit. Er ging ihr wie auch Irma aus dem Wege, die zwar große Stücke auf ihn hielt, ihn aber häufig mit seinem linkischen Wesen und seiner Schüchternheit jungen Damen gegenüber neckte. Er fühlte sich mehr zu Maud hingezogen, die ruhig und ernst mit ihm sprach, ihn nach seinen Studien fragte und sich nicht allein als Musikfreundin und Kennerin, sondern auch als selbst musikalisch ausgebildet zeigte. Die Mädchen waren begeistert, wenn Tante Ruth, Onkel Heinrich und Gustav im Familienkreise musizierten, vielleicht mit noch mehr Liebe und Hingabe als vor einem großen Publikum. Für die Künstlerfamilie war es eine Erquickung, ein wahres Aufatmen, einmal einige Wochen im Elternhause zu weilen und gleichzeitig die Mutter und den alten Freund der Familie, Onkel Heinz, durch ihr Spiel und ihren Gesang glücklich zu machen. —

„Ich bin ganz verliebt in Tante Ruth,“ erklärte Maud, als die drei Mädchen im Schlafzimmer der Cousinen sich noch über den Abend aussprachen.

Agnes schaute sie verwundert an, denn Maud war eine sehr ruhige Natur, die nicht leicht in Entzückung geriet.

„Ja,“ fuhr sie ungewöhnlich erregt fort, „nicht nur, weil sie eine so schöne Stimme hat, sondern auch, weil sie durch und durch schlicht und einfach ist. Und doch hat sie etwas so Vornehmes, gerade wie Großmama. Every inch a lady.

„Wenn dir das jetzt schon auffällt, dann sollst du Mama erst in Konzerttoilette sehen,“ meinte Irma; „früher trug sie immer weiß, jetzt meist schwarzen oder dunklen Samt. Ich sage dir, sie sieht dann aus wie eine Fürstin.“

„Du mußt eigentlich sehr stolz sein, Irma, als die Tochter von so genialen Eltern. Dein Bruder ist auch sehr talentvoll,“ sagte Maud. „Hast du selbst nie Musikstunden gehabt?“

„Jawohl, als ich klein war, bekam ich Klavierstunden. Wie konnte es anders sein in einer solchen Umgebung? Ich hatte gutes Gehör und würde es wahrscheinlich zu etwas gebracht haben, wäre ich das Kind gewöhnlicher Eltern gewesen; wirkliches Talent besaß ich nicht, und da erklärten Papa und Mama es für besser, wenn ich aufhörte. Dilettanten und Klimperer gäb's in der Musik gerade genug.“

„Hast du dich nie unglücklich gefühlt?“ fragte Maud sanft, „daß du in dieser Hinsicht eigentlich zu kurz gekommen bist? Ich wenigstens würde mich von der Natur für stiefmütterlich behandelt halten, wenn ich solche Eltern, solchen Bruder und selbst keine künstlerischen Anlagen besäße.“

„Ich nicht,“ versetzte Irma lachend und betrachtete ihre schöne, schlanke Gestalt und ihr Engelsköpfchen, von einem Heiligenschein goldblonder Locken umrahmt, mit Wohlgefallen in dem großen Spiegel.

„Du bist freilich sehr hübsch,“ fuhr Maud, über diese Eitelkeit geärgert, fort, „doch Talent zu besitzen ist viel mehr wert.“

„Vielleicht! Aber drei Talente in einer Familie, das ist wirklich genug. Ich würde es als eine schwere Bürde ansehen, wenn ich noch ein viertes vorstellen müßte.“

Agnes lachte. „Was für ein närrisches kleines Mädchen bist du, Irma! Aber sie hat recht, Maud. Es braucht doch nicht jede Frau etwas Besonderes zu sein.“

„Das habe ich auch nicht behauptet; Irma beachtet nur zu wenig, daß jetzt von den Frauen etwas anderes verlangt wird, wie in früheren Zeiten.“

„Ach was,“ rief Irma. „Onkel Heinz würde sagen, die Hauptsache ist bei einer Frau zu allen Zeiten, daß sie anmutig, sanft und lieb ist.“

„Das läßt sich alles vereinigen,“ versetzte Maud so ruhig, als hätte sie den Stich nicht verstanden; „eine geistig hochstehende Frau kann schön, anmutig und lieb sein, das paßt sehr gut zusammen.“

„Na, dann gratulier' ich deinem John, der kriegt ein vollkommenes Wesen,“ fuhr Irma gereizt fort, denn oft konnte sie Mauds etwas pedantische, überlegene Art zu sprechen, nicht ausstehen.

Die Amerikanerin zuckte die Achseln, und Agnes flüsterte Irma zu.

„Nun vergißt du ja Onkel Heinz' Behauptung, daß Liebsein das Anziehendste an einem jungen Mädchen ist.“

Schmollend verzog Irma ihr hübsches Mündchen, dann leuchtete es in ihren Zügen auf, und sie trat zu Maud.

„Ich war unartig,“ sagte sie, ihr die Hand reichend, „sei nur nicht böse.“

Die großen Vergißmeinnichtaugen blickten unschuldig und kindlich in das schmale, dunkle und doch hübsche Antlitz der andern. Maud begriff nicht, warum ihr Tränen in die Augen traten; sie war doch sonst nicht so weichherzig. Plötzlich schlang sie die Arme um Irmas Hals und küßte sie.

„Ich reizte dich,“ flüsterte sie. „Ich glaube, ich möchte dich gar nicht anders haben als du bist.“

Endlich brach der große Tag an, der zu Fritz' und Mariannes Heimkehr bestimmt war. Ilse konnte kaum daran glauben. Einundzwanzig Jahre waren verflossen, seit die blonde Marianne ihrem Manne nach San Franzisko gefolgt war. Ihre Mutter stellte sie sich noch immer vor als das feine, zarte Mädchen, kaum dem Kindesalter entwachsen, und nun kehrte sie heim als Frau und Mutter erwachsener Kinder, von denen die Älteste übers Jahr auch schon in die Ehe treten sollte.

Den ganzen Tag herrschte größte Geschäftigkeit. Schon früh morgens hatte die ganze Familie sich nach dem neuen Hause begeben, wo Herr und Frau Müller empfangen werden sollten. Ein großes Festmahl ward hergerichtet. Maud gab mit gewohnter Ruhe und Sicherheit den neuen Dienstboten ihre Befehle. Tante Ruth, die sich schon als junges Mädchen nie mit dem Haushalt beschäftigt hatte und seit ihrer Verheiratung die ganze Sorge dafür andern überlassen mußte, schaute bewundernd zu, wie Maud in kurzer Zeit ohne Umstände allerlei Dinge beschaffte, wozu sie selbst Stunden gebraucht hätte. Großmutter Ilse war zu aufgeregt, um sich um irgend etwas zu kümmern. Sie, die jetzt meist gleichmäßig ruhig blieb, wanderte rastlos hin und her. Sie lief durch sämtliche Räume, fragte Maud und Agnes hundertmal, ob auch alles in Ordnung sei, und zählte die Stunden, die halben Stunden, zuletzt die Minuten, die noch verlaufen mußten, ehe die Erwarteten eintreffen konnten. Im Garten waren Irma, Agnes und Karl beschäftigt, Lampions und kleine Fähnchen zwischen den Bäumen anzubringen und die letzte Hand an eine Ehrenpforte zu legen, die sie mit Hilfe von Gärtner und Zimmermann errichtet hatten. Sogar der stets so stille und zurückhaltende Gustav, der den Kopf voller Melodien, sich am glücklichsten fühlte, wenn er allein am Flügel in Großmutters Salon bleiben konnte, beteiligte sich an der allgemeinen Geschäftigkeit, stand auf einer Leiter und befestigte zwischen dem dunklen Tannengrün rote und weiße Rosen und bunte Gladiolen.

Ilse hatte an Tante Elisabeth geschrieben und sie gebeten, auch zu kommen. Die Kinder erhoben Einsprache dagegen, und Onkel Heinz behauptete, die alte Essigpflaume werde das ganze Fest und die Freude des Wiedersehens stören, aber Frau Gontrau blieb fest. Die einzige Schwester von Fritz und die rechte Tante der Kinder gehörte zu ihnen, und es wäre nicht mehr als recht und billig, sie einzuladen. Ein allgemeiner Jubelschrei brach los, als eine Absage von der alten Dame kam. Sie schrieb ein sauersüßes Briefchen, in dem zwischen den Zeilen zu lesen stand, daß der Hauptgrund ihr Ärger über die Mädchen war, die, ohne sie um Rat zu fragen oder sich an ihre Bemerkungen zu kehren, das Haus eingerichtet hatten und viel zu beschäftigt gewesen waren, um den Besuch bei der Tante zu wiederholen. Sie wolle die Freude des ersten Beisammenseins nicht stören. Sie begreife, daß man da lieber ganz unter sich sein möchte, und zöge es vor, später zu kommen, wenn man für sie mal einen Moment Zeit hätte &c. &c. Sogar Ilse war nahe daran böse auf dies Geschöpf zu werden, das sich stets zurückgesetzt fühlte und in seiner Unzufriedenheit und Böswilligkeit die besten Absichten falsch auslegte. In ihrem Herzen war sie freilich auch froh, daß Tante Elisabeth nicht kam, aber es tat ihr weh, daß die Kinder sich darüber so außerordentlich freuten, und das einsame Wesen, das sich sein Leben selbst verdarb, erregte ihr höchstes Mitleid.

Es war bestimmt, daß das junge Volk zur Bahn gehen sollte. Ilse wollte Schwiegersohn und Tochter in Gesellschaft Ruths, ihres Mannes und Onkel Heinz' im Hause erwarten. Letzteren rechnete man so ganz zur Familie, daß er nicht fehlen durfte. Mit seiner gewohnten Heftigkeit hatte er sich zuerst dagegen gewehrt. So 'n alter Knaster gehörte bei solcher Gelegenheit nicht dazu; es ginge ihn nichts an, wenn Sohn und Tochter nach so langer Abwesenheit zum ersten Male die Mutter wiedersähen. Als die Kinder kamen, war es etwas andres, jetzt aber müsse er sich schämen, wenn er auch wieder so unbescheiden wäre, seine Nase mit hineinzustecken.

„Unsinn, Onkel Heinz,“ erklärte Ilse, „Mariannes erste Frage würde nach Ihnen sein. Und“ fügte sie leise, nur ihm verständlich hinzu, „nun mein Leo nicht mehr ist, müssen Sie an seiner Stelle sein Kind bewillkommnen, das wissen Sie wohl.“

Da drückte der Professor seiner alten Freundin dankbar die Hand; die Augen wurden ihm feucht, aber um das nicht merken zu lassen, schrie er Karl an, daß die Transparentbuchstaben des „Willkommen“, die über der Ehrenpforte prangten, schief ständen und daß doch nie etwas ordentlich gemacht werde, wenn er sich nicht darum kümmere.

Endlich hielt Ilse ihre blonde Marianne in den Armen, und in ihre Tränen mischte sich Freude über das Wiedersehen und Trauer im Gedanken an den Heimgegangenen.

Onkel Fritz machte, nachdem die erste Rührung vorüber war, fröhlich Bekanntschaft mit seinem Schwager von Holten, seinem Neffen Gustav und seinem Nichtchen Irma und frischte sofort mit Onkel Heinz alte Erinnerungen auf. Die ganze Gesellschaft schritt paarweise durch sämtliche Räume des neuen Hauses, betrachtete und bewunderte alles und vereinigte sich in fröhlichster Stimmung bei der Abendmahlzeit. Beim Nachtisch stiegen die Raketen im Garten prasselnd in die Höhe, und zwischen den dunklen Bäumen glänzten die Lampions. Das Knallen der Champagnerpfropfen erregte lauten Jubel bei der Jugend, Professor Fuchs brachte den schwungvollsten, wärmsten Toast aus, der je über seine Lippen gekommen war, und an diesem Abend gab es in der ganzen Stadt keine glücklicheren Menschen als Großmutter Ilse Gontrau mit ihren Kindern und Enkeln.

Während der ersten Wochen, die auf die Heimkehr der amerikanischen Familie folgten, herrschte in dem sonst so stillen Haushalt der Frau Gontrau fröhliches Leben und Treiben. Sie bestand darauf, ihre Kinder und Großkinder alle Tage zu sehen, und so wurden eine Menge kleiner Familienfeste gefeiert. Zuweilen nahm auch Tante Elisabeth daran teil, aber sie hatte viel zu tadeln und zu nörgeln. Sie stöhnte über Kälte, wenn die andern es vor Hitze kaum aushalten konnten, und war rauhes Wetter, so fand sie es drückend heiß. In spitzem Ton erklärte sie, daß ihr nichts daran gelegen sei, Besuche zu machen oder zu empfangen. Doch kamen die andern ohne sie zusammen, so fühlte sie sich verletzt und beklagte sich bitter, wenn eine Woche verging, ohne daß jemand aus der Familie sie besuchte. Es war schwer mit ihr umzugehen und ohne Zureden der Großmutter, die Mitleid mit ihr hatte und stets bemüht war, Tante Elisabeth freundlicher zu stimmen, würden sich die andern wenig um sie bekümmert haben.

Ein herrlicher Sommertag folgte dem andern und Holtens fingen an, von der Abreise zu reden. Die Zeit, die sie ihrer Familie widmen konnten, nahte dem Ende, und sie mußten nach München, wo sie sich für verschiedene Konzerte und Musikaufführungen verpflichtet hatten. Vor ihrem Scheiden wollte Großmama Gontrau noch gern ein Abschiedsfest geben, doch konnten sie sich nicht recht über die Art desselben einigen. Irma schlug eine „garden-party“ vor. Im Garten sollten lange Tafeln aufgeschlagen und auf dem großen Rasenplatz vor dem Hause gespeist werden. Das Eßzimmer ließe sich leicht ausräumen und in einen Tanzsaal verwandeln. Der Garten müsse am Abend glänzend illuminiert werden. Sie war sogar für ein Kostümfest; welch herrliche Wirkung würde das im Grünen mit den Papierlaternen und tausend kleinen Lämpchen machen.

Die andern aber lachten sie gründlich aus. Onkel Heinz fragte, wo die Herren wohl herkommen sollten? Außer Gustav und dem kleinen Karl gab es keine jungen Leute; er neckte sie so mit ihrem schönen Plan, daß sie sich erst beschämt zur Großmama setzte und dann ganz bös erklärte, Onkel Heinz solle etwas besseres vorschlagen.

„Ich schlage vor, daß wir gar nichts unternehmen. Wir haben in der letzten Zeit nichts getan als Feste gefeiert und gut gegessen. Ich meine, nun könnten wir wohl Schluß machen.“

Aber gegen diese Meinung erhob sich ein wahrer Sturm der Entrüstung von seiten des jungen Volkes. Onkel Heinz wurde von den Mädchen so in die Enge getrieben, daß er sich schließlich schuldig bekannte und untertänig gelobte, an jeder Festlichkeit teilzunehmen, wie verrückt sie auch sein möchte.

„Hört mal,“ nahm Ilse das Wort, „ich habe einen Plan. Aber erst muß ich euch erzählen, daß ich gestern einen Brief von meiner Jugendfreundin Flora Werner erhielt. Ruth, Marianne, erinnert ihr euch noch ihrer beiden Töchter Thusnelda und Hildegard?“

„Ja, Mama,“ versetzte Marianne. „Mir ist, Thusnelda hätte sich verlobt, als Fritz und ich nach San Franzisko abreisten.“

„Du hast ganz recht, sie war damals mit einem Kaufmann verlobt, ist aber nun schon seit zehn Jahren Witwe. Auch der alte Herr Werner ist gestorben, und Flora lebt bei ihrer Tochter.“

„Und Hildegard?“

„Die ist in Indien. Thusnelda hat drei Kinder, ihr ältester Sohn ist Offizier, der zweite Ingenieur, bewirtschaftet aber gegenwärtig die ausgedehnten Landgüter, die sein Großvater hinterließ; dann ist noch eine Tochter da in deinem Alter, Agnes.“

„Aber was hat das alles mit unsrem Fest zu schaffen, Großmama?“

„Wartet nur. Flora Werner schrieb mir, daß ihre beiden Großsöhne mit der Schwester einen Ausflug in unsere Gegend machen würden, und sie fragt an, ob unser Haus ihnen für einige Tage offen stünde. Da dachte ich, wenn ihr die beiden jungen Leute aufnehmen wolltet, Marianne, und das Mädchen bei uns wohnte, dann würden sie unser Fest verherrlichen können.“

„Das ist eine gute Idee, Mama,“ meinte Marianne. Ihr Mann fing sofort an, Irma und Agnes zu necken mit der wundervollen Aussicht, einen Leutnant in ihrer Gesellschaft zu haben.

„Paßt nur auf,“ spottete Onkel Heinz, „was geschieht, wenn er einer von euch besonders den Hof macht! Dann kratzt ihr euch gegenseitig die Augen aus.“

Natürlich hatten die beiden Herren für ihre Neckereien zu büßen und mußten klein beigeben. Nachdem wieder Ruhe eingetreten war, fuhr Großmutter Ilse fort:

„Ich würde es nun sehr nett finden, eine Landpartie zu unternehmen. Wenn wir z. B. nach dem Wasserfall führen und dort im Wirtshaus speisten. Wir könnten morgens früh abfahren, nach der Abtei gehen und spät abend heimkehren. Ich bin seit Jahren nicht dort gewesen, und die Aussicht, einen ganzen Tag in der wildromantischen Natur zu verleben, lockt mich sehr.“

„Ja, ja, Frau Ilse, Sie haben solch abenteuerliche Touren immer geliebt,“ scherzte der Professor. „Ich erinnere mich noch, daß Sie uns mal im Mondenschein auf den Schneekopf schleppten.“

„Das war in der guten alten Zeit,“ entgegnete sie gedankenvoll, „es war herrlich damals mit Leo und meiner lieben Nellie.“

Irma, Agnes und der kleine Karl waren in Jubel ausgebrochen über diesen köstlichen Plan. Auch Gustav und Maud fanden die Idee sehr hübsch, wenn sie auch ihren Beifall weniger lebhaft äußerten.

„Wir müssen in geschmückten Wagen fahren, Großmama,“ schlug Irma vor, „lauter Landauer zu vier Personen.“

„Nein, nein, ein paar große Kremser, das ist gemütlicher.“

„Wie viele sind wir denn?“ zählte die Kleine. „Tante Marianne und Onkel Fritz; ihr drei Kinder, Großmama, Papa, Mama, Gustav und ich, Onkel Heinz, die drei Gäste, das macht vierzehn Personen.“

„Und Tante Elisabeth?“

„Nein, ach bitte, die nicht,“ riefen die Kinder. „Wenn die mitkommt, geht alles schief. Du wirst sehen, dann haben wir schlechtes Wetter und es passiert ein Unglück.“

„Welcher Unsinn! Ihr braucht euch nicht um sie zu kümmern. Onkel Heinz wird bei dieser Gelegenheit ihr Kavalier sein, nicht wahr?“

„Besten Dank,“ seufzte der Professor erschreckt; „das Frauenzimmer hat ein Gesicht, als ob sie beständig in eine Zitrone beißen würde; da kommen einem ja die Tränen in die Augen.“

Alle lachten, Frau Gontrau erklärte aber in entschiedenem Tone:

„Ich gebe die Landpartie und habe daher das Recht einzuladen, wen ich will. Tante Elisabeth kommt mit.“

Wenn Großmutter Ilse so energisch sprach, ließ sich kein Widerspruch hören. Ruth und Marianne gaben den Kindern einen Wink zu schweigen. Es wurde nicht mehr über Fräulein Müller gesprochen und alles, was auf die Landpartie Bezug hatte, weiter beraten.

Einige Tage darauf kamen die jungen Gäste an. Flora Werners ältester Großsohn, Ludwig Reicher, war ein schneidiger Offizier. Sein hübsches Gesicht mit dem keck aufgedrehten Schnurrbart hatte einen angenehmen Ausdruck. Es zeigte sich indessen bald, daß er nicht wenig von sich eingenommen war, und noch hatte Onkel Heinz keine Stunde in seiner Gesellschaft zugebracht, da nannte er ihn in Gegenwart der jungen Mädchen schon einen Affen in Uniform; diese aber erwiderten, daß man es dem alten Brummbären nie recht machen könne, und alle erklärten einmütig den Leutnant für einen sehr netten Menschen mit feinen Manieren, der sich höchst vorteilhaft einführte. Der zweite Bruder, Hans, war ganz anders. Kurz und breit von Gestalt, stach er gewaltig gegen den schlanken, zierlichen Leutnant ab. Sein Antlitz, mit der gebräunten Farbe, den grauen Augen, dem großen Munde und der gebogenen Nase war eher häßlich zu nennen; einem erfahreneren, scharfblickenden Auge aber erschien es viel intelligenter als das Antlitz des schönen Ludwig. Wenn dieser sprach, schwieg Hans meistens; er ließ sich von seinem Bruder völlig in den Schatten stellen, und in gewisser Hinsicht war ihm das sogar angenehm; denn er zeigte sich sehr verlegen und wurde zum großen Gaudium, besonders der Amerikanerinnen, bis über die Ohren rot, wenn jemand ihn unverhofft anredete. Vorzugsweise war das der Fall, wenn Irma die großen blauen Augen zu ihm aufschlug; und da das kleine, eitle Ding sofort merkte, daß es ihn in Verlegenheit setzte, machte es ausgiebig Gebrauch davon, um hinterher mit Agnes herzlich über „den Bauer“ zu lachen. Die Jüngste, nach ihrer Großmutter Flora getauft, war eine einfache, liebliche Erscheinung mit blonden Zöpfen, auch wohl ein wenig schüchtern und verlegen, aber so sanft und gretchenhaft in ihrem ganzen Wesen, daß jeder sich gleich zu ihr hingezogen fühlte.

Das innige Zusammenleben von Frau Gontrau und ihren Kindern und Enkeln dehnte sich auch auf die Gäste aus, die sich bald ganz wie zu Hause fühlten. Als der Tag der Landpartie anbrach, ging der Leutnant Ludwig mit den amerikanischen Mädchen schon ganz kameradschaftlich um und flirtete lebhaft mit Agnes, was Irma ein klein wenig ärgerte. Hans wagte ganz schüchtern der bezaubernden kleinen Holten einige Komplimente zu machen, und Flora lauschte, Tränen in den Augen, dem Klavierspiel Gustavs, zu dem sie mit großer Bewunderung und Ehrerbietung emporschaute.

Karl hatte an dem wichtigen Tage keine Ruhe. Schon ganz früh tobte er durch das Haus, lief von Zimmer zu Zimmer und klopfte an jede Tür, um seinen Eltern, seinen Schwestern und den beiden Reichers zuzurufen, daß das Wetter schön sei. Die Sonne strahlte hell und warm vom wolkenlosen Himmel herab, und es war ein solcher Überfluß von Duft, Licht und Farbenpracht in der Natur, daß jedes Herz freudig gestimmt wurde.

Als Fritz und Marianne mit ihren Kindern und den beiden Gästen zu Frau Gontrau kamen, fanden sie die ganze Familie schon im Garten versammelt. Großmutter Ilse war, wie immer, schwarz gekleidet, aber mit einem so hübschen Hut auf dem krausen, schlohweißen Haar, daß Agnes, sie umarmend, erklärte, Großmama sei die schönste alte Dame, die sie kenne. Onkel Heinz bemühte sich nach Kräften, ein recht grimmiges Gesicht zu machen, schaute aber doch mit vor Lebenslust funkelnden Augen unter seinem breitrandigen Schlapphut auf all die fröhlichen Menschen. Tante Elisabeth, trotz der Hitze in einem braunwollenen Kleide, einen großen Regenschirm in den Händen, prophezeite, daß die Witterung sich ändern werde. Ruth und ihr Mann mit ihrem eigenartig künstlerischen und eleganten Äußern, durch das sie überall und jederzeit auffielen, verlachten ihre Befürchtungen. Gustav, der sich mit Flora etwas abseits hielt, erzählte dieser, wie schwer es ihm fiele, einen ganzen Tag auf sein Klavierspiel zu verzichten. Irma sah so bezaubernd aus in einem weißen Mullkleidchen mit hellblau verziert, daß Hans gar nichts zu sagen wußte, Ludwig sie bewundernd anschaute und ihr eitles Herzchen vor Stolz hoch aufschwoll.

Nun fuhren die Wagen vor; zwei bequeme, wenn auch altmodische Fahrzeuge, die aber jetzt elegant und malerisch aussahen, so reich hatte das junge Volk sie mit Blumengewinden und Tannenguirlanden geschmückt.

Das war ein Leben! Großmutter Ilse und Tante Elisabeth wurden zuerst hineingehoben; letztere erkundigte sich mehrmals, ob die Pferde auch nicht wild seien, und versicherte, daß sie sich eigentlich gar nichts aus Spazierfahrten mache. Mit einem wahren Märtyrergesicht wollte Onkel Heinz zwischen den beiden Damen Platz nehmen, als Agnes und Ludwig erklärten, daß er zu den jungen Leuten gehöre.

„Ich? Seid ihr denn ganz verrückt?“ rief er scheinbar wütend aus; „was wollt ihr mit so 'nem alten Querkopf anfangen?“

Irma aber warf ihm lachend einen in der Eile geflochtenen Kranz von Eichenblättern über den Hut und sagte:

„Siehst du, Onkel, wenn wir nun noch einen Esel hätten, könntest du gut als Silen gehen. Wir Mädchen sind die Nymphen, die jungen Leute Faune, bis auf Hans, der hat die prächtigste Gestalt für Gott Bacchus selbst.“

Alle lachten. Hans wurde rot, besiegte aber seine Verlegenheit und rief:

„Wenn ich Bacchus vorstellen soll, hab' ich als Gott zu befehlen, und dann will ich mit Ihnen allein auf der vordersten Bank sitzen, Irma.“

„Bravo,“ jubelte Ludwig, und unter allgemeinem Scherzen erkletterten die jungen Leute den vordersten Wagen. Professor Fuchs wurde in die Mitte genommen. Ruth und Marianne mit ihren Männern kamen natürlich zu Großmama und Tante Elisabeth. Auch Gustav zog es vor, bei den älteren Leuten zu sitzen; die lebhafte jugendliche Schar war ihm zu lärmend, und Floras Herz klopfte vor Freude, als er ihr erklärte, neben ihm sei noch ein Plätzchen für sie frei.

So rasch wie möglich ging es zur Stadt hinaus, um Aufsehen zu vermeiden. Dann mäßigte die Steigung der bergan führenden Chaussee die Schnelligkeit der Fahrt. Wurde der Weg zu steil, so stiegen die Kutscher ab und schritten, die Zügel in der Hand, neben den Wagen her. Manchmal gingen auch die Herren ein Stück Wegs zu Fuß, und dann blieben die Damen mit Onkel Heinz, dem das ewige Aus- und Einsteigen zu mühsam war, sitzen. Zu beiden Seiten der Straße dehnten sich dichte, endlose Wälder; als etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt war, ersuchte der Kutscher des vordersten Wagens, ein dicker gemütlicher Schwätzer, die ganze Gesellschaft auszusteigen, um die weit und breit berühmte Aussicht zu bewundern.

„Ich rühre mich nicht vom Fleck,“ erklärte Fräulein Müller. Die Übrigen folgten gern der Aufforderung und meinten, es täte nach dem langen Sitzen gut, sich mal die Beine zu vertreten. „Was habt ihr denn von so 'ner Aussicht; es ist doch immer dasselbe, und eine ist genau so wie die andre,“ murrte das alte Fräulein.

Selbst Großmutter Ilse zuckte ungeduldig die Achseln, als sie sich am Arm ihres ältesten Schwiegersohnes auf den Felsvorsprung begab, um die herrliche Aussicht zu bewundern.

Tief unten lag, wie ein ovaler Silberspiegel, ein kleiner See inmitten eines fruchtbaren Tales. Ab und zu ertönten die Glocken der Herden wie eine wohllautende, aus weiter Ferne herüberklingende Musik, und auf den umliegenden Bergen grasten friedlich schwarz- und weißgefleckte und rotscheckige Kühe. Soweit das Auge reichte, waren die Felsen mit Schlingpflanzen und Farnen wie mit Mänteln überhangen, zwischen denen schneeweiße und goldgelbe Blütendolden hervorschimmerten. Wunderbar strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab und tauchte die reiche, üppige Landschaft in glühende Farben.

Die ausgelassene Heiterkeit verstummte, selbst laute Bewunderung hätte störend gewirkt. Ärgerlich schaute Gustav Irma an, als sie Hans scherzend fragte, ob er einen senkrecht steilen Felsen in ihrer Nähe erklettern und ihr die blauen und weißen Blumen pflücken wolle, die sich um die Spitze schlangen.

„Seien Sie praktisch und stellen Sie erst im voraus Ihre Bedingungen, was Sie dafür haben wollen,“ rief Maud lachend, während Hans mit zweifelnder Miene hinaufschaute und dann eingestand, daß ihm seine gesunden Gliedmaßen doch zu lieb seien, um sie bei einem solchen Wagestück aufs Spiel zu setzen.

Dadurch war der Zauber gebrochen. Ruth von Holten wischte sich eine Träne aus den Augen und tippte ihrem Manne auf die Schulter, der träumerisch in die Ferne blickte und wie aus tiefem Sinnen auffuhr, als er sah, daß die andern sich wieder nach den Wagen begaben.

Tante Elisabeth hatte sich unterdessen damit die Zeit vertrieben, daß sie in dem unter dem Sitze stehenden Korbe herumschnüffelte, einen Sack mit glasierten Früchten herausholte und sich daran labte. Als der kleine Karl, der vorausgelaufen war, wie eine Katze über die Bänke des Wagens sprang, schrie er laut:

„Schnell, Großmama, Tante Elisabeth nascht aus deinem Korbe!“

Fräulein Müller erschrak so heftig, daß sie den Sack fallen ließ; die leckeren Früchte würden sicher auf den Boden gerollt sein, wenn Agnes nicht herbeigeeilt wäre und das Unglück noch rechtzeitig verhütet hätte.

Tantes dürre Finger krümmten sich, und da Karls Haupt sich gerade in ihrem Bereich befand, griff sie in seine Locken und schüttelte ihn tüchtig hin und her.

„Laß mich los,“ rief der Junge, alle Höflichkeit vergessend. „Bist du verrückt geworden, Tante? Ich hab' nicht genascht, sondern du!“

Die ganze Gesellschaft war jetzt herangekommen. Karl befreite sich mit einem Ruck und wollte mit feuerrotem Gesicht und einem drohend nach der alten Dame ausgestreckten Finger verkündigen, was sich zugetragen hatte, als Großmutter Ilse ihm zuvorkam. Mit einem einzigen Blick begriff sie alles und sagte ruhig:

„Das ist auch wahr. Tante Elisabeth erinnert mich daran, daß ich noch eine kleine Erfrischung für unterwegs mitgenommen habe. Reiche sie herum, Agnes.“

Alle schmunzelten verstohlen, schauten sich verständnisvoll an, wagten aber keine Bemerkung zu machen. Agnes prustete los, als sie mit dem Sack zur Tante kam und diese schroff und giftig dankte. Onkel Heinz und Irma lachten laut auf. Böse und neidisch wie eine Spinne, zog sich die alte Jungfer in ihr Eckchen zurück und machte ein Gesicht, als sei ihr das größte Unrecht von der Welt geschehen.

Langsam ging die Fahrt nun wieder bergan, aber die jungen Leute wurden jetzt ungeduldig. Das einförmige Schrittfahren langweilte sie; sie sehnten sich, den Bestimmungsort zu erreichen. Endlich verengte sich die Fahrstraße und einige große Holzgebäude wurden sichtbar. Das waren die Stallungen der Wirtschaft, die ungefähr noch eine Viertelstunde entfernt lag. Hier hatte das Fahren ein Ende, es wurde ausgespannt und die Gesellschaft machte sich zu Fuß auf den Weg.

In der Ferne hörte man schon das Rauschen des Wasserfalls, der das Wirtshaus und seine Lage berühmt gemacht hatte. Bald wurde der Pfad so schmal, daß nur einer hinter dem andern hergehen konnte. Der Professor erbot sich, den Zug anzuführen, er kannte den Weg und sagte, er sei gefährlich. Nun wollte Tante Elisabeth zurückbleiben, sie sei zum Vergnügen mitgekommen und hielte es für eine Sünde, sich Gefahren auszusetzen.

„Unsinn,“ erklärte Frau Gontrau, „Onkel Heinz will uns nur necken; gehen Sie hinter mir her, Elisabeth, und seien Sie nicht bange, es ist nicht schwierig.“

Ängstlich, mit kleinen, vorsichtigen Schrittchen folgte die Tante; sie hielt sich zu Karls unaussprechlichem Gaudium an Ilses Kleid fest, was der Junge gleich nachmachte, indem er die Tante bei den Röcken packte. Dies Beispiel wirkte ansteckend; die jungen Leute faßten einander am Rock oder Kleid, und so ging es im Gänsemarsch in Schlangenwindungen vorwärts. Immer schmäler wurde der Pfad; er führte durch eine tiefe Schlucht. Rechts und links erhoben sich hohe Felswände, von Tannen, Fichten und Buchen gekrönt und mit Moos und Ginsterbüschen über und über bedeckt.

„Wie unheimlich,“ meinte Fräulein Müller. „Karl, laß mich los; du zerreißt mir mein Kleid. So laß doch los.“

„Wenn wir fallen, liegst du zu unterst, Tante,“ schrie ihr Plagegeist mit lauter Stimme, um das Rauschen des Wasserfalls zu übertönen, das immer gewaltiger klang und bald in ein ohrenbetäubendes Brausen überging.

Plötzlich ward der Weg breiter, der Professor bog um eine Ecke und blieb auf einem großen Felsblock stehen. Die lebende Guirlande verteilte sich und drängte sich auf dem engen Raume zusammen. Die jungen Leute lachten, die Mädchen kicherten, Fräulein Müller stand Todesängste aus, daß sie herunterstürzen könnte, obschon der ganze Aussichtspunkt mit einem Geländer von rohen Baumstämmen umgeben war. Karl und Irma drängten sie immer mehr nach vorne; Elisabeths entrüstete Ausrufe übertönte das donnerähnliche Brausen des Wasserfalls.

Endlich hatte jeder einen bequemen Platz und Stützpunkt gefunden und gab sich mit Andacht dem großartigen Naturschauspiel hin. In gewaltigen Massen stürzte das Wasser in die Tiefe, zum Teil über einen steilen Abhang strömend und sich bei jeder vorstehenden Felsspitze in tausend Strahlen verteilend, die zusammen einen unsagbar schönen Fächer von Silberschaum bildeten.

Atemlos standen alle und staunten und konnten sich von dem Anblick des prächtigen Falles nicht trennen, bis Onkel Heinz endlich mit Stentorstimme ein „Vorwärts!“ kommandierte und vorsichtig eine in den Felsen gehauene Treppe hinabstieg, die direkt zu dem freundlichen Wirtshaus führte. Es lag mitten im Walde, von hohen Fichtenstämmen umgeben, aus denen in geringer Entfernung die malerischen Türme der alten Abtei hervorragten.

Im Garten des Wirtshauses herrschte reges Treiben. Es war noch in der Ferienzeit; eine Menge Fremder sowie Bewohner der umliegenden Ortschaften hatte gleichfalls das schöne Wetter herausgelockt, um dem Wasserfall und der Abtei einen Besuch abzustatten. Viele Studenten mit farbigen Mützen und weißen Beinkleidern bildeten fröhliche Gruppen.

Alle Stühle waren besetzt, und die Gäste, die weder an den Tischen noch auf den Bänken Platz gefunden, wanderten unruhig auf und ab. Etwas verstimmt schaute sich unsre Gesellschaft um; es war nicht verlockend, bei diesem herrlichen Wetter drinnen im Saale zu speisen, aber es schien nichts andres übrig zu bleiben. Mittlerweile hatten die jungen Mädchen Aufmerksamkeit erregt; Irma und Agnes standen in der Nähe einer Gruppe von Studenten, die sich mit den Augen zuwinkten und einander anstießen. Plötzlich erhob sich einer von ihnen, nahm die kleine Cerevismütze von dem pechschwarzen Kraushaar, näherte sich dem Professor und fragte höflich:

„Ich habe doch die Ehre, Herrn Professor Fuchs zu sprechen?“

Der alte Herr schaute ihn durchdringend an.

„Ich glaube, ich kenne Sie, junger Mann, kann Sie aber nicht unterbringen.“

„Von Hochstein,“ stellte sich der Student vor, indem er dem ganzen Kreise seine Verbeugung machte. „Ich gehöre noch zu Ihren ehemaligen Schülern, Herr Professor. Darf ich Ihnen und Ihrer Gesellschaft unsern Platz anbieten? Wir sind fertig, unsre Tafel kann schnell abgeräumt werden.“

Mit einer höflichen Verbeugung auf die Dankesbezeugungen der Gesellschaft antwortend, rief er einige Kellner und erteilte ihnen seine Befehle. Sie waren so dienstbeflissen, als ob er eine bekannte und einflußreiche Persönlichkeit wäre.

Dann winkte er einem in der Nähe sitzenden Blumenmädchen und kaufte die schönsten Rosen aus ihrem Körbchen. Mit vollendeter Ritterlichkeit näherte er sich Maud und Agnes und überreichte ihnen ein paar Sträußchen, welche die amerikanischen Mädchen ohne die geringste Verlegenheit freundlich dankend annahmen und in den Gürtel steckten. Flora erhielt ein Sträußchen Vergißmeinnicht und Heliotrop, worüber sie bis über die Ohren errötete; endlich trat er zu Irma und reichte ihr zwei prachtvolle La France-Rosen.

„Sollten Sie die Blumen auch nachher fortwerfen, ich würde mich doch für den glücklichsten der Sterblichen halten, wenn Ihre Hände sie nur einmal berührten,“ flüsterte er leise.

Irma fühlte, daß sie rot wurde, aber sie zwang sich aufzuschauen und blickte in ein paar schwarze, schmelzende und doch kecke Augen. Das schöne Gesicht mit seinen feinen, aristokratischen Zügen wäre ohne den gewaltigen Schmiß auf der rechten Wange vielleicht etwas weibisch erschienen. Sie schlug verwirrt die blauen Augen nieder und nahm die Rosen mit ein paar gestammelten Dankesworten.

Er schwenkte sein Cerevis, als ob es ein Marschallshut mit wallendem Federbusch wäre, verbeugte sich fast bis zur Erde und entfernte sich mit seinen Kommilitonen.

„Wer war das, Onkel Heinz?“ fragte Ruth.

„Jetzt erinnere ich mich, er war mein Schüler und benahm sich immer ein bißchen verdreht. Er ist ein Baron von Hochstein, der zum ältesten Adel des Landes gehört.“

„Er ist ein Geck,“ brach Hans Reicher los, „und ihr,“ fuhr er entrüstet zu den Mädchen fort, „solltet euch schämen, Blumen von jemand anzunehmen, der euch total unbekannt ist.“

Maud erwiderte ruhig, sie sehe kein Unrecht darin, eine Höflichkeit anzunehmen, die im Beisein der Eltern und der ganzen Familie erwiesen werde.

Irma schaute Hans lachend an, roch an ihren Rosen und befestigte sie sorgfältig in ihrem Gürtel. Ruth näherte sich ihr und flüsterte tadelnd:

„Du mußt nicht so kokett sein, Irma, mein Kind.“

„O, es ist doch nur Hans,“ versetzte sie, während sie sich mit einem strahlenden Lächeln auf dem reizenden Gesichtchen zu Agnes gesellte. Ruth warf einen mitleidigen Blick auf den jungen Mann.

Die Gesellschaft nahm an den inzwischen gedeckten Tafeln Platz und tat sich gütlich an den schmackhaft bereiteten Speisen und dem Rheinwein, der in zierlichen, goldglänzenden Römern perlte.

