Title: Sämtliche Werke 1-2: Rodion Raskolnikoff (Schuld und Sühne)
Author: Fyodor Dostoyevsky
Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky
Editor: Arthur Moeller van den Bruck
Translator: E. K. Rahsin
Release date: November 5, 2018 [eBook #58238]
Most recently updated: September 5, 2019
Language: German
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F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
herausgegeben von Moeller van den Bruck
Übertragen von E. K. Rahsin
Erste Abteilung: Erster und zweiter Band
F. M. Dostojewski
(Schuld und Sühne)
Roman
R. Piper & Co. Verlag, München
R. Piper & Co. Verlag, München, 1922
23.–35. Tausend
Druck: Otto Regel, G. m. b. H., Leipzig.
Buchausstattung von Paul Renner.
Copyright 1922 by R. Piper & Co.,
Verlag in München.
Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische Geistigkeit. Wir brauchen sie als ein Gegengewicht gegen ein Westlertum, dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren, wie Rußland ihnen ausgesetzt gewesen ist, und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir heute gebracht sind. Nachdem wir solange zum Westen hinübergesehen haben, bis wir in Abhängigkeit von ihm gerieten, sehen wir jetzt nach dem Osten hinüber – und suchen die Unabhängigkeit. Aber wir werden sie nicht im Osten, wir werden sie immer nur bei uns selbst finden.
Der Blick nach dem Osten erweitert unsern Blick um die Hälfte der Welt. Die Fragen des Ostens sind für uns zunächst eine Frage der geistigen Universalität. Und wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, dann handeln wir nur im Geiste unserer besten Überlieferung. Aber diese Fragen sind noch mehr. Sie sind zugleich eine Frage der geistigen Souveränität. Nachdem wir sie im neunzehnten Jahrhundert an den Westen verloren haben, wollen wir sie im zwanzigsten Jahrhundert für Deutschland zurückerringen.
Es wird immer zu unseren Unbegreiflichkeiten gehören, daß wir es dahin kommen ließen, daß wir uns dem Westen bis zu dieser völligen Selbstvergessenheit hingaben. Es ist um so unbegreiflicher, als wir im Gegensatze zu Rußland, das sich seine geistigen Werte erst erringen mußte, die unseren im festen Besitze hielten, und als unter ihnen nicht wenige waren, die wir noch nicht einmal vor der eigenen Nation aufgeschlossen und ihr mitgeteilt hatten. Doch wir bevorzugten die fremden Werte. Heute sehen wir die Wirkung. Und wir leben unter den Folgen.
Wir haben im Verlaufe unserer langen Bildungsgeschichte schon manches fremde und ferne Bildungsgebiet einbezogen, ob es das griechische war, oder das italienische. Aber noch nie wurde eines so gefährlich, wie das westliche geworden ist. Wir werden uns hüten müssen, daß nicht auch der Osten zu einer Gefahr wird.
Es ist kein anderes Verhältnis zu ihm möglich als das des völligen Vertrautseins, aber auch des sicheren Abstandes. Wenn wir unsere geistige Souveränität, und aus ihr folgend unsere politische Souveränität, wiedergewonnen haben, dann wird auch Rußland nicht mehr und nicht weniger für uns sein, als eines jener großen Bildungsgebiete, die uns reicher machten, aber auch selbständiger.
Bis dahin teilen wir mit Rußland, aus verschiedenen Gründen, das gleiche Schicksal.
M. v. d. B.
Die beiden gleichzeitigen und doch so verschiedenen Auseinandersetzungen des russischen Geistes mit Napoleon als der Verkörperung des westeuropäischen Geistes – gleichsam zwei Wiederholungen des Jahres 1812 – sind in der russischen Literatur: „Krieg und Frieden“ und „Rodion Raskolnikoff“.
Die erste Auseinandersetzung hat nicht mit einem Siege, sondern nur mit einer Religionsverdrehung geendet. Ob der russische Geist auch in der zweiten eine Niederlage erlitten hat oder nicht, das bleibe dahingestellt. Jedenfalls hat er hier gezeigt, daß er würdig ist, seine Kräfte mit einem solchen Gegner wie Napoleon zu messen, hier ist er dem Feinde entgegengetreten – ... Auge in Auge, wie es dem Kämpfer im Kampfe gebührt.
Dostojewski hat vor uns die Kraftlosigkeit der napoleonischen Idee aufgedeckt, nicht die politische und nicht einmal die sittliche Kraftlosigkeit, sondern die religiöse: bevor man in Europa die Idee der altrömischen Monarchie, die Idee des universalen Caesar-Vereinigers, des Menschengottes auferweckte, mußte man zuerst die entgegengesetzte Idee der christlichen universalen Vereinigung, die Idee des Gottmenschen überwinden. Doch der historische Napoleon hat diese Idee in seinen Taten ganz ebensowenig bewältigt, wie Napoleon-Raskolnikoff es in der Anschauung tat, ja, sie sind nicht einmal an sie herangetreten, sie haben sie überhaupt nicht gesehen. Wenn dieser Napoleon Raskolnikoff tatsächlich ein „Prophet zu Pferde mit dem Schwert in der Hand“ erscheint, so ist er doch immerhin – ohne einen „neuen Koran“, ein Prophet nicht von Gott und nicht gegen Gott, sondern nur ohne Gott; und in diesem Sinne ist er natürlich – Pseudoantichrist. „Wenn es Gott nicht gibt, so bin ich Gott!“ folgert der irrsinnige und furchtlose Kiriloff – nicht etwa deswegen furchtlos, weil irrsinnig? „Wenn ich es mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben, so würde man mich in allen Jahrmarktsbuden verspotten!“ meinte der nicht gar zu vorsichtige und vernünftige Napoleon. Versteht sich, hier ist vom Erhabenen, vom Furchtbaren zum Lächerlichen – „nur ein Schritt“. Ist aber die Furcht vor dem Lächerlichen bei Napoleon nicht zu gleicher Zeit eine ebenso lächerliche Furcht, wie die Furcht des Usurpators vor der Krone des legitimen Nachfolgers? „Gott hat sie mir gegeben. Wehe dem, der an sie rührt.“ – Hat sie wirklich Gott selbst gegeben? – Noch niemand hat ihn mit einem so höhnischen Lächeln danach gefragt, niemand hat mit einer solchen Vermessenheit an seine Krone gerührt wie Dostojewski.
„Ich wollte ein Napoleon werden, darum erschlug ich. Ich stellte mir einmal die Frage: wie, wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon gewesen wäre und er weder Toulon noch Ägypten, noch einen Übergang über den Montblanc gehabt hätte, um seine Laufbahn zu beginnen, sondern anstatt all dieser schönen und großartigen Dinge nur irgendein lächerliches Weib, eine alte Registratorenwitwe, die er noch dazu hätte erschlagen müssen, um aus ihrem Kleiderkasten Geld stehlen zu können (für den Anfang seiner Laufbahn – du verstehst doch?). Nun also, würde er sich denn dazu entschlossen haben, wenn ein anderer Ausweg für ihn nicht möglich gewesen wäre? Hätte ihn das nicht abgestoßen, weil es doch gar zu wenig ‚großartig‘ war und ... Sünde wäre? Nun sieh, ich sage dir, über dieser ‚Frage‘ habe ich mich entsetzlich lange abgequält, so daß ich mich fürchterlich schämte, als ich endlich erriet (ganz plötzlich, irgendwie), daß es ihn nicht nur niemals abgestoßen haben würde, sondern ihm sogar überhaupt nicht in den Sinn gekommen wäre, daß so etwas gar nicht ‚großartig‘ sei ... Er hätte sogar überhaupt nicht begriffen, was ihn dabei abstoßen könnte, und sobald das nur sein einziger Ausweg gewesen wäre, würde er sie in einer Weise erwürgt haben, daß ihr nicht einmal Zeit zum Mucksen geblieben wäre, – ohne das geringste Bedenken! Nun, und ich ... befreite mich von den Bedenken, erwürgte – nach dem Beispiel seiner Autorität ... Und so war es auch buchstäblich.“
Raskolnikoff begreift nur zu gut den Unterschied zwischen Napoleons „geglücktem“ und seinem eigenen „mißglückten“ Verbrechen, aber nur den ästhetischen, den Unterschied in der „Form“ und in der Eigenart der geistigen Kraft. Er vergleicht sein Verbrechen mit den blutigen Heldentaten berühmter, gekrönter, historischer Verbrecher, doch Dunja, seine Schwester, protestiert gegen einen solchen Vergleich: „Aber das ist doch etwas ganz anderes, Bruder, das ist doch nie und nimmer dasselbe!“ – Da ruft er wie rasend aus: „Ah! Es ist nicht dieselbe Form! Es hat kein so ästhetisch schönes Äußere! Ich aber verstehe wirklich nicht, warum eine regelrechte Schlacht, mit Kanonenkugeln auf die Menschen feuern – eine ehrenwertere Form sein soll? Die Furcht vor dem Unästhetischen ist das erste Anzeichen der Kraftlosigkeit!“ – „Napoleon, die Pyramiden, Waterloo – und eine hagere, häßliche Registratorenwitwe, eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem Bett, – nun, wie soll das selbst ein Porphyri Petrowitsch (der Untersuchungsrichter) verdauen! ... Wie sollen die an ein solches Problem heranreichen! ... Die Ästhetik stört: ‚wird denn‘, heißt es, ‚Napoleon unter das Bett eines alten Weibes kriechen?‘“
Ja, gerade die konventionelle Ästhetik, die Rhetorik der Lehrbücher, jene historische Lüge, die wir mit der Milch unserer erziehenden Mutter, der Schule, einsaugen, entstellt und verunstaltet unsere sittliche Wertung der universalhistorischen Erscheinungen. Von dieser „ästhetischen“ Schale wird nun Raskolnikoff durch die Frage nach den Verbrechen der Helden befreit, wird von ihr, wie Sokrates sagt, „vom Himmel auf die Erde herabgeführt“, d. h. von jener abstrakten Höhe, wo die akademische Vergötterung der Großen stattfindet, auf die Ebene des lebendigen Lebens: und er stellt uns Angesicht gegen Angesicht dieser Frage in ihrer ganzen grauenvollen Einfachheit und Verschlungenheit gegenüber. Hat doch ein jeder von uns, uns Nichthelden, wenigstens einmal im Leben mehr oder weniger bewußt für sich entscheiden müssen, so wie Raskolnikoff es tut: „Bin ich zitternde Kreatur oder habe ich das Recht,“ bin ich ein „Fressender“ oder ein „Gefressener“? Und diese Frage, dem Anscheine nach die der umfassendsten und allgemeinsten universalhistorischen Anschauung, ist hier mit der ersten und wichtigsten sittlichen Frage jedes einzelnen Menschenlebens, jeder einzelnen menschlichen Persönlichkeit untrennbar eng verbunden. Ohne diese Frage mit dem Verstande und dem Herzen gelöst zu haben – oder hat man sie nur mit dem Verstande oder nur mit dem Herzen gelöst, – kann man nicht leben, kann man keinen Schritt im Leben tun.
Wenn wir uns nun von der „Furcht vor der Ästhetik“ befreien, werden wir dann nicht zugeben, daß der erste, sagen wir mathematische Ausgangspunkt der sittlichen Bewegung Napoleons und Raskolnikoffs – ein und derselbe ist? Beide sind sie aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen: der kleine Korsikaner, der auf die Straßen von Paris hinausgeworfen war, der Fremdling ohne Titel, ohne Herkunft, dieser Bonaparte – ist ganz ebenso ein unbekannter Vorübergehender, ein junger Mann, „der einmal in der Dämmerstunde aus seiner Dachkammer heraustrat,“ wie der Student der Petersburger Universität Rodion Raskolnikoff. „Er war auffallend schön, er hatte dunkle Augen und dunkelblondes Haar, war schlank und wohlgestaltet“ – das ist alles, was wir zu Anfang der Tragödie von Raskolnikoff wissen, und nur ein wenig mehr wissen wir von – Napoleon. Das „Menschenrecht“ und die „Freiheit“, die die „Große Revolution“ erobert hatten, sind für beide in erster Linie das Recht und die Freiheit, vor Hunger zu sterben; „Gleichheit und Brüderlichkeit“ sind für sie Gleichheit und Brüderlichkeit mit denen, die von ihnen verachtet oder gehaßt werden. Beim Anblick dieser „Nächsten“ und „Gleichen“ – sagt Dostojewski von Raskolnikoff – „drückte sich die Empfindung des tiefsten Ekels in den feinen Zügen des jungen Mannes aus“, und wir können dabei ebensogut an Napoleon denken. Brüderlichkeit und Gleichheit – tiefster Ekel; Freiheit – tiefste Verschmähung, Einsamkeit. Weder Vergangenheit noch Zukunft. Weder Hoffnungen, noch Überlieferungen. „Ein einziger gegen alle, sterbe ich morgen, bleibt nichts von mir übrig“ – das ist die erste Empfindung beider. Und der Einfall dieser „zitternden Kreatur“, ein „Herrscher“ zu werden, wäre ein ebenso verrückter Einfall – oder Größenwahnsinn – bei Napoleon wie bei Raskolnikoff: zuerst ins Krankenhaus, dann in die Zwangsjacke und – aus ist es. Raskolnikoff hat vor Napoleon sogar einen gewissen Vorzug: er sieht nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Schranken und Hindernisse, die er „übertreten“ muß, um „das Recht zu haben“. Napoleon sieht sie überhaupt nicht. Übrigens war vielleicht gerade diese Blindheit teilweise die Quelle seiner Kraft – allerdings nur bis zu einer gewissen Zeit: zu guter Letzt wird der Mangel an Erkenntnis jeglicher Kraft doch nicht verziehen; und auch Napoleon wurde dieser Mangel nicht verziehen. Raskolnikoff erkühnt sich zu Größerem, weil er mehr, weil er Größeres sieht. Hätte er gesiegt, so wäre sein Sieg endgültiger, unumstößlicher gewesen, als der Sieg Napoleons. In jedem Fall aber ist infolge der Gleichheit oder Einheit des Ausgangspunktes, trotz des ganzen unermeßlichen Unterschiedes der zurückgelegten Wege, das sittliche Gericht über Raskolnikoff zu gleicher Zeit auch Gericht über Napoleon. Die Frage, die in „Rodion Raskolnikoff“ erhoben wird, ist dieselbe Frage, die Tolstoj in „Krieg und Frieden“ erhebt; der ganze Unterschied besteht nur darin, daß Tolstoj sie umfängt, während Dostojewski sich in sie vertieft; der eine tritt von außen an sie heran, der andere von innen; bei dem einen ist es Beobachtung, beim anderen Experiment.
Die Revolution war ein ungeheurer politischer, schon in viel geringerem Maße sozialer, die Stände betreffender, und überhaupt kein moralischer Umsturz. „Du sollst nicht töten“, „du sollst nicht stehlen“, „du sollst nicht ehebrechen“ – alles ist geblieben, wie es war, wie es die Tafeln Moses vorschreiben; alles hat, ganz abgesehen von den äußeren kirchlichen und monarchischen Überlieferungen, seine innere sittliche Notwendigkeit vor dem Henker (Robespierre), ebenso wie vor dem Opfer (Louis XVI.) aufrecht erhalten. Trotz der „Göttin der Vernunft“ war Robespierre ein ebensolcher „Deïst“ wie Voltaire, und trotz der Guillotine ein ebensolcher „Menschenfreund“ wie Jean Jacques Rousseau. Man muß seinen Nächsten lieben, man muß sich für seine Nächsten opfern – dem widersprach kein einziger, weder die Henker, noch die Opfer. Hierbei vollzog sich keinerlei Umwertung der sittlichen Werte. Die Persönlichkeit war der Allgemeinheit in der neuen Regierungsform nicht etwa weniger untergeordnet, sondern mehr. Bei der mittelalterlichen Verfassung war diese Unterordnung ganz natürlich, innerlich bedingt, nicht willkürlich gewesen, war die Unterordnung des einen Gliedes im lebendigen Volkskörper unter ein anderes durch eine vielleicht sogar falsch aufgefaßte, aber immerhin religiöse, uneigennützige Idee. Jetzt wird die Politik zur Mechanik; die Persönlichkeit ordnet sich dem äußeren Zwang des „Gesellschaftsvertrages“ unter – der Stimmenmehrheit; sie wird zum Hebel inmitten aller Hebel der vernünftig und richtig gebauten Maschine, zur Eins unter Einern, zur mathematisch berechenbaren Ziffernhöhe dieser Mehrheit. Der Druck der neuen anmaßenden Freiheit war, wie es sich erwies, furchtbarer als der Druck der alten unverhohlenen Knechtschaft.
Und die Persönlichkeit hielt es nicht aus und empörte sich in der letzten, in der Welt noch nie dagewesenen Empörung.
Versteht sich: am allerwenigsten dachte an die Rechte der Menschenpersönlichkeit, an die Umwertung aller sittlichen Werte – Napoleon, als er die Läufe der Touloner Kanonen auf den revolutionären Volkshaufen richten ließ, um, nach dem Ausdruck Raskolnikoffs, „mit Kanonenkugeln auf Schuldige und Unschuldige zu feuern, ohne sie auch nur eines Wortes der Erklärung zu würdigen“. Und darauf folgt eine ganze Reihe ganz ebenso geglückter Verbrechen. – „Ich erriet damals,“ sagt Raskolnikoff „daß Macht nur dem gegeben wird, der es wagt, sich zu bücken und sie zu nehmen. Hierbei ist ja nur eines, nur eines erforderlich: man muß nur wagen, nur erkühnen muß man sich! ... Es stand plötzlich sonnenklar vor mir, wie denn noch kein einziger bis jetzt gewagt hat und nicht wagt, wenn er an diesem ganzen Blödsinn vorübergeht, einfach alles am Schwanz zu nehmen und zum Teufel zu schleudern! Ich wollte mich dazu erkühnen!“ Dem Bewußtsein Napoleons zeigte sich dasselbe natürlich nicht „sonnenklar“: nur aus dem dunklen, uranfänglichen Instinkt der sich empörenden Persönlichkeit heraus „wollte er sich erkühnen“.
Napoleon ging aus der Revolution hervor und nahm sogar ihre Offenbarungen an, nur veränderte er sie für seine Zwecke. „Alle sind gleich“ – damit stimmte er überein, nur fügte er hinzu: „Alle sind gleich für mich, alle sind gleich unter mir.“ „Alle sind frei“ – und er will Freiheit, will freien Willen, aber „nur für sich allein“ will er freien Willen.
Vom Gesichtspunkte der alten, mosaischen, und der scheinbar neuen, in Wirklichkeit aber ebenso alten menschenfreundlichen Sittlichkeit aus, die Jean Jacques Rousseau mit der Feder und Robespierre mit dem Henkerbeil verkündet haben, ist Napoleon ein Dieb und Mörder, „ein Räuber außerhalb des Gesetzes“. Uns erdrückt das Pathos der historischen Ferne, wir sind geblendet von der Sonne von Austerlitz. „Napoleon, die Pyramiden, Waterloo – und eine hagere, häßliche Registratorenwitwe, eine alte Wucherin mit einem roten Koffer unter dem Bett – wie sollen sie denn das verdauen! Wird denn, heißt es, Napoleon unter das Bett eines alten Weibes kriechen?“ Und doch, in der Tat, geben wir zu, wenn nur die „Ästhetik uns nicht störte“, daß für die Kritik der reinen Sittlichkeit die Zerstörung Toulons und das unter das Bett des alten Weibes nach dem roten Koffer Kriechen – ein und dasselbe ist. Furchtbar und gemein ist es, scheußlich und widerlich! Er kroch unter das Bett und verkroch sein ganzes Leben. Warum ist das nun in dem einen Falle „Übertretung (Schuld) und Sühne“, und im anderen – Übertretung (Verbrechen) und Krönung mit dem in der Geschichte einzig dastehenden universalhistorischen Lorbeerkranz? „Gott hat sie mir gegeben“ (die Krone der römischen Cäsaren); „wehe dem, der an sie rührt.“ Was Wunder, wenn der verschüchterte und ruhmberauschte Pöbel dem glaubte! Wie aber konnten die freien, rebellischen Byron und Lermontoff daran glauben? Wie konnten sie diesen „Tyrann“, der den größten Versuch der Menschenbefreiung, die Revolution, enthauptete, als ihren Helden anerkennen? Wie, endlich, konnten so ruhige und nüchterne Leute wie Puschkin und Goethe von ihm betrogen werden? Und doch ist es so. Als hätte er ihren geheimsten, für sie selbst noch furchtbaren Traum erraten und verkörpert! Und geradezu dankbar dichten sie die letzte wundervolle „Sage“ Europas von ihm, dem Märtyrer-Imperator auf Sankt Helena, von dem neuen Prometheus, der an den einsamen Fels inmitten des Ozeans angeschmiedet ist. Dem Märtyrer welchen Gottes? – Das wissen sie nicht, das sehen sie nicht, nur dunkel ahnt ihr Instinkt, daß gerade hier, bei Napoleon, ein anderer Geist umgeht, einer, der ihnen wie näher und verwandter, der wie neuer und sogar freier, befreiender und schöpferischer ist, als der Geist der Revolution. Erwachte nicht in dem alten, bereits zur Ruhe gekommenen und ein wenig sogar schon verknöcherten Goethe, als er sich an Napoleon wie an einer übernatürlichen, „dämonischen“ Erscheinung der Natur und der Menschheit begeisterte, – erwachte da nicht in ihm etwas Jünglinghaftes, grenzenlos Rebellisches, Unterirdisches, jenes selbe, aus dem auch sein Prometheusruf geboren scheint:
Ihr Wille gegen meinen!
Eins gegen Eins ...
– – – – – –
Götter? Ich bin kein Gott,
Und bilde mir so viel ein als einer.
Unendlich? – Allmächtig? –
Was könnt ihr? ......
Vermögt ihr, zu scheiden
Mich von mir selbst?
Auch bei Byron nimmt die Erscheinung Napoleons nicht umsonst die Gestalt Prometheus, Kains, Lucifers an – aller Verstoßenen, Verfolgten, die sich gegen Gott erhoben und vom Baume der Erkenntnis gegessen haben. Dieser Geist, der weder hell noch dunkel ist, wie das fahle Dämmerlicht der ersten Morgenstunden, dieser neue Dämon Europas mit seinem frommen, leidenschaftslosen Lächeln – um wieviel ist er aufrührerischer als Robespierre oder Saint Just, um wieviel will er mehr, als Rousseau oder Voltaire! Es scheint, daß hier auch des Rätsels Lösung ist. Aber vielleicht ist niemand entfernter von diesem Erraten, als – Napoleon selbst. Vielleicht würde sich niemand so sehr darüber wundern, niemand so entrüstet sein wie er, wenn er begreifen könnte, welch eine Folgerung aus seinen Sätzen gezogen, welch eine Bedeutung seiner Persönlichkeit beigelegt werden wird. Schien es doch nicht nur anderen, sondern auch ihm selbst, daß er das gestörte Gleichgewicht der Welt wieder herstellte, daß er unerschütterliche Ordnung einführte, das auseinanderfallende Gebäude des europäischen Staatskörpers stützte und der Revolution ein Ende machte. Wenn nur er selbst und die anderen den „ersten Schritt“, seinen Ausgangspunkt, vergessen könnten – diesen bleichen jungen Menschen mit den blutigen Händen, der nach dem roten Koffer unter das Bett der alten Wucherin – der Revolutionsgöttin „Vernunft“ – kriecht! „Dio mi la dona. Gott hat sie mir gegeben,“ – die Krone oder die rote Truhe? Und ist es wirklich Gott? Wirklich der christliche Gott oder der Gott des fünften Buches Moses? Immerhin hat er doch getötet und gestohlen! Er aber ist ein einzelner; für die anderen heißt es nach wie vor: „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht stehlen ...“ Wenn er – warum dann schließlich nicht auch ich? Ist er denn nicht aus derselben Nichtigkeit hervorgegangen wie ich, nicht aus einem ebenso abstrakten mathematischen Nichtigkeitspunkt wie ich? Er ist – Gott; ich bin – „zitternde Kreatur“. Aber auch in meinem Herzen erhebt sich der Schrei des Titanen:
Götter? Ich bin kein Gott,
Und bilde mir soviel ein als einer.
Wenn er „beim Vorübergehen einfach alles am Schwanz nahm und fortschleuderte zum Teufel,“ warum soll dann nicht auch ich einmal dasselbe versuchen, und wäre es auch nur, sagen wir – aus Neugier? „Denn hier ist ja nur eines, nur eines erforderlich: man muß sich nur dazu entschließen.“
Nein, Napoleon hat den Brand der großen Revolution nicht gelöscht, er hat nur den Feuerfunken derselben aus dem äußeren, politischen, weniger gefährlichen Gebiet in das innere, sittliche, um wieviel mehr explosionsfähige geworfen. Er wußte selbst nicht, was er tat, ahnte selbst nicht, „wes Geistes er war“; aber mit seinem ganzen Leben, durch sein Beispiel, durch die Größe seines Glücks und die Größe seines Unterganges hat er die tiefsten Grundfesten der ganzen christlichen und vorchristlichen Sittlichkeit erschüttert: ohne seinen Willen, gegen seinen Willen hat er die „Umwertung aller Werte“ begonnen, hat er noch nie dagewesene Zweifel an die Uroffenbarungen des Menschengewissens erweckt, hat er – wenn auch mit halbverschlafenen Augen – in das „Jenseits von Gut und Böse“ geblickt, und hat er auch anderen erlaubt und auch andere gezwungen, dorthin zu blicken. Das aber, was der Mensch dort erblickt hat, das kann er nie mehr vergessen. Die alte politische „Große“ Revolution erscheint uns trotz all ihrer äußeren blutigen Greuel vollkommen unverletzend und ungefährlich, fast gutmütig und klein wie ein Kinderspiel, fast wie Schülerunart – im Vergleich zu diesem kaum sehbaren, kaum hörbaren innerlichen Umsturz, der sich noch bis auf den heutigen Tag nicht vollzogen hat und dessen Folgen wir unmöglich voraussehen können.
Eines ganzen Jahrhunderts angestrengten philosophischen und religiösen Denkens Europas hat es bedurft – von Goethes „Prometheus“ bis zu Nietzsches „Antichrist“ –, um den ewigen Sinn der napoleonischen Tragödie als universalhistorischer Erscheinung zu erfassen: die antichristliche und doch dabei heilige Liebe zu sich selbst, zu seinem „fernen“ Selbst, die der Liebe zu anderen, zum „Nächsten“ entgegengesetzt ist; der titanische unterirdische Anfang der Persönlichkeit: „ich allein gegen alle“ –
„Ihr Wille gegen meinen“ –
der Wille der Selbstbejahung, der „Wille zur Macht“, der dem Willen zur Selbstverleugnung, zur Selbstvernichtung entgegengesetzt ist; die Empörung gegen die alte, gegen die neue, gegen jede gesellschaftliche Einrichtung, jeden „gesellschaftlichen Verband“, gegen alle „beengenden Fesseln der Zivilisation“, nach dem Ausdruck Napoleons, den er gleichsam von dem Urahn der Anarchisten, Jean Jacques Rousseau, entlehnt hat; die Empörung gegen die Menschheit (Kain), gegen Gott (Lucifer), gegen Christus (der Antichrist-Nietzsche) – das sind die emporführenden Stufen dieser neuen sittlichen Revolution. Unbegrenzte Freiheit, unbegrenztes Ich, vergöttertes Ich, Ich-Gott, – das ist das letzte, kaum zu Ende gesprochene Wort dieser Religion, die Napoleon mit so genialem Instinkt vorausgesehen hat – „ich habe eine Religion geschaffen“ –, und über die er mit so unverzeihlichem Leichtsinn scherzen konnte: „In allen Jahrmarktsbuden würde man mich verspotten, wenn ich es mir einfallen ließe, mich für Gottes Sohn auszugeben.“
Und von diesem selben unterirdischen vulkanischen Stoß, der scheinbar aus dem Westen kam (wie wir späterhin sehen werden, nicht nur aus dem Westen), von diesem selben unklaren, bald mitfühlenden, bald spöttischen, aber immer aufregenden und tiefen Gedanken, an die napoleonische Persönlichkeit, an die Raubvögel und aufrührerischen Helden, die „Menschen des Fatums“ – angefangen von dem kaukasischen Gefangenen, Onjégin, Aleko, Petschorin und dem Dämon[1], begann auch die Wiedergeburt der russischen Literatur. Dieser Gedanke, der sich wohl zeitweilig verbarg, sich gleichsam unter die Erde versenkte, niemals aber endgültig versiegte, da er immer wieder mit neuer und neuer Kraft hervorbrach, dieser Gedanke begleitet die ganze große universalhistorische Entwicklung des russischen Geistes in der russischen Literatur, von den „Moskowitern im Child Harold-Mantel“, an deren Händen „Blut klebt“, von Aleko-Petschorin, der „nur für sich allein Willen haben will“ – bis zum Nihilisten Kiriloff, der sich für „verpflichtet“ hält, „Eigenwille zu zeigen“, bis Stawrogin, der „in beiden entgegengesetzten Polen (in der Freveltat und in der Heiligkeit) den gleichen Genuß findet“ – bis zu „Iwan Karamasoff“, der es endlich begreift, daß „alles erlaubt ist“ und somit Friedrich Nietzsches „alles ist erlaubt“ voraussagt.
Ein junger Mann[2], mit dem bleichen Gesicht, „mit wundervollen Augen und ebensolchem Äußeren“ (und nicht nur Äußeren), der an Bonaparte vor Toulon erinnert, stiehlt sich nachts in das Schlafzimmer der alten Gräfin, um ihr mittels Gewalt das Kartengeheimnis zu erpressen. Die Pistole, die er mitgenommen hat, um die Alte zu erschrecken, ist nicht geladen. Dennoch fühlt er sich als Mörder. Hier handelt es sich übrigens nicht um die Alte: „Die Alte ist Unsinn,“ vielleicht auch ein Irrtum, „nicht die Alte, sondern das Prinzip“ erschlug er, er bedurfte nur des „ersten Schrittes“: „ich wollte nur den ersten Schritt tun – mich in eine unabhängige Stellung bringen, Mittel erlangen, und dann, später, hätte sich alles durch verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen ausgeglichen. Ich wollte das Gute den Menschen.“ Und für das Gute erschlug er. Das sagt Raskolnikoff, aber dasselbe könnte auch von Puschkins Herrman in der „Pique Dame“ gesagt sein. Wie Raskolnikoff, so ist auch Herrman ein Nachahmer Napoleons. Wie flüchtig auch sein innerer Mensch von Puschkin gezeichnet ist, es ist trotzdem klar, daß er kein gewöhnlicher Verbrecher ist, daß hier noch etwas Komplizierteres, Rätselhafteres dahintersteckt. Puschkin selbst berührt natürlich, wie das so seine Art ist, kaum, kaum diese Rätsel, um dann sofort an ihnen vorüberzugehen und sich mit seinem unerhaschbar gleitenden, lächelnden Spott von ihnen loszumachen. Aber aus der wie zufällig von Puschkin hingeworfenen Skizze „Die Pique Dame“ sind nicht zufällig Gogols „Tote Seelen“ und Dostojewskis „Rodion Raskolnikoff“ hervorgegangen. So gehen auch hier die Wurzeln der russischen Literatur auf Puschkin zurück: gleichsam, als hätte er im Vorübergehen auf die Türe des Labyrinths gewiesen. Nachdem Dostojewski einmal in dieses Labyrinth eingetreten war, konnte er sich später sein Leben lang nicht mehr herausfinden: immer tiefer und tiefer drang er in dasselbe hinein, forschte, prüfte, versuchte, suchte und fand doch keinen Ausgang.
Die Verwandtschaft Raskolnikoffs mit Herrman hat Dostojewski, wie es scheint, nicht nur gefühlt, sondern auch klar erkannt. „Der Puschkinsche Herrman in der ‚Pique Dame‘ ist eine kolossale Gestalt, ein ungewöhnlicher, durch und durch Petersburger Typ – ein Typ aus der Petersburger Zeit!“ läßt Dostojewski seinen Helden in der „Jugend“ sagen, der gleichfalls einer von Raskolnikoffs geistigen Zwillingsbrüdern ist. Er sagt es bei der Beschreibung des Eindrucks, den der Petersburger Morgen auf ihn macht – „der scheinbar prosaischste auf der ganzen Welt“, den er aber für den „allerphantastischsten der Welt“ hält. „An einem solchen modernden, feuchten, nebligen Petersburger Morgen mußte der wilde Einfall eines Puschkinschen Herrman, wie mir scheint, noch mehr Wurzel fassen. Wohl hundertmal ist mir inmitten dieses Nebels der sonderbare, doch um so aufdringlichere Gedanke gekommen: Wie, wenn nun dieser Nebel verfliegt und sich emporhebt, wird dann nicht auch diese ganze modernde, sumpfig schlüpfrige Stadt zusammen mit dem Nebel emporschweben und verschwinden, wie Rauch verfliegen und nur den früheren finnischen Sumpf zurücklassen, inmitten desselben meinetwegen wie zum Schmuck der Eherne Reiter[3] auf dem heiß atmenden, überjagten Tiere?“
Ebenso wie von Puschkins Herrman kann man auch von Raskolnikoff sagen, daß er ein „durch und durch Petersburger Typ“ ist, „ein Typ aus der Petersburger Zeit“. In keiner einzigen anderen, weder russischen noch europäischen Stadt – außer in Petersburg – in keinem einzigen anderen Zeitabschnitt der russischen oder europäischen Geschichte hätte dieser Herrman sich entwickeln und auswachsen können zu einem – Raskolnikoff. Und hinter diesen zwei „kolossalen“, „außergewöhnlichen“ Gestalten hebt sich eine dritte Gestalt ab – tritt die noch kolossalere und außergewöhnlichere Gestalt des Ehernen Reiters auf dem Granitfels hervor. Was zuerst fremd, aus dem „angefaulten Westen“ importiert, romantisch, byronisch, napoleonisch erschien, wird verwandt, volklich, russisch, wird zum Geiste Puschkins, Peters; was aus den Tiefen Europas kam, trifft mit aus den Tiefen Rußlands Kommendem zusammen. Ist der Traum unseres sagenhaften Recken der Steppe, unseres Ilja von Murom, nicht der Traum vom „Wundertäter“, dem „Riesen“? Ja, in diesem Nebel der finnischen Sümpfe und in dem Granit der aus ihnen emporgewachsenen Stadt fühlt man deutlich die Verbindung aller kleinen und großen Helden der aufständischen oder nur andrängenden russischen Persönlichkeit von Onjégin bis Herrman, von Herrman bis Raskolnikoff, bis Iwan Karamasoff – mit demjenigen,
– durch dessen Fatumswille
Die Stadt sich aus dem Meer erhob –
diese „absichtlichste aller Städte der Erdkugel“, die Stadt der abstraktesten Erscheinungen, der größten Vergewaltigung der Menschen und der Natur, des historischen „lebendigen Lebens“, die Stadt der anscheinend geometrischen Ordnung, des mechanischen Gleichgewichts, in Wirklichkeit aber – der gefahrvollsten Aufhebung der Lebensordnung und des Lebensgleichgewichts. Nirgendwo in der Welt sind so unerschütterliche Massen auf so schwankendem Grunde aufgetürmt: Granit, der sich in Nebel auflöst, Nebel, der sich zu Granit verdichtet. Der „Geist der Knechtschaft“ – der „stumme und taube“ Geist, von dem es zu Raskolnikoff hinüberweht, während er auf der Brücke steht und auf das „großartige Panorama“ der Petersburger Kais schaut; der Geist der Unfreiheit und des „Verhängnisses“, des widernatürlichen und übernatürlichen „Willens“. Der „wilde Einfall“ Raskolnikoffs „hätte noch mehr Wurzel fassen müssen“ – gerade hier in dieser phantastischen Stadt „mit der allerphantastischsten Entstehungsgeschichte der Welt“, durch die Berührung dieser Wirklichkeit, die selbst einem wilden Einfall, einem Fieberwahn gleicht. „Vielleicht ist das alles nur irgend jemandes Traum? ... Irgend jemand, dem alles das träumt, wird plötzlich erwachen – und alles wird dann plötzlich verschwinden.“
Bereits Puschkin hat die Ähnlichkeit Peters mit Robespierre bemerkt. Und in der Tat sind die sogenannten „Reformen“ Peters die größte Revolution, der größte Umsturz, die Empörung, der Aufstand von oben, „der weiße Terror“. Peter ist Tyrann und Rebell zu gleicher Zeit, Rebell im Verhältnis zum Vergangenen, Tyrann im Verhältnis zum Zukünftigen, Napoleon und Robespierre in einer Person. Und sein Umsturz ist nicht nur politisch, sozial, sondern in noch viel größerem Maße sittlich, er ist ein unerbittlicher, unbarmherziger, wenn auch unbewußter Bruch aller kategorischen Imperative des Volksgewissens, ist die zügellose Umwertung aller sittlichen Werte. Ich glaube, daß, wenn in den Annalen alle menschlichen Verbrechen aufgezeichnet wären, man keines finden würde, das das Gewissen, wenn nicht mehr empören, so doch mehr befangen machen könnte, als die Ermordung des Zarewitsch Alexei. Ist sie doch nicht wegen des fraglos Verbrecherischen furchtbar, sondern wegen der immerhin möglichen Gerechtigkeit und Schuldlosigkeit des Sohnmörders; dieses Verbrechen ist furchtbar dadurch, daß man sich darüber auf keine Weise beruhigen kann, nachdem man zugegeben hat, daß er doch kein gewöhnlicher Missetäter ist, ein „Verbrecher außerhalb des Gesetzes“. Eine so rätselhafte Tragödie finden wir in Napoleons Leben nicht. Doch am fruchtbarsten ist hierbei die Frage: wie aber, wenn Peter so handeln mußte? wie, wenn er durch die Unterlassung dieser Tat das größte und wahre Heiligtum seines Zarengewissens zerstört hätte? Tötete er denn den Sohn um seinetwillen – für sich selbst? Aber Peter konnte doch tatsächlich nicht – er verstand es einfach nicht – sich von Rußland unterscheiden, sich und Rußland nicht als eins fühlen: er empfand sich als Rußland, liebte Rußland wie sich selbst, liebte es mehr als sich selbst. Wer wagt zu sagen, daß er nicht tausendmal für Rußland gestorben wäre? Er wollte Rußlands Bestes, „wollte das Gute den Menschen bringen“, darum tötete er denn auch, darum „übertrat“ er das Gesetz, trat er über das Blut, da er glaubte, daß dieser Schritt „später durch verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen wieder gut gemacht werden wird“. Er „lud sich das Blutvergießen – auf sein Gewissen“.
Und da steht Peter – wie Puschkin sagt – „bis zum Knie im Blute“, eigenhändig foltert und enthauptet er. Der Sohn des „Stillsten Zaren“ ist – Henker auf dem Roten Felde[4]. Und in dem Augenblick ahmt er niemandem nach, in dem Augenblick ordnet er sich keinerlei fremden Einflüssen des Westens unter, in dem Augenblick ist er im höchsten Grade russischer Zar, Nachfolger Iwans des Grausamem. Der Moskauer Zar-Henker ist ebenso autochthon, wie der Zaardamer Zimmermann, der einfache Arbeiter. Selbst seine ärgsten Feinde, die Abtrünnigen[5], fühlen doch, wenn sie ihn auch den „Fremden“, den „Untergeschobenen“ nennen, daß er mit ihnen blutsverwandt ist. Und auch die Slawophilen hassen ihn als Blutsverwandten, hassen ihn mit dem größten Bluthaß, denn sie fühlen, daß er ihr eigen Fleisch und Blut ist, und was ihren Haß erzeugt, ist dasselbe Blut, das in Puschkin seine ebenso starke Liebe zu Peter erzeugt hat. Nein, nie noch hat es in der Weltgeschichte eine solche Verirrung, eine solche Erschütterung des Menschengewissens gegeben, wie sie Rußland in der Zeit der „Reformen Peters“ erfahren hat. Wahrlich, nicht nur bei den Raskolniken allein konnte darob der Gedanke an den Antichrist entstehen! Es scheint, daß diese Erschütterung sich noch bis auf den heutigen Tag nicht nur im russischen Volke, sondern auch in unserer kultivierten Gesellschaft bemerkbar macht. Es scheint, daß der sumpfige Grund des finnischen Moores immer noch unter dem Ehernen Reiter schwankt. Wenn nicht heute, dann kommt morgen ein – neuer Umsturz in dieser „phantastischen Geschichte“, eine neue Überschwemmung, wie sie Puschkin in seinem „Ehernen Reiter“ geschildert ...
Die Kraft der Wirkung ist gleich der Kraft der Gegenwirkung, dem Aufruhr von oben antwortet der Aufruhr von unten, dem weißen Terror der rote. Der russische Sozialismus oder der russische Terrorismus – gleichfalls eine „durch und durch Petersburger“ Erscheinung, eine Erscheinung des „Petersburger“, peterschen Zeitabschnitts – ist einer der ewigen und prophetischen Träume des „Giganten auf dem ehernen Pferde“, ist einer der steilen Abhänge jenes „Abgrunds“, über dem er mit seinem Zügelruck „Rußland sich aufbäumen macht“. Hier muß der „wilde Gedanke“ des Terrorismus durch die Berührung mit der „wilden“ und phantastischen Wirklichkeit noch fester Fuß fassen. Und das ist jener gespenstische Nebel, der Nebel des Petersburger Tauwetters, der Nebel der Winde aus dem „faulenden Westen“, mit dem zusammen die bereiften Granitblöcke sich sofort erheben und wie Nebel verflattern und sich in nichts auflösen werden ...
„Es begann mit der Anschauung der Sozialisten,“ sagt der Student Rasumichin über die Lehre Raskolnikoffs vom Verbrechen – diese Lehre, aus der die ganze Tragödie entstanden ist.
In Europa war der Sozialismus abstrakte, wissenschaftliche Anschauung, oder private Anwendung dieser allgemeinen Anschauung, die durch die geschichtlichen Lebensbedingungen der Kultur hervorgerufen worden war. Erst in Rußland wurde der Sozialismus zur allgemeinen, allesverschlingenden, philosophischen, metaphysischen (denn der äußerste Materialismus ist bereits Metaphysik), teilweise sogar zur mystischen Lehre vom Sinn des Lebens, dem Ziel und Zweck der Weltentwicklung – mystisch natürlich ohne Wollen und Wissen ihrer Verkündiger. Und wiederum nur hier, in Rußland, in dem Rußland Petersburgs und Peters, kommt der Sozialismus bis zu seinen letzten (seinen ersten Lehrsätzen in bedeutendem Maße widersprechenden, mitunter dieselben unmittelbar verneinenden) – anarchistischen Folgerungen. Anarchismus ist ein furchtbares russisches Wort, ist die russische Antwort auf die Frage der westeuropäischen Kultur. Das haben wir nicht von Europa entlehnt, das haben wir Europa gegeben. Rußland hat hier zuerst, zum ersten Male das ausgesprochen, was Europa nicht zu sagen wagte. Hierin hat sich jene besondere Neigung, die mit religiöser Verblendung viel Gemeinsames hat, die Neigung zu allem dialektisch Äußersten, Zügellosen, Überschreitenden, selbst über den letzten „Strich“ gehenden, die dem russischen Geiste eigen ist, wieder einmal ausgesprochen. Und so ist es selbstverständlich auch kein gewöhnlicher Zufall, daß diese unerhörte Entwicklung dieser beiden anscheinend so entgegengesetzten und unvereinbaren äußersten Pole – die Idee der Selbstherrschaft und die Idee der Herrschaftslosigkeit, der Monarchie und der Anarchie – sich gerade in dem Rußland Peters vollzogen hat. Sind sie doch beide aus „einem Geiste“ hervorgegangen, aus dem „stummen und tauben“ Geiste, aus dem Geiste des größten Selbstherrschers und des größten Rebellen der Neuen Geschichte: sie sind die zwei steilen Abhänge, die zwei Ränder immer derselben Kluft, desselben „Abgrundes“, über dem sich das Pferd des Ehernen Reiters bäumt. In der Politik – Anarchismus, in der Sittlichkeit – Nihilismus. Und auch hier, im Nihilismus, ist der „letzte Punkt“ erreicht; auch hier ist der „ganze historische Weg zurückgelegt, es gibt nichts mehr, wohin man weitergehen könnte“. Wiederum das russische Extrem, die äußerste, dialektisch-zügellose, nichtwissenschaftliche Folgerung aus der westeuropäischen wissenschaftlichen „Kritik der reinen Sittlichkeit“, die sich als unerfüllbarer erwies, als die „Kritik der reinen Vernunft“, die Folgerung aus den westeuropäischen, unvergleichlich zaghafteren und gemäßigteren, weil mehr lebenskulturellen, mehr geschichtlich-realistischen „Versuchen, sich auf der Erde ohne Gott einzurichten“ – ohne himmlische wie auch ohne irdische Macht, – die Folgerung aus der, wie man meint, ausschließlich materialistischen und mechanistischen Weltauffassung.
Wenn Rasumichin recht hat, daß die Lehre Raskolnikoffs mit der Anschauung der Sozialisten begonnen habe, so ist das natürlich nicht im Sinne des westeuropäischen Sozialismus zu verstehen, sondern in einem besonderen, russischen Sinne, im Sinne des Anarchismus und Nihilismus.
„Nun, die Auffassung der Sozialisten ist ja bekannt,“ fährt Rasumichin fort, „das Verbrechen sei ein Protest gegen die Anormalitäten der sozialen Einrichtung – und nichts weiter, irgend welche anderen Ursachen werden überhaupt nicht zugelassen – und das sei alles!“ Raskolnikoff aber geht bereits hier in seinem Ausgangspunkte viel weiter als die Sozialisten. Die Sozialisten sagen: der Protest – die Verneinung des Vorhandenen – muß zusammen mit dem, gegen was er gerichtet ist, verschwinden, die Verbrechen müssen in demselben Verhältnis, wie die „ungerechte Einrichtung oder Einteilung der Gesellschaft sich durch eine gerechte ersetzt“, seltener werden oder gar gänzlich aufhören. Raskolnikoff aber faßt es anders auf: das Verbrechen ist für ihn nicht nur Verneinung, Zerstörung des Alten, sondern auch Bejahung, Schaffung von Neuem, die nicht mit zeitlichen, veränderlichen Bedingungen der menschlichen Gesellschaft verbunden ist, sondern mit den ewigen, unveränderlichen Gesetzen der Natur. „Nach dem Naturgesetz,“ sagt er zu Porphyri Petrowitsch, dem Untersuchungsrichter, indem er seine Lehre auseinandersetzt, „zerfallen die Menschen im allgemeinen in zwei Arten: in eine niedrigere Art, das sind die Gewöhnlichen, oder sagen wir einfach das Material, das einzig zur Erzeugung von Seinesgleichen dient, und in die eigentlichen Menschen, d. h. solche, die die Gabe oder das Talent besitzen, in ihrer Mitte ein neues Wort zu sagen ... Die zur zweiten Abteilung gehörenden übertreten alle das Gesetz, das sind die Umstürzler ... Und wenn ein solcher für seine Idee selbst über Leichen, über Blut schreiten muß, so darf er – meiner Meinung nach – innerlich, vor seinem Gewissen, sich die Erlaubnis geben, meinetwegen auch Blut zu vergießen – übrigens, je nach der Idee und ihrem Umfange, das nicht zu vergessen.“ – „Wenn die Entdeckungen eines Kepler oder Newton, sagen wir, infolge irgendwelcher Kombinationen auf keine andere Weise den Menschen bekannt werden könnten, als durch das Opfer von einem, zehn, hundert oder noch mehr Menschen, die der Bekanntmachung der Entdeckung hinderlich wären oder sich als unüberwindliches Hindernis auf ihren Weg gestellt hätten, so hätte Newton das Recht und wäre sogar verpflichtet, diese zehn oder hundert Menschen zu ... beseitigen, um seine Entdeckungen der ganzen Welt kundtun zu können.“ – „Ferner ... alle Gesetzgeber oder Ordner der Menschheit, angefangen von den ältesten, fortgefahren mit Lykurg, Solon, Mahomet, Napoleon und so weiter (wie interessant, daß in dieser Aufzählung nicht auch Peter genannt wird, wen aber, sollte man meinen, müßte wohl Raskolnikoff der ‚durch und durch Petersburger‘ petrische Typ, wohl nennen, wenn nicht Peter?) – alle sind sie bis auf den letzten Verbrecher, Übertreter schon allein durch den einen Umstand, daß sie, indem sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft heilig gehaltene und von den Vätern überkommene zerstörten, und weil sie selbstverständlich auch vor dem Blutvergießen für ihr neues Wort nicht zurückgeschreckt sind, wenn dieses Blut (das mitunter vollkommen unschuldig war und heldenmütig für das alte Gesetz hingegeben wurde) ihnen nur helfen konnte. Es ist wirklich auffallend, daß die meisten von diesen Ordnern und Wohltätern der Menschheit vor allem furchtbare Blutvergießer gewesen sind. Mit einem Wort, ich folgere daraus, daß alle, nicht nur die ganz Großen, sondern die auch nur etwas aus dem alten Geleise Heraustretenden, ich meine, wenn sie auch nur etwas Neues – mag es noch so klein sein – zu sagen vermögen, ihrer Natur gemäß unbedingt Verbrecher oder ‚Übertreter‘ sein müssen, versteht sich, mehr oder weniger. Anders, d. h. ohne Übertretung, würde es ihnen nicht gut möglich sein, aus dem alten Geleise herauszukommen, in ihm aber zu bleiben, das können sie natürlich nicht, und zwar wiederum ihrer Natur gemäß nicht, und meiner Meinung nach sind sie sogar unmittelbar verpflichtet, nicht sich darein zu fügen, nicht den anderen zu folgen.“
Am auffallendsten ist hierbei die aufrichtige oder vorgetäuschte Ruhe, die Selbstbeherrschung, mit der er seine Lehre wie irgend ein abstraktes, mathematisches Axiom auseinandersetzt. Ein Mensch spricht von Menschlichem, als wäre er selbst kein Mensch, sondern ein Wesen aus einer anderen Welt, oder wie ein Naturforscher von einem Ameisenhaufen oder Bienenstock spricht. Er untersucht nicht das, was sein sollte, sondern das, was ist, nicht Gewünschtes, sondern Vorhandenes. Als gäbe es zwischen der sittlichen und der religiösen Welt überhaupt keine Verbindung, als gäbe es zwischen dem Gedanken an das Wohl der Menschen und dem Gedanken an Gott keinerlei Beziehung, als hätte es diesen Gedanken an Gott überhaupt nie im Menschengewissen gegeben! Aber man muß Raskolnikoff Gerechtigkeit widerfahren lassen: seit Machiavelli hat kein einziger von sittlichen und politischen Fragen, die doch die größten Leidenschaften erregen, mit einer solchen Leidenschaftslosigkeit gesprochen. Und selbst die Sprache des Petersburger Nihilisten erinnert durch ihre schneidende Schärfe, Kälte und Klarheit der Dialektik, die „scharf wie ein Rasiermesser“ ist, an die Sprache des Sekretärs der florentinischen Republik.
Nur ein einziges Wort zum Schluß des Gespräches fällt aus dieser zynischen Leidenschaftslosigkeit heraus und enthüllt zu gleicher Zeit unter den abstrakten Gedanken eine noch viel größere Tiefe, als selbst Raskolnikoff ahnt.
„Nun, aber die wahrhaft Genialen,“ unterbricht Rasumichin halb ärgerlich, „diese, denen das Recht zu morden gegeben ist – die müssen dann also überhaupt nicht leiden, auch nicht einmal für vergossenes Blut?“
„Wozu hier das Wort ‚müssen‘?“ entgegnet Raskolnikoff. „Hier gibt es weder Erlaubnis noch Verbot. Mögen sie doch leiden, wenn ihnen das Opfer leid tut ... Leiden und Schmerz sind stets mit umfassender Erkenntnis und einem tiefen Herzen verbunden. Ich glaube, die wahrhaft großen Menschen müssen in der Welt eine tiefe Schwermut empfinden,“ fügte er plötzlich wie in Gedanken versunken hinzu, so daß es sogar aus dem Ton der Unterhaltung herausfiel. –
Auch auf dem Gesichte desjenigen, dem Raskolnikoff nachahmt, dem er auch äußerlich ganz ebenso wie Puschkins Herrman ähnelt, – auch auf dem sonderbar unbeweglichen Gesichte Napoleons, in seinen Augen, die scheinbar „in die Ferne, oder auf einen einzigen fernliegenden Punkt gerichtet sind“, finden wir den Stempel dieser tiefen Schwermut, dieser großen Trauer, – kein Anzeichen von Reue oder Gewissensbissen, oder Leiden, sondern gerade nur von schwermütiger Trauer: als hätte er das erblickt, was Menschenaugen nicht sehen sollten, irgendein letztes Geheimnis der Welt vielleicht, und seit der Zeit verläßt dieser Schatten sein Antlitz nicht mehr, selbst nicht im blendendsten Lichte des Ruhmes und Glückes.
Ja, dieses sonderbare Wort fällt „aus dem Ton der Unterhaltung heraus“: es mag ihm gleichsam im Versehen entschlüpft sein. Es ist ein jenseitiges, fast religiöses Wort. Denn, wenn in den Fragen von Gut und Böse alles so mathematisch klar und einfach ist, wenn das sittliche Gesetz nur das Gesetz der „Natur“, der natürlichen Notwendigkeit, der inneren Mechanik ist – worüber trauert er dann, woher kommt dann dieser Schatten, vielleicht nicht aus der göttlichen, aber jedenfalls auch nicht der menschlichen Welt? Hat Raskolnikoff sich nicht versprochen, verraten? Verrät uns nicht dieses eine Wort, daß seine ganze wissenschaftliche Leidenschaftslosigkeit nur Äußerlichkeit, nur Membrane ist – übrigens ganz so wie auch die Leidenschaftslosigkeit Machiavellis, der das Geheimnis seines „tiefen Herzens“ ahnungslos aufdeckt, sobald er nur auf die Zukunft Italiens zu sprechen kommt? Es scheint, daß bei beiden unter der Leidenschaftslosigkeit eine – große Leidenschaft loht ... wie ein „Feuertrank in einem Becher von Eiskristall“.
Der Vorwurf, den Rasumichin den Sozialisten und teilweise auch seinem Freunde Raskolnikoff macht – hatte doch nach Rasumichins Meinung auch bei ihm alles mit der „Anschauung der Sozialisten angefangen“ – dürfte von diesem wohl kaum verdient sein: „Die Natur wird überhaupt nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die wird als gar nicht vorhanden angenommen! – Darum lieben sie ja auch so instinktiv die Geschichte nicht ... sie lieben die lebendige Entwicklung des Lebens nicht: wozu lebendige Seele! Die lebendige Seele verlangt Leben, die lebendige Seele gehorcht nicht der Mechanik, die lebendige Seele ist mißtrauisch, die lebendige Seele ist konservativ. Hier aber, wenn’s auch nach Aas riecht – aus Kautschuk kann man’s schon machen.“
Der unerbittliche Aristokratismus, den Raskolnikoff zur Grundlage seiner Theorie gemacht hat – die Einteilung der Menschen in Herde und Helden, in tatloses „Material“, in Sache, und in schöpferische Genies, die wie Bildhauer aus diesem Material eine neue Form meißeln, ein neues Angesicht der Geschichte – ist vielleicht eine zu einseitige Auffassung, sie ist vielleicht zu übertrieben und darum ertötend, jedenfalls aber nicht tot, ist außerhalb des Lebens, aber darum nicht etwa leblos. Wenn diese Lehre auch der „Mechanik“ ähnelt, so ist sie doch immerhin nicht „aus Kautschuk“ gemacht, sondern aus dem härtesten Stahl und, wie eben eine schneidende Klinge, tötet sie wohl, aber sie prüft, erprobt, sie durchbohrt das lebendige Fleisch, den lebendigen Geist der Geschichte. Es geht schwer an, einen solchen Beobachter der menschlichen Natur, wie Machiavelli, zu verdächtigen, daß er die „Natur überspringe, die Geschichte, die lebendige Entwicklung des Lebens nicht liebe“. Der Sekretär der Republik Florenz am Hofe Cesare Borgias befand sich im Mittelpunkt dieser „lebendigen Entwicklung“, im Strudel der größten historischen Ereignisse, im Herzen der Renaissance. Machiavelli spricht nur davon, was er tatsächlich von diesem im grenzenlosen Leben und unbegrenzten Leidenschaften schlagenden Herzen erlauscht hat, nur davon, was er der „Natur“ insgeheim abgesehen, dieser Natur, die sich gerade damals in ihrer furchtbaren Nacktheit nicht nur in den Schöpfern, sondern auch in den Kritikern der Geschichte offenbarte. Und jedenfalls kann man von dieser verführerischen Schimäre nicht sagen, daß es von ihr wie „Aasgeruch“ herüberwehe, eher aber schon „wie von frischvergossenem Blute“, und wohl aus nichts weniger als „Kautschuk“ dürfte sie gemacht sein. Aus dem Leben ist sie hervorgegangen und ins Leben hineingegangen – und wenn auch wiederum wie schneidender Stahl. Indessen liegt der sittlichen wie auch politischen Lehre Machiavellis vielleicht derselbe oder gar ein noch schonungsloserer Aristokratismus zugrunde, als bei Raskolnikoff. Ist es bei ihm nicht dieselbe Einteilung der Menschen in „Material“, „Pöbel“, „ekelhaftes Gewürm“ (wie Nietzsche es nennt) – in vulgus, das durch das Naturgesetz zum Gehorchen bestimmt ist, – und in Gebieter, in Herrscher, in Pfleglinge des Halbtiers, des Halbgotts, des Zentauren Chiron, die gleich ihrem Lehrer die übermenschliche, göttliche Natur mit der des „Tieres“, der bestia in sich vereinen müssen? – ist es nicht dieselbe „Entbindung von der Blutschuld auf ihr Gewissen“, die Erlaubnis, den „Wohltätern, den Ordnern der Menschheit“ gegeben, Blut zu vergießen? – ist nicht die vermeintlich unvermeidliche Vereinung von „Tugend“ (virtù) und „Grausamkeit“ (ferocità) in ihnen? Nicht umsonst hat Nietzsche, der seine Einsamkeit in der Weltliteratur fast krankhaft empfand und ihr solchen Wert beilegte, Nietzsche, der so anspruchsvoll war im Anerkennen von Verwandten oder Bundesgenossen, nicht umsonst hat er unter seinen wenigen Vorgängern Machiavelli und Dostojewski („diesen tiefen Menschen, den einzigen Psychologen, bei dem ich etwas zu lernen hatte“) nebeneinandergestellt – letzteren natürlich nicht als bewußtes Dogma, sondern nur für die künstlerische Darstellung solcher Helden des persönlichen Prinzips, wie Iwan Karamasoff und Rodion Raskolnikoff. Nietzsche ist ja gleichfalls – und das wissen wir bereits aus der Erfahrung unseres eigenen Herzens und Verstandes – aus dem Leben hervorgegangen und so geht er auch wieder in das Leben hinein. Was nun auch der Wert seiner Lehre sei, jedenfalls sehen wir nur zu gut, daß man mit ihm nicht wie mit einer toten Abstraktion, sondern wie mit einer tief lebendigen historischen Kraft, gleichviel ob mit einer positiven oder negativen, in jedem Fall aber lebendigen Erscheinung der „lebendigen Entwicklung“ rechnen muß.
Machiavellis „Principe“, Raskolnikoffs „Herrscher“, Nietzsches „Übermensch“ – das sind wieder die emporführenden Stufen, die Stufen eines besonderen, nicht ins Vergangene, sondern ins Zukünftige gerichteten, zerstörend schöpferischen, zügellos aufrührerischen Aristokratismus, der aufrührerischer als jegliche Demokratie ist, – eines Aristokratismus, der in der Politik wie in der Sittlichkeit allen Wiedergeburten, die sich bis jetzt vollzogen haben, eigen ist.
Wenn nun Raskolnikoff auch tatsächlich von der „Anschauung der Sozialisten“ ausgegangen ist, so ist er doch zu einem Schluß gekommen, der ihrer Auffassung am entgegengesetztesten ist: Ungleichheit als unwandelbares, in jeder menschlichen Gesellschaft verwirklichtes „Naturgesetz“. Und diese Ungleichheit in ihrer Natur glättet sich nicht etwa aus, im Gegenteil, sie vertieft sich noch proportional der universalgeschichtlichen Entwicklung: die Menschheit hat sich gleichsam in zwei Hälften zerspalten und schon gibt es keine Vereinigung für sie, kein Zusammenwachsen mehr. „Der Mensch ist dem Menschen ein – Tier“ – oder Gott, in jedem Falle aber nicht Bruder, nicht Nächster, nicht Gleicher ... nach dem furchtbaren Worte Nietzsches, daß zwischen dem Menschen und dem Menschen eine größere Entfernung liegt, als zwischen Mensch und Tier.