Nach dem Essen gingen Ruth und ihr Mann noch einmal zu dem Wasserfall, um das großartige Schauspiel in aller Stille zusammen zu genießen. Fritz und Marianne wanderten mit Maud ein Stück in den Wald. Ilse sehnte sich, nun die lebhafte Mittagsstunde vorüber und es im Garten fast leer geworden war, still unter dem Laubwerk der hohen Bäume zu ruhen und Onkel Heinz teilte ihren Wunsch. Tante Elisabeth suchte sich im Hause ein bequemes Sofa, wo sie ihr Mittagsschläfchen halten konnte. Das junge Volk beschloß, der Abtei einen Besuch abzustatten.

Ludwig und Agnes gingen voraus. Der Pfad durch den Wald war nicht sehr eben, hier und da sogar recht ungebahnt. Es dauerte denn auch nicht lange, so bot der junge Leutnant seiner Dame den Arm. An einer Stelle, wo große, knorrige Wurzeln und ein ganzer Baumstamm den Weg sperrten, legte er den Arm um die Taille des jungen Mädchens und half ihr über die Hindernisse hinweg. Irma folgte mit Hans, behielt aber Karl an ihrer Seite und nahm keine Notiz von ihrem Anbeter. Des Morgens im Wagen war sie ganz freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn zwar geneckt, sich jedoch seine etwas ungeschickten, aber gut gemeinten Huldigungen gern gefallen lassen. Nun würdigte sie ihn kaum einer Antwort, beschäftigte sich nur mit Karl und sprang ausgelassen mit diesem über die Baumwurzeln. Hans seufzte. Vom ersten Augenblick an, als er in Irmas strahlende Augen geschaut, hatte das verwöhnte, von allen verhätschelte Kind sein Herz im Sturm erobert. Er kämpfte dagegen, sagte sich, daß es eine Torheit sei, sich so plötzlich zu verlieben, aber trotz seiner ernsten Natur konnte er nicht anders. Er fühlte, daß er Irma wahrhaft liebte und daß es keine Tändelei, sondern eine ernste, tiefe Zuneigung war, die unzerstörbar in seinem Herzen lebte. Daher tat es ihm weh, sie jetzt so launisch und flatterhaft zu sehen. Ein bitteres Gefühl bemächtigte sich seiner bei dem Gedanken an den glänzenden Studenten, der Irma erröten gemacht und den sie mit einem Blick angesehen hatte, wie ihn, Hans, noch keiner getroffen, auch wohl nie einer treffen würde. Trotz seiner Verliebtheit aber war er kein Narr; er bewahrte seine Würde und ließ Irma ganz unbehelligt.

Er wollte sich Flora und Gustav anschließen, die den Nachtrab bildeten. Doch auch ihnen schien seine Gesellschaft nicht erwünscht zu sein. Der sonst so verträumte Gustav warf ihm einen unzufriedenen Blick zu, und endlich bat ihn Flora, ob er nicht nach dem Wirtshause gehen und ihren vergessenen Spitzenshawl holen möchte. Sie fände es kalt und wolle ihn dort mit Gustav auf jener Bank erwarten. Gutmütig erfüllte Hans ihren Wunsch, aber als er mit dem Shawl zurückkam, fand er das junge Paar nicht mehr; er nahm auf dem aus unbehauenen Stämmen errichteten Sitze Platz und verlor sich in Betrachtungen über die Torheit verliebter Leute.

In der Zwischenzeit hatten die Übrigen die Ruine des ehemaligen Klosters erreicht und schweiften zwischen den Mauerresten, Treppen, Spitzbogen und Gewölben umher. Durch die Öffnungen und Spalten, durch die klaffenden Risse blickten überall der wolkenlos blaue Himmel und die dunklen Wälder herein. Die grauen, von der Zeit geschwärzten Mauern waren ganz mit Efeu, Schlingpflanzen und wilden Blumen bewachsen; hier und da erhoben sich zwischen den moosbedeckten Steinen einige kleine Fichten- und Tannenbäumchen. Im Grase verstreut lagen noch einzelne Grabsteine, deren Inschriften der Zahn der Zeit fast verwischt hatte; einige freilich waren noch lesbar und trugen die Namen längst verstorbener Mönche und Abte. Totenstille herrschte, und die ganze Umgebung atmete die Romantik des Verfalls und zeugte von vergangener Größe. Sogar Irma fühlte sich davon bewegt; ruhig setzte sie sich in die Nische eines verwitterten Bogenfensters und schaute träumerisch vor sich hin. Karl, zu lebhaft, um still zu sitzen, hatte ein paar Eichhörnchen entdeckt, deren lustige, flinke Sprünge ihn tiefer in den Wald lockten; die andern beiden Paare wählten sich auch ein ihnen zusagendes Ruheplätzchen, und so war Irma allein. Sie bot ein entzückendes Bild, von der Fensternische wie von einem breiten Rahmen umgeben. Sie nahm die Rosen aus ihrem Gürtel und atmete ihren süßen Duft ein, dann, einer plötzlichen Aufwallung nachgebend, drückte sie ihre Lippen auf die feinen Blättchen. In demselben Augenblick hörte sie einen raschen Schritt, fühlte sie, wie das Blut ihr in die Wangen schoß und Baron von Hochstein stand vor ihr.

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Er tat, als habe er nichts gesehen, grüßte höchst ehrerbietig, schien erst vorüberschreiten zu wollen und blieb dann plötzlich stehen.

„Hat die romantische Schönheit dieses Ortes Sie auch verlockt, hier etwas zu ruhen, gnädiges Fräulein?“ fragte er.

„Ja, mein Herr,“ stammelte Irma verlegen; gleichzeitig erhob sie sich, um weiter zu gehen.

„Ich bitte Sie,“ rief er erschrocken, „lassen Sie sich durch mich doch nicht stören. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich die Ursache wäre, daß Sie dies herrliche Fleckchen Erde verließen. Soll ich gehen?“

Sie überwand ihre Schüchternheit und sah ihn an. Auf seinem Antlitz las sie eine so unverhohlene Bewunderung, daß ihr der Mut wuchs.

„Dies Reich gehört mir nicht,“ entgegnete sie lächelnd, „folglich habe ich nichts zu befehlen.“

„Dann darf ich also einen Moment verweilen? Kommen Sie oft hierher?“

„Nein, im vorigen Jahr machten wir zuletzt die Fahrt. Es ist von F. immer eine ganze Reise nach hier.“

„Sie wohnen in F.?“

„Ja, bei meiner Großmutter.“

„Welch ein Glück!“

„Warum?“

„Weil F. kaum zwanzig Minuten mit der Eisenbahn von unserer Universität I. entfernt ist.“

Wieder wurde Irma rot. „Es wird Zeit, daß ich meine Gesellschaft aufsuche,“ sagte sie, sich erhebend, „Karl, wo bist du?“ rief sie laut.

„La, la, la, la,“ ließ sich die lachende Jungenstimme aus der Ferne vernehmen. Mit einer Verbeugung verabschiedete sie sich und schritt dem Knaben entgegen, bevor er merkte, daß sie nicht allein gewesen war.

Ludwig und Agnes ließen nicht lange auf sich warten. Als letztere Irma sah, flog sie ihr ausgelassen entgegen.

„Wo hast du gesessen?“ fragte sie. „Wir haben dich überall gesucht.“

„Wer's glaubt!“ lautete die scherzende Antwort. „Ihr überlaßt mich ruhig meinem Schicksal.“

„Ich glaubte, Hans sei bei Ihnen,“ entschuldigte sich Ludwig.

„Hans!“ Irma lachte laut auf. „Nein, der hat mich auch im Stich gelassen.“

„Sicher nicht freiwillig,“ meinte Agnes. „Armer Hans.“ Sie schob ihren Arm durch den ihrer Cousine und flüsterte:

„Liebling, ich bin so unendlich glücklich.“

Irma wußte selbst nicht, warum ihr eignes Herzchen so heftig klopfte, warum ihr so leicht, so selig zu Mute war. Doch nur um Agnes willen, dachte sie.

„Hat .... hat Ludwig sich erklärt?“ fragte sie leise.

„O Irma, ich glaube wirklich, er liebt mich,“ versetzte Agnes, und ihr heiteres Gesichtchen war eitel Sonnenschein.

Zu weiteren vertraulichen Mitteilungen blieb keine Zeit, denn Gustav und Flora tauchten eben auf. Der jugendliche Künstler sah sehr ernst aus; er ging Hand in Hand mit Flora und schien es nicht zu bemerken, daß die andern sich vielsagend anschauten.

Gemeinsam kehrten sie nach dem Wirtshause zurück. Im Stillen wunderte sich Irma, daß Agnes so heiter war und tat, als sei nichts vorgefallen. Und doch war ihr etwas ganz Besonderes widerfahren. Ludwig hatte ihr seine Liebe erklärt. Irma blickte den Leutnant von der Seite an. Wie hatte sie ihn nur jemals hübsch finden können! Nein, er war gar nicht hübsch, wenn sie ihn mit dem Baron von Hochstein verglich.

Im Garten fanden sie die ganze Gesellschaft beisammen. Onkel Heinz und Hans waren an einem abgesonderten Tisch mit der Bereitung einer Riesenbowle beschäftigt. Verschiedene Flaschen Rheinwein, ein paar Flaschen Champagner, Teller mit Erdbeeren, Pfirsichen und andern Früchten, standen vor ihnen. Die Damen umringten den Professor und wollten ihm einige Anweisungen geben, er aber erklärte, er sei stets wegen seiner Bowlen berühmt gewesen und könne ohne Hilfe fertig werden. Trinken dürften sie davon, um die Zubereitung brauchten sie sich aber nicht zu kümmern. Tante Elisabeth sagte mit saurer Miene, daß sie es ganz unpassend fände, wenn junge Leute so viel tränken, worauf ihr Bruder Fritz lachend erwiderte, sie habe ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht, wenn sie annähme, daß sie allein etwas davon bekäme.

Am andern Ende des Gartens saßen die Studenten. Irma konnte nicht anders; sie mußte dann und wann verstohlen hinsehen, und ihr Herz begann ungestümer zu schlagen, als sie Hochstein aufstehen und von einigen seiner Kommilitonen gefolgt auf sie zutreten sah.

Er näherte sich Frau Gontrau, verbeugte sich ehrfurchtsvoll und begann:

„Haben Sie etwas dagegen, gnädige Frau, wenn wir die jungen Damen und Herren Ihrer Gesellschaft einladen, an einem improvisierten Balle teilzunehmen?“

Aus dem Speisesaal des Hauses erklangen heitere Tanzweisen, und beim Schein der mittlerweile angezündeten Lampen drehten sich verschiedene Paare fröhlich im Kreise.

„Habt ihr Lust, Kinder?“ fragte Ilse freundlich.

„Ach ja, Großmama!“ rief daß junge Volk entzückt. Selbst Floras Augen glänzten, aber sie schlug sie nieder und fragte Gustav sittsam, ob er gern tanze.

Nachdem die gegenseitigen Vorstellungen stattgefunden, bot Baron Hochstein Irma den Arm, und die junge, fröhliche Schar wollte sich entfernen, als der Professor rief:

„Das ist alles gut und schön, aber nach dem Tanze kommen Sie her, meiner Bowle Ehre zu erweisen, ich lade die Herren Studenten zu einem altmodischen Rundgesang ein, an dem wir alle teilnehmen wollen.“

Ein ohrzerreißendes „Vivat“, dann stürmten die jungen Leute in den Saal.

Fritz Müller, der mit seiner Frau dem Tanz zusehen wollte, blieb vor Tante Elisabeth stehen und sagte, ihr lachend den Arm bietend:

„Komm, Schwesterlein mein, wollen wir mal probieren, ob wir das Walzen noch nicht verlernt haben?“

„Du tätest besser, dich nicht so verdreht anzustellen,“ versetzte die alte Jungfer giftig. „Sieh lieber, was deine Töchter treiben; ich für mein Teil finde es mehr als unpassend, die jungen Mädchen mit unbekannten Studenten tanzen zu lassen und noch dazu Maud, die Braut sein will.“

Fritz wurde dunkelrot; die sanfte Marianne schaute ihre Schwägerin vorwurfsvoll an, Großmutter Ilse aber kam beiden zuvor:

„Sie sollten sich schämen, Elisabeth,“ rief sie heftig. „Daß Sie selbst sich nicht amüsieren können und alles verurteilen, was einfache, schlichte Menschen nett finden und gern mögen, ist Ihre Sache, aber ich verbitte mir ernstlich, daß Sie gegen einen meiner Gäste gehässige Bemerkungen machen. Ich hab' es gut geheißen, daß die jungen Mädchen tanzen — nehmen Sie daran Anstoß, so behalten Sie Ihre Bedenken für sich, wir werden uns jedenfalls nicht daran kehren.“

Erschrocken schwieg Elisabeth. Sie fürchtete sich ein bißchen vor Frau Gontrau, die ihr noch immer am höflichsten und freundlichsten entgegenkam. Die Augen der alten Dame blitzten vor Zorn und für einen Moment lebte die alte, aufbrausende Ilse wieder auf.

„Ich darf doch wohl sagen, was ich für unpassend finde,“ stammelte Elisabeth, in ihrem Innern noch viel zu entrüstet, um nachzugeben.

„Nicht, wenn keiner danach fragt,“ entgegnete Ilse. „Sie haben schon mehr als zuviel Kritik geübt. Geh nur mit Marianne, Fritz. Ruth und Heinrich haben auch die Absicht, sich in den Saal zu begeben. Wer weiß, wenn die Bowle ganz fertig ist, kommen Onkel Heinz und ich vielleicht auch auf ein Weilchen und gucken zu. Was meinen Sie, Herr Professor?“

„Vortrefflich, Frau Ilse! Wenn mein dummes Bein mir nicht so aufspielte, würde ich Ihnen allen einen Hornpipe(1) vortanzen, daß Sie Ihr blaues Wunder erleben sollten.“

Heiter gingen die andern ins Haus. Ilse widmete ihre Aufmerksamkeit einen Augenblick der Bowle und schaute dann nach Fräulein Müller. Steif und kerzengerade saß diese auf ihrem Stuhl. Frau Gontrau, die ebenso rasch versöhnt war, wie sie heftig werden konnte, fürchtete, die alte Jungfer doch zu hart angefahren zu haben, und hatte schon wieder Mitleid mit dem einsamen Wesen, das so unglücklich in seiner Ecke saß, während alle andern sich gut unterhielten. Der Professor schüttelte den Kopf, als sie sich zu ihr wendete und freundlich sagte:

„Sie müssen nicht böse sein, Elisabeth, weil ich zornig war. Sie sind mein Gast, und es würde mir leid tun, wenn ich Sie gekränkt hätte.“

Fräulein Müllers Mienen wurden nicht sanfter, als sie in sauersüßem Tone erwiderte:

„Ach, Frau Gontrau, mir gegenüber brauchen Sie sich wirklich nicht zu entschuldigen. Auf mich kommt's nicht an. Jeder darf mich ungestraft beleidigen. Wenn die Mädchen mich auslachen und Karl frech zu mir ist und mich zum Gespött macht, haben alle ihre Freude dran. Um mich kümmert sich niemand, und Sie brauchen es auch nicht zu tun.“

Der Groll und der gekränkte Stolz, die aus diesen Worten sprachen, taten Ilse weh und sie näherte sich Elisabeth.

„Wollen Sie nicht ein wenig mit mir im Garten spazieren gehen?“ fragte sie. „Ich habe schon so lange gesessen. Der Professor ist noch mit seiner Bowle beschäftigt.“

Wider Willen geschmeichelt, daß Frau Gontrau sich so um sie bemühte, stand Fräulein Müller auf. Ilse nahm ihren Arm.

Der Abend war hereingebrochen. Die Kellner zündeten die Laternen im Garten an; überall leuchteten bunte Lampions zwischen dem Grün auf. Aus dem Tanzsaal erschallte Musik und heiteres Stimmengesumme. Mit Absicht schlug Frau Gontrau einen Seitenpfad ein und begann milde:

„Liebe Elisabeth, ich war eine Freundin Ihrer Mutter und habe Sie und Fritz von Geburt an gekannt. Da darf ich mir doch wohl herausnehmen, Ihnen einen Rat zu geben.“

Elisabeth warf den Kopf in den Nacken:

„Natürlich, Frau Gontrau.“

„Sie beklagen sich, daß die Menschen nicht lieb zu Ihnen sind; daß die jungen Mädchen Sie unfreundlich behandeln und gerne necken. Vielleicht haben Sie recht, aber denken Sie einmal nach, und sagen mir ehrlich und aufrichtig, ob Sie daran wirklich ganz unschuldig sind.“

„Ich weiß nicht, was Sie wollen,“ entgegnete Tante Müller steif. Ilse aber ließ sich nicht abschrecken.

„Wenn Sie sich bemühten, es den Leuten in Ihrem Hause etwas behaglicher zu machen,“ fuhr sie herzlich fort, „würden Sie selbst viel glücklicher sein. Was haben Sie von all den Zimmern, die niemals eines Menschen Fuß betritt, in denen nie ein Fenster geöffnet wird, aus Furcht vor Staub, wo stets alles gleich tadellos und dadurch so kalt und ungemütlich ist? Wenn es regnet und jemand kommt zu Ihnen, lautet Ihre erste Frage, ob er sich auch gut die Füße abgewischt hat, und ich glaube, Sie würden sich totunglücklich fühlen, wenn etwas Schmutz und Nässe die Fliesen Ihres Flurs befleckte. Das ermutigt die Leute nicht; sie fühlen, daß sie nicht willkommen sind und bleiben lieber fort.“

„Mich besucht doch niemand,“ versetzte Elisabeth, die ganz böse werden wollte, aber in Frau Gontraus warmem, teilnehmendem Ton lag etwas Besänftigendes. „Übrigens begreife ich eigentlich nicht, was Sie das angeht.“

„Machen Sie doch einmal den Versuch,“ fuhr Ilse, die letzten Worte nicht beachtend, fort. „Machen Sie Ihr Haus etwas heller und fröhlicher. Laden Sie das junge Volk einmal ein, bewirten Sie es einfach, aber gastlich und herzlich. Ärgern Sie sich nicht, wenn es lustig und ausgelassen zugeht, und vor allem, legen Sie nicht so großes Gewicht auf nichtige, kleinliche Dinge. Sorgen Sie, daß in Ihrem einsamen Herzen kein Platz für düstere Stimmung und Mißgunst bleibt. Ich halte viel von Ihnen, Elisabeth, habe Sie gern, und wenn Sie sich so benehmen, daß andere das auch tun, dann würden Sie viel glücklicher sein als bisher. Liebe ist das einzige, wahrhaft Nötige auf der Welt.“

„Sie haben gut reden,“ sagte die alte Jungfer, die sich am meisten über sich selbst wunderte, daß sie nicht böse wurde. „Sie sind ihr ganzes Leben lang von allen angebetet und verwöhnt worden, während ich ....“

„Ich weiß,“ fiel Großmutter Ilse ihr ins Wort, „Sie haben vieles entbehren müssen, aber das kann noch gut gemacht werden. Der Anfang ist freilich nicht leicht, doch glauben Sie mir, der einzige Weg, Liebe zu ernten, ist Liebe zu säen.“

„Ja, für unglückliche, zu kurz gekommene Wesen wie ich vielleicht, aber nicht für die Glücklichen, die vom Schicksal Bevorzugten.“

„Wenn andre wirklich bevorzugt sind, ist es weise, sich darüber nicht zu ärgern, sondern sich zu bemühen, durch eigene Verdienste das zu erwerben, was jenen mühelos in den Schoß fällt.“

„Frau Ilse, wo bleiben Sie?“ ließ sich plötzlich die Stimme des Professors vernehmen. „Meine Bowle ist fertig. Ich habe dem Kellner den Auftrag gegeben, alles in Ordnung zu bringen. Nun wollen wir einen Blick in den Tanzsaal werfen.“

„Gern, Onkel Heinz. Kommen Sie, Elisabeth.“

Fräulein Müller wußte nicht, ob sie ja oder nein sagen sollte, und Professor Fuchs machte ein verdutztes Gesicht, als Ilse seinen Arm nahm und ihm einen Wink gab, Elisabeth den andern zu bieten.

Er brummte etwas, aber ebenso wie Elisabeth konnte er doch nicht gut anders, als der Großmutter gehorchen. Fritz, Ruth und Marianne zeigten nicht wenig erstaunte Mienen, als sie die drei eintreten sahen. Fritz, der den boshaften Ausfall seiner Schwester noch nicht vergessen hatte, kam gerade mit spöttischem Gesicht auf sie zu, als Ilse ihm winkte, ihm etwas ins Ohr flüsterte, und schnell unterdrückte er eine unfreundliche Bemerkung.

Im Ballsaal herrschte die fröhlichste Stimmung, und über eine Stunde schauten die älteren Leute dem lustigen Treiben zu. Tante Elisabeth wollte etwas Gehässiges sagen, als ihr Bruder und seine Frau sich erst an einer Quadrille und dann an einer Polka, ja sogar an einem Walzer beteiligten, aber sie preßte die Lippen zusammen und schwieg. Sie äußerte auch keine Mißbilligung, als sie den ernsten Heinrich von Holten mit Ruth und dann auch mit Maud tanzen sah. Kerzengerade saß sie neben Ilse und bemühte sich redlich, sich über das Courmachen und das eitle Getue der jungen Mädchen zu ärgern.

„Wie sich Irma amüsiert,“ sagte Ilse froh zu Ruth, „und wie wunderbar lieblich sie aussieht.“

Ruth beugte sich zu ihrer Mutter und entgegnete leise:

„Ich finde, daß sie zu viel mit dem Baron tanzt, Mama. Das ist nun schon das viertemal, und sie ist so aufgeregt.“

„Ach was, das hat doch nichts zu sagen! Nach dem heutigen Abend sieht sie ihn vielleicht nie wieder. Überdies sind Ludwig und Agnes auch fast unzertrennlich.“

„Das ist etwas andres. Jetzt sehe ich sie überhaupt nicht mehr. Ob sie hinausgegangen sind?“

„Vielleicht für einen Moment. Es ist arg heiß im Saal. Das machen die vielen Menschen. Laß Irma nur nicht merken, daß du unruhig bist, Ruth; wirklich, das wäre nicht richtig. Da sind sie schon wieder.“

In der Tat kehrten Irma und ihr Kavalier in den Saal zurück. Der Ball näherte sich seinem Ende. In einer Ecke, hinter einer Gruppe hochstämmiger grüner Blattpflanzen und Rosen konnten sie ungestört plaudern.

„Dies ist der seligste Abend meines Lebens,“ begann Hochstein. „Es ist beinahe zu schön für einen gewöhnlichen Sterblichen: mir ist, als weilte ich unter den Göttern des Olymps.“

Irma lachte. „Wie mag Ihnen da wohl zu Mute sein?“

„Ich möchte die ganze Welt ans Herz drücken, mir ist, als ob das Leben all seine Schönheit und Herrlichkeit über mich ausschüttete, als ob alles, was ich je geträumt, Wirklichkeit würde, so daß ich mein Glück kaum fassen kann!“

Die Musik, die eine Pause gemacht, begann aufs neue. Irma stand auf.

„Das ist der letzte Walzer,“ erklärte sie, „den hab' ich versprochen.“

Schon legte der Baron ihren Arm in den seinen.

„Mir?“ bat er flehend.

„Nein, nein, Hans Reicher,“ stammelte sie.

Er fing an zu lachen.

„O, das ist wohl der Herr mit dem wütenden Gesicht, der uns, so oft wir vorbeitanzten, ansah, als wollte er uns fressen?“

Irma lächelte; sie konnte sich Hans schwer mit einem wütenden Gesicht vorstellen. Leise aber sagte sie:

„Ich hab's ihm versprochen.“

„Nun gut, er kann mich fordern, wenn er will. Ein Duell um Ihretwillen wird ihm wie mir etwas Göttliches sein!“

Irma schaute entsetzt auf. Hochsteins samtschwarze Augen strahlten, unwillkürlich senkte sie die ihren.

Da schlang er den Arm um sie; sie fühlte sich emporgehoben, ihr war, als schwebte sie. Schneller und immer schneller ward das Tempo. So hatte sie noch nie getanzt. Sie vergaß alles: Hans, der sie, die Lippen zusammengepreßt, mit einem tieftraurigen Ausdruck in seinen treuen Augen ansah; ihre Herzensangst, als der Baron vom Duellieren sprach — sie fühlte nur, wie schön das Leben war, entzückend. Mit geschlossenen Augen und halb geöffneten Lippen gab sie sich dem Zauber dieser Stunde hin und fühlte sich von seligem Traum umfangen.

„Irma, mein Kind, es ist genug, du machst dich zu müde.“

Es war die Stimme ihrer Mutter, die sie zur Besinnung brachte. Noch ganz schwindlig schaute sie sich um, während Hochstein sie zu einem Stuhl führte.

„Gnädige Frau, dies war der letzte Tanz. Die Musik geht schon fort.“

„Um so besser,“ versetzte Ruth, „komm Irma!“

„Auf Wiedersehen, meine Damen.“

Der Baron entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung.

„Es ist mir gar nicht lieb, daß Onkel Heinz die jungen Leute zur Bowle eingeladen hat,“ sagte Ruth.

„Weshalb, Mama?“

„Weil ich finde, daß du dich zu viel mit jenem jungen Manne unterhältst. Das fällt auf.“

„Aber Mama, wir haben ein paarmal zusammen getanzt. Was tut denn das?“

„Nichts, doch du hättest auch mit andern tanzen können, mit Hans zum Beispiel.“

Irma schwieg und schwebte auf den Professor zu, der mit einigen Studenten plauderte.

„Onkel, nun kommt deine Einladung an die Reihe.“

„Ja, kleiner Schelm,“ und er kniff ihr in die glühenden Wangen. „Heute ist unser Kind in seinem Element, was?“

Irma wurde rot, weil der alte Herr sie in Gegenwart der jungen Leute so behandelte, aber sie war doch zu glücklich, um etwas anderes zu tun, als lächelnd zu nicken.

Professor Fuchs zog ihren Arm in den seinen.

„Darf ich die Damen und Herren bitten!“ rief er und eröffnete den Zug; paarweise folgten die übrigen. Die Kellner hatten im Garten eine lange Tafel hergerichtet. Auf der blau und rot karrierten Tischdecke prangte die Riesenbowle, umgeben von den goldschimmernden Gläsern, rechts und links flankiert von zwei großen Blumensträußen.

Wie es zuging, wußte sie selbst nicht, aber wieder fand Irma ihren Platz neben Hochstein. Bald schallte fröhlicher Gesang und Gelächter durch den Garten. Unter ohrbetäubendem Jubel stimmte Professor Fuchs das alte Studentenlied an:

Hochgesang und Rebensaft
Lieben wir ja alle!
Darum trinken wir mit Kraft
Schäumende Pokale!

Und da Ilse neben ihm saß, stieß er mit ihr an und fragte:

„Schwester, Dein Geliebter heißt?“ worauf sie lachend versetzte: „Heinrich“ und alle im Chor:

Heinrich, er soll leben!
Soll leben, soll leben!
Heinrich, er soll leben!
Er lebe hoch!!

Das „Hoch“ wurde lange ausgehalten, und nun ging's weiter die ganze Tafelrunde durch, unter Necken und Scherzen. Die jungen Leute trieben es fast zu toll. Ludwig und Agnes flüsterten miteinander, und dann nannten beide einen fremden Namen, den niemand je gehört. Gustav und Flora gaben sich einfacher, aber das junge Mädchen wurde verlegen und stammelte so schüchtern: „Gustav,“ daß sie den Namen noch zweimal wiederholen mußte. Die größte Heiterkeit erregte Tante Elisabeth, die erst erklärte, sich mit solchen Narrenspossen nicht abzugeben und auf dem Punkt stand böse zu werden, als ihr Bruder Fritz ausrief:

„Unsinn, Elisabeth, in deinem zehnten Jahr warst du sterblich verliebt in den Küster unserer Kirche; er schielte und hieß Georg.“

Alle jubelten und lachten. „Georg, er soll leben!“ schallte es hell durch die Abendluft. Vielleicht war es der Einfluß der Bowle, aber so viel steht fest, daß die alte Jungfer ihren Ärger vergaß und mitlachte.

Baron von Hochstein sah Irma tief in die Augen und rief dann: „Maria!“

Einen Augenblick vorher hatte er sie gefragt, wie sie hieße, und sie hatte geantwortet:

„Irma Maria.“

Während des nun folgenden Gesangs löste er, ohne daß es in der dämmerigen Beleuchtung außer ihr jemand bemerkt hätte, gewandt eine der hellblauen Schleifen, mit denen ihr Kleid verziert war, drückte einen Kuß darauf und ließ sie in der Tasche verschwinden.

„Das ist nicht erlaubt,“ flüsterte sie; aber sie fühlte mehr als sie sah, wie flehend er sie anschaute, und schwieg.

Endlich mußte doch an die Rückfahrt gedacht werden. Es war höchste Zeit. Als die älteren Damen hörten, wie spät es schon war, erschraken sie. Der Befehl zum Anspannen wurde gegeben. Das ganz aus Rand und Band geratene junge Volk schlug vor, wieder den Weg zu Fuß über den Wasserfall zu machen und erst an den Stallungen einzusteigen; das würde eine entzückende Mondscheinpromenade sein.

Verschiedene Ausrufe wie: „Ach ja! Das wollen wir! Himmlisch! Bitte, Großmama!“ ließen sich hören; Fritz aber erklärte kurz und bündig:

„Daraus wird nichts; wir fahren den andern Weg, der ist um eine gute Stunde kürzer!“

Hochstein half Irma in den Wagen und flüsterte ihr zu, wie scheußlich er es fände, daß er und seine Freunde nicht mitfahren könnten.

„Adieu, adieu! Herzlichen Dank, Herr Professor!“ klang es von allen Seiten, dann setzten die Fuhrwerke sich in Bewegung. Das letzte, was Irma zu unterscheiden vermochte, war die schlanke Gestalt ihres Anbeters, der sein Cerevis schwenkte und sie, sie allein, grüßte.

Der Wagen bog um die Ecke, und plötzlich schien es ihr, als sei alles dunkel und trübe geworden. Jetzt bemerkte sie erst, daß sie neben Hans Reicher saß. Sie fühlte sich so glücklich, daß es ihr leid tat, den armen Jungen unfreundlich behandelt zu haben.

„Sind Sie mir böse?“ fragte sie sanft.

„Weshalb?“

„Weil, nun weil ich den letzten Walzer nicht mit Ihnen tanzte, wie ich versprochen hatte.“

Er tat, als müsse er sich erst besinnen. „Ach ja, richtig, den letzten Walzer? Nein, durchaus nicht. Ich war froh über Ihr Vergessen, weil ich eine andere junge Dame engagiert hatte.“

Hans log. Er war still hinausgegangen, um seine Enttäuschung und seinen Ärger niederzukämpfen, doch sein Stolz verbot ihm, Irma zu zeigen, wie tief sie ihn verletzt hatte.

Im vordersten Wagen schlief Tante Elisabeth und ärgerte den Professor, weil sie schnarchte; schnarchende Frauen konnte er nicht ausstehen. Großmutter Ilse war müde und lehnte sich schweigend, mit geschlossenen Augen, zurück. Ruth und Marianne unterhielten sich leise und schauten dazwischen nach Flora und Gustav, die auf der vordersten Bank Hand in Hand saßen, aber kein Wort sprachen. Onkel Heinz blickte auf die prachtvolle, mondbeglänzte Landschaft und verkürzte sich die Zeit mit Rauchen. Im zweiten Wagen saß Maud neben ihrem Vater. Ludwig und Agnes waren so in ihr Geflüster vertieft, daß sie nicht einmal hörten, wenn jemand sie anredete. Irma drehte Hans den Rücken. Was bildete der Bauer sich ein? Sie wollte ihm freundlich entgegenkommen, und er wagte es, ihr solche Antwort zu geben! Ihr eitles Herzchen schwoll vor Entrüstung. Nun wollte sie sich nie mehr um ihn kümmern; sie hatte an Angenehmeres zu denken.


(1) Alter englischer Tanz.

Dekoration

Onkel Heinz war schlecht gelaunt. Mit grimmigem Gesicht ging er umher und erklärte, sich in den nächsten Tagen weder bei Müllers, noch bei Ilse Gontrau blicken zu lassen. Das ewige Einerlei und die endlosen Beratungen fingen an ihn zu langweilen. Immer bekam er dasselbe zu hören, von Verliebtsein, Verlobungen und Ratschlägen der Eltern. Es herrschte allseitig große Rührung, und der Professor, der bei seinen vielen guten Eigenschaften doch nicht frei von Egoismus war, konnte es nicht leiden, daß die Jugend jetzt ganz in den Vordergrund trat und ihm und seinen Interessen weniger Beachtung geschenkt wurde.

Am Morgen nach der Landpartie war Ludwig Reicher zu Fritz Müller und seiner Frau gekommen, hatte ihnen gesagt, daß er ihre Tochter Agnes unaussprechlich liebe und um ihre Hand bitte.

Sehr erstaunt waren die Eltern nicht, denn sie hatten es kommen sehen. Agnes wurde hereingerufen und die Sache ruhig und praktisch besprochen. Ohne Tränen oder Sentimentalität erklärte das junge Mädchen, daß es Ludwig liebe; sie wären freilich beide noch ein bißchen jung, aber in dieser Hinsicht glaubten sie doch alt genug zu sein, um zu wissen, was sie wollten. Bevor Ludwigs Mutter ihre Einwilligung gegeben, könne natürlich von einer öffentlichen Verlobung keine Rede sein. Fritz Müller betonte, daß seine Tochter kein Vermögen habe, wenigstens nicht, solange ihre Eltern lebten. Er sei der Ansicht, daß ein junger Mann, wenn er sich um ein Mädchen bewerbe, unabhängig sein müsse und für seine Familie sorgen könne. Ludwig teilte diese Ansicht, aber da er in einigen Monaten mündig wurde und dann sein väterliches Erbteil zu freier Verfügung bekam, bildete der Geldpunkt in seinen Augen kein Hindernis. Trotzdem machte Vater Müller, der jeden Pfennig, den er besaß, durch die Arbeit seines Kopfes und seiner Hände erworben hatte, noch immer ein bedenkliches Gesicht. Ein Erbteil, na ja, das war schon gut, aber ein Mann mußte von dem leben können, was er selbst verdiente. Auf die eigne Kraft könne man vertrauen; ein Vermögen, das in Gütern und Papieren bestände, sei nie sicher. Ludwig äußerte etwas von amerikanischer Auffassung, Agnes aber fand, daß ihr Papa recht habe. Sie könnten noch ein wenig Geduld haben, in zwei Jahren wurde der junge Offizier Oberleutnant, so lange wollten sie mit der Hochzeit warten. Nach dieser Entscheidung des Familienrates verließen Agnes und Ludwig mit strahlenden Mienen das Zimmer der Eltern, um die Glückwünsche von Maud, Hans und Karl in Empfang zu nehmen.

Aber als Fritz und Marianne zu ihrer Mutter gingen, um ihr als erster diese wichtige Neuigkeit mitzuteilen, waren sie nicht wenig erstaunt, dort die Familie in ähnlichen Beratungen anzutreffen.

Gustav war noch nie verliebt gewesen, sondern stets allen Mädchen aus dem Wege gegangen, und oft hatte Irma ihn mit seiner Schüchternheit geneckt. In Floras Gegenwart hatte er sich sofort frei und unbefangen gefühlt. Das war eine Frau, wie er sie sich erträumte, sanft, still und fügsam, voll Bewunderung für ihn und die Seinen. Auch Ruth und Heinrich von Holten fühlten sich zu dem bescheidenen Mädchen hingezogen, wenn erstere für ihren Sohn auch eine glänzendere Partie gewünscht hätte. Solche Bedenken, wie Fritz Müller geäußert, wurden daher hier nicht erhoben. Das Künstlerpaar lachte darüber; es würde schon alles recht werden, um Geldangelegenheiten machten sie sich keine Sorge. Wenn die jungen Leute sich liebten, so war das die Hauptsache. Frau Reicher mußte natürlich in Kenntnis gesetzt werden, dann war alles in Ordnung. Sie schrieb denn auch, daß sie mit ihrer Mutter, Frau Flora Werner, kommen wolle, um die Bekanntschaft der Familie zu machen, und es wurde beschlossen, daß Holtens ihre Abreise aus diesem Grunde noch um einige Tage verschieben sollten.

„Sei nicht so brummig, Onkel Heinz,“ sagte Irma, sich unter dem großen Lindenbaum im Garten neben ihm niederlassend, „es ist wirklich kein Grund dazu vorhanden.“

„Kein Grund! Die Leute hier sind alle mit einander verrückt. Verliebte sind nie recht bei Trost, das ist nun mal so. Ich hatte Agnes für verständiger gehalten und auf ihre amerikanische Nüchternheit gerechnet, aber sie ist genau so wie alle andern.“

Irma schaute den alten Herrn spottend an, er aber fuhr, dadurch in Harnisch gebracht, fort:

„Du brauchst nicht zu lachen. Da hast Du nun Gustav und Flora! Die tun nichts als sich anschauen, so schmachtend und sentimental, daß einem gewöhnlichen Menschen davon übel werden kann. Das Ärgerlichste aber ist, daß die Eltern, dein Onkel und deine Tante, ja deine Großmutter dem noch Vorschub leisten. Sie reden über nichts als über die Kinder, ihr Glück, ihre schöne junge Liebe, die ihnen ihre eigene Jugend wieder in Erinnerung bringe. Bah, nichts als Unsinn, Gefühlsduselei, Überspanntheit.“

„Pfui, Onkel Heinz, du solltest dich schämen!“

Du solltest dich schämen, kleine, freche Hexe. Willst du etwa diesem schönen Beispiel folgen? Vielleicht gar mit Hans? Na ja, warum auch nicht, dann ist das Spiel komplett.“

„Hans,“ rief Irma, verächtlich die Achseln zuckend.

„Na,“ fuhr der Professor fort, plötzlich wieder ins andere Extrem umschlagend, „er wäre der Schlechteste nicht; in jedem Fall viel besser als der Gigerl von Offizier. Du brauchst seinetwegen nicht so die Nase zu rümpfen. Glaubst du denn, daß noch ein Prinz für dich kommen wird?“

Der alte Herr schaute sie unter seinen buschigen Augenbrauen durchdringend an, und Irma errötete unter diesem scharfen Blick.

„Wie kommst du mir heut nur vor, Onkel Heinz?“ fragte sie. „Erst bist du bös, weil die Andern sich verliebt haben und sich verloben, und nun ich sage, daß ich an so etwas nicht denke, ist's auch nicht recht.“

„Bös, das ist nicht wahr. Es bringt mich nur um meine Laune, weil sie sich so verdreht anstellen und weil ich von nichts anderem mehr höre; aber sie haben recht, wenn sie heiraten. Menschen, die unverheiratet bleiben, na — du siehst ja, was daraus entsteht. Ein alter, brummiger Neidhammel wie ich, oder so ein Exemplar wie Tante Elisabeth. Darum, kleines Jungfräulein, wenn ein braver, ehrlicher Mann dir zeigt, daß er dich lieb hat, denk lieber zweimal nach, bevor du ihm 'nen Korb gibst, um irgend einem goldbeschwingten Schmetterling nachzujagen, den du doch nicht fängst.“

Bei diesen Worten stand Professor Fuchs auf und humpelte davon. Er hatte zur Zeit viel von der Gicht zu leiden und stampfte nun ungewöhnlich laut mit seinem Stock auf.

Glühend vor Entrüstung sah Irma ihm nach. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie ernstlich böse auf Onkel Heinz. Was bedeutete das? Um was kümmerte er sich? Was mochte er beobachtet haben? Sie begriff nur zu gut, daß er auf Baron von Hochstein anspielte. Was ging ihn das an? Sie hätte nie gedacht, daß er, Onkel Heinz, solche Dinge überhaupt bemerke! Er brauchte sie wahrlich nicht zu warnen, sie sollte ihre Erwartungen nicht zu hoch spannen. O, wenn er wüßte!

Irma schaute sich im Garten um, ob auch niemand in der Nähe sei; nein, das Terrain war sicher. Nun zog sie aus ihrem Kleide ein zierliches Briefchen hervor und las es, wohl schon zum hundertstenmale. Sie wußte es Wort für Wort auswendig, aber es war ihr ein Genuß, sich immer wieder von seinem Inhalt zu überzeugen.

Mein gnädiges Fräulein!

Vor zwei Tagen kannte ich Sie noch nicht; ahnte ich nicht, daß es etwas so unbeschreiblich Schönes auf der Welt gäbe. Erst seit zwei Tagen lebe ich, fühle ich wenigstens, daß das Leben wert ist, gelebt zu werden. Irma, ich liebe Sie und ich muß Ihnen das sagen, auf die Gefahr hin, daß Sie mich für meine Kühnheit strafen. Denn es ist ein Vorzug, etwas so Vollkommenes, so wunderbar Schönes anzubeten. Haben Sie ein wenig Mitleid mit mir? Ich bitte nicht um Erwiderung meiner Gefühle. Das wäre zu anmaßend. Möchte die Darbietung meiner erfurchtsvollen, meiner unermeßlichen, meiner ewigen Liebe Ihnen nur nicht zuwider sein. Das ist alles, um was ich Sie anzuflehen wage. Dienstag Nachmittag zwischen vier und fünf Uhr werde ich an Ihrem Hause vorübergehen. Wenn ich Sie dann an einem der Fenster oder im Garten sehe und Sie tragen eine rote Rose im Gürtel, machen Sie mich zum glücklichsten der Sterblichen, wenn nicht — ich wage es nicht auszusprechen, welcher Verzweiflung ich dann anheimfallen würde.

Ich ersuche Sie um strengste Geheimhaltung; mir ist, als würde meine Liebe entweiht, wenn jemand auch nur eine Ahnung davon hätte.

Ihr ewig getreuer
Otto von Hochstein.

Arme kleine Irma, sie verstand nicht das Geschraubte und zugleich Triviale dieses Briefes. Sie war buchstäblich begeistert, und ihr eitles Herzchen klopfte vor freudigem Stolz.

„Irma, Baronin von Hochstein,“ sprach sie immer wieder leise vor sich hin. Natürlich fiel es ihr gar nicht ein, jemand Mitteilung von ihrem köstlichen Geheimnis zu machen, aber es kostete sie doch einen Kampf, Agnes gegenüber ganz zu schweigen. Das Mädchen war strahlend glücklich und sprach mit wahrer Begeisterung von Ludwig. Irma schaute sie fast mitleidig an; was war der junge Leutnant im Vergleich zu Otto? Es schien ihr, als ob die Beiden gar nicht in einem Atemzug genannt werden könnten; Agnes war zudem so von ihrem Verlobten erfüllt, daß sie keine Augen für Irma hatte und gewiß nicht mit dem richtigen Interesse ihrer wichtigen Mitteilung Gehör schenken würde.

Und so verhielt es sich mit allen. Die zwei großen Ereignisse im Familienkreise nahmen die Gedanken so in Anspruch, daß keiner auf Irma acht gab. Selbst Großmutter Ilse und Ruth, die sich sonst so viel mit ihrem Liebling beschäftigten, sahen nicht, wie erregt und geheimnisvoll sich das junge Mädchen benahm, wie sie ohne jede Veranlassung die Farbe wechselte, die Einsamkeit suchte und oft ganz gegen ihre Gewohnheit in sich versunken, dann wieder ausgelassen lustig sein konnte. Sie widmete ihrem Äußern noch mehr Sorgfalt als früher. Ihre Züge zeigten einen Ausdruck, der sie vielleicht noch schöner machte, aber doch von der kindlichen Unschuld, mit der sie früher die Vergißmeinnichtaugen aufschlug, himmelweit verschieden war.

Onkel Heinz, der vielmehr beobachtete, als man vermutete, und der das Kind aufs zärtlichste liebte, kam zu der Ansicht, daß etwas im Werk sei, und machte sich seine Gedanken darüber. Da er aber nichts Gewisses wußte, hütete er sich wohl, seine Nase in Dinge zu stecken, die einen alten Junggesellen nichts angingen. Er begnügte sich, der Kleinen anzudeuten, daß er ein wachsames Auge auf sie habe.

Der zweite, der etwas merkte, aber nichts sagen durfte, war Hans Reicher. Seit der schöne Student mit den bestechenden Manieren auf der Bildfläche erschienen war und Irmas liebliches aber eitles Köpfchen mit seinen Schmeicheleien erfüllte, wußte Hans, daß er nichts mehr zu hoffen hatte. Obgleich ihm das bitter wehtat, würde er sich doch darein ergeben haben, weil seine Liebe großmütig und frei von Selbstsucht war. Irmas Glück stellte er weit über das seine, und er fürchtete, daß der Baron von Hochstein nicht die Persönlichkeit sei, der ein junges Mädchen vertrauensvoll seine Liebe schenken könne. Sein Auftreten war zu übermütig, zu dreist. Etwas Bestimmtes wußte Hans jedoch nicht, auch hatte er kein Recht, sich nach Hochstein zu erkundigen; so blieb ihm denn nichts anderes übrig, als mit Angst und Trauer im Herzen abzuwarten, was aus der Sache werden würde.

Flora Werner und ihre Tochter, Thusnelda Reicher, trafen ein, und nun wurde die Doppelverlobung durch ein großes Familienfest gefeiert.

Flora war eine alte Frau geworden, aber ihr fehlte die vornehme Würde, die Ilse auszeichnete. Selbst jetzt hatte sie ihrer Sucht sich zu putzen nicht widerstehen können. Sie trug sich jugendlicher und auffallender als ihre Tochter und sah mit ihrem nach der neuesten Mode frisierten Haar geradezu lächerlich aus. Heinrich von Holten und Fritz Müller nannten sie eine alte Kokette und verspürten Lust, sie ein bißchen zum Narren zu haben, aber sie überlegten, daß dies nicht angebracht sei bei der Jugendfreundin ihrer Schwiegermutter und der künftigen Mutter ihrer eigenen Kinder. Frau Reicher, früher ein leicht errötendes, aber kerngesundes, kräftiges junges Mädchen war nun ein kleines, rundliches Frauchen, sehr verlegen, besonders in Ruths Gesellschaft, deren fürstliche Grazie ihr riesig imponierte. Sie war ganz glücklich über die Wahl ihrer Kinder und gleich vertraut mit Agnes; zu Gustav aber wagte sie kaum ein Wort zu reden. Die alte Flora fühlte sich im siebenten Himmel. Die Verlobung ihres Großsohnes mit Agnes ließ sie ziemlich gleichgültig; sie fand sie ganz passend, aber es war nichts außergewöhnliches dabei; daß aber ihre Enkelin einen Künstler heiraten sollte, den Sohn des berühmten Ehepaares von Holten, darüber war sie ganz aus dem Häuschen.

„Siehst du, liebste Ilse,“ sagte sie zu ihrer alten Freundin, „das versöhnt mich mit dem Leben. Du weißt, welch dichterisches Talent ich besaß; wie ich sozusagen zu großen und schönen Dingen vorherbestimmt war und wie meine Seele durch die Prosa meines Lebens gelitten hat. Ich habe mich gefügt; als ich meine Schwingen nicht so entfalten durfte, wie ich ersehnte, habe ich sie kampfesmüde eingezogen. Meinem guten, prosaischen Manne war ich eine treue Gefährtin. Ich erfüllte meine Pflicht, und nun werde ich belohnt. Mein Liebling, das Kind, das meinen Namen trägt, in dessen jugendlicher Seele meine Dichternatur wieder aufblüht, wird sich mit einem Künstler verbinden, einem nach hohen Idealen strebenden, schöpferischen Genie. Nun kann ich ruhig sterben — ich habe nicht umsonst gelebt!“

Ilse hielt es nicht für nötig, auf diesen Wortschwall viel zu erwidern noch Flora daran zu erinnern, daß Gustav bis jetzt noch kein schöpferisches Genie genannt werden konnte. Sie lachte nur bei dem Gedanken, wie wenig ihre alte Pensionsfreundin sich im Grunde doch verändert hatte, trotzdem das grausame Leben sie gezwungen hatte, auf alle Dummheiten zu verzichten und einfach mit der Wirklichkeit zu rechnen. Letzteres hatte sie aber auch so gut getan, daß man ihre übertriebenen Ausdrücke und poetischen Sentimentalitäten ihr verzeihen konnte.

Thusnelda klagte Ilse, daß die kleine Flora noch so viel zu lernen habe, da sei es gut, wenn die jungen Leute noch nicht gleich heirateten, denn die Kleine sei, besonders in allem, was den Haushalt beträfe, noch sehr unwissend. Aber Ilse, die selbst nie mit besonderer Lust und Liebe gewirtschaftet hatte, fand diese Sorge unwichtig.

„Die Führung des Haushaltes lernt sich von selbst,“ sagte sie, „und wozu sind denn die Dienstboten da?“

Bescheiden schwieg Thusnelda. Sie wagte nicht, Frau Gontrau zu widersprechen, aber in ihrem Herzen dachte sie, daß Ilse neben einer gut gefüllten Börse immer Glück mit ihren Dienstboten gehabt haben müsse, — dann konnte sie wohl so reden.

Die Familie Reicher und Flora Werner reisten zuerst ab. Agnes und Ludwig benahmen sich tadellos bei der Trennung. Der Ort, wo der junge Leutnant in Garnison stand, war nicht weit von F. entfernt, so daß er sicher jeden Monat einmal herüberkommen konnte. Die kleine Flora dagegen zerfloß in Tränen, so daß Onkel Heinz ihr spottend vorschlug, sich bei der städtischen Wasserversorgung anstellen zu lassen. Hundertmal fragte sie Gustav, ob er sie auch nicht vergessen werde; und als sie sich endlich aus seinen Armen lösen mußte und die Coupétüre geschlossen wurde, fiel sie schluchzend Großmutter Werner um den Hals. Diese allein verstand sie und bemühte sich, sie mit leise gemurmelten Worten zu trösten. Der einzige, der sich freute, wieder an seine Arbeit gehen zu können, war Hans. Er besaß keine sentimentale Natur, und wenn er auch wußte, daß es ihm nie gelingen würde, Irma zu vergessen, da er doch nun einmal nicht anders konnte, als das kleine, kokette Ding lieben, so war es doch nicht seine Sache, sich feige und weich seinem Kummer hinzugeben. Er sehnte sich nach dem einzigen Mittel, seine Enttäuschung zu überwinden, nach ernster, rastloser Arbeit.

Mit heitern Mienen hatte er von allen Abschied genommen. Als die Reihe an Irma kam, drückte er ihr Händchen so kräftig in seiner großen Faust, daß er ihr weh tat, und sagte mit eigentümlich bebender Stimme:

„Sie wissen, Irma, was ich gehofft habe. Es hat nicht sollen sein, und ich muß trachten, mich darein zu ergeben. Aber um eins will ich Sie bitten. Denken Sie ab und zu daran, daß Ihnen ein treuer Freund lebt, der alles opfern würde, um Sie glücklich zu machen.“

Sie waren einen Augenblick allein. Schnell, bevor sie es hindern konnte, legte er den Arm um sie und drückte einen Kuß auf ihre Stirn. Dann ließ er sie los und begab sich zu den andern. Irma wollte entrüstet auffahren, vermochte es aber nicht; zu ihrem großen Ärger fühlte sie ein Weh in ihrem Herzen, und das unbestimmte Gefühl, als habe sie etwas sehr Kostbares verspielt, bemächtigte sich ihrer. Freilich nur einen Augenblick, dann tastete sie mit der Hand in ihr Kleid, wo zwischen weichen Spitzen ein rosa Briefchen verborgen lag, und mit stolz erhobenem Haupte und leuchtenden Augen schaute sie Hans nach.

Am nächsten Tage reisten auch Holtens ab, und nun fing für Ilse und Irma wieder das alte ruhige Leben an, das sie vor der Ankunft der amerikanischen Familie geführt hatten.

Dekoration

Es war Oktober geworden. In Ilses kleinem, an den großen Eßsaal grenzenden Wohnzimmer brannte schon ab und zu ein lustiges Feuerchen, denn die Nachmittage wurden kalt. Die alte Dame saß gern mit ihrem Buch am Kamin und wenn sie aufgehört hatte zu lesen, starrte sie in die züngelnden Flammen und ließ die Bilder der Vergangenheit an ihrem Geiste vorüberziehen.

An solch einem traulichen Nachmittagsstündchen trat Irma ein, um der Großmama adieu zu sagen. Sie sah bildschön aus in dem dunkelblauen Tuchkostüm, das ihre Elfengestalt knapp umschloß, und dem hübschen, an einer Seite umgeschlagenen Hut mit der weißen Feder auf dem goldblonden Haar.

„Gehst du aus, Kind?“

„Ja, Großmama, wenn du's erlaubst.“

„Wohin?“

„Ach, ich weiß nicht, ein bißchen spazieren.“

Die Großmutter schaute sie an. „Und dafür hast du dich so schön gemacht?“

Das junge Mädchen wurde rot. „Ach, bei diesem köstlichen Herbstwetter wollte ich mein neues Kostüm doch mal an die Luft bringen.“

Ilse drohte mit dem Finger „Jungfer Eitelkeit,“ neckte sie. „Na, lauf' du nur. Aber es ist doch besser, du holst Agnes oder Maud zum Spazierengehen ab. Allein finde ich's nicht ganz passend.“

„Ich weiß nicht, ob sie zu Hause sein werden,“ murmelte Irma und lief dann, um weiteren Einwendungen zuvorzukommen, mit einem hastigen: „Auf Wiedersehen, Großmama,“ rasch zur Türe hinaus.

Auf der Straße tat sie einen tiefen Atemzug, schlug aber nicht den Weg nach dem Hause Onkel Müllers ein. So rasch sie konnte, ging sie, sich ab und zu scheu umsehend, durch einige Gassen, bis sie die Stadt im Rücken und die große Landstraße vor sich hatte. Hier war es still. Nur das Sausen des Oktoberwindes in den hohen Bäumen ließ sich hören und das Gerassel des dürren Laubes. Von dem schnellen Gehen ermüdet, verlangsamte Irma ihren Schritt. Ängstlich spähte sie umher. Was sie tat, war nicht recht, das wußte sie, aber ihr blieb keine Zeit darüber nachzudenken, denn dort, aus einem Gebüsch am Wege, sah sie die schlanke, biegsame Gestalt Hochsteins hervortreten und eilig näher kommen.

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In der ersten Verwirrung wollte sie fortlaufen; aber als ob er ihre Gedanken erriete, war er mit ein paar raschen Sprüngen neben ihr und ergriff ihre Hand. Mit glühenden Wangen und niedergeschlagenen Augen stand sie vor ihm.

Otto von Hochstein betrachtete sie, und ein Gefühl des Stolzes erfüllte ihn, daß dieses wunderschöne junge Geschöpfchen endlich eingewilligt hatte, ihm heimlich hier draußen an diesem einsamen Ort ein Stelldichein zu gewähren.

„Meine teuerste Irma,“ flüsterte er, „wie soll ich dir danken, daß du gekommen bist!“

„Ich tue es nie wieder,“ stöhnte sie. „Ich hab' Großmama belügen müssen, und das ist schändlich.“

„Aber du tatest es doch um meinetwillen? ... Du hast mich doch ein ganz klein wenig lieb, nicht wahr?“

Er schaute sie mit seinen samtschwarzen Augen so flehend an, daß sie nicht anders konnte als leise stammeln:

„Ja, sehr lieb.“

Aber als er den Arm um sie schlingen und sie entzückt ans Herz ziehen wollte, entwand sie sich ihm.

„Warum darf ich dir denn nicht einmal einen Kuß geben, Irma, wenn du mich doch liebst und meine Braut bist?“

„Nicht eher, als bis wir wirklich verlobt sind und jeder es weiß,“ erwiderte sie. „Warum kann ich denn nicht, wie Agnes und Flora es taten, der Großmama und meinen Eltern alles erzählen?“

„Mein Liebling, hast du mir nicht selbst geschrieben, daß du gerade dies süße Geheimnis, um das nur wir zwei beide wissen, so herrlich fändest?“

„Ja, aber nun finde ich es nicht mehr herrlich,“ schmollte Irma. „Es ist nicht recht, das fühle ich. Ich weiß, Großmama würde es nicht billigen, und ich will nicht mehr in dieser heimlichen Weise mit dir zusammenkommen.“

Ottos dunkle Augen funkelten unheilverkündend, und er biß sich auf die Lippen, um seinen Ärger zu verbergen. Aber er verstand es meisterhaft, sich zu beherrschen, und erwiderte niedergeschlagen:

„Dann machst du mich tief unglücklich.“

„Laß mich der Großmama alles sagen. Du kennst sie nicht, sie ist nicht streng, und ich kann von ihr erlangen, was ich will.“

Er schüttelte den Kopf; dann schob er seinen Arm durch den ihren und zwang sie so, mit ihm auf und ab zu gehen.

„Hör' mal zu, Liebste,“ begann er. „Du zwingst mich, Dinge zu sagen, die mir peinlich sind. Frau Gontrau würde niemals ihre Einwilligung zu einer heimlichen Verlobung zwischen uns geben.“

„Wenn ich sie darum bitte, tut sie es doch.“

„Aber sie würde darauf bestehen, daß ich meinen Eltern Mitteilung davon mache.“

„Natürlich, warum willst du das denn nicht?“

„Das ist es ja gerade, Irma. Sie würden ihre Zustimmung nicht geben und sich auf jede mögliche Weise bemühen, uns zu trennen.“

Stolz hob Irma ihr reizendes Köpfchen und schaute ihn herausfordernd an.

„Aus welchem Grunde? Bin ich ihnen nicht gut genug?“

„Irma!“ rief er leidenschaftlich. „Du bist das schönste, das entzückendste Wesen von der Welt. Und für mich wirst du das ewig bleiben. Aber ich wünschte, ich wäre an Stelle des Barons von Hochstein ein armer Teufel, zu dem du dich herablassen müßtest.“

Sie schaute ihn fragend und tief errötend an.

„Meine Eltern sind sehr stolz,“ fuhr er fort. „Unser Stammbaum reicht zurück bis in die Zeit vor den Kreuzzügen. Die Glieder meiner Familie haben sich immer nur mit dem allerältesten Adel verbunden; der Schlag würde meine Eltern vor Schreck rühren, wenn sie erführen, daß ich mich mit einem Mädchen verloben will, das nicht zum Hochadel gehört. Sie haben mir bereits eine steinreiche Erbtochter aus einem Geschlechte bestimmt, das eben so vornehm ist wie das unsere.“

„Und du?“ fragte Irma atemlos.

„O, ich geb' auf das alles nichts und werde das häßliche Freifräulein von Staufenberg nie heiraten, das verspreche ich dir.“

„Aber dann wird aus unsrer Verlobung nichts!“ seufzte Irma, „deine Eltern werden nie ihre Einwilligung geben.“

Er nahm ihre kleinen Hände in die seinen und streichelte sie.

„Das werden sie sicher nicht, geliebte Irma, wenn wir sie ohne weiteres mit dem fait accompli überfallen und erschrecken. Ich muß sie ganz allmählich darauf vorbereiten, und dann werden sie ohne Zweifel nachgeben. Wir müssen warten, das ist alles, um was ich dich bitte. Hast du mich nicht so lieb, um etwas Geduld zu haben?“

„Aber meine Eltern und Großmama,“ stammelte Irma.

„Glaube mir, Liebling. Durch zu frühes Reden würden wir alles verderben. Wenn du mich liebst, so gelobe mir zu schweigen.“

Irma war sich innerlich bewußt, daß sie nicht recht tat, aber sie vermochte nicht, seinem heißen Drängen zu widerstehen; sie war von den äußeren blendenden Eigenschaften des jungen Barons so betört, daß sie ihm schließlich alles versprach, sogar ein Stelldichein in der nächsten Woche.

Solange sie bei ihm war, vergaß sie ihre Bedenken und gab sich dem Glück des Augenblicks hin, aber als sie allein nach der Stadt zurückkehrte, konnte sie sich eines Gefühls der Furcht und Beklommenheit nicht erwehren. Zum erstenmal in ihrem Leben tat sie etwas Heimliches, Unaufrichtiges, etwas, was die Ihrigen niemals gutheißen würden.

Heftig erschrak sie, als in der Nähe ihrer Wohnung Agnes plötzlich auf sie zutrat.

„Wo kommst du her, Irma? Ich war bei Großmama, die sagte mir, du hättest mich zu einem Spaziergang abholen wollen. Wie ein Hase lief ich nach Hause, dort hatte dich aber niemand gesehen.“

„Ich bin spazieren gegangen,“ murmelte Irma.

Sie wurde furchtbar rot, und Agnes schaute sie verwundert und forschend an.

„Allein?“ fragte sie. „Und du sagst Großmama, daß du mich abholen wolltest.“

„Ich ... ich bekam plötzlich Lust, allein zu gehen.“

„Wie komisch du bist! Was hast du? Was bedeutet das? Ich verstehe dich nicht.“

„Mach doch nicht so 'nen Sums daraus,“ rief Irma, in ihrer Verlegenheit plötzlich sehr reizbar werdend und nicht mehr wissend, wie sie sich herausziehen sollte. „Geht's dich was an, wenn ich mal allein spazieren gehen will? Dir hab' ich doch keine Rechenschaft abzulegen.“

„Aber Irma!“ sagte Agnes, im höchsten Grade erstaunt und gekränkt.

Schweigend schritten sie nebeneinander her. Agnes war zu entrüstet, um zu sprechen, aber als sie eine Weile später verstohlen nach ihrer Cousine schaute, sah sie, daß diese bebte und ihr die Augen voll Tränen standen. Sofort fühlte sie ihren Zorn schwinden.

„Irmachen,“ begann sie freundlich. „Sag mir doch, warum du so betrübt bist. Ich bin deine Freundin, mir kannst du vertrauen.“

Zum Glück befanden sie sich in einer stillen Straße, denn Irma konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Ich kann nicht, Agnes,“ stammelte sie fast schluchzend, „frag mich nicht.“

Die Andere forschte nicht weiter. „Komm mit zu mir,“ bat sie. „Die Eltern und Maud sind ausgegangen. Auf unsrem Zimmer kannst du dich erholen.“

Irma folgte willig. Als sie in dem gemütlichen, hellen Mädchenstübchen saßen, küßte Agnes ihre Cousine und fragte noch einmal teilnehmend:

„Kannst du mir wirklich nicht sagen, was dir fehlt, Liebling?“

„Ich kann nicht, ich darf nicht.“

Agnes schwieg.

„Gelobst du mir bei allem, was dir heilig ist, keinem Menschen ein Sterbenswörtchen zu sagen?“ flüsterte Irma.

„Das versteht sich wohl von selbst, ich bin doch deine Freundin.“

„Auch Ludwig nicht?“

Agnes zögerte. „Ist's etwas, was mich gar nichts angeht, Irma?“

„O gewiß, es geht einzig und allein mich an.“

„Nun, dann werde ich auch Ludwig nichts sagen.“

Irma legte ihr Köpfchen an Agnes' Schulter und begann flüsternd ihre Erzählung, wie sie schon bei der Landpartie gemerkt habe, daß Baron von Hochstein sie sehr reizend finde, wie er einige Tage später an sie geschrieben und ihr seine Liebe bekannt, und wie sie nach Verabredung eine rote Rose im Gürtel, am Fenster stehend, ihm ihre Gegenliebe verraten habe. Auf sein wiederholtes Schreiben und dringendes Bitten habe sie nach schwerem Gewissenskampf in ein Stelldichein gewilligt und ihn heute nachmittag auf der Chaussee im Walde getroffen.

Agnes' Gesicht verdüsterte sich immer mehr, aber sie sagte nichts. Erst als sie hörte, was die Liebenden heute beschlossen hatten, rief sie entrüstet:

„Aber Irma, wie konntest du das tun?“

„O, ich weiß, daß es schlecht war,“ schluchzte das arme, kleine Ding. „Aber ich hab' Otto so lieb. Du liebst Ludwig doch auch und mußt daher mit mir fühlen können. Hättest du denn nicht ebenso gehandelt?“

„Ich!“ rief Agnes. „Wahrscheinlich hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben, ganz gewiß aber ihm den Rücken gekehrt. Was bildet er sich ein? Wie darf er's wagen, dir geradezu zu sagen, daß du ihm nicht ebenbürtig bist!“

„Aber bedenke doch, die Barone von Hochstein! So ein altadliges Geschlecht! Noch nie ist in seiner Familie eine Mesalliance vorgekommen. Er steht weit über mir!“

„Welch ein Unsinn!“ entgegnete Agnes heftig. „Laß ihn mit seinem altadeligen Geschlecht nach dem Monde gehen. Welcher verständige Mensch legt in unsern Tagen Wert auf so etwas? Damit sollte er uns in Amerika kommen! Er über dir stehen! Du bist im Gegenteil unendlich erhaben über ihn, du, das Kind so genialer Eltern. Was haben seine Eltern wohl je geleistet?“

„Er denkt gewiß ebenso. Wirklich, Otto ist nicht vorurteilsvoll, aber seine Eltern sind doch nun einmal so furchtbar stolz.“

„Sprich mir nicht von Stolz! An deiner Stelle wäre ich viel zu stolz, mich in eine Familie einzudrängen, die es wagte, auf mich herabzusehen!“

Irma seufzte; sie hatte gehofft, Agnes würde die Sache ganz anders auffassen, mehr mit ihr übereinstimmen und sich wohl gar geschmeichelt fühlen, daß ein Baron ihrer Cousine seine Liebe gestanden hatte. Die nüchterne, praktische Art, mit der die Amerikanerin diesen für Irma doch so hochinteressanten Fall behandelte, enttäuschte sie sehr. Nirgends sah sie Hilfe, nirgends einen Ausweg, und sie fing wieder an bitterlich zu weinen.

Tränen waren etwas so Ungewohntes bei der sonnigen, lustigen kleinen Irma, die immer lachte und von jedem auf den Händen getragen wurde, daß Agnes plötzlich ein großes Mitleid mit dem armen Kinde fühlte.

„Weine nicht, Liebling,“ sagte sie zärtlich. „Ich sehe ein, daß es hart für dich ist, aber so kann die Sache nicht weitergehen. Du mußt ihm schreiben, daß du keine heimlichen Zusammenkünfte mehr mit ihm haben willst. Es ist unverzeihlich, daß du es schon einmal getan hast, aber geschehene Dinge sind nicht mehr ungeschehen zu machen. Es ist seine Pflicht gegen dich, sofort deinen wie seinen Eltern ein offenes Geständnis abzulegen. Will er das nicht, so muß zwischen euch alles aus und zu Ende sein.“

„Nein, um nichts in der Welt,“ schluchzte Irma. „Ich liebe ihn, und er liebt mich.“

„Seine Forderung beweist das Gegenteil,“ versetzte Agnes entrüstet. „Ich bitte dich, du wirst ihm doch kein Stelldichein mehr geben! Versprich mir das.“

Irma schwieg.

„Du darfst es nicht. Und tust du es doch, so sag' ich's der Großmama.“

„Das wäre garstig von dir; du hast mir versprochen, es keiner Menschenseele zu verraten.“

„Ja, das ist wahr, na, ich werd's auch nicht tun, du kannst mir vertrauen, aber Irma, du handelst sehr unbesonnen.“

„Es wird schon alles recht werden,“ sagte das junge Mädchen, in dem Wunsche, ihren Otto und sich zu verteidigen. „Er sagt, die Heimlichkeit würde nicht lange dauern, und er ist so edel, so feinfühlig. Du mußt doch zugeben, Agnes, daß ich mein Wort nicht brechen kann, ich hab's doch versprochen.“

Agnes war durchaus nicht einverstanden, merkte aber, daß Irma nicht zu überzeugen war. Auch überlegte sie, daß, wenn sie ihrer Empörung über Otto von Hochsteins Verhalten zu sehr Luft machte, Irma ihr das Vertrauen entziehen würde. Und es war doch besser, daß jemand um die unvorsichtigen Handlungen des kleinen Lieblings wußte, um ihn warnen und überwachen zu können. Daher tröstete sie ihr Bäschen so gut es ging, und gelobte aufs neue, das Geheimnis treu zu bewahren. Etwas erleichtert und beruhigt ging Irma nach Hause, wo sie in ihrem Leichtsinn sich einredete, keine Unwahrheit zu sprechen, als sie auf Ilses Frage, ob sie bei Müllers gewesen sei, um Agnes abzuholen, mit einem „ja, Großmama,“ antwortete.

Einige Tage später kam Nachricht von Holtens aus München. Gustav, dessen Name immer bekannter wurde, hatte sich um den Posten eines Lehrers am Konservatorium in I. beworben und die Stelle erhalten. Das war für einen jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren ein großes Glück. In sechs Wochen mußte er das Lehramt bereits antreten, und seine Hochzeit sollte so bald wie möglich stattfinden, denn er wollte nicht ohne Flora das neue Leben beginnen.

Großmutter Ilse schüttelte den Kopf.

„Sie sind ja beide noch Kinder. Die sollen schon heiraten? So unerfahren, wie sie sind!“

„Aber du warst doch auch sehr jung, als du heiratetest, Großmama,“ wandte Irma ein.

„Ja, mein Kind, aber dein Großvater war ein anderer Mann als Gustav, der ganz in seiner Kunst aufgeht und vom praktischen Leben keinen Schimmer hat. Und Flora?“

„Es wird schon gehen,“ meinte Irma, die über die Nachricht sehr glücklich war. Die Aussicht, daß ihr Bruder in I. wohnen und sie dadurch Gelegenheit haben würde, oft nach der Universitätsstadt zu fahren, war himmlisch. Auf diese Weise würde es viel leichter sein, Otto öfter zu sehen. Als sie Agnes ganz aufgeregt von diesem Glücksfall Mitteilung machte, schüttelte das praktische, kluge Mädchen sein weises Köpfchen.

„Es ist und bleibt verkehrt, und überdies, wenn Gustav in I. wohnt, wird er bald etwas merken.“

„Gustav! der merkt nichts. Du weißt doch, wie verträumt er immer ist. Glaubst du, daß er überhaupt noch an etwas anderes denken kann, als an seine Musik und an Flora?“ —

Die junge Braut kam nun wieder mit ihrer Mutter zu Gontraus auf Besuch, um alles für ihre Aussteuer zu besorgen. Irma ging oft mit nach I., und fand dann ab und zu Gelegenheit, Hochstein zu sehen. So geschah es, daß die Kleine, — bisher die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit selbst — Schritt für Schritt weiter in den Irrgarten der Lüge und des Betrugs hinein geriet. — Es kostete ihr keine große Mühe mehr, ihre aufsteigenden Zweifel und Gewissensbisse zu beschwichtigen und mit sich selbst Frieden zu schließen. Auch gab Otto ihr immer von neuem die Versicherung, daß sie durchaus nichts Unrechtes tue, indem sie vor ihrer Großmutter und ihren Eltern etwas verbarg. Er verstand es, sehr besorgt und schön über Frau Gontrau zu reden, die doch schon alt sei und sich ganz unnütze Sorgen machen würde, wenn sie wüßte, daß der Baron und die Baronin von Hochstein noch nicht ihre Einwilligung zur Verlobung gegeben hätten. Und Irmas Eltern, die so fern von ihr weilten, würden sich auch nur unnötig aufregen. Es war doch viel besser zu schweigen, bis die Geschichte ganz in Ordnung käme, und daß dies bald geschähe, daran brauchte Irma doch nicht zu zweifeln. So beruhigte sie sich immer wieder und fuhr fort, wissentlich Unrecht zu tun, wobei sie sich trotzdem glückselig fühlte. —

Flora und Gustav sollten kurz vor Weihnachten heiraten. Die ganze Familie begab sich zu dem Feste nach dem Landgut, auf dem Flora Werner wohnte.

Ilse war wehmütig bewegt, als sie das Haus wieder betrat, wo sie vor vielen Jahren als junge Frau mit Nellie zu Gaste gewesen war. Wie anders sah jetzt alles aus als damals! Die Besitzung hatte sich in den letzten Jahren unter der Oberleitung von Hans ganz außerordentlich gehoben und verschönt, und Flora, wenn sie auch nicht mehr so tätig war wie früher, stand auch jetzt noch, wo sie konnte, den Dorfbewohnern mit Rat und Tat bei. Ab und zu schrieb sie auch noch Verse, und am Hochzeitsmorgen überraschte sie die junge Braut mit einem langen Gedicht, das sie in der Nacht verfaßt hatte.

Es kam darin viel vor von Liebe und Kunst und herrlichem Beruf, von Lorbeeren, die der Künstler ernte, und die er seinem angebeteten Weibe zu Füßen lege. Die kleine Flora verstand zwar nicht viel davon, fand es aber doch sehr schön.

In vollstem Glanze stieg die Wintersonne an dem Hochzeitstag des jungen Paares empor. Die enge Dorfstraße, die der Festzug passieren mußte, wimmelte von Menschen. Fast aus jedem Hause wehte eine Fahne, und hier und da waren Ehrenpforten errichtet aus Tannengewinden, mit bunten Papierrosen verziert. Bäume, Felder und Wiesen hatten sich in ein fleckenloses Brautgewand gehüllt; die goldenen Sonnenstrahlen spielten auf dem Schnee und streuten glitzernde Diamanten darüber aus. An den funkelnden Farben, die sich über die blendend weiße Welt ergossen, konnte das Auge sich nicht satt sehen. Das Innere der kleinen Dorfkirche im Lichterglanz und Blumenschmuck war wie ein Feenmärchen. Fast noch die reinen Kinder standen Gustav und Flora vor dem Altar. Die junge Braut in einem einfachen weißen Kleide, die grüne Myrtenkrone auf den goldschimmernden Flechten, und der schlanke Bräutigam mit dem verzückten Blick und dem träumerischen, ernsten Antlitz.

Die Freunde und Verwandten erschienen als gute Feen und Beschützer — alle beseelt von dem innigsten Wunsch, das junge, eben verbundene Paar möge so glücklich werden, wie es zwei Menschen, die sich lieben, hier auf Erden nur sein können.

Auch Irma befand sich als Brautjungfer mit im Zuge. Ihr Brautführer war ein junger Rechtsgelehrter, ein Freund der beiden Reichers. Eigentlich hätte Hans sie führen müssen, aber seit Irmas Ankunft hatte er nicht den geringsten Versuch gemacht, sich ihr zu nähern. Er war sehr heiter, was sie mit Staunen wahrnahm, während sie in ihrer unbewußten Eitelkeit geglaubt hatte, den armen Hans bedauern zu müssen, weil er hoffnungslos in sie verliebt wäre. Er behandelte sie höflich und freundlich, aber von der Verehrung, die er ihr noch vor kurzer Zeit bewiesen, konnte sie nichts mehr entdecken. Sie behauptete zwar, daß ihr das ganz gleichgültig sei, aber im Grunde fühlte sie sich doch verletzt und ärgerte sich. Die Kleine, von allen verwöhnt und bewundert, wußte, daß sie auffallend hübsch war — ihre Umgebung hatte ihr das nur zu oft gezeigt — aber bis jetzt hatte das noch keinen schlechten Einfluß auf ihren Charakter gehabt. Ihre Koketterie war unschuldiger Art, seit jedoch Baron Hochstein ihr eitles Köpfchen mit seinen Redensarten und Schmeicheleien verdrehte, bildete sie sich ein, etwas ganz Besonderes zu sein, und fand es daher nicht mehr wie recht und billig, daß Hans Reicher ihr Sklave und Anbeter bliebe, vielleicht gar an seiner unglücklichen Liebe zu Grunde ginge. Wäre er ihr mit einer Liebeserklärung lästig gefallen, würde sie ihn jedenfalls ausgelacht haben, aber geschmeichelt hätte sie sich dadurch doch gefühlt. Nun er ihr zeigte, daß er ohne sie leben konnte, grollte sie ihm.

Hans war in seinen Gefühlen kein anderer geworden; er begriff jedoch, daß die einzige Möglichkeit, auf ein Wesen wie Irma Eindruck zu machen, darin bestand, ihr zu imponieren. Von Herzen gern wäre er zu ihr gegangen und hätte sie beschworen, ihm gut zu sein, aber als er ihr reizendes Gesichtchen erblickte, aus dem die kindliche, unbefangene Lieblichkeit verschwunden war, kam ihm sein Stolz zu Hilfe, er erwiderte ihre Spöttereien mit kühler Höflichkeit und wendete sich zu Maud, in deren Gesellschaft er sich jetzt am glücklichsten fühlte. —

„Hans ist einer der tüchtigsten jungen Leute, die ich je gesehen habe,“ sagte Maud, als sie alle wieder in F. waren. „Er ist ein ganzer Mann, klug und bedächtig, einer, der weiß, was er will, wie mein John auch. Damals im Sommer glaubte ich, er sei ernstlich in dich verliebt, Irma. Wenn du ihn durch deine Koketterie abgeschreckt haben solltest, würdest du mir leid tun, denn nicht jedes Mädchen findet einen solchen Mann.“

Doch vor Irmas Seele tauchte in diesem Augenblick eine hohe, aristokratische Gestalt auf, vornehm und elegant, mit der verglichen Hans ihr wie ein Bauer erschien. Sie zuckte nur geringschätzig die Achseln, als ob sie sagen wollte:

„Ich kann doch wohl noch etwas Besseres bekommen.“

„Kennst du das Märchen vom Schweinehirten, Irma?“ fragte Onkel Heinz.

„Nein,“ versetzte die Kleine, und da sie auf dem Antlitz des Professors einen spöttischen Ausdruck sah, vor dem ihr unwillkürlich bange ward, fügte sie hinzu:

„Und ich will es auch nicht kennen.“

„Aber ich,“ fiel Agnes ein, „ich liebe Märchen über alles; als wir Kinder waren, wollte Vater jedoch nicht, daß wir Märchen lesen oder hören sollten; „das ist nur unpraktisches Zeug,“ meinte er, „das euch einen ganz falschen Begriff vom Leben gibt. Märchen, Balladen, Legenden — in Deutschland mögen sie am Platze sein, für Amerika passen sie nicht.“

„Komm her, Irma,“ nahm Onkel Heinz von neuem das Wort, „und hör' zu.“ Er ergriff ihr widerstrebendes Händchen und zog sie näher zu sich heran. Die andern lachten über ihr böses Gesicht. Das kleine Fräulein war in letzter Zeit oft so reizbar; aber hier gab es doch wirklich keinen Grund, zornig zu werden.

„Es war einmal,“ begann Onkel Heinz.

„Wie abgeschmackt,“ schmollte Irma.

„Es war einmal ein armer Prinz(2), er besaß ein Königreich, welches ganz klein war, aber doch groß genug, um sich darauf zu verheiraten, und verheiraten wollte er sich.

Freilich schien es etwas keck von ihm, daß er zur Tochter des Kaisers sagte: ‚Willst du mich haben?‘ Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab hundert Prinzessinnen, die gern ja gesagt hätten, — ob sie es tat?

Auf dem Grabe seines Vaters wuchs ein Rosenstrauch, der blühte nur jedes fünfte Jahr und trug dann auch nur eine einzige Blume, aber diese eine Rose duftete so süß, daß jeder, der daran roch, allen Kummer und alle Sorge vergaß. Der Prinz hatte auch eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer Kehle säßen. Diese Rose und diese Nachtigall sollte die Prinzessin haben, und deshalb wurden sie beide in große silberne Behälter gesetzt und ihr zugesandt.

Der Kaiser und der ganze Hof waren bei der Ankunft der Geschenke zugegen; aber die Prinzessin war dumm, sie glaubte, es seien eine künstliche Rose und Nachtigall, und als sie sah, daß es natürliche waren, fand sie nichts Besonderes daran; sie zertrat die Rose und ließ die Nachtigall fliegen und wollte nicht gestatten, daß der Prinz käme.

Dieser ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Er bemalte sich das Antlitz schwärzlich, zog die Mütze tief über die Augen, klopfte an die Türe des kaiserlichen Palastes und fragte, ob er nicht auf dem Schlosse einen Dienst bekommen könne.