Zu gleicher Zeit ersieht man daraus, wie die Idee der Anarchie in ihren extremsten Folgeschlüssen sich unvermeidlich der Idee der Monarchie nähert und sogar unmittelbar mit ihr in eins zusammenfließt: die letzte Freiheit „jenseits von Gut und Böse“, die letzte Herrschaftslosigkeit führt zur Einherrschaft, zur Selbstherrschaft des Genies – zum Gebot Platons: „es möge das Genie herrschen“.
Übrigens macht Raskolnikoff in der ersten theoretischen Darlegung seiner Gedanken dem Sozialismus eine Konzession; er sagte „Diese (die Menschen der Masse) erhalten die Welt und vermehren sich; jene (die Helden) bewegen die Welt und führen sie ihrem Ziele zu. Diese wie jene haben also vollständig dasselbe Recht zur Existenz. Mit einem Wort, in meinen Augen haben alle das gleiche Recht, und – vive la guerre éternelle[1] ... bis zum neuen Jerusalem, versteht sich!“
„So glauben Sie immerhin doch an ein neues Jerusalem?“ fragt Porphyri Petrowitsch.
„Ja, ich glaube daran.“
Hätte diese Konzession für seine ganze Lehre in der Tat die Bedeutung, die er selbst annimmt, so müßte die Teilung der Menschen in erhaltende, fortsetzende, und in die Welt bewegende, nicht die Vorstellung von Höheren und Niedrigeren, von Verächtlichen und Edlen hervorrufen. Beide Teile würden dann auf gleicher Stufe stehen. Dann hätte sich Raskolnikoff in diesen „Geringen hienieden“ ein zwar anderer, aber doch nicht geringerer Adel offenbart, als in den Großen – ein anderer, aber nicht geringerer Wert. Die Vorstellung von der „zitternden Kreatur“ (Nietzsches „ekelhaftem Gewürm“), vom Pöbel, würde durch die Vorstellung des Volkes oder der „universalen Vereinigung der Menschen“ ersetzt werden. Beide Fähigkeiten – wie die Erhaltung des Gleichgewichts, so auch die Bewegung nach vorn, das Fleisch und der Geist der Menschheit – wären in seinen Augen in gleichem Maße heilig. Nicht Masse, wohl aber echtes Volk zu sein, würde ihm nicht verächtlicher und nicht rühmlicher erscheinen, als Held zu sein. Und so könnte man noch viele andere frappierende, von ihm sicherlich nicht erwartete Folgerungen aus dieser einen Konzession ziehen, die er ja doch nicht nur dem Sozialismus, sondern auch der Lehre Christi macht. Z. B.: würde sich daraus nicht ergeben, daß es folglich zwei Tafeln sittlicher Werte gibt, zwei Gewissen, zwei Wahrheiten, die tatsächlich „gleichstark“, „gleichberechtigt“ sind? Hätte er dann nicht auch an den letzten Grenzen dieser Zerspaltung die Möglichkeit der Vereinigung erblickt, – hätte sich dann nicht auch der Vorhang vor dem wirklich „neuen“, längst nicht mehr sozialistischen „Jerusalem“ vor ihm erhoben?
Aber das ist es ja: Raskolnikoff erkennt das „gleiche Recht beider Hälften auf Existenz“ nur mit dem Verstande an. Sein Herz verneint dieses Recht mit einer Kraft, wie es bis jetzt noch niemals jemand verneint hat, und er setzt zwischen ihnen eine größere Entfernung voraus, als der alte Grieche zwischen dem Sklaven und dem Freien, als der Inder zwischen Tschandala und Brahmane. Ja es scheint, daß es überhaupt keine größere Entfernung, keine größere Kluft in der Welt gibt, als es diese ist, die Raskolnikoff zwischen den zwei Menschenklassen annimmt. Er kann keine genügend grausamen, hochmütigen, zynischen Worte finden, um seine ganze Verachtung für die Nichthelden auszudrücken. – „Oh, wie verstehe ich den Propheten zu Pferde und mit dem Schwert in der Hand: wenn Allah befiehlt, so hast du zu gehorchen, zitternde Kreatur! Recht, wahrlich Recht hat der ‚Prophet‘, wenn er irgendwo mitten auf der Straße eine gu–ute Batterie aufstellt und auf Gerechte und Ungerechte feuern läßt, ohne sie auch nur eines Wortes der Erklärung zu würdigen! Gehorche, zitternde Kreatur, und – laß dich nicht gelüsten, denn – das kommt dir nicht zu!!!“ – Von welch einem Rechte der Masse auf Existenz kann danach noch die Rede sein? Es sei denn – von dem Recht auf ewiges Zittern, ewiges Nichtsein vor dem „Propheten“. Gibt es doch für Raskolnikoff kein größeres Entsetzen und keinen größeren Ekel, als sich als Menschen, wie alle, zu fühlen. Er hat ja auch nur deshalb den Mord begangen, um den Strich, der den Helden von dem Nichthelden scheidet, zu überschreiten, um sich selbst zu beweisen, daß er ein – Mensch ist und nicht ein Ungeziefer, nicht eine „Laus“. – „Ich mußte damals unbedingt erfahren, ich mußte mich sobald als möglich überzeugen, ob ich ein Ungeziefer bin, wie alle, oder ein Mensch? ... Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht?“ – „Da hasten sie alle hin und her durch die Straßen und ist doch ein jeder von ihnen ein Schuft und Spitzbube allein schon seiner Natur gemäß, sogar schlimmer als das – ein Idiot! ... O, wie ich sie alle hasse!“ In seinem Herzen ist kein Körnchen von jener Liebe und Achtung vorhanden, ja nicht einmal von jener Gerechtigkeit zu den „Fortsetzern“, den „Erhaltern“ der Menschheit, die er mit dem Verstande anerkennt. Augenscheinlich besteht hier zwischen dem Lebensgefühl und dem abstrakten Gedanken Raskolnikoffs irgendein klaffender Widerspruch.
Die zweite Konzession, die er dem Sozialismus macht, ist die Anerkennung des „Wohles der Menschheit“ als höchstes bewußtes Ziel der Helden. Die Helden sind, wie er sagt, „Ordner und Wohltäter der Menschheit“. Sie übertreten das Gebot nicht nur aus dem Grunde, weil ihre Natur derart beschaffen ist, sondern auch zu dem Zweck, nur das höhere Gebot zu erfüllen. Sie zerstören das Bestehende im Namen eines besseren Zukünftigen, im Namen des „neuen Jerusalem“. Sie opfern wenige für das Glück vieler, die Minderheit der Mehrheit. Ihre Verbrechen sind nicht nur natürlich, sondern auch vernünftig, denn verderblich sind sie nur für einzelne, vorteilhaft aber für Millionen, und somit können sie sogar durch die mathematische Berechnung gerechtfertigt werden: „läßt sich denn nicht ein einziges kleines Verbrechen durch Tausende von guten Taten wieder gut machen? Für ein Leben tausend Leben. Ein Tod und zum Ersatz dafür hundert Leben – das ist doch Arithmetik!“
Aber auch der zweiten Konzession kann man keine größere Bedeutung beilegen als der ersten; übrigens sieht er das zum Schluß auch selbst ein und zerreißt dann endgültig die letzte Verbindung mit der „Anschauung der Sozialisten“: – „Weswegen schimpfte doch Rasumichin vorhin über die Sozialisten? Das sind doch arbeitsame, handeltreibende Leutchen, bemühen sich um das ‚allgemeine Glück‘ ... Nein, mir wird das Leben nur einmal gegeben, und niemals werde ich es wieder haben! – Ich will nicht das ‚allgemeine Glück‘ abwarten. Ich will auch selbst leben – oder sonst lieber überhaupt kein Leben! Nun was? Ich wollte nur nicht an einer hungrigen Mutter vorübergehen und, in der Erwartung des ‚allgemeinen Glücks‘, in der Tasche meinen Rubel festhalten.“ – „Ich bringe, wie man sagt, ‚einen Stein zum Bau des allgemeinen Glücks und so kann mein Herz ruhig sein‘. Haha! Warum habt ihr mich denn durchgelassen? Ich lebe doch im ganzen nur einmal, ich will doch auch ...“ Und er lacht, – „zähneknirschend“ – über die mathematische Berechnung des Vorteils, des menschlichen Wohles: „Unternehme es, sozusagen, nicht im Interesse meines eigenen Fleisches, und der eigenen Lust, sondern habe ein ungeheures, erhabenes Ziel im Auge, – haha! ... Beschloß jede nur mögliche Gerechtigkeit zu beobachten, Maß und Gewicht, und Arithmetik. Von allen Läusen wählte ich die allerüberflüssigste aus, und indem ich sie tötete, beschloß ich, genau nur soviel zu nehmen, wieviel ich für den ersten Schritt brauchte, nicht mehr und nicht weniger (und das übrige wäre dann nach dem Testament sowieso einem Kloster zugefallen, – haha! ...). O Erbärmlichkeit! ... O Gemeinheit! ...“ Und bereits kurz vor der „Beichte“ gesteht er Ssonja Marmeladoff: „Die ganze Qual dieser Schwätzerei habe ich ertragen, Ssonja, und da wollte ich sie denn endlich von den Schultern wälzen: ich wollte ohne Kasuistik erschlagen, versteh mich recht, Ssonja, für mich wollte ich erschlagen, für mich allein! Darin wollte ich niemanden belügen, selbst mich nicht! Nicht um meiner Mutter helfen zu können, habe ich erschlagen – Unsinn! Ich habe auch nicht erschlagen, um nach der Erlangung von Mitteln und Macht ein Wohltäter der Menschheit zu werden – Unsinn! Ich habe einfach erschlagen, für mich selbst habe ich erschlagen, nur für mich allein!“ ...
Hier geht in der Seele Raskolnikoffs etwas Furchtbares und Rätselhaftes vor sich. Man sollte meinen, wenn er für andere, zum Wohle der Menschen erschlagen hätte, dann wäre eine Rechtfertigung noch möglich: zwar ist es, würde man sagen, ein schlechtes Mittel, aber dafür hat er ein edles Ziel gehabt. Hat er es aber „für sich allein“ getan, „für sein eigen Fleisch und zur eigenen Lust“, dann gibt es hierfür keine Rechtfertigung mehr, dann ist er ein gewöhnlicher Dieb und Mörder, ein einfacher Missetäter, ein „Verbrecher außerhalb des Gesetzes“. Indessen ahnt Raskolnikoff dunkel, daß es in diesem Falle doch nicht so ist: ja, er hat für sich erschlagen, für sich allein, aber doch nicht für sein Fleisch und seine Lust allein, sondern noch für etwas Höheres in sich, für etwas Unzweifelhafteres und zu gleicher Zeit Uneigennützigeres, Ferneres, als das Wohl des Nächsten, als das „allgemeine Glück“. Natürlich ist auch „Egoismus“ dabei, aber dieser Egoismus ist wiederum von einer besonderen Art. Das Verbrechen wird vielleicht noch furchtbarer, jedenfalls aber nicht einfacher, nicht roher, – im Gegenteil, hier erst beginnt seine Kompliziertheit, Verfeinerung und das Verführerische an ihm. Raskolnikoffs von Qual und Leidenschaft geschärfter Blick sieht bereits die ganze hoffnungslose Flachheit und Erbärmlichkeit der sozialistischen „handelsmäßigen“ Abwägungen, Abmessungen des allgemeinen Nutzens. In diesem „für sich, für sich allein“ aber dämmert es weit, weit wie eine Ahnung von irgendeiner unbekannten Tiefe der Berührung mit der Ordnung unermeßlich höherer, allerschwerster, edelster Werte, als es alle sozialistischen Vorteile und der ganze allgemeine Nutzen sind; er ist sich dessen noch nicht bewußt, aber dunkel fühlt er schon, daß hierin – wenn auch nicht die Rechtfertigung, so doch immerhin irgendeine letzte Wahrheit ist, die Befreiung, Reinigung von der ganzen „Kasuistik“, dem „Geschwätz und der Lüge“ vom neuen sozialistischen „Jerusalem“. Das also ist der Grund, warum er sich mit einer so verzweifelten Hartnäckigkeit und Anspannung aller Kräfte an dieses „für mich, für mich allein“ klammert, als wolle er seine Gedanken zu Ende führen, und dennoch, als könne, als wage er es nicht. Hier ist alles noch – gar zu dunkel, gar zu tief; grauenvoll ist es für ihn, – gerade durch die unerwartet sich aufdeckende Tiefe ist es furchtbar. Vielleicht ist hier selbst die Rechtfertigung furchtbarer als jede Verurteilung. Die lecke Barke des Sozialismus begann unter ihm zu sinken, und da sieht er, wie ein Ertrinkender, als einzigen festen Punkt, als einzigen unerschütterlichen Fels in den Wellen – dieses „für mich allein“, aber noch weiß er nicht, ob er an jenem nackten scharfen Felsen endgültig zerschellen oder ob er sich auf ihn retten wird. Rodion Raskolnikoff erfährt denn auch nicht, begreift noch nicht, daß er sich nicht anders retten kann, als wenn er die Rechtfertigung durch die Liebe zu sich selbst nicht nur zu einer sozialen, moralischen, philosophischen Rechtfertigung macht, sondern auch zu einer religiösen.
Dmitri Mereschkowski.
„Rodion Raskolnikoff“ ist als das erste der fünf großen Roman-Epen, die Dostojewski geschrieben hat, im Jahre 1866 vollendet worden. Das Werk hat im Russischen einen Titel, dessen Übertragung sich der Begriffswelt „Schuld und Sühne“ nähert. Dieser Titel ist von Dostojewski aus nachweisbar ein Nottitel. Die Lösung des Problemes, die der Titel andeutet, bringt das Werk gar nicht. Der geplante zweite Teil, auf den sich der Titel bereits bezieht, ist nie geschrieben worden. Daher ist das Werk hier mit demjenigen Namen genannt, den sein Inhalt verlangt und an den sich das allgemeine und natürliche Empfinden längst gewöhnt hat: mit dem Namen seines Helden, in dem die Gestalt des jungen russischen Studenten und Ideologen ein für allemal Typ und beinahe Symbol geworden ist.
E. K. R.
Anfangs Juli, es war eine außerordentlich heiße Zeit, trat ein junger Mann gegen Abend aus seiner Kammer, die er in einem Hause der S.schen Gasse bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, wie unentschlossen, in der Richtung auf die K.sche Brücke.
Er hatte glücklich eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe vermieden. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dache des hohen fünfstöckigen Hauses und glich eher einem Schrank, als einer Wohnung. Seine Wirtin aber, von der er diese Kammer mit Mittagessen und Bedienung gemietet hatte, wohnte eine Treppe tiefer in einer separaten Wohnung und jedesmal, wenn er auf die Straße hinausging, mußte er unbedingt an der Küche der Wirtin vorbeigehen, deren Tür fast immer sperrweit offen stand. Und jedesmal fühlte der junge Mann beim Vorbeigehen eine krankhafte und feige Empfindung, deren er sich schämte und bei der er das Gesicht verzog. Er war bei der Wirtin stark verschuldet und fürchtete sich, ihr zu begegnen.
Nicht weil er so feige und scheu war, ganz im Gegenteil, aber seit einiger Zeit war er in einem gereizten und überanstrengten Zustand, der der Hypochondrie ähnelte. Er hatte sich so ganz und gar in sich selbst vertieft und hatte sich so vollständig von allen abgeschlossen, daß er sich sogar vor der gleichgültigsten Begegnung fürchtete, nicht bloß vor der mit der Wirtin. Er war von Armut erdrückt; aber selbst diese bedrängte Lage hatte in der letzten Zeit aufgehört auf ihm zu lasten. Er hatte es ganz und gar aufgegeben, mit seiner Tagesarbeit sich zu befassen, und hatte auch keine Lust dazu. Im Grunde genommen fürchtete er sich freilich nicht vor tausend Wirtinnen, was die auch gegen ihn im Schilde führen mochten. Aber auf der Treppe stehenbleiben, jeden Unsinn über alltäglichen Kram, der ihn gar nicht interessierte, anhören, all diese ewigen Mahnungen, seine Schulden zu bezahlen, die Drohungen, die Klagen anhören und sich dann den Kopf nach Ausreden zerquälen, sich entschuldigen und lügen zu müssen, – nein, da war es schon besser, wie eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und sich davonzumachen, ohne von irgendeinem Menschen sich sehen zu lassen.
Übrigens, dieses Mal setzte die Furcht vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin ihn selbst in Erstaunen, als er auf die Straße hinaustrat.
„Solch eine Sache will ich wagen ... und fürchte mich vor solchen Kleinigkeiten!“ dachte er über sich lächelnd. – „Hm ... ja ... alles liegt in den Händen eines Menschen und er läßt alles vorbeigehen, einzig und allein aus Feigheit ... das ist ein Axiom ... Ich möchte wissen, was die Menschen am meisten fürchten? Sie fürchten sich am meisten vor einem neuen Schritt, vor einem neuen, eigenen Worte ... Ich schwatze übrigens viel zu viel. Darum handle ich nicht, weil ich schwatze. Vielleicht ist es aber auch so: ich schwatze darum, weil ich nicht handle. Und das Schwatzen habe ich in diesem letzten Monat gelernt, indem ich ganze Tage und Nächte in der Ecke lag und ... unnütz träumte. Warum gehe ich jetzt fort? Bin ich denn dazu fähig? Soll es denn Ernst werden? Natürlich nicht. Bloß des Einfalls wegen spiegle ich mir selbst was vor. Spielerei! Ja, natürlich ist es Spielerei.“
Die Hitze auf der Straße war beängstigend; dazu die schwüle Luft, das Gedränge, überall lagen Kalk, Ziegelsteine, standen Baugerüste, überall war Staub und jener besondere Sommergestank, der jedem Petersburger wohlbekannt ist, der nicht ein Landhäuschen mieten kann, – dies alles erschütterte die ohnedies schon angegriffenen Nerven des jungen Mannes auf das unangenehmste. Der unerträgliche Geruch aus den Schenken, die in diesem Stadtteile besonders zahlreich sind, und der Anblick Betrunkener, denen man alle Augenblicke begegnete, – trotz des Werktages, – vollendeten die widerwärtige und traurige Stimmung des Bildes. Ein Ausdruck des tiefsten Abscheus huschte einen Augenblick über die feinen Züge des jungen Mannes. Beiläufig gesagt, er war außergewöhnlich hübsch, hatte schöne dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war fein und schlank und von mehr als mittlerem guten Wuchse. Bald aber versank er in sein tiefes Sinnen, oder richtiger gesagt, in Selbstvergessenheit, und ging weiter, ohne seine Umgebung zu beachten, ohne den Wunsch, sie zu bemerken. Hin und wieder murmelte er etwas vor sich hin, nach seiner Gewohnheit Selbstgespräche zu halten, wie er es soeben sich selbst eingestanden hatte. Dabei wurde er es sich bewußt, daß seine Gedanken sich zuweilen verwirrten und daß er sehr schwach war – es war ja der zweite Tag, daß er fast nichts gegessen hatte.
Er war so schlecht angezogen, daß mancher, auch der es gewöhnt war, sich geschämt hätte, in solchen Lumpen am Tage auf die Straße zu gehen. Freilich war dieses Viertel derart, daß man hier schwerlich jemand durch seine Kleidung in Erstaunen setzen konnte. Die Nähe des Heumarktes, die Überzahl gewisser Häuser und die Bevölkerung, die ausschließlich aus Handarbeitern besteht und in diesen Straßen und Gassen zusammengepfercht haust, belebten genugsam das allgemeine Bild mit solchen Gestalten, daß es sonderbar gewesen wäre, wenn eine solche Figur aufgefallen wäre. Und in der Seele des jungen Mannes hatte sich soviel böse Verachtung angesammelt, daß er trotz seines zuweilen sehr jugendlichen Selbstgefühls sich fast nicht mehr seiner Lumpen schämte. Anders freilich war es, wenn er zufällig Bekannten oder früheren Kameraden begegnete, denen er naturgemäß gern aus dem Wege ging. Indessen, als ein Betrunkener, den man von ungefähr in diesem Augenblicke in einem großen Wagen, mit einem großen Lastpferd davor, durch die Straße fuhr, plötzlich im Vorbeifahren ihm zurief: „He, du da mit dem deutschen Hute!“ – und mit der Hand auf ihn wies, – blieb der junge Mann stehen und faßte krampfhaft nach seinem Hute. Der Hut war hoch und rund, in einem guten Laden gekauft, aber völlig abgetragen und verschossen, voller Löcher und Flecken, ohne Rand und auf der einen Seite häßlich eingedrückt. Nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, das eher Schrecken war, hatte ihn erfaßt.
„Ich wußte es!“ murmelte er verlegen. „Ich dachte es mir! Das ist das allerschlimmste! So eine Dummheit, irgendeine sinnlose Kleinigkeit kann das ganze Vorhaben vernichten! Ja, der Hut fällt zu sehr auf ... Er ist lächerlich, darum fällt er auf ... Zu meinen Lumpen brauche ich unbedingt eine Mütze und wenn es auch eine alte Kappe ist, aber nicht dies Ungetüm. Niemand trägt solch einen Hut, von ferne schon sieht man ihn, kann sich ihn merken ... und die Hauptsache, man wird ihn sich für später merken, und ein Indizium ist da. Unauffällig muß man sein ... Die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten sind die Hauptsache! ... Diese Kleinigkeiten verderben stets alles ...“
Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren – genau, siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er stark ins Träumen gekommen war. Damals glaubte er diesen Träumen selbst noch nicht, und sie reizten ihn bloß durch ihre abscheuliche, aber verführerische Verwegenheit. Jetzt, nach einem Monat, schaute er es anders an und hatte sich unwillkürlich daran gewöhnt, den „abscheulichen“ Traum – ungeachtet aller stets wachen Selbstvorwürfe über seine eigene Kraftlosigkeit und Unentschlossenheit, – als ein Vorhaben anzusehen, obwohl er sich immer noch nicht recht traute. Jetzt ging er eine Probe seines Vorhabens zu machen, und mit jedem Schritt wuchs stärker und stärker seine Aufregung.
Mit erstarrendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich einem riesigen Hause, das mit der einen Seite auf den Kanal hinausging, mit der anderen an der R.schen Straße lag. Dieses Haus hatte lauter kleine Wohnungen und war von allerhand Handarbeitern bewohnt, – von Schneidern, Schlossern, Köchinnen, von Deutschen, von Mädchen, die ihre eigene Wohnung besaßen, kleinen Beamten und dergleichen. Durch die beiden Tore und die beiden Höfe des Hauses huschten in einem fort aus- und eingehende Menschen. Hier waren drei oder vier Hausknechte angestellt. Der junge Mann war sehr zufrieden, als er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte unbemerkt rechts vom Tore die Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und schmal, – es war eine Hintertreppe, – er kannte das alles schon, hatte es genau studiert, und die ganze Umgebung gefiel ihm; in solcher Dunkelheit ist ein neugieriger Blick ungefährlich.
„Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie wird es dann sein, wenn ich wirklich an die Tat selbst gehe?“ dachte er unwillkürlich, während er zum vierten Stockwerk hinaufstieg. Hier versperrten ihm Packträger, verabschiedete Soldaten, die aus einer Wohnung Möbel hinaustrugen, den Weg. Er wußte von früher, daß in dieser Wohnung ein Deutscher, ein Beamter, mit seiner Familie lebte.
„Dieser Deutsche zieht jetzt also aus, also bleibt im vierten Stock für einige Zeit nur die Wohnung der Alten bewohnt. Das ist gut ... auf jeden Fall ...“ dachte er und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke schlug schwach an, als wäre sie aus Blech. In solchen kleinen Wohnungen findet man immer solche Glocken. Er hatte den Ton dieser Glocke vergessen, und jetzt schien ihn dieser eigenartige Klang plötzlich an etwas zu erinnern und eine klare Vorstellung von etwas zu geben ... Er zuckte zusammen, seine Nerven waren sehr herunter. Kurz darauf öffnete sich die Türe zu einem winzigen Spalt – die Bewohnerin blickte hindurch mit sichtbarem Mißtrauen, und man sah bloß ihre kleinen, dunkel leuchtenden Augen. Als sie aber auf dem Flure viele Menschen erblickte, faßte sie sich ein Herz und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Wand in zwei Teile geteilt war, dahinter befand sich eine kleine Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war eine kleine vertrocknete alte Frau, etwa sechzig Jahre alt, mit stechenden und bösen, kleinen Augen, einer kleinen, spitzen Nase und ohne Kopfbedeckung. Ihr hellblondes, leicht ergrautes Haar war mit Öl eingefettet. Um den dünnen und langen Hals, der dem Beine eines Huhnes glich, war ein Flanellappen gewickelt und über die Schultern hing, trotz der Hitze, eine abgetragene und gelbgewordene Pelzjacke. Die Alte hustete und räusperte sich fortwährend. Wahrscheinlich hatte der junge Mann ihr einen sonderbaren Blick zugeworfen, denn plötzlich tauchte in ihren Augen wieder das frühere Mißtrauen auf.
„Ich heiße Raskolnikoff, bin Student, war bei Ihnen vor einem Monat,“ beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen, sich erinnernd, daß man hier freundlich sein müsse.
„Ich erinnere mich, Väterchen, ich erinnere mich gut, daß Sie da waren,“ sagte die Alte, ohne ihre fragenden Augen von seinem Gesichte abzuwenden.
„Also ... ich komme wieder in einer ähnlichen Angelegenheit ...“ fuhr Raskolnikoff fort, ein wenig verwirrt und erstaunt über das Mißtrauen der Alten.
„Vielleicht ist sie immer so, ich habe es damals bloß nicht gemerkt,“ dachte er mit unangenehmer Empfindung.
Die Alte schwieg eine Weile, wie in Gedanken vertieft, trat dann zur Seite, zeigte auf die Tür zu der Stube und sagte, indem sie den Besucher vorbei ließ:
„Treten Sie näher, Väterchen!“
Das kleine Zimmer, in das der junge Mann eintrat, hatte eine gelbe Tapete, Geranien standen dort und die Fenster umrahmten Mousselingardinen. In diesem Augenblick wurde es von der untergehenden Sonne hell erleuchtet.
„Die Sonne wird auch dann ebenso leuchten! ...“ durchfuhr es plötzlich Raskolnikoff, und mit einem schnellen Blick überflog er alles in dem Zimmer, um nach Möglichkeit die Lage zu studieren und sie sich zu merken. In dem Zimmer aber gab es nichts Besonderes. Die Möbel aus gelbem Holze, alle sehr alt, bestanden aus einem Sofa mit ungeheuerlicher, gebogener hölzerner Rückenlehne, einem runden Tisch vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem kleinen Spiegel an der Wand zwischen den Fenstern, aus Stühlen an den Wänden und einigen billigen Bildern in gelben Rahmen, die deutsche Damen mit Vögeln in den Händen darstellten, – das war die ganze Ausstattung. In der Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde ein Lämpchen. Alles war sehr sauber, – die Möbel und die Diele waren blank poliert; alles glänzte. „Das ist Lisawetas Arbeit,“ dachte der junge Mann. Kein Stäubchen konnte man in der ganzen Wohnung finden. „Bei bösen und alten Witwen findet man so eine Sauberkeit,“ dachte Raskolnikoff weiter und warf einen neugierigen Seitenblick auf den Vorhang aus Kattun vor der Tür zu dem zweiten kleinen Zimmer, in dem das Bett und die Kommode der Alten standen, dahinein hatte er noch nicht geschaut. Die ganze Wohnung bestand aus diesen zwei Zimmern.
„Was wünschen Sie?“ fragte die kleine Alte scharf, als sie ihm in das Zimmer gefolgt war, und stellte sich wieder gerade vor ihm hin, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
„Ich habe etwas zu verpfänden,“ und er zog eine alte, flache, silberne Uhr aus der Tasche. Auf der Rückseite war ein Globus eingraviert. Die Kette war aus Stahl.
„Die Frist für das früher Versetzte ist schon um. Vorgestern ist der Monat abgelaufen.“
„Ich will Ihnen die Zinsen noch für einen Monat bezahlen; warten Sie noch ein wenig.“
„Das ist mein guter Wille, Väterchen, zu warten oder Ihr Ding sofort zu verkaufen.“
„Wieviel geben Sie für die Uhr, Aljona Iwanowna?“
„Immer kommen Sie mit Kleinigkeiten, Väterchen, sie ist ja fast nichts wert. Für den Ring habe ich Ihnen voriges Mal zwei Rubel gegeben, und man kann ihn bei jedem Juwelier neu für anderthalb Rubel kaufen.“
„Geben Sie mir für die Uhr vier Rubel, ich werde sie einlösen. Sie hat meinem Vater gehört. Ich erhalte bald Geld.“
„Ich will Ihnen anderthalb Rubel dafür geben und die Zinsen abziehen, wenn Sie damit einverstanden sind.“
„Anderthalb Rubel!“ rief der junge Mann aus.
„Wie Sie wünschen.“
Und die Alte reichte ihm die Uhr. Der junge Mann nahm sie; er war so böse, daß er schon fortlaufen wollte, aber er besann sich, daß er sonst nirgends hingeben konnte, und daß er noch aus einem anderen Grunde gekommen war.
„Geben Sie das Geld!“ sagte er grob.
Die Alte fuhr in die Tasche nach den Schlüsseln und ging hinter den Vorhang in das andere Zimmer. Als der junge Mann allein zurückblieb, lauschte er voll Neugier und überlegte. Man hörte, wie die Alte die Kommode aufschloß. „Wahrscheinlich ist es die obere Schublade,“ dachte er. „Die Schlüssel trägt sie in der rechten Tasche ... Alle sind sie an einem Stahlring ... Und da ist ein Schlüssel, größer als die anderen, dreimal so groß, mit zackigem Barte; er ist selbstverständlich nicht von der Kommode ... Also, muß es noch eine Schatulle geben oder eine kleine Truhe ... Das ist zu beachten. Truhen haben immer solche Schlüssel ... Aber, wie gemein ist dies alles ...“ Da kam die Alte zurück.
„Hier haben Sie das Geld, Väterchen. Den Zins zu zehn Kopeken pro Rubel und Monat gerechnet, bekomme ich von Ihnen für anderthalb Rubel und für einen Monat im voraus fünfzehn Kopeken. Außerdem erhalte ich von Ihnen für die zwei früheren Rubel nach derselben Berechnung weitere zwanzig Kopeken im voraus. Zusammen also fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Da haben Sie’s.“
„Wie? Jetzt macht es bloß einen Rubel und fünfzehn Kopeken?“
„Ganz richtig.“
Der junge Mann stritt nicht weiter und nahm das Geld. Er blickte die Alte an und zögerte zu gehen, als wolle er noch irgend etwas sagen oder tun, ohne selber zu wissen, was er wolle ...
„Ich werde Ihnen, Aljona Iwanowna, in diesen Tagen vielleicht noch eine Sache bringen ... ein silbernes ... gutes ... Zigarettenetui ... sobald ich es von einem Freunde zurückerhalte ...“
„Nun, dann wollen wir darüber reden, Väterchen.“
„Leben Sie wohl ... Sie sitzen immer allein zu Hause. Ihre Schwester ist nicht da?“ fragte er möglichst ungezwungen, während er in das Vorzimmer ging.
„Was geht Sie die an, Väterchen?“
„Nichts Besonderes. Ich fragte bloß so. Sie denken gleich ... Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!“
Raskolnikoff schritt völlig verwirrt hinaus. Und seine Verwirrung verstärkte sich immer mehr und mehr. Während er die Treppe hinabstieg, blieb er sogar einige Mal stehen, als hätte ihn plötzlich etwas übermannt. Schließlich, schon auf der Straße, rief er aus:
„Oh, Gott! ... Wie abscheulich ist dies alles! Und werde ich es tatsächlich, tatsächlich ... nein, das ist ja Unsinn, ein unmöglicher Gedanke!“ fügte er entschlossen hinzu. „Wie konnte mir bloß so etwas fürchterliches in den Sinn kommen! Und doch, zu welchem Schmutz ist mein Herz fähig! Die Hauptsache bleibt, – es ist schmutzig, niederträchtig, gemein, abscheulich ... Und ich habe einen ganzen Monat ...“
Er konnte weder durch Worte noch durch Ausrufe seine Erregung ausdrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Abscheus, das sein Herz schon bedrückte und verwirrte, als er zu der Alten ging, erreichte nun solch einen Umfang und äußerte sich in einer Stärke, daß er nicht wußte, wohin er vor seiner Qual sollte. Er ging auf der Straße wie ein Betrunkener, ohne die Vorübergehenden zu bemerken, stieß mit ihnen zusammen und kam erst in der nächsten Straße zu einiger Besinnung. Er schaute um sich und ward gewahr, daß er neben einer Schenke stand, zu der von der Straße aus eine Treppe in das Kellergeschoß führte. Soeben kamen zwei Betrunkene heraus, stützten sich gegenseitig und stiegen schimpfend die Treppe hinauf. Ohne lange nachzudenken, sprang Raskolnikoff eilig hinab. Er war noch nie in einer Schenke gewesen, jetzt aber schwindelte ihn und ein brennender Durst quälte ihn. Er wollte kaltes Bier trinken, um so mehr, als er seine plötzliche Schwäche dem Umstande zuschrieb, daß er nichts im Magen hatte. Er ließ sich in einer dunkeln und schmutzigen Ecke an einem schmierigen Tische nieder, verlangte Bier und trank gierig das erste Glas aus. Sofort wurde es ihm leichter, und seine Gedanken wurden klarer. „Das alles ist Unsinn,“ sagte er voll Hoffnung. „Nichts braucht mich aus der Fassung zu bringen. Es ist bloß physische Zerrüttung. Ein Glas Bier, ein Stück Zwieback, – und im Nu ist der Verstand da, die Gedanken klar und die Absichten im Lot! Pfui, wie ist dies alles erbärmlich! ...“
Aber trotz des verächtlichen Ausspeiens sah er schon heiter aus, als hätte er sich plötzlich einer schrecklichen Last entledigt, und blickte die Anwesenden freundlich an. Aber selbst in diesem Augenblicke überkam ihn die leise Ahnung, daß diese Empfänglichkeit für das Bessere auch krankhaft sei.
In der Schenke waren um diese Stunde wenige Menschen. Außer den zwei Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte gleich darauf eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und ein Mädchen, mit einer Ziehharmonika die Schenke verlassen. Darauf war es still und freier geworden. Es waren übrig geblieben: ein Angetrunkener, der aber nicht zu stark berauscht war; er saß hinter einer Flasche Bier, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; sein Kamerad, ein dicker übergroßer Mann, in einem dicken Mantel, mit grauem Bart, stark berauscht, duselte auf einer Bank; ab und zu begann er plötzlich, wie im Schlafe, mit den Fingern zu schnippen, wobei er die Arme ausbreitete, hin und wieder hüpfte er mit dem Oberkörper, ohne sich von der Bank zu erheben, sang dazu irgendeinen Unsinn und versuchte sich auf Verse wie folgende zu besinnen:
„Ein ganzes Jahr hab’ ich mein Weib geliebt, gehätschelt,
Ein gan–zes Jahr hab’ ich mein Weib ge–liebt, ge–hät–schelt ...“
Oder er erwachte plötzlich und sang:
„Längs der Podjatscheskoi bin ich gegangen,
Hab’ mein früheres Weib gefunden ...“
Aber niemand nahm Anteil an seinem Glück; sein schweigender Kamerad sah diese Ausbrüche sogar feindselig und mißtrauisch an. Es war noch ein Mann da, dem Aussehen nach ein verabschiedeter Beamter. Er saß allein vor seiner Flasche, trank hin und wieder einen Schluck und blickte um sich. Auch er schien in einer gewissen Aufregung zu sein.
Raskolnikoff war an Menschenmengen nicht gewöhnt und wie gesagt, mied er besondere in der letzten Zeit jegliche Gesellschaft. Jetzt aber zog ihn plötzlich etwas zu den Menschen hin. Es ging in ihm etwas vor, anscheinend etwas Neues, und gleichzeitig machte sich ein starker Drang nach Menschen bemerkbar. Er war so müde von dieser einen Monat schon währenden bohrenden Qual und düsteren Aufregung, daß er wenigstens für einen Augenblick in einer anderen Welt, ganz gleichgültig in welcher, – aufatmen wollte, und so blieb er jetzt trotz des Schmutzes dieser Umgebung mit Vergnügen in der Schenke ...
Der Besitzer des Lokals hielt sich in einem anderen Zimmer auf, kam aber öfters in das Schenkzimmer; er mußte dabei ein paar Stufen hinabsteigen, und es zeigten sich zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit breitem roten Rande an den Schäften. Er stak in einem faltigen Mantel und in einer fürchterlich verschmierten schwarzen Atlasweste, war ohne Halstuch und sein ganzes Gesicht schien, gleich einem eisernen Schlosse, mit Öl eingefettet zu sein. Hinter dem Schenktisch stand ein Junge von vierzehn Jahren; es war noch ein anderer, ein jüngerer, da, der die Gäste bediente, wenn etwas verlangt wurde. Auf dem Tische lagen Gurken, in Scheiben geschnitten, schwarze Zwiebacke und in kleine Stücke zerteilter Fisch; dies alles roch sehr schlecht. In dem Raume war es so dumpf, daß es unerträglich war, darinnen zu sitzen und alles war von Branntweingeruch so durchdrungen, daß man von dieser Luft allein in fünf Minuten berauscht werden konnte. – Es kommt vor, daß wir sogar völlig unbekannten Menschen begegnen, für die wir uns vom ersten Augenblick an, ehe wir noch ein Wort mit ihnen getauscht haben, zu interessieren beginnen. Einen ähnlichen Eindruck hatte auf Raskolnikoff der Gast gemacht, der einem verabschiedeten Beamten glich und abseits an einem Tische saß. Raskolnikoff erinnerte sich später mehrmals dieses ersten Eindruckes und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er blickte ununterbrochen den „Beamten“ an, sicher auch darum, weil der ebenso hartnäckig zu ihm herüberschaute; man merkte, daß er sehr gern ein Gespräch angeknüpft hätte. Die übrigen Gäste, den Besitzer nicht ausgenommen, übersah der „Beamte“ gewohnheitsmäßig und voll Langeweile, und zugleich mit einem Ausdrucke von hochmütiger Geringschätzung, wie Menschen von niedriger Stellung und Bildung, mit denen er nichts gemein habe. Es war ein Mann, über fünfzig Jahre, von mittlerem Wuchse und kräftigem Bau, mit ergrautem Haar und einer großen Glatze, mit einer vom Trinken gedunsenen, gelben oder vielmehr grünlichen Gesicht und geschwollenen Augenlidern, unter denen winzige aber lebhafte, gerötete Augen hervorstachen. Etwas Sonderbares war jedoch an ihm; in seinen Augen leuchtete eine gewisse Begeisterung, vielleicht lag auch Verstand und Klugheit in ihnen, – aber gleichzeitig schimmerte es drinnen wie Irrsinn. Er war mit einem alten völlig heruntergerissenen schwarzen Frack mit losen Knöpfen bekleidet. Ein einziger Knopf saß noch einigermaßen fest, und mit ihm knöpfte er ihn zu, da er offenbar die gesellschaftlichen Formen nicht vernachlässigen wollte. Unter der Nankingweste zeigte sich ein ganz zerknülltes, beschmutztes und vertropftes Vorhemd. Das Gesicht war nach Beamtenart rasiert, aber vor längerer Zeit schon, so daß bläuliche Stoppeln hervorstanden. Selbst in seinen Bewegungen lag etwas Solides, Beamtenartiges. Aber er war in ständiger Unruhe, fuhr sich durch die Haare, stemmte die zerrissenen Ellenbogen zuweilen auf den begossenen und klebrigen Tisch und stützte, wie in schwerem Gram, mit beiden Händen den Kopf. Zuletzt faßte er Raskolnikoff fest ins Auge und sagte laut und energisch:
„Darf ich es wagen, mein verehrter Herr, mich mit einem anständigen Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Ihr Äußeres nicht viel vermuten läßt, unterscheidet meine Erfahrung in Ihnen doch einen gebildeten und ans Trinken nicht gewöhnten Menschen. Ich habe stets Bildung geachtet, die mit Herz und Gefühl verbunden ist, und außerdem bin ich im Range eines Titularrates. Marmeladoff – so ist mein Name, Titularrat. Darf ich erfahren, ob Sie im Staatsdienste gewesen sind?“
„Nein, ich studiere ...“ antwortete der junge Mann, erstaunt über den sonderbaren, verschnörkelten Ton der Anrede und auch darüber, daß man sich so direkt an ihn wandte. Trotz des Wunsches vor kurzem noch, in irgendeine Fühlung mit Menschen zu kommen, empfand er plötzlich bei dem ersten tatsächlich an ihn gerichteten Worte, seine gewöhnliche, peinliche und gereizte Abscheu vor jedem fremden Menschen, der sich ihm zu nähern versuchte.
„Sie sind ein Student oder gewesener Student!“ fuhr der Beamte fort. „Ich dachte es mir gleich. Das macht die Erfahrung, mein Herr, die lange Erfahrung!“ und selbstgefällig berührte er die Stirn mit dem Finger. – „Sie waren Student, haben gelehrten Studien obgelegen! Gestatten Sie aber ...“
Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Gläschen und setzte sich dem jungen Manne schräg gegenüber. Er war berauscht, sprach aber rasch und geläufig, hin und wieder blieb er ein wenig stecken und zog die Sätze in die Länge. Mit einer gewissen Gier hatte er sich auf Raskolnikoff gestürzt, als hätte auch er einen ganzen Monat mit niemand gesprochen.
„Verehrter Herr!“ begann er fast feierlich, „Armut ist kein Laster, das ist wahr. Ich weiß, daß der Trunk auch keine Tugend ist, und das ist noch wahrer. Aber Bettelarmut, mein Herr, bettelarm zu sein ist ein Laster, ja. In der Armut bewahrt man noch die Anständigkeit der angeborenen Gefühle, wenn man aber bettelarm ist – nie und nimmer. Wenn man bettelarm ist, so wird man nicht mal mit einem Stocke herausgejagt, sondern mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt, damit es beleidigender sein soll; und das ist gerecht, denn wenn ich bettelarm bin, so bin ich selbst, als erster, bereit, mich zu beleidigen. Daher auch das Trinken! Mein Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjätnikoff meine Gattin verprügelt, und meine Gattin ist etwas Besseres als ich! Verstehen Sie? Gestatten Sie mir eine Frage, so, aus reiner Neugier, – haben Sie schon auf der Newa, in den Heubarken geschlafen?“
„Nein, das habe ich noch nicht,“ antwortete Raskolnikoff. „Was ist das?“
„Nun, ich komme von dort, schlafe schon die fünfte Nacht in den Barken ...“
Er goß sich ein Glas ein, trank es leer und versank in Gedanken. Man sah tatsächlich an seinen Kleidern und in den Haaren hie und da Heuhalme. Es war leicht möglich, daß er sich fünf Tage weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Am schmutzigsten waren seine fetten, roten Hände mit schwarzen Fingernägeln.
Sein Gespräch schien allgemeine, wenn auch etwas flaue Aufmerksamkeit erregt zu haben. Die Knaben hinter dem Schenktische begannen zu kichern. Der Wirt war, wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den „Kauz“ zu hören; er setzte sich abseits und gähnte faul, aber würdevoll. Marmeladoff war offenbar hier längst bekannt. Auch die Neigung für gesuchte Ausdrücke hatte er wahrscheinlich durch die Gewohnheit, Wirtschaftsunterhaltungen mit allerhand Unbekannten anzuknüpfen, ausgebildet. Diese Gewohnheit wird bei manchen Trinkern zum Bedürfnis und besonders bei denen, die zu Hause streng behandelt werden. Darum versuchen sie in Gesellschaft von Trinkern sich stets eine Rechtfertigung und wenn möglich sogar Achtung der anderen zu verschaffen.
„Komischer Kauz!“ sagte laut der Wirt. „Warum arbeitest du nicht, warum bist du nicht im Dienst, wenn du Beamter bist?“
„Warum ich nicht im Dienste bin, mein Herr?“ sagte Marmeladoff, sich ausschließlich an Raskolnikoff wendend, als hätte der ihm die Frage vorgelegt. – „Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn das Herz nicht weh, daß ich unnütz herumlungere? Als Herr Lebesjätnikoff vor einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte und ich berauscht dalag, habe ich da nicht gelitten? Erlauben Sie, junger Mann, ist es Ihnen passiert, ... hm ... nun, daß Sie aussichtslos jemanden baten, Ihnen Geld zu leihen?“
„Das ist mir passiert ... das heißt, wie meinen Sie – aussichtslos?“
„Das heißt völlig aussichtslos, wenn man schon im voraus weiß, daß nichts daraus wird. Sagen wir, Sie wissen zum Beispiel vorher und zweifellos, daß dieser Mann, dieser wohlgesinnte und äußerst nützliche Bürger Ihnen um keinen Preis Geld geben wird, denn – ich frage Sie – warum soll er es tun? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. Etwa aus Mitleid? Herr Lebesjätnikoff aber, der neue Gedanken und Ideen mit Interesse verfolgt, hat vor kurzem erklärt, daß in unserer Zeit Mitleid sogar von der Wissenschaft verboten sei, und daß man in England, woher die politische Ökonomie kommt, schon danach handle. Warum also – frage ich Sie – sollte er geben? Und sehen Sie, obwohl Sie im voraus wissen, daß er nicht geben wird, machen Sie sich doch auf den Weg und ...“
„Warum geht man denn hin?“ sagte Raskolnikoff.
„Wenn es aber niemanden mehr gibt, wenn man nirgendwo anders hingehen kann! Es müßte doch so sein, daß jeder Mensch irgendwo hingehen könnte. Denn es kommen Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß! Als meine einzige Tochter zum erstenmal mit dem gelben Schein[6] ging, ging ich auch ... (meine Tochter lebt nämlich auf den gelben Schein) ...“ fügte er hinzu und blickte mit einiger Unruhe den jungen Mann an. „Hat nichts zu sagen, mein Herr, hat nichts zu sagen!“ beeilte er sich, sofort und scheinbar ruhig zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem Schenktische in Lachen ausbrachen und auch der Wirt lächelte. „Hat nichts zu sagen! Durch dieses Tuscheln laß ich mich nicht stören, denn es ist längst bekannt, und alles Verborgene wird offenbar, und nicht mit Verachtung, sondern mit Demut ertrage ich es. Mögen sie! Mögen sie! ‚Ecce homo!‘ Erlauben Sie, junger Mann, können Sie vielleicht ... Aber nein, man muß sich stärken und deutlicher ausdrücken: nicht können Sie, sondern wagen Sie, indem Sie mich dabei ansehen, zu behaupten, daß ich kein Schwein bin?“
Der junge Mann antwortete nicht.
„Nun,“ fuhr der Redner gesetzter und sogar noch würdevoller fort, nachdem er gewartet hatte, bis das Kichern in dem Zimmer aufhörte, „nun gut, ich mag ein Schwein sein, sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie ein Vieh, Katerina Iwanowna, meine Gattin, aber ist eine gebildete Person und die Tochter eines Stabsoffiziers. Mag ich, mag ich ein Schuft sein, sie aber ist hochherzig und ist durch Erziehung voll edler Gefühle. Indessen aber ... oh, wenn sie mit mir Mitleid hätte! Mein Herr, verehrter Herr, es müßte doch so sein, daß jeder Mensch wenigstens eine Stelle habe, wo er Mitleid fände! Katerina Iwanowna ist wohl eine großmütige Dame, aber ungerecht ... Und obwohl ich verstehe, daß sie mich an den Haaren zerrt, aus keinem anderen Grunde als aus Mitleid des Herzens – denn ich wiederhole es, ohne mich zu schämen, sie zerrt mich an den Haaren, junger Mann,“ bestätigte er mit verstärkter Würde, als er wieder Kichern vernahm. „Aber mein Gott, was würde geschehen, wenn sie wenigstens ein einziges Mal ... Aber nein! Nein! Das alles ist umsonst, und es lohnt sich nicht, davon zu sprechen! Lohnt sich nicht zu sprechen! ... Denn mehr als einmal war das Gewünschte dagewesen, und mehr als einmal hatte man mit mir Mitleid gehabt, aber ... meine Natur ist schon so, ich bin ein geborenes Vieh!“
„Und ob!“ bemerkte der Wirt gähnend.
Marmeladoff schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch.
„So ist meine Natur! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, ich habe sogar ihre Strümpfe vertrunken! Nicht die Stiefel, denn das würde noch in der Ordnung der Dinge liegen, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Ihr Tuch aus Ziegenwolle habe ich vertrunken, man hat es ihr einst geschenkt, es gehörte ihr, nicht mir; wir leben in einem kalten Zimmer und sie hat sich in diesem Winter erkältet und begann zu husten, sogar Blut kam. Wir haben noch drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna ist vom frühen Morgen bis in die Nacht bei der Arbeit; sie scheuert und wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von Kindheit auf an Reinlichkeit gewöhnt, aber sie hat eine schwache Brust und neigt zur Schwindsucht, und ich fühle es! Fühle ich es denn nicht? Und je mehr ich trinke, um so stärker fühle ich. Darum trinke ich auch, weil ich in diesem Tranke Mitleid und Gefühl suche ... Ich trinke, weil ich doppelt leiden will!“
Und er neigte wie in Verzweiflung seinen Kopf auf den Tisch.
„Junger Mann,“ fuhr er fort und hob wieder den Kopf, „in Ihrem Gesichte lese ich etwas wie Kummer. Als Sie hereintraten, habe ich es gesehen, und darum habe ich mich auch sofort an Sie gewandt. Denn, indem ich Ihnen die Geschichte meines Lebens erzählte, will ich mich nicht an den Schandpfahl vor diesen Tagdieben stellen, die übrigens alles wissen, sondern ich suche einen fühlenden und gebildeten Menschen. Sie sollen wissen, – meine Gattin ist in einem adligen Gouvernementspensionat erzogen und hat bei der Schlußprüfung vor dem Gouverneur und anderen Persönlichkeiten mit dem Schal getanzt, wofür sie eine goldene Medaille und ein Ehrenzeugnis erhielt. Die Medaille ... nun die Medaille haben wir verkauft ... schon lange ... hm ... das Ehrenzeugnis liegt noch in ihrem Kasten, und sie hat es vor kurzem unserer Wirtin gezeigt. Obwohl sie mit der Wirtin ständig, ununterbrochen Streitigkeiten hat, wollte sie doch vor jemand sich rühmen und von vergangenen glücklichen Tagen erzählen. Und ich verurteile sie nicht, ich verurteile nicht, denn das allein ist nur in ihrer Erinnerung geblieben, alles übrige ist zu Staub geworden. Ja, ja, sie ist eine hitzige, stolze und unbeugsame Dame. Sie wäscht selbst den Fußboden, ißt Schwarzbrot, aber Mißachtung duldet sie nicht. Darum wollte sie auch nicht die Grobheit des Herrn Lebesjätnikoff dulden, und als Herr Lebesjätnikoff sie verprügelte, da legte sie sich zu Bett – weniger der Schläge, als des Schimpfes wegen. Ich habe sie als Witwe geheiratet, mit drei ganz kleinen Kindern. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, heiratete sie aus Liebe und war aus dem Elternhause mit ihm geflohen. Sie liebte ihren Mann grenzenlos, er fing aber an Karten zu spielen, kam vors Gericht und starb. Er hat sie oft geschlagen in den letzten Jahren, und obwohl sie sich nichts von ihm gefallen ließ, wie ich es bestimmt und aus Schriftstücken weiß, – erinnert sie sich doch seiner heute noch mit Tränen und hält ihn mir als Muster vor, und ich freue mich, ich freue mich, weil sie sich wenigstens in der Phantasie als einstmals glücklich fühlt ... Nach seinem Tode blieb sie mit drei kleinen Kindern in einem abgelegenen und weltvergessenen Kreise, wo ich mich auch damals befand, und in solch hoffnungsloser Armut, daß ich sie nicht beschreiben kann, obwohl ich vieles und allerhand gesehen habe. Ihre Verwandten hatten sich alle von ihr losgesagt. Ja und sie war so stolz, zu stolz ... Und da bot ich, mein Herr, auch ein Witwer mit einer vierzehnjährigen Tochter von meiner ersten Frau, ihr meine Hand an, denn ich konnte solch eine Qual nicht mit ansehen. Sie können danach beurteilen, wie stark ihre Not war, daß sie, gebildet, gut erzogen und aus angesehener Familie, bereit war, mich zu heiraten. Sie heiratete mich! Weinend, schluchzend und händeringend – heiratete sie mich doch! Denn sie konnte ja nirgendwo hin. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man nirgendwo mehr hin kann? Nein! Das können Sie noch nicht verstehen ... Ein ganzes Jahr erfüllte ich meine Pflicht treu und redlich und rührte das da nicht an (er wies auf die Branntweinflasche), denn ich habe Gefühl. Aber auch damit konnte ich sie nicht zufrieden stellen; ich verlor meine Stelle und nicht eines Vergehens, sondern einer Änderung im Etat wegen, und nun wandte ich mich dem zu! ... Es sind schon anderthalb Jahre, seit wir nach langen Irrfahrten und vielfach großer Not endlich in dieser prächtigen und mit unzähligen Denkmälern geschmückten Residenz eintrafen. Ich fand hier eine Stelle ... Ich fand und verlor sie wieder. Verstehn Sie? Diesmal verlor ich die Stelle aus eigener Schuld, denn meine Neigung brach durch ... Jetzt wohnen wir in einem Winkel bei der Wirtin Amalie Fedorowna Lippewechsel, wovon wir aber leben und womit wir bezahlen – das weiß ich nicht. Außer uns leben noch viele dort ... Ein entsetzliches Drunter und Drüber ... hm ... ja ... Indessen wurde mein Töchterchen aus der ersten Ehe erwachsen, und was sie, mein Töchterchen, von ihrer Stiefmutter zu erdulden hatte, als sie heranwuchs, darüber schweige ich. Obwohl Katerina Iwanowna von großmütigen Gefühlen durchdrungen ist, so ist sie doch eine hitzige und gereizte Dame und schneidet einem schnell das Wort ab ... Ja! Nun, es lohnt sich nicht, dessen zu gedenken! Eine Erziehung hat Ssonja, wie Sie sich denken können, nicht erhalten. Ich habe versucht, etwa vor vier Jahren, Geographie und Weltgeschichte mit ihr durchzunehmen, aber da ich selbst nicht ganz sattelfest war und keine anständigen Bücher besaß, denn die Bücher, die wir hatten ... hm ... na, diese Bücher sind nicht mehr da ... So endigte auch damit der ganze Unterricht. Wir blieben bei Cyrus von Persien stehen. Später, als sie reifer und älter wurde, las sie einige Bücher romanhaften Inhalts, ja und vor kurzem erhielt sie von Herrn Lebesjätnikoff ein Buch – Physiologie von Lewis – kennen Sie es? Sie las es mit großem Interesse und teilte uns auch einige Abschnitte daraus mit, – das ist ihr ganzes Wissen. Jetzt wende ich mich an Sie, mein Herr, mit einer persönlichen Frage, so von mir aus, – wieviel kann, nach Ihrer Meinung, ein armes, ehrliches, junges Mädchen durch ehrliche Arbeit verdienen? ... Sie wird kaum fünfzehn Kopeken pro Tag verdienen, mein Herr, wenn sie ehrlich ist und keine besonderen Talente hat, und da muß sie, ohne einen Augenblick zu ruhen, ununterbrochen arbeiten! Und dabei hat der Staatsrat Iwan Iwanowitsch Klopstock, – haben Sie von ihm gehört? – bis heute nicht bloß das Geld für Nähen eines halben Dutzend Hemden aus holländischem Leinen nicht bezahlt, sondern hat sie sogar unter Kränkungen hinausgejagt, hat mit den Füßen getrampelt und sie in unanständiger Weise beschimpft, unter dem Vorwande, daß der Hemdkragen nicht nach Maß und dazu schief genäht sei. Und die Kinder sitzen hungrig zu Hause ... Katerina Iwanowna geht händeringend im Zimmer herum und auf ihren Wangen zeigen sich rote Flecke, – was bei dieser Krankheit stets vorkommt. Du lebst bei uns, Müßiggängerin, sagte sie, – ißt, trinkst und genießt die Wärme, – was gibt es aber denn zu essen und zu trinken, wenn die Kinder nicht mal eine Brotrinde drei Tage lang zu sehen bekommen! Ich lag damals berauscht da ... nun, was ist da viel zu sagen, ich lag berauscht da und hörte, wie meine Ssonja sagt – sie ist so still und ihr Stimmchen so sanft ... hellblond ist sie, das Gesichtchen ist immer bleich und mager – also, sie sagt: ‚Wie, Katerina Iwanowna, soll ich denn auf so was eingehen?‘ Darja Franzowna, ein böses und der Polizei gut bekanntes Weib, hatte sich schon dreimal durch unsere Wirtin erkundigt. ‚Was sonst,‘ antwortet Katerina Iwanowna spöttisch. ‚Wozu es hüten? So ein Kleinod!‘ Klagen Sie sie aber nicht an, mein Herr, klagen Sie nicht an, verurteilen Sie nicht! Es war gesagt nicht bei gesundem Verstande, sondern in erregter Stimmung, in Krankheit und beim Anblick der weinenden Kinder, die nichts gegessen hatten, und es war eher um zu kränken, als im genauen Sinne des Wortes gesagt ... Denn Katerina Iwanowna hat nun einmal so einen Charakter, und wenn die Kinder anfangen zu weinen, und sei es aus Hunger, schlägt sie sie sofort. Und da sah ich – es war gegen sechs Uhr – wie Ssonjetschka aufstand, das Tüchlein umnahm, ihr Pelzchen anzog und die Wohnung verließ, in der neunten Stunde aber kam sie zurück. Sie kam, ging direkt zu Katerina Iwanowna und legte schweigend auf den Tisch dreißig Rubel hin. Kein einziges Wörtchen hat sie gesagt, nicht mal hingeblickt; sie nahm unser großes grünes Umlegetuch – wir besitzen so ein gemeinsames Umlegetuch – bedeckte damit den Kopf und das Gesicht ganz und gar und legte sich auf das Bett mit dem Gesichte zur Wand; bloß die schmalen Schultern und der ganze Körper bebten ... Ich aber lag, wie vorher, in demselben Zustande ... Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, ohne ein Wort zu sagen, an das Bettchen von Ssonjetschka herantrat und den ganzen Abend auf den Knien zu ihren Füßen lag, ihr die Füße küßte, nicht aufstehen wollte, und wie sie beide schließlich umschlungen einschliefen ... beide ... beide zusammen ... ja ... und ich lag berauscht da.“
Marmeladoff schwieg, als versage ihm die Stimme. Dann schenkte er sich plötzlich ein, trank schnell aus und krächzte.
„Seit der Zeit, mein Herr,“ – fuhr er nach kurzem Schweigen fort, – „seit der Zeit ist meine Tochter Ssofja Ssemenowna gezwungen worden – dank einem ungünstigen Zufalle und dank der Denunziation schlechtgesinnter Menschen, wobei Darja Franzowna sich besonders hervorgetan hat, weil man ihr angeblich die ihr gebührende Achtung versagt habe, – den gelben Schein zu nehmen und hat infolgedessen bei uns nicht länger bleiben können. Denn unsere Wirtin, Amalie Fedorowna wollte es nicht zulassen, – vorher aber hat sie Darja Franzowna, dazu verholfen – und auch Herr Lebesjätnikoff ... hm ... Ja, sehen Sie, die Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna passierte ja wegen Ssonja. Zuerst stellte er Ssonjetschka selbst nach, mit einem Mal aber wurde er empfindlich. ‚Wie kann ich, als ein gebildeter Mann – sagte er – mit so einer in derselben Wohnung leben?‘ Katerina Iwanowna nahm es nicht stillschweigend hin, trat für Ssonja ein ... nun, und da passierte es ... Ssonjetschka besucht uns nun meist in der Dämmerung, hilft Katerina Iwanowna und gibt nach Möglichkeit Geld ... Wohnen aber tut sie bei dem Schneider Kapernaumoff; sie hat bei ihm eine Stube gemietet. Kapernaumoff ist lahm und stottert, und seine sehr zahlreiche Familie stottert auch. Auch seine Frau stottert ... Sie leben alle in einem Zimmer. Ssonja aber hat ihr eigenes mit einer Scherwand ... Hm ... ja ... Es sind furchtbar arme Leute und dazu stottern sie noch ... ja ... Ich stand also am Morgen auf, zog meine Lumpen an, hob die Hände gen Himmel und ging zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? ... Nein? ... Nun, dann kennen Sie nicht einen Gottesmenschen! Er ist wie Wachs ... Wachs vor dem Angesichte Gottes; er schmilzt wie Wachs ... Er vergoß sogar Tränen, nachdem er geruht hat alles anzuhören. ‚Nun, – sagte er – einmal hast du meine Erwartung getäuscht, Marmeladoff ... Ich gebe dir noch einmal eine Stelle, – auf meine persönliche Verantwortung hin,‘ – so sprach er – ‚denk daran – sagte er – und geh jetzt!‘ Ich küßte den Staub zu seinen Füßen – in Gedanken nur, denn in Wirklichkeit hätte er es nicht gestattet, als Würdenträger und als ein Mann der neuen Staatsideen und Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich mitteilte, daß ich in den Staatsdienst aufgenommen wäre und Gehalt erhalten würde, – Herrgott, was geschah da ...“
Marmeladoff hielt von neuem in großer Erregung inne. In diesem Augenblick drang von der Straße eine Schar von Trunkenbolden herein, die schon bezecht waren, und am Eingange ertönten die Klänge eines Leierkastens und die gesprungene Stimme eines siebenjährigen Kindes, das ein Gassenlied sang. Es wurde lärmend. Der Wirt und die Knaben bedienten die Neuangekommenen. Marmeladoff setzte seine Erzählung fort, ohne die Eingetretenen zu beachten. Er schien sehr schwach geworden zu sein, aber je stärker der Branntwein auf ihn wirkte, um so redseliger wurde er. Die Erinnerung an den kürzlichen Erfolg und die Aufnahme in den Dienst schien ihn zu beleben und spiegelte sich sogar auf seinem Gesichte gleich einem frohen Schimmer wieder. Raskolnikoff hörte ihm aufmerksam zu.
„Das geschah, mein Herr, vor fünf Wochen. Ja ... Kaum hatten sie beide, Katerina Iwanowna und Ssonjetschka es erfahren, da schien ich – oh Gott! – ins Himmelreich geraten zu sein. Früher lag ich da wie ein Vieh und hörte bloß Schimpfen! Nun aber gingen sie auf den Fußspitzen, die Kinder wurden angehalten ruhig zu sein. ‚Ssemjon Sacharytsch ist müde vom Dienste, ruht sich aus ... pst!‘ Ehe ich in den Dienst mußte, bekam ich Kaffee; Sahne wurde gekocht. Sie verschafften wirkliche Sahne, hören Sie! Und woher sie elf Rubel und fünfzig Kopeken zu einer anständigen Equipierung zusammengekratzt haben, begreife ich bis jetzt noch nicht. Stiefel, ein prachtvolles Kalikohemd, einen Uniformrock – alles haben sie in ausgezeichnetem Zustande für elf Rubel und fünfzig Kopeken aufgebracht. Den ersten Tag kam ich früh aus dem Dienste und was sehe ich, – Katerina Iwanowna wartet mit zwei Speisen auf – Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir vorher nicht mal einen Begriff hatten. Sie hat eigentlich keine Kleider ... wirklich gar keine, aber nun war sie angezogen, als wollte sie einen Besuch machen; sie hatte sich geschmückt, und im Grunde genommen war nichts Besonderes da, aber sie hatte es verstanden, aus nichts alles zu schaffen, – hatte ihr Haar geordnet, einen reinen Kragen, Manschetten angelegt und hatte aus sich einen ganz anderen Menschen gemacht, sah jünger und hübscher aus. Ssonjetschka, mein Täubchen, hatte nur mit Geld geholfen, denn es gehe jetzt nicht an, sagte sie, daß sie uns oft besuchte, höchstens in der Dämmerung, damit niemand es sehe. Hören Sie, hören Sie? Nach dem Essen legte ich mich ein wenig hin – wie meinen Sie, was geschah da, – Katerina Iwanowna konnte es doch nicht über sich bringen, und lud unsere Wirtin, Amalie Fedorowna, trotzdem sie sich vor einer Woche mit ihr gehörig gezankt hatte, nun zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden saßen sie und flüsterten fortwährend. ‚Ssemjon Sacharytsch – erzählte Katerina Iwanowna – ist jetzt im Staatsdienste und erhält Gehalt; er erschien bei Seiner Exzellenz, und Seine Exzellenz kam selbst heraus, ließ alle anderen warten, nahm Ssemjon Sacharytsch an der Hand und führte ihn in sein Zimmer!‘ – Hören Sie, hören Sie! – ‚Ich erinnere mich selbstverständlich Ihrer Verdienste, Ssemjon Sacharytsch – sagte er – und obwohl Sie diese leichtsinnige Schwäche haben, – da Sie es mir aber versprechen und es bei uns außerdem ohne Sie nicht gut gegangen ist‘ – (Hören Sie, hören Sie!) – ‚So verlasse ich mich jetzt auf Ihr Ehrenwort‘ – sagte er – das heißt, ich muß Ihnen sagen, sie hatte sich das alles ausgedacht, nicht aus Geschwätzigkeit und auch nicht um damit zu prahlen. Nein, sie glaubt selbst daran, ergötzt sich an ihrer eigenen Phantasie, bei Gott! Und ich verurteile es nicht, nein, ich verurteile es nicht, nein, ich verurteile es nicht! ... Als ich nun, vor sechs Tagen, mein erstes Gehalt – dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken ihr vollzählig abgab, nannte sie mich ihr Püppchen. ‚So ein Püppchen bist du!‘ – sagte sie. Und unter vier Augen hat sie es gesagt, verstehen Sie? Nun, bin ich denn etwa schön, und was bin ich für ein Gatte? Sie hat mich in die Wange gekniffen und ‚so ein Püppchen‘ gesagt.“
Marmeladoff hielt inne, wollte lächeln, plötzlich aber zitterte sein Kinn. Er beherrschte sich. Diese Schenke, das verkommene Aussehen, die fünf Nächte auf den Heubarken, die Branntweinflasche und dazu nun diese krankhafte Liebe zu Frau und Familie verwirrten den Erzähler. Raskolnikoff hörte ihm gespannt zu, jedoch mit einem peinvollen Empfinden. Er ärgerte sich, daß er hierher gekommen war.
„Mein Herr, verehrter Herr!“ – rief Marmeladoff aus, nachdem er sich völlig beherrscht hatte – „Oh, mein Herr, vielleicht erscheint Ihnen das alles lächerlich, wie den anderen, und ich belästige Sie bloß mit dem Kram und all diesen kleinlichen Einzelheiten meines häuslichen Lebens, – nun, für mich aber ist es nicht lächerlich! Denn ich kann dies alles fühlen ... Und diesen himmlischen Tag meines Lebens, wie auch den Abend verbrachte ich in flüchtigen Träumereien, – wie ich alles einrichten, den Kindern Kleidung verschaffen, ihr die Ruhe geben und meine einzige Tochter aus der Schande in den Schoß der Familie zurückbringen werde ... Und viel mehr, viel anderes noch ... Es war ja verzeihlich, mein Herr. Nun, mein Herr – (Marmeladoff fuhr plötzlich auf, erhob den Kopf und blickte seinem Zuhörer ins Gesicht) – nun, am andern Tage nach all diesen Träumen, heute sind es genau fünf Tage her, – entwandt ich gegen Abend durch einen listigen Betrug, wie ein Dieb in der Nacht, Katerina Iwanowna den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm den Rest von dem heimgebrachten Gehalt, – wieviel es war, weiß ich nicht mehr, – und nun sehen Sie mich an, seht Ihr alle mich an. Den fünften Tag bin ich von Hause weg, man sucht mich, und der Dienst ist aus, der Uniformrock liegt in einer Schenke bei der Ägyptischen Brücke und an seiner Stelle habe ich diese Kleidung erhalten ... und alles ist nun aus!“
Marmeladoff schlug sich mit der Faust an die Stirn, preßte die Zähne zusammen, schloß die Augen und stützte sich schwer mit den Ellbogen auf den Tisch. Nach einem Moment aber veränderte sich plötzlich sein Gesicht, er blickte mit geheuchelter Verschmitztheit und gespielter Frechheit Raskolnikoff an, lachte und sagte: „Und heute war ich bei Ssonja, habe sie gebeten mir Geld für einen Schnaps zu geben! He–he–he!“ ... „Hat sie dir wirklich gegeben?“ – rief jemand von den Neuangekommenen, rief es und lachte aus vollem Halse.
„Diese halbe Flasche ist für ihr Geld gekauft,“ – sagte Marmeladoff, sich ausschließlich an Raskolnikoff wendend. – „Dreißig Kopeken gab sie mir, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte, ... ich habe es selbst gesehen ... Sie hat nichts, nichts gesagt, hat mich bloß schweigend angesehen ... So grämt und weint man nicht auf Erden über Menschen ... sondern dort oben ... und keinen Vorwurf, keinen einzigen Vorwurf ... Und es tut einem mehr weh, wenn man keinen Vorwurf hört! ... Dreißig Kopeken, ja. Und sie braucht sie selbst jetzt, ah? Wie meinen Sie, mein lieber Herr! Sie muß ja doch jetzt auf Sauberkeit achten. Diese Sauberkeit, diese besondere Sauberkeit kostet Geld, verstehen Sie? Verstehen Sie es? Nun, und dann muß sie hin und wieder Pomade oder so was kaufen, es geht ja nicht ohne dem; steife Unterröcke muß sie haben. Stiefel, hübsche Stiefel müssen da sein, um das Füßchen zu zeigen, wenn sie über eine Pfütze gehen muß. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Nun, und ich, der leibliche Vater, nahm ihr diese dreißig Kopeken zu einem Schnaps! Und ich trinke hier! Habe sie schon vertrunken! ... Nun, wer soll denn mit so einem, wie ich, Mitleid haben? Ah? Tue ich Ihnen jetzt leid oder nicht, mein Herr? Sagen Sie, mein Herr, tue ich Ihnen leid oder nicht? He–he–he–he!“
Er wollte sich einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war leer.
„Warum soll man auch mit dir Mitleid haben?“ – rief der Wirt, der sich in ihrer Nähe befand.
Starkes Lachen erscholl und Schimpfworte wurden laut. Alle lachten, die Marmeladoff zugehört und auch die, welche nicht zugehört hatten, und schimpften ohne Grund, allein schon beim Anblick der Person des verabschiedeten Beamten.
„Mit mir Mitleid haben! Mitleid haben!“ – rief Marmeladoff plötzlich laut und erhob sich mit ausgestreckter Hand, sich gebärdend, als hätte er bloß auf diese Worte gewartet. – „Warum Mitleid mit mir haben, sagst du? Ja! Es gibt nichts, weswegen man mich bemitleiden kann. Man muß mich kreuzigen, mich ans Kreuz nageln und nicht Mitleid haben! Kreuzige, kreuzige, Richter und nachdem du gekreuzigt hast, habe Mitleid. Und da will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen, denn ich suche nicht Fröhlichkeit, sondern Kummer und Tränen! ... Meinst du, du Krämer, daß diese Flasche mir zur Freude war? Kummer, Kummer suchte ich auf ihrem Boden, Kummer und Tränen, und ich habe sie gefunden und habe von ihnen gekostet. Mitleid aber mit uns wird der haben, der mit allen Mitleid hat, und der alles und alle verstanden hat, Er, der einzige; er ist auch der Richter. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ‚Wo ist die Tochter, die sich der bösen und schwindsüchtigen Stiefmutter und den fremden kleinen Kindern geopfert hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, dem lasterhaften Trunkenbold, Mitleid hatte, ohne sich vor seiner Tierheit zu erschrecken?‘ Und er wird sagen, – ‚komm! Ich habe dir schon einmal vergeben ... Habe dir einmal vergeben ... Vergeben sind dir auch jetzt deine vielen Sünden, weil du viel geliebt hast ...‘ Und er wird meiner Ssonja vergeben, wird ihr vergeben; ich weiß es, daß er ihr vergeben wird ... Ich habe es, als ich jetzt bei ihr war, im Herzen gefühlt! ... Und er wird allen gerecht sein und wird vergeben, wie den guten, so auch den bösen, wie den weisen, so auch den einfältigen ... Und wenn er mit allen schon zu Ende sein wird, da wird er auch zu uns sprechen – ‚kommet auch ihr‘ – wird er sagen ‚kommt ihr Betrunkenen, kommt ihr Schwächlinge, kommt ihr Sündigen!‘ Und wir alle werden hervortreten, ohne uns zu schämen, und werden dastehn. Er aber wird sagen: ‚Ihr Schweine! Ihr Ebenbilder des Tieres, ihr viehischen Gesichter, ihr – kommt auch ihr!‘ Und die Weisen und die Klugen werden ausrufen: ‚Herr! Warum nimmst du sie auf?‘ Und er wird sagen – ‚Ich nehme sie auf, ihr Weisen. Ich nehme sie auf, ihr Klugen, weil sich kein einziger von ihnen für dessen würdig hielt ...‘ Und er wird seine Hände gegen uns ausstrecken, und wir werden niedersinken ... und werden weinen ... und alles verstehn! Dann werden wir alles verstehen! ... Und alle werden verstehn ... auch Katerina Iwanowna ... auch sie wird verstehn ... Herr, dein Reich komme.“
Er ließ sich auf die Bank nieder, erschöpft und geschwächt, ohne jemand anzusehen, als hätte er die Umgebung vergessen, und versank in tiefes Sinnen. Seine Worte hatten einen gewissen Eindruck hervorgerufen; für einen Augenblick trat Schweigen ein, bald darauf aber ertönte von neuem Lachen und Schelten.
„Er hat gerichtet!“
„Hat sich vergaloppiert!“
„Ist auch Beamter!“
und solcherlei mehr hörte man.
„Wollen wir gehen, mein Herr!“ – sagte Marmeladoff plötzlich, hob den Kopf und wandte sich an Raskolnikoff. – „Begleiten Sie mich ... Haus Kosel ... im Hofe. Es ist Zeit ... für mich ... zu Katerina Iwanowna ...“
Raskolnikoff hatte längst schon weggehen wollen, und auch selbst gedacht, ihm behilflich zu sein. Marmeladoff zeigte sich viel schwächer in den Beinen, als in seinen Reden, und stützte sich stark auf den jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Verwirrung und Angst packten immer stärker und stärker den Säufer, je mehr sie sich dem Hause näherten.
„Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna,“ – murmelte er erregt, – „auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren raufen wird. Was sind Haare! ... Dummes Zeug sind die Haare! Das sage ich! Es ist sogar besser, daß sie mich raufen wird, aber ich fürchte mich nicht davor ... ich ... ich ... fürchte mich vor ihren Augen ... ja ... vor ihren Augen ... Auch vor den roten Flecken auf den Wangen fürchte ich mich ... und ich fürchte mich – vor ihrem Atem ... Hast du gesehen, wie die Menschen bei dieser Krankheit atmen ... wenn sie erregt sind? Auch vor den weinenden Kindern fürchte ich mich ... Wenn Ssonja ihnen nichts zu essen gegeben hat, dann ... weiß ich nicht, wie ... Ich weiß nicht! Vor Schlägen fürchte ich mich nicht ... Du sollst wissen, mein Herr, daß solche Schläge mir keinen Schmerz, sondern Genuß bereiten ... Denn ohne die kann ich selbst nicht auskommen. Es ist besser. Mag sie mich schlagen, mag sie ihrem Herzen Luft machen ... es ist besser ... Da ist ja das Haus. Es gehört Kosel, einem Schlosser, einem reichen Deutschen ... führe mich!“
Sie traten in den Hof und stiegen in das vierte Stockwerk. Je höher sie die Treppe hinaufstiegen, um so dunkler wurde es. Es war fast elf Uhr, und obwohl es um diese Jahreszeit in Petersburg keine Nacht gibt, war es doch sehr dunkel oben auf der Treppe.
Eine kleine verräucherte Tür am Ende der Treppe war geöffnet. Ein Lichtstumpf beleuchtete ein sehr ärmliches, etwa zehn Schritte langes Zimmer; vom Flur aus konnte man es vollständig übersehen. Alles lag verstreut und in Unordnung umher, besonders zerlumpte Kinderkleider. Vor den hintersten Winkel war ein verlöchertes Bettlaken gezogen. Dort stand wahrscheinlich das Bett. Im Zimmer waren im ganzen zwei Stühle und ein sehr abgerissenes mit Wachstuch bezogenes Sofa, vor dem ein alter ungestrichener Küchentisch ohne Decke, aus Fichtenholz, stand. Auf einer Ecke des Tisches brannte in einem eisernen Leuchter der Lichtstumpf. Es erwies sich, daß Marmeladoff nicht in dem Winkel schlief, sondern in einem Zimmer für sich war, das aber ein Durchgangszimmer war. Die Tür zu den andern Räumen oder vielmehr Käfigen, in die die Wohnung von Amalie Lippewechsel eingeteilt war, stand offen. Dort ging es geräuschvoll und laut zu. Man hörte Lachen. Wie es schien, spielte man dort Karten und trank Tee. Hin und wieder ertönten höchst ungesellschaftliche Reden.
Raskolnikoff erkannte Katerina Iwanowna sofort. Sie war eine furchtbar abgemagerte Frau, von ziemlich hohem Wuchse, und schlank, mit noch schönem, dunkelblondem Haar; auf den Wangen waren die roten Flecke zu sehen. Sie wanderte in dem kleinen Zimmer auf und ab, die Hände an die Brust gepreßt, mit vertrockneten Lippen, und atmete stoßweise und unregelmäßig. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, der Blick aber war scharf und unbeweglich, und dieses schwindsüchtige und erregte Gesicht machte einen schmerzlichen Eindruck bei der Beleuchtung des sterbenden Lichtes, das auf dem Gesichte zitterte. Sie schien Raskolnikoff etwa dreißig Jahre alt zu sein und in der Tat zu Marmeladoff nicht zu passen ... Die Eintretenden hatte sie nicht gehört und nicht bemerkt; ihre Gedanken schienen abwesend zu sein, sie hörte und sah nichts. Im Zimmer war es dumpf, das Fenster war verschlossen; von der Treppe her kam ein mörderlicher Gestank, und die Tür zur Treppe war offen, aus den inneren Räumen drangen durch die geöffnete Tür Wolken von Tabakrauch, – sie hustete, schloß aber die Tür nicht zu. Das kleinste Mädchen im Alter von sechs Jahren etwa, saß zusammengekauert auf der Diele und schlief mit dem Gesicht ans Sofa gelehnt. Der Knabe, ein Jahr älter, stand in einem Winkel, am ganzen Körper zitternd, und weinte. Er hatte wahrscheinlich soeben Schläge bekommen. Das älteste Mädchen, von neun Jahren, hoch und dünn, wie ein Streichholz, stand in einem schlechten und völlig zerrissenen Hemdchen und in einem alten wattierten Mantel, der um die nackten Schultern geworfen und wahrscheinlich vor zwei Jahren gemacht war, da er ihr jetzt kaum bis zu den Knien reichte, in dem Winkel neben dem kleinen Bruder und hielt seinen Hals mit ihrem langen, dünnen Arm umschlungen. Sie schien ihn zu trösten, flüsterte ihm etwas zu und hielt ihn in jeder Weise zurück, damit er ja nicht weine, und gleichzeitig beobachtete sie voll Angst die Mutter mit ihren übergroßen, dunklen Augen, die in dem abgemagerten und erschrockenen Gesichtchen noch größer erschienen. Marmeladoff kniete, ohne das Zimmer zu betreten, an der Tür nieder und schob Raskolnikoff vor sich her. Als die Frau einen Fremden erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen, kam auf einen Augenblick zu sich und schien nachzudenken, warum er eingetreten sei. Aber sie meinte wohl, daß er in die andern Räume wollte, da der ihrige nur ein Durchgangszimmer war. Nachdem sie sich’s so überlegt hatte, ging sie, ohne ihn weiter zu beachten, zu der Flurtür, um sie zu schließen. Da schrie sie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren knienden Mann erblickte.
„Oh!“ – rief sie in blinder Wut. – „Du bist zurückgekehrt! Du Zuchthäusler! Du Unmensch! ... Wo ist das Geld? Was hast du in der Tasche, zeige mir’s! Und die Kleider sind nicht dieselben! Wo ist deine Uniform? Wo ist das Geld? Sprich! ...“
Und sie stürzte sich auf ihn, um ihn zu durchsuchen. Marmeladoff streckte gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um ihr die Durchsuchung der Taschen zu erleichtern. Vom Gelde war keine Kopeke mehr da.
„Wo ist das Geld?“ – schrie sie. – „Oh, Gott, er wird doch nicht alles vertrunken haben! Es waren doch zwölf Rubel in dem Kasten! ...“
Plötzlich packte sie ihn in rasender Wut an den Haaren und zerrte ihn in das Zimmer hinein. Marmeladoff erleichterte ihr die Mühe, indem er auf den Knien demütig hinter ihr herkroch.
„Das ist mir ein Genuß! Das ist für mich kein Schmerz, sondern ein Ge–nuß, mein Herr!“ – rief er aus, während er an den Haaren gezerrt wurde und sogar einmal mit der Stirn gegen den Boden schlug.
Das Kind, das auf der Diele schlief, wachte auf und begann zu weinen. Der Knabe im Winkel fuhr zusammen, erschauerte, schrie auf und stürzte in furchtbarem Schreck, wie in einem Anfalle, zu der Schwester hin. Das älteste Mädchen bebte an allen Gliedern, wie ein Blatt unter einem Windstoß.
„Du hast das Geld vertrunken! Hast alles, alles vertrunken!“ – schrie die arme Frau in Verzweiflung. – „Und die Kleider sind nicht dieselben. Die da sind hungrig, hungrig!“ – (und händeringend zeigte sie auf die Kinder) – „Oh, verfluchtes Leben! Und Sie ... schämen Sie sich nicht“ – mit diesen Worten stürzte sie sich unversehens auf Raskolnikoff. – „Sie da aus der Schenke! Du hast mit ihm getrunken? Hast mit ihm getrunken! Hinaus!“ Der junge Mann schritt eilends hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Die Türe zu den anderen Zimmern wurde sperrweit geöffnet, und einige Neugierige schauten herein. Dreiste, lachende Gesichter mit Zigaretten und Pfeifen im Munde, mit Mützen auf dem Kopfe zeigten sich. Man sah Gestalten in Schlafröcken und mit völlig nackter Brust, in leichter Bekleidung, die an Unanständigkeit grenzte, manche mit Karten in den Händen. Sie amüsierten sich vortrefflich und lachten, als Marmeladoff an den Haaren gezerrt ausrief, daß dies ihm ein Genuß sei. – Man drängte sich sogar in das Zimmer; plötzlich erscholl ein wütendes Gekreische, – Amalie Lippewechsel war herbeigeeilt, um selbst auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und zum hundertsten Mal die arme Frau durch den zornigen Befehl, morgen schon die Wohnung zu räumen, zu erschrecken. Beim Fortgehen gelang es Raskolnikoff die Hand in die Tasche zu stecken, soviel von dem Kupfergelde, das man ihm in der Schenke auf den Rubel herausgegeben hatte, hervorzuholen, als er erfassen konnte, und es unbemerkt auf das Fensterbrett zu legen. Auf der Treppe besann er sich und wollte umkehren. „Was habe ich für eine Dummheit gemacht?“ dachte er. „Sie haben ja Ssonja und ich brauche es doch selbst.“
Nachdem er aber eingesehen hatte, daß es unmöglich war, das Geld zurückzunehmen, und daß er es sowieso nicht zurückgenommen hätte, machte er eine Bewegung mit der Hand und ging nach Hause.
„Ssonja braucht Pomade,“ fuhr er fort, während er auf der Straße ging, und lächelte bitter. „Diese Sauberkeit kostet Geld ... Hm! Ssonjetschka kann vielleicht heute Fiasko machen, denn es ist immer ein Risiko – die Jagd auf dieses Wild ... wie das Graben nach Gold ... da würden sie dann alle ohne mein Geld morgen auf dem Trockenen sitzen ... Ja, die Ssonja! Welch einen Brunnen haben sie zu finden verstanden! Und sie benutzen ihn! Sie benutzen ihn trotz allem! Und haben sich daran gewöhnt! Sie haben geweint und haben sich daran gewöhnt. An alles gewöhnt sich der Schuft – der Mensch!“
Er verfiel in Nachdenken.
„Wenn ich aber gelogen habe,“ rief er plötzlich unwillkürlich aus. „Wenn der Mensch tatsächlich kein Schuft ist, das ganze Geschlecht überhaupt, das heißt das menschliche Geschlecht es nicht ist, so bedeutet das, daß alles Vorurteil ist, bloß eingebildeter Schrecken, und es gibt also keine Hindernisse und so muß es auch sein! ...“
Er erwachte am anderen Tage spät nach einem unruhigen Schlafe; der Schlaf hatte ihn nicht gestärkt. Er erwachte griesgrämig, gereizt und böse, und blickte voll Haß seine Kammer an. Es war ein winziger Raum, sechs Schritt lang, und machte mit seiner gelblichen, staubigen und überall an den Wänden losgelösten Tapete einen kläglichen Eindruck; das Zimmer war so niedrig, daß es einem einigermaßen großen Manne bange wurde, und immer schien es, als könnte man jeden Augenblick mit dem Kopf an die Decke stoßen. Die Möbel entsprachen dem Raume, – es waren drei alte Stühle da, in nicht ganz brauchbarem Zustande, in einer Ecke stand ein gestrichener Tisch, auf dem ein paar Hefte und Bücher lagen; schon aus dem Umstande, wie verstaubt sie waren, konnte man schließen, daß sie lange nicht berührt worden waren. Außerdem stand in dem Zimmer noch ein plumpes, großes Sofa, das fast die ganze Wand und die Hälfte des Zimmers einnahm, einst war es mit Kattun bezogen, jetzt war es zerfetzt; es diente Raskolnikoff als Bett. Er schlief darauf oftmals so, wie er ging und stand, ohne sich auszuziehen, ohne Laken, bedeckt mit einem alten, abgerissenen Studentenmantel, unter dem Kopfe ein kleines Kissen, worunter er alles, was er an Wäsche, reiner und getragener, besaß, stopfte, um die Kopfstelle höher zu machen. Vor dem Sofa stand ein kleines Tischchen. Es hielt schwer, noch verkommener und zerlumpter zu sein, Raskolnikoff aber war das in seiner jetzigen Gemütsverfassung gerade angenehm. Er hatte sich, wie eine Schildkröte in ihrer Behausung, von allen völlig zurückgezogen; und das Gesicht des Mädchens, das verpflichtet war, ihn zu bedienen und das zuweilen in sein Zimmer einen Blick warf, reizte schon seine Galle und verursachte ihm Krämpfe. Das kommt bei manchen Leuten vor, die von einer Manie befallen sind, und die sich auf etwas besonders stark konzentriert haben. Seine Wirtin hatte seit zwei Wochen schon aufgehört, ihm Essen zu geben und er hatte noch nicht gedacht, zu ihr zu gehen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen, obwohl er ohne Mittag saß. Nastasja, die Köchin und das einzige Mädchen der Wirtin, war über die Stimmung des Mieters zum Teil froh und hatte aufgehört, sein Zimmer aufzuräumen und auszukehren; ab und zu jedoch, vielleicht einmal in der Woche, ergriff sie, wie zufällig, den Besen. Sie hatte ihn jetzt geweckt.
„Steh auf, was schläfst du!“ rief sie ihm zu. „Es ist schon zehn Uhr. Ich habe dir Tee gebracht. Willst du Tee? Bist wahrscheinlich schon ganz abgemagert?“
Der junge Mann öffnete die Augen, zuckte zusammen und erkannte Nastasja.
„Ist der Tee von der Wirtin?“ fragte er und erhob sich langsam und mit schmerzlicher Miene vom Sofa.
„Was dir einfällt, – von der Wirtin!“
Sie stellte ihre eigene gesprungene Teekanne mit altem aufgebrühtem Tee vor ihm hin und legte zwei Stück gelben Zucker daneben.
„Nimm das, bitte, Nastasja,“ sagte er, indem er in der Tasche suchte – (er hatte angekleidet geschlafen) – und eine Handvoll Kupfermünzen hervorholte. „Gehe und kaufe mir Weißbrot. Hole auch ein wenig Wurst aus dem Laden, aber billige ...“
„Weißbrot will ich dir sofort bringen, willst du aber nicht anstatt Wurst etwas Kohlsuppe haben? Die Kohlsuppe ist gut, sie ist von gestern. Ich hatte gestern für dich etwas aufbewahrt, aber du kamst erst so spät. Es ist eine gute Kohlsuppe.“
Nachdem sie die Kohlsuppe gebracht hatte, setzte sich Nastasja neben ihm auf dem Sofa hin und begann, während er aß, zu plaudern. Sie war vom Lande und ein sehr geschwätziges Frauenzimmer.
„Praskovja Pawlowna will dich bei der Polizei verklagen,“ sagte sie.
Er verzog das Gesicht.
„Bei der Polizei? Was will sie denn?“
„Du zahlst nicht und räumst das Zimmer nicht. Es ist begreiflich, was sie will.“
„Zum Teufel, das fehlte noch,“ murmelte er und knirschte mit den Zähnen. „Nein, das kommt mir jetzt ... sehr ungelegen ... Sie ist dumm,“ fügte er laut hinzu. „Ich will heute noch zu ihr gehen und mit ihr sprechen.“
„Sie ist dumm, ebenso wie ich; aber du, Kluger, was liegst du da, wie ein Sack, nichts hat man von dir. Früher, sagst du, hast du Kinder unterrichtet, warum machst du aber jetzt nichts?“
„Ich mache ...“ antwortete Raskolnikoff unwillig und finster.
„Was machst du denn?“
„Ich arbeite ...“
„Was arbeitest du denn?“
„Ich denke,“ antwortete er nach einem Schweigen finster.
Nastasja schüttelte sich vor Lachen. Sie war von den Lachlustigen, und wenn man sie zum Lachen reizte, lachte sie lautlos, aber am ganzen Körper bebend und sich schüttelnd, bis sie nicht mehr konnte.
„Hast du viel Geld mit dem Denken verdient?“ brachte sie endlich hervor.
„Ohne Stiefel kann man doch nicht unterrichten. Und übrigens pfeife ich auf alles.“
„Sei nicht zu stolz.“
„Den Unterricht bezahlt man in Kupfer. Was soll man mit ein paar Kopeken anfangen?“ fuhr er unwillig fort, als antworte er den eigenen Gedanken.
„Du möchtest wohl ein ganzes Kapital auf einmal haben?“
Er blickte sie sonderbar an.
„Ja, ein ganzes Kapital,“ antwortete er nach einem Schweigen entschlossen.
„Fang mit kleinem an; du erschreckst einen ja. Soll ich dir jetzt Weißbrot holen oder nicht?“
„Wie du willst!“
„Ach, ich vergaß; gestern ist für dich ein Brief angekommen.“
„Ein Brief! Für mich! Von wem?“
„Von wem er ist – das weiß ich nicht. Ich habe dem Briefträger drei Kopeken aus meiner eigenen Tasche gegeben. Gibst du sie mir wieder?“
„Bring doch den Brief, um Gottes Willen, bring ihn gleich!“ rief Raskolnikoff ganz erregt. „Oh, Gott!“
Nach einer Minute kam der Brief. „Wirklich! Er ist von der Mutter, aus dem R.schen Gouvernement.“ Er erbleichte sogar, als er ihn nahm. Lange schon hatte er keine Briefe erhalten, und jetzt bedrückte noch etwas anderes sein Herz.
„Nastasja, geh fort, um Gotteswillen. Da hast du deine drei Kopeken, geh nur schnell fort, um Gotteswillen.“
Der Brief zitterte in seinen Händen; er wollte ihn nicht in ihrer Anwesenheit öffnen, er wollte mit dem Briefe allein sein. Als Nastasja gegangen war, führte er schnell den Brief an seine Lippen und küßte ihn; dann blickte er lange die Schrift auf dem Kuvert an, die bekannte und liebe, feine und schräge Schrift seiner Mutter, die ihn einst lesen und schreiben gelehrt hatte. Er zögerte, den Brief zu öffnen, schien sich sogar vor etwas zu fürchten. Endlich öffnete er den Brief, einen langen, gewichtigen Brief; zwei große Briefbogen waren dicht beschrieben.
„Mein lieber Rodja,“ schrieb die Mutter, „es ist über zwei Monate her, seit ich mit dir brieflich gesprochen habe; darunter habe ich selbst gelitten, und manche Nacht haben mich die Gedanken nicht schlafen lassen. Aber du wirst mich sicher nicht verurteilen wegen meines ungewollten Schweigens. Du weißt, wie ich dich liebe; du bist unser Einziges, mir und Dunja, du bist unser alles, unsere ganze Hoffnung, unser Trost. Ach, wenn du wüßtest, wie mir war, als ich erfuhr, daß du die Universität schon einige Monate verlassen hast, weil es dir an Mitteln mangelte, und daß das Stundengeben und deine anderen Arbeiten ein Ende genommen haben. Und wie hätte ich dir mit meiner Pension von hundertzwanzig Rubel jährlich helfen können? Die fünfzehn Rubel, die ich vor vier Monaten schickte, hatte ich, wie du auch weißt, von unserem hiesigen Kaufmann Wassilij Iwanowitsch Wachruschin auf die Pension hin geliehen. Er ist ein guter Mensch und war ein Freund deines Vaters. Aber da ich ihm das Recht, die Pension für mich zu empfangen, gegeben hatte, mußte ich warten, bis die Schuld abgetragen war, und das ist soeben erst geschehen, so daß ich die ganze Zeit dir nichts schicken konnte. Jetzt aber, Gott sei Dank, denke ich, dir wieder etwas schicken zu können, und überhaupt wir können jetzt sogar von einem Glück sprechen, und das beeile ich mich, dir mitzuteilen. Zuerst also kannst du es dir vorstellen, lieber Rodja, daß deine Schwester bereits anderthalb Monate bei mir lebt, und daß wir uns nie mehr, in aller Zukunft nicht, trennen werden. Gott sei Dank, ihre Qualen haben ein Ende gefunden, aber ich will dir alles der Reihe nach erzählen, damit du erfährst, wie alles war und was wir bis jetzt vor dir verheimlichten. Als du mir vor zwei Monaten schriebst, du hättest von irgend jemand gehört, daß Dunja stark unter der Grobheit im Hause der Herrschaften Sswidrigailoff zu leiden habe, und von mir genaue Aufklärung verlangtest, – was hätte ich dir damals antworten können? Wenn ich dir die ganze Wahrheit mitgeteilt hätte, so hättest du wahrscheinlich alles liegen lassen, wärest, und sei es zu Fuß, zu uns gekommen, denn ich kenne deinen Charakter und deine Gefühle, du hättest nicht geduldet, daß deine Schwester beleidigt wird. Ich war ganz verzweifelt, aber was sollte ich tun? Und wußte damals selber nicht die ganze Wahrheit. Das Haupthindernis bestand darin, daß Dunetschka, bei ihrem Eintritt in das Haus als Gouvernante im vorigen Jahre volle hundert Rubel voraus erhalten hatte, unter der Bedingung, die Summe monatlich von ihrem Gehalte abzuzahlen, und so konnte sie die Stelle nicht eher aufgeben, als die Schuld getilgt war. Diese Summe aber (jetzt kann ich dir alles erklären, teurer Rodja) hatte sie eigentlich deshalb genommen, um dir die sechzig Rubel zu schicken, die du damals nötig brauchtest, und die du auch im vorigen Jahre von uns erhalten hast. Wir haben dich damals getäuscht; wir schrieben dir, es sei von dem Gelde, das Dunetschka sich früher erspart habe, aber es verhielt sich nicht so, jetzt erst teile ich dir die volle Wahrheit mit, weil sich alles jetzt plötzlich nach Gottes Willen zum besten gewendet hat, und damit du weißt, wie Dunja dich liebt und welch unschätzbares Herz sie hat. Herr Sswidrigailoff behandelte sie zuerst sehr grob und erlaubte sich ihr gegenüber allerhand Unhöflichkeiten und Spöttereien bei Tisch ... Aber ich will all diese trüben Einzelheiten nicht aufzählen, und dich nicht unnütz aufregen, da alles nun ein Ende hat. Kurz, trotz der guten und anständigen Behandlung seitens Marfa Petrownas, der Gemahlin des Herrn Sswidrigailoff, und aller Hausgenossen, hatte es Dunetschka sehr schwer, besonders wenn Herr Sswidrigailoff nach alter Regimentsgewohnheit unter dem Einflusse des Bacchus stand. Aber was geschah später? Stelle dir vor, dieser Wahnwitzige hatte schon seit langem eine Leidenschaft für Dunja gefaßt, aber er verbarg sie immer unter dem Scheine eines groben und hochfahrenden Wesens ihr gegenüber. Vielleicht schämte er sich auch und war unmutig auf sich selbst, daß er, als älterer Mann und Familienvater, sich solchen leichtfertigen Wünschen hingab und war darum auf Dunja unwillkürlich böse. Vielleicht wollte er auch durch seine Grobheit und durch seinen Spott die Wahrheit vor anderen verbergen. Schließlich aber hielt er es nicht mehr aus und wagte Dunja offen einen gemeinen Antrag zu machen und versprach ihr hohe Belohnung. Alles wollte er sogar im Stiche lassen und mit ihr auf ein anderes Gut oder ins Ausland reisen. Du kannst dir ihre Leiden vorstellen! Sofort ihre Stellung aufgeben, konnte sie nicht, – nicht bloß wegen der Schuld, sondern auch um Marfa Petrowna zu schonen, die dadurch Verdacht fassen mußte; damit wäre der Zwist in die Ehe gekommen. Ja, auch für Dunetschka hätte es einen großen Skandal gegeben; so ganz ohne Aufsehen wäre die Sache nicht vorübergegangen. Es gab noch manche andere Gründe, so daß Dunja, noch vor sechs Wochen, in keinem Falle rechnen konnte, aus diesem schrecklichen Hause fortzukommen. Du kennst ja Dunja, weißt, wie klug sie ist, und welch festen Charakter sie besitzt. Dunetschka kann vieles ertragen, und im alleräußersten Falle findet sie immer noch so viel Stärke in sich, daß sie ihre Festigkeit bewahrt. Sie hat nicht mal mir über alles berichtet, um mich nicht aufzuregen, wir haben aber sonst einander oft geschrieben. Es kam jedoch eine unerwartete Lösung. Marfa Petrowna hörte zufällig, wie ihr Mann Dunetschka im Garten anflehte, und da sie alles falsch aufgefaßt hatte, gab sie Dunetschka die Schuld, in der Meinung, sie habe es eingefädelt. Es spielte sich im Garten zwischen ihnen eine fürchterliche Szene ab, – Marfa Petrowna hat sogar Dunetschka geschlagen, wollte nichts hören, schrie aber selbst stundenlang fort und befahl schließlich, Dunja sofort zu mir in die Stadt zu bringen, – auf einem gewöhnlichen Bauernwagen, in den man alle ihre Sachen, – Wäsche, Kleider, alles, wie man es vorfand, ohne es zusammenzulegen und ohne einzupacken, hineinwarf. Bei strömendem Regen mit Schande und Schmach bedeckt, mußte Dunja siebzehn Werst weit im offenen Bauernwagen fahren. Nun überlege, was hätte ich dir, als Antwort auf deinen Brief vor zwei Monaten schreiben sollen? Ich war verzweifelt; die Wahrheit durfte ich dir nicht mitteilen, denn du wärest unglücklich, zornig und empört geworden, ja und was hättest du tun können? Vielleicht hättest du dich ins Verderben gestürzt. Und Dunetschka hatte es mir verboten. Den Brief aber mit Lappalien ausfüllen, während im Herzen solcher Kummer gräbt, habe ich nicht gekonnt. Einen Monat lang gingen in der ganzen Stadt allerhand Klatschereien über diese Geschichte herum, und es war so weit gekommen, daß ich mit Dunja vor verächtlichen Blicken und hämischem Flüstern nicht mal in die Kirche gehen konnte, selbst in unserer Gegenwart wurde laut darüber gesprochen. Alle Bekannten hatten sich von uns abgewandt, alle hatten aufgehört, uns zu grüßen, und ich erfuhr mit Bestimmtheit, daß die Kommis und einige Schreiber die Absicht hatten, uns eine niederträchtige Beleidigung anzutun, indem sie das Tor unseres Hauses mit Teer beschmieren wollten, so daß unsere Wirtsleute verlangten, wir möchten die Wohnung räumen. Das alles war das Werk von Marfa Petrowna; es war ihr gelungen, Dunja in allen Häusern zu beschuldigen und schlecht zu machen. Sie ist ja hier mit allen bekannt, und in diesem Monat kam sie fortwährend in die Stadt, und da sie ziemlich geschwätzig ist und über ihre Familienangelegenheiten zu erzählen liebt, besonders aber bei jedem und allen über ihren Mann klagt, was doch sehr häßlich ist, so hatte sich die ganze Geschichte in kurzer Zeit nicht bloß in der Stadt, sondern auch im Kreise verbreitet. Mich griff’s hart an, Dunetschka aber war stärker, hättest du doch sehen können, wie sie alles ertrug, wie sie mich tröstete und mir Mut zusprach! Sie ist ein Engel! Aber dank der Barmherzigkeit Gottes nahmen unsere Qualen ein Ende, Herr Sswidrigailoff kam zur Besinnung, bereute alles, und wahrscheinlich aus Mitleid mit Dunja legte er Marfa Petrowna volle und klare Beweise der völligen Unschuld von Dunetschka vor, und zwar, – einen Brief, den Dunja noch bevor Marfa Petrowna sie im Garten überraschte, ihm zu schreiben und zu übersenden sich gezwungen sah, um persönliche Erklärungen und das Verlangen geheimer Zusammenkünfte abzulehnen; dieser Brief war nach der Abreise von Dunetschka in den Händen des Herrn Sswidrigailoff geblieben. In diesem Briefe hatte sie ihn in eindringlichster Weise und mit voller Entrüstung gerade wegen seines ehrlosen Benehmens Marfa Petrowna gegenüber getadelt, ihm vorgehalten, daß er Vater und Gatte sei, und ihm schließlich zu verstehen gegeben, wie niedrig es von ihm sei, ein wehrloses und ohnedem schon unglückliches Mädchen zu quälen und noch unglücklicher zu machen. Mit einem Worte, lieber Rodja, dieser Brief ist so edel und rührend geschrieben, daß ich schluchzend ihn las und ihn jetzt noch nur unter Tränen lesen kann. Außerdem kamen zur Rechtfertigung Dunjas die Aussagen der Dienstboten hinzu, die wie gewöhnlich viel mehr gesehen und gehört hatten, als Herr Sswidrigailoff ahnte. Marfa Petrowna war außergewöhnlich bestürzt und ‚von neuem zerschmettert,‘ wie sie uns selbst gestand, aber völlig von der Schuldlosigkeit Dunetschkas überzeugt; am anderen Tage noch, einem Sonntage, fuhr sie direkt in die Kirche und flehte zur Mutter Gottes kniefällig und mit Tränen, ihr die Kraft zu geben, diese neue Prüfung zu überstehen und ihre Pflicht zu erfüllen. Aus der Kirche kam sie zu uns, ohne jemand anderen zu besuchen, erzählte uns alles, weinte bitter und umarmte Dunja voller Reue und bat inständig um ihre Verzeihung. Am selben Morgen noch ging sie gleich von uns in alle Häuser der Stadt, und überall erzählte sie unter Tränen und in für Dunetschka schmeichelhaftesten Ausdrücken von Dunjas Unschuld und ihrem edlen Gemüt und Benehmen. Und nicht genug damit, sie zeigte allen den eigenhändigen Brief Dunetschkas an Sswidrigailoff, las ihn laut vor und erlaubte sogar Abschriften von dem Briefe zu nehmen, – was mir wirklich zu viel scheint. In dieser Weise mußte sie einige Tage nacheinander alles in der Stadt besuchen, weil mancher sich gekränkt fühlte, daß anderen der Vorzug erwiesen war; es wurde also eine Reihenfolge bestimmt, so daß man sie in jedem Hause zu einer festgesetzten Zeit erwartete, und alle wußten, daß an dem und dem Tage Marfa Petrowna dort und dort den Brief vorlesen würde, und zu jedem Vorlesen kamen Leute, auch solche, die den Brief schon ein paarmal, sowohl in ihrem eigenen Hause, als auch bei Bekannten, gehört hatten. Meiner Meinung nach war hierbei vieles, sehr vieles überflüssig, aber Marfa Petrowna hat nun mal so einen Charakter. Sie hat wenigstens die Ehre von Dunetschka vollkommen wiederhergestellt und was an dieser Sache prekär, fiel wie eine untilgbare Schande ihrem Mann, als dem allein Schuldigen zu Lasten, so daß er mir doch zuletzt leid tat; man ist zu streng mit diesem Wahnwitzigen umgegangen. Dunja wurde sofort aufgefordert, in einigen Häusern Unterricht zu geben, allein sie schlug es ab. Überhaupt begannen alle mit einem Male ihr eine besondere Achtung zu zeigen. Dies alles half hauptsächlich ein Ereignis herbeiführen, durch das sich, man kann wohl sagen, jetzt unser ganzes Schicksal ändert. Du sollst wissen, lieber Rodja, daß Dunja einen Antrag von einem Herrn erhalten hat und daß sie ihre Einwilligung bereits gegeben hat, was ich dir eilends hierdurch mitteile. Obwohl die Sache sich auch ohne deinen Ratschlag entschieden hat, wirst du wahrscheinlich weder über mich noch über deine Schwester ungehalten sein; du wirst selbst aus dem Verlauf der Angelegenheit ersehen, daß wir unmöglich warten und die Antwort bis zu dem Empfang deines Briefes hinausschieben konnten. Ja, und du hättest auch nur an Ort und Stelle alles genau beurteilen können. Es ging also folgendermaßen vor sich: Er ist schon Hofrat, heißt Peter Petrowitsch Luschin und ist ein weitläufiger Verwandter von Marfa Petrowna, die diese Angelegenheit sehr gefördert hat. Er begann damit, daß er durch Marfa Petrowna den Wunsch äußern ließ, mit uns bekannt zu werden; er wurde, wie es sich ziemt, empfangen, trank bei uns Kaffee, und am nächsten Tage schickte er einen Brief, in dem er sehr höflich seinen Antrag machte und um eine baldige und bestimmte Antwort bat. Er ist ein arbeitsamer und vielbeschäftigter Mann und will jetzt schleunigst nach Petersburg reisen, so daß für ihn jeder Augenblick kostbar ist. Selbstverständlich waren wir zuerst sehr überrascht, da dies schnell und unerwartet gekommen war. Wir erwogen und überlegten den ganzen Tag miteinander. Er ist ein zuverlässiger Mann, in gesicherten Verhältnissen, nimmt zwei Stellungen ein und besitzt schon eigenes Vermögen. Gewiß, er ist schon fünfundvierzig Jahre alt, hat aber ein ganz angenehmes Äußere und kann noch Frauen gefallen; ja, er ist überhaupt ein sehr solider und anständiger Mann, bloß ein wenig düster und anscheinend hochmütig. Aber vielleicht scheint es bloß so beim ersten Anblick. Ja, und ich gebe dir den guten Rat, lieber Rodja, wenn du ihn in Petersburg sehen wirst, was sehr bald geschehen kann, urteile nicht zu schnell und hitzig, wie es dir eigen ist, wenn bei der ersten Begegnung dir etwas an ihm nicht so gut gefallen will. Ich sage das bloß für alle Fälle, denn ich bin überzeugt, daß er auf dich einen angenehmen Eindruck machen wird. Zudem, um einen fremden Menschen einzuschätzen, muß man sich ihm allmählich und vorsichtig nähern, damit man keinen Fehler begeht und keine Voreingenommenheit faßt, die später sehr schwer zu berichtigen und zu beseitigen ist. Peter Petrowitsch ist, wenigstens nach vielen Anzeichen, ein sehr ehrenwerter Mann. Bei seinem ersten Besuche schon erklärte er, daß er ein resoluter Mann sei, aber daß er in vielem ‚die Überzeugungen der jüngeren Generation‘ – wie er sich ausdrückte – teile, und ein Feind von allen Vorurteilen sei. Er sprach noch über vieles, denn er scheint ein wenig eingebildet zu sein und es zu lieben, daß man ihm zuhöre, aber das ist ja kein Fehler. Ich habe natürlich wenig davon begriffen, aber Dunja versicherte mir, daß er keine sehr große Bildung besitze, aber ein kluger und wie es scheint, auch guter Mensch sei. Du kennst den Charakter deiner Schwester Rodja. Sie ist ein starkes, vernünftiges, geduldiges und großmütiges Mädchen, freilich auch feurigen Herzens, so wie ich sie kenne. Gewiß ist weder auf ihrer, noch auf seiner Seite eine besondere Liebe vorhanden, aber Dunja ist nicht allein ein kluges Mädchen, sondern gleichzeitig auch ein edles Wesen, ein Engel, und wird es sich zur Aufgabe stellen, das Glück des Mannes auszumachen, der seinerseits für ihr Glück Sorge tragen wird; daran aber zu zweifeln haben wir vorläufig keine Ursache, obwohl – offen gestanden – die Sache mir ein wenig zu schnell zustande kam. Außerdem ist er ein berechnender Mann, der sicher einsehen wird, daß sein eigenes Glück in der Ehe um so fester begründet ist, je glücklicher er Dunetschka macht. Was aber irgendwelche Unebenheiten des Charakters, irgendwelche alte Gewohnheiten und sogar ein gewisses Auseinandergehen in den Anschauungen anbetrifft – (und das ist auch in den glücklichsten Ehen nicht zu vermeiden) – so sagte mir Dunetschka, daß sie in dieser Hinsicht auf sich vertraut, daß es keinen Grund gibt, darüber beunruhigt zu sein und daß sie vieles ertragen kann, wenn nur gegenseitige Ehrlichkeit und Gerechtigkeit herrscht. Mir schien er zum Beispiel zuerst etwas hart, aber das kann auch von seiner Offenherzigkeit kommen und so wird es wohl auch sein. Bei seinem zweiten Besuche, als er das Jawort hatte, äußerte er im Gespräch, daß er schon früher, ehe er Dunja kennengelernt habe, beschlossen habe, ein ehrliches, aber armes Mädchen zu heiraten und unbedingt eines, das die Armut schon gekostet habe, denn ein Mann solle nach seiner Meinung seiner Frau durch nichts verpflichtet sein, sondern das sei das richtige, daß die Frau den Mann als ihren Wohltäter betrachte. Ich will hinzufügen, daß er sich ein wenig weicher und zarter ausdrückte, als ich es schreibe, denn ich habe den richtigen Wortlaut vergessen, erinnere mich bloß des Sinnes, und zudem hatte er das keineswegs mit Absicht gesagt, sondern hatte sich offenbar in Eifer gesprochen, darum versuchte er später, es abzuschwächen und zu mildern. Dennoch erschien es mir ein wenig zu scharf, und ich sprach darüber nachher mit Dunja. Sie aber antwortete mir sogar, daß ‚Worte noch keine Taten sind,‘ und das ist auch wahr. Ehe Dunja sich zu diesem Schritt entschloß, verbrachte sie eine schlaflose Nacht, und in der Meinung, daß ich schliefe, stand sie auf und ging die ganze Nacht im Zimmer auf und ab; schließlich ließ sie sich auf die Knie nieder und betete lange und inbrünstig vor der Mutter Gottes, und am andern Morgen erklärte sie mir, sie hätte sich entschieden.
Ich habe schon erwähnt, daß Peter Petrowitsch sich jetzt nach Petersburg begibt. Er hat dort große Geschäfte vor, will in Petersburg ein öffentliches Bureau als Advokat eröffnen. Er beschäftigt sich seit langem schon mit Vertretung von allerhand Zivilklagen und Prozessen, und hat vor kurzem einen bedeutenden Prozeß gewonnen. Nach Petersburg muß er auch deswegen reisen, weil er dort im Senate eine bedeutende Sache zu vertreten hat. So kann er auch dir, lieber Rodja, sehr nützlich sein, ja in jeder Hinsicht, und wir – ich und Dunja – meinen nun, daß mit dem heutigen Tage deine künftige Karriere mit Sicherheit beginnt und daß dein Schicksal klar vor Augen liegt. Oh, wenn es sich schon verwirklicht hätte! Das wäre so ein Glück, daß man es nicht anders, als eine unmittelbare Gnadenspende des Allmächtigen an uns betrachten müßte. Das ist Dunjas Traum. Wir haben schon gewagt, ein paar Worte in dieser Hinsicht Peter Petrowitsch zu sagen. Er äußerte sich vorsichtig und meinte, daß er gewiß ohne einen Sekretär nicht auskommen könne, und da sei es selbstverständlich besser, das Gehalt dafür einem Verwandten als einem Fremden zu zahlen, wenn er sich bloß für den Posten eigne, – (du solltest dich dazu nicht eignen!) – gleichzeitig aber zweifelte er, daß das Universitätsstudium die Zeit für die Arbeiten in seinem Bureau übrig ließe. Diesmal blieb die Angelegenheit dabei stehen, aber Dunja denkt an nichts anderes mehr als an diese Aussicht. Sie ist seit einigen Tagen fieberhaft erregt, und hat sich einen ganzen Plan ausgedacht, daß du nämlich späterhin Mitarbeiter und sogar Kompagnon von Peter Petrowitsch in seinen Rechtssachen werden könntest, um so mehr, als du in der juristischen Fakultät bist. Ich bin mit ihr vollkommen einig, lieber Rodja, teile alle ihre Pläne und Hoffnungen und halte ihre völlige Verwirklichung für möglich. Und trotzdem Peter Petrowitsch sich jetzt zurückhaltend verhält, was sehr erklärlich ist, da er dich noch nicht kennt, so ist Dunja fest überzeugt, daß sie alles durch ihren guten Einfluß auf ihren künftigen Mann erreichen wird. Wir haben uns natürlich in acht genommen, Peter Petrowitsch etwas von unseren Zukunftsträumen und hauptsächlich davon, daß du sein Kompagnon werden sollst, merken zu lassen. Er ist ein nüchterner Mann und hätte es vielleicht sehr kalt aufgenommen, weil er alles für Phantasterei angesehen hätte. Ebensowenig haben wir, weder ich, noch Dunja, einen Ton über unsere feste Hoffnung gesprochen, daß er uns helfen soll, dich mit Geld zu unterstützen, solange du auf der Universität bist; wir haben es deswegen unterlassen, weil es sich späterhin jedenfalls von selbst ergeben und weil er sicher ohne viele Worte es uns anbieten wird – (er wird doch Dunetschka es nicht abschlagen können!) – um so mehr, als du seine rechte Hand im Bureau werden kannst, und diese Unterstützung nicht als eine Wohltat, sondern als verdientes Gehalt empfangen sollst. Dunetschka will es so einrichten, und ich bin mit ihr vollkommen einverstanden. Außerdem unterließen wir es, darüber zu sprechen, weil ich bei eurer bevorstehenden Begegnung dich auf gleichem Fuße mit ihm stehen sehen wollte. Wenn Dunja mit ihm voll Entzücken über dich sprach, antwortete er, daß man jeden Menschen selbst zuerst sehen, und zwar sehr nah sehen müsse, um über ihn urteilen zu können, und daß er sich das Recht vorbehalte, seine Meinung über dich zu bilden, erst nachdem er dich kennengelernt habe. Weißt du was, mein teurer Rodja, mir scheint es aus gewissen Gründen, – die übrigens gar nichts mit Peter Petrowitsch zu tun haben, sondern so meine eigenen gewissen, persönlichen, vielleicht auch altweibischen Launen sind, – also mir scheint es, daß ich vielleicht besser tue, wenn ich nach ihrer Verheiratung allein, so wie jetzt, und nicht mit ihnen zusammenleben werde. Ich bin völlig überzeugt, daß er so erkenntlich und zartfühlend sein wird, selber mir das Angebot zu machen, bei der Tochter zu bleiben und wenn er darüber bis jetzt nicht gesprochen hat, so kam es selbstverständlich daher, weil es auch ohne Worte so anzunehmen ist, aber ich will es ablehnen. Ich habe in meinem Leben mehr als einmal erfahren, daß Schwiegermütter den Männern nicht besonders genehm sind, und ich möchte niemandem im geringsten zur Last fallen und möchte auch selbst vollkommen frei sein, solange ich noch einen Bissen zu essen und solche Kinder, wie dich und Dunetschka, zu lieben habe. Wenn es mir möglich ist, will ich mich in der Nähe von euch beiden niederlassen, denn das angenehmste habe ich zum Schluß des Briefes aufgehoben, Rodja. Erfahre nun, mein lieber Freund, daß wir alle vielleicht sehr bald wieder zusammen sein und alle drei uns nach fast dreijähriger Trennung umarmen werden! Es ist schon bestimmt beschlossen, daß ich und Dunja nach Petersburg kommen, wann aber – das weiß ich noch nicht, in jedem Falle sehr, sehr bald, vielleicht schon in einer Woche. Alles hängt von den Anordnungen Peter Petrowitschs ab, der uns sofort, wenn er sich in Petersburg umgesehen hat, Nachricht geben will. Er will die Vorbereitungen zur Heirat aus verschiedenen Erwägungen möglichst beschleunigen, und wenn möglich, die Hochzeit noch vor dem großen Fasten feiern, sollte es aber infolge der kurzen Frist nicht ausführbar sein, dann gleich nach den Osterfeiertagen. Oh, mit welch einem Glück werde ich dich an mein Herz pressen! Dunja ist vor Freude dich wiederzusehen ganz aufgeregt und sagte einmal im Scherz, daß sie schon deswegen allein Peter Petrowitsch heiraten würde. Sie ist ein Engel! Sie schreibt dir nicht, hat mich aber gebeten, dir zu schreiben, daß sie über so vieles mit dir sprechen müsse, über so vieles, daß ihre Hand sich jetzt gegen die Feder sträube, denn in ein paar Zeilen könne man nichts mitteilen, sondern sich nur aufregen. Sie bat mich, dich innig, innig zu umarmen und dir unzählige Küsse zu senden. Trotzdem wir uns vielleicht sehr bald sehen werden, will ich dir doch in diesen Tagen Geld, soviel ich vermag, zuschicken. Jetzt, wo alle wissen, daß Dunetschka Peter Petrowitsch heiratet, hat sich auch mein Kredit plötzlich gebessert, und ich weiß bestimmt, daß Afanassi Iwanowitsch mir jetzt auf Konto der Pension sogar bis zu fünfundsiebzig Rubel zu leihen bereit ist, so daß ich dir vielleicht fünfundzwanzig oder auch dreißig Rubel schicken kann. Ich würde noch mehr schicken, aber ich fürchte unsere Reisekosten. Obwohl Peter Petrowitsch so gut war, einen Teil der Ausgaben für unsere Reise nach der Residenz zu übernehmen, – er hat sich nämlich selbst angeboten, unser Gepäck und einen großen Koffer für seine Rechnung hinzuschicken (er arrangiert es in irgendeiner Weise durch Bekannte), müssen wir doch mit der Reise nach Petersburg rechnen und damit, daß man dort nicht ohne einen Groschen ankommen kann und wenigstens für die ersten paar Tage das Nötige haben muß. Wir haben übrigens alles genau überschlagen, und es zeigte sich, daß uns die Reise nicht zu teuer zu stehn kommt. Von uns bis zur Eisenbahn sind es nur neunzig Werst, und wir haben für jeden Fall mit einem bekannten Bauern schon abgeschlossen; die Fortsetzung der Reise aber werden wir, ich und Dunetschka, glücklich und zufrieden in der dritten Klasse machen. Dann kriege ich es vielleicht fertig, dir nicht nur fünfundzwanzig, sondern dreißig Rubel zu schicken. Nun aber genug: zwei Bogen habe ich voll geschrieben und es ist kein Platz mehr da. Unsere ganze Geschichte habe ich dir erzählt, – nun, es hat sich auch ein Haufen Ereignisse angesammelt. Jetzt, mein teurer Rodja, umarme ich dich bis zu unserem nahen Wiedersehen und sende dir meinen mütterlichen Segen. Rodja, liebe deine Schwester Dunja; liebe sie so, wie sie dich liebt, und vergiß nicht, daß sie dich grenzenlos, mehr als sich selbst, liebt. Sie ist ein Engel und du Rodja, bist unser alles, unsere ganze Hoffnung und unser Trost. Sei du bloß glücklich, dann werden auch wir glücklich sein. Betest du zu Gott, Rodja, wie früher und glaubst du auch an die Güte des Schöpfers und unseres Erlösers? Ich fürchte im Herzen, daß der neueste moderne Unglaube auch dich berührt haben kann. Wenn es so ist, dann bete ich für dich. Erinnerst du dich, mein Lieber, wie du, als dein Vater noch lebte, in deiner Kindheit auf meinen Knien deine Gebete stammeltest, und wie glücklich waren wir alle damals. Lebe wohl, oder besser, – auf Wiedersehen! Ich umarme dich innig, innig und küsse dich unzähligemal.