Jawohl, er konnte die Schweine hüten. Er bekam eine jämmerlich kleine Kammer, und da saß er nun den ganzen Tag und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen kleinen Topf gemacht; rings um denselben waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie schön und spielten die alte Melodie:

Ach, du lieber Augustin,
Alles ist weg, weg, weg!

„Das Stück kann ich auch spielen,“ sagte die Prinzessin, die des Abends mit ihren Hofdamen spazieren ging. „Fragt mal den Schweinehirten, wieviel der Topf kostet.“

„Ich will zehn Küsse von der Prinzessin haben, für weniger tu ich's nicht.“

Das war ein Schreck, es wurde gehandelt und gebettelt, aber der Schweinehirt bestand auf seiner Forderung.

„In Gottes Namen,“ sagte die Prinzessin zu ihren Begleiterinnen, „aber ihr müßt dicht um mich herumstehen, damit mich wenigstens niemand sieht.“

Die Hofdamen umringten sie, breiteten ihre Kleider aus, der Schweinehirt bekam zehn Küsse, und sie erhielt den Topf.

Nun machte der geschickte Jüngling eine Spieldose, wenn die aufgezogen wurde, spielte sie alle Walzer und Polkas, die auf der Welt existieren.

„Das ist ja superbe,“ rief die Prinzessin, „fragt ihn, was er dafür haben will, aber küssen tu ich ihn nicht wieder.“

Der Schweinehirt verlangte hundert Küsse; da ging die Kaisertochter böse fort.

Aber die Spieldose war doch zu wundervoll, und als die Prinzessin einsah, daß der Schweinehirt sie nicht anders hergab, mußten die Hofdamen wieder einen Kreis schließen, und sie ließ sich küssen.

„Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinestall sein?“ dachte der Kaiser, der verwundert sah, wie alle Hofdamen auf einem Klümpchen beisammen standen, und trotzdem er noch in Pantoffeln war, lief er eilig hinunter, um zu sehen, was es gäbe.

Sobald er den Hof betrat, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel zu tun, die Küsse zu zählen, daß sie seine Anwesenheit nicht bemerkten. Er erhob sich auf den Zehen und wurde so wütend, als er sah, wie sich seine Tochter von dem Schweinehirten küssen ließ, daß er beiden die Pantoffeln um die Ohren schlug und sie vom Hof herunterjagte.

Da standen sie nun in Regen und Kälte, die Prinzessin weinte, und der Schweinehirt fluchte.

„Ach, ich unglückliches Geschöpf,“ schluchzte sie, „hätte ich doch den Prinzen genommen und die Rose und die Nachtigall nicht fortgeworfen; wie dumm bin ich gewesen!“

Der Schweinehirt ging hinter einen Baum, wischte sich das Schwarze aus dem Gesicht, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun im fürstlichen Gewande hervor, so schön, daß die Kaisertochter sich verneigen mußte.

„Ich will nichts mit dir zu schaffen haben,“ sagte er. „Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen heiraten; die Rose und Nachtigall hast du verachtet, aber den Schweinehirten konntest du um einer Spielerei küssen. Das hast du nun davon!“

Dann ging er in sein kleines Königreich und schlug ihr die Türe vor der Nase zu. Da konnte sie draußen stehen und singen:

„Ach, du lieber Augustin,
Alles ist weg, weg, weg!“

„Das war sehr hübsch,“ meinte Irma mit erzwungenem Lächeln, „ich sehe nur nicht ein, was dies Märchen mit mir oder Hans Reicher zu schaffen hat.“

„Dann bist du gerade so dumm wie die Prinzessin,“ versetzte der alte Herr trocken, sie von sich weg schiebend.

Agnes blickte Irma vielsagend an, aber an diesem Abend fand sie keine Gelegenheit, ihre Cousine allein zu sprechen.

Wußte Onkel Heinz am Ende gar, daß sie mit Otto von Hochstein im geheimen Briefe wechselte, ihn auch mitunter an einem vorher verabredeten Platze traf? Irma erbebte bei diesem Gedanken; sie fragte Agnes, was sie davon dächte, aber diese meinte, Onkel Heinz ahne nichts; denn wäre das der Fall, so würde er sicher mit der Großmama darüber gesprochen haben; er sei doch nicht der Mann, so etwas zu verschweigen. Nein, er zog nur seine Schlüsse aus Irmas Benehmen gegen Hans und aus dem, was er bei der bewußten Landpartie beobachtet hatte.

Trotzdem riet Agnes ihr, vorsichtig zu sein, und nahm gleichzeitig nochmals die Gelegenheit wahr, ihr das Unrecht vorzuhalten. Sie bemühte sich, Irma zu überzeugen, daß Otto es unmöglich gut mit ihr meinen könne, wenn er fortfuhr zu verlangen, daß sie ihre nächsten Angehörigen so hintergehen solle. Anfangs hatte er doch nur von einigen Wochen gesprochen, bis es so weit sein werde, daß sie ihrer Großmutter alles erzählen könne; nun waren bereits Monate ins Land gezogen, und noch immer gebot er ihr Schweigen.

Unter Tränen und Seufzen mußte Irma zugeben, daß die Cousine recht hätte; aber sie liebte Otto zu sehr, sie könnte nicht von ihm lassen, sie würde sterben, wenn alles aus sein müßte.

„Unsinn,“ wandte Agnes ein, „daß du großen Kummer haben würdest, will ich glauben, aber an so etwas stirbt man nicht.“

„Wie kannst du so reden? Versetz' dich doch an meine Stelle. Würdest du nicht sterben, wenn du Ludwig entsagen müßtest?“

„Nein. Ich würde sehr unglücklich sein; aber ich würde mich bemühen, daran zu denken, daß es noch so viele gibt, die mich lieben: Eltern, Geschwister, Freunde, und daß ich daher nicht das Recht hätte, mich so ganz und gar meinem Schmerz hinzugeben.“

„Ach du,“ nahm die Kleine wieder das Wort, „du bist verlobt und bist doch so kalt, so scheußlich praktisch — du weißt ja gar nicht, was Liebe ist.“

„Möglich,“ versetzte Agnes, „eins aber weiß ich wohl. Wenn Ludwig mich überreden wollte, etwas Unredliches und Schlechtes zu tun, dann würde ich ihn laufen lassen, und wissen, daß er nicht der ist, für den ich ihn hielt. Die Versicherung gebe ich dir — und meinen Kummer würde ich überwinden.“

Irma schwieg. Die widersprechendsten Gedanken stritten sich in ihrem Köpfchen. Sie besaß genug gesunden Verstand, um sich bei ruhiger Überlegung zu sagen, daß Agnes recht habe. Aber Otto war so schön, so unwiderstehlich, er hatte ihr Herz ganz mit Beschlag belegt, und sie, sie glaubte ihn wahrhaft zu lieben. Wie sehr sie auch an Großmama, den Eltern und den andern hing, wenn sie Otto aufgeben müßte, würde deren Liebe sie nicht zu trösten vermögen, und dann ... der Gedanke, Baronin von Hochstein zu werden, war ihr in letzter Zeit immer lieber und vertrauter geworden. Manchmal stellte sie sich bereits vor, wie es sein würde, wenn sie als Ottos Frau ihren Platz in den glänzenden Sälen des Schlosses seiner Ahnen, von dem er ihr solche Wunder erzählte, einnehmen würde. Sie sah sich als Braut in der Familienkapelle vor dem Altar, nicht in einfachem, weißem Nesseltuch wie Flora, sondern in einem Kleide von Silberbrokat, mit funkelnden Diamanten bestreut, und in ihrer Nähe, außer den eigenen Verwandten, einen weiten Kranz hochadliger Damen und Herren, vornehme Offiziere und Minister, die Brust mit Orden bedeckt. Ja, wer weiß, vielleicht ließ sich der Kaiser gar durch einen seiner Adjutanten vertreten, denn am Hof würde sie dann natürlich schon vorgestellt sein.

Es war hart, all diesen schönen Aussichten Lebewohl zu sagen, noch härter aber, ihren glänzenden Studenten aufzugeben. Und doch, wenn sie sich aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurück versetzte, vernahm sie eine Stimme in ihrem Innern, die ihr zurief, daß ihr nichts andres übrig bleiben werde. Sie seufzte tief und brach aufs neue in Tränen aus.

„Aber was willst du denn? Was soll ich tun?“ fragte sie endlich, als Agnes sie in ihre Arme zog und sich bemühte, sie zu trösten.

„Ihn zum letzten Male fragen, ob du alles erzählen darfst, und wenn er es nicht zugeben will, unwiderruflich und für immer Abschied von ihm nehmen.“

„Ich kann nicht,“ stöhnte Irma, „er wird mir böse werden und mir vorwerfen, daß ich mein Versprechen nicht halte.“

„Wann hast du wieder eine Zusammenkunft mit ihm?“

„Morgen nachmittag.“

„Soll ich an deiner Stelle gehen und ihm sagen, wie der Hase läuft?“ fragte Agnes, mit einem streitlustigen Gesicht.

„Nein, ums Himmelswillen nicht! Er weiß nicht, daß du meine Vertraute bist. Er würde mir das nie verzeihen.“

Agnes zuckte ungeduldig die Achseln. Noch eine Weile weinte Irma, dann stand sie auf.

„Ich will es tun,“ sagte sie, „du hast recht, es ist furchtbar, so etwas vor Großmama geheim zu halten, aber verliere ich Otto, so sterbe ich ganz gewiß.“

„Es stirbt sich nicht so leicht,“ dachte Agnes, aber sie war klug genug, das nicht zu sagen. „Hör' mal,“ sagte sie laut, „ich will morgen mit dir kommen; hab' keine Angst, dein Baron soll mich nicht sehen, erst wenn eure Begegnung vorüber ist, wollen wir uns auf einem vorher verabredeten Platze treffen und zusammen nach Hause gehen.“

Am folgenden Tage goß es in Strömen, die Straßen waren naß und schmutzig, alles sah trostlos grau und düster aus. Eilig schritten die beiden Mädchen nebeneinander her, bis sie die Chaussee erreichten. Irma hatte fast kein Wort gesprochen und auf alles, was die Freundin sagte, nur einsilbig geantwortet. Besorgt schaute letztere ihre Cousine an. Selbst jetzt, in einem grauen Regenmantel gehüllt, ein einfaches Filzhütchen auf dem Goldhaar, war die Kleine bildhübsch. Um sie etwas aufzumuntern, scherzte Agnes:

„In meinem Regenmantel seh' ich aus, als ob ich in einem Sack steckte; deiner steht dir famos, wie alles, was du anziehst.“

Selbst diese Schmeichelei, für die sie sonst nicht unempfindlich gewesen wäre, lockte kein Lächeln auf Irmas Lippen. Ihre Mundwinkel bebten und sie kämpfte sichtlich mit den Tränen.

„Nur Mut, nicht verzagt!“ tröstete Agnes, „vielleicht läuft die Sache gut ab. Wenn du ihm gehörig ins Gewissen redest, sieht er wahrscheinlich selber ein, daß er nicht recht tut. Wer weiß, ob er dir nicht erlaubt, noch heute deinen Eltern zu schreiben und der Großmama alles zu sagen, dann wird in den nächsten Tagen deine Verlobung angezeigt, und du gehst mit deinem schönen Baron Arm in Arm einher!“

Irma antwortete nichts, der Ton, in dem Agnes über Otto sprach, ärgerte sie, aber sie fühlte sich zu unglücklich, um sich in ein Wortgefecht einzulassen.

Sie hatten schon ein gutes Stück Weges zurückgelegt. Kein Mensch ließ sich auf der Chaussee blicken; die kahlen Bäume tropften vor Nässe, der Boden war durchweicht und schlüpfrig. Agnes schaute umher und mußte leise lächeln. „Kein poetisches Wetter für ein Stelldichein,“ dachte sie, und hatte Lust, einige spöttische Bemerkungen zu machen, bezwang sich aber, blieb stehen und sagte nur:

„Ich kehre um, Irma, denn Baron von Hochstein kann jeden Augenblick erscheinen. Bei diesem Wetter hab' ich keine Lust, hier draußen auf dich zu warten. Ich geh' in die Konditorei von Bauer. Komm mir dahin nach, sobald du kannst.“

„Ja.“

„Wirst du's kurz machen?“

„Ja.“

„Und tapfer sein?“

„Ja.“

Agnes seufzte, gab ihrer Cousine einen Kuß und entfernte sich rasch, denn sie glaubte in der Ferne die hohe Gestalt Hochsteins zu erkennen. Nach einigen Minuten schaute sie sich um. Ein Gartenzaun entzog sie den Blicken der beiden, sie selbst aber konnte deutlich sehen, wie Irma und der Student unter einem Regenschirm zusammen weitergingen, bis sie im nahen Wäldchen verschwanden.

Bedrückten Gemüts begab Agnes sich in die Konditorei. Zum Glück waren keine Gäste dort. Sie setzte sich ans Fenster und bestellte Schokolade und Kuchen. Irma würde gewiß verfroren und betrübt ankommen und ein warmes Getränk ihr gut tun. Wenn sie jetzt nur tapfer war und fest blieb, dann nahm diese ganze elende Geschichte ein Ende. Agnes fühlte sich so zu sagen mitschuldig an dem Betrug, weil sie Schweigen gelobt hatte, und doch sah sie ein, daß sie ihr Wort nicht brechen durfte.

Während sie bei sich das für und wider überlegte, verging die Zeit. Sie sah nach der Uhr, eine halbe Stunde war schon verstrichen. Die Schokolade wurde kalt, sie wollte frische bestellen, wenn Irma kam. Himmel, wie lange dauerte das! Ob sie Abschied nahmen? Agnes fing an unruhig zu werden und stand im Begriff, sich nach dem Ort des Stelldicheins zu begeben. Da knarrte die Ladentür. Gott sei Dank, Irma trat ein mit strahlendem Gesicht, glühenden Wangen und glänzenden Augen. Agnes flog ihr entgegen.

„Ich brauche nicht zu fragen,“ rief sie, „alles ist gut?“

Irma nickte, setzte sich an den Tisch und nahm sofort von dem Kuchen.

Agnes freute sich aufrichtig, Otto stieg in ihrer Achtung, und sie bereute, daß sie ihm oft in ihren Gedanken unrecht getan hatte.

„Du mußt vergessen, daß ich an Otto zweifelte und sagte, er meine es nicht gut mit dir. Ich sehe, daß ich mich geirrt habe,“ sagte sie.

„Er ist ein Engel,“ versetzte Irma, „wenn du ihn später kennen lernst, wirst du das selber finden.“

„Na, das ist ja nicht gerade nötig, aber nun erzähle wie es war. Fand er's gleich in der Ordnung, daß die Heimlichkeit aufhören soll? Hat er wohl gar schon mit seinen Eltern gesprochen? Wann wird eure Verlobung veröffentlicht?“

Irma hatte den dritten Kuchen verzehrt, schob nun den Teller zurück und rührte nachdenklich in der Schokolade.

„Otto sieht sehr wohl ein, daß dieser Zustand auf die Dauer unhaltbar ist,“ begann sie, „daher begreift er auch, daß ein Ende damit gemacht werden muß.“

„Recht so. Ich fürchte nur, Irma, Großmama wird doch ein bißchen böse auf dich sein, aber du bist ihr Liebling, da wird sie's schon verzeihen. Du sagst es ihr doch natürlich noch heute?“

„Nein, heute nicht.“

„Was?“ Agnes fiel wie aus den Wolken.

„Nein,“ fuhr Irma etwas nervös und gereizt fort. „Du brauchst dich nicht gleich zu ereifern. So rasch geht das nicht. Otto muß erst eine günstige Gelegenheit abwarten, seine Eltern vorzubereiten.“

„Himmel, Irma, was hat er dir denn wieder vorgeflunkert? Das ist ja immer die alte Leier.“

„Die alte Leier. Hör' mal, du hast selbst gesagt, daß du Otto unrecht getan hast; nun fängst du schon wieder an.“

„Ich höre,“ versetzte Agnes, mit einem Gesicht, auf dem Ungeduld und Entrüstung deutlich zu lesen standen.

„In drei, höchstens vier Monaten macht Otto sein Examen. Daß er durchkommt, ist sicher, er ist ja so klug. Seine Eltern werden riesig erfreut sein, denn in den ersten Semestern hat er viel gekneipt und gebummelt, aber wenig studiert. Wenn er durchkommt, kann er von seinen Eltern verlangen, was er will — dann will er ihnen alles sagen, und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie ihre Einwilligung geben.“

„Und in der Zwischenzeit?“

„Bleibt alles natürlich, wie es ist. Was bedeuten drei bis vier Monate? Nun wir wissen, daß es nur noch so kurze Zeit dauert, wäre es doch mehr als dumm, alles durch zu frühe Veröffentlichung aufs Spiel zu setzen.“

Agnes sagte nichts. Sie stand auf und bezahlte, was sie verzehrt hatten. Dann setzte sie sich noch einmal, schwieg aber.

„Warum sagst du nichts?“ fragte Irma endlich mit bedrückter Miene.

„Ach, du lieber Augustin, alles ist weg, weg, weg,“ sang die andere.

„Agnes,“ rief Irma zornig, „du bist unausstehlich!“

„Bin ich? So? Na, dann wollen wir nur nach Hause gehen, mein armes, dummes Prinzeßchen.“

Die Kleine war sehr böse. Mit stolz erhobenem Haupte schritt sie neben ihrer Cousine her und sagte ihr sehr kühl Lebewohl, als sie an ihrer Wohnung angelangt waren.

Einige Tage später erhielt Frau Gontrau einen Brief von ihrem Großsohn Gustav von Holten, mit der Bitte, ihm Irma doch einige Wochen nach I. auf Besuch zu schicken. Er selbst wäre durch seine rege Berufstätigkeit viel von Hause fort und sein noch so wenig an das Stadtleben und die neue Umgebung gewöhntes Frauchen fühle sich ein bißchen einsam. Es wäre daher herrlich, wenn sie für eine Zeitlang Gesellschaft bekäme.

Das Blut stieg Irma in die Wangen, und ihre Augen glänzten vor Freude. Wie entzückend in I. auf Besuch zu sein und dort vielleicht Otto häufig zu begegnen!

„Möchtest du gerne hin, Kindchen?“ fragte Ilse.

„Ach, wie gern, Großmama! Aber dann bist du so allein!“

„O, das tut nichts, ich kann mich schon beschäftigen, und seit Müllers hier wohnen, habe ich ja immer Gesellschaft.“

„Das ist wahr. Agnes und Maud können dich alle Tage besuchen.“

„Gewiß, mein Liebling, und dann ist noch Onkel Heinz da, so wird mir's an Unterhaltung nicht fehlen. Ich glaube, daß es auch für dich heilsam ist, einmal in andre Umgebung zu kommen, Irma, denn du siehst in der letzten Zeit nicht gut aus; auch hast du dich überhaupt sehr verändert.“

„Aber Großmama,“ sagte die Kleine mit erzwungenem Lächeln und klopfendem Herzen.

Ilse streichelte das blonde Gelock ihrer Enkelin und küßte sie. „Du hast doch nichts, was dich bekümmert?“

„Gewiß nicht, Großmama; wie kommst du nur darauf?“

„Ich beobachte dich, mein Liebling, und finde, daß du oft so sonderbar bist. Weißt du, was ich mir einbildete?“

„Nein, wie sollte ich das wissen?“

„Daß der schöne Student, der auf unsrer Landpartie so aufmerksam gegen dich war, tieferen Eindruck auf dich gemacht hat, und daß du dich unglücklich fühlst, weil er seitdem nichts mehr von sich hören ließ.“

Im Zimmer herrschte Dämmerung, und Irmas Köpfchen lag an Ilses Schulter. So konnte die Großmama die Schamröte nicht sehen, welche die Wangen der Enkelin bedeckte, als diese zögernd erwiderte:

„Aber Großmama, wie hast du dir nur so was in deinen lieben, alten Kopf setzen können?“

„Nicht wahr, Kindchen? Sie haben mir bange gemacht, Onkel Heinz und deine Mama, die in jedem Brief fragte, ob ich nichts von jenem Baron gesehen habe; und dann, wie ich schon erwähnte, warst du mitunter so sonderbar; aber ich glaubte, wenn etwas derartiges wäre, würde mein Kind mir's doch sagen, denn nicht wahr, Irma, du hast Vertrauen zu mir und läßt mich an deiner Freude, wie an deinem Kummer teilnehmen?“

„Natürlich, Großmama.“

„Also war's nur eine Aufwallung, eine vorübergehende Verliebtheit! In Wirklichkeit hast du dir nie etwas aus dem Baron gemacht?“

„Nein.“

„Ich bin so froh darüber und fühle mich nun ganz beruhigt. Daraus hätte doch nie etwas werden können. Die Barone von Hochstein halten sich ja für ganz besonders vornehm. Ich bin dankbar, mein Liebling, daß dieser Kummer dir erspart geblieben ist.“

Irma begab sich in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und schluchzte, als sollte ihr das Herz brechen. Sie kam sich so schlecht vor, so heuchlerisch und doppelsinnig, daß sie einen Ekel vor sich selber empfand und im Begriff stand, wieder hinunterzugehen und ihre Schuld zu gestehen. Aber dann fiel ihr ein, wie Otto gesagt hatte, daß dies unwiderruflich alles verderben würde. So beschwichtigte sie ihr Gewissen, indem sie sich vorhielt, es werde ja nur noch ein paar Monate dauern. Dann durfte sie alles beichten und um Verzeihung bitten, daß sie die Großmama in dieser Weise hatte hintergehen müssen.


(2) Aus Andersens Märchen: Der Schweinehirt.

Dekoration

Als Irma in I. aus dem Coupé stieg, schaute sie sich überall nach Gustav und Flora um, aber niemand war zu erblicken. Etwas enttäuscht nahm sie sich eine Droschke und ließ sich nach der kleinen, dicht vor der Stadt gelegenen Villa fahren, welche ihr Bruder bewohnte.

Es war ein schöner Tag zu Ende Februar; wie holde Frühlingsahnung zog es durch die Luft. Hier und da fingen einige geschützt stehende Büsche an zu knospen, und in dem Gärtchen vor dem Hause blühten gelbe und lila Krokus. Die Villa sah allerliebst aus; von dem hell gestrichenen Giebel hob sich der Fenster und Türen umrankende Efeu malerisch ab.

Irma klingelte, mußte aber lange warten; erst als sie zum zweiten Male die Glocke zog, wurde geöffnet, und eine mürrische Stimme brummte:

„Es wird doch wohl nich so 'ne Eile haben, ich komm schon.“

Eine dicke Dienstmagd in den fünfziger Jahren, mit aufgedunsenem, frechem Gesicht, pechschwarzem Haar und einem Anflug von Schnurrbart auf der Oberlippe ward sichtbar. Sie trug ein dunkles Wollkleid, aus dessen kurzen Puffärmeln die drallen, feuerroten Arme wie fest gestopfte Würste zum Vorschein kamen. Der Boden dröhnte unter ihren Schritten, und sie hatte ganz und gar das Aussehen eines verkleideten Dragoners.

„Ist die gnädige Frau zu Hause?“ fragte Irma erschreckt und kleinlaut beim Anblick dieser martialischen Erscheinung.

„Jawohl.“

„Sagen Sie ihr, daß ich angekommen bin, Fräulein von Holten, die Schwester des Herrn.“

„Nicht nötig,“ damit deutete sie auf eine Tür am Ende des Korridors. Diesem gebieterischen Winke gehorchend, beeilte Irma sich an die bezeichnete Türe zu klopfen. Kein „Herein“ ertönte; sie schaute sich hilflos um, aber das Mannweib war verschwunden. Irma öffnete, prallte indes sofort zurück, denn das ganze Zimmer war mit Rauch erfüllt, der Qualm trieb ihr Tränen in die Augen und reizte sie zum Husten. Als sie nach einigen Augenblicken zögernd eintrat, konnte sie ein geräumiges Gemach unterscheiden, mit eleganten, ganz modernen Möbeln. Sie sah Vorhänge und Wandbekleidungen von hellgrüner Seide, mit stilisierten Blumen durchwirkt, überall in künstlerischer Unordnung durch den ganzen Raum verstreut Büsten, Bilder und Kunstwerke jeder Art. Was Irma aber am meisten in Erstaunen setzte, war Flora selbst, die in einem lose hängenden, weißen Gewande vor dem Ofen kniete und augenscheinlich die verzweifeltsten Anstrengungen machte, das Feuer anzuzünden; es wollte nicht brennen, dicke blaue Rauchwolken stiegen aus den Steinkohlen in die Höhe und hüllten die junge Frau vollständig ein.

„Mein Himmel, Flora, was treibst du da?“ rief Irma.

Die Angerufene kehrte sich um, ganz entsetzt beim Anblick ihrer Schwägerin.

„Ach Gott, ist's schon so spät? Ich wollte dich von der Bahn abholen und habe gar nicht auf die Zeit geachtet. Was soll ich nun machen? Das eklige Feuer will und will nicht brennen.“

„Eine nette Begrüßung,“ meinte Irma lachend. „Komm aber wenigstens mal her und gib mir einen Kuß, und dann wollen wir das Fenster aufreißen, denn in diesem Rauch ersticken wir ja.“

„Wenn ein Luftzug hereinkommt, werden die Kohlen erst recht nicht anbrennen.“ Und sofort kehrte Flora zum Ofen zurück.

„Aber Kind, warum rufst du nicht das Mädchen?“

„Ach, Irma, ich getraue mich nicht. Vor ein paar Stunden brannte das Feuer ganz gut; ich habe vergessen danach zu sehen, und nun wage ich nicht, sie noch einmal zu bemühen. Sie würde böse werden, und ich hab' solche Angst vor ihr.“

„Wenn es das Wesen ist, das mir aufmachte, dann glaube ich dir's. Die sah ja aus wie ein Mann. Wie konntest du nur so ein Mädchen nehmen, Flora?“

„Ach, sprich nicht davon; wir sind zwei Monate verheiratet, und dies ist schon die Fünfte.“

„So? Wie kommt denn das?“

„Ich weiß es nicht,“ klagte Flora, immer noch das Feuer anblasend. „Ich glaube, ich verstehe nicht mit ihnen umzugehen. Die erste, die wir hatten, radelte leidenschaftlich und wollte nicht kochen; dann kam eine, die stahl wie ein Rabe, in zwei Tagen war das Wirtschaftsgeld alle, ohne daß ich es ausgegeben hätte; die dritte ging in einem meiner Kleider und mit meinem Hut spazieren; die vierte hatte eines Tages ihren Schatz und noch fünf oder sechs Soldaten in der Küche. Von dieser glaube ich, daß sie trinkt, denn sie flucht entsetzlich, und ich habe schreckliche Furcht vor ihr.“

„Und Gustav?“ fragte Irma, die trotz allem lachen mußte.

„Ach, du siehst doch wohl ein, daß ich ihm mit dieser häuslichen Misere nicht lästig fallen kann. Er findet es so wie so schon merkwürdig, alle Augenblicke ein andres Gesicht zu sehen. Der Haushalt und das Mädchen gehören doch zu meinem Wirkungskreis.“

Das offenstehende Fenster schien dem Feuer bekömmlich zu sein; der Rauch verzog sich, und die Kohlen fingen an zu brennen. Mit einem Seufzer der Erleichterung stand Flora auf.

„Gott sei Dank,“ sagte sie. „Es ist ja sehr schönes Wetter, aber ohne Feuer geht es doch noch nicht.“

„Warum hast du keine Füll- oder Gasöfen?“ fragte Irma, „dann brauchtest du dich gar nicht darum zu kümmern.“

„Ach, die mag Gustav nicht. Er sagt, das sind häßliche, unkünstlerische Dinger; er will das Feuer und die Flammen sehen, das bringt ihn auf gute Gedanken und regt ihn an.“

„So! Aber sag' mal, Flora, du siehst eigentlich sonderbar aus. Gehst du immer in solch einem weißen Kleide?“

Floras Toilette war in der Tat höchst eigenartig. Ihr langes, schleppendes, weißes Gewand, am Halse ein wenig ausgeschnitten, mit weiten, hängenden Ärmeln, und ihr blondes, aufgelöstes Haar, das nur von einem schmalen, goldnen Bande zusammengehalten wurde, erinnerten sehr an Theater oder Maskenball.

„Findest du es nicht schön?“ fragte sie, indem sie sich um sich selbst drehte, damit Irma sie von allen Seiten bewundern könne.

„Ja, es steht dir sehr gut, aber es ist doch ein bißchen komisch, sich so zu kleiden; ich finde es geziert und auffallend.“

„Gustav hat's gern, wenn ich mich so kleide und das Haar aufgelöst trage; dann bin ich in seinen Augen Elsa.“

„Wird er nun bald als Schwanenritter erscheinen?“ fragte Irma spottend.

„Nein, das geht natürlich nicht, aber Gustav sagt, die Menschen, die alles, was ein bißchen vom Althergebrachten abweiche, geziert fänden, seien eben ganz und gar nicht künstlerisch veranlagt.“

Irma schaute ihre junge Schwägerin erstaunt an; aber sie sah sofort ein, daß Flora nicht beabsichtigt hatte, ihr etwas Anzügliches zu sagen. Sie wiederholte nur die Worte ihres Gatten wie eine auswendig gelernte Aufgabe.

Sie gingen jetzt zusammen nach oben, und Irma mußte das ganze Haus bewundern. Die Einrichtung war wirklich höchst geschmackvoll, aber sämtliche Zimmer und Schränke zeigten die Spuren weitgehendster Unordnung. Die mit hellen Seidenstoffen bezogenen Sessel und Sofas waren voll Flecken, und die unglaublichsten Dinge lagen überall umher. Im Schlafzimmer waren Notenbücher über den Boden verstreut, und auf dem ungemachten Bett mit herunterhängender Spitzendecke lagen Schreibmaterialien neben einem halb beschriebenen Notenblatt. Gustav hatte beim Ankleiden eine Eingebung gehabt und sofort seine Gedanken zu Papier gebracht, dann aber keine Zeit gefunden, die Arbeit durchzusehen. Nun durfte niemand daran rühren, ehe er heimkehrte. Irma war gewiß keine vollendete Haushälterin, aber bei Großmama Gontrau herrschte eine so tadellose Ordnung und anheimelnde Gemütlichkeit, daß sie sich unwillkürlich über dies tolle Durcheinander ärgerte.

„Wie kommt es, Flora, daß deine schönen Stühle schon so arg schmutzig sind?“ fragte sie, als sie wieder unten waren.

„O, das haben die abscheulichen Mägde getan,“ versetzte Flora. „Sag mal, Irma,“ fuhr sie, ihre Schwägerin mit großen, erschrockenen Augen ansehend, fort, „findest du es hier nicht nett?“

„Na, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wenn ich erst so kurze Zeit verheiratet wäre und so viele schöne Sachen hätte, würde ich sie doch mehr in acht nehmen.“

„Ich tue, was ich kann,“ sagte Flora ernst, „aber es ist so schwer. Gustav meint, es käme darauf nicht an. Er selbst ist so zerstreut, er denkt nur an seine Musik, ist nie bei der Sache. Gestern z. B. goß er den Wein auf die Teller statt in die Gläser; er nimmt allerhand Dinge mit nach oben, die nicht in die Schlafstube gehören, und vergißt sie an ihren Platz zurückzustellen; ich will gern alles in Ordnung halten, aber ich bin so nervös, mache häufig Flecken, und zerbreche viel.“

„Das ist sehr schade,“ meinte Irma.

„Das ärgste aber von allem sind die Dienstmädchen. Ich glaube, diese Lisa ist die fürchterlichste, die ich noch gehabt habe. Stelle dir vor, morgens tritt sie bei mir an und fragt mich allerlei, was ich nicht weiß. Ich habe doch keine blasse Ahnung, wieviel Fleisch oder Fisch oder Gemüse oder Butter ich brauche, und die Preise kenne ich erst recht nicht. Verstehst du das alles?“

„Alles nicht, aber so 'ne schwache Idee habe ich doch davon.“

„Ich nicht. Großmama Flora sagte immer, der Haushalt ginge von selbst, den brauchte man nicht zu lernen. Mama hat zwar in letzter Zeit versucht, mir einiges zu zeigen, aber ich war so von meiner Liebe zu Gustav erfüllt, daß ich nicht aufpaßte. Nun tut mir das leid. Jetzt, wo du hier bist, kannst du mich belehren, ja?“

„Viel wird das nicht sein; aber so gut ich kann, will ich dir gern helfen.“

„Wirst du dich auch vor Lisa fürchten?“

„Nein, sie ist doch nur die Magd.“

In diesem Augenblick trat die, von der sie soeben gesprochen, ins Zimmer.

„Es ist Zeit, den Tisch zu decken,“ sagte sie barsch, und dann fuhr sie, zu Flora gewendet, fort:

„Geben Sie mir die Schlüssel zum Wäscheschrank und zum Weinkeller.“

Irma gab ihrer Schwägerin einen Wink, daß sie es verkehrt finde, dem Mädchen die Schlüssel zu überlassen, wandte sich aber verlegen ab und betrachtete aufmerksam einen Kupferstich an der Wand, als Lisa sie mit herausforderndem Blick ansah, und die Hände in die Seiten stemmte.

Die Magd füllte die ganze Stube mit ihren schwerfälligen, plumpen Bewegungen und ihrer Riesengestalt aus. Dröhnend ging sie hin und her und schaute immer wieder so drohend nach der Türe, daß den beiden Kindern angst und bange wurde, und sie, der gleichen Empfindung folgend, zusammen das Zimmer verließen.

Gustav kam nach Hause. Er hatte sich, seit Irma ihn zuletzt gesehen, wenig verändert. Seine träumerischen Augen starrten wie immer ins Blaue hinein. Sein Haar war gewachsen und ringelte sich bis in den Nacken. Er trug eine kurze Samtjoppe, einen Umlegekragen und eine breite, flatternde Krawatte. Als er eintrat, flog Flora ihm entgegen, und ohne von seiner Schwester die geringste Notiz zu nehmen, schloß er sein Weibchen in die Arme und küßte es. Diese Umarmung dauerte mindestens fünf Minuten. Irma vernahm alle möglichen Ausrufe, wie: „Mein blondgelockter Engel! Meine Elsa! Meine reine, weiße Lilie!“ — und: „Mein Held! Mein Künstler! Mein liebes Männchen!“ &c. Ihr wurde ganz schwach, und endlich rief sie:

„Hört mal, ich bin auch noch da!“

Nun hieß Gustav sie herzlich willkommen und ging dann in sein Zimmer. Auch hier herrschte eine geniale Unordnung. Stöße von Musikheften bedeckten den Flügel sowie sämtliche Stühle und selbst die Erde, sodaß es eine Kunst war, einen Weg durch dies Chaos zu finden.

Die gefürchtete Lisa meldete, daß das Essen fertig sei.

„Ich will nicht, daß alles kalt wird,“ fügte sie hinzu; „sagen Sie also dem Herren, er soll gleich kommen.“

Gehorsam ging Flora, um ihren Mann zu rufen; er saß am Flügel und spielte. In den ersten zehn Minuten gab er auf die Bitte seiner jungen Frau überhaupt keine Antwort.

Endlich, als sie es wagte, leise näher zu treten und ihn auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, stand er träumerisch auf, fuhr mit der Hand durch sein langes Haar und folgte ihr.

Lisa brachte das Essen herein und bediente mit einem Gesicht wie eine dräuende Gewitterwolke. Das Mahl war gut zubereitet, aber es wurde in solchen Mengen aufgetragen, daß noch mindestens zehn Personen hätten mitspeisen können. Irma machte ein sehr erstauntes Gesicht.

„Was für ein kolossaler Rinderbraten, der würde für ein Waisenhaus genügen,“ sagte sie, als Lisa das Riesenstück auf den Tisch stellte.

Das Mädchen warf ihr unter gerunzelten Brauen einen wütenden Blick zu, und Flora winkte ihr erschrocken, sie möchte schweigen.

„Aber Kind,“ begann Irma, als das Schreckgespenst das Zimmer verlassen hatte, „warum bestellst du solche Riesenbraten? Nun müssen wir die ganze Woche von kaltem Fleisch leben.“

„O nein, davon ist morgen nichts mehr übrig.“

„Was!“ rief Irma, mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen.

„Ja, wo es hinkommt, weiß ich nicht.“

„Aber das ist doch unmöglich. Wir drei zu Hause essen nicht den zehnten Teil von dem, was hier aufgetischt wird; wo bleiben denn die Reste?“

„Auf den Tisch kommt nichts mehr davon.“

„Aber dann bringt Lisa sie beiseite.“

„Ums Himmels willen, sei doch still. Wenn sie das hörte!“

„Na, es ihr ins Gesicht zu sagen, würde ich freilich nicht wagen. Aber Gustav, du, der Herr des Hauses, solltest doch das Mädchen zur Rede stellen.“

„Um was handelt sich's denn?“ fragte Gustav, der in seiner zerstreuten Art aß, auf nichts achtete, was um ihn her geschah, und nicht hörte, was gesprochen wurde.

Irma legte ihm den Fall vor.

Er schaute ebenso hilflos drein, wie sein kleines Frauchen, und sagte freundlich:

„Meine liebe Irma, was können wir da machen?“

„Nun, aufpassen und wenn nötig, sie ins Verhör nehmen.“

„O nein, das Frauenzimmer würde heulen, schreien und fluchen. Ich finde sie schon schrecklich genug, mit ihrer lauten Stimme und ihren unschönen Bewegungen. Ich möchte so gern ein Mädchen haben, das mit Floras poetischer Erscheinung mehr im Einklang stände. Was sie aber mit dem übriggebliebenen Essen macht, kann mir doch ganz egal sein.“

„Wenn du nach dem Mittagessen alles an einen bestimmten Platz stellen ließest, Flora.“

„O, liebste Irma, hier im Hause hat nichts seinen bestimmten Platz.“

„Du mußt meinem kleinen Liebling keinen Schreck einjagen, Schwesterchen,“ sagte Gustav. „Sie bemüht sich nach Kräften, und ich habe ein bißchen geniale Unordnung gern.“

„Aber auf diese Weise seid ihr bald bettelarm.“

„Ach nein, wir besitzen noch einen großen Haufen Geld, und wenn das alle ist, komponiere ich meine neue Oper; mir stecken ja so viel Ideen und Melodien im Kopf. Und dann werden wir wieder reich, gelt, Florchen?“

Beide lachten so sorglos und herzlich, daß Irma, die von Natur wahrhaftig nicht ernst angelegt war, lustig mit einstimmte.

Ein paar Tage später wurde sogar Gustav aus seiner behaglichen Gleichgültigkeit wachgerüttelt. Seine Frau war mit Irma spazieren gegangen. Als er nach Hause kam, stand ein Haufen Menschen vor der Türe der kleinen Villa, und über dem Dach schwebte eine dichte schwarze Rauchwolke.

„Es brennt,“ rief es von allen Seiten, und bei seinem Eintritt schlug ihm ein erstickender Qualm entgegen. Es war ein Schornsteinbrand, und in der Küche saß die gefürchtete Lisa mit dem Kopf auf dem Tisch und schnarchte, während eine geleerte Kognakflasche und ein Glas daneben deutlich erkennen ließen, woher sie so zur Unzeit ein Bedürfnis nach Ruhe überkommen hatte.

Fremde Leute drangen ins Haus; die Feuerwehr und die Polizei wurden alarmiert. Gustav war später außer Stande zu erzählen, wie alles sich zugetragen hatte; aber als Flora und Irma heimkehrten, fanden sie in der Küche eine fürchterliche Unordnung, und Lisa war von der heiligen Hermandad mit Sack und Pack aus dem Hause geschafft worden. Nur in höchst unzusammenhängender Weise vermochte Gustav ihnen das Geschehene zu erklären; dann standen sie alle drei und schauten sich bestürzt an, bis Flora endlich erleichtert aufatmete und Gott dankte, daß Lisa fort war, denn sie würde nie den Mut gefunden haben, ihr zu kündigen.