Dein bis zum Tode
Pulcheria Raskolnikowa.“
Fast die ganze Zeit, während Raskolnikoff den Brief las, von den ersten Zeilen an, war sein Gesicht naß von Tränen; als er aber geendet hatte, war sein Gesicht bleich und zuckte, und ein hartes, bitteres, böses Lachen lag auf seinen Lippen. Er lehnte seinen Kopf an das dünne und abgenutzte Kissen und dachte lange, lange nach. Sein Herz schlug stark, und die Gedanken wogten hin und her. Es wurde ihm schließlich zu dumpf und eng in dieser gelben Kammer, die einem Käfig oder einem Kasten glich. Die Augen und die Gedanken verlangten eine freie Weite. Er nahm seinen Hut und ging hinaus, diesmal ohne Angst, jemand auf der Treppe zu begegnen: das hatte er vergessen. Er schlug den Weg in der Richtung nach Wassiljew Ostroff ein, den W.ski-Prospekt entlang, als hätte er dort eine eilige Angelegenheit, er ging aber, wie es seine Gewohnheit war, ohne den Weg zu beachten, flüsterte vor sich hin und sprach hin und wieder laut mit sich selbst; so daß er den Vorübergehenden auffiel, und viele hielten ihn für betrunken.
Der Brief der Mutter hatte ihn sehr erschüttert. Über die Hauptsache aber, das Moment, um das sich alles drehte, war er auch nicht einen Augenblick im Zweifel, nicht einmal während des Lesens. Ihrem Wesen nach war die Sache für ihn entschieden: „Diese Heirat kommt nicht zustande, solange ich lebe, und hol’ der Teufel den Herrn Luschin!“
„Die ganze Geschichte ist klipp und klar,“ murmelte er höhnisch lachend und im voraus triumphierend über die Folgen seines Entschlusses. „Nein, liebe Mama, nein, Dunja, ihr könnt mich nicht täuschen! ... Und da entschuldigen sie sich, daß sie mich nicht um Rat gefragt und ohne mich die Sache gemacht haben! Haben auch Grund dazu! Sie meinen, daß man es nicht mehr zerreißen kann; wir wollen mal sehen, ob es möglich ist oder nicht! Sie haben auch eine glänzende Ausrede gefunden – Peter Petrowitsch sei so beschäftigt, so beschäftigt, daß er nicht anders, als per Postpferde, fast per Eisenbahn, heiraten kann. Nein, Dunetschka, ich durchschaue alles und weiß, worüber du mit mir so viel sprechen möchtest. Ich weiß auch, worüber du die ganze Nacht im Zimmer auf- und abgehend nachgedacht hast, und was du vor dem Bilde der Gottesmutter, das bei Mama im Schlafzimmer hängt, gebetet hast. Es ist schwer, Golgatha hinaufzugehen ... Hm ... Also es ist endgültig beschlossen. Awdotja Romanowna, Sie geruhen also einen tüchtigen und resoluten Mann zu heiraten, der eigenes Vermögen besitzt – (der schon eigenes Vermögen besitzt, das ist solider und ehrfurchtgebietender) – der zwei Stellungen einnimmt und der die Überzeugungen unserer jüngeren Generation teilt (wie Mama sagt) und der, wie es scheint, gut ist, wie Dunetschka selbst sagt. Dieses ‚wie es scheint‘ ist das großartigste dabei! Und Dunetschka heiratet dieses ‚wie es scheint‘! ... Großartig! Großartig!
Es ist jedoch interessant, warum Mama mir über ‚die jüngere Generation‘ geschrieben hat? Bloß um die Person zu charakterisieren oder mit einer weitliegenden Absicht, – um mich für Herrn Luschin günstig zu stimmen? Oh, ihr Schlauen! Es wäre auch interessant, noch einen Umstand aufzuklären, – wie weit war an jenem Tage und in jener Nacht ihre beiderseitige Offenherzigkeit und auch in der folgenden Zeit? Wurde alles unter ihnen Wort für Wort besprochen, oder haben beide gefühlt, daß sie, eine wie die andere, ein und dasselbe auf dem Herzen hatten, so daß es überflüssig war, alles laut werden zu lassen und womöglich zu viel zu sagen. Sicher war es größtenteils so gewesen; man sieht’s aus dem Briefe. Mama schien er ein wenig hart, und die naive Mama wandte sich sofort an Dunja mit Bemerkungen. Die wurde selbstverständlich böse und ‚antwortete verstimmt‘. Das ist begreiflich! Wen wird es nicht wütend machen, wenn eine Sache auch ohne naive Fragen klar genug ist, und wenn ausgemacht ist, daß daran nicht mehr zu rütteln ist. Und warum schreibt sie mir: ‚Rodja, liebe Dunja! Sie liebt dich mehr als sich selbst‘. Wird sie etwa im geheimen von Gewissensbissen gequält, daß sie eingewilligt hat, die Tochter für den Sohn zu opfern. ‚Du bist unser Trost, du bist unser Alles! Oh, Mama! ...‘“
Der Zorn packte ihn immer stärker, und wäre Herr Luschin ihm jetzt begegnet, er hätte sich an ihm vergriffen!
„Hm ... das ist wahr,“ spann er die Gedanken weiter, die sich wie im Wirbelwinde in seinem Kopfe drehten. „Das ist wahr, daß man sich ‚einem Menschen allmählich und vorsichtig nähern muß, um ihn kennenzulernen,‘ Herr Luschin ist einem auch so verständlich. Die Hauptsache ist ‚ein tüchtiger und wie es scheint guter Mensch‘; es hat ja was zu sagen, daß er das Gepäck übernommen hat und für seine Rechnung den großen Koffer transportiert! Nun, ist er denn nicht gut? Die beiden aber, die Braut und die Mutter, akkordieren mit einem Bauern und reisen in einem mit Strohmatten gedeckten Wagen – ich kenn es ja selber! Das hat ja auch nichts zu sagen! Es sind bloß neunzig Werst, weiter aber ‚fahren wir zufrieden und glücklich dritter Klasse‘ – also über tausend Werst. Es ist auch vernünftig, – man muß sich nach der Decke strecken; aber Sie, Herr Luschin, was denken Sie dabei? Es ist ja Ihre Braut ... Sollten Sie etwa nicht wissen, daß Mutter sich das Geld zur Reise auf ihre Pension hin leiht? Gewiß, Sie haben hier ein gemeinsames kaufmännisches Geschäft, ein Unternehmen auf gegenseitigen Vorteil und mit gleichlautenden Anteilen, folglich fallen die Ausgaben auch in gleiche Teile; wie nach dem Sprichworte, – Salz und Brot zusammen, Tabak aber jeder für sich. Ja, aber auch hier hat der geschäftstüchtige Mann die beiden ein wenig übers Ohr gehauen, – das Gepäck kommt ihm billiger als ihre Reise zu stehen, und vielleicht kostet das Gepäck ihm gar nichts. Sehen denn beide es nicht oder wollen sie es nicht sehen? Sie sind ja zufrieden, sind beide zufrieden! Wenn man aber denkt, daß dies erst der Anfang ist und daß das dicke Ende später nachkommt! Was fällt einem hier am meisten auf, – nicht der Geiz, nicht die schmutzige Rechnerei, sondern der Ton des Ganzen. Das ist ja der künftige Ton nach der Verheiratung, die warnende Prophezeiung ... Ja, und die Mama, warum ist sie so flott? Mit was kommt sie nach Petersburg? Mit drei Rubel oder mit zwei ‚Scheinchen,‘ wie die ... Alte sagt ... hm! Wovon will sie denn in Petersburg leben? Sie hat schon aus irgendwelchen Anzeichen herausgefunden, daß sie mit Dunja nach der Verheiratung nicht zusammenleben kann, nicht mal in der ersten Zeit. Der liebe Mensch hat sich auch hier sicher irgendwie versprochen, hat es zu verstehen gegeben, obwohl Mama sich mit beiden Händen dagegen sträubt, – ‚ich will,‘ sagt sie, ‚es selbst ablehnen‘. Ja, auf was hofft sie denn noch – mit ihrer Pension von hundertundzwanzig Rubel, von der noch die Schuld an Afanassi Iwanowitsch abgezogen wird? Sie strickt dann zu Hause Tücher, stickt Manschetten und verdirbt sich die alten Augen, und das bringt ihr zwanzig Rubel im Jahre ein zu der Pension, das kenne ich. Also, hofft man doch und baut auf die Freigiebigkeit und die Großmut des Herrn Luschin. ‚Er wird es mir selbst anbieten,‘ meint sie, ‚wird mich darum bitten.‘ Nein, darauf kann sie lange warten. So geht es stets diesen schönen Schillerschen Seelen, – bis zum letzten Moment schmücken sie einen Menschen mit Pfauenfedern, bis zum letzten Moment glauben sie an das Gute und nicht an das Böse im Menschen; obwohl sie die Kehrseite der Medaille ahnen, belügen sie sich lieber selbst, weil sie sich vor der Wahrheit fürchten. Mit beiden Händen wehren sie sich dagegen, bis ihnen schließlich der ausgeschmückte Mensch eigenhändig einen Nasenstüber gibt. Es wäre interessant zu wissen, ob Herr Luschin Orden hat; ich gehe eine Wette ein, daß er den Orden der heiligen Anna im Knopfloche stecken hat und daß er ihn zu Diners bei allerhand Kaufleuten und Lieferanten trägt. Vielleicht wird er ihn auch zur Feier seiner Hochzeit anlegen! übrigens, hol ihn der Teufel! ... Nun, gegen Mama ist nichts zu sagen, sie ist einmal so, aber was ist mit Dunja? Liebe Dunetschka, ich kenne sie doch! Sie war bereits zwanzig Jahre alt, als wir uns zum letztenmal sahen, ihren Charakter habe ich schon damals verstanden. Die Mama schreibt ‚Dunetschka kann vieles ertragen‘. Das wußte ich schon früher. Das wußte ich bereits vor zweiundeinhalb Jahren, und seit jener Zeit habe ich nachgedacht, zweiundeinhalb Jahre habe ich gerade darüber nachgedacht, wie vieles Dunetschka ertragen kann? Denn Herrn Sswidrigailoff mit all dem Folgenden ertragen zu können, heißt viel ertragen können. Jetzt aber meint sie, wie auch Mama, daß man den Herrn Luschin als zukünftigen Ehemann ebenfalls ertragen kann, der die Theorie über die Vorzüge von Frauen vertritt, die von Hause aus bettelarm sind und folglich von ihren Männern nur Wohltaten empfingen, und der dies fast bei der ersten Zusammmkunft auseinandersetzt. Nun, gut, wollen wir annehmen, er habe ‚sich versprochen,‘ obwohl er doch ein verständiger Mann ist, der sich vielleicht gar nicht versprochen, sondern sofort ihre richtige Stellung klargestellt wissen wollte, aber Dunja, Dunja, was ist mit ihr? Sie durchschaut doch den Menschen klar und deutlich, und muß mit ihm leben. Sie würde lieber schwarzes Brot essen und Wasser dazu trinken, als ihre Seele verkaufen; sie würde ihre sittliche Freiheit für keinen Komfort hergeben; für ganz Schleswig-Holstein würde sie sie nicht hergeben, geschweige denn für einen Herrn Luschin. Nein, Dunja war nicht so, soweit ich sie kannte, und ... hat sich sicher nicht verändert! ... Was ist da zu sagen! Sswidrigailoffs sind bitter! Es ist bitter, sein ganzes Leben als Gouvernante für zweihundert Rubel in der Provinz herumzuwandern, aber ich weiß, daß meine Schwester lieber als Neger zu einem Plantagenbesitzer oder als lettischer Bauer zu einem Deutschen in den Ostseeprovinzen sich verdingen würde, als ihren Geist und ihr sittliches Empfinden durch die Verbindung mit einem Manne zu besudeln, den sie nicht achtet und mit dem sie nichts verbindet – auf ewig, aus persönlichem Vorteil bloß! Und wäre Herr Luschin sogar aus reinstem Golde oder aus einem einzigen Brillanten, auch dann würde sie nie einverstanden sein, die gesetzliche Bettgenossin des Herrn Luschin zu werden! Warum willigt sie denn ein? Wo ist der Schlüssel? Wo ist die Lösung? Die Sache ist klar, – ihrer selber wegen, um eigener Annehmlichkeiten willen, selbst um sich vor dem Tode zu retten, wird sie sich nicht verkaufen, für einen anderen aber verkauft sie sich! Für einen geliebten, für einen vergötterten Menschen verkauft sie sich! Da haben wir das ganze Rätsel, – für den Bruder, für die Mutter verkauft sie sich, verkauft ihr Bestes. Oh, hier wird man auch bei Gelegenheit das sittliche Empfinden unterdrücken; man wird die Freiheit, die Ruhe, das Gewissen sogar, alles, alles – auf den Trödelmarkt bringen. Fahr dahin, Leben! Mögen bloß diese geliebten Wesen glücklich sein! Nicht genug dessen, man denkt sich noch eine eigene Kasuistik aus, geht bei den Jesuiten in die Lehre und beruhigt sich selbst vielleicht für eine Zeit, überzeugt sich selbst, daß es so gut sei, tatsächlich für einen guten Zweck nötig sei. Man ist nun einmal so, und alles ist so klar wie der Tag. Es ist ja selbstredend, daß hier niemand anders als Rodion Romanowitsch Raskolnikoff mitspricht und im Vordergrunde steht. Nun, warum denn auch nicht, – man kann sein Glück begründen, ihn auf der Universität unterstützen, ihn zum Teilhaber machen, sein ganzes Schicksal sichern. Vielleicht wird er später ein reicher Mann, wird als angesehener, geachteter, auch vielleicht als berühmter Mann sein Leben beenden! Und die Mutter? Ja, es handelt sich um Rodja, den teuren Rodja, den Erstgeborenen! Und warum soll man nicht um solch eines Erstgeborenen willen selbst die Tochter opfern! Oh, ihr lieben und einfältigen Seelen! Man wird in diesem Falle vielleicht auch das Los einer Ssonjetschka nicht verschmähen! Ssonjetschka, Ssonjetschka Marmeladowa, die ewige Ssonjetschka, solange die Welt besteht! Habt ihr beide auch das Opfer, dieses Opfer genau ermessen? Habt ihr es? Reicht die Kraft aus? Ist es zum Besten? Ist es vernünftig? Wissen Sie auch Dunetschka, daß das Los von Ssonjetschka in keiner Weise schlimmer ist als Ihr Los mit Herrn Luschin? ‚Liebe ist nicht vorhanden,‘ schreibt die Mama. Was, wenn aber außer Liebe auch keine Achtung vorhanden ist, sondern im Gegenteil sich Widerwille, Verachtung und Ekel schon eingestellt haben, was dann? Und es kommt dabei auf eins heraus, daß man auch hier auf Sauberkeit achtgeben muß. Ist es nicht etwa so? Verstehen Sie, verstehen Sie auch, was diese Sauberkeit zu bedeuten hat? Verstehen Sie, daß die Sauberkeit der Frau von Luschin gleichbedeutend mit der Sauberkeit von Ssonjetschka ist, vielleicht aber auch schlimmer, gemeiner und ekliger, weil Sie, Dunetschka, doch mit einem Überschuß von Annehmlichkeiten rechnen, dort aber handelt es sich einfach ums Verhungern! Diese Sauberkeit kommt teuer, sehr teuer zu stehen, Dunetschka! Und wenn nun die Kräfte nicht ausreichen, werden Sie es bereuen? Wieviel Kummer, Trauer, Flüche und Tränen folgen nach, tief verborgen, da Sie doch keine Marfa Petrowna sind! Und was wird dann aus der Mutter werden? Sie ist jetzt schon voll Unruhe und quält sich; wie dann, wenn sie alles klar und deutlich durchschauen wird? Und was wird mit mir? ... Ja, was haben Sie denn tatsächlich von mir gedacht? Ich will Ihr Opfer nicht, Dunetschka, ich will es nicht, Mama! Es soll nicht geschehen, solange ich lebe, es soll nicht sein, nicht sein! Ich nehme es nicht an!“
Er kam plötzlich zu sich und blieb stehen.
„Es soll nicht geschehen! Was willst du denn tun, damit es nicht geschieht? Willst du es verbieten? Was für ein Recht hast du? Was kannst du ihnen versprechen, um dir solch ein Recht anzueignen? Dein ganzes Schicksal, die ganze Zukunft ihnen widmen, wenn du die Universität absolviert und eine Stelle erhalten hast? Davon haben wir gehört, das sind aber Träume, was nun, jetzt? Es muß doch jetzt etwas, sofort etwas getan werden, verstehst du? Was tust du jetzt? Du beraubst sie. Sie erhalten das Geld, indem sie die Pension von hundert Rubel versetzen und sich bei den Herrschaften Sswidrigailoff verdingen. Wie willst du sie, du zukünftiger Millionär, du Zeus, der über das Schicksal verfügt, wie willst du sie vor Sswidrigailoffs, vor Afanassi Iwanowitsch Wachruschin bewahren? Etwa nach zehn Jahren? Inzwischen wird die Mutter vor lauter Stricken, vielleicht auch von Weinen, längst erblindet sein; vielleicht vor lauter Fasten zugrunde gehen. Und die Schwester? Denk mal nach, was nach zehn Jahren oder in diesen zehn Jahren mit der Schwester geschehen kann? Ist es dir gegenwärtig?“
So quälte er sich und peitschte sich mit diesen Fragen; es bereitete ihm sogar einen gewissen Genuß. Und alle diese Fragen sie waren ihm nicht neu und unerwartet; sie waren alt, lange herumgetragen und längst vorhanden. Sie marterten sein Herz schon lange. Seit langer, sehr langer Zeit war in ihm diese Schwermut entstanden, war gewachsen, hatte sich angesammelt, war zur Reife gekommen, hatte sich konzentriert und die Form der entsetzlichen, wilden und phantastischen Frage angenommen, die sein Herz und seinen Kopf marterte und nach einer Lösung schrie. Der Brief von der Mutter hatte ihn jetzt wie ein Blitz getroffen. Jetzt war keine Zeit mehr, schwermütig zu sein, passiv zu leiden und zu erwägen, daß die Fragen unlösbar sind, sondern es muß unbedingt gehandelt werden, schnell gehandelt werden. Um jeden Preis muß ich mich für etwas entscheiden oder ...
„Oder sich vom Leben ganz und gar lossagen!“ rief er plötzlich in größter Erregung aus. – „Das Schicksal, so wie es ist, ein für allemal geduldig hinnehmen und alles in sich ersticken, sich von jeglichem Rechte zu wirken, zu leben und zu lieben, lossagen!“
„Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was es heißt, wenn man nirgendwo mehr hingehen kann?“ erinnerte er sich plötzlich der gestrigen Frage Marmeladoffs, „denn es müßte doch so sein, daß jeder Mensch irgendwo hingehen könnte ...“
Plötzlich zuckte er zusammen, – ein Gedanke, auch von gestern, ging wieder durch seinen Kopf. Er zuckte aber nicht zusammen, weil dieser Gedanke ihm neu war. Er kannte ihn schon, er ahnte, daß er unbedingt „kommen wird“ und erwartete ihn sogar; auch war er nicht erst vom gestrigen Tage. Aber das andere war, daß dieser Gedanke vor einem Monat und von gestern noch bloß ein Traum war, jetzt aber ... jetzt erschien er ihm nicht mehr als Traum, sondern in einem neuen drohenden und völlig unbekannten Lichte, und er wurde dessen plötzlich bewußt ... Mit Keulenhieben schlug es ihn nieder, und vor seinen Augen wurde es dunkel. Er sah sich schnell um, als suche er etwas. Er wollte sich hinsetzen und suchte eine Bank; er war auf dem K.schen Boulevard. Nicht weit von ihm, etwa hundert Schritte, bemerkte er eine. Er ging eiligst darauf zu, auf dem Wege dahin aber ereignete sich ein Zwischenfall, der auf einige Minuten seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Während er sich nach einer Bank umsah, bemerkte er – ungefähr zwanzig Schritte vor sich – eine Frauensperson, zuerst schenkte er ihr so wenig Beachtung, wie all den Gegenständen, die an ihm vorbeiglitten. Es geschah ihm oft, daß er nach Hause kam und sich des Weges nicht entsann, den er gegangen war; so dahinzuwandern war ihm zur Gewohnheit geworden. Die Frauensperson aber, die vor ihm ging, hatte so etwas Sonderbares und Auffallendes an sich, daß seine Aufmerksamkeit allmählich an ihr haften blieb, – zuerst gegen seinen Willen und zu seinem Verdruß, dann aber mit sich steigerndem Interesse. Er wollte sich klarmachen, was an dieser Frauensperson Sonderbares war. Sie war wahrscheinlich ein noch sehr junges Mädchen; ging in dieser Hitze mit unbedecktem Kopfe, ohne Sonnenschirm und ohne Handschuhe und pendelte eigentümlich mit den Armen. Sie hatte ein leichtes seidenes Kleidchen an, das sehr bedenklich angezogen und kaum zugeknöpft war, und hinten an der Taille, gerade, wo der Rock anfing, war es zerrissen, ein ganzes Stück hing lose herunter. Um den entblößten Hals war ein kleines Tuch umgeworfen und fiel auf der einen Seite schief herab. Außerdem fiel es ihm auf, daß das Mädchen unsicher ging, stolperte und sogar schwankte. Diese Erscheinung erregte also die ganze Aufmerksamkeit Raskolnikoffs. Er holte das Mädchen bei der Bank ein; sie aber warf sich in eine Ecke der Bank, lehnte den Kopf an die Rücklehne und schloß die Augen, anscheinend vor äußerster Ermattung. Als Raskolnikoff sie näher ansah, begriff er sofort, daß sie völlig betrunken war. Es war ein so sonderbarer und widerwärtiger Anblick, daß er an seiner Wirklichkeit zweifelte. Er sah vor sich ein junges Gesichtchen von sechzehn, oder gar erst fünfzehn Jahren, mit hellblonden Haaren, sehr hübsch, aber unnatürlich gerötet und allem Anscheine nach ein wenig aufgedunsen. Das junge Mädchen schien nicht ganz bei Bewußtsein zu sein; das eine Bein hatte sie über das andere geschlagen und weiter vorgestreckt, als anständig war; jedenfalls war es ihr nicht bewußt, daß sie auf der Straße war.
Raskolnikoff setzte sich nicht hin, wollte aber auch nicht weggehen; er blieb unschlüssig vor ihr stehen. Dieser Boulevard ist immer ziemlich leer, jetzt aber in der zweiten Nachmittagsstunde und bei dieser Hitze war fast niemand zu sehen. Nur etwa fünfzehn Schritte weiter, am Ende des Boulevards war seitwärts ein Herr stehengeblieben, der allem Anscheine nach die größte Lust hatte, an das junge Mädchen mit gewissen Absichten heranzutreten. Er hatte sie wahrscheinlich von weitem erblickt und war ihr nachgeeilt, Raskolnikoff aber hatte seinen Weg gekreuzt. Er warf ihm feindliche Blicke zu, die unbemerkt bleiben sollten und wartete voll Ungeduld, bis der Lump fortgegangen wäre, und er zu seinem Rechte käme. Die Sache war klar. Der Herr war etwa dreißig Jahre alt, kräftig, wohlgenährt, mit roten Lippen und kleinem Schnurrbart, und sehr elegant gekleidet. Raskolnikoff ärgerte sich über ihn; er bekam plötzlich Lust, diesen gutgenährten Gecken in irgendeiner Weise zu beleidigen. So verließ er das junge Mädchen und trat an den Herrn heran.
„He, Sie Sswidrigailoff! Was suchen Sie hier?“ rief er ihm zu, ballte die Fäuste und lachte mit vor Wut bleichen Lippen.
„Was soll das heißen?“ fragte der Herr streng, zog die Augenbrauen zusammen und maß ihn mit einem hochmütigen Blick.
„Sie sollen sich packen, heißt das!“
„Wie wagst du, Kanaille! ...“
Und er erhob sein Stöckchen. Raskolnikoff stürzte sich mit geballten Fäusten auf ihn, vollständig vergessend, daß der kräftige Herr mit ein paar solchen, wie er, fertig würde. In diesem Augenblicke aber packte ihn jemand von hinten, und zwischen beide trat ein Schutzmann.
„Ich bitte, meine Herren, sich nicht an öffentlichen Plätzen zu prügeln. Was wünschen Sie? Wer bist du?“ wandte er sich streng an Raskolnikoff, nachdem er dessen Lumpen erblickt hatte.
Raskolnikoff sah ihn aufmerksam an. Es war ein braves Soldatengesicht mit grauem Schnurrbart und Backenbart und einem verständigen Blick.
„Sie brauche ich gerade,“ rief er aus und faßte ihn bei der Hand. „Ich bin der ehemalige Student Raskolnikoff ... Das können auch Sie erfahren!“ wandte er sich an den Herrn. „Kommen Sie bitte mit, ich will Ihnen etwas zeigen ...“
Er nahm den Schutzmann bei der Hand und führte ihn zu der Bank.
„Sehen Sie, sie ist ganz betrunken, soeben kam sie von dem Boulevard her. Wer weiß, wer sie ist, aber sie sieht nicht aus, wie eine gewerbsmäßige. Es ist wahrscheinlicher, daß man sie irgendwo betrunken gemacht und verführt hat ... zum erstenmal ... verstehen Sie ... und hat sie dann auf die Straße gebracht. Sehen Sie, wie das Kleid zerrissen ist, sehen Sie, wie es angezogen ist, – man hat sie angekleidet, nicht sie selber, und ungeschickte Hände, Männerhände haben sie angekleidet. Das sieht man doch. Sehen Sie aber bitte dorthin, – diesen Geck, mit dem ich mich soeben beinahe geprügelt hätte, kenne ich nicht, ich sehe ihn zum erstenmal. Er hat sie auch auf der Straße bemerkt, hat gesehen, daß sie betrunken, besinnungslos betrunken ist, und nun möchte er furchtbar gern an sie herankommen, und sie abfangen, und sie in diesem Zustande irgendwo hinschleppen ... Es ist sicher so, glauben Sie mir, ich irre mich nicht. Ich habe gesehen, wie er sie beobachtet und verfolgt hat, ich habe ihn bloß daran gehindert, und er wartet nun, bis ich weggehe. Sehen Sie, er ist jetzt ein paar Schritte weitergegangen und bleibt stehen, als drehe er sich eine Zigarette ... Wie können wir sie ihm entreißen? Wie können wir sie nach Hause schaffen, – denken Sie doch darüber nach!“
Der Schutzmann hatte im Nu alles verstanden und begriffen. Die Absichten des kräftigen Herrn waren ihm klar, mit dem jungen Mädchen aber mußte etwas geschehen. Der Veteran beugte sich über sie, um sie näher zu betrachten und ein aufrichtiges Mitleid drückte sich in seinen Zügen aus.
„Ach, wie schade!“ sagte er und schüttelte den Kopf. „Sie ist ja noch ein Kind. Man hat sie verführt, das ist sicher. Hören Sie, mein Fräulein,“ begann er sie zu rufen. „Wo wohnen Sie?“
Das junge Mädchen öffnete die müden, schläfrigen Augen, blickte stumpf den Fragenden an und machte eine abwehrende Handbewegung.
„Hören Sie,“ sagte Raskolnikoff. „Hier haben Sie,“ er suchte in der Tasche und zog zwanzig Kopeken hervor, die er noch fand, „hier haben Sie zu einer Droschke, und lassen Sie sie durch einen Kutscher nach Hause bringen. Wenn wir bloß Ihre Wohnung erfahren könnten.“
„Fräulein, hören Sie, Fräulein!“ begann von neuem der Schutzmann, nachdem er das Geldstück in Empfang genommen hatte. „Ich will Ihnen sofort eine Droschke besorgen und will Sie selbst begleiten. Wohin befehlen Sie? Ah? Wo wohnen Sie?“
„Geht fort! ... Laßt mich in Ruhe! ...“ murmelte das Mädchen und wehrte von neuem mit der Hand ab.
„Ach, wie schlecht! Ach, welch eine Schande, Fräulein, welch eine Schande!“ sagte der Schutzmann und schüttelte mit dem Kopfe, in Entrüstung und Mitleid. „Das ist eine Aufgabe!“ wandte er sich an Raskolnikoff und sah ihn wieder flüchtig von Kopf bis zu Füßen an. Wahrscheinlich erschien er ihm merkwürdig, – ein Mensch in solchen Lumpen, der Geld hergab.
„Haben Sie sie weit von hier gefunden?“ fragte er ihn.
„Ich sagte Ihnen – sie ging mit wankenden Schritten vor mir, hier, auf dem Boulevard. Als sie zu der Bank kam, fiel sie sofort hin.“
„Ach, welch eine Schande jetzt in der Welt herrscht, Herrgott! So blutjung und schon betrunken! Man hat sie verführt, das ist sicher. Auch das Kleidchen ist zerrissen ... Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt um sich greift ... Ja, sie wird wahrscheinlich eine Adlige sein, von den armen ... Jetzt gibt es viele solche. Dem Aussehen nach ist sie von den zarten, ganz wie ein Fräulein ...“ und er beugte sich wieder über sie.
Vielleicht wuchsen bei ihm zu Hause auch solche Töchter heran, „ganz wie Fräuleins und von den zarten,“ mit Gewohnheiten der Feinerzogenen und mit angenommener Modesucht ...
„Die Hauptsache ist,“ sagte Raskolnikoff, „daß dieser Schuft sie nicht bekommt! Warum soll er sie noch schänden! Man sieht ja, was er will, sehen Sie, der Schuft, er geht nicht weg.“
Raskolnikoff sprach laut und zeigte mit der Hand auf ihn. Jener hörte es und wollte wieder böse werden, aber besann sich und begnügte sich mit einem verächtlichen Blick. Dann ging er langsam zehn Schritt weiter und blieb wieder stehen.
„Das kann man verhindern, daß er sie bekommt,“ antwortete der Schutzmann in Gedanken. „Wenn sie bloß sagen würde, wohin man sie bringen soll, so aber ... Fräulein, hören Sie, Fräulein!“ er beugte sich zu ihr.
Sie öffnete plötzlich die Augen, blickte aufmerksam die beiden an, als hätte sie etwas verstanden, stand von der Bank auf und ging in dieselbe Richtung zurück, woher sie gekommen war.
„Pfui, schämt euch, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen!“ sagte sie und wehrte wieder mit der Hand ab.
Sie ging schnell, aber auch, wie früher, stark schwankend.
Der feine Herr ging ihr nach, aber in einer anderen Allee, und verlor sie nicht aus den Augen.
„Haben Sie keine Sorge, ich will schon aufpassen!“ sagte entschlossen der bärtige Schutzmann und folgte dem Mädchen.
„Ach, wie stark die Unsittlichkeit jetzt um sich greift!“ wiederholte er laut und seufzte.
Plötzlich schien Raskolnikoff mit einem Schlage wie verwandelt.
„Hören Sie mal!“ rief er dem Schutzmann nach. Der wandte sich um.
„Lassen Sie es. Was geht es Sie an? Lassen Sie es. Möge er sich amüsieren“ (er zeigte auf den Stutzer). „Was geht es Sie an?“
Der Schutzmann begriff ihn nicht und starrte ihn an. Raskolnikoff lachte auf.
„Na nu!“ sagte der Schutzmann, machte eine abwehrende Handbewegung und ging dem Stutzer und dem jungen Mädchen nach; wahrscheinlich hielt er Raskolnikoff entweder für einen Verrückten oder für etwas Schlimmeres.
„Meine zwanzig Kopeken hat er mitgenommen!“ sagte Raskolnikoff wütend, als er allein zurückgeblieben war. „Nun, mag er auch von dem, von dem andern nehmen und das Mädchen mit ihm gehen lassen, damit wird es auch enden ... Und wozu habe ich mich hineingemischt? Um zu helfen? Steht es mir denn zu, jemand zu helfen? Habe ich denn ein Recht dazu? Mögen sie doch einander lebendig auffressen, – was geht es mich an? Und wie durfte ich diese zwanzig Kopeken fortgeben? Gehören sie denn mir?“
Bei diesen sonderbaren Worten wurde es ihm schwer zumute. Er setzte sich auf die nun leere Bank. Seine Gedanken waren verwirrt ... Und es war ihm kaum möglich, in diesem Augenblicke einen Gedanken zu fassen. Er wollte sich vollkommen vergessen, alles vergessen, dann erwachen und ganz von neuem beginnen ...
„Armes Mädchen!“ sagte er, nachdem er die leere Ecke der Bank erblickte. „Sie wird zu sich kommen, wird weinen, und dann erfährt es die Mutter ... Zuerst wird sie sie schlagen, ihr die Rute geben, schmerzhaft und schmachvoll, vielleicht wird sie sie aus dem Hause jagen ... Und wenn sie sie nicht verjagt, werden es doch allerhand Darjas Franzowna erfahren, und das Mädchen wird aus einer Hand in die andere gehen ... Dann folgt das Krankenhaus – und das passiert stets mit denen, die bei sehr ehrenwerten Müttern leben und im geheimen lose Streiche verüben, – nun, und dann ... folgt wieder das Krankenhaus ... Wein ... Kneipen ... und dann nochmals das Krankenhaus ... und in zwei oder drei Jahren ist sie ein Krüppel, und im ganzen hat sie ein Alter von neunzehn oder auch bloß achtzehn Jahren erreicht ... Habe ich denn nicht genug solche gesehen? Wie sind sie aber so geworden? So und nicht anders sind sie es geworden ... Pfui! Mögen Sie es! Man sagt, es muß so sein. Jedes Jahr, sagt man, muß ein gewisser Prozentsatz draufgehen ... irgendwohin ... wahrscheinlich zum Teufel, um die übrigen zu erfrischen und ihnen nicht hinderlich zu sein. Prozentsatz! Die Menschen haben in der Tat herrliche Worte gefunden, – sie sind so beruhigend und wissenschaftlich noch dazu. Es ist gesagt – ein Prozentsatz muß sein, also kein Anlaß, um sich zu beunruhigen. Ja, hätte man ein anderes Wort dafür, nun dann ... würde es vielleicht beunruhigender sein ... Was aber, wenn auch Dunetschka in irgendeiner Weise in diesen Prozentsatz hineinkommt! ... Und wenn nicht in diesen, dann in einen anderen! ... Aber wohin gehe ich denn?“ – dachte er plötzlich. – „Sonderbar. Ich ging doch aus irgendeinem Grunde von Hause weg. Als ich den Brief gelesen hatte, ging ich fort ... Ich ging zu Rasumichin auf Wassiljew Ostroff ... jetzt erinnere ich mich. Aber wozu denn eigentlich? Und warum kam mir gerade jetzt der Gedanke zu Rasumichin zu gehen? Das ist sonderbar.“
Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer von seinen früheren Kommilitonen. Raskolnikoffs Eigentümlichkeit auf der Universität war, daß er fast keine Bekannten hatte, sich von allen zurückzog, zu niemandem hinging und ungern jemand bei sich empfing. Bald wandte man sich auch von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften, noch an Gesprächen, noch an Zerstreuungen – an nichts nahm er teil. Er arbeitete sehr eifrig, ohne auf sich Rücksicht zu nehmen; man achtete ihn deswegen, aber niemand liebte ihn. Er war sehr arm, abweisend stolz und unmitteilsam, als ob er etwas zu verheimlichen hätte. Manchem seiner Kommilitonen schien es, als sehe er auf sie alle, wie auf Unmündige herab, als hätte er sie alle in der Entwicklung, im Wissen und in Lebensanschauung überholt und als betrachte er ihre Anschauungen und ihre Interessen wie etwas Unreifes.
Rasumichin war er aus irgendeinem Grunde nähergekommen, das heißt, eigentlich nicht so nähergekommen, daß er ihm gegenüber mitteilsam und offener geworden wäre. Man konnte eben zu Rasumichin in keinem anderen Verhältnisse stehn. Er war ein ungemein lustiger und mitteilsamer Bursche und gut bis zur Einfalt. Unter dieser Einfalt verbargen sich jedoch Tiefe und Würde. Die besten seiner Kameraden wußten es, und alle liebten ihn. Er war sehr klug, konnte aber zuweilen wirklich täppisch sein. Sein Äußeres war charakteristisch – hochgewachsen, hager, schwarzhaarig und immer schlecht rasiert. Zuweilen suchte er Händel und genoß den Ruf eines bärenstarken Menschen. Eines Nachts hatte er in einer lustigen Gesellschaft mit einem Hiebe einen baumlangen Hüter der Ordnung niedergeschlagen. Trinken konnte er unmenschlich, aber er konnte auch wieder gar nicht trinken; manchmal verübte er Streiche, die ans Unerlaubte grenzten, aber er konnte auch Ruhe halten. Rasumichin war es auch eigen, daß ihn kein Mißerfolg verblüffte, und das Schlimmste schien ihn nicht beugen zu können. Er vermochte es, gegebenenfalls auf einem Dachboden zu hausen, höllischen Hunger und ungewöhnliche Kälte zu ertragen. Er war sehr arm und verschaffte sich ganz und gar seinen Unterhalt durch alle möglichen Arbeiten, für die er eine Unmenge Quellen hatte. Einmal verbrachte er einen ganzen Winter im ungeheizten Zimmer und begründete es damit, daß es sich in der Kälte besser schliefe. Gegenwärtig war er ebenfalls gezwungen, die Universität zu verlassen, aber nicht auf lange Zeit, und er mühte sich aus allen Kräften, seine Verhältnisse zu verbessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können. Raskolnikoff war seit vier Monaten nicht bei ihm gewesen, Rasumichin aber wußte sogar nicht dessen Wohnung. Vor zwei Monaten war er ihm einmal zufällig auf der Straße begegnet. Raskolnikoff aber hatte sich abgewandt und war sogar auf die andere Seite hinübergegangen, damit Rasumichin ihn nicht sehen sollte. Rasumichin hatte ihn wohl erkannt, ging aber ebenso vorbei, weil er den Freund nicht stören wollte.
„Ich hatte noch vor kurzem wirklich die Absicht, Rasumichin um Arbeit zu bitten, daß er mir Stunden oder etwas anderes verschaffen solle ...“ dachte Raskolnikoff. – „Aber womit kann er mir jetzt helfen? Gesetzt den Fall, er verschafft mir Stunden, ja, gesetzt den Fall, er teilt mit mir sein letztes Gerstchen, wenn er eines hat, so daß ich mir selbst Stiefel kaufen und meine Kleidung instand setzen kann, um Stunden zu geben ... hm ... Aber was weiter? Was kann ich mit den paar Groschen machen? Ist es das, was ich jetzt brauche? Es ist lächerlich, daß ich zu Rasumichin gehe ...“
Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehe, beunruhigte ihn mehr, als er sich selbst eingestehen wollte, und voll Unruhe suchte er eine böse Bedeutung in dieser anscheinend ganz gewöhnlichen Handlung.
„Wie will ich nur die ganze Angelegenheit durch Rasumichin in Ordnung bringen, habe ich denn als letzten Ausweg nur Rasumichin gefunden?“ fragte er verwundert sich selbst.
Er dachte nach und rieb sich die Stirn, und plötzlich, ganz unerwartet, überraschte ihn nach langem Sinnen ein neuer Gedanke.
„Hm ... zu Rasumichin ...“ sagte er auf einmal völlig ruhig, wie fest entschlossen. „... zu Rasumichin gehe ich bestimmt ... aber nicht jetzt ... Ich will zu ihm hingehen ... am andern Tage nach dem ... wenn das schon vorbei ist, und wenn ich von vorne anfange ...“
Da kam er zu sich.
„Nach dem,“ rief er aus und sprang von der Bank auf. „Ja, wird das überhaupt geschehen? Wird es tatsächlich geschehen?“
Er ging fort, ja er rannte beinahe fort; er wollte nach Hause zurückkehren, doch das war ihm entsetzlich, zu Hause, – dort in der Ecke, zwischen den vier öden Wänden, über einen Monat schon reifte der grausige Plan – und er ging, wohin die Füße ihn führten.
Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand Schüttelfrost, Frost in dieser Hitze! Fast bewußtlos, mit großer Überwindung begann er alles, was ihm begegnete, zu betrachten, als suche er Zerstreuung, aber das gelang ihm schlecht, er überraschte sich immer wieder bei seinem Gespenst. Wenn er aber auffahrend wieder den Kopf erhob und sich ringsum umblickte, vergaß er sofort, worüber er soeben nachgedacht hatte und wo er war. In dieser Weise durchwanderte er den ganzen Wassiljew Ostroff, kam zu der kleinen Newa hinaus, überschritt die Brücke und wandte sich den Inseln zu. Das frische Grün und die erquickende Luft taten seinen müden Augen wohl, die an Stadtstaub, Kalk und an beengende und bedrückende Häuser doch gewöhnt waren. Hier gab es weder eine dumpfe Luft, noch Gestank, noch Schenken. Doch es währte nicht lange, und es gingen auch diese neuen angenehmen Empfindungen in krankhafte und aufregende über. Ab und zu blieb er vor einer aus üppigem Grün lugenden Villa stehn, blickte durch den Zaun hindurch und sah in der Ferne auf den Balkonen und Terrassen elegante Frauen und in den Gärten spielende Kinder. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den Blumen, sie schaute er am längsten an. Er begegnete auch schönen Wagen, Reitern und Amazonen, verfolgte sie voll Neugier mit den Blicken und vergaß sie, wenn sie kaum seinen Augen entschwunden waren. Einmal blieb er auch stehn und zählte sein Geld nach – es waren etwa dreißig Kopeken.
„Zwanzig gab ich dem Schutzmann, drei für den Brief an Nastasja, also habe ich gestern Marmeladoffs siebenundvierzig oder fünfzig Kopeken hinterlassen,“ dachte er, indem er aus irgendeinem Grund nachrechnete, bald aber hatte er vergessen, warum er das Geld aus der Tasche hervorgeholt hatte.
Er erinnerte sich wieder daran, als er an einer Speiseanstalt, einer Art Garküche, vorbeiging und fühlte, daß er Hunger hatte. Er trat ein, trank ein Gläschen Branntwein und nahm eine Pastete, die er auf dem Wege zu Ende aß. Er hatte sehr lange schon keinen Branntwein mehr getrunken, der tat denn auch im Nu seine Wirkung, obwohl es nur ein einziges Gläschen war. Seine Füße wurden schwer, und er fühlte einen starken Drang zu schlafen. Er kehrte um, um nach Hause zu gehen, als er aber Petrowski Ostroff schon erreicht hatte, blieb er in völliger Erschöpfung stehen, ging abseits des Weges in ein Gebüsch, fiel aufs Gras hin und schlief im selben Augenblick ein. In krankhaften Zuständen zeichnen sich Träume oft durch ungewöhnliche Deutlichkeit, Klarheit und außerordentliche Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit aus. Es erscheint zuweilen ein seltsames Bild, die Umgebung aber und der ganze Gang der Vorstellung sind so wahrscheinlich und mit solchen feinen unerwarteten und dem Gesamtbilde künstlerisch entsprechenden Einzelheiten verbunden, daß derselbe Träumer sie in Wirklichkeit nicht so ausdenken kann, mag er auch selbst ein Künstler, wie Puschkin oder Turgenjeff sein. Solche krankhafte Träume bleiben stets lange in der Erinnerung haften und üben einen starken Eindruck auf den zerrütteten und angegriffenen Organismus eines Menschen aus. Raskolnikoff hatte solch einen Traum. Er träumt sich als Kind in der kleinen Provinzialstadt. Er ist sieben Jahre alt und geht an einem Feiertage gegen Abend mit seinem Vater außerhalb der Stadt spazieren. Es ist eine graue trübe Zeit, der Tag drückend, die Gegend genau so, wie sie in seiner Erinnerung lebt; in seiner Erinnerung ist sie ihm nicht so klar, als sie ihm jetzt im Traume erscheint. Das Städtchen liegt vor ihm, wie ein aufgeschlagenes Buch; ringsum kein Weidenstrauch; sehr weit, ganz am Horizonte hebt sich dunkel ein Wäldchen ab. Einige Schritte von dem äußersten städtischen Gemüsegarten steht eine Schenke, eine große Schenke, die auf ihn stets einen höchst unangenehmen Eindruck machte, ihm Furcht einflößte, wenn er auf dem Spaziergange mit dem Vater vorbeiging. Dort traf man stets eine große Menge an; sie brüllten, lachten, schimpften, sangen so scheußlich und heiser, und prügelten sich so oft; rings um die Schenke lungerten stets betrunkene und schreckliche Gestalten ... Wenn er ihnen begegnete, drückte er sich fester an den Vater und zitterte am ganzen Körper. Neben der Schenke führte ein Weg, ein Landweg vorbei, stets mit schwarzem Staub bedeckt. Der Weg zog sich schlängelnd weiter, und etwa nach dreihundert Schritten bog er rechts um den städtischen Friedhof ab. Mitten auf dem Friedhofe erhob sich eine steinerne Kirche mit grüner Kuppel, in die er ein paarmal im Jahre mit Vater und Mutter zum Gottesdienst ging, wenn für seine längst verstorbene Großmutter, die er nie gesehen hatte, eine Seelenmesse abgehalten wurde. Da nahmen sie stets „Kutje“[7] auf einem weißen Teller, in einer Serviette, mit, und die „Kutje“ war aus Zucker, Reis und Rosinen zubereitet, und die Rosinen waren in Form eines Kreuzes in den Reis gesteckt. Er liebte diese Kirche und die alten Heiligenbilder, die meist ohne Einfassung waren, und den alten Priester mit dem zitternden Haupte. Neben dem Grabhügel der Großmutter, auf dem ein Grabstein war, lag auch das kleine Grab seines jüngsten Bruders, der sechs Monate alt gestorben war, und den er auch nicht gekannt hatte, an dessen Dasein er sich nicht erinnern konnte. Man hatte ihm aber erzählt, daß er einen kleinen Bruder gehabt habe, und jedesmal, wenn er den Friedhof besuchte, bekreuzigte er sich voll Andacht an dem kleinen Grabhügel, verneigte sich und küßte die Erde. Und nun träumte er: er geht mit dem Vater zum Friedhof, und sie gehen an der Schenke vorbei; er hält den Vater an der Hand und blickt voll Schrecken zu der Schenke hin. Ein besonderer Umstand fesselt seine Aufmerksamkeit, – diesmal scheint hier ein Volksfest zu sein, ein Haufen geputzter Bürgerfrauen, Weiber, Männer und allerhand Gesindel steht da herum. Alle sind betrunken, alle singen, und neben der Treppe der Schenke steht ein Wagen – ein seltsamer Wagen. Es ist ein großer Wagen, vor den große Lastpferde gespannt werden, und auf dem man Waren und Weinfässer befördert. Er liebt es, diesen ungeschlachten Gäulen mit den langen Mähnen und den dicken Beinen zuzusehen, wie sie langsam in gleichmäßigem Schritt dahinschreiten, einen ganzen Berg ohne die geringste Anstrengung hinter sich herziehend, als wäre es ihnen leichter mit dem Wagen als ohne ihn zu gehen. Jetzt aber war merkwürdigerweise vor solch einen großen Wagen ein kleines, mageres, braunes Bauernpferd gespannt, eines von jenen, die – wie er es oft gesehen hatte – sich mit hochbeladenen Wagen voll Holz oder Heu abquälen müssen, um so mehr, wenn der Wagen im Schmutze oder in alten Wagenspuren stecken bleibt. Dann hauen die Bauern darauf los, peitschen sie schmerzhaft, oft auf das Maul und über die Augen. Das tut ihm so weh, so weh anzusehen, daß ihm die Tränen kommen; die Mutter führt ihn dann immer von dem Fenster fort. – Plötzlich erhebt sich ein Lärm – aus der Schenke kommen mit Geschrei, Gesang und mit Balalaikas[8] betrunkene, völlig betrunkene, große Bauern heraus, in blauen und roten Hemden, mit übergeworfenen Mänteln.
„Setzt euch, setzt euch alle!“ ruft einer, ein junger Bursche mit dickem Halse und fleischigem, dunkelrotem Gesichte. – „Ich fahre euch alle hin, setzt euch darauf!“ Mit lautem Lachen erschollen die Ausrufe:
„So eine Schindmähre soll uns ziehen.“
„Bist du von Sinnen, Mikolka, – so eine kleine Stute vor diesen Wagen zu spannen?“
„Das Pferdchen ist sicher seine zwanzig Jahre alt, Brüder!“
„Setzt euch, ich fahre euch alle zusammen!“ ruft von neuem Mikolka, springt als erster auf den Wagen, ergreift die Zügel und pflanzt sich in seiner ganzen Größe vorne auf dem Wagen auf. „Mit dem Braunen ist Matwei vorhin losgezogen,“ schreit er vom Wagen. „Diese Mähre treibt mir bloß die Galle ins Blut, ich möchte sie totschlagen, frißt umsonst den Hafer. Ich sage – setzt euch! Ich lasse sie im Galopp laufen! Sie muß Galopp laufen!“ Und er nimmt die Peitsche in die Hand und bereitet sich voll Wonne vor, das Pferd zu schlagen.
„Setzt euch doch!“ ruft man lachend in der Menge. „Hört doch, sie wird im Galopp laufen.“
„Sie ist wahrscheinlich schon zehn Jahre nicht mehr im Galopp gelaufen.“
„Sie wird schön springen!“
„Keine Angst, Brüder, nehmt jeder eine Peitsche, und drauf los!“
„Was ist da zu schonen! Schlagt los!“
Alle springen mit Gelächter und Witzen in den Wagen. Sechs Mann sind hereingekrochen, und noch ist Platz. Sie nehmen ein dickes und rotbäckiges Weib noch hinauf, ein Weib in einem Kleide von rotem Kattun, mit einem Kopfputze aus Glasperlen, an den Füßen lederne Bauernschuhe; sie knackt Nüsse und lacht. Ringsum in der Menge lacht man auch, und in der Tat, warum soll man auch nicht lachen, – so eine abgemagerte Mähre soll solch eine Last im Galopp ziehen! Zwei Burschen im Wagen nehmen je eine Peitsche, um Mikolka zu helfen. „Los!“ ruft er, die Mähre zieht aus Leibeskräften an; vom im Trabe laufen kann nicht die Rede sein, sie kann nicht mal im Schritt losgehen, sie trippelt bloß auf einem Fleck, stöhnt und keucht unter den Hieben der drei Peitschen, die auf sie wie Hagel niederprasseln. Das Gelächter auf dem Wagen und in der Menge wird stärker, Mikolka aber wird wütend und peitscht immer heftiger, als glaube er wirklich, sie zum Galopp treiben zu können.
„Nehmt mich auch mit, Brüder!“ ruft ein Bursche aus der Menge, der Lust bekommen hatte, mitzufahren.
„Setzt euch! Setzt euch alle hinein!“ schreit Mikolka. „Sie wird alle ziehen. Ich peitsche sie zu Tode!“ Und er schlägt los, schlägt das Pferd in einem fort und weiß vor Raserei nicht, womit er es noch schlagen soll.
„Papa, lieber Papa!“ ruft der Knabe dem Vater zu. –
„Papa, was tun sie? Papa, sie schlagen das arme kleine Pferd!“
„Komm, laß uns gehen!“ sagte der Vater. „Betrunkene Dummköpfe treiben ihren Unfug; laß uns gehen, sieh nicht hin!“ und er will ihn fortführen, der Knabe aber reißt sich los und läuft zu dem Pferde hin. Dem aber geht es schon schlecht. Es schnappt nach Luft, steht still, zieht von neuem an und fällt beinahe hin.
„Peitscht es zu Tode!“ schreit Mikolka. „Mag es kaput gehen. Ich peitsche es zu Tode!“
„Bist du kein Christ, du Scheusal?“ ruft ein alter Mann aus der Menge.
„Hat man es je erlebt, daß so ein Pferd diese Last ziehen soll,“ fügte ein anderer hinzu.
„Du quälst es zuschanden!“ ruft ein dritter.
„Schweigt still! Es ist mein Eigentum. Ich kann damit tun, was ich will. Setzt euch noch dazu in den Wagen! Setzt euch alle hinein! Ich will, daß es im Galopp läuft! ...“
Ein lautes Lachen übertönte plötzlich alles, – die Mähre wollte sich der scharfen Schläge erwehren und begann in ihrer Bedrängnis auszuschlagen. Sogar der alte Mann mußte lächeln. Es war auch ein zu komisches Bild, – so eine abgebrauchte Mähre schlägt plötzlich aus. Zwei Burschen aus der Menge verschaffen sich Peitschen und springen herzu, um das Pferd von zwei Seiten zu schlagen.
„Schlagt sie auf das Maul, peitscht sie über die Augen, über die Augen!“ schreit Mikolka.
„Brüder, wollen wir ein Lied singen!“ ruft jemand vom Wagen, und alle darinnen folgten sogleich der Aufforderung. Ein ausgelassenes Lied erschallt, ein Tamburin rasselt, der Refrain wird gepfiffen. Das Weib knackt Nüsse und lacht vergnügt.
... Er läuft neben dem Pferde, er eilt nach vorne, er sieht, wie man es über die Augen schlägt, direkt über die Augen! Er weint. Sein Herz krampft sich zusammen, die Tränen fließen. Einer von den Peitschenden fährt ihm ins Gesicht; er fühlt es nicht, er ringt die Hände, schreit auf, stürzt zu dem alten Manne mit dem grauen Barte hin, der seinen Kopf schüttelt und das mißbilligt. Ein Weib packt seine Hand und will ihn fortführen, er reißt sich los und läuft wieder zu dem Pferde hin. Es hat keine Kraft mehr, noch einmal schlägt es aus.
„Hol dich der Teufel!“ schreit Mikolka wütend. Er wirft die Peitsche von sich, bückt sich und zieht vom Boden des Wagens eine lange und dicke Deichselstange hervor, ergreift sie mit beiden Händen und schwingt sie mit gewaltiger Anstrengung auf das Pferd nieder.
„Er schlägt das Pferd tot!“ schreit einer.
„Er zerschmettert es!“
„Es ist mein Eigentum!“ brüllt Mikolka und läßt die Stange mit voller Wucht niedersausen.
Ein dumpfer Schlag.
„Haut es mit der Peitsche! Warum steht ihr da!“ ruft man aus der Menge.
Mikolka holt zum zweiten Male aus, und ein neuer Schlag saust auf den Rücken der unglücklichen Mähre nieder. Sie fällt beinahe auf die Hinterbeine, springt aber auf und ruckt und ruckt aus letzter Kraft hin und her, um den Wagen von der Stelle zu bringen; von allen Seiten empfängt sie Peitschenhiebe, die Deichselstange erhebt sich von neuem und saust zum dritten und vierten Male nieder. Mikolka ist wütend, daß er das Pferd nicht mit einem Schlage töten kann.
„Es ist zäh!“ ruft man ringsum.
„Es fällt gleich hin, Brüder, nun geht es mit ihm zu Ende!“ schreit jemand aus der Menge.
„Ist es nicht besser, mit einem Beile es totzuschlagen? Macht doch ein Ende!“ ruft ein anderer.
„Zum Teufel mit dir! Geht alle aus dem Wege!“ brüllt Mikolka, wirft die Deichsel fort, bückt sich von neuem und holt eine Eisenstange hervor. „Nehmt euch in acht!“ ruft er und läßt sie mit voller Kraft auf das arme Pferd niedersausen. Dieser Schlag traf; das Pferd taumelte, krümmte sich und wollte ziehen, aber die Eisenstange sauste wieder auf seinen Rücken herab, und das Pferd stürzte zu Boden, als wären ihm alle vier Beine mit einemmal abgeschlagen.
„Schlagt zu!“ schreit Mikolka und springt wie toll vom Wagen herab. Einige Burschen, ebenso rot im Gesichte wie er und betrunken, ergreifen, was ihnen in die Hände kommt – mit Peitschen, Stöcken, der Deichselstange laufen sie zu dem verendenden Pferde. Mikolka stellt sich auf der einen Seite hin und fängt an, sinnlos mit der Eisenstange auf seinen Leib zu schlagen. Die Mähre streckt den Kopf, holt schwer Atem und verendet. „Nun hast du ihm den Garaus gemacht!“ ruft man aus der Menge.
„Warum lief es nicht im Galopp!“
„Es ist mein Eigentum!“ schreit Mikolka mit blutunterlaufenen Augen und hält die Eisenstange noch in den Händen. Er steht da, als täte es ihm leid, daß er niemanden mehr habe, den er niederschlagen könnte.
„Du bist wirklich kein Christ!“ rufen einige Stimmen aus der Menge.
Der arme Knabe aber ist außer sich. Mit einem Schrei durchbricht er die Menge, läuft auf das Pferd zu, umarmt den blutüberströmten toten Kopf und küßt ihn; er küßt die Augen, die Lefzen ... Dann springt er auf und stürzt sich voller Wut mit seinen kleinen Fäustchen auf Mikolka. In diesem Augenblick erwischt ihn der Vater, der ihm nachgelaufen war, und trägt ihn fort.
„Gehen wir! Gehen wir!“ sagt der Vater zu ihm. „Gehen wir nach Hause!“
„Papa, lieber Papa! Warum haben sie ... das kleine Pferd ... erschlagen!“ schluchzte er, sein Atem stockt und die Worte kommen wie Schmerzensschreie aus seiner gepreßten Brust.
„Sie sind betrunken ... versündigen sich, uns geht es nichts an ... gehen wir!“ sagt der Vater. Er aber umfaßt den Vater mit beiden Händen, es schnürt ihm die Kehle zu. Er will Atem holen, schreien und – er erwacht. Er erwachte ganz mit Schweiß bedeckt, mit feuchten Haaren, schwer atmend, und erhob sich zitternd.
„Gottlob, es war nur ein Traum!“ sagte er, setzte sich unter den Baum und seufzte tief auf. „Aber was ist mit mir? Fange ich an zu fiebern, – so ein gräßlicher Traum!“
Sein ganzer Körper war wie zerschlagen, und in seiner Seele war es dunkel und trübe. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und hielt sich mit beiden Händen den Kopf.
„Mein Gott,“ rief er aus. „Werde ich denn, werde ich wirklich ein Beil nehmen, werde es ihr auf den Kopf schlagen, das Gehirn ihr zerschmettern ... in klebrig warmem Blute tasten, das Schloß aufbrechen, stehlen und zittern, mich verstecken, ganz mit Blut bedeckt ... mit einem Beile ... Oh, Gott, werde ich es denn tun?“
Es durchschauerte ihn am ganzen Körper, als er das aussprach. „Ja, was ist denn mit mir?“ fuhr er fort, sich aufraffend und mit tiefem Staunen. „Ich weiß doch, daß ich es nicht ertragen kann, warum habe ich mich denn bis jetzt gequält? Gestern, gestern schon, als ich hinging, diesen ... Versuch zu machen, gestern begriff ich vollkommen, daß ich es nicht zu tun vermöge ... Was will ich denn jetzt noch? Warum hatte ich bis jetzt noch Zweifel? Ich sagte mir schon gestern, als ich die Treppe hinunterging, daß es gemein, niedrig, schuftig sei ... mir wurde ja beim bloßen Gedanken übel und ein kalter Schauer ging mir durch alle Glieder ... Nein, ich werde es nicht aushalten, werde es nicht aushalten! Mag es auch keinen einzigen Fehler in diesen Berechnungen geben, mag all das, was in diesem Monat beschlossen wurde, klar wie der Tag, und richtig wie eine mathematische Formel sein. Herrgott! Ich kann mich nicht dazu entschließen! Ich werde es ja nicht aushalten, nicht aushalten! Was ist denn mit mir immer noch, was denn?“
Er stand auf, sah sich verwirrt um, als sei er erstaunt, daß er hierher gekommen war, und ging zu der T.-W.-Brücke. Er war bleich, die Augen brannten, in seinen Gliedern lag tiefste Ermattung, plötzlich aber konnte er leichter atmen. Er fühlte, daß er diese furchtbare Last, die ihn solange bedrückt hatte, abgeworfen habe, und in seiner Seele wurde es mit einem Male leicht und frei.
„Oh Gott!“ flehte er. „Zeig mir meinen Weg, und ich sage mich los von diesem verfluchten Trugbild!“ Als er über die Brücke ging, blickte er still und ruhig auf die Newa und auf die untergehende grellrote Sonne. Trotz seiner Schwäche empfand er keine Müdigkeit. Es war, als sei das Geschwür an seinem Herzen, das den ganzen Monat heranreifte, plötzlich aufgegangen. Freiheit! Freiheit! Er ist jetzt von dieser Verzauberung, von dieser Hexerei, von diesem Reiz, von dieser Versuchung befreit!