An diesem Mittag speisten sie in einem Restaurant und unterhielten sich köstlich. Am folgenden Morgen machten Irma und Flora die Betten und lachten sich über ihre Ungeschicklichkeit gegenseitig aus. Während ihnen bei ihrer ungewohnten Beschäftigung die Stunden im Fluge vergingen, waren sie ausgelassen lustig, wie zwei Kinder, die das Wirtschaften als Spiel betreiben, bis Gustav heimkehrte und ihnen erzählte, daß des Abends eine Anzahl Herren zum Musizieren kommen und zum Nachtessen bleiben würden.

Irma prustete los, aber Flora machte ein ganz entsetztes Gesicht.

„Männchen, wie konntest du sie heute einladen? Wir haben doch noch kein Mädchen, es ist unmöglich.“

„Daran hab' ich nicht gedacht,“ versetzte Gustav ganz geknickt. „Aber absagen kann ich nicht. Dr. Schweinfurt und der Direktor des Konservatoriums, Raabe, wollten so gern deine Bekanntschaft machen; sie bringen beide ihre Frauen mit.“

„Wie soll das nur werden?“

„Das weiß ich nicht, Kindchen, denke dir etwas Gescheites aus.“ Doch Flora war nicht erfinderisch. Hülflos schaute sie sich um, und das Weinen war ihr näher als das Lachen.

„Bist du ängstlich,“ rief Irma, „deshalb gleich den Kopf hängen zu lassen. Weißt du was, ich werde mich als Magd verkleiden, den Gästen aufmachen und sie bedienen. Das kann einen köstlichen Spaß geben. Wir wollen uns gleich an die Arbeit machen.“

Gustav stimmte diesem Plane freudig zu, und die beiden jungen Damen begaben sich an die Ausführung. Er sollte im Musikzimmer aufräumen, aber als nach einer Stunde Irma einmal sehen wollte, was er eigentlich trieb, fand sie ihn auf der Erde sitzend und in einer interessanten Partitur blätternd, die er unter den Notenheften gefunden hatte. Darüber hatte er natürlich alles vergessen, auch die ihm aufgetragene Arbeit.

Irma zupfte ihn an den Ohren und rief Flora herbei. Zuerst bekam er tüchtig Schelte, dann wurde im Rat der Frauen beschlossen, ihn auszuschicken, um die Einkäufe zu besorgen, denn hier im Hause würde er den Wirrwarr doch nur vergrößern. Sie gaben ihm einen Zettel, auf dem alles, was sie zum Abendessen brauchten, verzeichnet stand, und er ging willig fort, mit dem Versprechen, nichts zu vergessen.

Nun machte Irma sich mit vollem Ernst ans Werk, und Flora half tapfer. Das Musikzimmer und der Salon wurden aufgeräumt, das heißt, alles was nicht hinein gehörte, hinter die großen Möbelstücke gepackt. Als der Berg von Büchern, Zigarrenkisten und andern Gegenständen so mächtig anwuchs, daß er drohte, über den Flügel und das Sofa hinauszuragen, warf Irma mit anmutiger Nachlässigkeit einen bunten Teppich darüber, der nach Floras maßgebender Meinung in der Ecke eine sehr hübsche Wirkung hervorbrachte. Inzwischen kehrte Gustav heim, gefolgt von einem kleinen Jungen, der einen Korb mit allerhand guten Sachen trug; der Hausherr wurde gelobt und abermals ausgeschickt, um einige Blumen zu besorgen. Er kam mit einer Menge von lila und weißem Flieder, duftenden Maiglöckchen und großen Büscheln Goldregen zurück, die er selbst, höchst künstlerisch, in den schlanken Vasen ordnete. Es sah wirklich alles sehr hübsch aus. Im Eßzimmer wurde die Tafel gedeckt. Flora wußte von keinem Geschirr, wo es seinen Platz hatte; die Champagnergläser fanden sich im Wäscheschrank, und das blaue Porzellan stand unter dem Bett; auch entdeckten die jungen Eheleute bei dieser Gelegenheit, daß schon vieles fehlte und verschiedene Dinge zerbrochen waren, aber das regte sie weiter nicht auf. In der Küche herrschte solch ein Durcheinander, daß Irma erklärte, sie wollten nur die Türe zulassen und gar nicht hinein sehen, sonst müßten sie verzweifeln. Nach unendlich vielem Suchen, Lachen und Hin- und Herlaufen war die Tafel gedeckt, und wenn sie auch nicht so aussah, daß eine perfekte Hausfrau damit zufrieden gewesen wäre, die Gäste mußten eben vorlieb nehmen. Da es nur Künstler unter sich waren, kam es ja nicht so genau darauf an. Gustav erklärte es für höchst gemütlich und sehr hübsch.

Nun wurde die Kostümfrage für Irma beraten. In dieser Beziehung war die Kleine geschickt, und sie überraschte Flora durch ihre ungewöhnliche Findigkeit.

Ihre eigene Garderobe sowie die ihrer Schwägerin wurden eingehend durchgesehen, wobei ein einfaches rosa und weiß gestreiftes Kattunkleid mit kurzen Ärmeln aus Floras Mädchenzeit zum Vorschein kam. Irma zog weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe mit Kreuzbändern an, über den gestreiften Rock band sie eine Leinenschürze, mit roten Borten gestickt; ihr schönes, blondes Haar legte sie in dicken Flechten um den Kopf, und aus einem Spitzenschlips verfertigte sie mit Hilfe einiger Nadeln ein Häubchen. In diesem Anzug zeigte sie sich dem jungen Ehepaare, das vor Entzücken in die Hände klatschte. Sie hatte nichts von einem Dienstmädchen an sich, sondern sah aus wie ein Zöfchen aus einem französischen Lustspiel; aber sie war so reizend, daß Gustav sie einige Augenblicke sprachlos anstarrte, und dann erklärte, es sei ein Genuß, sie anzusehen; wenn er nur solch ein Dienstmädchen bekommen könnte, dann möchte sie in Gottes Namen radeln, stehlen, trinken, ja sogar Brand stiften. Flora hatte ihr gewöhnliches weißes Hauskleid mit einem ähnlichen Gewande von schmiegsamem Stoff und unbestimmter zartlila Farbe vertauscht, das am Halse ein wenig ausgeschnitten und mit echten Spitzen garniert war. Sie sah in dem durch seidene Lampenschirme etwas gedämpften Licht des Musikzimmers, das manche Unordnung mitleidig verhüllte, wirklich reizend poetisch aus. Gustav meinte nämlich, ein mattes Dämmerlicht erhöhe die Stimmung. Er war sehr zufrieden, da nun alles so recht nach seinem Wunsche ging; hätte er einen von den abscheulichen Küchendragonern im Hause gehabt, so wäre nie ein so wohltuendes Ganzes zustande gekommen.

Während Irma das junge Paar zum Schluß noch ermahnte, nicht zu lachen, sondern ernst zu bleiben, wenn sie bei Tisch bediente, klingelte es. Voll Jubel über die Rolle, die sie spielte, lief sie hinaus und öffnete.

Ein langer, hagerer Herr mit einer goldenen Brille trat ein. Sein kahles Haupt, das nur im Nacken einen Kranz langer Haare zeigte, erinnerte Irma lebhaft an eine Billardkugel mit Fransen. Ihm zur Seite schritt sein alter ego, eine sehr stattliche Dame mit lauter Stimme. Sie trug ein schwarzes Atlaskleid und eine schwere, dreifache Goldkette um den Hals. Ihre kleinen, gutmütigen Augen schauten mit großem Staunen auf Irma, und noch bevor sie den Salon erreichten, flüsterte sie ihrem Gatten zu, sie hätte nie geglaubt, daß in I. solch ein Dienstmädchen zu finden sei.

Irma meldete Herrn und Frau Dr. Raabe. Gustav, der die Verkleidung schon längst wieder vergessen hatte, benahm sich angemessen, aber Flora preßte die Lippen auf einander, um nicht laut loszuprusten. Dann kam ein junger Mann, der, während Irma ihm half seinen Überzieher ablegen, sie unters Kinn faßte und ihr zuflüsterte, daß sie ein paar Prachtaugen habe. Das war weniger angenehm, aber ihre Rolle mußte sie durchführen, so schaute sie ihn nur entrüstet an und drehte ihm den Rücken. Nach und nach erschienen alle Gäste, und dieser Teil des Programms verlief ohne irgend ein Unglück. Flora schenkte den Tee ein, den Irma herumreichte, und die beiden vergnügten sich dabei göttlich. Frau Schweinfurt, eine schmachtende Dame mittleren Alters in himmelblauer Seide, starrte Irma beharrlich an und machte die anderen flüsternd auf ihre weißen Händchen und anmutigen Bewegungen aufmerksam. Schließlich fragte sie Flora, woher sie das Mädchen habe, und diese rettete sich aus ihrer Verlegenheit durch den Einfall, es sei ihre Milchschwester, die ihr aus der Heimat gefolgt wäre. Gustav mußte sich abwenden, um sich nicht zu verraten, und Irma flüchtete ins Eßzimmer, wo sie einen solchen Lachanfall bekam, daß sie in den nächsten fünf Minuten nicht imstande war, den Salon wieder zu betreten.

Illustration

Nun setzte der Gastgeber sich an den Flügel, und sobald die ersten Akkorde erklangen, wurden alle still und lauschten andächtig dem meisterhaften Spiel. Hinter der Türe horchte Irma auf das Spiel ihres Bruders; sie vergaß alles, die Rolle, die sie zu spielen hatte, und auch das angenehme Gefühl befriedigter Eitelkeit über ihr reizendes Aussehen. Tränen traten ihr in die Augen, eine große Sehnsucht nach Otto ergriff sie, und ihr war, als wäre ihr Herz zu klein, um alle Gefühle der Liebe, des Glückes und der Wehmut, die auf sie einstürmten, zu fassen. Als die letzten Töne verhallten und die Gäste noch immer den gewaltigen Eindruck der herrlichen Musik in sich nachwirken ließen, und zu ergriffen waren, um in lautes Beifallklatschen auszubrechen, zeigte sich Irma als das echte Kind aus einer Familie von Künstlern. Einer augenblicklichen Eingebung folgend, flog sie auf ihren Bruder zu, umarmte ihn, und rief:

„O Gustav, das war himmlisch!“

„Aber Irma,“ schrie Flora entsetzt; die andern, plötzlich aus ihrer Verzückung erwachend, schauten mit erstaunten, halb spöttischen, halb entrüsteten Mienen das vermeintliche Dienstmädchen an.

Einen Augenblick war es Irma, als müsse die Erde sich öffnen und sie verschlingen; sie wünschte sich meilenweit fort; dann aber tat sie das klügste, was sie tun konnte, und fing herzlich an zu lachen.

„Ja, nun bleibt uns nichts übrig, als alles zu verraten,“ rief sie, und sie und Flora erzählten abwechselnd ihre Abenteuer mit Lisa. Weit entfernt, daß die gute Laune dadurch getrübt worden wäre, begann es nun erst recht nett und gemütlich zu werden. Natürlich hatte jeder sofort gemerkt, daß es mit diesem Dienstmädchen eine ganz eigene Bewandtnis haben müsse. Ungesucht wurde sie die Heldin des Abends. Alle wollten beim Bedienen helfen; einige Herren rannten nach der Küche, und die dort herrschende Unordnung war in Gefahr verraten zu werden, aber Irma hatte die Geistesgegenwart, das Gas schnell auszudrehen. Große Verwirrung und heller Jubel! Der junge Mann, der beim Kommen schon galant gegen das schöne Dienstmädchen gewesen war, stolperte über einen Eimer. Zum Glück tat er sich nicht weh; Irma hatte auch nicht das geringste Mitleid mit ihm und erklärte lachend, daß er nur seinen verdienten Lohn ernte.

Frau Schweinfurt, die sich ärgerte, daß man soviel Wesens von dem koketten Ding machte, wie sie Irma später benannte, erhob sich und gab ihrem Gatten einen Wink, sich ans Klavier zu setzen und sie zu begleiten. Für eine Weile zog ihr dünner Sopran die Aufmerksamkeit von der kleinen Holten ab. Das Konzert wurde hierauf fortgesetzt und nur dann und wann durch einige Scherze unterbrochen. Beim Souper erst erreichte die allgemeine Heiterkeit ihren Höhepunkt.

Die tollsten Dinge wurden getrieben; die Herren machten Kappen aus ihren Servietten und liefen mit den Tellern und Schüsseln in langem Zuge durchs Haus, der größte voraus, der kleinste zum Schluß, unter Absingung eines bekannten Marsches aus einer Operette. Alle tollten durcheinander, um noch etwas Vergessenes zu suchen. Flora und Gustav, ohne sich irgendwie verstimmt und verlegen zu fühlen, lärmten mit. Alle Räume wurden festlich beleuchtet, und was unten nicht zu finden war, kam im Schlafzimmer aus dem einen oder andern Schrank zum Vorschein. Ein jeder beteiligte sich beim Bedienen, schnitt vor oder schenkte ein. Leute, die sich bisher nur wenig gekannt hatten, streiften alle Förmlichkeit ab und benahmen sich mit einer Ungezwungenheit, als ob sie seit Jahren im engsten Verkehr mit einander gestanden hätten.

Das Fest dauerte bis spät in die Nacht hinein, und alle waren ausgelassen wie Kinder, die das ganze Haus auf den Kopf stellen, wenn Papa und Mama verreist sind. Nur die gutmütige, dicke Frau Raabe fühlte endlich Mitleid mit der jugendlichen Gastgeberin und ihrer reizenden Schwägerin, namentlich wenn sie an das Durcheinander dachte, das am nächsten Morgen in Ordnung gebracht werden mußte. Als es ihr an der Zeit zu sein schien, stand sie, ihr Sektglas in der Hand, auf, brachte das Wohl der drei Holtens aus und fügte das Versprechen hinzu, für ein tüchtiges Dienstmädchen zu sorgen, das alle schlechten Streiche der Vorgängerinnen durch seine vortrefflichen Leistungen gut machen sollte.

Unter allgemeiner Zustimmung nahmen die Gäste Abschied, nachdem sie noch ein wenig beim Aufräumen geholfen hatten, und Irma und Flora konnten sich übermüdet, wie sie waren, gleich zur Ruhe begeben.

Frau Direktor Raabe hielt Wort. Sie kam am folgenden Morgen selber, um zu helfen, und verrichtete in ein paar Stunden wahre Wunderdinge, wobei ihr Frau von Holten und ihre Schwägerin tapfer beistanden. Unter ihren praktischen, aufmunternden Anweisungen zeigten sie erstaunliches Geschick und griffen überall wacker selbst mit an. Sie sorgte auch für ein gutes Mädchen, das in wenig Tagen den ganzen Haushalt wie durch Zauberei umgestaltete und Ordnung und Sauberkeit einführte, ohne die Ansprüche und Untugenden ihrer Vorgängerinnen zu besitzen. Gustavs Schönheitssinn befriedigte sie zwar nicht — sie war eine einfache Person mittleren Alters und von ganz gewöhnlichem Aussehen, sauber und anspruchslos gekleidet — aber es gefiel ihm, Ordnung und Nettigkeit, wenn sie nicht in kleinliche Pedanterie ausarteten, um sich zu sehen. Es berührte ihn sehr angenehm, bei seiner Heimkehr die Mahlzeiten zierlich aufgetragen und schmackhaft bereitet zu finden, und von seinem kleinen Frauchen keine Klagen und Seufzer, sondern nur lebhafte Lobpreisungen des Mädchens zu hören. Da auch in seinen Ausgaben sich der Unterschied sehr bemerkbar machte, war er der guten Frau seines Direktors aufrichtig dankbar.

Irma blieb noch einige Wochen bei dem jungen Paar, und unterhielt sich ausgezeichnet. Es war ein Genuß für sie, mit dem Bruder, den sie eigentlich so wenig kannte, einmal länger zusammen zu sein. Sie lernte seine guten Eigenschaften, seine Herzlichkeit, seine Milde schätzen und verzieh ihm dafür gern seine Zerstreutheit, sein träumerisches und ein bißchen überspanntes Wesen, das er ja mit vielen Künstlern gemein hatte. Auch Flora war ihr sehr lieb geworden, aber ihr Geheimnis Otto betreffend verriet sie nicht; daß sie es nicht tat, nicht einmal die Versuchung fühlte, war ihr selbst auffallend. Schon früher hatte sie den Baron Hochstein flehentlich gebeten, eine passende Gelegenheit zu suchen und ihrem Bruder seinen Besuch zu machen; von der Landpartie her kannte er doch Gustav und seine kleine Frau. Sie hätte einen Verkehr Ottos mit ihrer Familie doch schon wie eine halbe Erfüllung ihrer Zukunftshoffnungen angesehen. Von der Hand gewiesen hatte der junge Baron diesen Plan auch nicht, ja er hatte ihn sogar recht vernünftig gefunden, aber zur Ausführung war er trotzdem nicht gekommen. Als Irma nun bei Holtens zu Besuch weilte und in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes in I. eine Gelegenheit fand, Otto auf der Straße zu sprechen, drang sie ernstlich in ihn einen Vorwand zu ersinnen und endlich seinen Besuch zu machen. Sie könne es dann leicht einrichten, daß Flora ihn einmal zum Essen einlüde, und fände es himmlisch, auf diese Weise sich öfter sehen und sprechen zu können. Otto sagte, daß er das von Herzen gern tun möchte, aber jetzt so viel zum Examen zu arbeiten hätte, daß es ihm wirklich an Zeit fehle. Sie beruhigte sich und dachte, wie gut und lieb es von ihrem Anbeter wäre, sich um ihretwillen derartig anzustrengen.

Otto vermied es sogar, ihr zu begegnen, wenn sie mit Flora oder Gustav ausging. Die arme Irma hatte sich eingebildet, sie werde ihn während ihres Aufenthaltes in I. häufig zu sehen bekommen, und die Enttäuschung, daß es nicht geschah, war groß; traf sie ihn aber dann und wann einmal zufällig auf einige Minuten, so blieb er sich in seinen zärtlichen und leidenschaftlichen Liebesbeteuerungen immer gleich. Die trübe Zeit der Heimlichkeit würde ja nun bald vorüber sein; in vier bis fünf Monaten — ein Monat war schon wieder verstrichen — machte er sein Examen, dann begann ihr Glück, dessen war sie sicher. Sie ließ sich immer wieder durch die schönen Zukunftsbilder, die er ihr vorspiegelte, täuschen; sie glaubte und vertraute — eher würde sie an den Untergang der Welt gedacht haben, als daran, daß Otto von Hochstein kein ehrliches Spiel mit ihr triebe.

Dekoration

An einem der seltenen Märztage, welche die Hoffnung erwecken, daß der Lenz nun wirklich seinen Einzug halten will, an denen die Sonne schon köstlich wärmt und kleine Sträußchen von Märzveilchen und Schneeglöckchen angeboten werden, saß Ilse mit Onkel Heinz im eichengetäfelten Wohnzimmer beim Schach. Im Kamin knisterte, trotz der Wärme draußen, ein lustiges Feuer, und leise tickte die große, altmodische Standuhr. Irma, die sich mit ihrer Stickerei in die Fensternische zurückgezogen hatte, dachte, wenn sie ab und zu nach den beiden Alten guckte, daß diese, so in ihr Spiel vertieft, ein wunderhübsches Bild abgäben.

Der Professor spielte mit unerschütterlichem Ernst; es war eine seiner Schwächen, sich zu ärgern, wenn er verlor beim Schachspiel — selbst wenn seine Gegenpartei eine Dame war. Ilse, die das wußte, und der es noch immer, wie in alten Zeiten, das größte Vergnügen bereitete, ihn in Harnisch zu bringen, spannte alle ihre Kräfte an. Auch hatte sie ihn schon ziemlich in die Enge getrieben. Seine Königin und seine beiden Türme waren genommen, und nun focht er verzweifelt mit einem Läufer, einem Springer und einigen Bauern.

Es klingelte.

„Da kommt Besuch,“ sagte Irma, ihr Näschen an den Scheiben platt drückend, „ich sehe eine Dame, kann aber nicht erkennen, wer es ist.“

„Wie schade,“ meinte Ilse, „noch ein paar Züge und Sie wären schachmatt gewesen, Onkel Heinz.“

„Ach was,“ brummte der alte Herr. „Lassen Sie nur das Brett stehen, Frau Gontrau, und ich wette um alles, was Sie wollen, daß ich doch noch die Partie gewinne.“

Das Mädchen trat ein und meldete: „Fräulein Elisabeth Müller wünscht die gnädige Frau zu sprechen.“

„O weh!“ rief Irma, ihre Handarbeit zusammenpackend, „dann geh ich nach oben, Großmama; wenn sie nach mir fragt, bin ich nicht zu Hause.“

„Bleib hier, Kindchen,“ wandte Ilse ein, aber schon war Irma verschwunden.

„Der kleine Taugenichts hat recht,“ meinte Onkel Heinz, „wenn ich nur könnte und von der verflixten Gicht nicht so geplagt wäre, würde ich mich auch auf die Beine machen.“

„Seien Sie doch still,“ bat Ilse, ein bißchen böse; dann stand sie auf, um Fräulein Müller zu empfangen.

Tante Elisabeth ging immer einfach gekleidet; heute aber hatte ihre Erscheinung etwas entschieden Quäkerhaftes an sich. Ihr eisengraues, glattes Kleid konnte nicht strenger sein als ihr Antlitz. Ilse fand plötzlich, daß sie ihrer Mutter, der Pfarrerin, sprechend ähnlich sah, wenn diese einmal ganz besonders tugendhaft oder unangenehm sein wollte.

„Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Frau Gontrau,“ begann sie mit einem Seitenblick auf Professor Fuchs, in dessen Gesellschaft sie sich nie behaglich fühlte.

Ilse schob ihr einen bequemen Sessel hin.

„Sehr nett, daß Sie sich mal sehen lassen, Elisabeth,“ begann sie freundlich, „ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß Sie viel zu selten kommen.“

„Ach, ich mag mich nicht aufdrängen; heute aber habe ich etwas Besonderes mit Ihnen zu besprechen.“

Onkel Heinz stand auf. „Dann wünschen Sie gewiß mit Frau Gontrau allein zu sein; ich gehe so lange in den Garten und will mal sehen, ob die Märzsonne gut für meine Gicht ist.“

Aber Ilse winkte ihm zu bleiben: „Wollen Sie mit mir über etwas sprechen, Elisabeth, was Sie selber angeht?“

„Nein, Frau Gontrau, die Sache betrifft ausschließlich Sie.“

„Dann bleiben Sie nur ruhig sitzen, Herr Professor,“ nahm Ilse wieder das Wort.

Es gab ja nichts in ihrem Leben, was ihr alter Freund nicht wissen durfte, und sie freute sich heimlich darüber, daß er der Gesellschaft der alten Jungfer nicht entrinnen konnte. „Vor Ihnen haben wir keine Geheimnisse.“

„Das müssen Sie am besten wissen, gnädige Frau; was ich Ihnen mitzuteilen habe, betrifft Ihre Enkelin Irma.“

Professor Fuchs spitzte die Ohren, und Ilse sagte absichtlich begütigend:

„Wirklich? Ich hoffe, die Kleine hat nichts getan, worüber Sie sich zu beklagen haben.“

„Ich nicht,“ entgegnete Fräulein Müller, mit verdrießlich herabgezogenen Mundwinkeln; „aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen über das Betragen des jungen Mädchens die Augen zu öffnen.“

„Ei was,“ meinte Ilse, halb ärgerlich. „Die Kleine hat wohl etwas gesagt oder getan, was nicht ganz ehrerbietig und passend ist? Ich werde sie nachher darüber zur Rede stellen, aber wirklich, Elisabeth, so ernst dürfen Sie das nicht nehmen, von der Jugend müssen wir uns manches gefallen lassen und gegen ihre kleinen Sünden nachsichtig sein.“

„Ich weiß nicht, ob Sie es eine kleine Sünde nennen, wenn ein junges Mädchen wie Irma an einem abgelegenen Platz heimliche Zusammenkünfte mit einem Studenten hat,“ sagte Fräulein Müller mit nur mühsam unterdrückter Schadenfreude.

Großmutter Gontrau wurde totenbleich. Onkel Heinz, der mit einem förmlichen Schreckensruf aufsprang, sah, wie sie krampfhaft die Stuhllehnen umklammerte und nach Selbstbeherrschung rang; ihre Stimme bebte, und ihre dunklen Augen blitzten wie früher, als sie fragte:

„Was meinen Sie damit, Elisabeth? Wer von einem jungen Mädchen solche Dinge sagt, muß sie auch beweisen können.“

„Das kann ich. Jeden Mittwoch Nachmittag hat Irma ein Stelldichein mit dem schönen Studenten, der ihr damals auf der Landpartie den Hof machte. Sie treffen sich in dem Wäldchen an der Chaussee, in der Nähe der Kaserne.“

„Wie wissen Sie das?“ stammelte Ilse.

„Vor vierzehn Tagen habe ich sie mit meinen eignen Augen gesehen. Im Frühjahr mache ich nemlich gern dahinaus meine Spaziergänge. Erst konnte ich es nicht glauben, daß es wirklich Irma sei, aber gestern habe ich sie ganz deutlich erkannt; ich ging hinter ihr her und habe sie genau beobachtet.“

Frau Gontrau schwieg. Allerlei Wahrnehmungen kamen ihr in den Sinn. Es fiel ihr ein, daß Irma in den letzten Monaten viel allein auszugehen pflegte und häufig ein sonderbares Benehmen zeigte. Zweifel und Angst beschlichen sie, weil sie für das Kind den Eltern gegenüber verantwortlich war, vor allem aber bemächtigte sich ihrer tiefe Betrübnis darüber, daß ihre Enkelin, die sie so innig liebte, sie betrogen und hintergangen hatte. Onkel Heinz zog die buschigen Brauen zusammen, drehte seinen weißen Schnauzbart zu einer ganz besonders feinen Spitze und unterdrückte einen Fluch, weil er plötzlich einen heftigen Stich in seinem linken Fuß verspürte.

„Darf ich fragen, wie es kam, daß Irma Sie nicht gleich das erste Mal sah?“ forschte er, sich ziemlich barsch an Tante Elisabeth wendend.

„Das ging ganz natürlich zu. Ich verbarg mich hinter den Sträuchern, bis sie das Wäldchen wieder verlassen hatten.“

„Sie spionierten also!“

„Spionieren!“ wiederholte Elisabeth beleidigt. „Wenn Sie's so nennen wollen — ich mußte mich doch von der Wahrheit überzeugen.“

„Ja, und nachdem Sie das getan, gingen Sie noch einmal hin und versteckten sich wahrscheinlich wieder. Das finde ich nicht ehrlich; Sie hätten offen auftreten sollen. Ihr Erscheinen hätte die jungen Leute gewarnt.“

„Mir schien das nicht wünschenswert. Ich hielt es für meine Pflicht, Frau Gontrau zu unterrichten.“

Tante Elisabeth zeigte in diesem Augenblick eine so dünkelhafte, siegesgewisse Miene, daß der Professor sich vergaß und heftig aufbrauste.

„Na ja, das ist so recht was für Sie! Wer sagt Ihnen denn aber, daß etwas Böses dahinter steckt? Die jungen Leute können sich wohl mal was zu erzählen haben. Daraus brauchen Sie nicht gleich so 'ne Staatsaktion zu machen. Aber das ist gerade Wasser auf die Mühle einer neidischen alten Jungfer, wenn sie einem Nebenmenschen etwas anhängen kann.“

Feuerrot erhob sich Fräulein Müller von ihrem Sitz und sagte mit einer, vor Zorn und Aufregung heiseren Stimme:

„Wenn Sie meine gute Absicht so auslegen und mich obendrein beleidigen, dann gehe ich und setze nie wieder einen Fuß über diese Schwelle.“

Ilse schaute den Professor zürnend an.

„Nein, nein, seien Sie nicht böse, liebe Elisabeth,“ rief sie. „Ich bin Ihnen dankbar, und dem Professor Fuchs müssen Sie seine Heftigkeit verzeihen. Er hat Irma so unendlich lieb, daß er außer sich gerät, wenn über sie nachteilig geurteilt wird. Ist's nicht so, Herr Professor?“

„Jawohl,“ brummte Onkel Heinz, der einsah, daß er zu weit gegangen war.

„Und er bittet für seine Unhöflichkeit um Entschuldigung,“ beharrte Ilse, mit einem strengen Blick auf Onkel Heinz.

Dem Professor war fast so zu Mute wie einem Schuljungen, der eine Strafpredigt erhält. Er hätte am liebsten mit einem: „Scheren Sie sich zum Teufel,“ das Zimmer verlassen; aber dem eigenartigen Ausdruck in den dunklen Augen seiner alten Freundin war er nicht gewachsen.

„Jawohl,“ brummte er abermals, mit abgewendetem Gesicht, „natürlich meinte ich es nicht so; nehmen Sie's nicht übel, Fräulein Müller.“

Tante Elisabeth verneigte sich, war aber doch tief gekränkt und stand auf.

„Nun ich Ihnen berichtet habe, was ich weiß, Frau Gontrau,“ nahm sie in spitzem Ton abermals das Wort, „ist's an Ihnen, aus meiner Mitteilung Nutzen zu ziehen. Ich werde mich um die ganze Geschichte nicht mehr kümmern.“

„Einen Augenblick, bitte,“ sagte Ilse. „Was Sie gesehen haben, Elisabeth, ist ganz gewiß nicht passend, aber bevor Irma mir den Zusammenhang erklärt hat, kann ich mir kein Urteil erlauben. Möglich, daß gar nichts dahinter steckt. Die jungen Leute von heutzutage sind anders und freier in ihrem Umgang, als wir in unsrer Jugend — das dürfen wir nicht vergessen.“

Fräulein Müller ließ ein spöttisches Lachen hören.

„Ich muß Sie freundlichst ersuchen,“ fuhr Ilse fort, „über diese Geschichte zu niemand, wer es auch sei, ein Wort zu verlieren, auch nicht zu unsren Amerikanern.“

„Ganz wie Sie wünschen, Frau Gontrau.“

„Ich erbitte mir das als eine große Gunst von Ihnen und baue fest auf Ihre Verschwiegenheit.“

Großmutter Ilse streckte Tante Elisabeth die Hand entgegen, und diese las auf dem schönen, alten Gesicht eine so ängstlich flehende Bitte, daß sie, wider Willen gerührt, versetzte:

„Das können Sie, Frau Gontrau.“

Dann ging sie nach einer sehr förmlichen Verbeugung vor Onkel Heinz.

Ilse ließ sich erschöpft in ihren Sessel sinken und schaute in schweren Gedanken vor sich hin.

Der Professor aber humpelte in großer Erregung hin und her.

„Schöne Geschichte das,“ rief er endlich, „bald weiß die ganze Stadt von diesem Klatsch, denn Fräulein Müller wird mit wahrer Wonne für Weiterverbreitung sorgen. Das ist was so recht nach ihrem Sinn.“

„Das glaube ich nicht,“ versetzte Ilse, „sie wird schweigen, weil ich sie darum gebeten habe. Sie waren unverzeihlich grob gegen sie, Onkel Heinz; aber viel Worte darüber zu verlieren hilft nichts. Was sollen wir tun?“

„Nun,“ nahm der alte Herr heftig das Wort, „dem Jungfräulein tüchtig den Kopf waschen und ihr für die Zukunft solche Streiche verleiden; mit dem jungen Menschen aber werde ich Abrechnung halten, das können Sie getrost mir überlassen, ich will's ihm ordentlich geben.“

„Und damit, glauben Sie, ist alles getan?“ fragte die Großmutter mit trübem Lächeln.

„Was wollen Sie denn noch mehr? Natürlich hat der junge Taugenichts allein schuld; wenn Sie's verlangen, Frau Ilse, will ich ihn lendenlahm prügeln — das hat er wahrlich verdient.“

„Onkel Heinz, Onkel Heinz! Da sieht man wieder, daß Sie ein einseitiger, unverbesserlicher Junggeselle sind, der von zarten Herzensangelegenheiten auch nicht das mindeste versteht.“

Der Professor hielt in seinem Auf- und Abhumpeln inne; solch ein Ausfall von Ilse Gontrau ärgerte ihn noch immer und trieb ihm trotz seiner mehr als siebzig Jahre das Blut in die Wangen.

„So,“ sagte er unwirsch, „Sie haben mit den Jahren noch immer nicht verlernt, heftig zu sein, Frau Ilse.“

„Und Sie haben die Jahre nicht klüger gemacht,“ versetzte sie hitzig. „Sehen Sie denn nicht ein, daß wir durch herrisches und rücksichtsloses Auftreten die Sache nur verschlimmern würden? Wenn Irma und der junge Mann sich lieben oder sich zu lieben einbilden, können einige Scheltworte von uns die Liebe nicht aus ihren Herzen reißen.“

„Da mögen Sie wohl recht haben,“ meinte Onkel Heinz, ziemlich abgekühlt. „Aber was wollen Sie denn tun?“

„Das weiß ich nicht. Zuerst und vor allen Dingen mit Irma sprechen und hören, was sie zu sagen hat.“

„Natürlich, und da sie nun wohl bald herunterkommen wird und Sie diese Unterredung nicht aufschieben werden, will ich gehen.“

„Das ist nicht nötig; Sie wissen nun alles, und ich kann mit Irma in Ihrem Beisein sprechen.“

„Nein, Frau Gontrau, bin ich auch nur ein alter, einseitiger, unverbesserlicher Junggeselle, soviel Takt und Verständnis besitze ich denn doch noch, um herauszufühlen, daß ein junges Mädchen eine derartige Beichte doch lieber Ihnen allein ablegt.“

Ilse reichte ihm die Hand.

„Verzeihen Sie,“ bat sie sanft, „ich war heftig und ungerecht, ich meinte es aber nicht böse.“

Er schaute sie unter seinen buschigen Brauen freundlich an, drückte fest ihre Hand und ging.

Einen Augenblick später steckte Irma ihr Köpfchen zur Tür herein.

„Ist sie fort?“ fragte sie mit schelmischem Ausdruck. „Was, und Onkel Heinz hat dich auch schon verlassen, Großmama? Weshalb ist er so früh fortgegangen?“

Sie erhielt keine Antwort, und als sie fröhlich näher trat, bemerkte sie, daß die Großmutter mit ernster, bekümmerter Miene nach ihr schaute.

„Was ist denn los?“ forschte sie, die alte Frau zärtlich umarmend; „hat das verschrobene Fräulein Müller etwas gesagt, was dich ärgert?“

Großmutter Ilse schlang ihre Arme um das junge Mädchen und zog es auf ihren Schoß.

„Irma,“ sagte sie ohne Umschweife, „du hast mich belogen, als ich dich neulich fragte, ob zwischen dir und dem Baron von Hochstein keinerlei Beziehungen beständen.“

Irma wurde totenbleich und wollte aufspringen, doch mit sanftem Zwang hielt die alte Dame sie zurück. Entsetzt schaute das junge Mädchen sie an und las auf dem geliebten alten Gesicht einen so schmerzlichen, traurigen Vorwurf, daß es plötzlich in leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.

Ilse streichelte das blondgelockte Köpfchen, sprach aber kein Wort.

„Großmama,“ schluchzte Irma, „bist du mir böse?“

„Ich bin betrübt, Kindchen, weil du kein Vertrauen zu mir hattest. Erzähle mir nun alles.“

„Ich darf nicht,“ stammelte Irma, „er hat es mir verboten.“

„Wer?“

„Otto.“

„Dann hat er sehr unrecht gehandelt, aber da das Geheimnis nun doch herausgekommen ist, siehst du wohl ein, daß du dein Versprechen nicht halten kannst.“

„Aber woher weißt du's denn, Großmama? Hat Agnes es dir erzählt?“

„Agnes? Nein. Fräulein Müller hat dich mehrmals mit ihm gesehen.“

Irma bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen und weinte bitterlich.

„Siehst du nun ein, Kind,“ fuhr Ilse in mildem und doch festem Ton fort, „daß es das beste ist, mir zu vertrauen und alles zu erzählen? Vielleicht finde ich dann noch eine Entschuldigung für dich; beharrst du bei deinem Schweigen, so ist mir das unmöglich.“

Da verbarg Irma ihr Köpfchen in Großmamas Schoß und beichtete alles. Sie erzählte, wie schrecklich es ihr anfangs gewesen sei, so heimlich zu Werke zu gehen, wie Otto aber gesagt habe, das sei nötig, um seine Eltern allmählich zu gewinnen; wie angestrengt er nun arbeite und wie er ihr die Versicherung gegeben habe, daß bald alles zu gutem Ende kommen würde. Sie erhob Otto bis in den Himmel und konnte nicht unterlassen, ein bißchen auf Agnes zu sticheln, der sie es nicht verzeihen konnte, daß sie nicht das gleiche schrankenlose Vertrauen in den Baron von Hochstein setzte.

Als sie geendet hatte, schwieg die Großmutter eine Weile. In Gedanken versunken streichelte sie das goldschimmernde Haar ihrer Enkelin. Das legte sich Irma als ein günstiges Vorzeichen aus, und ein wenig ermutigt, fragte sie leise:

„Bist du sehr böse, Großmama?“

„Nein, mein Kind, aber du hast ein großes Unrecht getan; wie unpassend und unbesonnen du gehandelt hast, begreifst du bei deiner großen Jugend wohl selbst noch nicht, aber unter allen Umständen muß jetzt sofort ein Ende gemacht werden.“

„O, Großmama, ich sterbe, wenn ich ihn aufgeben muß.“

„Das brauchst du nicht, Kindchen, wenigstens nicht, wenn es sich herausstellt, daß er es ernst mit dir meint.“

„Wie kannst du nur daran zweifeln,“ schluchzte Irma, „er hat mir doch Beweise genug gegeben.“

„In meinen Augen noch nicht einen — aber wir werden ja sehen.“

„Was willst du denn tun?“ fragte angstvoll das junge Mädchen, das sich durch Ilses Ruhe immer beklommener fühlte. „Hast du die Absicht, an Papa und Mama zu schreiben?“

„Nein, Irma, denn dann würdest du dem Baron sofort entsagen müssen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, ihnen vorläufig die Sache noch zu verschweigen, aber ich habe Mitleid mit dir und will erst erforschen, was für eine Art Persönlichkeit dein Baron ist.“

„Du bist ein Engel, Großmama. Aber warum glaubst du, daß Mama so streng mit mir ins Gericht gehen würde? Sie ist eine Künstlerin und würde sich wohl in meine Lage hineinversetzen können.“

Ilse fühlte ihre alte Heftigkeit in sich aufsteigen.

„Gerade weil deine Eltern Künstler sind, Irma,“ erwiderte sie, mit vor Erregung funkelnden Augen, „und durch ihr Talent und ihre Leistungen so unendlich hoch über den eingebildeten Adlichen stehen, die sich durch ihre Geburt und ihr Geld für bevorrechtet halten, würde ihr Stolz nie gestatten, daß ihre Tochter in eine Familie einträte, die hochmütig auf sie herabsieht. Es tut mir weh, Kind, daß von diesem echten, edlen Stolze sich nichts in deinem Charakter zu finden scheint. Selbst angenommen, daß dieser Baron von Hochstein dir treu bleibt, sollte dich der Gedanke abschrecken, daß seine Eltern dich nur dulden, nie aber mit wahrer Liebe aufnehmen würden.“

„Was gehen mich seine Eltern an, wenn er mich nur liebt!“ sagte Irma.

Ilse seufzte. „So würde ich nicht gedacht haben, selbst als ich so jung war wie du, mein Kind. Doch, je älter wir werden, desto mehr sehen wir ein, daß wir andere Menschen nicht nach uns beurteilen dürfen. Wenn du den Stolz, von dem ich sprach, nicht besitzest, kannst du auch nicht fühlen, was ich meine.“

Irma empfand diese Worte als einen Tadel, fühlte auch unklar und unbestimmt, daß Großmama recht hatte, aber sie wollte jetzt lieber nicht darüber nachdenken. Sie ergriff schüchtern Ilses Hand, streichelte sie und wiederholte ihre Frage:

„Was willst du tun, Großmama?“

„Wann hast du die nächste Zusammenkunft mit dem jungen Manne verabredet?“

„Mittwoch in acht Tagen.“

„Gut. Schreibt ihr euch?“

„Ab und zu.“

„Dann tust du es jetzt nicht. Verstehe mich recht, Irma! Wenn in dieser Zwischenzeit ein Brief von ihm kommt, so beantwortest du ihn nicht. An dem verabredeten Tage bleibst du zu Hause, und ich gehe an deiner Stelle.“

„Großmutter!“ rief Irma entsetzt.

„Warum erschrickst du so davor? Ist das etwas so Fürchterliches? Ich will selbst mit dem jungen Menschen reden und danach meine Entscheidung treffen.“

„O, aber er wird so böse auf mich sein, wird mir das nie verzeihen.“

„Er hat dir nichts zu verzeihen. Ich werde ihm erzählen, wie der Hergang gewesen ist. Du brauchst nichts zu fürchten.“

„Laß mich ihm wenigstens noch einmal schreiben, Großmama, damit er vorbereitet ist.“

„Unter keinen Umständen, Irma. Du hast mich belogen und betrogen, als ich dein Vertrauen zu gewinnen suchte. Trotzdem will ich dir Glauben schenken, wenn du mir jetzt versprichst, gehorsam zu sein, und will dir das Geschehene verzeihen. Ich will dir alle Freiheit lassen, dir nicht nachspüren, aber befolgst du jetzt nicht gewissenhaft, was ich sage, so werde ich dir nie mehr vertrauen. Dann ist alles aus, und du kannst nicht mehr auf meine Liebe und Verzeihung rechnen.“

Einen so strengen, unerbittlichen Ausdruck hatte die Kleine noch nie in Großmutters Augen gesehen. Sie fühlte, daß kein Schmeicheln, kein Flehen helfen würde.

„Du hast mich doch verstanden?“ fuhr Ilse fort. „Bis Mittwoch in acht Tagen suchst du keine Gelegenheit, Hochstein zu sehen, und schreibst ihm keine Zeile.“

„Ja, Großmama.“

„Gut, dann reden wir bis dahin auch kein Wort mehr darüber. Gib mir einen Kuß, Kind, und geh auf dein Zimmer. Ich möchte ein Stündchen allein sein.“

Traurig und niedergeschlagen verbrachte Irma die nächsten Tage. Oft nahte sich ihr die Versuchung, trotz dem gegebenen Versprechen Otto heimlich von dem Vorgefallenen zu unterrichten. Aber ihr besseres Ich trug den Sieg davon. Wenn sie bedachte, daß die Großmutter sie weder beaufsichtigte, noch jemals fragte, wohin sie wolle, wenn sie sich zum Ausgehen rüstete, noch ihre Briefe nachsah, dann fühlte sie, daß sie sich verachten müßte, daß sie nie mehr wagen würde, die Augen aufzuschlagen, wenn sie sich dieses Vertrauens unwert zeigte.

Sie war zu Agnes gegangen, hatte ihr unter Tränen ihr Herz ausgeschüttet, und ihrem Zorn über Fräulein Müller in den kräftigsten Ausdrücken Luft gemacht. Aber obwohl Agnes gerne zugab, daß Tante Elisabeth auch jetzt wieder, wie immer, unausstehlich gewesen war, fand Irma weiter keinen Trost bei ihr, denn sie verhehlte ihre Freude nicht, daß die Geschichte endlich herausgekommen war. Jetzt würde es sich zeigen, ob der glänzende Otto von Hochstein es aufrichtig meinte, oder ob all seine schöne Reden nicht nur hohle Phrasen waren. Agnes frohlockte innerlich geradezu über diese Wendung und wäre nur zu gern mit Ilse gegangen, um das Gesicht des jungen Herrn zu sehen, wenn er an Stelle der lieblichen, unschuldigen Enkelin die strenge, ehrwürdige Großmama erblicken würde. Dennoch enthielt sie sich des Spottes, als sie sah, wie tief betrübt die Kleine war, und bemühte sich redlich, sie aufzumuntern.

Irma hatte bisher ein unerschütterliches Vertrauen in Otto gesetzt; aber während sie ihn in warmen Worten rühmte und behauptete, Großmama und Agnes würden bald einsehen, wie unrecht sie ihm durch ihre Zweifel taten, nagte doch die Unruhe an ihrem armen Seelchen, und sie weinte in der Stille heiße Tränen bei dem Gedanken, ihr angebeteter Held könne die Probe vielleicht nicht mit Glanz bestehen. Was dann geschehen würde, wußte sie nicht und wagte auch gar nicht, danach zu fragen, denn sie bildete sich ein, sicher vor Gram zu sterben, wenn sie gezwungen würde, von ihm abzulassen.

Ilse bemerkte wohl, was in der Seele ihrer Enkelin vorging. Sie hatte Mitleid mit ihr und suchte ihr Zerstreuung zu verschaffen; aber obgleich Irma nie darüber sprach, war sie doch so erfüllt von ihrem Kummer, daß alles andere sie gleichgültig ließ. Onkel Heinz konnte es nicht mit ansehen, wie sein kleiner Liebling sich in Angst verzehrte, und tat alles, um sie aufzuheitern. Irma wußte, daß er bei Fräulein Müllers Besuch zugegen gewesen war, und als sie ihn danach zum erstenmal wiedersah, geriet sie in die peinlichste Verlegenheit. Der Professor aber machte es ihr leicht, er strich ihr liebevoll über den hübschen Krauskopf, murmelte etwas von „alles zurechtkommen, und der garstigen alten Jungfer mal 'ne gute Lehre geben“, so daß Irma ihn mit Tränen in den Augen dankbar anlächelte, ihm einen Kuß gab und ihm zuflüsterte:

„Onkel Heinz, du bist der Beste, und dich hab' ich auch am allerliebsten.“ —

Es war ein herrlicher Frühlingstag, alles blühte und duftete. Flieder und Goldregen fingen an zu knospen, wie riesige Hochzeitsbuketts leuchteten die Obstbäume, überall zeigte das frische, junge Grün seine immer von neuem entzückende Schönheit.

In heiterster Stimmung, die leuchtende Pracht um ihn her in vollen Zügen genießend, angeregt und gehoben durch das überall ausschlagende, junge, muntere Leben, schritt Otto von Hochstein durch das Wäldchen, in dem er schon so oft Irma erwartet hatte. Er freute sich auf ihr Erscheinen, sah im Geiste schon voraus, wie sie binnen wenigen Minuten vor ihm stehen würde, liebreizend anzuschauen in dem neuen, schönen Frühjahrskostüm, von dem sie ihm letztmals erzählt hatte, wie sie ihn mit den wunderbar tiefen Blauaugen unter holdem Erröten ansehen, wie er mit ihr so freundlich und überzeugend reden würde, daß sie alles glaubte, was er ihr erzählte, und wie er endlich wagen dürfte, einen Kuß auf die kirschroten Lippen zu drücken, die so schelmisch und bezaubernd lächeln konnten.

Aber wo blieb sie nur? Sonst ließ sie nicht so lange auf sich warten, ja, es kam sogar vor, daß sie die Erste am Platze war. Der junge Mann lächelte selbstgefällig in dem Gedanken, wie unwiderstehlich das schöne Mädchen ihn eigentlich finden mußte. Allmählich ergriff ihn eine sonderbare Unruhe, und er trat aus dem Wäldchen heraus, um die Straße zu überschauen. Nein, Irma ließ sich nicht blicken, nur eine hochgewachsene Dame näherte sich eiligen Schrittes. Da hielt er es für richtiger, sich zurückzuziehen und hinter dem hoch aufgeschossenen Buschwerk zu verbergen. Ungeduldig eine Melodie summend, ging er hin und her; er wollte sie ein bißchen abkanzeln. Was bildete sich die Kleine denn ein, ihn so lange warten zu lassen!

Plötzlich vernahm er dicht hinter sich das Rauschen eines Kleides. Fröhlich drehte er sich um, ein Scherzwort auf den Lippen, blieb aber wie versteinert stehen, als er in der vornehm in schwarz gekleideten Dame Frau Gontrau erkannte.

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Ein paar Augenblicke weidete sich Ilse offenbar an dem unverkennbaren Entsetzen des jungen Mannes, dann aber mußte sie unwillkürlich anerkennen, daß die elegante, geschmeidige Gestalt vor ihr, das schöne übermütige Antlitz mit den blitzenden Augen und den feinen Zügen wohl etwas besonders Anziehendes für ein junges Mädchen haben müsse. Als liebende und etwas schwache Großmutter war sie nur zu geneigt, Irmas Betragen nicht verzeihlich, aber doch begreiflich zu finden.

Ottos Verlegenheit hielt nur einen Moment an, er sah sofort ein, daß etwas nicht in Ordnung war. Zuerst schaute er Frau Gontrau mit einem Blick an, als erkenne er sie nicht sogleich; dann, als ob sein Gedächtnis ihm zu Hilfe käme, verbeugte er sich und wollte mit ehrfurchtsvollem Gruß vorübergehen. Doch Ilses Blick zwang ihn stehen zu bleiben.

„Herr Baron, ich möchte eine kleine Unterredung mit Ihnen haben,“ begann sie.

„Das wird mir eine große Ehre sein, gnädige Frau. Bin ich so glücklich, Ihnen einen Dienst erweisen zu können?“

Er tat vollkommen unbefangen, was Ilse reizte.

„Sie brauchen mir gegenüber keine Komödie zu spielen, junger Mann,“ herrschte sie ihn an. „Sie wissen sehr gut, weshalb ich hier bin.“

„In der Tat, gnädige Frau, ich bedaure ...“

„Mit solchen Ausflüchten verschlechtern Sie nur die Sache,“ fuhr Ilse, deren Augen vor Zorn funkelten, fort. „Ich würde besser von Ihnen denken, wenn Sie mir offen und ehrlich sagten, mit welchen Absichten Sie sich meiner Enkelin zu nahen wagten.“

„Ich hatte Fräulein Irma ersucht, vorläufig noch Schweigen über unser Verhältnis zu bewahren,“ entgegnete Otto, noch sehr höflich, obwohl im Innern wütend auf Irma, weil sie seiner Meinung nach doch nicht den Mund gehalten hatte.

„Und sie war unverständig genug, sich an dies Versprechen gebunden zu halten,“ erwiderte Ilse. Dann erzählte sie ihm in wenig Worten, wie das Geheimnis an den Tag gekommen war.

Hochstein biß sich auf die Lippen. Er verzieh es Irma nicht, daß sie alles gestanden hatte; in der ersten Entrüstung hielt er sie sogar für fähig, die ganze Geschichte erfunden zu haben, weil sie nicht länger zu schweigen vermochte; aber als er Ilse ins Gesicht schaute, sah er sofort ein, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte. Es erschien ihm also klüger, einen demütigeren Ton anzuschlagen.

„Wenn Irma Ihnen alles mitgeteilt hat, gnädige Frau, dann werden Sie wohl auch vollkommen begreifen, warum ich die Sache — zu meinem Leidwesen — vorläufig noch geheim halten muß.“

„Nein, Herr Baron, das begreife ich nicht. Ich begreife durchaus nicht, wie ein feingebildeter Mann ein junges, unerfahrenes Mädchen zu überreden suchen kann, ihre Familie zu hintergehen und ihren guten Namen aufs Spiel zu setzen. Irma ist ein Kind, das nicht weiß, was es tut; ich segne den Zufall, der mich von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt hat. Nach dem, was ich von Ihnen gehört und gesehen habe, will ich noch nicht urteilen, aber ich verlange, daß Sie, wenn Sie es ehrlich und gut mit dem Mädchen meinen, das Ihnen seine Liebe geschenkt hat, noch heute Ihren Eltern von Ihren Absichten Mitteilung machen.“

„Es tut mir leid, gnädige Frau, aber das kann ich nicht, und ich habe Irma auch die Gründe auseinandergesetzt.“

„Ja, und sie war damit zufrieden; ich aber bin es nicht. Hören Sie, Herr von Hochstein, wenn Sie meine Enkelin wirklich lieben, dann durften Sie sie nicht bloßstellen, sondern mußten erst mit Ihren Eltern sprechen, um ihr eine etwaige Enttäuschung zu ersparen.“

„Ich habe ihr stets gesagt, daß ich nach bestandenem Examen mich bemühen will, die Einwilligung meiner Eltern zu erhalten.“

„Sehr schön, bis dahin darf aber dann zwischen Ihnen und Irma nicht das geringste Einverständnis mehr bestehen. Ihre Eltern mögen stolz sein; wir sind es nicht minder und — mit gleichem Recht.“

„So wollen Sie der Sache mit Gewalt ein Ende machen und uns unerbittlich auseinanderreißen, gnädige Frau?“

„Durchaus nicht. An dem Tage, an dem Ihr Herr Vater mich ehrerbietig um die Hand meiner Enkelin ersucht, will ich um Irmas willen bei meinem Schwiegersohn, dem berühmten Künstler, ein gutes Wort für Sie einlegen. Ich glaube nämlich nicht, daß Irmas Eltern von ihrer Wahl sehr eingenommen sein werden.“

„Irma hat auch noch ein Wörtchen mitzureden,“ rief Otto, der sich kaum mehr beherrschen konnte, „und ich zweifle nicht, daß sie sich Ihrer Grausamkeit widersetzen wird.“

„So viel Stolz und Taktgefühl werde ich meiner Enkelin wohl noch einflößen können, als sie zu der Erkenntnis nötig hat, daß sie mit einem jungen Manne, dessen Eltern sich so hoch erhaben über sie dünken, keine Zusammenkünfte mehr haben darf. Da ich nun weiß, wie ich handeln muß, fürchte ich Ihren Einfluß auf Irma nicht mehr.“

„Ist das Ihr letztes Wort, Frau Gontrau?“

„Mein letztes, bis Ihr Vater, der Baron von Hochstein, sich an mich oder an Irmas Eltern wendet und unsere Einwilligung zu der Verlobung erbittet.“

„Dann hoffe ich Sie in nicht zu langer Zeit wiederzusehen,“ sagte Otto mit verbissener Wut, indem er sich zum Abschied mit tadelloser Höflichkeit verbeugte.

„Das wird mir eine wahre Freude sein,“ versetzte Ilse und entfernte sich. —

So schnell sie konnte, eilte sie nach Hause, sie wußte ja, mit welcher Ungeduld Irma sie erwartete. Und doch hätte sie gewünscht, einen recht weiten Weg vor sich zu haben, denn sie brachte schlechte Nachricht für das arme Kind.

Das junge Mädchen kam ihr auch bereits im Flur entgegen. Auf Großmutters Antlitz las sie sofort ihr Urteil. Ohne etwas zu sagen, wartete sie, bis Ilse Hut und Mantel abgelegt hatte und sie zu sich rief.

„Irma,“ begann die alte Dame sehr sanft, „du bist doch wohl überzeugt, daß ich dich von ganzem Herzen lieb habe und alles tun möchte, um dir Kummer zu ersparen, nicht wahr?“

„Ja, Großmama.“

„So höre mich an, Kindchen. Ich glaube, du wirst dir die Geschichte mit Hochstein aus dem Sinn schlagen müssen; denn ich fürchte, er hat mit deinem hingebenden Vertrauen schändlichen Mißbrauch getrieben, und es hat nie in seiner Absicht gelegen, sich mit dir zu verloben und dich zu seiner Frau zu machen.“

„Du fürchtest nur, Großmama, bist also doch nicht fest davon überzeugt. Was hat er denn gesagt?“

„Aus seiner ganzen Haltung, seinem Wesen, seinem Tun und Handeln ist mir das, was ich fürchtete, zur Gewißheit geworden. Ich habe ihm gesagt, daß sein Vater entweder bei mir oder bei deinen Eltern um deine Hand für seinen Sohn anhalten muß. Wenn das geschieht, reden wir weiter darüber. Aber bis dahin dürft ihr keinerlei Verkehr miteinander haben.“

Irma schwieg.

„Ihr dürft euch weder sehen, noch schreiben. Ich erwarte beinahe mit Bestimmtheit, daß der junge Mensch durch leidenschaftliche Briefe versuchen wird, dich zum Ungehorsam zu verleiten. Wenn er dir schreibt, darfst du seine Briefe nicht lesen, sondern mußt sie mir geben.“

„Großmama!“

„Ich werde sie nicht lesen, sondern ihm uneröffnet zurücksenden.“

„Nein, Großmama, das tue ich nicht,“ rief Irma, ihre Ruhe verlierend. „Er würde denken, daß ich nichts mehr von ihm wissen will. Du hast nicht das Recht, ihn so zu behandeln. Warten wir, bis er sein Examen gemacht hat. Wenn er dann nicht mit seinen Eltern spricht und nicht tut, was er mir gelobt hat, und worauf ich fest vertraue, dann magst du ihn verurteilen.“

Ilse wurde über den nichts weniger als ehrerbietigen Ton, in dem ihre Enkelin mit ihr sprach, nicht böse, sondern nahm die Hände des Mädchens sanft in die ihrigen und sagte ernst:

„Ich habe ihm verboten, irgend welche Beziehungen mit dir zu unterhalten. Handelt er meinem ausdrücklichen Wunsch zuwider, so zeigt er, daß er kein Ehrenmann ist. Überdies wird er sehr wohl begreifen, daß nicht du, sondern ich seine Briefe zurücksende. Gottlob wird's ja nicht lange dauern, bis wir vollkommene Klarheit haben. Er hat gelogen, als er sagte, daß er in drei bis vier Monaten sein Examen mache. Onkel Heinz weiß, daß es in eben so viel Wochen stattfindet.“

„Er hat mich überraschen wollen,“ rief Irma mit bebenden Lippen, und bemühte sich tapfer, ihre Tränen zurückzudrängen.

Ilse schlang die Arme um sie und küßte sie.

„Mein armes, liebes Kind,“ sagte sie gerührt. „Es klingt hart, und doch muß ich es aussprechen. Sei nicht zu hoffnungsvoll, sondern bereite dich auf eine Enttäuschung vor. Ich fürchte, daß dir großes Leid bevorsteht, ein Kummer, den wir alle, die wir dich lieb haben, mit unsrer Sorge und Teilnahme dir nicht ersparen, nicht erleichtern können, den du ganz allein durchkämpfen mußt.“

Sie ging hinaus und ließ das junge Mädchen allein. Irma begab sich auf ihr Zimmer. Allerhand romantische Ideen gingen ihr im Kopf herum. Sie empfand Zorn und Bitterkeit gegen ihre Großmutter. Wie kam diese nur dazu, sich unberufen in Dinge zu mischen, die im Grund nur sie, Irma, angingen. Sie war doch schließlich nicht ihre Mutter. Und die Kleine überlegte, ob es nicht das Klügste wäre, ganz heimlich nach München abzudampfen, ihren Eltern alles zu erzählen und ihre Entscheidung anzurufen; aber erstens bangte ihr davor, die weite Reise allein zu unternehmen, zweitens fehlte ihr das nötige Geld, und endlich sagte ihr eine geheime Stimme in ihrem Innern, daß ihre Eltern der Großmama recht geben, ja vielleicht noch strenger auftreten würden — das war also nichts. Dann dachte sie daran, Gustav zu Hilfe zu rufen. Aber so, wie sie ihren Bruder kannte, sah sie ein, daß er ihr nicht helfen könne. Von Agnes war auch nichts zu erwarten. Endlich kam sie auf die verzweifelte Idee, allem und allen zu trotzen, zu Otto zu gehen und ihm zu sagen, daß sie ihn liebe, ihm vertraue und ohne ihn nicht leben könne. Wußte auch er keinen Ausweg, so wollten sie zusammen auf und davon gehen — alles war besser, als voneinander zu lassen.

Nachdem sie wohl eine Stunde mit solchen abenteuerlichen Plänen sich beschäftigt hatte, wurde sie ruhiger und fing an einzusehen, daß ihr nichts übrig blieb, als sich vorläufig zu fügen. Aber sie tat es mit einem Herzen voll Groll, denn sie fühlte sich tief gekränkt und fand, daß ihr bitteres Unrecht geschah. Ihr Gehorsam wurde überdies auf eine schwere Probe gestellt. Zwei Tage später, als sie mit Großmama beim Frühstück saß und das Dienstmädchen die Postsachen hereinbrachte, bemerkte sie, daß ein Brief von Otto an ihre Adresse darunter war. Auch Ilse war dies nicht entgangen, aber sie stellte sich ganz unbefangen und tat, als sei sie völlig in ihre Zeitung vertieft. An allen Gliedern bebend ergriff Irma den Brief, es war, als brenne das Papier in ihrer Hand, als könne sie die flehenden, leidenschaftlichen Worte durch den Umschlag hindurch lesen — dann warf sie einen verstohlenen Blick nach der scheinbar ahnungslosen Großmama; hätte diese nur wenigstens gezeigt, daß sie wußte, von wem dies Schreiben war, aber auch jetzt vertraute sie Irmas Gehorsam vollkommen.

Plötzlich warf das junge Mädchen den Brief vor die alte Dame auf den Tisch und rief mit erstickter Stimme:

„Da hast du ihn! Aber du handelst schlecht, du tötest mich!“

Und leidenschaftlich schluchzend ging sie hinaus.

Peinlich berührt schaute Ilse ihr nach. Sie vermochte das Kind nicht zu verdammen, denn in diesem heftigen Ausbruch erkannte sie sich selbst wieder, wie sie vor vielen Jahren gewesen war. Sie fragte sich, wie sie in Irmas Alter unter denselben Verhältnissen gehandelt haben würde, und kam zu der Einsicht, daß „der Trotzkopf“ von damals vielleicht noch viel trotziger, eigensinniger und ungehorsamer gewesen wäre. Doch diese Selbsterkenntnis machte sie in ihrem Entschluß nicht wankend; wie groß ihr Mitleid mit dem Kinde auch war, sie mußte fest bleiben und durfte sich nicht von ihrem Gefühle beherrschen lassen.

So nahm sie denn den Brief mit einem Seufzer auf, veränderte die Adresse und sandte ihn zurück.

Noch nie war das Verhältnis zwischen Enkelin und Großmutter so unfreundlich gewesen, wie in den Tagen und Wochen, die nun folgten. Schweigend, mit einem Ausdruck, der ihr reizendes Gesichtchen entstellte, saß Irma bei den Mahlzeiten; sie sprach kaum ein Wort, und all die kleinen Vertraulichkeiten, die lieblichen Neckereien und Aufmerksamkeiten, die das Leben der beiden so gemütlich und fröhlich gemacht, hatten ein Ende. Ilse beklagte sich darüber nicht. So viel sie konnte, tat sie, als bemerke sie die Veränderung nicht, sondern bemühte sich unbefangen und liebevoll wie gewöhnlich zu sein. Sie fühlte Mitleid mit dem Kinde und schaute es nur dann traurig und vorwurfsvoll an, wenn sie auf eine freundliche Anrede eine schnippische und ungezogene Antwort bekam.

Arme, kleine Irma! Sie konnte sich nicht aufraffen; bisher war ihr Leben ein sonniges und ungetrübtes gewesen. Kummer und Enttäuschung waren ihr unbekannte Gäste, mit denen sie sich nicht abzufinden wußte. Am meisten verletzte es sie, daß sie gar so wenig Verständnis fand, wenn sie ihr Leid klagen wollte. Der Großmutter stand sie direkt feindlich gegenüber, und Agnes schalt darüber, daß sie sich so abscheulich benahm. Der Einzige, bei dem sie, wenn auch keinen Trost, so doch zärtliche Anteilnahme fand, war Onkel Heinz. Er teilte vollständig die Ansicht seiner alten Freundin Ilse, das wußte Irma, und in seiner Gegenwart legte sie ihrer Ungezogenheit und schlechten Laune Zügel an. Andrerseits aber bemühte er sich nach Kräften, sie aufzuheitern, indem er allerlei nette Pläne ausheckte, ihr häufig etwas mitbrachte, und sie überhaupt mehr verhätschelte denn je.

Eines Abends, etwa drei Wochen nach den erzählten Vorfällen, zeigte er dem jungen Mädchen eine Zeitungsnotiz des Inhalts, daß Baron von Hochstein sein Referendarexamen gemacht habe. Mit dunkelrotem Gesichtchen und glänzenden Augen schaute sie zu ihm auf, nahm ihm dann das Blatt aus der Hand und ging damit zur Großmutter. Ilse las; auch sie war angenehm überrascht.

„Na, Irma,“ sagte sie freundlich, „nun hoffe ich von Herzen, daß dein Freund unsrer Spannung rasch ein Ende macht; niemand wäre froher als ich, wenn er beweisen kann, daß ich ihn falsch beurteilt habe.“

„Das wird er sicher können, Großmama,“ versetzte Irma triumphierend.

Die nächsten Tage verbrachte sie in fieberhafter Erregung, die sich noch steigerte, so oft sie den Postboten erwartete. Sie sprach wieder und wieder mit der Großmama über die Möglichkeit, ja Gewißheit, daß sie von dem alten Baron oder von Otto Nachricht bekommen würden, sie hielt an ihren alten Illusionen fest und wollte das Angstgefühl, das sie oft beschlich, nicht aufkommen lassen. Tage, Wochen vergingen, keine Nachricht kam. Da flehte sie, an ihn schreiben zu dürfen, um anzufragen, ob er mit seinem Vater gesprochen habe. Ilse weigerte sich entschieden, diese Erlaubnis zu geben.

„Ich tue es doch,“ rief Irma, „ich muß Gewißheit haben. So kann ich nicht weiter leben.“

„Du mußt wissen, was du tust,“ entgegnete die Großmutter ruhig. „Wenn du dich so erniedrigst, deine weibliche Würde mit Füßen trittst und mir ungehorsam bist, schreibe ich noch heute an deine Eltern, dann ist hier kein Platz mehr für dich.“

Vor Aufregung bebend blickte das junge Mädchen die alte Dame an, aber in den ernsten, dunklen Augen war nur unbeugsame Festigkeit zu lesen. Zornig mit den Füßen stampfend wandte Irma sich ab.

Die Versuchung, ungehorsam zu sein und ihrer Sehnsucht nachzugeben, wäre vielleicht doch übermächtig geworden, da kam endlich die erwartete Entscheidung, wenn auch in ganz anderer Weise, als sie sich eingebildet hatte.

Einige Tage nach dem geschilderten Ausbruch nämlich reichte Ilse ihrer Enkelin einen offenen Brief, der in der wohlbekannten Hand ihre Adresse trug.

Das Blut stieg Irma ungestüm in die Wangen, dann wurde sie totenblaß und öffnete zitternd das Blatt.

Es war eine gedruckte Anzeige der Verlobung des Barons Otto von Hochstein mit der Freiin Laura von Staufenberg.

Einige Sekunden starrte Irma wie geistesabwesend auf den verhängnisvollen Bogen, der all ihre Hoffnungen zerstörte, allem Liebesglück und Vertrauen ein jähes und grausames Ende bereitete. Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, stand auf und wollte der Großmama die Verlobungsanzeige geben, aber plötzlich drehte sich das ganze Zimmer mit ihr im Kreise, sie schwankte und brach mit einem dumpfen Wehlaut zusammen.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Zimmer auf der Chaiselongue. Über sie gebeugt stand die Großmama, die ihr Stirn und Schläfen mit kölnischem Wasser badete und sie so unendlich liebevoll und zärtlich besorgt anschaute, daß Irma die Arme um den Hals der alten Dame schlang und in ein fassungsloses, leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.

Kein Wort des Tadels oder Vorwurfs kam über Frau Gontraus Lippen. Sie küßte das Kind, preßte es an sich und suchte es zu beruhigen.

Irma weinte und weinte, als sollte ihr das Herz brechen.

„Es ist furchtbar hart,“ flüsterte Ilse endlich, „aber du mußt darüber hinwegkommen, Liebling, du mußt.“

„Ich kann nicht, er war mein ein und mein alles, Großmama, und mein Vertrauen zu ihm war grenzenlos.“

„Armes Kind, fühlst du denn nicht, wie furchtbar er dich beleidigt, wie schändlich er dich behandelt hat?“

„Ich weiß nicht,“ stöhnte die Kleine, „ich fühle nur, daß ich ihn liebe.“

Ilse seufzte, aber sie sah ein, daß Trostesworte vorläufig noch wirkungslos blieben. Nur allmählich konnte es gelingen, bei Irma das Gefühl der Gekränktheit und des beleidigten Stolzes wachzurufen, das ihr über diese erste bittere Enttäuschung hinweghelfen würde.

Als Professor Fuchs das Vorgefallene erfuhr, wurde er wütend, und ein heftiger Gichtanfall packte ihn. Er entwarf die wahnsinnigsten Pläne, wollte Hochsteins Handlungsweise überall verkünden und ihn dadurch bei seinen Korpsbrüdern unmöglich machen, wollte ihn fordern oder ihm wenigstens auf die Bude rücken und ihm die schöne Visage zerbläuen.

Nur mit Mühe gelang es seiner alten Freundin, ihn zur Vernunft zu bringen und ihm klar zu machen, daß stolzes Schweigen das Beste und Würdigste sei.

Während der nächsten Wochen schien es, als sei Irma durch diesen Schlag vollständig geknickt. Mit beunruhigend blassem Gesichtchen und mattem Lächeln ging sie umher, und eine große Mutlosigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Ihre schelmische Munterkeit, ihr kecker Übermut waren vollständig verschwunden. Ein freundliches Wort, eine Liebkosung trieb ihr Tränen in die Augen, und alle Pläne Ilses, ihr eine Zerstreuung zu verschaffen, beantwortete sie mit einem gleichgültigen: „Nein, lieber nicht, Großmama.“

Selbst ihre Toilette machte ihr keine Freude, und das war ein böses Zeichen. Das kleine, eitle Geschöpf, das sonst mit einem Ernst, als gälte es die wichtigsten Dinge, über eine hübsche Bluse oder einen neuen Anzug zu reden pflegte, zog des Morgens das erste beste an, was ihr unter die Hände kam; das prachtvolle Haar wurde nicht wie früher sorgfältig frisiert, sondern nachlässig und lose aufgesteckt, ohne daß Irma den Spiegel zu Rate zog. Am liebsten saß sie ganze Tage allein auf ihrem Zimmer, und nur mit Mühe ließ sie sich überreden, hinunter zu kommen. Ilse litt es freilich nicht, daß sie sich ganz absonderte, und zwang sie im Familienkreise zu erscheinen.

Onkel Fritz und Tante Marianne wußten zwar nicht genau, was vorgefallen war, aber so weit waren sie doch eingeweiht, daß sie sich Irmas verändertes Wesen erklären konnten. Sie sowohl wie Maud spielten mit keiner Silbe auf die Veranlassung an, sondern taten im Gegenteil, als merkten sie nichts. Beide hegten großes Mitleid für die Kleine und bemühten sich in ungesuchter Weise, sie etwas aufzuheitern.

Onkel Heinz war durch einen heftigen Anfall seines alten Leidens ans Haus gebunden. Der Zorn über Baron Hochstein, der Ärger, daß er ihn nicht zur Verantwortung ziehen durfte und die ganze Wut hinunterschlucken mußte, verschlimmerten das Übel in hohem Grade. Aber, während der Professor sich sonst unter ähnlichen Umständen ganz ungenießbar zeigte, und jeden, der es wagte, ihn zu besuchen, durch seine schlechte Laune und seine bissigen Ausfälle fortgraulte, schrieb er jetzt humoristische Briefchen an Irma und bat sie, zu ihm zu kommen. Als sie seiner Einladung folgte, erzählte er ihr die lustigsten Schnurren und verstand es so meisterlich sie aufzuheitern, daß sie lachen mußte und ihr Leid, wenigstens für kurze Zeit, vergaß.

Dekoration

Müllers rüsteten allmählich zu Mauds Hochzeit. Nur noch einige Wochen, dann kam John, um seine Braut zu holen; erst wollten sie eine schöne Hochzeitsreise durch Europa machen und sich dann in San Francisko niederlassen.

Irma nahm an diesen festlichen Vorbereitungen nicht teil. Als Gustav und Flora sowie Reichers — denn auch Hans war eingeladen — ihre baldige Ankunft meldeten und Herr und Frau von Holten gleichfalls schrieben, daß sie kommen würden, bat sie unter Tränen Großmama Ilse, ob es nicht möglich sei, sie für diese Zeit fortzuschicken. Sie fühle sich außer stande, all die Festlichkeiten mitzumachen; sie würde zu viel an ihren eigenen Herzenskummer denken müssen und schwer darunter leiden.

Ilse schüttelte den Kopf:

„Hör' mal, Kindchen,“ sagte sie fest, „es wird Zeit, daß wir ein ernstes Wörtchen miteinander reden. Du mußt doch endlich einsehen, daß du dich deinem Schmerz nicht ausschließlich hingeben darfst. Hochstein ist für dich verloren, davon mußt du doch überzeugt sein.“

„Das bin ich ja,“ entgegnete Irma, „aber eben deshalb hat mein Leben keinen Wert mehr für mich.“

„Unsinn, du mußt einsehen lernen, daß der Mensch gar nicht wert ist, daß du so um ihn trauerst. Kommst du nicht auf Mauds Hochzeit, so weiß jeder, weshalb. Was ich dir jetzt sagen muß, Irma, ist hart, aber ein energisches Mittel ist bei dir wirklich nötig. Ein Mädchen, dem so mitgespielt wurde wie dir, findet wohl Teilnahme. Zeigt sie aber jedem, daß sie sich um solch unwürdigen Gecken grämt, so lacht man schließlich über ihre Rührseligkeit und Überspanntheit. Kannst du deine Enttäuschung noch nicht verwinden, so trage deinen Kummer wenigstens still und heimlich, damit du den Leuten nicht das Recht gibst, sich über dich lustig zu machen.“

Irma richtete sich auf; dunkle Röte färbte ihre Wangen; Großmutters Worte trafen sie wie Peitschenhiebe, und unwillkürlich zog sie ihre Hand zurück, als die alte Dame sie zärtlich streicheln wollte; aber sie weinte nicht mehr, und in der stillen Hoffnung, daß ihre Worte doch ihren Zweck erfüllen würden, zog sich Ilse zurück.

„Ich muß der Großmama beipflichten,“ sagte Agnes an demselben Nachmittag, als Irma ihr von dieser Unterredung erzählte, „es ist gerade so, als ob du keinen Stolz mehr besäßest.“

Wie gewöhnlich lag Irma auf ihrer Ruhebank, sie zeigte sich aber nicht mehr ganz so teilnahmlos und gleichgültig wie sonst, wenn sie auch nicht zugeben wollte, daß die Großmama recht hätte.

„Du verstehst mich nicht, Agnes,“ erwiderte sie. „Du bist verlobt und behauptest Ludwig zu lieben, aber du bist viel zu nüchtern und praktisch, um zu fühlen, was wahre Liebe ist.“

Agnes lachte. „Wenn wahre Liebe darin besteht, sich mit Füßen treten zu lassen und jemand nachzuträumen, der deutlich zeigte, daß er nur mit dir gespielt hat, dann — ja dann habe ich keinen Schimmer davon, denn so etwas ließe ich mir nicht bieten.“

„Agnes!“ rief Irma, im höchsten Grade erzürnt, „wenn Großmama mir solche Dinge sagt, mag das noch hingehen, von dir vertrage ich das nicht.“

„Und doch ist es die Wahrheit,“ fuhr die andere eifrig fort. „Komm' mal her,“ sie zog ihre widerstrebende Cousine vor den Spiegel, „schau dich mal an. Ist's nicht jammerschade, daß ein Mädchen wie du, so schön, mit solcher Gestalt, solchem Haar und solchen Augen, sich um dieses Menschen willen so häßlich macht! Du bist wirklich in letzter Zeit nicht hübscher geworden.“

„Was liegt mir daran?“ versetzte Irma. Aber sie schaute doch in den Spiegel, und ihr wurde angst, daß Agnes am Ende wohl recht haben könne.

Diese bemerkte ihren Vorteil und fuhr mit gesteigerter Wärme und Innigkeit fort:

„Liebstes Kind, du kannst für den einen hundert andere bekommen. Wäre ich so schön wie du, wahrlich ich würde ihm das Vergnügen nicht gönnen, mit spöttischem Mitleid über mich die Achseln zu zucken.“

„Das Vergnügen soll ihm nicht zu teil werden,“ rief Irma; „er braucht doch nicht zu wissen, daß ich mich um ihn gräme.“

„Als ob ihm das nicht zu Ohren kommen würde! Machst du Mauds Hochzeit nicht mit, so erfährt er das sicher. Es kommen mehrere Studenten und Offiziere, die ihn kennen. Soll er denn denken, daß du ohne ihn nicht leben kannst! Weißt du, was du tun müßtest?“

„Nein.“

„Auf die Hochzeit gehen, dich so schön wie möglich machen und so lustig sein, daß keine Seele etwas merkt. Glaube mir, ich kenne die Welt besser als du; wenn Hochstein denken muß, daß du dir's nicht zu Herzen nimmst, wird er sich ärgern, und das ist doch wohl die kleinste Strafe, die er verdient.“

Der matte, gleichgültige Ausdruck in Irmas Augen verschwand, ihre Wangen röteten sich, und mit einem schwachen, selbstzufriedenen Lächeln nickte sie ihrem Spiegelbilde zu.

„Vielleicht hast du recht,“ sagte sie, „ich will mich bemühen, deinem Rat zu folgen. Versprich mir nur eins — nie mehr über Otto zu reden.“

„An mir wird es nicht liegen, wenn's doch geschieht,“ entgegnete Agnes munter, „denn ein angenehmer Gesprächsstoff ist er für mich wirklich nie gewesen.“

Von nun an änderte sich Irma. Als ihre Eltern kamen, und Ruth, die von ihrer Mutter in alles eingeweiht wurde, sie schweigend, mit vielsagender Innigkeit umarmte, setzte ihr Töchterlein sie in Erstaunen, indem es lachend rief:

„Hör' mal, Mamachen, wenn du glaubst, mich bemitleiden zu müssen, bist du auf dem Holzwege. Großmama hätte dir die kindische Geschichte mit Baron Hochstein nicht zu erzählen brauchen. Ich habe sie längst vergessen.“

„Aber Kind, ich glaubte dich ganz niedergebeugt und traurig zu finden. Ich dachte, du liebest ihn.“

„Ach wo denn, ich bildete mir das nur ein. Jetzt weiß ich, daß es so ganz gut ist und habe es völlig überwunden.“

„Um so besser, mein Liebling,“ sagte Ruth erfreut. Aber als sie der Großmutter Irmas Worte wiederholte, schüttelte diese das alte, graue Haupt.

„Mamachen, du bist doch nie zufrieden,“ meinte Ruth etwas ärgerlich. „Was willst du denn mehr? Wir können doch wirklich froh sein, daß die Kleine die Geschichte so verständig auffaßt.“

„Liebe Ruth,“ versetzte Ilse nachdenklich. „Der Übergang ist mir zu schroff. Wir mußten Irma aus ihrer Teilnahmlosigkeit förmlich aufrütteln, indem wir ihren Stolz und ihre Eigenliebe zu Hilfe riefen, nun aber fürchte ich, daß ihre Eitelkeit den Sieg davontragen und sie zu irgend einem dummen Streich verleiten wird.“

Ungläubig schaute Ruth die Mutter an.

„Zum Beispiel,“ fuhr Großmutter leise fort, „aus Trotz den ersten besten Mann zu nehmen.“

Frau von Holten schwieg; an solch eine Möglichkeit hatte sie noch nicht gedacht.

„Ich glaube, du übertreibst, Mama,“ sagte sie endlich. „Irma ist in jeder Hinsicht noch das reine Kind.“

„Eben darum,“ behauptete Ilse, aber da ihre Enkelin gerade ins Zimmer trat, wurde das Gespräch nicht fortgesetzt. —

Der Bräutigam, John Forster, war angekommen und machte seinen neuen Verwandten einen sehr angenehmen Eindruck. Er war ein großer, stattlicher junger Mann, blond und breitschultrig, mit energischem Ausdruck in den stahlblauen Augen und großer Ruhe und Gelassenheit in seinem Auftreten. Er und Maud bildeten ein sehr gesetztes Paar; Flora, die mit ihrem Manne bei Großmutter Gontrau wohnte, wunderte sich im stillen, daß Braut und Bräutigam nach so langer Trennung einen ganzen Abend beisammen sein, sich mit jedem gemütlich unterhalten konnten, und nicht einzig und allein für einander Ohren und Augen hatten.