Später, als er an diese Zeit und all das dachte, was mit ihm in diesen Tagen, Minute für Minute, Punkt für Punkt, Strich für Strich vorgegangen war, setzte ihn fast bis zum Aberglauben ein Umstand stets in Erstaunen, der im Grunde genommen nicht besonders ungewöhnlich war, der ihm aber später wie die Fügung seines Schicksals erschien. Und zwar, – er konnte es gar nicht verstehen und erklären, warum er, ermüdet und abgespannt, statt auf dem kürzesten und geradesten Weg nach Hause zu gehen, plötzlich über den Heumarkt, den zu durchqueren für ihn ganz überflüssig war, nach Hause zurückkehrte. Es war kein bedeutender Umweg, aber doch ein augenscheinlich und eben völlig überflüssiger. Gewiß, er war Dutzende von Malen nach Hause zurückgekehrt, ohne sich der Straßen zu erinnern, durch die er gewandert war. Warum aber, fragte er sich immer, warum passierte so eine wichtige, so eine entscheidende und gleichzeitig so eine höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte – über den zu gehen er gar keine Veranlassung hatte – gerade zu der Stunde, in dem Augenblicke seines Lebens, in solch einer Seelenstimmung und unter solchen Umständen, unter denen diese Begegnung auch die entscheidenste und endgültigste Wirkung auf sein ganzes Schicksal ausüben mußte? Als hätte es auf ihn hier absichtlich gelauert! – Es war gegen neun Uhr, als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer an den Tischen, in den Läden und Buden schlossen ihre Geschäfte oder kramten ihre Waren zusammen, packten sie ein und waren ebenso, wie ihre Käufer, auf dem Wege nach Hause. Bei den Garküchen, in den Kellern, in den schmutzigen und stinkenden Höfen der Häuser am Heumarkte, besonders aber bei den Schenken drängte sich eine Menge allerhand Händler und verlumpter Gestalten. Raskolnikoff liebte diese Gegend, ebenso auch alle umliegenden Gassen, ganz besonders aber, wenn er ohne ein bestimmtes Ziel bummeln ging. Hier erregten seine Lumpen keine hochmütige Aufmerksamkeit, hier konnte man gekleidet gehen, wie man wollte, ohne sich zu blamieren. An der Ecke der K.schen Gasse handelte ein Kleinbürger mit seiner Frau an zwei Tischen mit allerhand Waren, – Zwirn, Bändern, Kattuntüchern und dergleichen mehr. Sie waren auch beim Aufbruch, wurden aber durch ein Gespräch mit einer Bekannten aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder einfacher Lisaweta, wie sie allgemein genannt wurde, die jüngere Schwester derselben Alten, Aljona Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, der Wucherin, bei der Raskolnikoff gestern gewesen war, um seine Uhr zu versetzen und seine Probe zu machen ... Er wußte längst alles über diese Lisaweta, und sie kannte ihn auch ein wenig. Sie war ein hochgewachsenes, plumpes, zaghaftes und stilles Mädchen, fast eine Idiotin, fünfunddreißig Jahre alt, die bei ihrer Schwester lediglich die Dienstmagd war, für sie Tag und Nacht arbeitete, vor ihr zitterte und sogar von ihr Schläge bekam. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel vor dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die redeten mit besonderem Eifer auf sie ein. Als Raskolnikoff sie unvermutet erblickte, überkam ihn eine eigentümliche Empfindung, die einer sehr starken Verwunderung glich, obwohl diese Begegnung nichts Verwunderliches an sich hatte.
„Sie wollen einmal selbst entscheiden, Lisaweta Iwanowna,“ sagte der Händler laut. „Kommen Sie morgen so gegen sieben Uhr. Die werden auch herkommen.“
„Mor–gen?“ sagte Lisaweta gedehnt und nachdenklich, als ob sie sich nicht entschließen könne.
„Aljona Iwanowna hat Ihnen viel zu viel Furcht eingejagt!“ sagte die Frau des Händlers, ein flinkes Weib. „Sie sind ganz wie ein Kind. Und dabei ist sie nicht mal Ihre leibliche, sondern Ihre Stiefschwester und hat doch solch eine große Macht über Sie!“
„Sie sollten Aljona Iwanowna nichts davon erzählen,“ unterbrach der Mann, „ich gebe Ihnen den Rat, und Sie kommen zu uns ohne Erlaubnis. Es ist ein vorteilhaftes Geschäft. Ihre Schwester wird es später selbst einsehen.“
„Soll ich kommen?“
„Morgen, um sieben Uhr, auch von denen kommt jemand her. Dann können Sie selbst entscheiden.“
„Wir stellen den Samowar auf und machen Tee,“ fügte die Frau hinzu.
„Gut, ich will kommen,“ antwortete Lisaweta, immer noch in Nachdenken versunken, und ging langsam weiter.
Raskolnikoff war schon vorüber und hörte nichts mehr. Er war langsam gegangen, unbemerkt, und bestrebt, kein Wort vom Gespräche zu verlieren. Seine Verwunderung verwandelte sich allmählich in Schrecken, als wäre ihm etwas Kaltes über den Rücken gelaufen. Er hatte erfahren, vollkommen unerwartet hatte er erfahren, daß morgen abend punkt sieben Uhr Lisaweta, die Schwester der Alten und ihre einzige Mitbewohnerin, nicht zu Hause sein werde, und daß also die Alte Punkt sieben Uhr ganz allein zu Hause war.
Bis zu seiner Wohnung waren es bloß einige Schritte. Er ging, wie ein zum Tode Verurteilter. Er dachte an nichts und konnte auch an gar nichts denken, aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er plötzlich, daß er weder die Freiheit der Erwägung noch einen Willen besitze, und daß alles mit einem Male endgültig entschieden sei.
Es war sicher, daß er, selbst bei jahrelangem Warten auf solch einen günstigen Zufall, sicher nicht auf einen deutlicheren Wink für den Erfolg rechnen konnte, als der war, der sich ihm jetzt urplötzlich bot. In jedem Falle würde es schwer sein, am Abend vorher und sicher, mit größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliches Ausfragen und Untersuchen, zu erfahren, daß am anderen Tage um die und die Stunde die Alte, auf die man einen Anschlag vorbereitet, ganz allein zu Hause sein werde.
Später erfuhr Raskolnikoff ganz zufällig, warum der Händler und dessen Frau Lisaweta zu sich eingeladen hatten. Es handelte sich um eine rein alltägliche Sache und enthielt gar nichts Besonderes. Eine zugereiste, verarmte Familie wollte ihre Sachen, Kleider und ähnliches verkaufen. Da es unvorteilhaft war, auf dem Markte zu verkaufen, suchte man unter der Hand eine Händlerin; Lisaweta nun befaßte sich mit dergleichen, – sie übernahm Aufträge, besorgte allerhand Gänge und hatte eine recht ansehnliche Praxis, weil sie sehr ehrlich war und immer den äußersten Preis bot, – und bei dem Preis, den sie nannte, blieb sie stets. Sie redete überhaupt wenig und war, wie gesagt, still und verschüchtert ...
Raskolnikoff war in der letzten Zeit abergläubisch geworden. Und Spuren dieses Aberglaubens blieben in ihm noch für lange hinaus untilgbar haften. Und er war später stets geneigt, in dieser ganzen Angelegenheit eine gewisse Bestimmung, eine geheimnisvolle Fügung, wie die Existenz besonderer Einflüsse und Zufälle, zu sehen. Noch im Winter hatte ihm sein Bekannter, ein Student, Pokoreff, bei seiner Abreise nach Charkoff beiläufig im Gespräche die Adresse der Alten, Aljona Iwanowna, mitgeteilt, für den Fall, daß er einmal etwas versetzen möchte. Er ging lange nicht zu ihr, da er Stunden gab und sich damit einigermaßen durchschlug. Vor anderthalb Monaten erinnerte er sich der Adresse; er hatte zwei Sachen, die zum Versetzen taugten, – eine alte silberne Uhr von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen, den seine Schwester ihm beim Abschied als Andenken geschenkt hatte. Er beschloß den Ring hinzubringen; nachdem er die Alte gefunden hatte, empfand er vom ersten Augenblick an, ohne von ihr etwas Näheres zu wissen, einen unwiderstehlichen Widerwillen gegen sie; er nahm von ihr zwei „Scheinchen“ und ging auf dem Rückwege in ein schlechtes Wirtshaus. Da bestellte er Tee, setzte sich hin und verfiel in ein tiefes Nachdenken. Ein unheimlicher Gedanke löste sich in seinem Kopfe aus, wie ein Küchlein aus den Eierschalen, und nahm Besitz von ihm.
An einem anderen Tische, fast neben ihm, saß ein Student, den er nicht kannte, und dessen er sich nicht erinnerte, und ein junger Offizier. Sie hatten eine Partie Billard gespielt und tranken nun Tee. Da hörte Raskolnikoff, wie der Student dem Offiziere von einer Wucherin Aljona Iwanowna, der Witwe eines Kollegienregistrators, erzählte und ihm ihre Wohnung nannte. Das berührte Raskolnikoff seltsam, – er kommt soeben von dort und hier unterhält man sich von ihr. Gewiß, es ist ein Zufall, aber er kann sich gerade jetzt nicht von einem äußerst ungewöhnlichen Gefühl losmachen, ihm ist es, als wolle ihm jemand dazu behilflich sein, – der Student erzählte allerhand Einzelheiten von dieser Aljona Iwanowna. „Sie ist ausgezeichnet,“ sagte er, „man kann bei ihr stets Geld erhalten. Sie ist reich wie ein Jude, kann auf einmal fünftausend geben, geniert sich aber auch nicht, ein Pfand von einem Rubel anzunehmen. Viele von meinen Bekannten waren bei ihr. Aber sie ist ein Scheusal ...“
Und er erzählte, wie böse und launisch sie sei, und daß das Pfand verfallen sei, wenn man den Termin bloß um einen Tag versäume. Sie gibt den vierten Teil des Wertes, nimmt fünf und sogar sieben Prozent pro Monat und dergleichen mehr. Der Student kam ins Plaudern und teilte unter anderem auch mit, daß die Alte eine Schwester Lisaweta habe, die sie, so klein und unansehnlich sie selbst sei, alle Augenblicke schlage und in völliger Bevormundung wie ein kleines Kind halte, trotzdem Lisaweta mindestens dreimal größer und stärker sei ...
„Ja, sie ist eine Zierde ihres Geschlechts!“ rief der Student aus und lachte laut.
Er fing an von Lisaweta zu erzählen; erzählte mit augenscheinlichem Genuß und lachte dabei fortwährend; der Offizier hörte mit großem Interesse zu und bat den Studenten, ihm die Lisaweta zu schicken, um seine Wäsche auszubessern. Raskolnikoff verlor kein einziges Wort von der Unterhaltung und erfuhr somit alles, – Lisaweta war die jüngere Stiefschwester der Alten – von anderer Mutter – und war schon fünfunddreißig Jahre alt. Sie arbeitete Tag und Nacht für die Schwester, ersetzte die Köchin und Wäscherin, nähte außerdem um Lohn, ging außerhalb des Hauses Dielen scheuern und gab jeden Verdienst der Schwester ab. Keine einzige Bestellung und keine Arbeit wagte sie ohne die Erlaubnis der Alten zu übernehmen. Diese hatte bereits ihr Testament gemacht, was Lisaweta bekannt war, hatte ihr keinen Groschen Geld, sondern nur die bewegliche Habe, wie Stühle und ähnliches vermacht; das ganze Geld war für ein Kloster in dem N.schen Gouvernement zu ewigen Seelenmessen bestimmt. Lisaweta war Kleinbürgerin, nicht aus dem Beamtenstande, unverheiratet, ungewöhnlich plump gebaut, übergroß, mit breiten Füßen, hatte immer schiefgetretene Schuhe, war aber sonst reinlich gekleidet. Was aber den Studenten am meisten belustigte, war, daß Lisaweta alljährlich schwanger war ...
„Du sagst doch, sie sei häßlich!“ bemerkte der Offizier.
„Ja, sie hat eine dunkle Gesichtsfarbe, wie ein Soldat, ist aber sonst, weißt du, nicht häßlich. Sie hat so ein gutes Gesicht und gute Augen, sehr gute Augen; Grund genug, daß sie vielen gefällt. Sie ist still, sanft und anspruchslos, zu allem bereit. Ihr Lachen ist sogar einnehmend.“
„Sie scheint dir zu gefallen!“ lachte der Offizier.
„Ja, ihrer Eigentümlichkeit wegen. Doch, was ich dir sagen wollte. Ich könnte diese verfluchte Alte ermorden und berauben, und, glaube mir, ich täte es ohne Gewissensbisse,“ fügte der Student eifrig hinzu.
Der Offizier lachte wieder auf, Raskolnikoff aber fuhr zusammen. Wie seltsam dies alles war!
„Erlaube mal, ich will dir eine ernste Frage vorlegen,“ sagte der Student voll Eifer. „Ich habe mir soeben einen Scherz erlaubt, aber sieh mal an – einerseits gibt es ein dummes, bedeutungsloses, minderwertiges, böses, krankes, altes Weib, das keinem Menschen nützt, im Gegenteil allen schadet, das selbst nicht weiß, wozu es lebt, und das morgen ohne fremde Hilfe sterben wird. Verstehst du? Verstehst du mich?“
„Nun, ich verstehe es,“ antwortete der Offizier und sah aufmerksam seinen in Eifer geratenen Freund an.
„Höre nun weiter. Anderseits gibt es junge, frische Kräfte, die unnütz zugrunde gehen, ohne Hilfe und das zu tausenden und allerorts. Hundert, tausend gute Taten und Hilfeleistungen könnte man für das Geld der Alten tun, das einem Kloster zufallen soll. Hundert, vielleicht tausend Existenzen könnten damit auf den richtigen Weg gebracht werden; dutzende Familien könnten vor Hunger, Verfall, Untergang, Laster und vor venerischen Krankheiten geschützt werden – und all das für ihr Geld. Ermorde sie und nimm ihr Geld, um dich später mit seiner Hilfe der ganzen Menschheit und der gemeinnützigen Sache zu widmen, – was meinst du, wird nicht ein einziges unbedeutendes, winziges Verbrechen durch Tausende guter Taten wettgemacht? Für ein Leben – Tausende von Leben, gerettet vor Fäulnis und Verfall. Ein einziger Tod und hunderte Leben an seiner Statt, das ist doch ein einfaches Rechenexempel. Ja, und was bedeutet auf der allgemeinen Wage das Leben dieser schwindsüchtigen, dummen und bösen Alten. Nicht mehr als das Leben einer Laus, einer Wanze, und nicht mal soviel, weil die Alte schädlich ist. Sie untergräbt das Leben eines anderen; vor ein paar Tagen hat sie Lisaweta aus Wut in den Finger gebissen, man mußte ihn fast abnehmen lassen!“
„Gewiß, sie ist des Lebens nicht wert,“ bemerkte der Offizier. „Aber das ist doch Sache der Natur.“
„Ach, Bruder, die Natur korrigiert man doch auch und zeigt ihr den richtigen Weg, wir müßten ja sonst in Vorurteilen ersticken. Ohne das würde es keine großen Männer geben. Man redet von Pflicht und Gewissen, – ich will nichts gegen Gewissen und Pflicht sagen, aber was verstehen wir darunter? Doch ich will dir noch eine Frage vorlegen. Gib acht!“
„Nein, warte du mal, jetzt will ich dir eine Frage vorlegen. Höre zu.“
„Nun!“
„Sieh, du redest jetzt und ereiferst dich, sage mir aber – würdest du selbst die Alte ermorden oder nicht?“
„Selbstverständlich nicht! Ich rede nur aus Gerechtigkeit ... Ich habe mit der Sache nichts zu tun ...“
„Meiner Meinung nach kann von Gerechtigkeit gar nicht die Rede sein, wenn du dich nicht selbst dazu entschließt. Komm, wir wollen noch eine Partie Billard spielen!“
Raskolnikoff war äußerst aufgeregt. Gewiß, das Gespräch war eins von den gewöhnlichsten Gesprächen und Gedanken, die er mehr als einmal unter jungen Leuten gehört hatte, vielleicht in einer anderen Form und über einen anderen Gegenstand. Warum aber kam er jetzt gerade dazu, dieses Gespräch und diese Gedanken zu hören, wo in seinem eigenen Kopfe ... ebensolche Gedanken aufgetaucht waren? Und warum stößt er gerade jetzt, wo in ihm dieser Gedanke auftauchte, als er die Alte verließ, auf ein Gespräch über dieselbe Alte? ... Ihm erschien dieses Zusammentreffen stets merkwürdig. Diese nichtssagende Unterhaltung in dem Wirtshause hatte auf ihn einen außergewöhnlichen Einfluß für die weitere Entwicklung der Sache, – als wäre hierbei tatsächlich eine Vorausbestimmung, ein Fingerzeig gewesen ...
Nach Hause zurückgekehrt, warf er sich auf das Sofa und blieb eine volle Stunde sitzen, ohne sich zu rühren. Es war inzwischen dunkel geworden; ein Licht besaß er nicht, es kam ihm gar nicht der Gedanke, ein Licht anzustecken. Er konnte sich später niemals erinnern, ob er in dieser Stunde an etwas gedacht hatte. Er spürte noch immer das Fieber von früher her und den Schüttelfrost, und es war ihm ein angenehmer Gedanke, daß er sich auf das Sofa hinlegen konnte. Ein fester bleierner Schlaf überfiel ihn und legte sich schwer auf ihn.
Er schlief ungewöhnlich lange und traumlos. Nastasja, die am nächsten Morgen um zehn Uhr in das Zimmer kam, konnte ihn nur mit Mühe aufwecken. Sie brachte ihm Tee und Brot, den Tee wie immer alt aufgegossen in ihrer eigenen Teekanne.
„Sieh, wie er schläft!“ rief sie entrüstet aus. „Er tut nichts wie schlafen!“
Er erhob sich mühsam. Der Kopf tat ihm weh; er versuchte aufzustehen, drehte sich um und fiel wieder auf das Sofa zurück.
„Willst du weiter schlafen!“ rief Nastasja. „Bist du gar krank?“
Er antwortete nicht.
„Willst du Tee trinken?“
„Nachher,“ sagte er mit Anstrengung, schloß die Augen und wandte sich der Wand zu.
Nastasja blieb eine Weile neben ihm stehn.
„Vielleicht ist er wirklich krank,“ sagte sie, kehrte um und ging hinaus.
Um zwei Uhr kam sie wieder herein mit einer Suppe. Er lag noch wie früher. Der Tee war unberührt. Nun fühlte Nastasja sich gekränkt und begann ihn ärgerlich zu rütteln.
„Was, schnarchst du noch?“ rief sie und sah ihn mit Unwillen an.
Er stand auf und setzte sich, sagte aber nichts und blickte zu Boden.
„Bist du krank oder nicht?“ fragte Nastasja, und wieder erhielt sie keine Antwort.
„Du solltest auf die Straße gehen,“ sagte sie nach einer Weile, „die Luft würde dich erquicken. Willst du nicht essen?“
„Nachher,“ antwortete er mit schwacher Stimme. „Geh jetzt fort!“
Und er winkte mit der Hand ab. Sie blieb noch eine Weile stehen, blickte ihn voll Mitleid an und ging hinaus.
Nach einigen Minuten hob er den Blick und schaute lange den Tee und die Suppe an. Dann nahm er ein wenig Brot, griff nach dem Löffel und begann zu essen.
Er aß nicht viel, ohne Appetit, rein mechanisch etwa vier Löffel Suppe. Der Kopf tat ihm nicht mehr so weh. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich wieder auf das Sofa, konnte aber nicht einschlafen und lag still da, das Gesicht ins Kopfkissen vergraben. Er träumte, wachend, in einem fort, und alle Träume waren seltsam, zumeist schien es ihm, als wäre er irgendwo in Afrika, in Ägypten, in einer Oase. Die Karawane ruht aus, die Kamele liegen still; ringsum im großen Kreise stehn Palmen, alles labt sich. Er aber trinkt unausgesetzt Wasser, direkt aus einem Bache, der hier neben ihm dahinfließt und plätschert. Es ist so kühl, und das Wasser ist so wundervoll, so blau und kalt, es fließt über bunte Steine und über reinen mit goldenem Schimmer besäten Sand ... Plötzlich hörte er deutlich eine Uhr schlagen. Er fuhr auf, kam zu sich, erhob den Kopf, sah zum Fenster hin, rechnete sich die Zeit aus und sprang auf, als hätte ihn jemand von dem Sofa heruntergerissen. Er ging auf den Fußspitzen zu der Türe, öffnete sie leise und lauschte auf die Treppe hinaus. Sein Herz klopfte gewaltig. Auf der Treppe war alles so still, als ob alles schliefe ... Höchst sonderbar und merkwürdig erschien es ihm, daß er von gestern auf heute in solcher Bewußtlosigkeit hatte durchschlafen können, wo er doch nichts getan und unvorbereitet war ... Vielleicht hat die Uhr gar sechs geschlagen ... Und eine ungewohnte fieberhafte und kopflose Hast überfiel ihn, nun nach dem Schlafe und stumpfen Brüten. Es waren übrigens keine großen Vorbereitungen nötig. Er strengte alle Kräfte an, um alles zu bedenken und nichts zu vergessen; das Herz klopfte immer noch heftig und schlug so stark, daß ihm das Atmen schwer fiel. Zuerst mußte er eine Schlinge machen und an seinen Mantel annähen, – das war die Sache einer Minute. Er fuhr mit der Hand unter das Kopfkissen und fand unter der Wäsche, die dort lag, ein altes ungewaschenes Hemd, das schon völlig zerrissen war. Von diesem riß er einen Streifen ab, etwa fünf Zentimeter breit und sechsunddreißig Zentimeter lang. Diesen Streifen legte er zusammen, zog einen weiten starken Sommermantel aus dickem baumwollenen Stoffe – sein einziges Oberkleid – aus und begann die beiden Enden des Streifens innen unter der linken Achselhöhle anzunähen. Seine Hände zitterten beim Halten der Nadel, er überwand sich aber und hatte den Streifen so angenäht, daß man von außen nichts bemerken konnte, wenn er den Mantel angezogen hatte. Er hatte sich schon vor langer Zeit Nadel und Zwirn besorgt, und sie lagen in einem Stück Papier eingewickelt in dem Tischchen. Die Schlinge war seine eigene, sehr schlaue Erfindung, sie war für das Beil bestimmt. Man konnte doch nicht auf der Straße das Beil in der Hand tragen. Und wenn man es unter dem Mantel versteckt trug, mußte man es doch mit der Hand festhalten, was wiederum auffallen konnte. Jetzt aber brauchte man bloß das Beil in die Schlinge zu stecken, und es wird den ganzen Weg unter der Achsel ruhig hängen. Und wenn er die Hand in die Seitentasche des Mantels steckt, kann er auch das Ende des Beilschaftes festhalten, damit es nicht baumelt, und da der Mantel sehr weit war, ein richtiger Sack, so konnte niemand wahrnehmen, daß er etwas mit der Hand in der Tasche festhalte. Diese Schlinge hatte er schon vor zwei Wochen erfunden.
Nachdem er mit der Schlinge fertig war, steckte er seine Finger in einen kleinen Spalt zwischen seinen „türkischen“ Diwan und der Diele, suchte im linken Winkel nach und zog das Versatzobjekt heraus, das er schon vor langer Zeit hergestellt und dort versteckt hatte. Es war gar kein Versatzstück, sondern ein einfaches, glatt abgehobeltes Stück Holz, in der Größe und Dicke eines silbernen Zigarettenetuis. Dieses Holzbrettchen hatte er zufällig bei einem seiner Spaziergänge auf einem Hofe gefunden, wo in einem Nebengebäude eine Werkstatt war. Nachher hatte er zu dem Brette ein glattes und dünnes Stück Eisen – wahrscheinlich irgendein Bruchstück – beigelegt, das er auch damals auf der Straße gefunden hatte. Beides, das eiserne Stück war kleiner, hatte er zusammengelegt und mit einem Bindfaden kreuzweise fest zusammengebunden; dann hatte er das Ganze peinlich und mit einer gewissen Sorgfalt in ein reines weißes Papier eingewickelt und so fest zusammengeschnürt, daß das Paket nicht gleich zu öffnen war. Dies tat er, um auf eine Spanne Zeit die Aufmerksamkeit der Alten abzulenken, wenn sie sich mit dem Lösen des Knotens abmühte, um so den passenden Augenblick zu gewinnen. Das Eisenstück war des Gewichtes wegen hinzugefügt, damit die Alte wenigstens nicht sofort erriet, daß das „Versatzstück“ nur aus Holz sei. Dies alles lag bis zur gegebenen Zeit unter dem Diwan verwahrt. Als er gerade das Paket hervorholte, rief plötzlich jemand auf dem Hofe:
„Die Uhr geht schon gleich auf sieben!“
„Schon gleich auf sieben! Mein Gott!“
Er stürzte zur Tür, lauschte einen Augenblick, nahm seinen Hut und begann die dreizehn Stufen vorsichtig, leise wie eine Katze hinabzusteigen. Das Wichtigste stand ihm noch bevor – das Beil aus der Küche zu stehlen. Daß das Werk mit einem Beile vollbracht werde hatte er längst beschlossen. Er hatte wohl noch ein zusammenlegbares Gartenmesser, aber er mochte sich nicht auf das Messer und zum wenigsten auf seine Kräfte verlassen, darum hatte er sich endgültig für das Beil entschieden. Bei dieser Gelegenheit wollen wir eine Eigentümlichkeit von ihm bei seinen endgültigen Entscheidungen hervorheben, die er in dieser Sache schon getroffen hatte. Sie hatten alle eine besondere Eigenschaft: je endgültiger sie wurden, desto abscheulicher, sinnloser wurden sie sofort in seinen Augen. Trotz des qualvollen innerlichen Kampfes, den er führte, konnte er die ganze Zeit über keinen Moment an die Durchführbarkeit seiner Pläne glauben.
Und wenn er jemals alles bis zum letzten Punkte durchgedacht und endgültig beschlossen hätte und es gar keine Zweifel mehr gegeben hätte, dann hätte er offenbar sich von dem ganzen Plane losgesagt, als von einem sinnlosen, ungeheuerlichen Unding. Aber jetzt gab es noch einen ganzen Abgrund von ungelösten Punkten und Zweifeln. Woher er sich ein Beil verschaffen konnte, diese Kleinigkeit beunruhigte ihn gar nicht, nichts ist leichter als das. Die Sache lag so, daß Nastasja öfters, besonders aber abends, nicht zu Hause war, – entweder lief sie zu den Nachbarn oder in einen Laden, die Türe aber ließ sie stets offen stehn. Die Wirtin schalt sie immer wieder deshalb. Also, man mußte nur leise zur rechten Zeit in die Küche gehen und das Beil nehmen, um es nach einer Stunde, wenn alles vorüber ist, wieder an seinen Platz zu legen. Aber auch hier tauchten Zweifel auf. Angenommen, er kommt nach einer Stunde zurück, um das Beil zurückzubringen, und Nastasja ist aber gerade heimgekehrt. Gewiß, man muß dann vorbeigehen und abwarten, bis sie wieder fortgeht. Wenn sie aber nun in dieser Zeit das Beil vermißt hat, es zu suchen begann und danach laut jammerte, – so ist der Verdacht oder wenigstens das Moment zu einem Verdacht gegeben.
Aber das waren Kleinigkeiten, an die zu denken er keine Lust und keine Zeit mehr hatte. Er dachte an die Hauptsache und hob die Kleinigkeiten für den gegebenen Moment auf. Das letzte aber erschien ihm selber unfaßbar. Er konnte sich zum Beispiel in keiner Weise vorstellen, daß er jemals aufhören werde, bloß an dieses Vorhaben zu denken, daß er aufstehn und einfach dorthin gehen werde ... Sogar seine kürzliche Probe (d. h. den Besuch in der Absicht, endgültig sich den Tatort anzusehen) hatte er nur versucht auszuführen, nicht etwa in vollem Ernste, sondern eben bloß in dem Gedanken: „ich will mal hingehen und probieren, anstatt hier davon zu träumen!“ und natürlich, er hielt es nicht aus, ließ gleich die Absicht fallen und war in rasender Wut über sich selbst davongelaufen. Indessen, wie es schien, war die ganze Analyse im Sinne der moralischen Lösung der Frage von ihm ins reine gebracht; seine Kasuistik war geschärft wie ein Rasiermesser, und er fand in sich selbst keine klare Entgegnung mehr. Zu guter Letzt glaubte er dann einfach sich selbst nicht und suchte hartnäckig in allen Richtungen tastend nach Entgegnungen, als ob ihn jemand dazu zwänge und herbeizöge. Der letzte Tag aber, der so unerwartet eintrat, und der alles mit einem Male zur Entscheidung brachte, wirkte auf ihn fast rein mechanisch, – wie wenn ihn jemand an die Hand genommen und unwiderstehlich, blindlings mit einer unnatürlichen Kraft und widerstandslos nach sich gezogen hätte, wie wenn er mit einem Zipfel seines Rockes in das Rad einer Maschine geraten und mit fortgerissen worden wäre.
Von Anfang an, – übrigens schon lange vorher – beschäftigte ihn die Frage: warum fast alle Verbrecher so leicht aufgespürt und entdeckt werden, und warum die Spuren fast aller Verbrecher so deutlich wahrzunehmen sind? Er kam allmählich zu vielseitigen und interessanten Schlüssen, und nach seiner Meinung lag die Hauptursache nicht so sehr in der materiellen Unmöglichkeit, ein Verbrechen zu verbergen, als in dem Verbrecher selbst. Der Verbrecher selbst, und fast jeder verliert im Augenblick des Handelns an Willen und Verstand, an dessen Stelle ein kindischer phänomenaler Leichtsinn tritt, und gerade in dem Augenblicke, wo Verstand und Vorsicht am notwendigsten sind. Nach seiner Überzeugung ergab es sich, daß diese Verdunkelung des Verstandes und der Zusammenbruch des Willens einen Menschen gleich einer Krankheit packen, sich allmählich entwickeln und kurz vor der Vollbringung des Verbrechens ihren höchsten Punkt erreichen, bei der Ausführung, oder noch etwas länger, je nach Veranlagung, auf demselben Höhepunkt anhalten und dann ebenso vergehen, wie jede andere Krankheit. Die Frage aber, ob eine Krankheit das Verbrechen erzeugt oder ob das Verbrechen selbst irgendwie infolge seiner eigentümlichen Natur stets von etwas Ähnlichem wie Krankheit begleitet wird, – zu lösen, fühlte er sich nicht imstande.
Nachdem er das erwogen hatte, schloß er, daß mit ihm persönlich bei seiner Tat ein ähnlicher krankhafter Umschwung nicht stattfinden könne, daß sein Verstand und Wille während der ganzen Zeit der Vollführung völlig intakt sein werde, einzig schon aus dem Grunde, weil sein Unternehmen – „kein Verbrechen“ sei ... Lassen wir den ganzen Prozeß beiseite, durch den er zu dem letzten Schlusse gekommen war; wir sind schon ohnedem viel zu weit gegangen ... Wir wollen bloß hinzufügen, daß die tatsächlichen, rein materiellen Hindernisse der Tat überhaupt in seinem Verstande eine untergeordnete Rolle spielten. „Man muß nur den ganzen Willen und den ganzen Verstand bewahren, und sie alle werden seinerzeit besiegt werden, wenn es darauf ankommt, alle Einzelheiten der Tat bis zum kleinsten Punkt zu übersehen ...“
Aber die Tat war noch nicht in Angriff genommen. An die endgültige Ausführung glaubte er eben fortgesetzt selber am wenigsten, und als die Stunde schlug, kam alles gar nicht so, sondern wie zufällig, ja fast unerwartet.
Ein ganz geringfügiger Umstand machte ihn stutzig, noch ehe er die Treppe hinabgestiegen war. Als er an der Tür zu der Küche vorbeiging, die wie immer weit geöffnet war, warf er einen vorsichtigen Seitenblick hinein, um sich vorher zu vergewissern, ob nicht während der Abwesenheit von Nastasja die Wirtin selbst da sei, und wenn sie nicht da war, ob die Türe zu ihrem Zimmer auch gut verschlossen sei, damit sie ja nicht plötzlich herauskommen könne, wenn er das Beil holen würde? Aber wie groß war seine Betroffenheit, als er plötzlich Nastasja diesmal nicht nur in der Küche sah, sondern dazu mit einer Arbeit beschäftigt; sie nahm aus einem Korbe Wäsche und hing sie auf. Als sie ihn erblickte, hörte sie auf, wandte sich zu ihm und schaute ihn die ganze Zeit an, während er vorbeiging. Er wandte die Augen ab und ging weiter, als ob er sie nicht gesehen hätte. Die Sache aber war abgetan, – er hatte kein Beil! Er war tief niedergeschlagen.
„Und woher kam mir der Gedanke,“ sagte er sich, indem er sich dem Tore näherte. „Woher kam mir der Gedanke, daß sie unbedingt in diesem Augenblicke nicht zu Hause sein dürfe? Warum, warum, warum war ich so sicher davon überzeugt?“
Er war verstört, kam sich erniedrigt vor; wollte über sich selbst vor Ärger lachen ... Eine dumpfe tierische Wut bemächtigte sich seiner.
Er blieb in Gedanken versunken unter dem Tore stehen. Auf die Straße zu gehen, um des Scheines willen zu spazieren, war ihm widerlich; nach Hause zurückkehren noch widerlicher. „Welch eine Gelegenheit hab ich für immer verloren!“ murmelte er, indem er unschlüssig unter dem Tore stehenblieb, gerade gegenüber der dunklen Kammer des Hausknechts, die auch offen war. Plötzlich zuckte er zusammen. In der Kammer des Hausknechts, zwei Schritte von ihm entfernt, schimmerte unter der Bank rechts etwas Blankes ... Er sah sich um – niemand war in der Nähe. Auf den Fußspitzen ging er zu der Kammer hin, stieg zwei Stufen hinab und rief mit leiser Stimme nach dem Hausknecht.
„Es stimmt, er ist nicht da! Wahrscheinlich ist er irgendwo in der Nähe auf dem Hofe, da die Türe weit offen steht.“
Er stürzte sich in aller Hast auf das Beil (es war ein solches) und zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzscheiten lag, hervor; befestigte es gleich in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ die Kammer. Niemand hatte es gesehen!
„Wenn der Verstand nicht hilft, so tut es der Teufel!“ dachte er mit einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall hatte ihn außerordentlich ermutigt.
Er ging langsam und bedächtig, ohne sich zu beeilen, um ja keinen Verdacht zu erwecken. Er sah die Vorübergehenden wenig an, versuchte ihnen nicht ins Gesicht zu sehen, um selber möglichst unerkennbar zu sein. Plötzlich fiel ihm sein Hut ein. „Mein Gott! Geld hatte ich vorgestern noch gehabt und bin nicht auf den Gedanken gekommen, mir eine Mütze zu kaufen!“
Ein Fluch kam über seine Lippen. Als er zufällig in einen Laden hineinblickte, sah er, daß die Wanduhr dort schon zehn Minuten über sieben zeigte. Nun mußte er sich beeilen und gleichzeitig einen Umweg machen, – er wollte das Haus von der anderen Seite erreichen ... Früher, als er ab und zu sich dies alles in der Phantasie vorstellte, hatte er gemeint, daß er große Angst haben werde. Aber er fürchtete sich jetzt nicht besonders, ja eigentlich gar nicht. In diesem Augenblicke beschäftigten ihn selbst ganz andere Gedanken, doch nur immer kurze Zeit. Als er an dem Jussupowschen Garten vorbeiging, vertiefte er sich ziemlich stark in die Idee, hohe Springbrunnen zu errichten, und malte sich aus, wie gut sie die Luft auf allen Plätzen erneuern würden. Allmählich kam er zu der Überzeugung, daß, wenn man den Sommergarten über den ganzen Exerzierplatz erweitern und ihn womöglich mit dem Michailoffschen Schloßpark vereinigen würde, die Stadt dadurch einen schönen großen Nutzen haben würde. Dabei interessierte ihn wiederum die Frage, warum gerade in allen großen Städten der Mensch nicht bloß aus reiner Notwendigkeit, sondern aus anderen Gründen geneigt ist, sich in solchen Stadtteilen niederzulassen und zu leben, wo es keine Gärten, keine Springbrunnen gibt, wo Schmutz und Gestank und allerhand Abscheuliches herrscht. Es kamen ihm auch seine eigenen Spaziergänge über den Heumarkt in den Sinn, und er besann sich auf sein Vorhaben.
„Was für ein Unsinn!“ dachte er. „Nein, besser, ich denke an gar nichts.“
„Wahrscheinlich in ähnlicher Weise heften sich die Gedanken derer, die man zur Hinrichtung führt, an alle Gegenstände, die sie auf ihrem Wege treffen,“ fuhr es blitzartig durch seinen Kopf. Er verjagte schnell diesen Gedanken ... da ist das Haus, er sieht das Tor. Irgendwo schlug plötzlich eine Uhr einmal. „Was, ist es schon halb acht? Das kann nicht sein, sie geht wahrscheinlich vor!“
Zu seinem Glück ging unter dem Tore alles wieder gut vonstatten. Wie absichtlich fuhr in diesem Augenblicke unter das Tor ein ungeheurer Wagen voll Heu, so daß er ihn die ganze Zeit, während er das Tor passierte, verdeckte, und als der Wagen in den Hof hineinfuhr, huschte er in einem Nu nach rechts. Dort, auf der anderen Seite des Wagens, hörte man, wie einige Stimmen schrien und sich stritten, ihn aber hatte niemand bemerkt und er begegnete auch niemandem. Viele Fenster, die auf den großen viereckigen Hof hinausgingen, standen offen, aber er erhob nicht den Kopf, – er hatte keine Kraft dazu. Die Treppe zu der Wohnung der Alten lag in der Nähe, gleich rechts von dem Tore. Er war schon auf der Treppe ...
Er holte Atem, hielt die Hand auf das klopfende Herz, fühlte dabei nach dem Beile, rückte es zurecht und begann vorsichtig und leise die Treppe hinaufzusteigen, alle Augenblicke horchend. Auch die Treppe war um diese Zeit vollkommen leer; alle Türen waren verschlossen; er begegnete auch da niemandem. Im zweiten Stocke stand wohl eine leere Wohnung weit offen, und in ihr arbeiteten Maler, aber auch die sahen nicht zu ihm hin. Er stand einen Augenblick still, dachte nach und ging weiter. – „Gewiß, es wäre noch besser, wenn sie nicht da wären, aber ... über ihnen liegen noch zwei Stockwerke. Aber da ist nun der vierte Stock, da ist die Türe, und die Wohnung gegenüber, die ist unbewohnt. Im dritten Stocke steht die Wohnung, die unter der Wohnung der Alten liegt, allen Anzeichen nach auch leer, – die Visitenkarte, die an der Türe mit Nägeln befestigt war, ist abgenommen, – also sind sie ausgezogen!“ ... Sein Atem stockte. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke: „Soll ich nicht fortgehen!“ Er gab sich aber keine Antwort und begann an der Türe zu der Wohnung der Alten zu horchen, – es war totenstill. Dann lauschte er nochmals die Treppe hinab, lauschte lange und aufmerksam ... Dann sah er sich zum letzten Male um, nahm sich zusammen, faßte sich und tastete noch einmal nach dem Beil in der Schlinge.
„Bin ich nicht zu ... blaß?“ dachte er. „Bin ich nicht zu erregt? Sie ist mißtrauisch ... Soll ich nicht besser noch ein wenig warten ... bis das Herz sich beruhigt? ...“
Das Herz aber beruhigte sich nicht. Im Gegenteil, es klopfte, wie absichtlich, immer stärker und stärker ... Er hielt es nicht aus, langsam streckte er die Hand nach der Klingel und schellte. Nach einer halben Minute schellte er noch einmal etwas lauter.
Keine Antwort. Unnütz zu klingeln ging nicht an und paßte außerdem nicht für ihn. Die Alte ist selbstverständlich zu Hause, aber sie ist mißtrauisch und allein. Er kannte teilweise ihre Gewohnheiten ... und er legte noch einmal sein Ohr fest an die Türe. Waren seine Sinne so geschärft (was überhaupt sich schwer vorstellen läßt) oder war tatsächlich es deutlich zu hören, er unterschied das vorsichtige Tasten einer Hand an der Türklinke und das Rascheln eines Kleides an der Türe. Jemand stand unbemerkbar innen am Schlosse selbst und lauschte ebenso, wie er hier von außen, mit angehaltenem Atem und wie es schien, ebenso mit dem Ohre an der Türe ... Er machte absichtlich eine Bewegung und murmelte laut etwas vor sich hin, um zu zeigen, daß er sich nicht verstecke. Dann schellte er zum dritten Male, aber leise, mit Anstand und ohne Ungeduld. Wenn er sich später dessen erinnerte, deutlich und klar, – dieser Augenblick hat sich ihm auf ewig eingeprägt, – konnte er nicht begreifen, woher soviel Schlauheit über ihn gekommen war, besonders, da sein Verstand sich zeitweise verdunkelte und er seinen Körper fast gar nicht fühlte ... Einen Augenblick nachher hörte man, daß der Verschluß abgenommen wurde.
Die Türe wurde, wie auch damals, um einen einzigen Spalt geöffnet, und wieder hafteten auf ihm zwei scharfe und mißtrauische Augen aus der Dunkelheit. Da verlor Raskolnikoff die Fassung und machte beinahe einen großen Fehler.
In der Befürchtung, daß die Alte erschrecken würde, weil sie allein sei, und da er nicht glauben konnte, daß sein Anblick sie beruhigen würde, griff er nach der Türe und zog sie zu sich, damit die Alte nicht auf den Gedanken komme, sich wieder einzuschließen. Als die Alte das sah, zog sie die Türe nicht zurück, ließ aber auch nicht die Türklinke los, so daß er sie beinahe mit der Türe auf die Treppe hinauszog. Da er aber sah, daß sie quer vor der Türe stand und ihn nicht durchlassen wollte, ging er direkt auf sie los. Die Alte sprang erschreckt zurück, wollte etwas sagen, aber schien es nicht zu können und sah ihn unverwandt an.
„Guten Tag, Aljona Iwanowna,“ begann er möglichst ungezwungen, aber die Stimme gehorchte nicht, sie brach ab und zitterte. „Ich habe Ihnen ... ein Versatzstück gebracht ... aber wir gehen besser hierher ... wo es hell ist ...“ Er ließ sie stehn und ging ohne Aufforderung in das Zimmer. Die Alte lief ihm nach, ihre Zunge hatte sich gelöst.
„Herrgott! Was wollen Sie? ... Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
„Erlauben Sie, Aljona Iwanowna ... ich bin Ihnen bekannt ... Raskolnikoff ... da haben Sie, ich habe ein Versatzstück gebracht, wie ich vor ein paar Tagen versprach ...“
Und er reicht ihr das Versatzstück hin.
Die Alte warf einen leichten Blick auf das Versatzstück, aber richtete sofort ihre Augen direkt ins Gesicht des ungebetenen Gastes. Sie sah ihn aufmerksam, böse und mißtrauisch an. Es verging eine Minute; ihm schien sogar, in ihren Augen liege etwas wie Spott, als ob sie schon alles erraten hätte. Er fühlte, daß er die Fassung verlor, und daß ihn die Furcht packte, eine so starke Furcht, daß ihm schien, wenn sie ihn noch eine halbe Minute so weiter angesehen hätte, er ohne ein Wort zu sagen weggelaufen wäre.
„Warum sehen Sie mich so an, als ob Sie mich nicht wiedererkennen?“ sagte er plötzlich ebenfalls böse. „Wenn Sie wollen, nehmen Sie es zum Versatz, wenn nicht, – gehe ich zu anderen, ich habe keine Zeit.“
Er wußte selbst nicht, wie er zu diesen Worten kam.
Die Alte kam zu sich, und der entschlossene Ton des Besuchers gab ihr anscheinend Mut.
„Warum sind Sie hergekommen, Väterchen, was ist das?“ fragte sie und blickte auf das Versatzstück.
„Ein silbernes Zigarettenetui; ich sprach vorigesmal davon!“
Sie streckte die Hand aus.
„Warum sind Sie so blaß? Auch Ihre Hände zittern! Haben Sie gebadet?“
„Fieber habe ich,“ antwortete er kurz. „Unwillkürlich wird man blaß ... wenn man nichts zu essen hat,“ fügte er, die Worte kaum aussprechend, hinzu. Die Kräfte verließen ihn wieder. Die Antwort aber erschien wahrheitsgetreu; denn die Alte nahm das Versatzstück.
„Was ist es?“ fragte sie, indem sie Raskolnikoff noch einmal prüfend ansah und das Versatzstück in der Hand wog.
„Ein Ding ... ein Zigarettenetui ... aus Silber ... Sehen Sie nach.“
„Hm, mir scheint es nicht aus Silber ... Sieh, wie er es zugeschnürt hat ...“ Indem sie versuchte, den Bindfaden zu lösen und sich zum Fenster gegen das Licht wandte (alle Fenster waren trotz der schwülen Hitze geschlossen), ließ sie ihn auf ein paar Sekunden aus dem Auge und stellte sich mit dem Rücken gegen ihn. Er knöpfte seinen Mantel auf und zog das Beil aus der Schlinge, aber er holte es noch nicht hervor, sondern hielt es mit der rechten Hand unter dem Mantel. Seine Hände waren furchtbar schwach; er fühlte selbst, wie sie mit jedem Augenblick immer mehr erlahmten und erstarrten. Er fürchtete, daß er das Beil fallen lassen werde ... plötzlich schwindelte ihm der Kopf.
„Was hat er denn da umgewickelt!“ rief die Alte ärgerlich aus und machte eine Bewegung nach seiner Seite. Kein Moment länger durfte verloren gehen. Er zog das Beil ganz hervor, hob es, kaum daß er sich dessen bewußt war, mit beiden Händen empor und ließ es fast ohne Anstrengung, fast mechanisch mit der breiten Seite auf den Kopf der Alten niederfallen. Er hatte, wie es schien, dabei keine Kraft angewandt. Aber kaum hatte er das Beil zum ersten Male fallen lassen, da kamen auch die Kräfte.
Die Alte war wie immer barhäuptig. Ihre hellen, leicht ergrauten dünnen Haare, wie gewöhnlich fettig geölt, waren in rattenschwanzartige kleine Flechten geflochten und wurden von einem abgebrochenen Hornkamme, der auf ihrem Hinterkopfe saß, zusammengehalten. Der Schlag hatte sie bei ihrer Kleinheit direkt auf den Scheitel getroffen. Sie schrie auf, aber sehr leise, ihre beiden Hände gegen den Kopf erhebend. In der einen Hand hielt sie das „Versatzstück“ fest. Da schlug er aus aller Kraft ein zweites und ein drittes Mal zu, immer mit der breiten Seite und immer gegen den Scheitel. Das Blut strömte hervor wie aus einem zersprungenen Glase, und der Körper fiel zu Boden mit dem Gesichte nach oben. Er trat einen Schritt zurück, ließ den Körper liegen und beugte sich über ihr Gesicht; sie war schon tot. Die Augen waren weit aufgerissen, als ob sie herausspringen wollten, und die Stirn und das ganze Gesicht waren verzogen und krampfhaft verzerrt.
Er legte das Beil auf die Diele neben die Tote, langte eilends in ihre Tasche, in dieselbe rechte Tasche, aus der sie das vorige Mal die Schlüssel hervorgeholt hatte, und suchte zu verhindern, daß er sich mit dem fließenden Blute beschmiere. Er war bei klarem Verstande, Verdüsterungen und Schwindel fühlte er nicht mehr, aber die Hände zitterten immer noch. Er erinnerte sich später, daß er sogar sehr aufmerksam und vorsichtig war und immer versuchte, sich nicht zu beschmutzen ... Die Schlüssel zog er sofort heraus; sie hingen alle wie damals an einem Schlüsselbunde, an einem Ringe von Stahl. Er lief sofort mit ihm in das Schlafzimmer. Das war ein sehr kleines Zimmer mit einer großen Sammlung Heiligenbilder. An der anderen Wand stand ein großes Bett, sehr reinlich, mit einer wattierten Decke, die mit bunten Seidenflicken besetzt war. An der dritten Wand stand eine Kommode. Wie seltsam, kaum begann er die Schlüssel an der Kommode zu probieren, kaum hörte er ihr Rascheln, da kam der Krampf über ihn. – Er bekam wieder Lust, alles liegenzulassen und fortzugehen. Aber das dauerte nur einen Augenblick; es war zu spät, fortzugehen. Er lächelte sogar über sich selbst, als plötzlich ein anderer beunruhigender Gedanke durch seinen Kopf fuhr. Ihm däuchte plötzlich, daß die Alte vielleicht noch lebe und zu sich kommen könne. Er ließ die Schlüssel fallen, lief zurück zu der Toten, ergriff das Beil und erhob es noch einmal über die Alte, ließ es aber nicht niedersausen. Es gab keinen Zweifel, sie war tot. Indem er sich über sie beugte und sie wieder in der Nähe betrachtete, sah er deutlich, daß der Schädel zerschmettert und sogar ein wenig nach der Seite verschoben war. Er wollte mit dem Finger es befühlen, aber er riß die Hand zurück; es war ja ohnedem zu sehen. Indessen war schon eine ganze Pfütze Blut zusammengelaufen. Plötzlich bemerkte er an ihrem Halse eine Schnur, er riß daran, aber die Schnur war stark und ließ sich nicht zerreißen, außerdem war sie mit Blut durchtränkt. Er versuchte sie so unter dem Busen hervorzuziehen, aber etwas hielt die Schnur fest. Ungeduldig wollte er wieder das Beil emporheben, um die Schnur von oben über den Körper durchzuschlagen, aber er wagte es nicht, und mit großer Mühe zerschnitt er nach einer Arbeit von zwei Minuten die Schnur, ohne mit dem Beile den Körper zu berühren, wobei er aber seine Hände und das Beil mit Blut besudelt hatte; er hatte sich nicht geirrt – an der Schnur hing ein Beutel. Außerdem hingen daran zwei Kreuze, eins von Zypressen und das andere von Kupfer, und ein Heiligenbildchen aus Emaille; es war ein kleiner beschmutzter Beutel aus Sämischleder mit einer stählernen Spanne und kleinem Ringe. Der Beutel war sehr voll gepackt. Raskolnikoff steckte ihn, ohne ihn näher zu betrachten, in die Tasche, die Kreuze warf er der Alten auf die Brust, nahm diesmal das Beil auch mit und stürzte in das Schlafzimmer zurück.
Er war in schrecklicher Hast, nahm die Schlüssel und versuchte sie von neuem. Aber es gelang ihm immer nicht, sie paßten nicht für die Schlösser. Nicht, weil seine Hände zitterten, aber er irrte sich immer; er sah zum Beispiel, daß es nicht der richtige Schlüssel war, daß er nicht paßte, trotzdem probierte er ihn immer wieder. Plötzlich dachte er daran und es leuchtete ihm ein, daß dieser große Schlüssel mit dem zackigen Barte, der an dem Ringe mit den anderen kleinen zusammenhing, gar nicht zu der Kommode gehörte (wie es ihm schon vorigesmal in den Sinn gekommen war), sondern unbedingt zu einer Truhe gehören mußte, und daß in dieser Truhe vielleicht alles aufbewahrt war. Er verließ die Kommode und kroch sofort unter das Bett, da er wußte, daß die Truhen gewöhnlich bei alten Frauen unter dem Bette stehen. Es stimmte, es stand darunter eine ziemlich große Truhe, ungefähr ein Meter lang, mit einem halbrunden Deckel, mit rotem Saffian beschlagen. Der zackige Schlüssel paßte und schloß die Truhe auf. Oben, unter einem weißen Laken, lag ein mit rotem Stoff bezogener Pelz aus Hasenfellen; unter ihm ein seidenes Kleid, ein Schal und in der Tiefe lagen, wie es schien, allerhand Kleidungsstücke. Zuerst begann er seine mit Blut besudelten Hände an dem roten Stoff abzuwischen. „Der Stoff ist rot und bei rot ist Blut nicht so auffallend,“ dachte er und plötzlich kam er zu sich. „Mein Gott! Verliere ich den Verstand?“ sagte er sich erschreckt.
Kaum aber hatte er die Lumpen angerührt, als plötzlich unter dem Pelze eine goldene Uhr hervorglitt. Er machte sich daran, alles in der Truhe umzuwerfen. Zwischen den Kleidungsstücken waren in der Tat goldene Sachen untergebracht – wahrscheinlich alles versetzte Sachen, gekaufte oder nicht ausgelöste Armbänder, Ketten, Ohrringe, Busennadeln und dergleichen mehr. Manche Pfänder waren in Futteralen, andere wieder einfach in Zeitungspapier eingeschlagen, aber peinlich und sorgfältig in doppelte Bogen und mit Bindfaden zugeschnürt. Ohne einen Moment zu zögern, begann er seine Hosentaschen und die Taschen im Mantel mit den Sachen zu füllen; er untersuchte nicht und öffnete nicht die Pakete und die Futterale, aber er kam nicht dazu, viel einzustecken ...
Denn plötzlich hörte er in dem Zimmer, wo die Alte lag, Schritte. Er ließ das Kramen und verhielt sich still, wie ein Toter. Alles war aber ruhig, also hatte er nur geträumt. Aber da hörte er deutlich einen leisen Schrei, als wenn jemand leise und abgerissen stöhnte und darauf schwieg. Wieder trat eine Totenstille ein, eine Minute oder zwei Minuten lang. Er horchte neben der Truhe und wartete mit angehaltenem Atem, plötzlich aber sprang er auf, ergriff das Beil und lief aus dem Schlafzimmer.
Mitten im Zimmer stand Lisaweta mit einem großen Bündel in der Hand und sah erstarrt die ermordete Schwester an; sie war weiß wie Linnen und schien außerstande zu schreien. Als sie ihn hereinlaufen sah, erzitterte sie wie ein Blatt, und ihr ganzes Gesicht zuckte; sie erhob die eine Hand, öffnete den Mund, schrie aber trotzdem nicht und begann langsam rückwärts vor ihm in eine Ecke zurückzuweichen, ihm unverwandt ins Gesicht sehend, aber immer noch nicht schreiend, als ob es ihr an Luft mangele. Er stürzte sich auf sie mit dem Beile. Ihre Lippen verzogen sich so kläglich, wie es ganz kleine Kinder tun, wenn sie sich vor etwas fürchten, den Gegenstand ihrer Furcht unverwandt ansehen und sich anschicken zu schreien. Diese unglückliche Lisaweta war so einfältig und so völlig eingeschüchtert, daß sie nicht einmal ihre Hände erhob, um das Gesicht zu schützen, obwohl das doch die unwillkürlichste und natürlichste Bewegung in diesem Augenblicke gewesen wäre, während das Beil über ihrem Kopfe schwebte. Sie erhob nur ein wenig ihre freie linke Hand, aber bei weitem nicht bis zum Gesichte und streckte sie ihm langsam entgegen, als ob sie ihn zur Seite schieben wollte. Der Schlag traf direkt den Schädel mit der scharfen Seite des Beiles und durchschnitt mit einem Male den ganzen oberen Teil der Stirn fast bis zur Schläfe. Sie stürzte sofort hin. Raskolnikoff verlor beinahe die Fassung, er ergriff ihr Bündel, warf es wieder hin und lief in das Vorzimmer.
Die Angst packte ihn mehr und mehr nach diesem zweiten, vollkommen unerwarteten Morde. Er wollte schnell von hier fort. Und wenn er in diesem Augenblicke imstande gewesen wäre, klarer zu sehen und zu denken, wenn er sich alle Schwierigkeiten seiner Lage, die ganze Verzweiflung, den ganzen Ekel und den ganzen Wahnsinn der Situation hätte vorstellen können und dabei verstanden hätte, wieviel Hindernisse, vielleicht auch Verbrechen er noch überwinden und vollbringen mußte, um von hier loszukommen und nach Hause zu gelangen, dann hätte er wahrscheinlich alles im Stiche gelassen und wäre sofort hingegangen und hätte sich selbst gestellt; und er hätte es nicht aus Furcht getan für seine Person, sondern nur aus Schrecken und Widerwillen allein vor dem, was er vollbracht hatte. Besonders der Widerwillen stieg und wuchs in ihm mit jedem Augenblicke. Um keinen Preis in der Welt würde er jetzt zu der Truhe oder in das Zimmer zurückgegangen sein.
Aber eine Zerstreutheit, eine Nachdenklichkeit kam allmählich über ihn; einige Minuten blieb er wie verloren stehen oder besser, er verlor sich in Kleinigkeiten und vergaß die Hauptsache. Als er übrigens einen Blick in die Küche warf und auf einer Bank einen Eimer sah, der zur Hälfte mit Wasser gefüllt war, kam er auf den Gedanken, seine Hände und das Beil abzuwaschen. Seine Hände waren blutig und klebten. Das Beil steckte er mit der Schneide einfach ins Wasser, ergriff ein Stück Seife, das auf dem Fensterbrette auf einer zerschlagenen Untertasse lag und begann im Eimer selbst seine Hände zu waschen. Nachdem er die Hände gereinigt hatte, zog er auch das Beil heraus, wusch das Eisen ab und wusch lange, gegen drei Minuten lang, die Blutflecken vom Holze ab und versuchte sogar das Blut mit Seife abzuwaschen. Dann trocknete er alles mit Wäschestücken ab, die hier an einem Stricke trockneten, und besah lange voll Aufmerksamkeit am Fenster das Beil. Spuren waren nicht da, nur das Holz war noch feucht. Er steckte sorgfältig das Beil in die Schlinge unter dem Mantel. Darauf besah er den Mantel, die Hosen und die Stiefel, soweit es ihm das Licht in der halbdunklen Küche erlaubte. Beim ersten Blick schien man außen nichts zu sehen; nur auf den Stiefeln waren Flecken. Er machte einen Lappen naß und wischte die Stiefel ab. Er wußte übrigens, daß er nicht gut sehen konnte, daß es vielleicht etwas in die Augen Fallendes gab, was er nicht bemerkte. In Nachdenken versunken, stand er mitten im Zimmer. Ein quälender dunkler Gedanke erstand in ihm – der Gedanke, daß er den Verstand verliere, und daß er in diesem Augenblicke weder denken noch sich verteidigen könne, daß vielleicht gar nicht das zu tun sei, was er jetzt tue ...
„Mein Gott! Ich muß fort, fort!“ murmelte er und stürzte in das Vorzimmer. Aber hier erwartete ihn ein Schrecken, wie er ihn sicher noch nie erlebt hatte.
Er stand, sah hin und traute seinen Augen nicht: die Türe, die Außentüre, die aus dem Vorzimmer auf die Treppe ging, dieselbe, an der er vor kurzem geschellt und durch die er hineingekommen war, stand offen, sogar eine Hand breit offen, weder das Schloß war zu, noch der Riegel vor – die ganze, die ganze, ganze Zeit! Die Alte hatte hinter ihm nicht abgeschlossen, vielleicht aus Vorsicht. Aber, mein Gott! Er hat aber doch später Lisaweta gesehen! Und wie konnte, wie konnte er nicht auf den Gedanken kommen, daß sie doch irgendwie hereingekommen war! Sie war nicht durch die Wand gekommen!
Er stürzte zur Türe und legte den Riegel vor.
„Aber nein, das war wieder nicht das richtige! Ich muß fort, fort! ...“
Er zog den Riegel zurück, öffnete die Türe und begann zur Treppe hin zu lauschen.
Er horchte lange. Irgendwo weit unten, wahrscheinlich unter dem Tore, schrien laut und kreischend zwei Stimmen, stritten sich und schimpften.
Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einem Male alles still, wie abgeschnitten; sie sind fortgegangen.
Er wollte schon hinaustreten, aber plötzlich öffnete sich geräuschvoll ein Stock tiefer eine Tür zur Treppe, jemand begann die Treppe hinabzusteigen und summte vor sich irgend etwas her.
„Wie sie alle lärmen!“ ging es durch seinen Kopf.
Er zog wieder die Türe zu und wartete. Endlich verstummte alles, keine Seele war zu hören. Er tat schon einen Schritt zur Treppe, als er plötzlich wieder neue Schritte vernahm.
Diese Schritte kamen von sehr weit her, ganz vom Anfange der Treppe, aber er erinnerte sich sehr gut und deutlich, daß er schon beim ersten Schritte damals aus irgendeinem Grunde den Verdacht faßte, daß man unbedingt hierher, in den vierten Stock, zu der Alten komme. Warum? Klangen die Schritte so sonderbar, so bedeutungsvoll? Es waren schwere gleichmäßige Schritte von einem Menschen, der keine Eile hat. Den ersten Stock hat er schon erreicht, nun steigt er weiter die Treppe hinauf, – deutlicher und deutlicher hört man es. Er vernahm das schwere Atmen des Kommenden. Nun ist er schon im dritten Stock. Er kommt hierher! Und plötzlich erschien es Raskolnikoff, als wäre er versteinert, als wäre er im Traume, wenn es einem träumt, daß man verfolgt wird, daß die Mörder ganz nahe hinter einem sind, man aber wie angewachsen dasteht und die Hände nicht rühren kann.