Als Flora schüchtern bemerkte, daß John und Maud nicht den Eindruck eines verliebten Paares machten, lachte die junge Braut so heiter und herzlich, und aus ihren hübschen, ernsten Augen strahlte ein so sonniges Glück, daß niemand an ihrer innigsten Liebe und Zuneigung für einander zweifeln konnte. —

Onkel Heinz, der mit Hilfe eines Stockes wieder umherhumpelte, setzte die ganze Familie, die ihn noch ans Zimmer gebunden glaubte, in Erstaunen, als er plötzlich eines Abends in ihrem Kreise erschien. Er unterhielt sich viel mit dem jungen Amerikaner; aber als Hans Reicher ankam, hätte der Professor leicht in den Verdacht der Unbeständigkeit und Launenhaftigkeit kommen können, denn nun zog er die Gesellschaft des jungen Gutsbesitzers jeder anderen vor und vertiefte sich mit ihm in alle möglichen Fragen des Ackerbaus und der Viehzucht. Hans verweilte gern bei dem alten Sonderling; Onkel Heinz hatte sich sofort angeboten, ihn als Logiergast aufzunehmen, und da bei Müllers wie bei Ilse Gontrau das Haus besetzt war, nahm Hans dies Anerbieten dankend an.

Große Hochzeitsfeierlichkeiten sollten nicht stattfinden, die Abende aber, die der heiligen Handlung vorangingen, verbrachte die Familie stets gemeinsam. Es wurde viel musiziert, mitunter auch getanzt, und das Zusammensein mit einem gemütlichen Abendessen beschlossen. Irma nahm so heiter an allem teil, daß jeder sich darüber wunderte. Als sie am ersten Abend erschien, anmutiger denn je, in einem hellgrünen, duftigen Kleide, schelmisch und ausgelassen wie früher mit der Jugend Unsinn trieb, die älteren Herren durch ihr Geplauder bezauberte, so daß sie bald wieder der Mittelpunkt war, um den sich alles drehte, schüttelte Maud ernst den Kopf und flüsterte ihrer Schwester zu:

„Die Irma ist doch wirklich eine arge Kokette; von ihr kann man auch sagen: Viel Lärm um Nichts!“

Agnes schwieg und schaute bekümmert nach Irma, die gerade auf dem Sofa saß. Vor ihr stand Hans Reicher und hörte mit ernster Miene ihrem Geplauder zu. Das Mädchen war bildschön, wenn möglich noch schöner als früher, aber ihrem Benehmen fehlte das reizend Kindliche, das sie so unwiderstehlich gemacht hatte. Mit ausgesprochener Gefallsucht streckte sie den kleinen Fuß vor, um dessen tadellose Form zur Geltung zu bringen; sie bemühte sich, während sie saß, die anmutigste Haltung anzunehmen, lehnte ihr blondlockiges Köpfchen an den Sessel, weil sie wußte, daß es sich von dem roten Plüsch besonders vorteilhaft abhob; sie lachte, um ihre Perlzähnchen zu zeigen, schlug die großen Vergißmeinnichtaugen bald schüchtern, bald wieder übermütig auf und bemerkte mit einem häßlichen Triumphgefühl befriedigter Eitelkeit, wie sie den guten Hans in Verwirrung brachte und bezauberte.

„Ob Hans weiß, was Irma durchgemacht hat?“ fragte Maud plötzlich ihre Schwester.

„Nein, wer sollte ihm das erzählt haben?“

„Ich dachte, du oder Ludwig.“

„Ich werde mich hüten. Wir haben das Recht nicht, Irmas Geheimnis an die große Glocke zu hängen — das wäre garstig.“

„Allerdings,“ gab Maud zu, „aber ich glaube, der arme Hans hat wieder Feuer gefangen, und siehst du denn nicht, wie furchtbar sie mit ihm kokettiert?“

„Gewiß, aber weil sie so stark aufträgt, wird er's wohl merken, und tut er das nicht, so ist er ein Schaf,“ entgegnete Agnes unwillig.

Hans Reicher war der Einladung zu Mauds Hochzeit mit schwerem Herzen gefolgt. Ihm bangte vor dem Wiedersehen mit Irma. Fern von ihr, in Anspruch genommen durch seinen Beruf und seine vielen Geschäfte, hatte er die Kraft besessen, seinen Kummer zu beherrschen, das Unvermeidliche zu tragen, ohne sich in Sehnsucht zu verzehren nach einem Glück, das ihm unerreichbar dünkte. In den ersten Wochen nach Gustavs und Floras Hochzeit hatte er täglich die Anzeige von Irmas Verlobung mit Hochstein erwartet, und als diese nicht kam, schließlich Ludwig ausgeforscht.

Aber der Bruder, der von seiner Braut nicht in Irmas Herzensgeheimnisse eingeweiht war, hatte nichts gewußt, und Hans zu stolz, um sich bedauern zu lassen, hatte nicht weiter geforscht und nicht widersprochen, als Ludwig eine Anspielung machte, daß seine Zuneigung für das schöne Mädchen rasch verflogen zu sein schiene.

Trotz aller Vernunftgründe, die dafür sprachen, die Einladung abzulehnen und Irma nicht wiederzusehen, um seine teuer erkaufte Ruhe nicht von neuem aufs Spiel zu setzen, war er doch zur Hochzeit gekommen, getrieben von seiner Sehnsucht nach der Geliebten. Er hatte sich aber fest vorgenommen, ihr kühl gegenüber zu treten und ja nie den unglücklich Liebenden zu spielen, um nicht ausgelacht zu werden.

Irma begrüßte ihn mit unerwarteter Herzlichkeit. Sie sprach so freundlich mit ihm, bewies plötzlich so viel Teilnahme an allem, was ihn betraf, schaute ihn so merkwürdig an, daß der arme Hans seine guten Vorsätze vergaß und seine Hoffnung, Irma dereinst doch die seine zu nennen, sich auf Riesenschwingen emporhob. Von Hochstein hörte er nichts, also war das doch nur ein vorübergehender Flirt gewesen. Seine Klugheit verließ ihn vollständig; er war wie mit Blindheit geschlagen, merkte die Gefallsucht des schönen Mädchens nicht, sondern sah dieses in dem Lichte, in dem er es sehen wollte, und so kam er zu dem Entschluß, nicht eher heimzukehren, als bis er Gewißheit hätte.

An dem Abend, an welchem Maud ihre Schwester auf Irmas leichtfertiges Betragen aufmerksam machte, fühlte Hans sich im siebenten Himmel. Er erzählte von seinem Schaffen und Streben, von den Verbesserungen, die er in den letzten Jahren eingeführt habe, und sie tat, als lauschte sie aufmerksam, klappte dabei ihren Fächer auf und zu, hielt ihn aber zum öftern vors Gesicht, um ihr unterdrücktes Gähnen zu verbergen, und sagte endlich:

„Trotz alledem ist's doch wohl ein bißchen langweilig, immer auf dem Lande zu sitzen, Hans, wie? Möchten Sie nicht lieber in einer großen Stadt wohnen?“

„Bisher habe ich mich noch nie danach gesehnt. Ich fühlte mich in meiner Umgebung und bei meiner Arbeit vollkommen glücklich.“

„Sie sprechen von ‚bisher‘, ist es denn jetzt nicht mehr so?“

„Jetzt bin ich nahe daran, mir einen Beruf zu wünschen, der mich mehr unter Menschen und in das Leben und Treiben der Großstadt führt.“

„Wie ist das möglich?“ fragte Irma mit der unschuldigsten Miene von der Welt. „Warum denn?“

Hans beugte sich zu ihr herab. Er sah bleich aus, und seine Lippen bebten als er ihr zuflüsterte:

„Weil ich es dann eher wagen würde, eine Bitte auszusprechen, deren Erfüllung mich zum glücklichsten aller Sterblichen machen würde. Verstehen Sie mich, Irma?“

„Hans!“ ertönte plötzlich die barsche Stimme von Professor Fuchs, „wir brauchen einen vierten Mann zum Whist. Von Ludwig kann natürlich keine Rede sein; als Bräutigam ist er verliebt und also nicht normal; kommen Sie nur mit, mein Junge.“

„Aber Onkel Heinz,“ schmollte Irma, „da ist doch noch Gustav und Papa.“

Der alte Herr fing an zu lachen. „Mit den beiden spiele ich nicht; ich glaube nicht, daß sie einen Buben von einem König unterscheiden können.“

„Ich habe keine Lust, meine Dame im Stich zu lassen, Herr Professor,“ wehrte sich Hans, „ich mache mir nichts aus Whist.“

„Der Mensch kann nicht immer tun, was er am liebsten mag; wenn ich den ganzen Abend das Getue und Geschwätz der Leute hier sehen und anhören muß, kriege ich einen neuen Gichtanfall. Also erbarmen Sie sich des alten Brummbären.“

Hans schaute Irma an; sie lachte ihm mit solch lieblichem Erröten und solcher Verheißung in den strahlenden Augen zu, daß ihm vor seliger Erwartung schwindelte. Er ergriff ihr Händchen, drückte es so kräftig und lange, bis es ihr förmlich weh tat, und folgte Onkel Heinz.

Irma seufzte und lächelte doch zugleich. Ihr gegenüber hing ein großer Spiegel; sie schaute hinein und dachte gerade, wie wunderhübsch sie doch eigentlich sei, als sie im Glase dem ernsten Blick der Großmama begegnete, welche sie ruhig und streng ansah. Das Mädchen wandte sich ab und wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Aber sie befand sich in übermütiger Laune. Der Kummer, den sie erlitten, hatte sie zuerst fast zerschmettert; dann hatte die arge Niederlage ihrer Eitelkeit den Schmerz verdrängt, und das Gefühl des Unglücks und der Trauer hatte sich in Bitterkeit umgewandelt. Sie war an ihrem wundesten Punkt getroffen worden, nun raste sie weiter auf dem Wege, den sie einmal eingeschlagen hatte — und als Hans ihr an diesem Abend das Geleite gab und ihr beim Einsteigen in den Wagen zuflüsterte:

„Darf ich Ihnen morgen weitererzählen, Irma, was ich erbitten möchte, und was mich so unendlich glücklich machen würde?“ neigte sie ihr Köpfchen, zog die Hand zurück und lispelte kokett:

„Ich habe wirklich gar keine Ahnung, was das sein kann, aber wenn Sie mich zu Ihrer Vertrauten machen wollen, ist mir's recht.“

Nun stand sie in ihrem Schlafzimmer im weißen Unterröckchen vor dem Spiegel und bürstete ihr Goldhaar. Sie nahm die seidenen Locken in die Hände und streichelte sie liebkosend, wobei ihr einfiel, womit Otto von Hochstein sie so oft verglichen hatte: mit Kornähren, auf welche die Sonne schien, mit gesponnenen Sonnenstrahlen und flüssigem Gold. In einer bitteren Aufwallung wand sie ihre Locken plötzlich in einer dicken Flechte um den Kopf und tat dies so heftig und mit so harter Hand, daß verschiedene von den spinnwebenfeinen Goldfäden an ihren spitzen Fingerchen hängen blieben.

Da öffnete sich die Tür ihres Zimmers, und Ilse, bereits im Nachtgewand, das weiße Haar unter einer Haube verborgen, trat ein.

„Ist etwas geschehen, Großmama?“ fragte Irma erschreckt. „Ist dir nicht wohl?“

„Ich wollte noch mit dir sprechen, Kind.“

Irma schaute der Großmama in das feine Antlitz, das einen sehr strengen Ausdruck zeigte; und als ahne sie den Zweck dieser Unterredung, unterdrückte sie ein Gähnen, blickte nach der Wanduhr und sagte:

„Es ist schon so spät.“

„Das tut nichts. Ich finde keine Ruhe, bevor ich dich nicht gefragt habe, ob du die Absicht hast, Hans Reicher zu nehmen, wenn er sich um dich bewirbt?“

Irma wurde glühend rot.

„Ja,“ sagte sie, und fügte spottend hinzu:

„Findest du das nicht herrlich, solch guten Mann, auf den ihr alle so große Stücke haltet? Diesmal kannst du doch nichts gegen meine Wahl einwenden?“

„Liebst du Hans?“ fragte Ilse streng.

„Ich glaube. Und es ist schon sechs Wochen her, seit Hochstein seine Verlobung anzeigte. Da wird es hohe Zeit, daß er von mir Ähnliches hört.“

„Du willst Hans heiraten, ohne ihn zu lieben, nur aus Trotz und gekränkter Eitelkeit?“

„Warum nicht, Großmama? Du hast selbst gesagt, ich müsse meinen Kummer überwinden, ich würde für rührselig und verschroben gehalten werden, wenn ich fortführe zu trauern. Nun wird wenigstens keiner mehr über mich lachen.“

„Du solltest meine Worte nicht absichtlich verkehrt auslegen,“ erwiderte die Großmama, und ihre dunklen Augen schauten Irma so strafend an, daß sie die ihren niederschlug. „Du weißt ganz gut, was ich meinte. Du bist im Begriff, eine große Dummheit zu begehen, und eine Schlechtigkeit obendrein. Wem nützt es etwas, wenn du dich und Hans unglücklich machst? Glaubst du, daß Otto von Hochstein sich das zu Herzen nehmen würde?“

„Es wird ihn wenigstens ärgern, wenn er sieht, daß ich ihn so rasch vergessen habe.“

„Und um eines so armseligen Triumphes willen, dessen du überdies noch nicht einmal sicher bist, willst du dich erniedrigen, indem du einen Mann heiratest, den du nicht liebst! Das verbiete ich dir, Irma. Ich warne dich, ich will das nicht.“

„Aber ich will!“ rief Irma auffahrend und in einem Tone, den sie ihrer Großmutter gegenüber noch nie angeschlagen hatte. „Wenn Hans um mich anhält, nehme ich ihn; ich will doch sehen, wer mir das verbieten kann.“

Mit flammenden Augen stand sie vor der alten Dame.

Ilse blickte sie an und erkannte sich selbst in dem aufgeregten, überreizten Kinde wieder, das jedem Vernunftgrunde unzugänglich war und alles opfern wollte, um seinem trotzigen Sinne zu folgen. Die alte Frau fühlte ihren Zorn schwinden; sie begriff, daß der Kummer und die Enttäuschung, die Irma erfahren hatte, schlecht auf ihren Charakter wirkten, anstatt sie demütig und geduldig zu machen, den Geist des Widerstandes und gekränkten Stolzes in ihr weckten. Sie sah ein, daß mit Gewalt und Strenge hier nichts auszurichten war.

„Wirst du Hans sagen, was du erlebt hast?“ fragte sie ruhig.

„Nein, natürlich nicht.“

„So hast du also die Absicht, ihn zu betrügen?“

„Otto hat mich auch betrogen.“

„Ist das ein Grund? Mußt du ebenso schlecht sein wie er?“

„Das ist mir ganz egal,“ rief Irma heftig. „Du kannst stundenlang reden, Großmama. Ich will der Welt zeigen, daß Irma von Holten um einen neuen Anbeter nicht verlegen ist, wenn der alte sie im Stich gelassen hat.“

„Denke darüber nach, Kind, ich warne dich zum letzten Male.“

Aber Irma wandte sich ab und gab keine Antwort mehr.

Dekoration

Großmutter Gontrau verbrachte eine schlaflose Nacht, und als sie andern Tages am Frühstückstisch erschien, sah sie so angegriffen aus, daß es allen auffiel. Auf die Frage, was ihr fehle, erwiderte sie, daß sie nur ein wenig Kopfweh habe; sie sehne sich nach frischer Luft und wolle einen kleinen Spaziergang machen. Ruth erbot sich, die Mutter zu begleiten, doch Ilse wünschte allein zu gehen, dann brauche sie nicht zu reden. Irma und Flora sollten den Morgen benützen, um ihre Toiletten für das große Ereignis, die Hochzeit, in Ordnung zu bringen, auch die andern hätten gewiß noch manches zu besorgen, und sie wolle niemand stören.

Großmutter Ilse ging nicht weit. Das Gartentor von Müllers Villa stand offen, und in der Laube saßen Maud und John.

„Was, liebe Großmama, du hast dich so früh schon aufgemacht?“

„Ja, liebes Bräutchen, ich hatte ein paar Besorgungen zu machen und wollte mich hier ein Weilchen ausruhen. Du brauchst Mama nicht zu rufen, ich weiß, wieviel sie zu tun hat. Wo sind die jungen Leute?“

„Ludwig und Agnes sind spazieren gegangen. Natürlich, wenn die mal auskneifen können, tun sie's mehr wie gern. Hans war eben hier, jetzt ist er mit Papa hinten im Garten.“

„So will ich ihn aufsuchen, ich muß ihm etwas sagen. Nein, liebes Kind, nicht neugierig sein. Du weißt, in den Hochzeitstagen hat die Familie eine Menge Geheimnisse, von denen das Brautpaar nichts wissen darf.“

„O, ich bin nicht neugierig,“ erwiderte Maud und setzte sich ruhig wieder neben John, der ihr aus einer englischen Zeitung vorlas, während sie mit einer Handarbeit beschäftigt war.

Hans kam gerade um die Ecke und zeigte sich sehr erfreut, Ilse zu sehen.

„Schon so früh hier, gnädige Frau? Ich will Frau Müller rufen.“

„Nein,“ versetzte die alte Dame, „das ist nicht nötig. Eigentlich kam ich zu Ihnen, Reicher, denn ich erwartete Sie hier zu finden.“

„Zu mir, gnädige Frau? Kann ich etwas für Sie tun?“

„Ja,“ sagte Ilse. „Wollen Sie mich nach Hause begleiten?“

„Sehr gern. Ich stehe ganz zu Ihren Diensten.“

Sie verließen zusammen die Villa und plauderten einige Augenblicke über gleichgültige Dinge. Dann schlug Großmutter Gontrau einen Seitenweg ein, der durch einen kleinen Park nach ihrer Wohnung führte. Hier war es sehr still. Hans, der noch immer nicht wußte, was sie mit ihm zu besprechen hatte, schaute sie verwundert von der Seite an.

„Darf ich Ihnen eine unbescheidene Frage vorlegen, Reicher?“

Hans nickte ein wenig beklommen, er wußte selbst nicht warum.

„Lieben Sie meine Enkelin Irma?“

„Ja, gnädige Frau,“ sagte er schlicht, aber das genügte. Der ernste Ausdruck seiner grauen Augen, der tiefe, volle Klang seiner Stimme machten alle weiteren Beteuerungen überflüssig.

Ilse reichte ihm die Hand.

„Das freut mich,“ erwiderte sie, „ich glaube nicht, daß es auf der ganzen weiten Welt einen Mann gibt, dem ich sie lieber anvertrauen würde.“

„O, wie innig danke ich Ihnen, gnädige Frau,“ stammelte Hans entzückt.

„Und doch muß ich Ihnen abraten, ihr jetzt schon die große Frage zu stellen. Warten Sie noch.“

„Weshalb raten Sie mir das, gnädige Frau?“

„Irma ist noch so jung ...“ entgegnete Ilse zögernd, „so unbesonnen.“

„Ach, gnädige Frau, wenn das der einzige Grund ist, dann glaube ich, daß eine Liebe wie die meine, so warm, so treu und gut gemeint, sie reifer machen wird.“

„Es gibt noch einen andern Grund.“

„Und wenn es hundert gäbe, Frau Gontrau,“ rief Hans ungeduldig, weil die alte Dame nur in halben Andeutungen sprach, „ich kann nicht warten; gestern habe ich Irma gegenüber bereits angedeutet, daß ich heute diese wichtige Frage stellen werde. Warum sind Sie dagegen?“

„Weil Irma Sie zur Zeit noch nicht liebt, und wenn sie Ihren Antrag annimmt, es aus Trotz tut, aus gekränkter Eitelkeit, weil ein anderer mit ihr sein Spiel getrieben hat.“

Hans Reicher wurde totenbleich und schaute Ilse Gontrau entsetzt an. Über sein offenes, ehrliches Antlitz legte sich ein Ausdruck so tiefen Kummers, daß sie fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. Ganz in der Nähe stand eine Bank unter einem Platanenbaum, der sie den Blicken Vorübergehender entzog. Sie nahm seine Hand und zwang ihn, sich neben sie zu setzen.

Dann erzählte sie ihm alles.

Er hörte ihr zu, gesenkten Hauptes und mit fest zusammengepreßten Lippen. Ilse hatte wohl einen Ausruf der Entrüstung, des Schmerzes erwartet, aber er schwieg.

„Reicher,“ begann sie endlich wieder, „Sie müssen doch einsehen, daß ich Ihnen das alles gesagt habe, weil es meine Pflicht ist, weil ich nicht anders konnte. Ich habe Irma gewarnt, doch sie hat nicht hören wollen. Möglich, daß ich zu schwach gegen sie war, aber ich habe sie so über alle Maßen lieb! Jetzt muß ich sie gegen ihr eigenes Ich zu schützen suchen. Sie braucht eine harte Lehre. Ist Ihre Liebe groß genug, um ihr diese zu erteilen?“

„Ja, gnädige Frau.“

„Für den Augenblick ist sie entschlossen, Ihnen ihr Jawort zu geben. Ist Ihre Liebe stark genug, um dasselbe jetzt nicht anzunehmen und sie zu hindern, daß sie etwas tut, was schlecht und ihrer nicht würdig ist?“

„Ja, gnädige Frau.“

Bewundernd drückte Ilse ihm die Hand.

„Ich wußte wohl, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe. Alles, was wir gesprochen haben, bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden. Es wird eine Zeit kommen, in der Irma ihr Unrecht einsieht.“

„Das glaube ich nicht, gnädige Frau, wage auch nicht, darauf zu hoffen. Ich werde Irma ewig lieben, weil ich nicht anders kann, weil ich gleich beim ersten Mal, als ich sie sah, fühlte, diese oder keine. Aber liebe ich sie auch noch so unendlich, mit mir spielen lasse ich nicht.“

Großmutter Gontrau zog sich, so bald sie wieder nach Hause gekommen war, ungesehen auf ihr Zimmer zurück. —

Zum Abend hatte Onkel Heinz die ganze Familie zu sich eingeladen; er wollte doch auch das Brautpaar durch eine Festlichkeit ehren. Schon seit Tagen hatte er mit Hansens Hilfe seine Zimmer ausgeräumt und die Leute, bei denen er wohnte, in Wut versetzt, weil er das ganze Haus von unterst zu oberst kehrte. In seinem Studierzimmer stand die große Tafel zum Abendessen gedeckt. Solche Unmengen hatte er von allem bestellt, daß seine Hauswirtin seufzend erklärte, es würde hinreichen, ein ganzes Regiment zu bewirten. Aber der alte Herr hatte sich nicht raten lassen.

Kalter Lendenbraten, zierlich geschnitten, mit Sülze belegt und von Petersilie eingefaßt, war zwischen Schüsseln mit Hühnern und Koteletts aufgestellt, die Beinchen und Knochen sauber in Papiermanschetten gesteckt; der polnische Salat wetteiferte in kunstreicher Anordnung und Farbenpracht mit den schönen gelben und rosa Torten. Knall-Bonbons in vergoldeten Hülsen, Schalen mit eingemachten Früchten, Puddings und Crêmes spiegelten sich wieder im Grün und Goldgelb der Rheinwein- und Champagnergläser. Das Allerschönste und Kunstvollste aber war das Mittelstück, ein hoher, aus Mandelteig gebackener, von einer sinnbildlichen Darstellung aus Zucker gekrönter Tempel.

Am Kamin stand, wie Soldaten in Reih und Glied, eine Batterie Flaschen, allerhand feine Marken. Die Sektflaschen mit ihren goldenen und silbernen Hälsen stellten die Offiziere inmitten der Gemeinen vor. Onkel Heinz' Schlafstube, der größte Raum der ganzen Wohnung, war in einen Tanzsaal verwandelt; alle Möbel waren entfernt und der Himmel weiß in welche Ecken und Winkel des Hauses gestopft worden. Er und Hans hatten schon die Nacht vorher in der guten Stube der Wirtsleute geschlafen. Um den Tanzsaal würdig auszustatten, hatte er Bänke und Diwans gemietet und längs den Wänden aufgestellt. Auch ein Klavier war herbeigeschafft worden, und da keiner der Gäste sich mit dem Ableiern der Tanzmusik abmühen sollte, erschien ein dünnes Menschlein, das für fünfzehn Mark den ganzen Abend aufspielen und schon während des Soupers etwas zum Besten geben sollte. Doch bevor sich dieser Künstler ans Klavier setzte, hatte der Professor ihn so mit allerhand guten Dingen vollgestopft und ihm so viel Burgunder zu trinken gegeben, daß es sehr fraglich war, ob er seine Aufgabe zur Zufriedenheit lösen würde.

Das Wohnzimmer diente zum Empfang der Gäste. Riesige Blumengruppen standen in den Ecken, die Türe war ausgehoben und an ihrer Stelle eine Art Ehrenpforte entstanden, unter der Maud und John durchgehen mußten. Aber als das Brautpaar mit seinem Gefolge eingetreten war, als der unglückliche Jüngling am Piano den Hochzeitsmarsch in rasendem Tempo abgespielt hatte, und jeder seiner Bewunderung und Freude über diesen festlichen Empfang Ausdruck gab, blieb es doch nicht ganz verborgen, daß es an der guten Laune des Gastgebers haperte, so sehr er sich auch bemühte, es nicht durchblicken zu lassen. Endlich gestand er, daß er wütend sei, weil Hans an diesem Nachmittag einen dringenden Brief von Hause erhalten habe, der seine schleunige Heimkehr nötig machte; schon am folgenden Tage müsse er abreisen. Ausrufe des Bedauerns, der Verwunderung und Neugier folgten. Blieb Hans denn nicht wenigstens bis zur Hochzeit? War seine Anwesenheit daheim so dringend erforderlich, daß er sie nicht um ein paar Tage verschieben konnte? Was mochte vorgefallen sein?

Freundlich, aber mit großer Entschiedenheit erklärte Reicher, daß sein Entschluß unwiderruflich feststehe; er könne nicht genau auseinandersetzen, warum seine Abreise so dringend nötig sei, denn es wäre kein Thema, das er auf einem Feste erörtern möchte. Die Freude und das Vergnügen dürfe dadurch in keiner Weise gestört werden. Alle schauten einander erstaunt an, wagten aber nicht weiter zu fragen; das Klügste, das fühlte jeder heraus, war, den Gegenstand fallen zu lassen. So taten denn alle ihr Bestes, die Störung vergessen zu machen, und bald ließ die Stimmung, was Fröhlichkeit und Ausgelassenheit betraf, nichts zu wünschen übrig.

Onkel Heinz jedoch konnte es noch immer nicht verwinden, und als das Fest in vollem Gange war, winkte er Irma, führte sie in ein abgelegenes Winkelchen und fragte ohne jede Einleitung ziemlich schroff:

„Nun sollst du mir mal ehrlich beichten, kleine Kröte, welchen Anteil du an Hans' plötzlicher Abreise hast?“

Irma war über diese Neuigkeit ebenso erstaunt gewesen wie die andern und hatte geglaubt, Hans würde zu ihr kommen und ihr sein bitteres Leid klagen, daß seine Pflicht ihn plötzlich abriefe. Nichts von alledem! Es schien, als vermeide der junge Mann, auch nur einen Augenblick mit ihr allein zu sein und vertraulich mit ihr zu reden.

Als sie wie alle andern ihrem Bedauern, daß er fort müsse, Ausdruck gab, hatte er sie einen Moment flüchtig angeschaut und dann lächelnd versichert, solches Interesse sei zu viel Ehre für ihn. Während des ganzen Abends fand sie bei ihm die kühle Höflichkeit und Gleichgültigkeit wieder, die er ihr auf Floras und Gustavs Hochzeitsfest erwiesen hatte, und nichts von der großen Liebe, den ehrerbietigen und doch so auffallenden Huldigungen der letzten Tage. Zuerst war Irma sehr erstaunt — Hans zeigte sich so heiter, so gut aufgelegt, so ruhig und absolut nicht reizbar oder erregt, daß sie diese plötzliche Umwandlung nicht begriff — dann wurde sie wütend. Was bildete er sich denn ein? Wagte auch er es, mit ihr zu spielen? Sie wollte ihn haben, um sich an Hochstein zu rächen; vereitelte er diesen Plan, so sollte er dafür büßen. Sie hätte vor Zorn weinen mögen und durfte sich doch nichts merken lassen, sondern mußte tun, als unterhielte sie sich herrlich. Sie hatte über den einfältigen Hans die Achseln gezuckt, der sich so rasch wieder einfangen ließ, der aufs neue ihr gehorsamer Sklave war, als sie ihn durch ihr gefallsüchtiges Betragen anlockte. Jetzt hätte sie ihn so gern ausgelacht, sich über ihn lustig gemacht, ihn zur Zielscheibe ihres Spottes gewählt, aber sie konnte nicht; es lag etwas in seiner Haltung, seinem Benehmen, was sie hinderte. Suchte sie ihn dennoch aufzuziehen, so ging niemand darauf ein — sie machte sich nur selbst lächerlich und hatte die größte Mühe, ihren Ärger zu unterdrücken.

Kein Wunder, daß sie nun auf Onkel Heinz' Frage auch heftig und böse antwortete:

„Ich habe nichts zu beichten. Ob Hans fortgeht oder bleibt, ist mir vollständig einerlei.“

„Ich glaubte doch ....“ nahm der Professor wieder das Wort, Irma aber, gereizt durch alle Vorfälle der letzten Zeit, fiel ihm mit der ganzen Frechheit eines verzogenen Kindes in die Rede:

„Du brauchst nichts zu glauben, Onkel Heinz. Zwischen dem Bauern und mir gibt's nichts. Ich will gar nichts mit ihm zu schaffen haben.“

Onkel Heinz wurde nicht böse.

„Dann ist's ja gut,“ sagte er ruhig, „denk' nur an das Märchen vom Schweinehirten, Kind.“

Tränen der Entrüstung und Wut in den Augen, wandte Irma sich ab. —

Das Fest war zu Ende, und die Wagen fuhren vor. Beim Abschiednehmen kam Flora von Holten auf den Einfall, daß es himmlisch sein müsse, nach Hause zu gehen. Es war Vollmond und die Luft so lind, daß es als wahre Erquickung erschien, nach der Hitze und dem Trubel des Festmahls eine Viertelstunde in der erfrischenden Nachtluft zu verbringen. Der Vorschlag der jungen Frau fand allgemeinen Beifall bei der Jugend. Der Weg führte durch den Park, der die Stadt mit dem Villenviertel, wo Onkel Heinz wohnte, verband, und bot daher für die Goldleder- und Lackschuhe der jungen Damen keine Schwierigkeit. Ilse und die älteren Herrschaften schüttelten über diesen tollen Einfall die Köpfe, aber unter lautem Jubel wurden sie in die Wagen befördert, und das junge Volk machte sich zu Fuß auf den Weg.

Ein schmucker Leutnant, ein Freund Ludwigs, wollte Irma gerade den Arm bieten, als Hans ihm zuvorkam mit den Worten:

„Ich darf Sie wohl nach Hause bringen, Irma.“

Der Ton seiner Stimme glich mehr einem Befehl als einer Bitte. Schon wollte Irma herausfordernd den Kopf in den Nacken werfen, und ohne etwas zu erwidern, den Arm des jungen Offiziers nehmen, als Hans sie ernst und streng anschaute. Ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, fühlte sie unwillkürlich seine Überlegenheit. Sie zürnte sich selbst, daß sie gehorchte, und nahm widerstrebend die Begleitung von Hans an.

Einige Minuten schritten sie schweigend neben einander her. Irma mit vor Erwartung und ein wenig auch vor Schuldbewußtsein klopfendem Herzen, denn sie fühlte heraus, daß nun die Erklärung für sein sonderbares Benehmen kommen werde; Hans mit dem Antrieb kämpfend, sie in seine Arme zu nehmen und ihr liebe zärtliche Worte ins Ohr zu flüstern. Denn sie sah im Mondenschein, mit einem seidenen Shawl um das goldgelockte Köpfchen, so entzückend aus, daß es ihm schwer wurde, ihr die harten, strengen Worte zu sagen, die er sich vorgenommen hatte. Doch der Gedanke, daß er, wenn er jetzt seinem Gefühl nachgäbe, sein ganzes künftiges Glück aufs Spiel setzen würde, stählte ihn. Er überwand alle Weichheit und begann:

„Irma, erinnern Sie sich noch, um was ich Sie bat, als ich das letzte Mal Abschied von Ihnen nahm?“

„Nein,“ versetzte sie, das Köpfchen abwendend.

„Ich sagte, ich wolle mich darein ergeben, daß Sie mich nicht zu lieben vermöchten, und bat Sie, eingedenk zu sein, daß Sie an mir einen treuen Freund hätten, der alles opfern würde, um Sie glücklich zu machen.“

„Und was soll das nun?“

„Ich habe Ihnen also meine Liebe nicht aufgedrängt und als einziges Recht von Ihnen gefordert, daß Sie mich als Freund betrachten.“

„Aber ich weiß nicht ....“ stammelte Irma, die nicht begriff, wohin er zielte und der gar nicht behaglich zu Mute war.

„Als ich jetzt wieder herkam, hatte ich nicht die geringste Hoffnung, daß Ihre Gefühle für mich eine Wandlung erfahren hätten. Meine Liebe zu Ihnen war unverändert geblieben, aber ich hatte gelernt, das Unvermeidliche mit Fassung zu tragen. Haben Sie nun wirklich angenommen, ich würde mich dazu gebrauchen lassen, der Welt zu zeigen, daß Sie um einen Mann nicht in Verlegenheit wären, nachdem der Baron von Hochstein Ihnen bewiesen hatte, daß er es mit Ihnen nicht ehrlich meinte?“

„Hans!“ rief Irma totenbleich und entrüstet. „Wie dürfen Sie sich herausnehmen, darauf anzuspielen? Wer hat Ihnen das erzählt?“

„Das gehört nicht zur Sache; hätte ich es jetzt nicht erfahren, so würde das später geschehen sein, und ich danke dem Himmel, daß ich noch zur rechten Zeit gewarnt wurde. Hören Sie, Irma. Sie haben mich schmachvoll behandelt, ich glaubte Ihnen, glaubte, daß Sie mich wirklich gern hätten, und Sie können es nicht begreifen, wie glücklich mich das machte. Jetzt weiß ich, daß Sie mich zum Narren hielten, daß Sie Komödie spielten und mit der großen, echten, ehrlichen Liebe eines Mannes Spott trieben. Wenn das alles ist, was Ihre eigene Liebe und die bittere Enttäuschung Sie gelehrt hat, dann kann ich nicht glauben, daß Sie sich je etwas aus diesem Hochstein gemacht haben.“

Irma schluchzte, und Hans bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, um gleich streng fortzufahren.

„Hätte ich Sie heute gebeten, meine Frau zu werden, so würden Sie ja gesagt und damit etwas Gemeines getan haben, denn es ist gemein von einem Mädchen, einen Mann zu heiraten, den es absolut nicht liebt, und nicht wahr, Sie lieben mich ganz und gar nicht?“

Er ergriff ihre Hand mit Gewalt und zwang sie, ihn anzusehen. Der Mond schien so hell, als ob es Tag wäre. Stolz aufgerichtet stand Hans da, nicht wie ein Bittender, nicht wie ihr Anbeter, sondern wie ihr Richter. Auf seinem klugen, energischen Antlitz, das sie stets für häßlich gehalten hatte, las sie plötzlich tiefen Ernst und männlichen Stolz. Was sie trotz aller Verliebtheit für Hochstein nie gefühlt hatte, Achtung vor seinem Charakter und die Erkenntnis seiner Überlegenheit, das empfand sie in diesem Augenblick für Hans. Sie schaute ihn unverwandt an, gab aber keine Antwort.

„Nicht wahr?“ wiederholte Reicher, „Sie machen sich nichts aus mir?“

Gewaltsam entriß sie sich dem Eindruck seiner Rede. Es ging doch nicht, einem Manne, der es wagte, ihr so den Text zu lesen, der so gegen sie auftrat, etwas anderes als nein zu sagen. Ihre Eitelkeit kam ihr zu Hilfe. Sie entzog ihm heftig ihre Hand.

„Nein,“ versetzte sie, „ganz und gar nichts.“

„Das wußte ich,“ fuhr er traurig fort, „und damit fällen Sie Ihr eigenes Urteil. Wie ich schon sagte, Irma, ich hatte mich darein ergeben, daß Sie nie die Meine werden könnten. Ich bin nicht gewöhnt zu betteln, und werde auch nie um die Liebe eines Weibes flehen. Aber Sie haben mir unsagbar großen Kummer bereitet, und wenn Sie an Ihr eigenes Leid denken, werden Sie das vielleicht verstehen. Wenn Sie mit dem elenden Baron oder mit einem andern verlobt wären, würde ich das besser ertragen haben, als die Erkenntnis, daß Sie eine ganz oberflächliche Kokette sind, die sich und mich, nur um Ihrer nichtswürdigen Eitelkeit willen, unglücklich machen wollte.“

„Sind Sie noch nicht zu Ende?“ rief das Mädchen, vor Zorn und Scham bebend. „In jedem Falle lasse ich mich nicht länger von Ihnen beleidigen.“

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„Noch nicht,“ entgegnete Hans und hielt sie mit eisernem Griff fest, als sie sich entfernen wollte. „Ich habe noch etwas zu sagen. In gewisser Hinsicht bin ich ein sehr dummer Kerl, denn trotz alledem liebe ich Sie noch immer, Irma, und werde Sie ewig lieben; dies Gefühl kann ich nicht mit der Wurzel ausreißen, es ist stärker als mein Verstand, aber nicht stärker als mein Wille. Wenn Sie mich jetzt auch auf den Knieen anflehten, Sie zum Weibe zu nehmen, ich würde es nicht tun. Nur wenn Sie je zu der Einsicht gelangen sollten, wie tief Sie mich gekränkt haben; wenn Sie aus eigenem Antrieb zu mir kämen, um mir zu sagen, daß Sie mich über alles lieben und sich kein Glück ohne mich denken können, wäre ich im stande, zu vergessen und zu vergeben, und würde Ihnen die Hand fürs Leben reichen.“

„Da können Sie lange warten!“ rief das junge Mädchen außer sich vor Zorn. „Lieber sterben!“

„Da sei Gott vor!“ nahm Hans ernst das Wort. „Und nun sind Sie gleich zu Hause, Irma, leben Sie wohl. Wir beide haben uns für den Augenblick nichts mehr zu sagen.“

Sie beschleunigten ihre Schritte, um die andern einzuholen. Vor Ilses Wohnung wurde Abschied genommen. Hans reichte Irma die Hand; wider Willen blickte sie ihn noch einmal an, ein tief schmerzlicher Ausdruck lag in seinen Augen, aber die kalten Finger, welche die ihren nur leicht berührten, bebten nicht.

Ohne mit irgend jemand ein Wort zu wechseln, eilte Irma auf ihr Zimmer und warf die Tür heftig ins Schloß. Bald darauf klopfte es.

„Wer ist da?“ rief das Mädchen unwillig. „Ich bin müde und mag mit niemand mehr sprechen.“

„Ich bin es, Kind,“ erklang die Stimme der Großmutter. „Was bedeutet es, daß du dich einschließt? Laß mich herein.“

Irma gehorchte. Mit einem blassen Gesichtchen, aus dem die sonst so sanften, kindlichen Augen unnatürlich groß heraus starrten, stand sie vor der alten Dame, die sie ernst und doch freundlich anschaute. Irma war, als ob sie den Blick nicht ertragen könnte.

„Großmutter,“ sagte sie gepreßt, „hast du Hans erzählt, was zwischen mir und Otto von Hochstein vorgefallen ist?“

„Ja, Irma.“

„Wie konntest du?“ rief das Mädchen, alle Ehrerbietung und den Altersunterschied vergessend. „Wer gab dir das Recht dazu?“

„Meine große Liebe für dich, mein Kind.“

Irma lachte grell auf und warf den Kopf in den Nacken.

„Ja, meine Liebe zu dir,“ wiederholte Ilse sanft, denn wie bitter weh es ihr auch tat, daß die Enkelin so lieblos gegen sie aufzutreten wagte, böse wollte sie mit ihr nicht sein. „Ich habe dich viel zu lieb, um ruhig mit ansehen zu können, daß du etwas tust, was du dein Leben lang bereuen würdest. Ich habe dich gegen dein eigenes Selbst in Schutz genommen — das konnte kein anderer tun.“

„Es war schändlich,“ brach Irma los, „du hast mein Vertrauen mißbraucht, und dazu hattest du kein Recht.“

„Und du durftest einen Mann nicht betrügen, der dir nie im Leben etwas zu leide getan hat; du hättest ihn und dich selbst unglücklich gemacht.“

„Wer sagt dir, daß er unglücklich geworden wäre, wenn er nichts erfahren hätte?“

„Trotzdem hättest du ihn betrogen. Wenn ein Mädchen einen Mann heiratet, den es nicht liebt, handelt es schlecht und macht den Mann, den es auf diese Weise belügt, unglücklich. Vor diesem Fürchterlichen habe ich dich bewahrt.“

Irma fing an, leidenschaftlich zu schluchzen. „Und nun hast du mich von diesem Elenden, diesem Bauern, beleidigen lassen. Du weißt nicht, was er mir alles zu sagen wagte. Ich hasse ihn.“

„Ich weiß, daß du dich in deinen eigenen Augen erniedrigt und gedemütigt fühlst, Kind. Aber darüber wirst du hinwegkommen. Glaube mir, es ist besser, als dein ganzes Leben lang etwas bereuen, das du nicht mehr ungeschehen machen kannst.“

Ilse, die mit dem unglücklichen, verwöhnten Kinde innigstes Mitleid empfand, wollte es zärtlich in ihre Arme schließen, aber ungestüm wandte Irma sich ab.

„Ich fühle mich nicht gedemütigt,“ bäumte sie sich trotzig auf und hatte Mühe, ihre Tränen zurückzudrängen. „Geh du nur, ich habe dich nicht mehr lieb, ich will fort von hier.“

„Irma!“ rief die Großmutter in traurigem Tone.

Das junge Mädchen aber war zu sehr überreizt, um zu begreifen, wie weh sie der alten Frau tat, und wiederholte heftig:

„Ja, ich will fort; ich will Mama bitten, mich mitzunehmen.“

Da ging die Großmutter stumm hinaus.

Dekoration

Die Vermählungsfestlichkeiten hatten einen traurigen Abschluß. Irma wurde krank. Die mannigfachen Aufregungen und Gemütsbewegungen der letzten Zeit waren zu viel gewesen für dieses Kind, das Kummer und Enttäuschungen bisher kaum dem Namen nach gekannt hatte. Am Tage nach dem Fest bei Onkel Heinz lag sie in heftigem Fieber. Der Doktor wurde geholt, er erklärte, daß kein Grund zur Besorgnis vorläge, und daß nur äußerste Ruhe und Schonung nötig sei, da die Nerven des jungen Mädchens stark überreizt wären. Irma wollte nur von ihrer Mutter gepflegt werden; kam Ilse oder jemand von den andern ins Krankenzimmer, so wurde sie unruhig; wie bitter weh das der alten Dame auch tat, sie sah ein, daß sie sich fügen müsse, da die Gesundheit des geliebten Kindes auf dem Spiele stand. Bei Müllers herrschte die Ansicht, daß Hans Reichers plötzliche Abreise mit Irmas Krankheit in Beziehung stände; Fragen zu stellen wagte aber niemand, nur Agnes machte schüchtern eine zarte Anspielung, erhielt aber von Frau Gontrau kurz und bündig die Antwort, daß nichts zu berichten sei.

Das neu vermählte Paar war abgereist, und um Irma die Aufregung des Abschieds zu ersparen, hatte Maud ihr brieflich Lebewohl gesagt. Gustav und Flora kehrten heim, und Ruth beschloß mit ihrem Manne, daß er nach München vorausfahren solle, während sie auf die dringende Bitte ihres Töchterchens noch bleiben wollte, bis das Kind so weit hergestellt war, daß sie es ohne Sorge verlassen konnte. Die vollkommene Ruhe nach den geräuschvollen Festtagen, der stille Friede bei Großmama und die treue Pflege ihrer Mutter taten Irma gut; die furchtbare Reizbarkeit ließ nach, und sie lehnte sich auch bald nicht mehr dagegen auf, wenn Ilse bei ihr saß oder Ruth in der Pflege ablöste. Trotzdem fühlte die Großmutter, wie anders das Benehmen ihrer Enkelin geworden, und daß die innige Herzlichkeit von früher einer kühlen Zurückhaltung gewichen war, die ihr sehr weh tat. Sie ließ sich das freilich nicht merken, widersetzte sich auch nicht, als die nun fast genesene Irma den Wunsch aussprach, auf unbestimmte Zeit mit ihrer Mutter nach München zu gehen. Im Gegenteil, sie stellte Ruth vor, daß es nach dem Vorfall mit Hochstein für das junge Mädchen gut sein werde, in eine ganz andere Umgebung zu kommen; und als ihre Enkelin abreiste und Großmutters warme, innige Umarmung mit einem kühlen Kuß erwiderte, verstand die alte Frau sich zu beherrschen und schaute das Kind nur mit einem langen, schmerzlichen Blick an. —

Einige Tage zuvor waren Müllers mit Agnes und Karl auf Reisen gegangen, um die Ferien des Knaben in Holland und Belgien zu verbringen. Daher fühlte Großmutter Ilse sich sehr einsam, wenn sie so ganz allein in ihrem totenstillen Wohnzimmer saß. Traurig starrte sie vor sich hin und bei dem Gedanken, daß die Enkelin, die sie mit ganzer Seele liebte, sie fühllos und kalt verlassen hatte, füllten ihre Augen sich mit Tränen, und ein trostloses, wehmütiges Gefühl bemächtigte sich ihrer. Eine wohltuende Unterbrechung ihrer Einsamkeit bildeten die Besuche von Onkel Heinz. Er setzte sich dann ohne viele Worte seiner alten Freundin gegenüber, wohl wissend, daß in solchen Augenblicken stille Teilnahme wohltätiger wirkt als lange Trostreden.

Endlich, als er einmal sah, wie große Tropfen über ihre bleichen Wangen rollten, konnte er es nicht mehr aushalten und fragte:

„Aber Frau Gontrau, möchten Sie ihrem alten Freunde nicht lieber mal erzählen, weshalb das Kind eigentlich fort ist, und warum es in letzter Zeit so garstig zu Ihnen war?“

„Woher wissen Sie, daß Irma garstig war?“ fragte die Großmutter erstaunt.

„O, alles, was Sie betrifft, merke ich sofort, wenn Sie auch vielleicht glauben, daß ich stumpf und gleichgültig geworden bin. Ich sah gleich, daß es außer Irmas Krankheit noch etwas gab, was Ihnen Kummer bereitete.“

Ilse tat gewiß das Klügste, indem sie Onkel Heinz alles erzählte, was zwischen Irma und Hans vorgefallen war.

Der Professor schaute sinnend vor sich hin und sagte in den ersten Minuten kein Sterbenswörtchen.

„Glauben Sie, daß Reicher dem kleinen, dummen Ding ganz gleichgültig ist?“ fragte er endlich.

„Ich weiß nicht,“ versetzte Ilse, „doch glaube ich wohl, daß er durch sein energisches Auftreten Eindruck auf sie gemacht hat.“

„Sie müßte mordsdumm sein, wenn das nicht der Fall gewesen wäre,“ meinte Onkel Heinz heftig. „Hans Reicher ist ein Kerl, ich sage Ihnen, der wiegt zehn Generationen der Hochsteins auf.“

„Das glaub' ich gern,“ fuhr Ilse lächelnd fort, „aber ich fürchte doch, daß er für Irma verloren ist, denn er scheint sie hart angepackt zu haben.“

„Und ich versichere Sie, er liebt das undankbare Ding noch immer grenzenlos. Als sie krank war, bekam ich alle Tage Briefe von ihm, er war in Todesangst, und erst als ich ihm schrieb, daß die Besserung gute Fortschritte machte, kam wieder der praktische, ruhige Hans zum Vorschein.“

„Wohl möglich,“ seufzte die Großmama. „Aber aus eigenem Antrieb wird das Kind nicht zurückkehren. Sie ging so kühl von mir; ich fürchte, ich habe ihre Zuneigung verloren.“

„Unsinn! Dummes Zeug!“ rief der Professor. „Was denken Sie denn von ihr? Sie ist Ihre Enkelin und die Tochter meiner kleinen Kröte Ruth. Bon sang ne peut mentir, Frau Ilse.“

„Es ist sehr lieb von Ihnen, mich damit zu trösten, Onkel Heinz, aber Sie kennen die heutige Jugend nicht; sie glaubt immer und in allem recht zu haben.“

„Ja, das weiß ich, Frau Ilse. Ärger jedoch als die Trotzköpfe von früher kann sie auch nicht sein — und die kenne ich durch und durch.“

Frau Gontrau sah ihn verständnisinnig lächelnd an, und der alte Herr fuhr fort:

„Ich verbürge mich für das Kind. Irmas gesunder Verstand wird den Sieg davontragen; sie wird schließlich aus eigenem Antriebe zurückkehren und einsehen, daß sie sich sehr garstig benommen hat. Wer weiß, vielleicht kommt auch zwischen Hans und ihr noch alles in Ordnung! Wir können dabei nichts tun, Frau Gontrau, wir müssen es der Zeit überlassen und in Geduld zuwarten.“

Zunächst schien die Aussicht, daß sich des Professors Hoffnung erfüllen werde, sehr gering zu sein. Reicher, der über Irmas Gesundheit beruhigt war und wußte, daß sie sich in München bei ihren Eltern befand, ließ nichts mehr von sich hören. Das junge Mädchen schrieb zwar pflichtgetreu zweimal wöchentlich, aber ihre Briefe waren so kühl, enthielten außer einem Bericht über die herrlichen Musikaufführungen und die prachtvollen Theatervorstellungen, in denen sie schwelgte, und den interessanten Bekanntschaften, die sie machte, so wenig, daß Ilse sie seufzend fortlegte. Sie antwortete freundlich und herzlich, spielte aber mit keinem Wort darauf an, daß sie sich einsam fühle und sich grenzenlos nach dem Kinde sehne.

Fast Abend für Abend saßen die alte Dame und der Professor beisammen und spielten Schach oder sprachen über die Vergangenheit und erwogen alle Möglichkeiten, die nach Onkel Heinz' Ansicht noch bestanden, daß Irma ihr Unrecht einsehen würde. Nach einiger Zeit fiel ihm ein veränderter Ton in ihren Briefen auf. Sie schrieb herzlicher und beklagte sich ein wenig. Papa und Mama hatten so viel zu tun und gingen oft aus; sie aber war nicht musikalisch genug, um so häufig, manchmal Tag für Tag, morgens, mittags und abends mit Genuß Musik zu hören. Sie fragte voll Anteilnahme nach allerhand Dingen. Wie sah's wohl in ihrem Stübchen aus? Wer pflegte die Blumen? Was machte Jim, ihr Hündchen, das sie nicht mit nach München hatte nehmen können, weil ihre Eltern in möblierten Zimmern zur Miete wohnten? War es nicht traurig jetzt, wo seine Herrin in der Ferne weilte? Onkel Heinz nickte zufrieden, und Ilse mußte sich zwingen, um diese Fragen sachlich und kühl zu beantworten, ohne hinzuzufügen, daß ihr Stübchen, die Pflanzen, das Hündchen und schließlich die Großmama selbst sich unaussprechlich nach ihrem Liebling sehnten.

Endlich eines Tages, als es anfing herbstlich zu werden und in dem nach Norden gelegenen Vorderzimmer schon ein Feuer im Kamin brannte, teils um der größeren Gemütlichkeit willen, teils wegen der Gicht des Professors, kam ein Briefchen, das nichts enthielt als diese Worte:

„Liebe Großmutter!

„Hast du's nicht gemerkt oder wolltest du's nicht merken, daß ich's nicht länger aushalten kann? Willst du all meine Abscheulichkeiten vergeben und vergessen, und darf ich heimkehren, um wieder ganz bei dir zu bleiben? Telegraphiere mir nur das eine Wörtchen ja und sofort reise ich ab.

Deine Enkelin.“

Als Onkel Heinz des Abends kam, war das Telegramm längst abgesandt, und mit freudestrahlenden Augen reichte Ilse ihm das Briefchen. Der alte Herr wischte sorgfältig seine Brillengläser ab und las die wenigen Worte dreimal, bevor er etwas sagte.

„Nun?“ fragte Großmama Ilse ungeduldig.

„Schön,“ meinte Professor Fuchs, „es kommt genau so, wie ich mir's gedacht habe, aber hören Sie mal, Frau Gontrau, wenn Sie glauben, daß die kleine Kröte allein aus Sehnsucht nach Ihnen zurückkehrt, dann sind Sie sehr auf dem Holzwege.“

„So?“ versetzte sie etwas gereizt, „vielleicht sehnt sie sich ebenso nach Ihnen.“

„Hm, hm,“ brummte Onkel Heinz, „es kann auch sein, daß sie nach einer dritten Person Heimweh hat.“

„Sie meinen Hans Reicher. Was hätte denn der damit zu schaffen? Er ist ja nicht einmal hier.“

„Nein, aber er ist in F. doch leichter zu erreichen als in München.“

„Daran glaube ich nicht,“ fuhr Ilse fort, ein bißchen gekränkt durch den Zweifel daran, daß Irma heimkehren wolle, weil sie es nicht länger ohne ihre Großmama aushalten konnte. „Was wissen Sie denn davon, Onkel Heinz?“

„O nichts, gar nichts,“ spottete der alte Herr. „Von Herzensangelegenheiten versteh' ich ja nichts, Frau Ilse. Es wäre auch sehr dumm von mir, wenn ich annehmen wollte, daß Sie ein bißchen neidisch sein würden, wenn Irma nur zum Teil um Ihretwillen heimkehrte.“

„Gewiß wäre es das,“ erwiderte Großmama gekränkt und doch beschämt, weil er sie sofort durchschaut hatte. Als sie ihn aber anblickte und hinter den Brillengläsern hervor seine alten, scharfen Augen mit einem Ausdruck auf sich gerichtet sah, den sie nur zu gut kannte, machte ihr Ärger einer edleren Aufwallung Platz, und sie reichte ihm die Hand.

„Sie haben recht, bester Freund. Wollte Gott, daß ihre Sehnsucht nach Hans am größten ist!“

Ehrerbietig neigte sich der alte, schneidige Professor über Großmutters schmale, weiße Hand und drückte seine Lippen darauf. —

Es wurde beschlossen, Irmas Ankunft der Familie Müller noch einige Tage zu verheimlichen; auch Onkel Heinz hielt es für richtiger, daß sie sich nicht gleich zeigte, und so geschah es, daß die alte Dame und das junge Mädchen am ersten Abend ganz allein waren. Irma saß wieder wie vor Zeiten Großmutter zu Füßen, barg ihr goldgelocktes Köpfchen in deren Schoß und fragte wohl schon zum zehntenmal:

„Bist du nun aber auch wirklich nicht mehr böse auf mich, Großmamachen? Jetzt begreife ich selbst nicht, wie ich so von dir fortgehen konnte. Ist nun wirklich alles vergessen und vergeben?“

Ilse nahm das Köpfchen ihrer Enkelin zwischen ihre beiden Hände und küßte sie so innig und herzlich, daß jede andere Antwort überflüssig war. Dann schaute sie besorgt in das geliebte Antlitz. Es war nicht weniger schön, aber ein leidender Ausdruck lag um den kindlichen Mund, und die Vergißmeinnichtaugen blickten trübe.

„Siehst du nun ein, Kindchen, daß ich nicht anders handeln durfte?“ fragte sie sanft.

Irma nickte.

„Und daß ich dich vor einem großen Unglück bewahrte, indem ich dich hinderte, einen Mann zu heiraten, den du nicht liebtest?“

Irma erwiderte nichts und schaute nachdenklich vor sich hin.

„Siehst du auch ein,“ fuhr die Großmutter flüsternd fort, „daß Hans Reicher viel zu gut dazu ist, nur aus Ärger und Trotz genommen zu werden, und daß du im Begriff warst, ihm ein großes Unrecht zu tun?“

Wieder keine Antwort, und als Ilse sich tiefer herab beugte, sah sie, daß Irma aus den blauen Augen große Tränen in den Schoß tropften.

„Kindchen,“ sagte sie so leise, daß Irma es kaum verstand, „ist es wirklich wahr, ist Hans Reicher dir nicht gleichgültig?“

Da schlang Irma die Arme um Großmutters Hals und stammelte schluchzend:

„O, Großmama, ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich habe ihn lieb.“

Und wie früher streichelte Ilse das blonde Köpfchen und ließ das Mädchen sich nach Herzenslust ausweinen. Endlich hob Irma das Haupt und schaute die alte Dame errötend, aber immer noch tief traurig an.

„Erzähle mir, Kindchen, wie das gekommen ist.“

„Wie kann ich das erzählen? Weiß ich's doch selbst nicht. Nach dem Abend bei Onkel Heinz war ich wütend auf Hans, ich glaubte ihn zu hassen und wurde krank vor Ärger und Scham. Nach überstandener Krankheit war ich noch immer schrecklich böse auf ihn, aber ich glaube, im Stillen hoffte ich doch auf einen Brief, in dem er seine harten Worte zurücknehmen und mich bitten würde, seine Frau zu werden. Aber ich hörte nichts von ihm, wollte auch nicht an ihn denken und sagte mir wohl hundertmal an einem Tage, daß ich gar nichts von ihm wissen wolle und ihm einen Korb geben würde, wenn er um mich anhielte.

„Und doch mußte ich immerfort an ihn denken. Du weißt, anfangs ging ich in München oft aus und kam mit vielen jungen Herrn zusammen. Du darfst nicht denken, daß ich mir etwas darauf einbilde, und mich nicht für eitel halten, aber sie liefen mir alle nach und machten mir den Hof. O Großmama, ich fand sie sämtlich unausstehlich mit ihrem albernen Geschwätz und ihren faden Artigkeiten. So war Hans nie. Er unterhielt sich ganz schlicht und herzlich und ließ doch durchschimmern, daß er mich gern hatte. Wenn diese Modegecken mit ihren pomadisierten Schnurrbärten und ihren weibischen Gesichtern auf mich einredeten, sah ich in Gedanken Hans vor mir mit seinen breiten Schultern, seinem klugen Gesicht und seiner tiefen Stimme; wenn sie mir hundert alberne Schmeicheleien sagten und die Fingerspitzen küßten, dachte ich an Hans, der mir die Hand so kräftig drückte, daß es weh tat — und, o Großmama, selbst an Hochstein, der doch ein schöner Mann und kein Geck war, fand ich, mit Hans verglichen, keinen Gefallen mehr. Immer mußte ich an ihn denken, und nie hörte ich von ihm; da konnte ich's endlich in München nicht mehr aushalten, ich sehnte mich so sehr nach dir, und hier werde ich doch vielleicht etwas von ihm hören. Das Geschehene tut mir ja furchtbar leid, und ich bereue es aufs tiefste.“

Und aufs neue verbarg Irma ihr Gesichtchen und weinte bitterlich.

„Aber Kindchen,“ sagte die Großmutter, deren Augen leuchteten und die trotz Irmas Tränen sehr glücklich war, „dann brauchst du doch nicht so zu weinen, dann kann ja alles noch gut werden.“

„Nein, nie, niemals, ich habe alles verspielt.“

„Warum? Wirklich, Kind, ich möchte dir keine Hoffnung machen, wenn ich dächte, daß später wieder eine neue Enttäuschung folgen könnte, aber ich weiß es ganz gewiß, daß Hans Reicher dich noch immer liebt.“

„Das kann schon sein, aber du weißt nicht, was er mir an jenem schrecklichen Abend gesagt hat.“

„War das so arg?“ fragte Ilse nun doch beunruhigt. „Kannst du mir's nicht erzählen?“

Sehr langsam, als koste es sie große Mühe, kam es von Irmas Lippen:

„Großmama, er hat mir an dem Abend gesagt, daß ich eine oberflächliche Kokette sei, daß er mich nicht zum Weibe nehmen würde, und wenn ich ihn auf den Knien darum anflehte. Nur wenn ich einsähe, wie tief ich ihn gekränkt habe, und aus eigenem Antrieb zu ihm käme, um ihm zu sagen, daß ich ihn über alles liebe und mir ohne ihn kein Glück denken könne, würde er mir verzeihen und mir die Hand reichen.“

„Nun?“ fragte Frau Gontrau, als Irma schwieg.

„Was meinst du?“

„Na, du siehst es doch nun ein, daß du ihn über alles lieb hast.“

„Aber Großmama,“ rief Irma, „du kannst doch nicht denken, daß ich ihm das sagen würde, daß ich mich so erniedrigen könnte?“

„Natürlich denke ich das und sehe gar nichts Erniedrigendes darin.“

Irma trocknete ihre Tränen. „Nie werde ich einen Mann bitten, mich zum Weibe zu nehmen. Was Hans von mir fordert, ist unmöglich. Kommt er wieder und macht mir einen Antrag, so werde ich ‚ja‘ sagen, der Himmel weiß, mit welcher Freude! Aber er muß zu mir kommen.“

„So weit ich ihn kenne, wird er das nie tun, Irma.“

„Nein, Großmama, daher habe ich auch keine Hoffnung mehr auf künftiges Glück.“

Es herrschte Schweigen. Gedankenvoll schaute Ilse ins Feuer und überlegte, wie sie die Kleine am besten von ihrem Unrecht überzeugen könne. Endlich nahm sie ernst das Wort:

„Mein Liebling, der Kummer, den Baron von Hochstein dir bereitete, hat seine gute Seite gehabt, denn er hat dich viel verständiger gemacht und dir die Augen für die wahren Verdienste eines Mannes geöffnet. Trotzdem war die Lehre noch nicht stark genug, dich von deinem größten Fehler zu heilen.“

„Und der wäre, Großmama?“

„Deine Eitelkeit, Irma.“

„Was die damit zu schaffen hat, verstehe ich nicht.“

„Deine Eitelkeit verbietet dir, einfach zu Hans zu gehen und ihm zu gestehen, daß du unrecht gehabt hast. Du hältst es für ein viel anziehenderes Bild, ihn zu deinen Füßen zu sehen, als dich zu den seinigen.“

Irma wurde dunkelrot. Sie fühlte, daß die Großmama den Nagel auf den Kopf traf.

„Du bist doch zu mir gekommen und hast mich um Verzeihung gebeten, und dasselbe willst du nicht für den Mann tun, den du doch so unendlich viel mehr lieben mußt als mich!“

„Das ist ganz etwas anderes, Großmama.“

„Im Grunde ist es dasselbe, Kind. Glaube mir doch, wir erniedrigen uns nie, wenn wir unser Unrecht eingestehen, wem es auch sei, am wenigsten aber gegenüber einem, der uns lieb hat. Ich hab's erfahren, als ich so alt war, wie du jetzt bist, und während meines ganzen späteren Lebens habe ich den Augenblick gesegnet, da ich demütig und reuevoll vor deinem Großvater stand.“

Und als Irma sie fragend ansah, erzählte Ilse die Geschichte ihres trotzigen Benehmens gegen Leo, wie darauf der Bruch erfolgte und das Schuldbewußtsein sie dazu brachte, seine Verzeihung zu erbitten.

„Aber das war doch nicht so arg,“ flüsterte das junge Mädchen, als die alte Frau schwieg. „Denk' doch nur, ich habe einen Nichtswürdigen geliebt, und um mich an diesem zu rächen, Hans opfern wollen meiner ....“

„Deiner Eitelkeit,“ vollendete Ilse. „Aber gerade weil dein Vergehen vielleicht größer war, Kindchen, mußt du auch die schwere Strafe erleiden, das ist nicht mehr wie recht und billig.“

Irma erwiderte nichts, und auch Ilse hielt es für klüger, den Gegenstand vorläufig ruhen zu lassen. —

Am folgenden Tage kamen Müllers und Onkel Heinz, die Heimgekehrte zu begrüßen. Alle freuten sich, sie wiederzusehen. Agnes, die nach Mauds Abreise ihre Einsamkeit oft schwer empfunden hatte, zeigte sich ausgelassen fröhlich, und bald fühlte Irma sich in ihrer altgewohnten Umgebung wieder ganz heimisch. Mit der Zeit merkten alle, daß mit dem jungen Mädchen eine große Veränderung vorgegangen war, und zwar eine sehr vorteilhafte.

Die früher von allen verhätschelte und bewunderte kleine Person, die nur an sich, nie an andere dachte, fing an, freundliche Rücksicht auf ihre Umgebung zu nehmen. Sie konnte jetzt stundenlang mit Onkel Heinz am Schachbrett sitzen und bemühte sich gut zu spielen, während sie früher oft mit Absicht schlecht gespielt hatte, um rasch die Partie zu verlieren und erlöst zu sein.

Tagelang blieb sie still bei Großmutter zu Hause und verfertigte mit ihr allerhand niedliche Sächelchen für Flora, die zum Winter ein Kindchen erwartete. Wenn sie jetzt auf einige Tage nach I. ging, wurden keine tollen Streiche ausgeführt, wie bei ihrem ersten Besuche, sondern sie half getreulich der jungen Hausfrau und hörte freundlich und aufmerksam zu, wenn Flora immer wieder über das eine sprach, das sie ganz erfüllte, nämlich über das große, herrliche Glück, welches sie erwartete.

Was ihr aber wohl die größte Selbstüberwindung kostete — Irma ging zu Tante Elisabeth Müller, mit der sie seit jenem Besuch bei der Großmama kaum ein Wort gewechselt hatte. Sie ging allein, brachte einige Stunden bei der alten Dame zu und erzählte so hübsch und angeregt von München und war so liebenswürdig und aufmerksam, daß die Tante sie wiederholt aufforderte, doch ja bald wieder zu kommen. Später erklärte Fräulein Müller der Großmama, daß Irma ganz anders geworden sei, kaum zum Wiedererkennen. Tante Elisabeth schrieb diese vorteilhafte Veränderung ein klein wenig auch ihrer eigenen Einmischung zu und tat sich viel darauf zu gute. Großmutter Gontrau fand es klug, sie bei ihrem Wahn zu lassen und hütete sich, der alten Jungfer zu widersprechen; dadurch und durch Irmas Freundlichkeit wurde Tante Elisabeth nach und nach etwas zugänglicher, so daß sich auch bei ihr eine Veränderung zum Guten bemerkbar machte.

Doch trotz all ihrer anscheinend ruhigen Heiterkeit blieben Irmas Wangen blaß, und die schönen Augen blitzten nicht so lebenslustig wie früher. Oft schauten Onkel Heinz und seine alte Freundin sich fragend und kopfschüttelnd an, und beständig kämpfte der Professor mit dem Wunsch, auf seine Manier dem Hangen und Bangen ein Ende zu machen und die beiden Liebenden mit Gewalt einander in die Arme zu führen. Es fiel ihm sehr schwer, dem Rat Ilses zu folgen, welche der Ansicht war, daß Übereilung wieder alles verderben könnte, und ihn deshalb bat, sich mit Geduld zu waffnen.

Es war nun völlig Herbst geworden. Auf den Gartenwegen raschelte das welke Laub, das vom Winde in tollem Tanz umhergewirbelt wurde, und noch immer schaute Ilse ihre Enkelin fragend an, und noch immer schüttelte diese niedergeschlagen das blonde Köpfchen. Endlich eines Morgens, als der Regen an die Scheiben klatschte und alles kalt und winterlich aussah, kam Irma zur Großmutter, die in ihrem Zimmer am Schreibtisch saß und mit dem Ordnen von Briefen und Rechnungen beschäftigt war.

„Großmama, ich möchte schreiben, aber ich weiß nicht was,“ sagte sie.

„Ist das so schwer, Kindchen?“ fragte die alte Dame, indem sie ihre freudige Überraschung hinter einer ruhigen Miene zu verbergen suchte.

„Ich habe wohl schon zwanzig Briefe geschrieben und sie immer wieder zerrissen. Ich bringe es nicht fertig.“

„Komm, setze dich hierher und versuche es noch einmal, Liebling. Ein paar Worte genügen.“

Das Mädchen ergriff die Feder. Ilse tat, als bemerke sie nicht, daß schon wieder mehrere Briefbogen in den Papierkorb wanderten.

Endlich sah sie, wie Irmas Hand rasch und erregt über das Papier glitt, und einen Augenblick später stand das Kind neben ihr.

„Lies, was ich geschrieben habe, Großmama, aber es wird nichts helfen.“

Ilse las:

„Hans, ich bin schon seit Wochen aus München zurück. Ich empfinde solch bittere Reue und sehne mich so nach Ihnen; wollen Sie kommen zu Ihrer Irma.“

„Ausgezeichnet,“ rief die Großmama. „Nun rasch den Umschlag geschlossen und den Brief abgeschickt. Morgen kommt er.“

„Nein, nein, er wird nicht kommen. Es steht nichts von ‚um Verzeihung bitten‘ drin.“

„Dummes Kindchen, das kannst du ja mündlich tun. Flink, hier ist eine Marke, schreibe du unterdessen die Adresse.“ Und schon klingelte Ilse nach dem Mädchen, das den Brief auf die Post bringen sollte.

In der Nacht schlief Irma nicht, und am nächsten Tage war sie so aufgeregt, daß die Großmama sich um sie sorgte. Den einen Augenblick war sie zufrieden mit dem, was sie getan hatte, und erging sich mit der alten Dame in allerhand herrlichen Vorstellungen, wie schön sich ihr Leben an Hans Reichers Seite gestalten würde. Dann wieder war sie unglücklich, zweifelte an seinem Kommen und klagte, daß die Großmama sie zu dieser furchtbaren Demütigung gezwungen habe. Wenn Hans auf ihren Ruf taub bliebe, würde sie das nicht überleben. Je mehr der Tag sich seinem Ende näherte, desto stiller und ängstlicher wurde sie. Sie saß da mit ganz blassem Gesichtchen und starrte mit unnatürlich großen Augen vor sich hin; so oft es klingelte, sprang sie erschreckt auf, so daß Ilse herzliches Mitleid mit ihr fühlte.

Es dunkelte schon, die Vorhänge waren zugezogen und das Gas angezündet, da wurde heftig die Glocke gezogen, und bei der Totenstille im Hause vernahm man deutlich eine tiefe, wohllautende Männerstimme. Zitternd umklammerten Irmas eiskalte Hände den Arm der Großmutter.

Das Mädchen kam herein und meldete Herrn Reicher.

„Lassen Sie den Herrn eintreten,“ sagte Ilse und stand auf.

„Nicht fortgehen, Großmama,“ stammelte Irma mit weißen Lippen, „nicht fortgehen, mir ist so angst.“

Aber Ilse gab ihr einen ermutigenden Kuß und entfernte sich so schnell sie konnte durch die Seitentüre. Gerade als sie verschwand, stand Hans Reicher auf der Schwelle.

Irma wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Zitternd blieb sie am Tische stehen, ihr Gesichtchen in den Händen verborgen.

Da nannte er ihren Namen, und sie schaute empor.

Sein Antlitz war bleich und schmal geworden. Daß er viel gelitten hatte, sah sie auf den ersten Blick. Nun aber strahlte er und streckte in so grenzenlosem Sehnen die Arme nach ihr aus, daß sie alle Scheu vergaß und sich hinein stürzte.

Er drückte sie fest ans Herz, küßte sie auf die Lippen, die Augen, die Wangen, bedeckte das ganze süße Gesichtchen mit leidenschaftlichen, feurigen und doch sanften, zärtlichen Küssen. Und bebend vor Glück wiederholte er immer wieder:

„Irma, Liebling, ist es wahr? Ist es wahrhaftig wahr? Liebst du mich?“

Sie konnte nicht antworten, weinend lag sie in seinen Armen, und er sprach ihr mit leisen, liebevollen Worten zu.

Endlich wurde sie ruhiger, sie hob das Köpfchen, sah ihn durch ihre Freudentränen glücklich an und flüsterte:

„Hans, willst du mir wirklich verzeihen? Willst du mich wirklich zur Frau haben?“

Und aufs neue umschlangen sie seine starken Arme, während er nur zu stammeln vermochte:

„O, mein Liebling! O, Geliebte meiner Seele!“

Dekoration

Meine Geschichte nähert sich ihrem Ende. Wohl könnte ich euch, liebe Leserinnen, noch von der Doppelhochzeit erzählen, die ein halbes Jahr später stattfand; könnte schildern, wie Agnes und Irma mit den beiden Brüdern Reicher an dem gleichen Tage in den heiligen Stand der Ehe traten. Großartige Feste wurden bei dieser Gelegenheit gefeiert. Onkel Heinz überreichte den beiden Bräuten als Hochzeitsgeschenk einen blitzenden Juwelenschmuck. Er gab ihnen zu Ehren ein glänzendes Abendessen und brachte die launigsten Toaste aus, nicht nur auf die beiden jungen Paare, sondern auch — auf Fräulein Elisabeth Müller, die in einem neuen schwarzseidenen Kleide neben ihm saß, mit einem heiteren, zufriedenen Ausdruck auf dem alten, faltigen Antlitz, der sie hübscher machte, als sie je in ihrer Jugend gewesen war.

Ferner könnte ich berichten, wie Maud nach einigen Jahren auf kurze Zeit mit Mann und Kind aus San Franzisko herüberkam, und wie stolz sie auf ihren „boy“ war, der in jedem Zuge seines klugen Gesichtchens eine sprechende Ähnlichkeit mit John zeigte. Ich könnte euch erzählen — und sehe schon euer ungläubiges Kopfschütteln — wie Gustavs und Floras Töchterchen im Alter von drei Jahren, Tränen in den Augen, auf ihres Vaters Klavierspiel lauschte; wie es, vierjährig, alle Melodien, die es hörte, nachspielte, und im sechsten Lebensjahr bereits kleine Stückchen komponierte. Ich könnte euch Irma als glückliche Gattin und Mutter beschreiben, als treue Gehilfin ihres Mannes und Mitverwalterin seiner ausgedehnten Landgüter. Ich könnte euch eine Schilderung von dem großen Familienfest geben, das sie und Hans alle Jahre veranstalten, das mehrere Tage dauert und zu dem alle Familienglieder, die es nur irgend möglich machen können, erscheinen. Die Herren vertreiben sich die Zeit mit Fischfang und Jagd, die Damen fahren spazieren und die Kinder tun sich gütlich an Obst, Butter und Sahne, Eiern und andern Herrlichkeiten. Ich könnte euch zeigen, wie Ilse sich an dem Glück ihrer Enkelkinder freute, und mit welch seligem Dankesgefühl sie ihre Urenkelchen in die Arme schloß. Ich könnte euch Professor Fuchs vorführen, der die Achtzig überschritten hat, von immer häufiger wiederkehrenden Gichtanfällen geplagt, doch ein forscher, alter Herr blieb, stets geneigt zu widersprechen, heftig zu werden und sich über Dinge zu erhitzen, die ihn nichts angingen.

Das alles aber will ich lieber eurer Einbildungskraft überlassen und nur noch von einem einzigen Bilde den Vorhang wegziehen, von dem ich sicher bin, daß es alle diejenigen rühren und ergreifen wird, die Ilse als Kind, als jung verlobte Braut, als Ehefrau und endlich als Großmutter gekannt haben.

Dekoration

Es war ein schöner Sommerabend. Die Sonne war im Untergehen, Gold- und Purpurstreifen färbten den Abendhimmel. In der Villa Ilse Gontraus waren die Fenster weit geöffnet, von allen Seiten strömte die reine Luft herein, aber im Hause herrschte eine eigentümliche, schwere Stille. Lautlos ging die Dienerschaft hin und her, mit ernsten Gesichtern, behutsam jede Tür hinter sich schließend, jedes Geräusch vermeidend. Im Wohnzimmer waren Ruth von Holten, Marianne Müller, Irma, Agnes und Flora versammelt. Sie flüsterten leise, mit feuchtschimmernden Augen. Die Kleinen waren zur Stille ermahnt worden und hatten versprochen sehr brav zu sein; sie wußten, Großmama war krank und konnte keinen Lärm vertragen — nur gute Nacht wollten sie ihr noch sagen. Sie hatten gehört, daß Großmama sterben würde, aber sie fürchteten sich nicht. Irma brachte sie an Frau Gontraus Bett. Leise flüsterte ein süßes Kinderstimmchen nach dem andern: „Gute Nacht Omama!“

Die alte Dame mit dem weißen, abgezehrten Antlitz vermochte nicht mehr zu sprechen, aber sie lächelte noch matt und bewegte die Hand wie zum Gruße. Nun waren die Kleinen verschwunden, und ihre Eltern umstanden das Sterbebett.

Kein heftiger Schmerz, nur eine stille Wehmut erfüllte alle Herzen. Großmutter Ilse war eigentlich nicht krank gewesen, ihre Kräfte hatten in den letzten Jahren ganz allmählich abgenommen, aber ob auch der Körper versagte, ihr Geist blieb klar, und sie war dankbar, daß nun ohne viel Schmerzen das Ende nahte. Sie wußte, daß sie sterben würde, und sah dem Tod mit großer Ruhe entgegen. Vor wenigen Tagen hatte sie Ruth, welche sie pflegte, gebeten, alle ihre Lieben noch einmal an ihr Lager zu rufen, und zärtlich und heiter ihren Enkeln und Urenkeln zugenickt. Sie hatte dabei geäußert, wie dankbar sie sich des Glückes ihrer Kinder freue, und sie gebeten, nicht um sie zu trauern, denn es sei nichts Betrübendes, wenn eine alte Frau, deren Leben ein so überreich gesegnetes gewesen, zur ewigen Ruhe einginge, umgeben von allen, die ihr teuer waren. —

Es schien jetzt, als ob sie schlummerte, so friedlich und still lag sie in den Kissen, ihr Atem aber ging schwächer und schwächer. Durch die offenen Fenster des Sterbezimmers warf die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen und überhauchte das weiße Antlitz noch einmal mit warmer Glut. Großmutters Lippen bewegten sich leise, die dunklen Augen öffneten sich und richteten sich auf alle, die um ihr Lager standen, sie erkannte sie und lächelte. Es war, als ob sie noch etwas sagen wollte, aber sie vermochte es nicht; da blieb ihr brechender Blick auf einer Gestalt im Hintergrunde haften, die sich halb verborgen hielt, als gehörte sie nicht in den Kreis der Kinder. Ilse winkte mit der Hand, und Onkel Heinz näherte sich dem Bett, während die andern ihm liebevoll Platz machten.

Und das alte, ach so alte Antlitz des Greises wurde auch vom Abendrot beleuchtet, und in seinen erloschenen Augen schimmerte ein Glanz, als er sich über die Sterbende neigte, und ihre kalten Finger den Druck seiner welken Hand noch für eine Sekunde erwiderten.

Eine große feierliche Stille herrschte in dem Gemach, in das der Tod eingetreten war. Niemand wagte zu sprechen. Endlich, als die letzte Glut am Himmel verglomm, näherte Ruth sich dem Sterbebett und löste die Hand des alten Mannes aus der Hand der Toten.

„Komm, Onkel Heinz,“ bat sie sanft.

Mit einem Lächeln auf den Lippen schaute er sie an. Dann strich er ehrerbietig und leise über die Stirn der toten Freundin und flüsterte:

„Ich folge Ihnen bald, Frau Ilse.“

Und so geschah es auch.

Dekoration

Anmerkungen zur Transkription:

Im folgenden sind die Änderungen am Originaltext aufgeführt. Unter der Beschreibung der Änderung steht jeweils zuerst die Textstelle im Original, dann die geänderte Textstelle.