Endlich, als der Besucher schon den vierten Stock heraufstieg, fuhr er plötzlich zusammen und es gelang ihm doch schnell und geschmeidig, von dem Treppenabsatz in die Wohnung hineinzuschlüpfen und die Türe hinter sich zuzumachen. Dann nahm er den Haken und legte ihn leise, unhörbar vor. Der Instinkt half ihm. Als er das in Ordnung gebracht hatte, stellte er sich mit angehaltenem Atem direkt an die Türe. Der unbekannte Besucher war schon da. Sie standen jetzt einander gegenüber, wie er vor kurzem der Alten gegenüberstand, als die Türe sie voneinander trennte, und er lauschte.
Der Besucher atmete ein paarmal schwer.
„Er ist wahrscheinlich dick und groß,“ dachte Raskolnikoff und nahm das Beil fester in die Hand. Ihm war wieder alles wie im Traume. Der Besucher faßte die Klingel und läutete stark.
Als die Klingel blechern erklirrte, schien es ihm, als ob in dem Zimmer sich jemand rühre. Einige Sekunden lauschte er. Der Unbekannte schellte noch einmal, wartete ein wenig und begann plötzlich ungeduldig aus aller Kraft mit der Türklinke zu klappern. Mit Schrecken blickte Raskolnikoff auf den hüpfenden Haken und wartete mit stumpfer Angst, daß der Haken jeden Augenblick herausspringen werde. Es schien in der Tat möglich zu sein, – so stark riß jener an der Türe. Er wollte den Haken mit der Hand niederhalten, aber der andere konnte es merken. Es begann ihm wieder schwindlig zu werden.
„Ich breche noch zusammen!“ durchzuckte es ihn, aber der Unbekannte begann zu sprechen, da kam er zu sich. „Ja, schlafen die denn da oder sind sie tot? Verflucht noch einmal!“ wetterte er. „He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, du wundervolle Schönheit! Öffnet! Ach, verflucht, schlafen sie wirklich?“
Und er riß von neuem rasend gegen zehnmal nacheinander aus voller Kraft an der Klingel. Es war wohl ein Mann, der etwas galt und im Hause gut bekannt war.
In diesem Augenblick vernahm man unweit auf der Treppe kurze eilige Schritte. Es kam noch jemand. Raskolnikoff hatte es zuerst nicht gehört.
„Ist niemand da; unmöglich?“ rief laut der Angekommene und wandte sich freundlich an den ersten Besucher, der noch immer an der Klingel riß. „Guten Abend, Koch!“
„Nach der Stimme zu urteilen, muß es ein sehr junger Mann sein,“ dachte Raskolnikoff.
„Das weiß der Teufel, ich habe fast das Schloß abgerissen,“ antwortete Koch. „Aber woher kennen Sie mich denn?“
„Warum nicht! Vorgestern habe ich Ihnen drei Partien Billard im ‚Gambrinus‘ abgewonnen.“
„Ah ...“
„Also, sie sind nicht zu Hause. Merkwürdig. Das ist aber dumm. Wo mag nur die Alte hingegangen sein? Ich habe Geschäfte mit ihr.“
„Ich auch, mein Lieber.“
„Was ist da zu tun? Wohl oder übel müssen wir wieder gehen. Ach! Und ich hoffte Geld zu bekommen!“ rief der junge Mann aus.
„Selbstredend müssen wir gehen, aber wozu gibt man eine Zeit an? Die alte Hexe hat mir selbst die Stunde bestimmt. Für mich bedeutet das einen weiten Weg. Zum Teufel, ich verstehe nicht, wo sie sich herumtreiben kann. Das ganze Jahr sitzt sie im Hause, die Hexe, rührt sich nicht vom Fleck, die Füße tun ihr weh, und nun plötzlich macht sie Ausflüge!“
„Sollen wir nicht den Hausknecht fragen?“
„Wonach denn?“
„Wohin sie gegangen ist und wann sie wiederkommt?“
„Hm ... zum Teufel ... sollen wir fragen ... Ja, sie geht doch nie aus ...“ und er riß noch einmal an der Türklinke.
„Zum Teufel, es bleibt nichts übrig, wir müssen fortgehen.“
„Warten Sie!“ rief plötzlich der junge Mann. „Sehen Sie einmal, wie die Türe nachgibt, wenn man daran reißt!“
„Na, und?“
„Also ist sie nicht abgeschlossen, sondern nur eingehakt, auf den Haken! Hören Sie, wie der Haken klirrt?“
„Nun?“
„Verstehn Sie denn nicht? Also ist jemand von ihnen zu Hause. Wenn alle fortgegangen wären, hätten sie die Türe mit dem Schlüssel abgeschlossen, und nicht von innen mit dem Haken. Hören Sie nun, wie der Haken klirrt? Um aber von innen die Türe mit dem Haken abzuschließen, muß man zu Hause sein, verstehen Sie? Also, sitzen sie zu Hause und öffnen nicht!“
„Hm! Ja, das ist wahr!“ rief erstaunt Koch. „Was ist denn mit ihnen los?“ Und er begann voll Wucht an der Türe zu zerren.
„Warten Sie!“ rief von neuem der junge Mann. „Halten Sie ein! Hier ist etwas nicht in Ordnung ... Sie haben doch geklingelt, an der Türe gerüttelt, – und sie öffnen nicht, also, liegen sie entweder in Ohnmacht oder ...“
„Was?“
„Hören Sie mal, holen wir den Hausknecht, möge er sie aufwecken.“
„Gut.“
Sie gingen beide zur Treppe.
„Warten Sie! Bleiben Sie mal hier, ich aber laufe nach dem Hausknecht.“
„Warum soll ich bleiben?“
„Es ist so besser ...“
„Ich bereite mich zum Untersuchungsrichter vor! Hier stimmt offenbar, offen–bar ... nicht alles!“ rief voll Eifer der junge Mann und lief eilig die Treppe hinab.
Koch blieb, rührte noch einmal leise die Klingel und es klirrte ein einziges Mal; dann begann er sachte, als ob er es überlegte und prüfte, die Türklinke zu bewegen, er zog sie auf und ließ sie niedergleiten, um sich noch einmal zu vergewissern, daß die Türe bloß mit einem Haken geschlossen sei. Darauf bückte er sich schwer atmend und blickte durch das Schlüsselloch, aber darin stak von innen der Schlüssel, und er konnte nichts sehen.
Raskolnikoff stand und hielt krampfhaft das Beil, fieberhaft erregt. Er war bereit zu kämpfen, wenn sie hereinkommen sollten. Schon als sie klopften und sich besprachen, kam ihm einigemal der Gedanke, allem ein Ende zu machen und ihnen durch die Türe zuzurufen. Es wandelte ihn an, sie zu schimpfen, sie zu reizen, bevor sie die Türe aufmachten. „Möchte es doch schneller zu Ende gehen!“ fuhr es ihm durch den Kopf. „Zum Teufel noch einmal ...“
Die Zeit verrann, eine Minute nach der andern ging vorüber, niemand kam. Koch begann unruhig zu werden.
„Zum Teufel noch einmal! ...“ rief er plötzlich aus, und voll Ungeduld verließ er seinen Posten, ging die Treppe eilig hinab, und stapfte fest auf.
„Mein Gott, was ist nun zu tun!“ Raskolnikoff hob den Haken ab, öffnete ein wenig die Türe, es war nichts zu hören, er trat plötzlich vollkommen gedankenlos heraus, zog die Türe hinter sich möglichst dicht zu und ging hinab. Er war schon drei Treppen hinabgestiegen, als plötzlich unten ein starker Lärm hörbar wurde, – wohin sich wenden? Er konnte sich nirgends verstecken und wollte schon zurück in die Wohnung laufen.
„He Teufel! Halt!“
Mit einem Schrei stürzte jemand unten aus einer Wohnung heraus und lief so schnell hinunter, daß er die Treppe beinahe hinunterzufallen schien.
„Mitjka, Mitjka! Mitjka! Mitjka! Mitjka! Hol dich der Kuckuck!“
Der Schrei endete mit Kreischen; die letzten Töne hörte man schon vom Hofe her; alles wurde still. Aber im selben Augenblick begannen ein paar Menschen, die laut und schnell sprachen, geräuschvoll die Treppe hinaufzusteigen, vielleicht drei oder vier. Raskolnikoff unterschied die helle Stimme des jungen Mannes.
„Das sind sie.“
In größter Verzweiflung ging er ihnen direkt entgegen, – mochte nun kommen, was wollte. Wenn sie ihn anhielten, war alles verloren, wenn sie ihn vorbeiließen, war auch alles verloren, – denn sie werden ihn wiedererkennen. Sie kamen bedenklich näher; zwischen ihnen war nur eine einzige Treppe – da kam die Rettung. Einige Stufen vor ihm rechts stand weit geöffnet eine leere Wohnung, dieselbe Wohnung im zweiten Stock, in der Arbeiter malten und jetzt wie mit Absicht fortgegangen waren. Das waren sicher die Leute gewesen, die soeben mit solch einem Geschrei hinabgelaufen waren. Die Dielen waren frisch gestrichen, mitten im Zimmer stand ein kleiner Eimer und eine Scherbe von einem Topfe mit Farbe und Pinsel. Im Nu schlüpfte er durch die offene Tür und verbarg sich hinter einer hohen Wand, es war hohe Zeit. Sie waren schon auf dem Treppenabsatz. Dann wandten sie sich nach oben und gingen laut sprechend nach dem vierten Stock. Er wartete eine Zeitlang, ging auf Fußspitzen hinaus und lief nach unten.
Auf der Treppe war niemand! Auch unten nicht. Er ging schnell durch das Tor und ging nach links die Straße hinunter. Er wußte es nur zu gut, daß sie in diesem Augenblicke schon in der Wohnung waren, daß sie erstaunt waren, die Türe offen zu sehen, die noch eben verschlossen war, daß sie schon die Leichen erblickten, und daß sie in weniger als einer Minute erraten würden, daß der Mörder hier soeben noch dagewesen war und Zeit gefunden hatte, sich irgendwo zu verbergen, an ihnen vorbeizuhuschen und zu fliehen; sie werden vielleicht auch auf den Gedanken gekommen sein, daß er in der leeren Wohnung stak, als sie nach oben gingen. Indessen aber durfte er um keinen Preis seinen Gang zu sehr beschleunigen, obgleich bis zur ersten Seitenstraße gegen hundert Schritte waren.
„Soll ich nicht in ein Tor hineinschlüpfen und irgendwo in einer unbekannten Straße abwarten? Nein, das ist gefährlich! Soll ich nicht das Beil fortwerfen? Soll ich nicht eine Droschke nehmen? Es ist zu gefährlich, zu gefährlich!“
Endlich kam die Seitenstraße, er bog in sie halbtot ein. Hier war er schon zur Hälfte gerettet, und ward es inne, – hier erregte er kaum Verdacht, zudem war diese Straße stark belebt, und er ging wie ein Sandkorn in der Menge verloren. Aber alle diese Qualen hatten ihn so erschöpft, daß er sich kaum mehr fortbewegen konnte. Der Schweiß rann ihm in Tropfen herunter, sein Hals war ganz naß.
„Sieh mal, wie der voll ist!“ rief ihm jemand zu, als er auf den Kanal hinauskam.
Er hatte fast keinen Gedanken mehr; je weiter er ging, um so schlimmer wurde es. Er erschrak plötzlich, als er an den Kanal hinauskam; denn dort gab es wenig Menschen, hier konnte er leichter auffallen, und er wollte wieder in die Seitengasse zurückkehren. Trotzdem er am Umfallen war, machte er doch einen Umweg und kam von einer anderen Seite nach Hause.
Noch fast besinnungslos schritt er durch das Tor seines Hauses; er war schon die Treppe hinaufgestiegen, da erst entsann er sich des Beiles. Eine überaus wichtige Aufgabe stand ihm noch bevor, das Beil zurückzulegen und es unbemerkt zu tun. Er hatte nicht mehr die Kraft, zu überlegen, ob es vielleicht nicht viel besser wäre, das Beil gar nicht mehr auf seinen früheren Platz zurückzubringen, sondern es irgendwo auf einen fremden Hof, wenn auch nicht sofort, zu werfen.
Doch es ging alles gut vonstatten. Die Türe zu der Wohnung des Hausknechts war zugemacht, aber nicht verschlossen, also war der Hausknecht sehr wahrscheinlich zu Hause. Und so weit hatte er schon die Fähigkeit zu überlegen verloren, daß er einfach auf die Wohnung losging und die Türe öffnete. Hätte der Hausknecht ihn in diesem Augenblick gefragt, was er wolle, er hätte ihm einfach das Beil in die Hand gegeben. Der Hausknecht war aber auch diesmal nicht da und er konnte das Beil auf seinen Platz unter die Bank legen; er bedeckte es sogar wieder mit einem Holzscheit. Keine Seele begegnete ihm bis zu seinem Zimmer; die Türe zur Wohnung der Wirtin war abgeschlossen. Nachdem er in sein Zimmer eingetreten war, warf er sich auf den Diwan, so wie er war. Er schlief nicht, verfiel aber in einen Halbschlummer. Wenn jemand jetzt in sein Zimmer getreten wäre, wäre er aufgesprungen und hätte geschrien. Abgerissene, verworrene Gedanken wirbelten in seinem Kopfe, aber er konnte keinen einzigen erfassen, keinen festhalten, trotz aller Anstrengung.
So lag er sehr lange da. Manchmal wachte er vom Schlafe auf und dann bemerkte er, daß es schon längst Nacht war. Endlich nahm er wahr, daß es schon heller Tag war. Er lag auf dem Diwan ausgestreckt, noch erstarrt von der kaum überwundenen Bewußtlosigkeit. Schrill tönte fürchterliches verzweifeltes Geheul von der Straße herauf, das er jede Nacht unter seinem Fenster in der dritten Morgenstunde hörte. Das hatte ihn auch jetzt wieder aufgeweckt.
„Ah! Es kommen die Betrunkenen schon aus den Kneipen,“ dachte er. „Es ist drei Uhr!“ und er sprang auf, als hätte ihn jemand von dem Diwan heruntergestoßen.
„Wie! Es ist schon drei!“
Er setzte sich – und da fiel ihm alles ein! Plötzlich fiel ihm alles ein!
Im ersten Augenblicke dachte er, er würde den Verstand verlieren. Eine furchtbare Kälte erfaßte ihn, aber die Kälte kam vom Fieber, das schon längst während des Traumzustandes angefangen hatte. Es packte ihn ein Schüttelfrost, daß die Zähne zusammenschlugen, und alles zitterte an ihm. Er öffnete die Türe und begann zu lauschen: im Hause schlief alles. Erschreckt betrachtete er sich selbst und alles ringsum im Zimmer und begriff nicht – wie konnte er nur gestern die Türe nicht zuhaken und sich nicht nur angekleidet, sondern sogar mit dem Hute auf den Diwan werfen; der Hut war ihm heruntergefallen und lag dort auf der Diele in der Nähe des Kissens.
„Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er denken müssen? Daß ich betrunken, aber ...“
Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell und er besah sich schnell ganz vom Kopfe bis zu den Füßen, seine ganze Kleidung, ob nicht Spuren daran waren. Aber man konnte so nichts sehen; zitternd vor Frost, zog er alles aus und wieder betrachtete er es von allen Seiten. Er drehte alles um bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selber nicht traute, wiederholte er dreimal die Besichtigung. Aber er fand nichts, scheinbar keine Spur; nur an einer Stelle, wo die Hosen unten abgerieben und in Fransen hingen, waren an diesen Fransen dicke Flecken eingetrockneten Blutes. Er nahm ein großes Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Mehr schien es nicht zu sein. Da fiel ihm ein, daß der Beutel und die Sachen, die er aus der Truhe bei der Alten herausgenommen, sich noch immer in seinen Taschen befanden. Er hatte nicht mehr daran gedacht, sie herauszunehmen und zu verstecken. Nicht einmal jetzt sogar hatte er sich ihrer gleich erinnert, als er seine Kleider besah. War denn das möglich? Hastig nahm er sie heraus und warf sie auf den Tisch. Nachdem er alles herausgenommen und die Taschen umgekehrt hatte, um sich zu vergewissern, daß nichts übriggeblieben war, brachte er den ganzen Haufen in eine Ecke. Dort in der Ecke waren unten an einer Stelle die von der Wand losgelösten Tapeten zerrissen; sofort begann er alles in dieses Loch unter dem Papier hineinzustopfen.
„Es ist hineingegangen! Alles ist fort, sogar der Beutel!“ dachte er voller Freude, indem er aufstand und stumpf in die Ecke sah, auf das Loch, wo die Tapete jetzt weiter abstand.
Da schrak er wieder zusammen.
„Mein Gott,“ flüsterte er verzweifelt, „was ist mit mir? Ist denn das versteckt? Versteckt man das so?“
Natürlich hatte er mit solchen Gegenständen gar nicht gerechnet; er dachte, daß es nur Geld bei ihr geben würde und darum hatte er keinen Platz vorher ausgesucht.
„Aber jetzt, jetzt, worüber freute ich mich denn?“ dachte er. „Versteckt man denn so? In der Tat, der Verstand verläßt mich!“
Erschöpft setzte er sich auf den Diwan und von neuem schüttelte ihn ein unerträglicher Fieberanfall. Mechanisch hüllte er sich in seinen früheren Studentenmantel, einen gefütterten, aber schon recht schäbigen Winterüberzieher; er deckte sich mit ihm zu, und alsbald überfielen ihn wieder Schlaf und Fieberträume.
Doch schon nach fünf Minuten sprang er wieder auf und stürzte außer sich von neuem zu seinen Kleidern. „Wie konnte ich nur wieder einschlafen, wo noch nichts getan ist! Da haben wir es, da haben wir es, die Schlinge unter der Achsel habe ich noch nicht abgenommen! Ich habe es vergessen, habe solch eine Sache vergessen! Solch ein Verdachtsmoment!“
Er riß die Schlinge ab und begann sie schnell in Stücke zu zerreißen und versteckte sie unter dem Kissen in der Wäsche.
„Stücke von zerrissener Leinwand können in keinem Falle Verdacht erregen; es scheint so, es scheint so!“ wiederholte er, mitten im Zimmer stehend, und begann von neuem mit schmerzhaft angespannter Aufmerksamkeit ringsum, auf der Diele und überall, herumzuspähen, ob er nicht noch etwas vergessen habe. Die Überzeugung, daß alles, sogar das Gedächtnis, sogar das einfache Denken ihn verließ, – begann ihn unerträglich zu quälen.
„Was! fängt es schon jetzt an, kommt schon jetzt die Strafe? Sieh da, sieh es stimmt!“
Die abgeschnittenen Fransen, die er von den Hosen abgetrennt hatte, lagen in der Tat auf der Diele mitten im Zimmer, damit sie ja der erste beste sehen konnte.
„Was ist denn nur mit mir!“ rief er wieder aus, wie verloren.
Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: vielleicht war auch seine ganze Kleidung blutig, vielleicht hat sie viele Flecken, aber er sieht sie bloß nicht, er bemerkt sie nicht, weil sein Denken geschwächt, verworren ... der Verstand verdüstert ist ... Plötzlich erinnerte er sich, daß an dem Beutel auch Blut war.
„Bah, also muß in der Tasche auch Blut sein, da ich den noch feuchten Beutel hineinsteckte!“
Schnell kehrte er die Hosentasche um, und – tatsächlich, – auf dem Futter der Tasche waren Spuren, Flecken.
„Also hat mich der Verstand noch nicht ganz verlassen, also besitze ich noch Urteilsfähigkeit und Gedächtnis, wenn ich mich hierauf besinnen konnte!“ dachte er triumphierend und atmete aus voller Brust tief und freudig auf. „Es ist einfach fieberhafte Schwäche, eine vorübergehende Anwandlung.“
Und er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche. In diesem Augenblicke beleuchtete ein Sonnenstrahl seinen linken Stiefel; auf dem Strumpfe, der aus dem Stiefel hervortrat, schienen Flecken zu sein. Er zog den Stiefel aus, – es waren wirklich Spuren. Die ganze Fußspitze war mit Blut durchtränkt; wahrscheinlich war er unvorsichtigerweise in die Pfütze getreten ... „Aber was nun damit tun? Wohin diesen Strumpf tun? Wohin diesen Strumpf, die Franse, die Hosentasche?“ Er knüllte alles in der Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. „In den Ofen? Aber im Ofen wird man zuerst nachstöbern. Verbrennen? Ja, aber womit brennen? Er hat nicht mal Streichhölzer. Nein, besser, irgendwo hingehen und alles fortwerfen. Ja! das beste ist fortwerfen!“ wiederholte er und setzte sich von neuem auf den Diwan. „Und sofort muß ich es tun, in diesem Augenblick, ohne Zeit zu verlieren! ...“
Indessen fiel sein Kopf von neuem auf das Kissen; wieder durchrüttelte ihn eisig der unerträgliche Schüttelfrost; wieder zog er den Wintermantel über sich. Und lange noch, ein paar Stunden, träumte er ab und zu, „ich muß sofort ohne Zögern irgendwo hingehen und alles fortwerfen, damit es schnell aus den Augen kommt!“ Einigemal erhob er sich vom Diwan, wollte aufstehn, konnte aber nicht mehr. Endlich weckte ihn ein starkes Klopfen an der Türe.
„Öffne doch, lebst du oder nicht? Und immer schläft er!“ schrie Nastasja und schlug mit der Faust an die Türe. „Den ganzen geschlagenen Tag schläft er wie ein Hund! Er ist auch ein Hund! Öffne doch. Es ist schon elf Uhr.“
„Vielleicht ist er nicht zu Hause,“ sagte eine männliche Stimme.
„Ha, das ist die Stimme des Hausknechtes ... Was will er?“
Er sprang auf und setzte sich auf den Diwan. Das Herz klopfte so stark, daß es ihn schmerzte.
„Wer hat denn die Türe zugehakt?“ erwiderte Nastasja. „Sieh mal, er fängt an, sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn holen könnte? Öffne. Mensch, wach auf!“
„Was wollen sie? Warum ist der Hausknecht da? Alles ist bekannt. Soll ich Widerstand leisten oder öffnen? Mag alles zugrunde gehen ...“
Er erhob sich ein wenig, beugte sich nach vorn und nahm den Haken ab.
Das ganze Zimmer war nur so groß, daß man den Türhaken abnehmen konnte, ohne vom Bette aufzustehen.
Er hatte richtig geraten, – vor ihm standen Nastasja und der Hausknecht. Nastasja blickte ihn eigentümlich an. Er warf dem Hausknechte einen herausfordernden und verzweifelten Blick zu. Der reichte ihm schweigend ein graues zusammengelegtes Stück Papier, das mit gewöhnlichem Siegellack zugesiegelt war.
„Vorladung aus dem Bureau,“ sagte er, indem er das Papier überreichte.
„Aus welchem Bureau? ...“
„Selbstredend vom Polizeibureau.“
„Von der Polizei! ... Warum?“
„Woher soll ich es wissen. Man verlangt es und da müssen Sie gehen.“
Er sah ihn aufmerksam an, warf einen Blick ins Zimmer und wandte sich, um fortzugehen.
„Bist du ganz krank geworden?“ bemerkte Nastasja, die ihre Augen nicht von ihm abwandte.
Der Hausknecht drehte auch einen Augenblick seinen Kopf um.
„Seit gestern hat er Fieber,“ fügte sie hinzu.
Er antwortete nichts und hielt das Schriftstück in den Händen, ohne es zu öffnen.
„Bleib liegen,“ fuhr Nastasja fort; sie wurde weicher gestimmt, als sie sah, daß er die Füße vom Diwan herabließ.
„Da du krank bist, so gehe nicht hin: es brennt doch nicht. Was hast du da in der Hand?“
Er blickte hin. In der rechten Hand hielt er die abgeschnittenen Fransen von der Hose, den Strumpf und die Fetzen der ausgerissenen Tasche. So hatte er mit ihnen geschlafen. Als er später darüber nachsann, erinnerte er sich, daß er im Fieber aufwachend, dies alles nur fester in seiner Hand zusammenballte und wieder einschlief.
„Sieh, was für Lumpen er gesammelt hat und schläft mit ihnen, als wären sie ein kolossaler Schatz ...“ Und Nastasja fiel in ihr lautes nervöses Lachen.
Im Nu steckte er alles unter den Mantel und heftete auf sie einen forschenden Blick. Obwohl er in diesem Augenblicke wenig mit Verstand sich die Sache überlegen konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen nicht in dieser Weise behandeln würde, wenn man ihn verhaften wollte ...
„Aber ... die Polizei?“
„Du solltest etwas Tee trinken. Willst du? Ich bringe ihn dir; es ist etwas übriggeblieben ...“
„Nein ... ich will hingehen; ich will sofort hingehen,“ murmelte er aufstehend.
„Du kannst ja nicht mal die Treppe hinuntergehen.“
„Ich will hingehen ...“
„Wie du willst.“
Sie folgte dem Hausknechte.
Sofort stürzte er zum Licht, um den Strumpf und die Hosenfransen zu besehen.
„Flecken sind da, aber kaum sichtbar. Alles ist beschmutzt, abgerieben und verblichen. Wer es nicht weiß – wird nichts bemerken. Nastasja konnte wahrscheinlich von weitem nichts sehen. Gott sei Dank.“ Dann öffnete er mit Bangen die Vorladung und begann zu lesen; er las lange, und schließlich begriff er. Es war eine gewöhnliche Vorladung, vom Polizeirevier, heute um halb zehn in dem Bureau des Revieraufsehers zu erscheinen.
„Das ist mir noch nie passiert. Ich habe nichts mit der Polizei zu tun. Und warum gerade heute!“
Er wollte sich schon auf die Knie werfen, um zu beten, lachte dann aber selbst darüber, – nicht über das Beten, sondern über sich selbst. Er begann sich eilig anzuziehen.
„Soll ich zugrunde gehen, na, dann ist nichts zu machen. Soll ich den Strumpf anziehen!“ dachte er plötzlich. „Er wird noch mehr im Staub beschmutzt und die Spuren werden verschwinden.“
Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn voll Ekel und Schrecken herunterriß. Er hatte ihn vom Fuß heruntergerissen, aber nachdem er überlegt hatte, daß er keinen anderen hatte, zog er ihn wieder an – und lachte wieder.
„All das ist Vorurteil, alles ist nur wie man’s nimmt, all das sind nur Formen,“ dachte er einem flüchtigen Gedanken nach und zitterte dabei am ganzen Körper. „Ich habe ihn doch angezogen. Hab es fertig gebracht, ihn anzuziehen.“
Aber das Lachen verwandelte sich sogleich in Verzweiflung.
„Nein, das ist über meine Kräfte ...“ dachte er. Seine Füße zitterten.
„Aus Angst,“ murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und schmerzte vor Fieber.
„Eine List ist es! Sie wollen mich mit List hinlocken und mich plötzlich aus der Fassung bringen,“ fuhr er fort vor sich hinzumurmeln und ging auf die Treppe hinaus. „Das ist schlimm, daß ich fieberig bin ... ich kann irgendeine Dummheit machen ...“
Auf der Treppe besann er sich, daß er alle Sachen so in dem Loche unter der Tapete liegen ließ. „Und gerade jetzt konnte absichtlich in seiner Abwesenheit eine Haussuchung vorgenommen werden,“ fiel es ihm ein, und er blieb stehn. Aber solch eine Verzweiflung und solch ein, wenn man sich so ausdrücken darf, – Zynismus über seinen Untergang hatten ihn gepackt, daß er unbekümmert weiterging.
„Möge es bloß schnell vorbei sein! ...“ Auf der Straße war es wieder unerträglich heiß; kein Regentropfen in all diesen Tagen. Wieder gab es Staub von Ziegeln und Kalk, wieder den Gestank aus den Läden und Wirtshäusern, wieder tauchten alle Augenblicke Betrunkene, finnische Höcker und halbzerfallene Droschken auf. Die Sonne strahlte hell in seine Augen, so daß es ihm weh tat, und der Kopf schwindelte ihm, – das gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, der plötzlich auf die Straße an einem heißen sonnigen Tage hinaustritt.
Als er um die Ecke in die gestrige Straße einbog, blickte er dorthin, auf jenes Haus voll qualvoller Unruhe ... und wendete sogleich die Augen ab.
„Wenn man mich frägt, werde ich es vielleicht sagen,“ dachte er, indem er sich dem Polizeibureau näherte.
Das Bureau war ein paar hundert Schritte von seinem Hause entfernt. Es war kürzlich in neuen Räumen in einem neuen Hause im vierten Stocke untergebracht worden. In dem alten Bureau war er einmal, aber vor längerer Zeit, gewesen. Als er in das Tor eintrat, erblickte er zur rechten Hand eine Treppe, von der ein Mann mit einem Buche in der Hand herunterkam. „Ein Bureaudiener also; folglich ist auch hier das Bureau,“ und er begann aufs Geratewohl die Treppe hinaufzusteigen. Er wollte niemanden um Auskunft fragen.
„Ich trete ein, werfe mich auf die Knie und erzähle alles ...“ dachte er, indem er die letzte Treppe zum vierten Stock hinaufstieg.
Die Treppe war sehr schmal, steil und voll Unrat. Alle Küchen von allen Wohnungen in all den vier Stockwerken mündeten auf diese Treppe und standen fast den ganzen Tag offen. Daher war dort eine furchtbare, stickige Luft. Es kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unter dem Arm, Schutzleute und allerhand Volk beiderlei Geschlechts, die da zu tun hatten. Die Türe zu dem Polizeibureau stand auch sperrweit auf. Er trat ein und blieb im Vorzimmer stehn. Überall standen, überall warteten Bauern. Auch hier war die Luft schrecklich dumpf und außerdem roch es zum Übelwerden nach frischer, nicht ausgetrockneter Farbe mit ranzigem Öl von den neugestrichenen Dielen. Er wartete ein wenig und beschloß, weiter in das nächste Zimmer zu gehen. Alle Zimmer waren klein und niedrig. Eine quälende Ungeduld zog ihn immer weiter und weiter. Niemand beachtete ihn. In dem zweiten Zimmer saßen und schrieben einige Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem Äußeren nach komische Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen.
„Was wünschest du?“
Er zeigte die Vorladung.
„Sie sind Student?“ fragte der Schreiber, nachdem er einen Blick auf die Vorladung geworfen hatte.
„Ja, ich bin gewesener Student.“
Der Schreiber blickte ihn ohne jegliche Neugier an. Er war ein besonders zerzauster Mensch mit einem unbeweglichen Ausdruck im Blicke.
„Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist es gleichgültig,“ dachte Raskolnikoff.
„Gehen Sie dorthin, zu dem Sekretär,“ sagte der Schreiber und wies mit dem Finger auf das allerletzte Zimmer.
Er trat in dieses Zimmer, das vierte der Reihe nach; es war eng und vollgestopft von Menschen, die ein wenig besser gekleidet waren, als in den ersten Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine in Trauer, ärmlich gekleidet, saß an einem Tisch gegenüber dem Sekretär und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr dicke, purpurrote, ansehnliche Frau mit Flecken im Gesichte, sehr auffällig gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse stand seitwärts und schien auf etwas zu warten. Raskolnikoff schob dem Sekretär seine Vorladung zu. Dieser besah sie flüchtig, sagte: „warten Sie“ und fuhr fort, sich mit der Dame in Trauer zu beschäftigen.
Raskolnikoff atmete erleichtert auf.
„Es ist sicher nicht das!“ Allmählich begann er Mut zu fassen, er sprach sich mit aller Macht zu, sich zusammenzunehmen und besonnen zu sein.
„Irgendeine Dummheit, irgendeine geringfügige Unvorsichtigkeit, und ich kann mich verraten! Hm ... schade, daß hier keine frische Luft ist,“ fügte er hinzu, „diese Schwüle ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ... und der Verstand auch ...“
Er fühlte in seinem ganzen Körper eine furchtbare Zerrüttung und fürchtete auch, sich nicht beherrschen zu können. Nun versuchte er, sich an etwas anzuklammern, und an irgend etwas vollkommen Nebensächliches zu denken, aber das gelang ihm absolut nicht. Der Sekretär interessierte ihn übrigens sehr stark, – er wollte gern aus seinem Gesichte etwas erraten und ihn durchschauen. Es war ein sehr junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit einem beweglichen Gesichte von dunkler Farbe, das ihn älter erscheinen ließ; er war nach der Mode und stutzerhaft gekleidet, hatte einen Scheitel am Hinterkopf, war frisiert und pomadisiert und trug eine Menge Ringe an den weißen, peinlich sauberen Fingern und eine goldene Kette auf der Weste. Mit einem anwesenden Ausländer wechselte er sogar ein paar Worte französisch, und tat es ziemlich gut.
„Louisa Iwanowna, setzen Sie sich doch,“ sagte er flüchtig zu der geputzten purpurroten Dame, die die ganze Zeit dastand, als wage sie nicht sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl neben ihr stand.
„Ich danke,“ sagte sie deutsch und setzte sich, seiderauschend, auf den Stuhl. Ihr hellblaues Kleid, mit weißen Spitzen besetzt, umgab gleich einem Luftballon ihren Stuhl und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein Duft von Parfüm verbreitete sich. Aber der Dame schien es peinlich zu sein, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm duftete, obgleich sie halb ängstlich, halb frech, jedoch voll deutlicher Unruhe lächelte.
Die Dame in Trauer war endlich fertig und erhob sich von ihrem Platze. Plötzlich trat mit einigem Geräusch, bei jedem Schritte sehr rasch und eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ein, warf die Mütze mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in den Sessel. Bei seinem Anblicke sprang die geputzte Dame von ihrem Platze auf und begann mit besonderem Entzücken zu knixen, der Offizier aber schenkte ihr nicht die geringste Beachtung und sie wagte es nicht mehr, sich in seiner Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, er hatte einen horizontal abstehenden rötlichen Schnurrbart, sein Gesicht wies unbedeutende Züge auf, die außer einer gewissen Frechheit nichts ausdrückten. Er blickte von der Seite und unmutig auf Raskolnikoff; dessen Anzug war schlecht, und dennoch entsprach seine Haltung nicht der Ärmlichkeit seiner Kleidung. Raskolnikoff hatte aus Unvorsichtigkeit ihm zu lange ins Gesicht gestarrt, so daß jener sich sogar beleidigt fühlte.
„Was willst du?“ schrie er ihn an, entrüstet, daß solch ein zerlumpter Mensch nicht daran dachte, vor seinem blitzesprühenden Blicke sich zu verziehen.
„Man hat mich bestellt ... laut Vorladung ...“ antwortete Raskolnikoff zusammenhanglos.
„Es handelt sich um eine Geldforderung an ihn, er ist Student,“ beeilte sich der Sekretär zu bemerken, indem er von seiner Arbeit aufschaute. „Da ist es!“ und er warf Raskolnikoff ein Heft zu und zeigte ihm die Stelle. „Lesen Sie es durch!“
„Geld? Was für Geld?“ dachte Raskolnikoff, „aber, ... es ist also nicht das!“
Und er fuhr vor Freude zusammen. Es wurde ihm urplötzlich unbeschreibbar leicht. Alles war verflogen.
„Um welche Stunde aber sind Sie hierher bestellt, mein Herr!“ schrie der Leutnant, der sich aus unbekannten Gründen immer mehr ärgerte. „Man bestellte Sie um neun und jetzt ist schon die zwölfte Stunde.“
„Man hat mir die Vorladung erst vor einer Viertelstunde zugestellt,“ antwortete laut und über die Schulter hinweg Raskolnikoff, der auch plötzlich und unerwartet ärgerlich geworden war und darin ein gewisses Vergnügen fand. „Es ist schon genug, daß ich trotz meines Fiebers hergekommen bin.“
„Belieben Sie nicht zu schreien!“
„Ich schreie gar nicht, sondern spreche sehr ruhig, aber Sie schreien mich an; ich bin Student und erlaube nicht, daß man mich anschreit.“
Der Gehilfe war so erregt, daß er im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte, er zischte nur und sprang von seinem Platze auf.
„Schwei–gen Sie bitte! Sie stehen vor einer Behörde. Sie dürfen nicht grob sein, mein Herr!“
„Auch Sie sind bei einer Behörde,“ rief Raskolnikoff, „und Sie schreien nicht allein, sondern rauchen auch, verletzen uns also in jeder Weise.“
Als Raskolnikoff dies gesagt hatte, empfand er einen unbeschreiblichen Genuß. Der Sekretär blickte sie lächelnd an. Der hitzige Leutnant war sichtbar verblüfft.
„Das geht Sie nichts an!“ schrie er endlich unnatürlich laut. „Belieben Sie aber besser eine Antwort auf die Forderung zu geben. Zeigen Sie sie ihm, Alexander Grigorjewitsch. Klagen laufen gegen Sie ein! Sie zahlen nicht! Schaut mal den noblen Herrn an!“
Raskolnikoff aber hörte nicht mehr, nahm aufgeregt das Papier vor und suchte schnell die Lösung. Er las es einmal, ein zweites Mal, und begriff nichts.
„Was ist es denn?“ fragte er den Sekretär.
„Man verlangt von Ihnen Geld laut Schuldschein, eine Forderung ist es. Sie müssen entweder die Summe mit allen Unkosten, Strafgeldern und so weiter bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie imstande sind zu bezahlen, gleichzeitig aber auch sich verpflichten, die Hauptstadt bis zur Tilgung der Schuld nicht zu verlassen und Ihr Eigentum weder zu veräußern noch zu verheimlichen. Der Gläubiger aber hat das Recht, Ihr Eigentum zu verkaufen und mit Ihnen nach dem Gesetze zu verfahren.“
„Ja ... aber ich schulde niemand etwas.“
„Das geht uns nichts an. Wir haben zur Einkassierung einen verfallenen und gesetzlich protestierten Schuldschein auf hundertundfünfzehn Rubel erhalten, den Sie der Witwe des Kollegienassessors Sarnitzin vor neun Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnitzin an den Hofrat Tschebaroff durch Kauf übergegangen ist, und darum fordern wir von Ihnen eine Erklärung.“
„Sie ist ja meine Zimmerwirtin!“
„Nun, und was ist dabei, daß sie Ihre Zimmerwirtin ist?“
Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem mitleidigen Lächeln an, gleichzeitig aber ein wenig triumphierend, wie über einen Neuling, den man soeben beginnt zu rupfen, als wollte er sagen: „Nun, wie fühlst du dich jetzt?“
Aber was kümmert ihn jetzt der Schuldschein, eine Forderung! Lohnt es sich jetzt, darüber sich auch nur ein wenig aufzuregen, es auch nur zu beachten! Er stand da, las, hörte, antwortete, fragte sogar selbst, aber alles nur mechanisch. Der Triumph der Selbsterhaltung, die Rettung aus der drohenden Gefahr, – das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes Wesen, ohne Ausblick, ohne Analyse, ohne Deutung und Enträtselung der Zukunft, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick unmittelbarer, rein tierischer Freude. Aber in diesem Momente ereignete sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant, immer noch aus dem Gleichgewicht wegen der Unehrerbietigkeit, ganz aufgeregt und wahrscheinlich mit dem Wunsche, die gekränkte Ehre herzustellen, stürzte sich mit seinem ganzen Zorn auf die unglückliche „pompöse Dame,“ die ihn seit seinem Eintritt mit einem äußerst dummen Lächeln anblickte.
„Ach du, so eine,“ schrie er sie plötzlich aus vollem Halse an (die Dame in Trauer war schon fortgegangen), „was ist bei dir in der vorigen Nacht passiert? Ah? Wieder gibt es bei dir Schimpf und Skandal in der ganzen Straße? Wieder Schlägerei und Sauferei. Du träumst wohl vom Arbeitshause! Ich habe dir doch schon gesagt, habe dich schon zehnmal gewarnt, daß ich dir das elfte Mal nichts schenken werde! Und du tust es wieder, du, du ...“
Das Papier entfiel den Händen Raskolnikoffs und er blickte entsetzt die prachtvolle Dame an, mit der man so ungeniert herumsprang; aber bald darauf begriff er, was los sei, und sofort gefiel ihm diese Sache ausgezeichnet. Er hörte mit Vergnügen zu, so daß er Lust bekam, laut zu lachen, zu lachen, zu lachen ... Alle seine Nerven zuckten.
„Ilja Petrowitsch!“ versuchte der Sekretär zu besänftigen, aber er hielt inne, um die rechte Zeit abzuwarten, denn den in Aufregung geratenen Leutnant konnte man nicht anders beruhigen als durch Festhalten der Hände, was er aus eigener Erfahrung kannte.
Was aber die prachtvolle Dame anging, so begann sie zuerst beim Donner und Blitz zu beben; aber sonderbar, je zahlreicher und kräftiger die Schimpfwörter wurden, um so liebenswürdiger wurde ihr Aussehen, um so bezaubernder wurde ihr Lächeln dem zornigen Leutnant gegenüber. Sie trippelte auf einem Fleck, knixte ununterbrochen und wartete voll Ungeduld, daß sie endlich auch zu Wort kommen würde, was ihr schließlich gelang.
„Gar kein Lärm und keine Schlägerei waren bei mir, Herr Kapitän,“ plapperte sie plötzlich los, so schnell, als schüttete man Erbsen aus, – mit einem stark deutschen Akzent, aber doch fließend russisch, – „und gar kein Skandal, gar keiner, und sie kamen betrunken hin, und ich will alles erzählen, Herr Kapitän, und ich bin nicht schuld ... ich habe ein anständiges Haus, Herr Kapitän, und ein anständiger Ton ist bei mir, Herr Kapitän, und ich will nie, will selbst nie einen Skandal haben. Sie aber kamen ganz betrunken hin und haben dann drei Flaschen verlangt, und dann erhob einer seine Füße und begann mit den Füßen auf dem Klavier zu spielen, und das paßt sich gar nicht in einem anständigen Hause, und er hat das ganze Klavier zerschlagen, und das ist doch keine Manier, und da habe ich es ihm gesagt. Er aber nahm eine Flasche und begann alle von hinten mit der Flasche zu stoßen. Und da habe ich den Hausknecht gerufen, und als Karl kam, hat er Karl das Auge ausgeschlagen, und Henriette hat er auch das Auge ausgeschlagen, und mich hat er fünfmal auf die Backe geschlagen. Und das ist nicht fein in einem anständigen Hause, Herr Kapitän, und ich habe geschrien. Und er hat das Fenster zu dem Kanal geöffnet und hat wie ein kleines Schwein aus dem Fenster gequiekt; das ist doch eine Schande. Wie kann man auch wie ein kleines Schwein aus dem Fenster quieken? Pfui, pfui, pfui! Und Karl hat ihn an seinem Frack vom Fenster gezogen, und das ist wahr, Herr Kapitän, daß er ihm da seinen Rock zerrissen hat. Und da begann er zu schreien, daß man ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen müsse. Und ich selbst habe ihm fünf Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Und das ist ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, und er hat allen Skandal gemacht. Ich werde, hat er gesagt, eine große Satire über Sie drucken lassen, denn ich kann in allen Zeitungen über Sie schreiben.“
„Also ein Zeitungsschreiber?“
„Ja, Herr Kapitän, und welch ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn er in einem anständigen Hause ...“
„Nun, nun, genug! Ich habe dir doch gesagt, habe dir doch gesagt ...“
„Ilja Petrowitsch!“ sagte von neuem der Sekretär bedeutungsvoll.
Der Leutnant blickte ihn schnell an, der Sekretär nickte leicht mit dem Kopfe.
„... Also es ist mein letztes Wort, verehrteste Louisa Iwanowna, und auch zum letztenmal,“ fuhr der Leutnant fort, „wenn in deinem anständigen Hause nur noch ein einziges Mal ein Skandal vorkommt, so werde ich dich selbst beim Wickel nehmen, wie man sich poetisch ausdrückt. Hast du gehört? Also ein Literat, ein Schriftsteller war es, der in einem ‚anständigen Hause‘ fünf Rubel für einen Rockschoß genommen hat? So sind sie, diese Schriftsteller!“ und er warf einen verächtlichen Blick auf Raskolnikoff. „Vorgestern passierte in einem Restaurant dieselbe Geschichte, – hat einer zu Mittag gegessen, wünscht aber nicht zu zahlen; ‚ich werde‘, sagt er, ‚Sie in einer Satire schildern‘. Ein anderer wieder beschimpft mit den gemeinsten Worten in der vorigen Woche auf einem Dampfschiffe die achtbare Familie eines Staatsrates, Frau und Tochter. Vor ein paar Tagen hat man einen dritten aus einer Konditorei herausgeschmissen. So sind sie alle, die Schriftsteller, Literaten, Studenten, Großmäuler ... pfui! Und du kannst dich packen! Ich will mal selbst dich aufsuchen ... dann nimm dich in acht! Hast du gehört?“
Louisa Iwanowna begann mit eiliger Liebenswürdigkeit nach allen Seiten hin zu knixen und trippelte knixend bis zur Türe, hier aber stieß sie von hinten auf einen stattlichen Offizier mit einem offenen frischen Gesichte und schönem dichten, blonden Backenbart. Es war Nikodim Fomitsch selbst, der Revieraufseher. Louisa Iwanowna beeilte sich einen tiefen Knix zu machen und flog mit eiligen kleinen Schritten hüpfend aus dem Bureau hinaus.
„Wieder Gepolter, wieder Donner und Blitz, Wirbelwind und Orkan!“ wandte sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja Petrowitsch. „Wieder hat man Ihr Herz in Aufruhr gebracht, wieder sind Sie erregt worden! Ich hab’ es schon auf der Treppe gehört.“
„Ach, was!“ sagte mit nobler Gleichgültigkeit Ilja Petrowitsch und ging mit einigen Papieren zu einem anderen Tisch, wobei er bei jedem Schritt elegant mit den Schultern zuckte. „Da, bitte sehen Sie es sich mal an – der Herr Schriftsteller, pardon Student, ein gewesener wollte ich sagen, zahlt nicht, stellt Wechsel aus, räumt die Wohnung nicht, fortwährende Klagen laufen ein, – er aber war doch gekränkt, daß ich in seiner Gegenwart mir eine Zigarette ansteckte. Selbst aber gaunert diese Sorte, bitte sehen Sie sich ihn doch an, – da steht er in seinem reizenden Aussehen.“
„Armut ist kein Laster, mein Freund, na, aber wozu reden. Es ist ja bekannt, du bist wie Pulver, konntest eine Kränkung nicht ertragen. Sie fühlten sich durch irgend etwas von ihm gekränkt und konnten sich nicht beherrschen,“ fuhr Nikodim Fomitsch fort, sich liebenswürdig an Raskolnikoff wendend, „aber das war überflüssig, er ist der an–stän–dig–ste Mensch, sage ich Ihnen, aber wie Pulver, wie Pulver! Flammt auf, kocht über, brennt ab – und Schluß. Und alles ist vorbei! Und zu guter Letzt bleibt nur das goldene Herz! Man hat ihn schon im Regiment ‚Leutnant Pulver‘ genannt!“
„Und was für ein Regiment es war!“ rief Ilja Petrowitsch aus, sehr zufrieden, daß man ihm so angenehm geschmeichelt hatte, aber immer noch schmollend. Raskolnikoff bekam plötzlich Lust, ihnen allen etwas äußerst Angenehmes zu sagen.
„Aber bitte, Herr Kapitän,“ begann er ziemlich ungezwungen, sich plötzlich an Nikodim Fomitsch wendend, „berücksichtigen Sie auch meine Lage ... Ich bin sogar bereit, um Entschuldigung zu bitten, wenn ich gegen etwas verstoßen habe. Ich bin ein armer und kranker Student, erdrückt (er sagte ‚erdrückt‘) von Armut. Ich bin ehemaliger Student, da ich jetzt meinen Unterhalt nicht verdienen kann, aber ich erhalte Geld ... Ich habe Mutter und Schwester im –schen Gouvernement. Sie werden mir Geld schicken und ich werde ... bezahlen. Meine Wirtin ist eine gute Frau, aber sie ist so böse geworden, weil ich meine Stunden verloren habe und ihr den vierten Monat nicht zahle, daß sie mir sogar kein Mittagessen mehr schickt ... Und ich begreife gar nicht, was das für ein Wechsel ist. Jetzt verlangt sie von mir, ihn einzulösen, aber wie kann ich denn zahlen, urteilen Sie selbst!“
„Aber das geht ja uns nichts an ...“ versuchte der Sekretär wieder zu bemerken ...
„Erlauben Sie, erlauben Sie, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden, aber erlauben Sie, Ihnen klar zu machen,“ unterbrach ihn Raskolnikoff, indem er sich nicht an den Sekretär, sondern, wie schon die ganze Zeit, an Nikodim Fomitsch wandte und dabei aus aller Kraft versuchte, sich auch an Ilja Petrowitsch zu wenden, obgleich dieser sich hartnäckig den Anschein gab, als wühle er in den Papieren und beachte ihn nicht, „erlauben Sie mir auch meinerseits Ihnen zu erklären, daß ich schon drei Jahre bei ihr wohne, seit meiner Ankunft aus der Provinz und früher ... früher ... übrigens warum soll ich es nicht gestehen, gleich im Anfang gab ich ihr das Versprechen, daß ich ihre Tochter heiraten werde, es war ein mündliches, vollkommen freiwilliges Versprechen ... Sie war ein junges Mädchen ... übrigens sie gefiel mir sogar ... obgleich ich nicht in sie verliebt war ... mit einem Worte Jugend, d. h. ich will sagen, daß meine Wirtin mir damals viel Kredit einräumte und ich führte teilweise ein solches Leben ... ich war sehr leichtsinnig ...“
„Man verlangt von Ihnen gar nicht solche intime Geständnisse, mein Herr, außerdem haben wir keine Zeit dazu,“ unterbrach ihn grob und triumphierend Ilja Petrowitsch, aber Raskolnikoff beeilte sich voll Eifer weiter zu sprechen, obwohl es ihm plötzlich äußerst schwer fiel.
„Aber erlauben Sie, erlauben Sie mir, teilweise, alles zu erzählen ... wie die Sache vor sich ging und ... wiederum ... obgleich es überflüssig ist zu erzählen, ich bin darin mit Ihnen einverstanden, – aber vor einem Jahre starb dies junge Mädchen am Typhus, ich aber blieb in Miete, wie vorher, und meine Wirtin sagte mir, als sie in ihre jetzige Wohnung einzog, und ... sagte es mir freundschaftlich ... daß sie mir vollkommen vertraue und daß alles ... aber ob ich ihr nicht einen Schuldschein von hundertundfünfzehn Rubel ausstellen möchte, das war die Summe, die ich ihr schuldete. Erlauben Sie, – sie sagte mir nämlich, daß, wenn ich ihr dies Papier ausgestellt habe, sie mir von neuem kreditieren würde, soviel ich nur wünschte, und daß sie niemals, niemals – das sind ihre eigenen Worte – von diesem Papier Gebrauch machen würde, bis ich selbst bezahlen werde ... Und jetzt, wo ich meine Stunden verloren und nichts zu essen habe, verklagt sie mich ... Was soll ich dazu sagen?“
„Alle diese rührenden Einzelheiten gehen uns gar nichts an, mein Herr,“ schnitt Ilja Petrowitsch dreist ab. „Sie müssen eine Erklärung abgeben und eine Verpflichtung ausstellen, ob Sie aber verliebt waren, und all diese tragischen Sachen gehen uns ganz und gar nichts an.“
„Nun, du bist aber ... auch zu grausam ...“ murmelte Nikodim Fomitsch, indem er sich an seinen Tisch setzte und Papiere zu unterschreiben begann.
Er schien sich zu schämen.
„Schreiben Sie also,“ sagte der Sekretär zu Raskolnikoff.
„Was soll ich schreiben?“ fragte er besonders grob.
„Ich werde Ihnen diktieren.“
Raskolnikoff schien es, als wäre der Sekretär herablassender und geringschätziger ihm gegenüber nach seiner Beichte geworden, – aber merkwürdig, – ihm war plötzlich die Meinung eines anderen so vollkommen gleichgültig, und dieser Umschwung hatte sich in einem Augenblick, in einem Nu vollzogen. Wenn er nur ein wenig hätte nachdenken wollen, so würde er sicher verwundert gewesen sein, wie er so mit ihnen vor einer Minute hatte sprechen und sich sogar mit seinen Gefühlen hatte aufdrängen können? Und woher kam dieses Gefühl? Jetzt, wenn das Zimmer plötzlich nicht mit Revieraufsehern, sondern mit seinen besten Freunden angefüllt wäre, würde er kein einziges menschliches Wort für sie finden, so leer war plötzlich sein Herz geworden. Ein düsteres Empfinden der qualvollen endlosen Einsamkeit und Entfremdung teilte sich plötzlich bewußt seiner Seele mit. Nicht die Erniedrigung vor Ilja Petrowitsch durch seine Herzensergießung, auch nicht die Erniedrigung durch den Triumph des Leutnants hatten sein Herz plötzlich so umgewandelt. Oh, was ging ihn jetzt die eigene Schuftigkeit an, all der Ehrgeiz, was gingen ihn alle Leutnants, deutsche Frauen, Geldforderungen, Bureaus an und so weiter und so weiter! Hätte man ihn in diesem Augenblicke zum Scheiterhaufen verurteilt, er hätte sich auch dann nicht gerührt, hätte kaum das Urteil aufmerksam angehört. In ihm vollzog sich etwas ihm völlig Unbekanntes, Neues, Unerwartetes und Niedagewesenes. Er konnte es nicht begreifen, aber fühlte es ganz klar mit der ganzen Kraft des Empfindens, daß er von jetzt ab weder mit gefühlvollen Ereignissen, wie vorhin, noch mit anderen Dingen sich an diese Menschen im Polizeibureau wenden konnte; auch dann wäre es für ihn überflüssig, sich an sie jemals im Leben zu wenden, wenn es sogar seine leiblichen Brüder und Schwestern gewesen wären, und nicht Polizeileutnants. Er hatte bis zu diesem Augenblick noch nie eine ähnliche seltsame und fürchterliche Empfindung erlebt. Und das Quälendste dabei war, – daß es ein Empfinden war, kein bewußtes Begreifen, eine unmittelbare Empfindung, die qualvollste von allen, die er im Leben gekostet.
Der Sekretär begann ihm die Form einer in diesem Falle gebräuchlichen Erklärung zu diktieren, d. h. ich kann nicht zahlen, verspreche es in der Frist (irgendwann) zu tun, werde die Stadt nicht verlassen und mein Eigentum weder verkaufen, noch verschenken und dergleichen mehr.
„Sie können ja gar nicht schreiben, die Feder fällt Ihnen aus der Hand,“ – bemerkte der Sekretär und blickte voll Neugier Raskolnikoff an. – „Sie sind krank?“
„Ja ... der Kopf schwindelt mir ... diktieren Sie weiter.“
„Das ist alles. Unterschreiben Sie es.“
Der Sekretär nahm das Papier und wendete sich andern Besuchern zu.
Raskolnikoff gab die Feder zurück, aber anstatt aufzustehen und wegzugehen, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und preßte mit den Händen den Kopf zusammen. Es war, als ob man ihm einen Nagel in die Schläfe hineinschlüge. Ein wunderlicher Gedanke kam ihm plötzlich, – sofort aufzustehen, zu Nikodim Fomitsch zu gehen und ihm das gestrige zu erzählen, alles bis auf die letzte Einzelheit, dann mit ihm in seine Wohnung zu gehen und ihm die Sachen in dem Winkel im Loche zu zeigen. Der Drang war so stark, daß er sich schon erhob, um es auszuführen.
„Soll ich nicht einen Moment nachdenken?“ – fuhr es ihm durch den Kopf. „Nein, besser nicht nachdenken und die Sache ist abgetan!“
Aber plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Nikodim Fomitsch sprach voll Eifer mit Ilja Petrowitsch, und er vernahm folgende Worte:
„Es kann nicht sein, man wird beide freilassen. Erstens, widerspricht alles der Annahme; urteilen Sie selbst, – warum holten sie den Hausknecht, wenn sie es getan haben? Etwa um sich selbst anzuzeigen? Oder aus Schlauheit! Nein, das wäre schon zu schlau! Und schließlich, den Studenten Pestrjakoff haben beide Hausknechte und eine Frau am Tore im selben Momente gesehen, als er hineinging, – er ging mit drei Bekannten zusammen und verabschiedete sich von ihnen am Tore, und dann fragte er die Hausknechte nach der Wohnung in Gegenwart seiner Bekannten. Nun, wird jemand nach der Wohnung fragen, wenn er so eine Absicht hat? Und Koch, – der hat, bevor er zu der Alten ging, eine halbe Stunde unten bei dem Silberarbeiter gesessen und er ist genau ein viertel vor acht zu der Alten hinaufgegangen. Jetzt erwägen Sie ...“
„Aber erlauben Sie, woher denn der Widerspruch bei ihnen – sie behaupten selbst, daß sie geklopft haben, und daß die Türe verschlossen war, und nach drei Minuten, als sie mit dem Hausknecht heraufkamen, erwies sich, daß die Türe offen war?“
„Das ist ja der Haken, – der Mörder saß unbedingt drinnen und hatte sich eingeschlossen, und man hätte ihn sicher gefaßt, wenn Koch nicht die Dummheit begangen hätte, selbst nach dem Hausknecht zu gehen. Dem aber gelang es währenddessen, die Treppe hinunterzugehen und irgendwie an ihnen vorbeizuschlüpfen. Koch bekreuzt sich mit beiden Händen: ‚wenn ich geblieben wäre,‘ sagt er, ‚würde er herausgekommen sein und hätte mich totgeschlagen‘. Er will ein russisches Dankgebet abhalten lassen ... ha–ha!“
„Und den Mörder hat niemand gesehen?“
„Wie denn? Das Haus ist eine Arche Noah,“ – bemerkte der Sekretär, der von seinem Platze zuhörte.
„Es ist ganz klar, es ist ganz klar!“ wiederholte Nikodim Fomitsch eifrig.
„Nein, die Sache ist sehr unklar,“ blieb Ilja Petrowitsch bei seiner Ansicht.
Raskolnikoff nahm seinen Hut und ging zur Türe, aber kam nicht so weit ... Als er zu sich kommt, sieht er, daß er auf einem Stuhl sitzt; daß rechts ihn jemand stützt, links ein anderer steht mit einem gelben Glase, gefüllt mit gelbem Wasser, und daß Nikodim Fomitsch vor ihm steht und ihn unverwandt anblickt. Er stand vom Stuhle auf.
„Was ist Ihnen, sind Sie krank?“ – fragte Nikodim Fomitsch ziemlich scharf.
„Schon als er unterschrieb, konnte er kaum die Feder führen,“ bemerkte der Sekretär, indem er seinen Platz einnahm und in seinen Papieren wieder blätterte.
„Sind Sie schon lange krank?“ rief Ilja Petrowitsch von seinem Platze aus, indem er auch in Papieren blätterte.
Er hatte selbstverständlich auch den Kranken betrachtet, als er ohnmächtig war, war aber sofort auf die Seite getreten, als jener zu sich kam.
„Seit gestern ...“ murmelte Raskolnikoff zur Antwort.
„Und sind Sie gestern ausgegangen?“
„Ja.“
„Krank?“
„Ja.“
„Um wieviel Uhr?“
„In der achten Stunde abends.“
„Und wohin, wenn man fragen darf?“
„Auf die Straße.“
„Kurz und bündig.“
Raskolnikoff antwortete scharf, kurz, bleich wie ein Taschentuch, ohne seine schwarzen entzündeten Augen vor dem Blick Ilja Petrowitsch’ zu senken.
„Er kann kaum auf den Füßen stehen und du ...“ versuchte Nikodim Fomitsch zu bemerken.
„Tut nichts!“ – sagte Ilja Petrowitsch sehr eigentümlich.
Nikodim Fomitsch wollte noch etwas hinzufügen, schwieg aber, als er den Sekretär anblickte, der ihn auch sehr aufmerksam ansah. Plötzlich schwiegen alle. Es war merkwürdig.
„Nun gut!“ – schloß Ilja Petrowitsch.
„Wir halten Sie nicht auf.“
Raskolnikoff ging hinaus. Er konnte noch hören, wie nach seinem Fortgange plötzlich ein lebhaftes Gespräch begann, in dem am lautesten die fragende Stimme von Nikodim Fomitsch hervortrat ... Auf der Straße kam er ganz zu sich.
„Eine Haussuchung, Haussuchung, sie werden sofort bei mir suchen!“ – wiederholte er vor sich hin, indem er sich beeilte nach Hause zu kommen. – „Räuber! Sie haben Verdacht!“
Wieder erfaßte ihn vom Kopf bis zu Füßen die Angst von vorhin.
„Wie, wenn die Haussuchung schon vorgenommen ist? Wie, wenn ich sie jetzt schon bei mir antreffe?“
Aber da ist er schon in seinem Zimmer. Nichts und niemand; niemand war dagewesen. Sogar Nastasja hat nichts angerührt. Aber, mein Gott! Wie konnte er nur vorhin alle diese Sachen in dem Loche liegen lassen?
Er stürzte zu dem Winkel, steckte die Hand unter die Tapeten und begann die Sachen hervorzuholen und in die Taschen zu stecken. Im ganzen waren es acht Stück, – zwei kleine Schachteln mit Ohrgehängen oder etwas ähnlichem, – er hatte es nicht genau angesehen; dann vier kleine Etuis aus Saffian. Eine kleine Kette war bloß in Zeitungspapier eingewickelt. Es war noch etwas in einem Zeitungspapier, wie es schien, ein Orden ... Er steckte alles in die verschiedenen Taschen, in den Paletot und in die übriggebliebene rechte Hosentasche und gab sich Mühe, daß nichts von außen zu merken war. Den Beutel nahm er gleichfalls mit. Dann verließ er das Zimmer und ließ diesmal die Tür weit offen stehen.
Er ging schnell und fest, und obgleich er fühlte, daß er vollkommen zerschlagen war, war doch sein Bewußtsein klar. Er fürchtete eine Verfolgung, fürchtete, daß nach einer halben Stunde, nach einer Viertelstunde schon vielleicht der Befehl gegeben würde, ihn zu beobachten, also mußte er um jeden Preis, ehe es zu spät war, alles beiseite schaffen. Er mußte fertig sein, solange ihm noch die geringste Kraft und klarer Verstand zur Seite standen ... Wohin aber gehen?
Das war längst entschieden: „Alles in den Kanal werfen, und das ist das Ende“. So hatte er noch in der Nacht, im Fieber, beschlossen, in den Augenblicken, wo er – er entsann sich dessen – ein paarmal versuchte aufzustehen und fortzugehen: „Schnell, schnell, alles fortwerfen“. Aber das erwies sich als sehr schwer.
Er wanderte den Jekaterinenkanal schon über eine halbe Stunde entlang, vielleicht auch länger, und schaute nach den Treppen, die zum Kanal hinabführten. Aber es war nicht mal daran zu denken, das Vorhaben auszuführen: entweder lagen an den Treppen Flöße, und Wäscherinnen wuschen dort, oder Kähne hatten angelegt, und überall wimmelte es von Menschen, außerdem aber konnte man von allen Seiten hersehen, es war schon verdächtig, wenn ein Mensch hinabging, stehen blieb und etwas ins Wasser warf. Und gar wenn die Etuis nicht untergingen, sondern obenauf schwammen? Ja, und so wird es auch kommen. Jeder wird es sehen. Schon jetzt sehen alle ihn an, als ob sie sich nur um ihn kümmerten.
„Woher kommt das, oder scheint es mir nur so?“ – dachte er.
Endlich kam ihm der Gedanke, ob es nicht besser wäre, irgendwohin an die Newa zu gehen? Dort sind weniger Menschen, und es würde weniger bemerkbar und in jedem Falle bequemer sein, hauptsächlich aber wäre es weit von hier. Und er wunderte sich plötzlich, wie er eine volle halbe Stunde an den gefährlichen Stellen in Trübsal und Unruhe herumgewandert war, ohne früher auf diesen Gedanken zu kommen.
Und er hatte nur darum eine halbe Stunde nutzlos verbraucht, weil er so im Traume, im Fieber beschlossen hatte. Er war sehr zerstreut und vergeßlich geworden und fühlte es. Entschieden mußte er sich beeilen.
Er ging zur Newa den W.schen Prospekt entlang und unterwegs kam ihm plötzlich der Gedanke: „Warum denn zur Newa? Warum ins Wasser werfen? Ist es nicht besser, irgendwohin ganz weit hinzugehen, vielleicht auf die Inseln, und dort irgendwo an einer einsamen Stelle, im Walde, unter einem Busche alles zu verscharren und vielleicht sich den Baum zu merken?“
Und obgleich er fühlte, daß er nicht imstande sei, alles klar und vernünftig in diesem Augenblicke zu überlegen, schien ihm doch der Gedanke einwandfrei zu sein.
Aber auch das war ihm nicht bestimmt auszuführen, es geschah etwas anderes: – als er vom W.schen Prospekt auf den Platz kam, erblickte er plötzlich links das Tor zu einem von vollkommen fensterlosen Mauern umgebenen Hof. Rechts zog sich von dem Eingange tief in den Hof hinein die fensterlose, ungekalkte Mauer des vierstöckigen Nachbarhauses. Links vom Eingange, parallel der kahlen Mauer, lief ein hölzerner Zaun, der weiterhin, etwa zwanzig Schritte vom Eingange eine Biegung nach links machte. Es war ein leerer, umzäunter Platz, wo allerhand Baumaterialien lagen. Weiter, tief im Hofe, blickte hinter dem Zaune die Ecke einer niedrigen, verräucherten Scheune aus Stein hervor, wahrscheinlich der Teil einer Werkstatt. Hier war sicher eine Werkstatt für Wagenbauer oder eine Schlosserei oder etwas ähnliches, denn überall lag viel schwarzer Kohlenstaub. „Hier könnte man es wegwerfen und fortgehen!“ – durchzuckte es ihn plötzlich. Da er niemand auf dem Hofe bemerkte, durchschritt er das Tor und erblickte sofort am Eingange eine am Zaune angebrachte Rinne, wie man sie oft in solchen Häusern antrifft, in denen es viele Arbeiter, Kutscher usw. gibt, und über der Rinne war am Zaune mit Kreide die übliche witzige Bemerkung angeschrieben: „Hier ist es verboten, stehen zu bleiben!“ Dieser Umstand war also ausgezeichnet, es konnte keinen Verdacht erregen, daß er hineingegangen und hier stehn geblieben war. „Alles mit einem Ruck fortwerfen und fortgehen!“
Er blickte sich noch einmal um und wollte schon die Hand in die Tasche stecken, als er plötzlich an der äußeren Mauer, zwischen dem Tore und der Rinne, wo es höchstens einen Meter breit war, einen großen unbehauenen Stein bemerkte, der vielleicht einen halben Zentner schwer sein mochte und an die Straßenmauer angelehnt war. Hinter dieser Mauer war die Straße, der Fußsteg, man hörte, wie die Vorbeigehenden schlurften, aber hinter dem Tore konnte ihn niemand sehen, wenn nicht jemand von der Straße eintrat, was übrigens sehr leicht passieren konnte, und darum mußte er sich beeilen.
Er beugte sich zu dem Steine, packte die obere Spitze mit beiden Händen fest an, nahm alle seine Kräfte zusammen und wandte den Stein um. Unter dem Steine hatte sich eine kleine Vertiefung gebildet; er begann sofort alles aus der Tasche hineinzuwerfen. Der Beutel kam obenauf zu liegen, und trotzdem war noch Platz in der Vertiefung. Dann packte er den Stein von neuem an, drehte ihn mit einem Ruck um, und er kam genau auf die frühere Stelle zu liegen, nur schien er ein wenig hervorzuragen. Er scharrte Erde ringsum zusammen und trat sie fest. Es war nichts zu merken. Dann ging er hinaus und wandte sich dem Platze zu. Wieder packte ihn auf einen Augenblick eine starke, überwältigende Freude, wie vorhin in dem Polizeibureau.
„Alle Spuren sind verwischt! Und wem, wem könnte es in den Sinn kommen, unter diesem Steine nachzusuchen? Er liegt hier, vielleicht seitdem das Haus gebaut ist und wird vielleicht noch ebensolange liegen. Und wenn man es auch finden würde, wer würde an mich denken? Alles ist vorüber! Es gibt keine Beweise!“ und er lachte. Ja, er entsann sich später, daß ihn ein nervöses stilles Lachen überfallen und daß er solange gelacht hatte, als er über den Platz ging. Als er aber den K.schen Boulevard erreichte, wo er vorgestern dem jungen Mädchen begegnet war, verging ihm das Lachen. Andere Gedanken kamen ihm in den Kopf. Ein Abscheu ergriff ihn, an jener Bank vorbeizugehen, auf der er damals nach dem Fortgehen des Mädchens gesessen und nachgedacht hatte, und er fürchtete sich, dem Polizisten wieder zu begegnen, dem er damals zwanzig Kopeken gegeben hatte. „Hol ihn der Teufel!“ Er ging und blickte sich zerstreut und ärgerlich um. Alle seine Gedanken drehten sich jetzt um einen einzigen, anscheinend um den Hauptpunkt, und er fühlte, daß dies wirklich der Hauptpunkt sei, und daß er jetzt, gerade jetzt, mit diesem Hauptpunkte unter vier Augen zu tun habe, – und daß es das erstemal seit diesen zwei Monaten sei.
„Ah, hol der Teufel all das!“ dachte er plötzlich in einem Anfalle von unermeßlicher Wut. „Na, wenn es mal begonnen hat, mag es auch dabei bleiben, hol der Teufel das neue Leben. Oh Gott, wie das dumm ist! ... Und wieviel habe ich heute zusammengelogen und wie gemein war ich! Wie gemein habe ich vorhin geschwänzelt und dem charakterlosen Ilja Petrowitsch geschmeichelt. Was war das für ein Blödsinn! Ich pfeife auf sie alle und auch auf das, daß ich geschwänzelt und geschmeichelt habe. Das ist es nicht, das ist es gar nicht!“
Plötzlich blieb er stehn; eine neue, völlig unerwartete und außerordentlich einfache Frage brachte ihn von diesem Gedanken ab und ließ ihn bitter erstaunen:
„Wenn das ganze in der Tat bewußt und nicht in alberner Weise vollführt wurde, wenn du tatsächlich ein bestimmtes und sicheres Ziel hattest, – wie kam es dann, daß du bis jetzt nicht einmal in den Beutel hineinblicktest und nicht weißt, was dir zugefallen ist, warum hast du alle Qualen auf dich genommen und solch eine gemeine, häßliche, niedrige Tat bewußt übernommen? Du wolltest doch soeben ihn ins Wasser werfen, den Beutel mit all den Sachen, die du auch noch nicht gesehen hast ... Wie ist denn das?“
Ja so ist es, es ist einmal so. Er hatte es vorher gewußt, und es war gar keine neue Frage für ihn. Auch als es in der Nacht beschlossen wurde, ohne jedes Schwanken und jeden Widerspruch, sondern so, als gehörte es sich so, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er wußte dies alles und erinnerte sich daran; ja, schon gestern war es vielleicht so beschlossen in demselben Moment, als er über den Kasten gebückt dasaß und die Futterale hervorholte ... Es ist doch so! ...
„Das kommt daher, daß ich sehr krank bin,“ entschied er schließlich finster, „ich habe mich selbst gemartert und abgequält und weiß selbst nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und die ganze Zeit habe ich mich gemartert ... Ich werde gesund werden und ... werde mich dann nicht mehr martern ... Aber wenn ich nun gar nicht gesund werde? Oh Gott! Wie ich all dessen überdrüssig bin ...“
Er ging weiter ohne stehn zu bleiben. Er wollte sehr gern sich irgendwie zerstreuen, aber er wußte nicht, was er tun und unternehmen sollte. Eine neue unbezwingbare Empfindung erfaßte ihn immer stärker und stärker mit jedem Augenblick, – es war ein grenzenloser, fast physischer Widerwille gegen alles, was ihm begegnete und was ihn umgab; es war ein hartnäckiges, böses und quälendes Gesicht. Alle Begegnenden waren ihm widerwärtig, – ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen waren ihm widerwärtig. Er hätte sie am liebsten angespien, ja, vielleicht gar gebissen, wenn man ihn angeredet hätte.
Er blieb stehn, als er an das Ufer der kleinen Newa, auf Wassiljew Ostroff bei der Brücke hinauskam.
„Da wohnt er ja, in diesem Hause,“ dachte er. „Was ist denn das, bin ich etwa zu Rasumichin mit Willen gegangen? Es ist dieselbe Geschichte wie damals ... Es ist mir nun doch sehr interessant, – bin ich mit Absicht hierhergekommen oder lenkte das Schicksal meine Schritte. Es ist mir übrigens gleichgültig. Ich sagte mir ... vorgestern ... daß ich am andren Tage nach dem hingehen werde; na, ich werde es tun, was ist denn dabei! Als ob ich jetzt nicht zu ihm gehen könnte ...“
Er ging hinauf zu Rasumichin in das fünfte Stockwerk.
Rasumichin war in seinem Zimmerchen und mit Schreiben beschäftigt; er öffnete ihm selbst. Seit vier Monaten etwa hatten sie sich nicht gesehen. Rasumichin stak in einem zerfetzten abgetragenen Schlafrock, hatte Pantoffeln an den bloßen Füßen und saß ungekämmt, unrasiert und ungewaschen da. Auf seinem Gesichte zeigte sich großes Erstaunen.
„Was ist mit dir?“ rief er aus und betrachtete den eingetretenen Kameraden vom Kopf bis zu den Füßen. Dann schwieg er und tat einen leisen Pfiff.
„Steht es mit dir wirklich so schlecht? Ja, du hast sogar unsereinen übertroffen,“ fügte er hinzu und blickte auf Raskolnikoffs Lumpen. „Aber so setz’ dich doch, du bist wahrscheinlich müde!“
Und als dieser auf das türkische Sofa von Wachstuch hinsank, sah Rasumichin plötzlich, daß sein Besucher krank sei.
„Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?“
Er begann seinen Puls zu fühlen, Raskolnikoff aber riß die Hand weg.
„Ist nicht nötig,“ sagte er, „ich bin gekommen ... die Sache ist – ich habe keine Stunden zu geben ... ich wollte ... übrigens, ich brauche keine Stunden ...“
„Weißt du was? Du phantasierst ja!“ bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam beobachtete.
„Nein, ich phantasiere nicht ...“
Raskolnikoff erhob sich vom Sofa. Indem er zu Rasumichin ging, dachte er nicht daran, daß er Auge in Auge ihm gegenüberstehen müsse. Jetzt aber, in einem Nu, wurde es ihm durch diese Erfahrung klar, daß er jetzt am allerwenigsten aufgelegt sei, irgend jemandem auf der ganzen Welt Auge in Auge gegenüberzutreten. Die Galle stieg in ihm auf. Er verlor fast den Atem vor Wut über sich selbst, darüber, daß er diese Schwelle überschritten hatte.
„Lebe wohl!“ sagte er plötzlich und ging zur Tür.
„Aber warte doch, warte, du komischer Kauz!“
„Nicht nötig! ...“ wiederholte der und stieß seine Hand zurück.
„Weshalb aber bist du denn gekommen, zum Teufel noch einmal! Bist du von Sinnen? Das ist doch ... fast beleidigend. Ich laß dich nicht so.“
„So hör nun, – ich bin zu dir gekommen, weil ich niemand außer dir kenne, der mir helfen würde ... anzufangen ... weil du besser, d. h. klüger als alle anderen bist und beurteilen kannst ... Jetzt aber sehe ich, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts brauche ... keinen Dienst und Teilnahme ... Ich selbst ... allein ... Nun, genug davon! Laßt mich in Ruhe!“
„Aber warte doch einen Augenblick, du Schornsteinfeger! Bist ja ganz verrückt! Meinetwegen tue, wie du willst. Siehst du, Stunden habe ich nicht mal selber und pfeife auch darauf, aber auf dem Trödlermarkt gibt es einen Buchhändler Heruwimoff, der ist mir lieber als Stunden. Ich möchte ihn nicht gegen fünf Stunden bei Kaufleuten vertauschen. Er verlegt allerhand kleine Sachen und gibt naturwissenschaftliche Broschüren heraus, – und wie die gehen? Die Titel allein sind schon was wert! Siehst du, du hast immer behauptet, ich wäre dumm; bei Gott, es gibt noch Dümmere als ich, Bruder mein! Jetzt macht er sogar in der modernen Literatur; selbst versteht er rein gar nichts davon, ich aber unterstütze ihn selbstverständlich darin. Hier siehst du mehr als zwei Bogen deutschen Text, – meiner Ansicht nach, von der allerdümmsten Charlatanerie; mit einem Worte, es wird erörtert, ob die Frau ein Mensch ist oder nicht? Selbstredend wird mit Glanz bewiesen, daß sie ein Mensch ist. Heruwimoff bringt es, als zur Frauenfrage gehörend, heraus. Ich übersetze; er wird diese zwei und einen halben Bogen auf sechs ausdehnen, wir erfinden dann einen prachtvollen Titel; eine halbe Seite lang, und schlagen es zu fünfzig Kopeken los. Es wird sicher gehen! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel pro Bogen, also für das Ganze fünfzehn, und sechs Rubel habe ich Vorschuß. Wenn wir damit fertig sind, fangen wir an, über Walfische zu übersetzen, dann folgen einige langweilige Klatschgeschichten aus dem zweiten Teil der ‚Konfessions,‘ die schon vorgemerkt sind und übersetzt werden sollen. Jemand hat Heruwimoff gesagt, Rousseau wäre eine Art Radischtscheff.[9] Ich widerspreche selbstverständlich nicht, hol ihn der Teufel! Willst du nun den zweiten Bogen von ‚Ist die Frau ein Mensch?‘ übersetzen? Wenn du willst, nimm sofort den Text, Federn und Papier – dies alles wird gratis geliefert – und nimm drei Rubel. Da ich für die ganze Übersetzung, für den ersten und zweiten Bogen, vorausbekommen habe, so kommen gerade auf diesen Teil drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen fertig bist, – erhältst du noch drei Rubel. Ja, noch eins, – bitte, sieh’ es nicht als einen Dienst meinerseits an. Im Gegenteil, als du eintratest, dachte ich gleich, wie nützlich du mir sein könntest. Erstens bin ich in der Orthographie schlecht und zweitens bin ich im Deutschen öfters recht schwach, so daß ich meistens selbst hinzu dichte und mich bloß damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Aber wer weiß, vielleicht wird es nicht besser, sondern schlechter ... Tust du mit oder nicht?“ Raskolnikoff nahm schweigend die Blätter der deutschen Artikel, nahm die drei Rubel und ging ohne ein Wort zu sagen hinaus. Rasumichin blickte ihm erstaunt nach. Als Raskolnikoff aber schon ein Stück gegangen war, kehrte er plötzlich um, ging wieder zu Rasumichin hinauf, legte auf den Tisch die Blätter und die drei Rubel und ging wieder schweigend von dannen.
„Hast du etwa das Delirium?“ schrie Rasumichin, der schließlich wütend geworden war. „Warum führst du hier eine Komödie auf? Hast mich sogar konfus gemacht ... Warum bist du denn hergekommen, zum Teufel?“
„Ich brauche keine ... Übersetzungen ...“ murmelte Raskolnikoff, als er schon die Treppe hinabstieg.
„Ja, was brauchst du denn, zum Teufel?“ rief von oben Rasumichin.
Der ging jedoch schweigend hinunter.
„He, du! Wo wohnst du?“
„Na, so hol dich der Teu–fel!“ ...
Raskolnikoff war schon auf der Straße angelangt.
Auf der Nikolaibrücke passierte es ihm, daß er infolge eines für ihn sehr unangenehmen Zwischenfalles wieder zur völligen Besinnung kam. Der Kutscher einer Privatequipage hatte ihm einen starken Peitschenhieb über den Rücken versetzt, weil er beinahe unter die Pferde geraten war, trotzdem er ihn einigemal angerufen hatte. Der Peitschenhieb verursachte eine solche Wut in ihm, daß er bis ans Geländer sprang – (es war unklar, warum er in der Mitte der Brücke, auf dem Fahrweg, ging) und mit den Zähnen knirschte. Ringsherum erklang lautes Lachen.
„Geschieht ihm recht!“
„Ist wahrscheinlich ein Spitzbube.“
„Selbstverständlich, stellt sich betrunken, kriecht absichtlich unter die Räder, und unsereiner muß es verantworten.“
„Davon leben sie, Verehrtester, damit verdienen sie ...“
In dem Augenblicke, als er am Geländer stand, den Rücken reibend und immer noch sinnlos vor Wut der davonfahrenden Equipage nachschaute, fühlte er, daß ihm jemand Geld in die Hand drückte. Er blickte auf, – es war eine ältliche Kaufmannsfrau mit einem Kopftuche, und neben ihr ein junges Mädchen im Hute, mit einem grünen Sonnenschirme, wahrscheinlich die Tochter. „Nimm, mein Lieber, um Christi willen!“ Er nahm das Geld, und sie gingen weiter. Es waren zwanzig Kopeken. Seiner Kleidung und dem Aussehen nach konnten sie ihn sehr leicht für einen Bettler, für einen echten Groschensammler von der Straße halten, daß sie ihm aber ganze zwanzig Kopeken gaben, hatte er sicher dem Peitschenhiebe zu danken, der sie mitfühlend gestimmt hatte.
Er drückte die Münze fest in die Hand, ging etwa zehn Schritte und wandte sich mit dem Gesichte zur Newa, in der Richtung des Winterpalais. Der Himmel war ohne die geringste Wolke und das Wasser fast blau, was so selten auf der Newa vorkommt. Die Kuppel des Domes, der von keinem Punkte sich besser hervorhebt, als von der Brücke aus, leuchtete förmlich, durch die reine Luft konnte man jede Verzierung deutlich wahrnehmen. Der Schmerz vom Peitschenhieb hatte nachgelassen, und Raskolnikoff hatte den Hieb vergessen; ein unruhiger und nicht ganz klarer Gedanke beschäftigte ihn jetzt ausschließlich. Er stand und schaute lange und unverwandt in die Ferne; diese Stelle kannte er besonders gut. Als er noch zur Universität ging, geschah es gewöhnlich, – meistens auf dem Rückwege nach Hause, – daß er gerade an dieser Stelle stehn blieb, um unverwandt dieses prachtvolle Panorama zu betrachten, und jedesmal mußte er über den Eindruck, den er sich nicht erklären konnte, staunen. Eine unerklärliche Kälte wehte ihm stets von diesem wundervollen Panorama entgegen; dieses prächtige Bild war für ihn von einem stillen und dumpfen Geiste erfüllt ... Er wunderte sich jedesmal über seinen düsteren und rätselhaften Eindruck und schob die Lösung, ohne zu wissen warum, in die Zukunft. Jetzt erinnerte er sich deutlich seiner früheren Fragen und Zweifel, und es schien ihm, als hätte er sich nicht rein zufällig ihrer erinnert. Schon der Umstand erschien ihm merkwürdig und wunderlich, daß er auf derselben Stelle, wie früher, stehengeblieben war, als bilde er sich wirklich ein, daß er jetzt über dasselbe, wie ehedem, nachsinnen und sich für ebensolche Themen und Bilder interessieren könne, wie er es früher ... noch unlängst getan. Ihm wurde fast lächerlich zumute und gleichzeitig schnürte es ihm die Brust zu. In der Tiefe, tief unten in einem ungeheuren Abgrunde versunken, erschien ihm jetzt die ganze Vergangenheit, die früheren Gedanken, die alten Ziele und Probleme, die damaligen Eindrücke und dieses ganze Panorama, und er selbst und alles ... Ihm schien, als fliege er irgendwo hinauf, und alles verschwinde aus seinen Augen ... Indem er eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand machte, fühlte er wieder in seiner geballten Faust die zwanzig Kopeken. Er öffnete die Hand, blickte aufmerksam das Geldstück an und schleuderte es ins Wasser; dann wandte er sich um und ging nach Hause. Ihm schien es, als hätte er in diesem Augenblick seine ganze Vergangenheit mit einer Schere abgeschnitten.
Es war am Abend, als er nach Hause kam, also mußte er im ganzen gegen sechs Stunden gewandert sein. Welchen Weg, und wie er zurückgekommen war, erinnerte er sich gar nicht. Er kleidete sich aus, und zitternd am ganzen Körper, wie ein abgehetztes Pferd, legte er sich auf das Sofa, zog seinen Mantel über sich und fiel sofort in Bewußtlosigkeit ...
Er wurde in völliger Dämmerung von einem furchtbaren Geschrei aufgestört. Oh, Gott, was ist das für ein Geschrei! Solche unnatürlichen Töne, solch ein Geheul, Stöhnen, Knirschen, Weinen, Schläge und Schimpfen hatte er noch nie vernommen. Er konnte sich nicht mal solchen Greuel, solche Raserei vorstellen. Voll Schrecken erhob er sich und setzte sich in seinem Bette auf; schwer atmend litt er Qualen. Die Schläge, das Geschrei und die Schimpfwörter wurden immer stärker und stärker. Er vernahm zu seiner größten Verwunderung die Stimme seiner Wirtin. Sie heulte, kreischte und klagte, sie sprach die Worte in so eiliger Hast, daß man nicht verstehen konnte, um was sie flehte, – gewiß, daß man aufhören sollte, sie zu schlagen, denn man prügelte sie auf der Treppe unbarmherzig. Die Stimme des Schlagenden war so schauerlich vor Wut und Raserei, daß er bloß noch röchelte, und er sprach ebenso unverständlich, hastig und sich verschluckend. Plötzlich bebte Raskolnikoff am ganzen Körper; er hatte die Stimme von Ilja Petrowitsch erkannt. Er ist hier und schlägt die Wirtin! Er schlägt sie mit Fäusten, stößt ihren Kopf auf die Stufen, – das ist klar, man hörte es an dem Ton, am Geheul, an den Schlägen! Was ist denn geschehen, hat sich die Welt gewendet? Man hörte, wie aus allen Stockwerken, auf der ganzen Treppe sich Menschen ansammeln, Stimmen, Ausrufe erschallen, man läuft, trampelt, schlägt die Türen zu, rennt zusammen. „Aber weshalb denn, weshalb und wie ist es denn möglich?“ wiederholte er und glaubte in allem Ernste, er hätte den Verstand verloren. Aber nein, er hört es doch zu deutlich! ... Also wird man auch zu ihm gleich kommen, „denn ... das ist sicher wegen desselben ... wegen des gestrigen ... Oh, Gott!“ Er wollte die Tür zuhaken, konnte aber die Hand nicht erheben ... und es wäre ja nutzlos. Die Angst lag auf seiner Seele wie Eis, hatte ihn zermartert, ihn erstarrt ... Aber nach und nach hörte dieser Spektakel, der sicher gegen zehn Minuten gedauert hatte, auf. Die Wirtin stöhnte und ächzte, Ilja Petrowitsch drohte und schimpfte noch immer ... Endlich schien auch er ruhiger geworden zu sein; jetzt hörte man ihn nicht mehr. „Ist er fortgegangen? Oh, Gott!“ Ja, nun geht auch die Wirtin fort, sie stöhnt und weint noch immer ... nun schlug sie auch ihre Türe zu ... Jetzt gehen die Menschen die Treppe hinunter in ihre Wohnungen, – sie bedauern, streiten, rufen einander zu, bald erhebt sich ihr Gerede bis zum Geschrei, bald sinkt es zum Flüstertone. Wahrscheinlich waren es viele gewesen, fast das ganze Haus war zusammengelaufen. „Aber, mein Gott, ist denn das alles möglich! Und warum, warum kam er hierher!“
Raskolnikoff fiel kraftlos auf das Sofa hin, aber er konnte kein Auge schließen; er lag etwa eine halbe Stunde in solcher Qual, in dem unausstehlichen Gefühle eines grenzenlosen Schreckens, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Plötzlich erhellte ein greller Schein sein Zimmer, – Nastasja kam mit einem Lichte und einem Teller Suppe herein. Sie sah ihn aufmerksam an und als sie bemerkte, daß er nicht schlafe, stellte sie das Licht auf den Tisch und begann das Mitgebrachte aufzustellen: Brot, Salz, einen Teller und Löffel ...
„Hast seit gestern wahrscheinlich nichts gegessen? Hast dich den ganzen Tag umhergetrieben, – im Fieber, wie du bist.“
„Nastasja ... warum schlug man die Wirtin?“
Sie sah ihn aufmerksam an.
„Wer hat die Wirtin geschlagen?“
„Soeben ... vor einer halben Stunde. Ilja Petrowitsch, der Gehilfe des Revieraufsehers, auf der Treppe ... Warum hat er sie so geschlagen. Und ... warum kam er her?“
Nastasja betrachtete ihn schweigend und mit zusammengezogenen Augenbrauen, und sah ihn lange so an. Ihm wurde dieses Anstarren sehr unangenehm, beängstigend.
„Nastasja, warum schweigst du?“ sagte er schließlich zaghaft mit schwacher Stimme.
„Das ist das Blut,“ antwortete sie leise, als rede sie mit sich selbst.
„Blut! ... Was für ein Blut? ...“ murmelte er erbleichend und rückte zur Wand.
Nastasja fuhr fort ihn schweigend zu betrachten.
„Niemand hat die Wirtin geschlagen,“ sagte sie endlich in strengem und entschiedenem Tone.
Er sah sie an und atmete kaum.
„Ich habe selbst gehört ... ich habe nicht geschlafen ... ich saß,“ sagte er noch zaghafter. „Ich habe lange zugehört ... Der Gehilfe des Revieraufsehers war gekommen ... Alle waren auf der Treppe zusammengelaufen, aus allen Stockwerken ...“
„Niemand ist dagewesen. Es ist das Blut, das in dir spricht. Wenn es keinen Ausweg hat und sich in Klumpen zusammenballt, dann erscheinen einem allerhand Dinge ... Wirst du essen?“
Er antwortete nicht. Nastasja stand immer noch bei ihm, blickte ihn aufmerksam an und ging nicht weg.
„Gib mir zu trinken ... liebe Nastasja.“
Sie ging hinunter und nach ein paar Minuten kehrte sie mit Wasser in einer weißen Tasse zurück, weiter erinnerte er sich nichts mehr, nur noch, wie er einen Schluck kalten Wassers genommen und aus der Tasse auf die Brust verschüttet hatte. Dann hatte er das Bewußtsein verloren.
Er war jedoch nicht ganz besinnungslos während seiner Krankheit; es war ein fieberhafter Zustand mit Traumgesichten und halbem Bewußtsein. An vieles konnte er sich später erinnern. Bald schien es ihm, als versammle sich eine Menge Menschen um ihn, die ihn irgendwohin fort tragen wollten und sich seinetwegen sehr viel stritten und zankten. Bald war er wieder allein im Zimmer, alle waren weggegangen und fürchteten sich vor ihm, nur zuweilen öffnete man die Türe, um ihn zu betrachten, man drohte ihm, verabredete unter sich etwas, lachte und reizte ihn. Nastasja sah er oft um sich, auch unterschied er noch einen Menschen, der ihm sehr bekannt schien, aber wer es war – konnte er nicht herausbekommen, das peinigte ihn, und er weinte sogar. Manchmal schien es ihm, als liege er schon einen Monat, ein anderes Mal aber – als wäre es noch derselbe Tag. Jenes aber, jenes Ereignis hatte er völlig vergessen; dafür aber dachte er immerfort, daß er etwas vergessen habe, was er nicht hätte vergessen dürfen, – er quälte sich, marterte sich, um darauf zu kommen, stöhnte, es überfiel ihn eine rasende Wut oder eine schreckliche unerträgliche Angst. Dann versuchte er aufzustehen, wollte fliehen, aber stets hielt ihn jemand mit Gewalt zurück und er verfiel wieder in Schwäche und Bewußtlosigkeit. – Endlich kam er ganz zu sich.
Das geschah an einem Morgen um zehn Uhr. Um diese Stunde zog an heiteren Tagen die Sonne stets einen langen Streifen über die rechte Wand des Zimmers und beleuchtete die Ecke an der Tür. An seinem Bette stand Nastasja und noch ein Mann, der ihn mit großem Interesse betrachtete und der ihm völlig unbekannt war. Das war ein junger Bursche in langem Rock, mit einem kleinen Barte, der seinem Aussehen nach ein Kontordiener sein mochte. Hinter der halbgeöffneten Tür blickte die Wirtin hervor. Raskolnikoff erhob sich.
„Wer ist das, Nastasja?“ fragte er und wies auf den Burschen.
„Sieh mal, er ist zu sich gekommen!“ sagte sie.
„Zu sich gekommen,“ wiederholte der Kontordiener.
Als sie hörte, daß er zu sich gekommen sei, schloß die Wirtin sofort die Tür und verschwand. Sie war immer schon schüchtern und vertrug mit Mühe Gespräche und Auseinandersetzungen; sie war gegen vierzig Jahre alt, dick und fett, hatte schwarze Augenbrauen und schwarze Augen, war gutmütig aus Wohlgenährtheit und Faulheit, ziemlich hübsch, genierte sich aber über alle Maßen.
„Wer sind ... Sie?“ wandte sich fragend Raskolnikoff an den Kontordiener. In diesem Augenblicke wurde die Türe von neuem weit geöffnet, und gebückt, da er viel zu groß war, trat Rasumichin ein.
„Das ist ja die reinste Schiffskajüte,“ rief er beim Eintreten, „immer stoße ich mit der Stirn an. Und das nennt sich eine Wohnung? Und du bist zu dir gekommen, Bruder! Die liebe Praskovja sagte es mir.“
„Er ist soeben zu sich gekommen,“ sagte Nastasja.
„Soeben zu sich gekommen,“ bestätigte wieder der Kontordiener mit einem Lächeln.
„Wer sind Sie aber, mein Herr?“ fragte er plötzlich Rasumichin, sich an ihn wendend. „Ich bin, sehen Sie, Rasumichin, Student, Sohn eines Edelmannes, und er ist mein Freund. Nun, und wer sind Sie?“
„Ich bin in unserm Kontor Diener, beim Kaufmann Schelopajeff, und komme in Geschäften.“
„Nehmen Sie bitte Platz auf diesem Stuhl.“
Rasumichin setzte sich auf einen andern, an der anderen Seite des Tischchens.
„Das hast du gut getan, Bruder, daß du zu dir gekommen bist,“ fuhr er fort, sich an Raskolnikoff wendend. „Den vierten Tag schon hast du kaum etwas gegessen oder getrunken. Löffelweise hat man dir ein wenig Tee gegeben. Ich brachte ein paarmal Sossimoff mit. Erinnerst du dich seiner? Er hat dich genau untersucht und sagte sofort, es sei nichts von Bedeutung, – es hat sich in den Kopf gezogen. Irgendein Unsinn mit den Nerven, sagt er, schlechte Ernährung, zu wenig Bier und Meerrettich habe man dir gegeben, daher auch die Krankheit, aber es habe nichts auf sich, wird bald vergehen und gut werden. Sossimoff ist ein tüchtiger Kerl! Fängt glänzend an damit, daß er dich kuriert. Na, ich will Sie nicht aufhalten,“ wandte er sich wieder an den Kontordiener, „wollen Sie Ihre Wünsche erklären? Denk dir, Rodja, das ist schon der zweite Bote aus dem Kontor, mit dem ersten habe ich gesprochen. Wer war es, der vor Ihnen da war?“
„Ich glaube, es war vorgestern; ja es stimmt. Das war Alexei Ssemenowitsch, er ist auch aus unserem Kontor.“
„Er ist wohl gescheiter als Sie, he?“
„Ja, Sie haben recht, er ist solider.“
„Das lobe ich mir, nun, fahren Sie fort.“
„Also, Afanassi Iwanowitsch Wachruschin, von dem, wie ich annehme, Sie öfter gehört haben, sendet Ihnen auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, durch unser Kontor eine Anweisung,“ begann der Diener, sich direkt an Raskolnikoff wendend.
„Falls Sie wieder bei Bewußtsein sind, soll ich Ihnen fünfunddreißig Rubel überreichen, die an Ssemjon Ssemenowitsch von Afanassi Iwanowitsch auf Wunsch Ihrer Frau Mutter, wie in früheren Fällen, überwiesen werden. Sie kennen ihn doch?“
„Ja ... ich erinnere mich ... Wachruschin ...“ sagte Raskolnikoff sinnend.
„Hören Sie – er kennt den Kaufmann Wachruschin!“ rief Rasumichin aus. „Ist er nun nicht bei Bewußtsein? Übrigens, ich merke jetzt auch, daß Sie ebenfalls ein gescheiter Mann sind. Na! Kluge Reden hört man gern.“
„Ja, er ist es, Wachruschin, Afanassi Iwanowitsch, und zufolge des Wunsches Ihrer Frau Mutter, die schon einmal auf diesem Wege Ihnen Geld gesandt hatte, hat er es auch diesmal nicht abgelehnt und hat Ssemjon Ssemenowitsch in diesen Tagen Order erteilt, Ihnen fünfunddreißig Rubel bis auf weiteres zu übergeben.“
„Das ist gut: ‚bis auf weiteres,‘ nicht übel war auch das ‚von Ihrer Frau Mutter‘. Nun, also wie ist Ihre Ansicht, – ist er bei vollem Bewußtsein oder nicht, he?“
„Mir ist es gleich. Sehen Sie, nur die Unterschrift müßte ich haben.“
„Er wird sie schon hinkritzeln. Was haben Sie da, ein Buch etwa?“
„Ein Quittungsbuch, hier.“
„Geben Sie es her. Nun, Rodja, erhebe dich. Ich will dich stützen; unterschreibe mal, nimm die Feder, denn Geld brauchen wir jetzt mehr als Syrup, Bruder.“
„Ist nicht nötig,“ sagte Raskolnikoff und stieß die Feder von sich.
„Was ist nicht nötig?“
„Ich werde nicht unterschreiben.“
„Zum Teufel, wie denn ohne Quittung?“
„Ich brauche nicht ... das Geld ...“
„Das Geld brauchst du nicht? Nun, da lügst du, Bruder, ich kann es bezeugen! ... Bitte, beachten Sie es nicht, er tut bloß so ... phantasiert wieder. Das passiert ihm übrigens auch in wachem Zustande ... Sie sind ein verständiger Mann und wir wollen ihn leiten, das heißt, einfach seine Hand führen, er wird dann unterschreiben. Helfen Sie ...“
„Übrigens, ich kann auch ein andres Mal kommen.“
„Nein, nein, warum wollen Sie sich bemühen. Sie sind ein verständiger Mann ... Nun, Rodja, halte den Besuch nicht auf ... du siehst, er wartet,“ und er schickte sich in allem Ernste an, Raskolnikoffs Hand zu führen.
„Laß, ich will selbst ...“ sagte jener, nahm die Feder und quittierte im Buche.
Der Kontordiener zählte das Geld auf und ging.
„Bravo! Willst du nun essen, Bruder?“
„Ich will essen,“ antwortete Raskolnikoff.
„Haben Sie Suppe?“
„Ja, von gestern,“ antwortete Nastasja, die die ganze Zeit dabei gestanden hatte.
„Mit Kartoffel und Reis?“
„Ja, mit Kartoffel und Reis.“
„Ich kenne das auswendig. Bringe die Suppe und gib auch Tee.“
„Gleich.“
Raskolnikoff blickte auf alles mit großem Erstaunen und einer dumpfen sinnlosen Angst. Er beschloß zu schweigen und abzuwarten, was weiter kommen würde. „Ich träume nicht, wie es scheint,“ dachte er, „es scheint Wirklichkeit zu sein ...“
Nach ein paar Minuten kam Nastasja mit der Suppe zurück und erklärte, daß sofort auch der Tee da sein werde. Mit der Suppe erschienen auch zwei Löffel, zwei Teller und das ganze Zubehör: ein Salzfaß, Pfeffer, Senf für das Fleisch und alles übrige, in einer Ordnung, die schon lange nicht mehr geherrscht hatte. Sogar das Tischtuch war sauber.
„Es wäre nicht schlecht, liebe Nastasja, wenn Praskovja Pawlowna ein paar Flaschen Bier beordern würde. Wir würden sie gerne trinken.“
„Auch noch!“ murmelte Nastasja, ging aber, den Befehl auszuführen.
Raskolnikoff begann starr und angestrengt zu beobachten. Unterdessen hatte sich Rasumichin zu ihm auf das Sofa gesetzt; ungeschickt, wie ein Bär, umfaßte er mit der linken Hand Raskolnikoffs Kopf, trotzdem dieser selber sich erheben konnte, und brachte ihm mit der rechten Hand den Suppenlöffel an seinen Mund, nachdem er ein paarmal vorher darauf geblasen hatte, damit er sich nicht verbrenne. Die Suppe war kaum warm. Raskolnikoff verschlang voll Gier einen Löffel, dann einen zweiten und einen dritten. Nachdem er aber ihm noch einige Löffel gereicht, hielt Rasumichin plötzlich inne und erklärte, daß man des weiteren wegen Sossimoff fragen müsse.
Nastasja kam mit zwei Flaschen Bier herein.
„Willst du Tee?“
„Ja, ich möchte gern.“
„Bring mal schnell den Tee, Nastasja, denn was Tee anbelangt, so kann man wohl auch ohne Konsultation auskommen. Na, und hier ist Bier!“
Er setzte sich auf seinen Stuhl, rückte die Suppe und das Fleisch zu sich und begann mit solch einem Appetit zu essen, als hätte er drei Tage nichts bekommen.
„Ich esse jetzt jeden Tag bei euch zu Mittag, lieber Rodja,“ brummte er, soweit es ihm der vollgestopfte Mund erlaubte, „und zwar bewirtet mich so die liebe Praskovja, deine Wirtin, und ehrt mich von ganzer Seele. Ich bestehe selbstverständlich nicht darauf, aber protestiere auch nicht dagegen. Da ist Nastasja mit dem Tee. Wie flink du bist! Nastasja, willst du Bier?“
„Ne, du Spaßvogel.“
„Und wie steht es mit Tee?“
„Tee möchte ich wohl.“
„Gieß ein. Warte, ich will dir selbst eingießen; setz dich an den Tisch.“
Er machte sich sofort daran, goß eine Tasse ein, dann eine zweite, ließ sein Essen stehen und setzte sich wieder auf das Sofa hin. Wie früher, umfaßte er mit der linken Hand den Kopf des Kranken, richtete ihn auf und begann ihm den Tee löffelweise einzuflößen, wobei er wieder ununterbrochen und sehr eifrig auf den Löffel blies, als bestände in diesem Blasen das wesentlichste und heilsamste Moment für die Genesung. Raskolnikoff schwieg und sträubte sich nicht, obwohl er genügend Kraft in sich fühlte, sich zu erheben und ohne fremde Hilfe auf dem Sofa zu sitzen, nicht bloß die Hände zu benutzen, um den Löffel oder die Tasse zu halten, sondern vielleicht auch herumzugehen. Aber aus einer eigentümlichen, fast tierischen Schlauheit heraus kam es ihm plötzlich in den Sinn, vorläufig seine Kräfte zu verheimlichen, sich zu verstellen und sich auch nötigenfalls den Anschein zu geben, als verstünde er noch nicht alles, indessen aber zuzuhören und zu erfahren, was um ihn vorgehe. Übrigens überwand er nicht seinen Widerwillen, – nachdem er etwa zehn Löffel Tee geschlürft hatte, befreite er plötzlich seinen Kopf von der Umarmung, stieß den Löffel von sich und sank wieder auf die Kissen zurück. Unter seinem Kopfe lagen jetzt wirklich Kissen, – gefüllt mit weichem Flaum und mit sauberen Überzügen bezogen; das hatte er auch schon bemerkt und darüber nachgedacht.
„Die liebe Praskovja muß uns heute noch Himbeersaft schicken, um ihm ein Getränk zu machen,“ sagte Rasumichin, indem er seinen Platz wieder einnahm und sich an die Suppe und das Bier machte.
„Wo soll sie den Himbeersaft für dich hernehmen?“ fragte Nastasja, die die Untertasse auf ihren ausgespreizten fünf Fingern hielt und den Tee durch ein Stück Zucker hindurchsog.
„Den Himbeersaft wird sie im Laden erhalten, mein Freund. Siehst du, Rodja, während du krank warst, ist hier eine ganze Geschichte passiert. Als du in solcher spitzbübischen Weise von mir ausrücktest und mir deine Wohnung nicht sagtest, packte mich plötzlich eine Wut, daß ich beschloß, dich aufzusuchen und zu strafen. Am selben Tage begann ich schon. Ich wanderte und wanderte umher, fragte hier und fragte dort! Deine jetzige Wohnung hatte ich vergessen, erinnerte mich ihrer auch nicht, weil ich sie gar nicht kannte. Nun, und von der früheren Wohnung wußte ich bloß, daß sie an den Fünfecken lag, im Hause Karlamoff. Ich suchte und suchte dies Haus von Karlamoff, – und später fand sich’s, daß es gar nicht Karlamoff, sondern Buch gehörte, wie man sich zuweilen im Klange irren kann. Na, ich wurde böse, und ging auf gut Glück am anderen Tage in das Adreßbureau, und stell dir vor, – in zwei Minuten hatte man dich dort herausgefunden. Du bist dort eingetragen.“
„Ich bin dort eingetragen.“
„Das stimmt, aber den General Koboleff, siehst du, konnte man dort gar nicht finden. Na, darüber ließe sich viel reden. Kaum war ich hier eingebrochen, als ich sofort mit allen deinen Angelegenheiten bekannt wurde; mit allen, mit allen, Bruder, ich weiß alles. Nikodim Fomitsch lernte ich kennen, Ilja Petrowitsch zeigte man mir, auch mit dem Hausknecht wurde ich bekannt, ebenso Herrn Alexander Grigorjewitsch Sametoff, dem Sekretär in dem Polizeibureau und zu guter Letzt mit der lieben Praskovja, – das war die Krone vom ganzen. Sie, Nastasja, weiß es auch ...“
„Er hat sich eingeschmeichelt,“ murmelte Nastasja mit einem schelmischen Lächeln.
„Versüßen Sie doch Ihren Tee, Nastasja Nikiforowna.“
„Zum Kuckuck mit dir!“ rief plötzlich Nastasja und prustete vor Lachen. „Ich heiße übrigens Nastasja Petrowna und nicht Nikiforowna,“ fügte sie hinzu, nachdem sie aufgehört hatte zu lachen.
„Das will ich mir merken. Na, also, Bruder, um nicht viel Worte zu verlieren, ich wollte, siehst du, zuerst hier einen elektrischen Strom durchlassen, um alle Vorurteile in hiesiger Gegend mit einem Male zu vertilgen, aber die liebe Praskovja siegte. Ich hatte gar nicht erwartet, Bruder, daß sie so ... lieb sein würde ... Was meinst du?“
Raskolnikoff schwieg, obwohl er keinen Augenblick seinen erregten Blick von ihm gewandt hatte, und jetzt noch fortfuhr, ihn starr anzublicken.
„Und sogar sehr lieb,“ fuhr Rasumichin fort, ohne sich durch Raskolnikoffs Schweigen stören zu lassen, und als bekräftige er dessen Antwort, „und in bester Ordnung in jeder Hinsicht.“
„Das ist einer!“ rief Nastasja wieder aus, der dieses Gespräch eine unbeschreibliche Wonne zu bereiten schien.
„Schlimm war es, Bruder, daß du von Anfang an nicht verstanden hast, die Sache richtig anzufassen. Mit ihr mußte man anders verfahren. Sie ist sozusagen ein problematischer Charakter! Doch vom Charakter später ... Eins nur, zum Beispiel, wie konntest du es soweit kommen lassen, daß sie wagte, dir kein Mittagessen zu schicken? Oder zum Beispiel dieser Wechsel? Bist du etwa verrückt geworden, Wechsel zu unterzeichnen. Oder wiederum diese in Aussicht genommene Ehe, als noch die Tochter, Natalja Jegorowna, lebte ... Ich weiß alles! übrigens, ich sehe, daß das eine zarte Angelegenheit ist und ich ein Esel bin; entschuldige bitte. Apropos: Dummheit; Praskovja Pawlowna ist gar nicht so dumm, Bruder, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, he?“
„Ja ...“ sagte Raskolnikoff gedehnt, indem er zur Seite blickte, aber er begriff, daß es vorteilhafter war, vom Thema nicht abzulenken.
„Nicht wahr?“ rief Rasumichin aus, sichtlich erfreut, daß er Antwort bekommen hatte. „Aber auch nicht klug, wie? Ein ganz, ganz unberechenbarer Charakter! Zum Teil bin ich mir selber nicht ganz klar, sage ich dir, Bruder ... Sie wird sicher ihre vierzig sein. Sie sagt, sie sei sechsunddreißig, und das ist ihr gutes Recht. Übrigens, ich schwöre dir, daß ich über sie mehr nach meinem Verstande, rein metaphysisch urteile; hier haben sich Verwicklungen eingestellt, schlimmer, als in der Algebra. Ich begreife nichts! – Na, das ist lauter Unsinn. Als sie sah, daß du nicht mehr Student bist, weder Stunden noch Kleidung hast, bekam sie Furcht und da sie es nicht nötig hat, nach dem Tode ihrer Tochter dich verwandtschaftlich zu behandeln, und da du deinerseits dich in den Winkel verkrochst und den früheren Verkehr nicht unterhieltest, faßte sie den Entschluß, dich aus der Wohnung hinauszuwerfen. Sie hatte schon lange diese Absicht gehabt, aber der Wechsel tat ihr leid. Außerdem hast du ja selbst versichert, daß deine Mutter bezahlen würde ...“
„Das habe ich aus Schuftigkeit gesagt ... Meine Mutter muß beinahe betteln gehen ... und ich log, damit man mich wohnen ließe und ... mir zu essen gebe,“ sagte Raskolnikoff laut und deutlich.
„Ja, das hast du vernünftig gemacht. Nur die Sache war die, daß sich ein Herr Tschebaroff einfand, Hofrat und Geschäftsmann. Die liebe Praskovja hätte ohne ihn nichts unternommen, sie ist doch zu schüchtern. Na, ein Geschäftsmann aber ist nicht schüchtern, und das erste, was er selbstverständlich tat, war, ihr die Frage vorzulegen, ob Aussicht da sei, daß der Wechsel eingelöst werde? Die Antwort lautete, – ja, denn es gibt so eine Mutter, die mit ihrer Pension von hundertundfünfundzwanzig Rubel dem Rodenka helfen würde, wenn sie auch selbst hungern müßte, und es gibt noch eine Schwester, die für ihren Bruder sich schinden lassen würde. Darauf baute der Geschäftsmann ... Halte dich nur ruhig! Ich habe jetzt alle deine Geheimnisse erfahren, Bruder, du warst nicht umsonst gegen die liebe Praskovja offen, als du noch auf verwandtschaftlichem Fuße mit ihr standest, jetzt aber sage ich dir dies alles in aller Liebe ... Da haben wir es, ein ehrlicher und gefühlvoller Mensch ist offen, spricht sich aus, ein Geschäftsmann aber hört zu und kaut dazu und verspeist zu guter Letzt. Sie überließ also diesen Wechsel, als hätte sie dafür Zahlung erhalten, jenem Tschebaroff, und er genierte sich nicht und forderte die Summe auf gesetzlichem Wege. Ich wollte, als ich dies alles erfuhr, ihm zur Beruhigung meines Gewissens mit einem kalten Strahl kommen, aber da begann zwischen mir und der lieben Praskovja die Harmonie, und ich ordnete an, daß die Sache im Keime sozusagen erstickt werden sollte, indem ich mich verbürgte, daß du bezahlen wirst. Ich habe mich für dich verbürgt, Bruder, hörst du? Tschebaroff wurde hergerufen, man warf ihm zehn Rubel in den Rachen, nahm den Wechsel ihm ab, und da habe ich die Ehre, ihn Ihnen zu übergeben, – man glaubt Ihnen nun aufs Wort – nehmen Sie ihn, er ist von mir, wie es sich gehört, eingerissen.“
Rasumichin legte den Wechsel auf den Tisch; Raskolnikoff blickte ihn an und wandte sich ohne ein Wort zu sagen gegen die Wand. Rasumichin berührte es peinlich.
„Ich sehe, Bruder,“ sagte er nach einer Weile, „daß ich wieder eine Dummheit gemacht habe. Ich dachte dich zu zerstreuen und mit Geplauder zu erheitern, habe aber, wie es scheint, deine Galle aufgerührt.“
„Du warst es, den ich im Fieber nicht erkannte?“ fragte Raskolnikoff nach einigem Schweigen, ohne den Kopf umzuwenden.
„Ja, ich war es, und du gerietest sogar aus diesem Grunde in Wut, besonders, als ich einmal Sametoff mitbrachte.“
„Sametoff? ... Den Sekretär? ... Warum?“ Raskolnikoff wandte sich schnell um und starrte Rasumichin an.
„Ja, was ist dir ... Warum regst du dich auf? Er wollte mit dir bekannt werden; hatte selbst den Wunsch geäußert, weil ich viel mit ihm über dich gesprochen habe ... Von wem hätte ich denn sonst soviel über dich erfahren. Er ist ein prächtiger Bursche, Bruder, wundervoll ... selbstverständlich in seiner Art. Jetzt sind wir Freunde, fast täglich sehen wir uns. Ich bin in dieses Revier übergesiedelt. Du weißt es noch nicht? Ich bin soeben umgezogen. Bei der Louisa waren wir ein paarmal. Erinnerst du dich an Louisa Iwanowna?“
„Habe ich phantasiert?“
„Und ob? Du warst ja ganz ohne Bewußtsein.“
„Worüber habe ich phantasiert?“
„Nanu! Worüber du phantasiert hast? Es ist begreiflich, worüber man phantasiert ... Nun, Bruder, wir wollen jetzt keine Zeit mehr verlieren, zur Arbeit.“
Er stand vom Stuhle auf und nahm seine Mütze.
„Worüber habe ich phantasiert?“
„Er läßt nicht davon. Hast du Angst vor einem Geheimnis? Sei ruhig, von – einer Gräfin wurde nichts geredet. Aber von einer Bulldogge, von Ohrgehängen und von allerhand Ketten, von der Krestowski-Insel und von einem Hausknecht, von Nikodim Fomitsch und von Ilja Petrowitsch, seinem Gehilfen hast du viel gesprochen. Ja, und außerdem geruhtest du dich sogar sehr für deinen Strumpf zu interessieren. Klagtest: ‚Gebt ihn,‘ sagtest du, ‚bitte‘. Sametoff suchte in eigener Person in allen Winkeln deine Strümpfe zusammen und überreichte dir den Schund mit seinen parfümierten und mit Ringen besetzten Händen. Dann erst beruhigtest du dich und hieltest diesen Schund Tag und Nacht in den Händen, man konnte es dir nicht wegnehmen. Wahrscheinlich liegt er auch jetzt irgendwo unter deiner Decke. Und dann batest du um Fransen von den Hosen, du batest mit Tränen darum. Wir versuchten zu erfahren, was für Fransen du wünschtest? Aber man konnte nichts verstehen ... Nun, an die Arbeit. Hier sind fünfunddreißig Rubel, ich nehme zehn davon, und nach ein paar Stunden werde ich Rechenschaft darüber abgeben. Unterdessen will ich Sossimoff benachrichtigen, obwohl er ohnedem längst hier sein müßte, denn es geht auf zwölf. Sie aber, Nastasja, sehen öfters nach, während ich fort bin, und sorgen für ein Getränk oder etwas anderes, was er wünschen sollte ... Und der lieben Praskovja werde ich selbst gleich sagen, was nötig ist. Auf Wiedersehen!“
„Liebe Praskovja nennt er sie! Ach, du schlauer Kerl!“ – sagte Nastasja hinter ihm drein.
Dann öffnete sie die Tür und begann zu horchen, aber sie hielt es nicht aus und lief hinunter. Es interessierte sie doch zu sehr, was er mit der Wirtin sprach; überhaupt konnte man sehen, daß sie von Rasumichin ganz bezaubert war.
Kaum schloß sich die Tür hinter ihr, als der Kranke die Decke von sich warf und wie wahnsinnig aus dem Bette sprang. Mit brennender, krampfhafter Ungeduld hatte er gewartet, daß sie schneller fortgehen würden, um sofort etwas zu tun. Aber was denn, was wollte er tun? – ihm schien es, als mußte es so sein, jetzt vergessen zu haben.
„Oh, Gott! Sag’ du mir nur eins – wissen sie alles oder wissen sie noch nichts? Aber wenn sie schon alles wissen und sich bloß so anstellen, mich irreführen, solange ich liege, um dann plötzlich einzutreten und zu sagen, daß alles schon längst bekannt sei und daß sie bloß so ... Was soll ich jetzt tun? Ich habe es vergessen, vergessen; plötzlich ist es mir entschwunden und eben noch wußte ich es! ...“
Er stand mitten im Zimmer und blickte in qualvoller Unentschlossenheit ringsumher; er ging zur Tür, öffnete sie und lauschte, aber das war es nicht. Plötzlich, als hätte er sich erinnert, stürzte er zu der Ecke, wo hinter den Tapeten das Loch war, sah alles nach, steckte die Hand in das Loch und scharrte nach, aber auch das war es nicht. Er ging zum Ofen, öffnete die Tür und begann in der Asche zu scharren; die Fransen von der Hose und die Fetzen der zerrissenen Tasche lagen noch umher, wie er sie hineingeworfen hatte, also hat niemand nachgesehen. Da erinnerte er sich des Strumpfes, von dem Rasumichin soeben erzählt hatte. In der Tat, er lag auf dem Sofa unter der Decke, aber er war so abgenutzt und beschmutzt, daß Sametoff sicher nichts hatte sehen können.
„Bah, Sametoff ... das Polizeibureau! ... Warum ladet man mich ins Polizeibureau? Wo ist die Vorladung? Bah! ... ich verwechsele ... das war damals! Ich habe schon da den Strumpf besehen und jetzt ... jetzt war ich krank. Warum ist aber Sametoff hergekommen? Warum hat Rasumichin ihn mitgebracht? ...“ murmelte er, ganz schwach, und setzte sich auf das Sofa. „Was ist denn? Phantasiere ich weiter oder ist es Wirklichkeit? Es scheint Wirklichkeit zu sein ... Ah, ich erinnere mich, ich muß fliehen! Schnell fliehen, unbedingt, unbedingt fliehen! Ja ... aber wohin? Und wo sind meine Kleider? Die Stiefel sind nicht da. Man hat sie weggeschafft! Hat sie versteckt! Ich verstehe es! Ah, da ist der Mantel – den haben sie übersehen. Hier auf dem Tische liegt auch Geld, Gott sei Dank! Da ist auch der Wechsel ... Ich nehme das Geld und gehe fort, will mir eine andere Wohnung mieten, sie werden mich nicht finden! ... Ja, aber das Adreßbureau? Sie werden mich finden! Rasumichin wird mich finden. Es ist besser, ganz weit zu fliehen ... nach Amerika ... und ich pfeif’ auf sie! Ich will auch den Wechsel nehmen ... dort kann er von Nutzen sein ... Was soll ich noch mitnehmen? Sie denken, ich sei krank. Sie wissen es nicht, daß ich gehen kann, hehehe! ... Ich habe es an ihren Augen erraten, daß sie alles wissen. Wenn ich nur die Treppe hinunterkäme! Aber wenn sie dort Wächter aufgestellt haben ... Polizeibeamte! Ist das Tee? Ah, Bier ist auch übriggeblieben, eine halbe Flasche, es ist kalt!“
Er nahm die Flasche, in der noch ein ganzes Glas übrig war, und trank sie in einem Zuge mit Genuß aus, als lösche er ein Feuer in seiner Brust. Aber es verging kaum eine Minute, da stieg ihm das Bier zu Kopfe und längs dem Rücken durchzog ihn ein leichtes, doch angenehmes Frösteln. Er legte sich hin und zog die Decke über sich. Seine Gedanken, die ohnedem krankhaft und ohne Zusammenhang waren, verwirrten sich immer mehr, und bald überfiel ihn ein leichter und angenehmer Schlaf. Mit Wonne suchte er mit dem Kopf eine Stelle in den Kissen aus, wickelte sich fester in die weiche wattierte Decke ein, die jetzt an Stelle des zerrissenen Mantels über ihm lag, seufzte leise und fiel in einen tiefen, festen, kräftigenden Schlaf.
Er erwachte, als er jemand in das Zimmer eintreten hörte, öffnete die Augen und erblickte Rasumichin, der die Türe weit geöffnet hatte und auf der Schwelle stand, unentschlossen, ob er eintreten solle oder nicht. Raskolnikoff erhob sich schnell und blickte ihn an, als gäbe er sich Mühe, sich auf etwas zu besinnen.
„Ah, du schläfst nicht; nun, da bin ich! Nastasja, schlepp’ das Bündel her!“ rief Rasumichin hinunter. „Du erhältst sofort Abrechnung ...“
„Wieviel Uhr ist es?“ fragte Raskolnikoff und blickte erregt um sich.
„Du hast tüchtig geschlafen, Bruder; es ist Abend, etwa um sechs Uhr. Du hast über sechs Stunden geschlafen ...“
„Oh, Gott! Was ist mit mir! ...“
„Ja, was soll denn sein? Zur Gesundheit ist’s! Wohin treibt’s dich denn? Zu einem Stelldichein etwa? Die ganze Zeit gehört jetzt uns. Ich warte schon drei Stunden, war ein paarmal hier, da du schliefst. Bei Sossimoff war ich auch zweimal, er ist nicht zu Hause und basta! Das tut nichts, er wird schon kommen! ...
In eigenen Angelegenheiten war ich auch fortgewesen. Ich bin ja heute umgezogen, fix und fertig umgezogen mit meinem Onkel zusammen. Ich habe nämlich jetzt einen Onkel ... Nun aber zum Teufel damit, jetzt zur Sache. Gib mal das Bündel her, Nastasja. Wir wollen es gleich besorgen. Und wie fühlst du dich?“
„Ich bin gesund, bin nicht krank ... Rasumichin, bist du schon lange hier?“
„Ich sage dir, ich warte seit drei Stunden.“
„Nein, ich meine vorher?“
„Was vorher?“
„Seit wann kommst du hierher?“
„Ich habe es dir doch erzählt oder erinnerst du dich nicht?“
Raskolnikoff sann nach. Wie im Traume schwebte ihm das vorhin Geschehene vor. Allein er konnte sich nicht entsinnen und blickte fragend Rasumichin an.
„Hm!“ sagte dieser. „Du hast es vergessen. Mir schien es schon damals, daß du noch nicht ganz ... Jetzt nach dem Schlafe hast du dich erholt ... Tatsächlich, du siehst besser aus. Braver Junge! Nun aber zur Sache. Du wirst dich gleich erinnern. Sieh mal her, lieber Bursche.“
Er begann das Bündel aufzumachen, das ihn sichtlich außerordentlich interessierte. „Das, glaube mir, lag mir besonders auf dem Herzen. Denn man muß doch aus dir einen Menschen machen. Wollen wir anfangen, und zuerst von oben. Siehst du dieses Kaskett?“ sagte er, indem er aus dem Bündel eine ziemlich hübsche, aber auch sehr einfache und billige Mütze hervorholte. – „Laß es dir mal anprobieren.“
„Nachher ... später,“ – sagte Raskolnikoff, sich mürrisch wehrend.
„Nein, Rodja, sträube dich nicht, sonst wird es zu spät und auch ich werde die ganze Nacht nicht einschlafen können, weil ich es ohne Maß aufs Geratewohl gekauft habe. Es paßt genau!“ – rief er triumphierend aus, nachdem er die Mütze anprobiert hatte, – „paßt, wie angemessen! Die Kopfbedeckung, Bruder, ist der wichtigste Teil des Anzuges, eine tote Empfehlung. Mein Freund Tolstjakoff muß jedesmal seine Kopfbedeckung abnehmen, wenn er irgendwo hinkommt, wo alle anderen in Hüten und Mützen herumstehen. Alle glauben, er tue es aus sklavischer Empfindung, nein, er schämt sich einfach seines Vogelnestes; er ist mal schon so schüchtern. Nun, Nastenka, hier haben Sie zwei Kopfbedeckungen (er holte aus einer Ecke den zerdrückten runden Hut von Raskolnikoff, den er Gott weiß warum Palmerston nannte) – diesen Palmerston und dieses Kleinod. Taxiere mal. Rodja, was meinst du, das ich dafür bezahlt habe? Nastasjuschka?“ – wandte er sich an sie, als er sah, daß Raskolnikoff schwieg. „Zwanzig Kopeken wirst du wahrscheinlich gegeben haben“, – antwortete Nastasja.
„Zwanzig Kopeken, Dummkopf!“ – rief er beleidigt aus, – „heutzutage kauft man auch dich nicht mal für zwanzig Kopeken. Achtzig Kopeken habe ich bezahlt! Und auch deshalb nur, weil sie schon getragen ist. Jedoch mit der Bedingung, daß du im nächsten Jahre eine andere umsonst erhältst, wenn diese abgetragen ist, bei Gott! Nun wollen wir zu den Vereinigten Staaten von Amerika, wie man bei uns im Gymnasium sagte, übergehen. Ich sage im voraus, daß ich auf die Hosen stolz bin!“ – und er breitete vor Raskolnikoff ein paar graue Beinkleider aus leichtem, wollenem Sommerstoff aus. – „Weder ein Löchlein, noch ein Fleckchen, dafür aber sehr anständig, obwohl sie getragen sind, ebensolch eine Weste, in derselben Farbe, wie es die Mode verlangt. Und daß sie getragen sind, ist offen gestanden auch besser, sie sind weicher, zarter ... Siehst du, Rodja, um in der Welt eine Karriere zu machen, genügte es, meiner Meinung nach, sich stets nach der Saison zu richten; wenn man im Monat Januar keinen Spargel ißt, behält man im Beutel ein paar Rubel mehr; ebenso ist es mit diesem Kauf. Wir haben jetzt die Sommersaison, und da habe ich auch danach den Einkauf gemacht, denn zur Herbstsaison wird so wie so ein wärmerer Stoff vonnöten sein, also muß man es fortwerfen ... um so mehr, als dies alles bis dahin von selbst verfallen wird, wenn nicht aus stärker gewordenem Luxusbedürfnis, so aus inneren Zerrüttungen. Nun taxiere sie mal. Wieviel meinst du? – Zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken! Und vergiß nicht mit derselben Bedingung, hast du sie vertragen, erhältst du im nächsten Jahre ein anderes Paar umsonst. In Fedjajeffs Laden handelt man nicht anders: man bezahlt nur einmal und hat fürs ganze Leben genug, denn ein zweites Mal geht man selbst nicht hin. Jetzt zu den Stiefeln, – wie gefallen sie dir? Man sieht es wohl, daß sie getragen sind, aber ein paar Monate halten sie noch aus, denn es ist ausländische Arbeit und ausländische Ware; der Sekretär der englischen Botschaft hat sie vorige Woche auf dem Trödelmarkte losgeschlagen, er hat sie nur sechs Tage getragen, brauchte aber sehr notwendig Geld. Der Preis ist ein Rubel fünfzig Kopeken. Ist das nicht ein glücklicher Einkauf?“
„Aber vielleicht passen sie nicht!“ – bemerkte Nastasja.
„Nicht passen! Und was ist das?“ – er zog aus der Tasche den alten, eingetrockneten, zerrissenen, ganz mit altem Schmutz bedeckten Stiefel Raskolnikoffs. – „Ich bin mit Vorrat hingegangen; nach diesem Scheusal hat man das richtige Maß festgestellt. Alles war sorgfältig bedacht. Und wegen der Wäsche habe ich mich mit der Wirtin beraten. Da sind drei leinene Hemden, mit modernen Kragen ... Also nun die Rechnung: achtzig Kopeken die Mütze, zwei Rubel fünfundzwanzig die übrigen Kleider, im ganzen drei Rubel und fünf; ein Rubel und fünfzig die Stiefel, – weil sie gar so gut sind, – macht vier Rubel fünfundfünfzig und die ganze Wäsche fünf Rubel – wir haben einen Engrospreis gemacht, – ist in Summa neun Rubel fünfundfünfzig Kopeken. Den Rest – fünfundvierzig Kopeken in Kupfer bitte ich zurückzunehmen, da lege ich sie hin. Und nun, Rodja, bist du in deiner ganzen Kleidung hergestellt, denn dein Mantel kann, meiner Meinung nach, nicht bloß weiterdienen, sondern er macht sogar einen besonders anständigen Eindruck; das macht, wenn man bei einem guten Schneider arbeiten läßt. Was Strümpfe und das übrige anbelangt, das überlasse ich dir selbst; wir haben an Geld noch fünfundzwanzig Rubel; wegen der lieben Praskovja und der Miete kannst du ruhig sein. Ich sage dir, du hast einen unbegrenzten Kredit. Jetzt aber erlaube mal, dir die Wäsche zu wechseln, Bruder, vielleicht steckt die Krankheit jetzt bloß noch im Hemde ...“
„Laß es! Ich will nicht!“ wehrte sich Raskolnikoff, der voll Widerwillen dem gesucht neckischen Bericht Rasumichins über den Einkauf der Sachen zugehört hatte.
„Das geht nicht an, Bruder. Warum habe ich mich denn abgeschunden!“ bestand Rasumichin auf seinem Verlangen. „Nastasjuschka, genieren Sie sich nicht, sondern helfen Sie, – so, so!“
Und ungeachtet des Widerstandes Raskolnikoffs, hatte er ihm doch die Wäsche gewechselt. Der aber fiel auf die Kissen zurück und ein paar Minuten redete er kein Wort.
„Die werde ich noch lange nicht los!“ dachte er.
„Von welchem Gelde ist denn dies alles gekauft?“ fragte er endlich, indem er nach der Wand blickte.
„Von welchem Gelde? Das ist mal eine Frage! Doch von deinem eigenen. Vorhin war doch der Bureaudiener von Wachruschin hier, deine Mutter hat es dir gesandt, oder hast du auch das vergessen?“
„Jetzt erinnere ich mich ...“ sagte Raskolnikoff nach langem und düsterem Nachdenken. Rasumichin sah ihn hin und wieder voll Unruhe mit zusammengezogenen Brauen an. Da öffnete sich die Türe und ein großer kräftiger Mann trat ein, der dem Aussehen nach Raskolnikoff schon ein wenig bekannt vorkam.
„Sossimoff! Endlich!“ rief Rasumichin erfreut aus.
Sossimoff war groß und dick, mit einem gedunsenen, farblosen, blassen und glattrasierten Gesichte, hatte helles glattes Haar, trug eine Brille und an einem seiner fetten Finger saß ein großer goldener Ring. Er war etwa siebenundzwanzig Jahre alt. Unter einem weiten, eleganten, leichten Überzieher sahen helle Sommerbeinkleider hervor; alles war an ihm weit, elegant und nagelneu, die Wäsche war tadellos und die Uhrkette massiv. Seine Bewegungen waren langsam, es lag in seiner Trägheit gleichzeitig eine gesuchte Ungezwungenheit; eine Überhebung, die er übrigens stark zu verbergen suchte, kam immer wieder zum Vorschein. Alle, die ihn kannten, fanden ihn schwerfällig, gaben jedoch zu, daß er seine Sache verstände.
„Ich bin zweimal bei dir gewesen, Bruder ... Siehst du, er ist zu sich gekommen!“ rief Rasumichin aus.
„Ich sehe, sehe es. Nun, wie fühlen wir uns jetzt?“ wandte sich Sossimoff an Raskolnikoff, indem er ihn aufmerksam betrachtete und sich zu ihm auf das Sofa zu seinen Füßen setzte, wobei er sich sofort nach Möglichkeit breit machte. „Er ist immer schlechter Laune,“ fuhr Rasumichin fort, „wir haben ihm soeben die Wäsche gewechselt, da fing er fast zu weinen an.“
„Das ist begreiflich; die Wäsche konnte man auch später wechseln, wenn er es selbst wünscht ... Der Puls ist prächtig. Der Kopf tut immer noch ein wenig weh, ja?“
„Ich bin gesund, bin vollkommen gesund!“ sagte hartnäckig und gereizt Raskolnikoff, indem er sich gleichzeitig vom Sofa erhob und mit den Augen blitzte, er fiel aber sofort auf das Kissen zurück und wandte sich der Wand zu.
Sossimoff beobachtete ihn aufmerksam.
„Sehr gut ... alles, wie es sich gehört,“ sagte er träge. „Hat er etwas gegessen?“
Man sagte es ihm und fragte, was man geben könne.
„Ja, alles kann man ihm geben ... Suppe, Tee ... Pilze und Gurken selbstverständlich nicht, na, und Fleisch ist auch nicht nötig und ... was ist da weiter zu reden! ...“
Er wechselte einen Blick mit Rasumichin.
„Die Arznei weg und alles weg; morgen will ich wieder nachsehen ... Es wäre heute ... na, einerlei ...“
„Morgen abend gehe ich mit ihm spazieren!“ beschloß Rasumichin. „In den Jussupoff-Garten, und nachher gehen wir in den Kristallpalast.“
„Morgen würde ich ihm noch nicht raten, sich Bewegung zu machen, übrigens aber ... ein wenig ... na, wir wollen sehen.“
„Ach, es ist schade, heute weihe ich gerade meine Wohnung ein, es sind ja nur zwei Schritte von hier; wenn er auch dabei sein könnte! Er könnte ja auf dem Sofa unter uns liegen. Du wirst doch kommen?“ wandte sich Rasumichin plötzlich an Sossimoff. „Vergiß es nicht, du hast versprochen.“
„Vielleicht komme ich, aber ein wenig später. Was hast du denn?“
„Ja, nichts besonderes, Tee, Schnaps, Hering. Eine Pirogge gibt es; nur die nächsten Bekannten kommen.“
„Wer denn?“
„Ja, alle aus der nächsten Nachbarschaft und fast lauter neue, ausgenommen den alten Onkel und neu ist der auch. Er ist gestern nach Petersburg in eigenen Angelegenheiten gekommen; alle fünf Jahre sehen wir uns.“
„Wo ist er?“
„Er hat sein Lebelang in einer Kreisstadt als Postmeister vegetiert ... erhält eine kleine Pension, ist fünfundsechzig Jahre alt, es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen ... Ich habe ihn übrigens gern. Porphyri Ssemenowitsch wird auch kommen, der hiesige Untersuchungsrichter ... er ist aus dem Richterstande. Ja, du kennst ihn doch ...“
„Ist er auch ein Verwandter von dir?“
„Ganz weitläufig; warum siehst du so verdrießlich aus? Weil ihr euch einmal gezankt habt, wirst vielleicht deshalb nicht kommen?“
„Ah, ich pfeife auf ihn ...“
„Das ist auch das beste. Nun und außerdem – Studenten, ein Lehrer, ein Beamter, ein Musiker, ein Offizier, Sametoff ...“
„Sag mir bitte, was kann zwischen dir oder dem da,“ Sossimoff wies auf Raskolnikoff, „und einem Sametoff gemeinsames sein?“
„Ach, du Nörgler! Prinzipienreiter! ... Du bist ja ganz mit Prinzipien ausgestopft wie ein Kissen mit Federn, bist schon ganz ihr Sklave. Meine Meinung ist, wenn ein Mensch gut ist, – so ist er mir angenehm, und das ist mein Prinzip. Und Sametoff ist ein ganz prächtiger Bursche.“
„Und läßt sich schmieren.“
„Nun ja, was macht es, wenn er sich schmieren läßt, ich pfeife darauf. Was ist da dabei, wenn er sich schmieren läßt!“ rief plötzlich Rasumichin unnatürlich gereizt aus, – „hab ich ihn denn gelobt, weil er sich schmieren läßt? Ich sagte, daß er nur in seiner Art gut sei. Und wenn man alle so genau nach jeder Seite besehen würde, dann würden nicht viel gute Menschen übrig bleiben. Ich bin überzeugt, daß man dann für mich, mit allen Eingeweiden zusammen, eine gebackene Zwiebel geben würde, und auch nur mit dir als Zugabe! ...“
„Das ist wenig; ich will für dich zwei geben ...“
„Und ich für dich nur eine! Mach mir keine weiteren Witze! Sametoff ist noch ein dummer Junge, ich werde ihn noch oft an den Haaren zupfen, man muß ihn an sich ziehen und nicht von sich stoßen. Wenn man einen Menschen abstößt, verbessert man ihn nicht, um so mehr, wenn er ein unreifer Junge ist. Mit einem Jungen soll man noch einmal so vorsichtig sein. Ach, ihr progressiven Dummköpfe, nichts versteht ihr! Ihr achtet nicht den Menschen, und schadet euch selbst ... Und wenn du es wissen willst, wir haben ein gemeinsames Interesse.“
„Das möchte ich wissen.“
„Ja, es ist in der Sache mit dem Maler, das heißt dem Anstreicher ... Wir werden ihn schon loskriegen! Übrigens ist jetzt auch keine Gefahr mehr. Die Sache ist jetzt klipp und klar! Wir wollen sie bloß beschleunigen.“
„Was ist das für ein Anstreicher?“
„Wie, habe ich dir denn nicht davon erzählt? Ja, richtig, ich habe dir nur den Anfang erzählt ... von der Ermordung der alten Pfandleiherin, der Beamtenwitwe ... nun und darein ist jetzt ein Anstreicher verwickelt ...“
„Von diesem Morde habe ich schon früher gehört, bevor du es mir erzähltest, und ich interessiere mich sehr für diese Sache ... teilweise ... aus einem besonderen Grunde ... ich las in den Zeitungen darüber. Aber siehst du ...“
„Lisaweta hat man auch ermordet!“ platzte plötzlich Nastasja heraus, indem sie sich an Raskolnikoff wandte.
Sie hatte die ganze Zeit an die Tür gelehnt zugehört.
„Lisaweta?“ murmelte Raskolnikoff mit kaum hörbarer Stimme.
„Lisaweta, die Händlerin, weißt du es nicht? Sie kam öfters hierher in unser Haus, hat dir auch ein Hemd ausgebessert.“
Raskolnikoff wandte sich zu der Wand, wählte auf der schmutzigen gelben Tapete mit weißen Blümchen eine plumpe weiße Blume mit braunen Strichen aus und begann sie zu betrachten, wieviel Blätter sie habe, was für Zacken an den Blättern und wieviel Striche sie durchzogen. Er fühlte, daß seine Hände und Füße erstarrten, als wären sie gelähmt, aber er versuchte nicht mal sich zu rühren und blickte unverwandt die Blume an.
„Nun, was ist mit dem Anstreicher?“ unterbrach Sossimoff sehr unwillig Nastasjas Geschwätz.
Sie seufzte und schwieg.
„Er soll auch der Mörder sein!“ fuhr Rasumichin eifrig fort.
„Hat man denn Beweise?“
„Gar keine, zum Teufel! Übrigens hat man doch einen, aber dieser Beweis ist kein Beweis und siehst du, das muß man erst nachweisen. Es ist genau so, wie sie zuerst diese ... wie heißen sie doch ... ja Koch und Pestrjakoff verdächtigt und eingesperrt haben. Pfui! Wie dumm dies alles gehandhabt wird, einen Unbeteiligten ekelt es an. Pestrjakoff, der eine von ihnen, wird vielleicht auch heute bei mir sein ... Apropos, Rodja, du kennst ja diese Geschichte, sie passierte noch vor deiner Krankheit, gerade am Abend vorher, als du im Polizeibureau ohnmächtig wurdest, als man darüber sprach ...“
Sossimoff blickte Raskolnikoff neugierig an, er rührte sich aber nicht.
„Weißt du, Rasumichin? Ich muß mich über dich wundern, daß du dich überall hineinmischest,“ bemerkte Sossimoff.
„Mag sein, aber wir wollen ihn doch loskriegen!“ rief Rasumichin aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was einen dabei aber am meisten ärgert, ist nicht, daß sie so viel lügen. Lügen kann man immer entschuldigen, Lügen ist ein gutes Ding, wenn es zur Wahrheit führt. Aber das ist ärgerlich, daß sie lügen und an ihre eigenen Lügen unerschütterlich glauben. Ich achte Porphyri, aber ... Was hat sie zum Beispiel ganz am Anfang aus dem Konzept gebracht? Die Türe war verschlossen, und als sie später mit dem Hausknecht kamen, war sie offen, also haben Koch und Pestrjakoff gemordet! Siehst du, so ist ihre Logik!“
„Rege dich doch nicht auf; man hat sie einfach eine kurze Zeit in Haft behalten, man kann doch nicht ... Nebenbei gesagt, ich habe diesen Koch irgendwo kennengelernt. Es hat sich herausgestellt, daß er von der Alten verfallene Pfandobjekte ankaufte?“
„Ja, er ist ein Gauner! Er kauft auch Wechsel auf. Ein dunkler Ehrenmann. Aber hol ihn der Teufel! Versteh mich doch, worüber ich mich am meisten ärgere. Über ihre veraltete, sinnlose, verkehrte Methode ärgere ich mich ... Hier aber, in dieser Sache allein, muß man einen ganz neuen Weg entdecken. Nach den psychologischen Momenten allein kann man schon zeigen, wie die richtige Spur gefunden werden soll. Wir haben Indizien, sagen sie! Ja, aber Indizien ist doch nicht alles; wenigstens die Hälfte der Sache besteht darin, wie man mit den Indizien umzugehen versteht!“
„Und verstehst du mit den Indizien umzugehen?“
„Man kann aber doch nicht schweigen, wenn man fühlt, handgreiflich fühlt, daß man der Sache nützen könnte, wenn ... Ach! ... Kennst du die Sache ausführlich?“
„Ich warte darauf, über den Anstreicher zu hören.“
„Ach ja! Höre also die Geschichte, – genau am dritten Tage nach dem Morde, am Morgen, als sie sich noch mit Koch und Pestrjakoff abgaben, – obwohl die jeden ihrer Schritte nachgewiesen hatten, alles war schreiend klar, – wird plötzlich ein ganz unerwartetes Faktum offenbar. Ein gewisser Duschkin, ein Bauer, Besitzer einer Kneipe gerade gegenüber jenem Hause, erscheint in dem Polizeibureau, bringt ein Etui mit goldenen Ohrgehängen mit und erzählt eine ganze Geschichte. ‚Vorgestern abend ungefähr nach acht Uhr,‘ – merk du dir Tag und Stunde! – ‚kommt zu mir ein Arbeiter, ein Anstreicher, Nikolai, der auch schon früher im Laufe des Tages dagewesen war, und bringt mir dieses Kästchen mit goldenen Ohrgehängen und mit den Steinen und bittet, ihm zwei Rubel darauf zu leihen; auf meine Frage aber, woher er sie habe, erklärte er mir, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte. Mehr habe ich ihn nicht ausgefragt,‘ das alles sagt Duschkin, ‚sondern gab ihm einen Schein,‘ das heißt also einen Rubel, ‚denn ich dachte, wenn ich sie nicht nehme, versetzt er sie bei einem anderen, und wird das Geld sowieso vertrinken. Mögen besser die Sachen bei mir liegen; sollte sich aber etwas zeigen oder sollten Gerüchte auftauchen, bringe ich sie zur Polizei.‘ Selbstverständlich schwindelt er, lügt wie ein Pferd, denn ich kenne diesen Duschkin, er ist selbst Pfandleiher, schafft Gestohlenes zur Seite und hat dem Nikolai das Ding, das dreißig Rubel wert ist, nicht abgeluchst, um es zur Polizei zu bringen. Er hat einfach Angst bekommen. Hol’ ihn der Teufel! – höre weiter,“ fuhr Rasumichin fort: „‚Ich kenne ihn, den Nikolai Dementjeff von klein auf,‘ erzählt Duschkin weiter, ‚er stammt aus demselben Rjasanschen Gouvernement wie ich, und aus demselben Kreise. Nikolai ist kein Säufer, trinkt aber doch hin und wieder eins, und ich wußte, daß er in jenem Hause mit Dmitri arbeitet, denn Dmitri stammt auch aus derselben Gegend. Als er von mir den Schein erhalten hatte, wechselte er ihn sofort, trank auf einmal zwei Gläschen, nahm den Rest des Geldes und ging seiner Wege, Dmitri war aber damals nicht mit ihm. Am anderen Tage hörte ich, daß Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta mit einem Beile erschlagen sind, – ich habe sie gekannt, – und da packten mich Zweifel wegen der Ohrgehänge, denn mir war es bekannt, daß die Verstorbene Geld gegen Pfand auslieh. Ich ging hinüber und begann vorsichtig und still auszuhorchen und zu allererst frug ich, ob Nikolai da sei! Dmitri erzählte mir, daß Nikolai zu trinken angefangen habe, er wäre bei Tagesanbruch betrunken nach Hause gekommen, ungefähr zehn Minuten dageblieben und wieder fortgegangen; Dmitri habe ihn nicht mehr gesehen und beende die Arbeit allein. Sie arbeiteten aber im zweiten Stock desselben Hauses, in dem die Ermordeten lebten. Als ich dies hörte, habe ich niemanden etwas davon mitgeteilt,‘ sagte Duschkin, ‚ich versuchte vielmehr alles über die Ermordung in Erfahrung zu bringen und bin mit denselben Zweifeln nach Hause zurückgekehrt. Heute morgen nun gegen acht Uhr,‘ das heißt, am dritten Tage, verstehst du? ‚sehe ich Nikolai hereinkommen, nicht nüchtern, aber auch nicht ganz betrunken, so daß er ganz gut ausgehört werden konnte. Er setzt sich auf eine Bank und schweigt. Außer ihm war in der Kneipe zu der Zeit noch ein fremder Mensch da, auf einer Bank schlief ein anderer, ein Bekannter von mir, auch die zwei Laufjungens waren zur Stelle. Hast du Dmitri gesehen, fragte ich ihn. – Nein, sagte er, ich habe ihn nicht gesehen. – Und warst du auch nicht bei ihm? – Nein, antwortete er, seit vorgestern war ich nicht bei ihm. – Und wo hast du die Nacht geschlafen? – Bei Bekannten auf den Peßki. – Und woher, fragte ich, hast du die Ohrgehänge genommen? – Ich habe sie auf dem Trottoir gefunden, – und er sagte es so, als sei es nicht wahr, und ohne mich anzublicken. – Hast du auch gehört, fragte ich ihn, daß dies und dies, und erzählte ihm nun die Geschichte, am selben Abend und zur selben Stunde auf jener Treppe geschehen ist? – Nein, sagte er, ich habe nichts gehört. – Er hörte mit weit aufgerissenen Augen auf das, was ich ihm erzählte, und ward plötzlich weiß wie Kalk. Ich erzähle weiter, siehe da, er nimmt seine Mütze und will aufstehen. Da wollte ich ihn festhalten und sage, warte ein wenig, Nikolai, willst du nicht eins trinken? Ich gab einem Jungen ein Zeichen, daß er die Tür zuhalten soll, und kam hinter dem Ladentisch hervor, er aber springt auf, stürzt auf die Straße und läuft um die Ecke, – weg war er. Da verlor ich meine Zweifel, es ist sein Werk, sein Verbrechen ...‘“
„Sicher! ...“ sagte Sossimoff.
„Warte! Höre zu Ende! Selbstverständlich beeilte man sich schleunigst, Nikolai zu finden; Duschkin wurde verhaftet und Haussuchung bei ihm gehalten, Dmitri sperrte man auch ein; die Bekannten von Nikolai, bei denen er die letzte Nacht geschlafen hat, wurden gleichfalls hergenommen – und vorgestern brachte man Nikolai selbst; man hatte ihn in der Nähe des N.schen Schlagbaums in einer Spelunke aufgefangen. Er war dorthin gekommen, hatte sein silbernes Kreuz vom Halse genommen und ein Glas Schnaps dafür verlangt. Man hatte es ihm auch gegeben. Nach einer Weile ging die Frau in den Kuhstall und sah durch eine Ritze, daß Nikolai in der Scheune nebenan an einen Balken seinen Gürtel gebunden hatte und eine Schlinge gemacht hatte; dann stieg er auf einen Klotz und wollte die Schlinge um den Hals legen; die Frau schrie aus vollem Halse, und man lief zusammen. – ‚Du bist so einer!‘ – ‚Führt mich,‘ sagte er, ‚auf das Polizeibureau, ich will alles bekennen.‘ Nun, man schaffte ihn mit den gehörigen Ehrenbezeigungen in das Polizeibureau, das heißt hierher. Allerhand Fragen wurden ihm dort gestellt, wer, woher, wie alt – ‚zweiundzwanzig‘ und dergleichen. Frage: ‚Als du und Dmitri arbeitetet, habt ihr nicht jemand auf der Treppe in der und der Stunde gesehen?‘ Antwort: ‚Gewiß sind Menschen vorbeigegangen, aber wir haben sie uns nicht gemerkt.‘ ‚Habt ihr nicht Lärm oder ähnliches gehört?‘ ‚Wir haben nichts besonderes gehört.‘ ‚Wußtest du aber, Nikolai, daß am selben Tage die Witwe so und so an diesem Tage und zu der und der Stunde mit ihrer Schwester ermordet und beraubt wurde?‘ ‚Ich habe gar nichts gewußt, zum ersten Male hörte ich davon in der Kneipe am dritten Tage von Afanassi Pawlowitsch.‘ ‚Und woher hast du die Ohrgehänge?‘ ‚Ich habe sie auf dem Trottoir gefunden.‘ ‚Warum bist du am anderen Tage nicht mit Dmitri zur Arbeit gekommen?‘ ‚Weil ich angefangen hatte zu bummeln.‘ ‚Und wo hast du gebummelt?‘ ‚Ja, dort und dort.‘ ‚Warum liefst du von Duschkin weg?‘ ‚Weil ich große Angst bekam.‘ ‚Warum bekamst du Angst?‘ ‚Daß man mich verhören wird.‘ ‚Wie konntest du denn davor Angst bekommen, wenn du dich vollkommen unschuldig fühlst??‘ ... Nun, glaub oder glaub mir nicht, Sossimoff, diese Frage wurde gestellt und buchstäblich mit diesen Worten, ich weiß es bestimmt, man hat es mir genau mitgeteilt! Wie findest du das? Wie findest du das?“
„Aber, es existieren doch Beweise.“
„Ich spreche jetzt nicht von den Beweisen, sondern von der Fragestellung, darüber, wie sie ihre Aufgabe auffassen! Aber, zum Teufel damit! ... Also sie haben so lange gepreßt und gequetscht, bis er bekannte, ‚ich habe sie,‘ sagte er, ‚nicht auf dem Trottoir, sondern in der Wohnung gefunden, wo ich mit Dmitri arbeitete.‘ ‚Wie verhält sich denn das?‘ ‚Wir arbeiteten den ganzen Tag bis acht Uhr und wollten schon nach Hause gehen, da nahm Dmitri einen Pinsel, schmierte mir in die Fratze Farbe und lief davon und ich ihm nach. Und ich lief hinter ihm her und schrie aus vollem Halse; wie ich aber von der Treppe unter den Torweg kam, stieß ich im vollen Laufe mit dem Hausknecht und einigen Herren zusammen, – wieviel Herren es waren, erinnere ich mich nicht, der Hausknecht schimpfte mich aus, auch der andere Hausknecht schimpfte mich, die Frau des Hausknechtes kam heraus und schimpfte; ein Herr, der mit einer Dame durch den Torweg kam, schimpfte auch, weil ich und Dmitri quer im Wege lagen, – ich hatte Dmitri an den Haaren gepackt, ihn hingeworfen und versetzte ihm Püffe, Dmitri hatte, unter mir liegend, mich auch an den Haaren und puffte mich, wir taten es nicht im Ernst, sondern in aller Freundschaft, im Scherze. Dmitri machte sich von mir los und lief auf die Straße, ich lief ihm nach, holte ihn aber nicht ein und ging in die Wohnung allein zurück, – es mußte noch aufgeräumt werden. Ich begann das Werkzeug zu sammeln und wartete auf Dmitri, vielleicht kommt er noch. Und bei der Türe im Vorzimmer, an der Wand, in einem Winkel, trat ich auf ein Kästchen. Ich sehe, es liegt da, eingeschlagen in Papier. Das Papier nahm ich ab und sah solche ganz winzige Häkchen, ich machte sie auf und im Kästchen lagen die Ohrgehänge ...‘“
„Hinter der Tür? Hinter der Tür lag es? Hinter der Tür?“ rief plötzlich Raskolnikoff, sah Rasumichin mit einem trüben, erschreckten Blick an und erhob sich langsam, sich mit der Hand stützend, vom Sofa.
„Ja ... aber was ist denn los? Was ist mit dir? Was hast du?“ Rasumichin erhob sich auch von seinem Platze.
„Nichts! ...“ antwortete kaum hörbar Raskolnikoff, sank wieder auf das Kissen zurück und wandte sich von neuem zu der Wand.
Alle schwiegen eine Weile.
„Er war wahrscheinlich eingeschlummert, noch halb im Schlafe,“ sagte endlich Rasumichin und blickte Sossimoff fragend an; jener machte eine leichte verneinende Bewegung mit dem Kopfe.
„Na, fahr fort,“ sagte Sossimoff, „was weiter?“
„Ja, was weiter? Als er die Ohrgehänge erblickte, vergaß er sofort die Wohnung und Dmitri, nahm seine Mütze und lief zu Duschkin hin und erhielt von ihm, wie es dir bekannt ist, einen Rubel, ihm log er aber vor, daß er sie auf dem Trottoir gefunden hätte, und fing sofort an zu bummeln. Von dem Morde aber bestätigt er das früher gesagte: ‚Ich weiß von gar nichts, habe es erst am dritten Tage gehört!‘ ‚Und warum bist du bis jetzt nicht gekommen?‘ ‚Vor Angst.‘ ‚Und warum wolltest du dich erhängen?‘ ‚Vor lauter Gedanken.‘ ‚Was für Gedanken?‘ ‚Daß man mich verurteilen würde.‘ Nun, das ist die ganze Geschichte. Jetzt, was meinst du, daß sie daraus gefolgert haben?“
„Ja, was ist da zu denken, es ist eine Spur, wenn sie auch unbedeutend ist, so ist es doch eine Spur. Eine Tatsache. Soll man deinen Anstreicher etwa in Freiheit setzen?“
„Ja, sie halten ihn jetzt einfach für den Mörder! Sie haben keinen Zweifel mehr ...“
„Das geht zu weit, du bist hitzig. Nun aber die Ohrgehänge? Du mußt doch selbst zugeben, – wenn am selben Tage und zur selben Stunde die Ohrgehänge aus dem Kasten der Alten in die Hände von Nikolai geraten, – daß sie in irgendeiner Weise zu ihm hingekommen sein müssen? Das hat doch nicht wenig zu sagen bei solch einer Untersuchung.“
„Wie hingekommen! Wie sie hingekommen sind?“ rief Rasumichin aus. „Und du als Arzt, du, der vor allen Dingen verpflichtet ist, den Menschen zu studieren und der Gelegenheit hat, eher als jeder andere, die menschliche Natur kennenzulernen, – kannst du denn nicht nach all diesen gegebenen Anzeichen sehen, was für eine Natur dieser Nikolai ist? Kannst du denn nicht auf den ersten Blick sehen, daß alles, was er bei den Verhören ausgesagt hat, die heiligste Wahrheit ist? Sie sind genau so in seine Hände geraten, wie er ausgesagt hat. Er ist auf ein Kästchen getreten und hat es aufgehoben.“
„Heiligste Wahrheit! Er hat aber doch selbst eingestanden, daß er das erstemal gelogen hat?“
„Höre mich an, höre aufmerksam zu, – der Hausknecht, Koch und Pestrjakoff, auch der andere Hausknecht, die Frau des ersten Hausknechtes und eine Bekannte von ihr, die zur selben Zeit in der Wohnung des Hausknechtes saßen, und der Hofrat Krjukoff, der in demselben Augenblick aus einer Droschke gestiegen und mit einer Dame Arm in Arm durch den Torweg gegangen war, – alle, also acht oder zehn Zeugen, sagen einstimmig aus, daß Nikolai den Dmitri zu Boden gedrückt, auf ihm lag und ihn schlug, und daß jener ihn an den Haaren gepackt hatte und ebenso auf ihn schlug. Sie liegen beide quer im Wege und versperren den Durchgang; sie werden von allen geschimpft und sie liegen da, wie ‚kleine Kinder‘ aufeinander (buchstäblicher Ausdruck der Zeugen), kreischen, prügeln sich und lachen, lachen beide um die Wette, mit den komischsten Fratzen und laufen auf die Straße, gleich Kindern, hinaus einander zu fangen. Hast du gehört? Nun merke dir jetzt, – oben liegen die Körper noch warm, hörst du, noch warm, so fand man sie! Wenn sie oder auch Nikolai nur allein, gemordet und dabei den Kasten aufgebrochen und geraubt hätten oder auch nur einigermaßen an dem Raube beteiligt gewesen wären, erlaube mir nur die eine Frage dir vorzulegen, – ist solch eine seelische Stimmung, das heißt, Kreischen, Lachen, kindisches Prügeln in dem Torwege – mit Beilen, Blut, mit verbrecherischer Schlauheit, Vorsicht, Raub vereinbar? Sie haben soeben noch vor fünf oder zehn Minuten gemordet, – denn es muß so stimmen, die Körper waren ja noch warm – und plötzlich lassen sie die Leichen liegen und die Wohnung offen, wobei sie wissen, daß soeben Menschen dorthin gegangen sind, kümmern sich nicht um die Beute und wälzen sich wie kleine Kinder auf dem Wege, lachen und lenken die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich – und dies alles bezeugen einstimmig zehn Zeugen!“
„Sicher ist es sonderbar! Selbstverständlich ist dies doch unmöglich, aber ...“
„Nein, Bruder, es gibt kein aber, – sondern wenn die Ohrgehänge, die zur selben Stunde und am selben Tage in Nikolais Hände geraten sind, tatsächlich einen wichtigen ihn belastenden Beweis ausmachen, – der jedoch durch seine Aussagen einfach erklärt wird, also noch ein strittiger Beweis ist, – muß man doch auch die entlastenden Tatsachen in Erwägung ziehen und um so mehr, als dies unwiderlegbare Tatsachen sind. Und glaubst du wohl, nach der Art unserer Jurisprudenz, daß sie dies anerkennen wird, oder daß sie fähig ist, solch eine Tatsache, – die ausschließlich auf rein psychologischer Unmöglichkeit, nur auf seelischer Stimmung allein begründet ist, – als eine unanfechtbare und alle belastenden und sachlichen Momente, wie sie auch sein mögen, widerlegende Tatsache anzuerkennen? Nein, sie werden es nicht anerkennen, keineswegs, denn man hat das Kästchen gefunden, werden sie sagen, und der Mensch wollte sich erhängen, – ‚was nicht geschehen könnte, wenn er sich nicht schuldig fühlte‘. Das ist die Hauptfrage, darum ereifere ich mich auch! Verstehe es doch!“
„Ja, ich sehe es auch, daß du dich ereiferst. Warte, ich vergaß dich zu fragen, wodurch ist es nachgewiesen, daß das Kästchen mit den Ohrgehängen tatsächlich von der Alten stammt?“
„Das ist nachgewiesen,“ antwortete Rasumichin mit gerunzelten Augenbrauen und anscheinend mit Unlust. „Koch hat das Ding erkannt und den Pfandgeber genannt, und dieser hat bewiesen, daß die Ohrgehänge ihm gehören.“
„Das ist schlimm. Jetzt noch eins, – hat jemand Nikolai gesehen, als Koch und Pestrjakoff allein hinaufgingen, und kann man es nicht irgendwie beweisen?“
„Das ist es ja, daß niemand ihn gesehen hat,“ antwortete Rasumichin ärgerlich, – „das ist ja das Schlimme; sogar Koch und Pestrjakoff haben Nikolai und Dmitri nicht bemerkt, als sie hinaufgingen, obgleich ihr Zeugnis jetzt nicht viel bedeuten würde. ‚Wir haben gesehen,‘ sagen sie, ‚daß die Wohnung offen war, daß man darin wahrscheinlich arbeitete, aber wir haben im Vorübergehen nicht darauf geachtet und erinnern uns nicht genau, ob in dem Momente dort Arbeiter waren oder nicht.‘“
„Hm. Also gibt es nur eine einzige Rechtfertigung: die, daß sie einander Püffe versetzt und gelacht haben. Angenommen, dies ist ein starker Beweis, aber ... Erlaube mal, wie erklärst du selbst den ganzen Vorgang? Wodurch willst du den Fund der Ohrgehänge erklären, wenn er sie tatsächlich so gefunden hat, wie er angibt?“
„Wie ich es erkläre? Ja, was ist da zu erklären, die Sache ist klar. Wenigstens der Weg, den man bei dieser Sache gehen muß, ist klar und bewiesen, und gerade das Kästchen hat ihn gezeigt. Der wirkliche Mörder hat die Ohrgehänge verloren. Der Mörder war oben, als Koch und Pestrjakoff klopften, und saß eingeschlossen dort. Koch machte die Dummheit und ging nach unten, da sprang der Mörder heraus und lief ebenfalls nach unten, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakoff und dem Hausknecht in der leeren Wohnung, und zwar in dem Augenblicke, als Dmitri und Nikolai herausgelaufen waren; er stand hinter der Türe, als der Hausknecht und die anderen nach oben gingen, wartete bis die Schritte verhallten und ging in aller Seelenruhe hinunter, genau im selben Augenblicke, als Dmitri und Nikolai auf die Straße gelaufen waren, alles fort und niemand im Torwege war. Vielleicht hat man ihn auch gesehen, aber nicht beachtet; es gehen ja nicht wenige Menschen dort aus und ein. Und das Kästchen ist ihm aus der Tasche gefallen, als er hinter der Tür stand, und er hat es nicht gemerkt, denn er mußte an anderes denken. Das Kästchen aber beweist klar, daß er dort gestanden hat. So ist die ganze Sache!“
„Das ist schlau. Nein, Bruder, das ist sehr schlau. Das ist zu schlau!“
„Aber warum denn, warum?“
„Ja, weil alles viel zu glücklich verlief ... und sich gestaltete ... wie auf dem Theater.“
„Ach,“ rief Rasumichin und wollte fortfahren, aber in diesem Augenblicke öffnete sich die Tür und es trat eine neue, von keinem der Anwesenden gekannte Person herein.
Es war ein Herr, nicht mehr jung, geziert, würdevoll, mit einem lauernden und verdrießlichen Gesichte; er begann damit, daß er an der Tür stehen blieb und sich mit unverkennbar beleidigtem Erstaunen umblickte, als ob er fragen würde: „wohin bin ich denn geraten?“ Mißtrauisch, mit dem Ausdruck eines affektierten Überraschtseins, fast eines Schreckens, sah er sich in Raskolnikoffs enger und niedriger „Schiffskajüte“ um. Mit gleichem Erstaunen richtete er seine Blicke auf Raskolnikoff selbst, der entkleidet, ungekämmt und ungewaschen auf seinem unansehnlichen, schmutzigen Sofa lag und ihn ebenso unverwandt betrachtete. Dann begann er mit gleicher Bedächtigkeit die abgerissene, unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der seinerseits ihm frech und fragend direkt in die Augen blickte, ohne sich von seinem Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine Minute und endlich trat, wie man es auch erwarten konnte, ein kleiner Stimmungswechsel ein. Nachdem der eingetretene Herr wahrscheinlich aus gewissen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen entnommen hatte, daß mit einer herrischen Miene hier in dieser „Schiffskajüte“ nichts zu wollen sei, wurde er etwas freundlicher und sagte höflich, obgleich nicht ohne eine gewisse Strenge, indem er sich an Sossimoff wandte und jede Silbe seiner Frage betonte: „Rodion Romanytsch Raskolnikoff, Herr Student oder ehemaliger Student?“
Sossimoff rührte sich ein wenig und hätte auch vielleicht geantwortet, wenn Rasumichin, an den die Worte gar nicht gerichtet waren, ihm nicht zuvorgekommen wäre.
„Da liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?“ Dieses familiäre „Und was wollen Sie?“ traf den gezierten Herrn wie ein Hieb, und fast hätte er sich zu Rasumichin umgewandt, aber er hielt sich noch rechtzeitig zurück und wandte sich schnell wieder an Sossimoff.
„Da ist Raskolnikoff!“ brummte Sossimoff und wies auf den Kranken hin, dann gähnte er, wobei er ungewöhnlich weit seinen Mund aufsperrte und ihn ungewöhnlich lange in dieser Lage behielt. Dann bewegte er die Hand langsam zu der Westentasche, zog eine riesige, dicke, goldene Uhr hervor, öffnete den Deckel, sah nach und steckte sie ebenso langsam und träge wieder ein.
Raskolnikoff selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und blickte unverwandt, scheinbar gedankenlos, den Eingetretenen an. Sein Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume in der Tapete abgewandt hatte, war außerordentlich bleich und drückte ein ungewöhnliches Leiden aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation durchgemacht, oder als hätte er eine Tortur hinter sich. Der eingetretene Herr aber begann allmählich seine Aufmerksamkeit mehr und mehr zu erregen, es tauchten in ihm Zweifel, Mißtrauen und sogar anscheinend Furcht auf. Als aber Sossimoff auf ihn hinwies und „da ist Raskolnikoff“ sagte, erhob er sich schnell, wie auffahrend, setzte sich auf sein Bett und sagte mit fast herausfordernder, aber schwankender und schwacher Stimme:
„Ja. Ich bin Raskolnikoff! Was wollen Sie?“
Der Besucher blickte ihn aufmerksam an und sagte mit Betonung:
„Peter Petrowitsch Luschin. Ich habe die sichere Hoffnung, daß mein Name Ihnen nicht ganz unbekannt sei.“
Raskolnikoff aber, der etwas ganz anderes erwartet hatte, blickte ihn stumpf und nachdenklich an und antwortete nichts, als ob er Peter Petrowitschs Namen entschieden zum erstenmal höre.
„Wie? Haben Sie bis jetzt noch keine Nachrichten über mich erhalten?“ fragte Peter Petrowitsch mit einer Bewegung unangenehmer Überraschung.
Anstatt zu antworten, ließ sich Raskolnikoff langsam auf das Kissen nieder, steckte die Hände unter den Kopf und begann die Zimmerdecke zu betrachten. Eine bedrückte Stimmung zeigte auf Luschins Gesicht starke Betroffenheit. Sossimoff und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer Neugierde anzusehen, und er wurde sichtlich verlegen.
„Ich nahm an und rechnete bestimmt darauf,“ murmelte er, „daß der Brief, der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor vierzehn Tagen abgesandt ist ...“
„Hören Sie mal, was sollen Sie denn die ganze Zeit an der Türe stehen?“ unterbrach ihn Rasumichin, „wenn Sie etwas mitzuteilen haben, setzen Sie sich doch, für Sie und Nastasja ist es dort zu eng. Nastasja, mach mal Platz, laß ihn durchgehen! Kommen Sie hierher, da haben Sie einen Stuhl! Kriechen Sie hier durch!“
Er rückte seinen Stuhl von dem Tische ab, machte zwischen dem Tisch und seinen Knien einen Durchgang frei und wartete in dieser unbequemen Stellung, bis der Gast durch diesen Spalt „hindurchkriechen“ würde. Der Moment war so gewählt, daß man nicht gut ablehnen konnte, und der Besucher kroch durch den engen Durchgang, sich beeilend und stolpernd, hindurch. Als er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich und blickte Rasumichin argwöhnisch an.
„Seien Sie übrigens nicht verlegen,“ platzte dieser hervor. „Rodja ist schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert, jetzt aber ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Dort sitzt sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kamerad, auch ein ehemaliger Student, und pflege ihn nun; also, achten Sie nicht auf uns und genieren Sie sich nicht, fahren Sie nur fort und sagen Sie, was Sie zu sagen haben.“
„Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht durch meine Anwesenheit und mit meinem Gespräch den Kranken aufregen?“ wandte sich Peter Petrowitsch an Sossimoff.
„N–nein,“ sagte Sossimoff langsam, „Sie können ihn vielleicht zerstreuen.“
Und er gähnte wieder.
„Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute morgen!“ fuhr Rasumichin fort, dessen Familiarität den Stempel solch einer unverfälschten Treuherzigkeit trug, daß Peter Petrowitsch allmählich seine Fassung wiedergewann, zum Teil wohl auch darum, weil dieser zerlumpte und freche Mensch sich als Student vorgestellt hatte.
„Ihre Frau Mutter ...“ begann Luschin.
„Hm!“ äußerte sich Rasumichin vernehmlich.
Luschin blickte ihn fragend an.
„Das hat nichts zu sagen, ich tat es nur so; fahren Sie fort ...“
Luschin zuckte die Achseln.
„... Ihre Frau Mutter begann noch während meiner Anwesenheit dort einen Brief an Sie. Nachdem ich hier eingetroffen war, ließ ich absichtlich einige Tage vergehen und kam nicht gleich zu Ihnen, um ganz gewiß zu sein, daß Sie von allem unterrichtet sind, jetzt aber zu meinem Erstaunen ...“
„Ich weiß, ich weiß!“ sagte plötzlich Raskolnikoff mit dem Ausdrucke des ungeduldigsten Ärgers. „Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß ... und genug!“
Peter Petrowitsch fühlte sich entschieden beleidigt, aber er schwieg. Er dachte eifrig nach, was dieses alles zu bedeuten habe. Es herrschte ein minutenlanges Schweigen.
Indessen begann Raskolnikoff, der sich bei seiner Antwort nur ein wenig ihm zugekehrt hatte, ihn von neuem aufmerksam und mit einer gewissen Neugier anzusehen, als hätte er vorhin nicht Zeit gefunden, ihn ganz zu betrachten oder als wäre ihm etwas Neues an ihm aufgefallen; er erhob sich zu dem Zwecke sogar absichtlich von dem Kissen. In dem ganzen Aussehen von Peter Petrowitsch lag wirklich etwas Besonderes, und zwar etwas, das die Bezeichnung „Bräutigam,“ die ihm soeben so ungeniert zugeteilt wurde, zu rechtfertigen schien. Man konnte sehen, und zwar ziemlich deutlich, daß Peter Petrowitsch sich sehr beeilt hatte, die paar Tage seines Aufenthaltes in der Residenz auszunutzen, um sich in Erwartung der Braut neu auszustaffieren und zu verschönern, was gewiß sehr unschuldig und statthaft war. Sogar die eigentümliche, vielleicht ein wenig zu ausgeprägte Selbstzufriedenheit über seine angenehme Veränderung konnte in diesem Falle verzeihlich erscheinen, denn Peter Petrowitsch war ja in dem Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung war soeben vom Schneider gekommen und alles war gut, nur daß eben alles zu neu war und zu sehr den bestimmten Zweck verriet. Auch der elegante, nagelneue, runde Hut deutete auf diesen Zweck hin, – Peter Petrowitsch behandelte ihn zu ehrerbietig und hielt ihn mit zu großer Vorsicht in Händen. Auch das reizende Paar Handschuhe von heller lila Farbe bezeugte das, wenn auch nur damit, daß man sie nicht anzog, sondern in der Hand hielt. Helle und jugendliche Farben herrschten in Peter Petrowitschs Kleidung vor. Er hatte ein sehr hübsches Sommerjackett von hellbrauner Farbe an, helle leichte Beinkleider, ebensolch eine Weste, neugekaufte feine Wäsche, eine leichte Krawatte aus Batist mit rosa Streifen, und das allerbeste war dabei, daß alles Peter Petrowitsch sehr gut kleidete. Sein Gesicht, sehr frisch und sogar hübsch, schien auch ohnedem jünger als fünfundvierzig Jahre. Ein dunkler Backenbart umrahmte es zu beiden Seiten und verdichtete sich ziemlich hübsch um das glänzende, vorzüglich rasierte Kinn. Auch die Haare, übrigens nur stellenweise und kaum bemerkbar grau, waren von einem Friseur gekämmt und gekräuselt, erhielten aber dadurch nichts Lächerliches oder gaben ein dummes Aussehen, was gewöhnlich bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil es dem Gesichte eine unvermeidliche Ähnlichkeit mit einem Deutschen, der zum Altar schreitet, verleiht. Wenn in diesem ziemlich hübschen und soliden Gesichte etwas tatsächlich Unangenehmes und Abstoßendes war, so hatte dies einen anderen Grund. Nachdem Raskolnikoff Herrn Luschin ungeniert betrachtet hatte, lächelte er sarkastisch, ließ sich wieder auf das Kissen nieder und begann, wie früher, die Zimmerdecke anzusehen.
Herr Luschin aber nahm sich zusammen und schien entschlossen zu sein, diese Sonderbarkeiten vorläufig nicht zu beachten.
„Ich bedauere sehr, sehr, Sie in solch einer Lage zu finden,“ begann er von neuem, mit Mühe das Schweigen brechend. „Wenn ich von Ihrem Unwohlsein gewußt hätte, wäre ich früher gekommen. Aber, wissen Sie, die Plackereien ... Ich habe außerdem eine sehr wichtige Angelegenheit im Senat, in meiner Eigenschaft als Advokat. Ich erwähne nicht die Sorgen, die auch Sie erraten können. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mutter und Schwester, erwarte ich stündlich ...“
Raskolnikoff machte eine Bewegung und wollte etwas sagen; sein Gesicht drückte eine gewisse Erregung aus. Peter Petrowitsch hielt in Erwartung inne, aber da nichts erfolgte, fuhr er fort: „... Stündlich. Ich habe ihnen fürs erste eine Wohnung gesucht ...“
„Wo?“ fragte leise Raskolnikoff.
„Gar nicht weit von hier, im Hause von Bakalejeff.“
„Das ist auf dem Wosnesensky-Prospekt,“ unterbrach ihn Rasumichin, „dort sind zwei Stockwerke, als möblierte Zimmer eingerichtet; der Kaufmann Juschin ist Inhaber; ich bin dort gewesen.“
„Ja, es sind möblierte Zimmer ...“
„Es ist fürchterlich dort; Schmutz, Gestank und ein verdächtiger Ort auch; mancherlei ist da vorgefallen. Ja, und weiß der Teufel, was da nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort aus einem skandalösen Grunde gewesen. Übrigens ist es billig.“
„Ich konnte selbstverständlich nicht soviel erfahren, da ich selbst vor kurzem angekommen bin,“ antwortete Peter Petrowitsch empfindlich, „es sind übrigens zwei sehr, sehr saubere kleine Zimmer, und da es auf eine sehr kurze Zeit nur ist ... Ich habe schon eine wirkliche, das heißt unsere künftige Wohnung gefunden,“ wandte er sich an Raskolnikoff, „und jetzt wird sie instand gesetzt; unterdessen aber behelfe ich mich auch selbst mit einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei Frau Lippewechsel, in der Wohnung eines jungen Freundes von mir, Andrei Ssemenytsch Lebesjätnikoff; er hat auch mir das Haus von Bakalejeff empfohlen ...“
„Lebesjätnikoff?“ sagte langsam Raskolnikoff, als ob er sich auf etwas besinne.
„Ja, Andrei Ssemenytsch Lebesjätnikoff, er ist im Ministerium angestellt. Kennen Sie ihn?“
„Ja ... nein ...“ antwortete Raskolnikoff.
„Entschuldigen Sie, mir scheint es so nach Ihrer Frage. Ich war einmal sein Vormund ... ein sehr lieber junger Mann ... und mit Interessen ... Und ich bin froh, mit der Jugend zusammenzukommen; durch sie erfährt man alles Neue ...“
Peter Petrowitsch blickte erwartungsvoll alle Anwesenden an.
„Wie meinen Sie das?“ fragte Rasumichin.
„Nun, im besten Sinne des Wortes,“ sagte Peter Petrowitsch, als wäre er über die Frage erfreut. „Ich war, sehen Sie, seit zehn Jahren nicht mehr in Petersburg. Alle unsere Neuerungen, Reformen und Ideen, dies alles hat auch uns in der Provinz erreicht, aber um klarer zu sehen und um alles zu sehen, muß man in Petersburg sein. Nun, und meine Meinung ist, daß man am meisten bemerkt und erfährt, indem man unsere jüngere Generation beobachtet. Und offen gestanden, ich bin erfreut ...“
„Worüber denn?“
„Ihre Frage ist zu umfassend. Ich kann mich irren, aber es scheint mir, ich finde einen klareren Blick, sozusagen mehr Kritik, mehr Tüchtigkeit ...“
„Das ist wahr,“ sagte gelassen Sossimoff.
„Du lügst, Tüchtigkeit ist nicht da,“ mischte sich Rasumichin ein. „Tüchtigkeit erwirbt sich schwer und fällt nicht umsonst vom Himmel. Wir sind aber fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ich gebe zu, Ideen hat man,“ wandte er sich an Peter Petrowitsch, „auch Wünsche für das Gute sind da, wenn auch kindische, auch Ehrlichkeit findet man vor, ungeachtet dessen, daß hierher unzählige Gauner gekommen sind, aber Tüchtigkeit gibt es doch nicht! Nur in Ausnahmefällen.“
„Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden,“ erwiderte mit sichtbarem Behagen Peter Petrowitsch, „sicher gibt es Übertreibung, Unregelmäßigkeiten, aber man muß auch nachsichtig sein; Übertreibung zeugt von Eifer für die Sache und von der unrichtigen äußeren Umgebung, in der die Sache sich befindet. Wenn noch wenig getan ist, so war auch die Zeit zu kurz. Von den Mitteln rede ich gar nicht. Meiner persönlichen Auffassung nach ist sogar, wenn Sie wollen, etwas getan, – es sind neue nützliche Gedanken, einige neue nützliche Werke, an Stelle der früheren schwärmerischen und romantischen, verbreitet; die Literatur zeigt ein reiferes Gepräge; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet und werden verspottet ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich von der Vergangenheit losgesagt, und das ist meiner Meinung nach schon eine Tat ...“
„Hat er das auswendig gelernt! Empfiehlt sich damit!“ sagte plötzlich Raskolnikoff.
„Was?“ fragte Peter Petrowitsch, da er nicht recht gehört hatte, aber er erhielt keine Antwort.
„Das ist alles wahr,“ beeilte sich Sossimoff zu bemerken.
„Ja, nicht wahr?“ fuhr Peter Petrowitsch fort und blickte Sossimoff freundlich an. „Geben Sie selbst zu,“ wandte er sich an Rasumichin, jetzt aber im Tone des Triumphes und der Überlegenheit, und beinahe hätte er „junger Mann“ hinzugefügt, „daß es einen Fortschritt oder, wie man sich jetzt ausdrückt, einen Prozeß gibt, wenigstens in der Wissenschaft und in den wirtschaftlichen Gesetzen ...“
„Das ist ein Gemeinplatz!“
„Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bis jetzt sagte: ‚Liebe deinen Nächsten‘, und ich tat es, – was kam dabei heraus?“ fuhr Peter Petrowitsch fort, vielleicht mit zu großem Eifer. „Es kam das heraus, daß ich meinen Rock in zwei Hälften zerriß, ihn mit dem Nächsten teilte, und wir beide blieben halbnackt, wie nach dem russischen Sprichworte: ‚Wer ein paar Hasen gleichzeitig nachjagt, fängt keinen einzigen.‘ Die Wissenschaft aber sagt: ‚Liebe vor allem zuerst dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichem Interesse begründet.‘ Wenn man sich selbst liebt, wird man seine Angelegenheiten, wie es sich gehört, in Ordnung bringen, und der Rock bleibt einem ganz und heil. Die wirtschaftlichen Gesetze fügen noch hinzu, daß, je mehr es in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten und sozusagen ganze und heile Röcke gibt, daß sie um so mehr Grundlagen hat, und daß um so mehr das Allgemeinwohl gefördert wird. Also, indem ich allein und ausschließlich für mich selbst erwerbe, erwerbe ich dadurch auch für alle und trage dazu bei, daß mein Nächster etwas mehr als einen zerrissenen Rock erhält, und nicht mehr als Wohltat von einzelnen Privatpersonen, sondern infolge des allgemeinen Fortschritts. Der Gedanke ist einfach, aber zum Unglück tauchte er zu spät auf, verdeckt durch Überschwänglichkeit und Schwärmerei, und es möchte scheinen, daß man nicht viel Witz braucht, um darauf zu kommen ...“
„Entschuldigen Sie, ich habe auch nicht viel Witz,“ unterbrach ihn Rasumichin schroff, „hören wir besser auf. Ich habe nur aus einem bestimmten Zweck begonnen, sonst ist mir dies ganze Geschwätz, dieses Sichselbst-Trösten, diese endlosen unaufhörlichen Gemeinplätze und dies ewige Einerlei in drei Jahren so zuwider geworden, daß ich bei Gott erröte, wenn auch andere, nicht ich bloß, in meiner Gegenwart davon sprechen. Sie haben sich selbstverständlich beeilt, sich mit Ihren Kenntnissen einzuführen, das ist sehr verzeihlich, und ich verurteile Sie nicht. Ich aber wollte bloß erfahren, wer Sie sind; denn sehen Sie, in der letzten Zeit haben sich so viel und allerhand Industrieritter an der allgemeinen Sache angeklebt und haben alles, womit sie in Berührung kamen, so zu ihrem Vorteil zugerichtet, daß sie entschieden die ganze Sache beschmutzt haben. – Nun genug davon!“
„Mein Herr,“ begann Luschin, sich mit der größten Würde aufrichtend, „wollen Sie etwa damit ausdrücken, daß auch ich ...“
„Oh, bitte, bitte ... Könnte ich es denn! ... Nun genug!“ schnitt Rasumichin ab und wandte sich unmittelbar an Sossimoff, um das frühere Gespräch fortzusetzen.
Peter Petrowitsch zeigte sich so klug, sofort der Erklärung zu glauben, beschloß aber, nach ein paar Minuten wegzugehen.
„Ich hoffe, daß unsere jetzt geschlossene Bekanntschaft,“ wandte er sich an Raskolnikoff, „nach Ihrer Genesung und infolge der Ihnen bekannten Umstände sich noch mehr befestigen wird ... Besonders wünsche ich Ihnen gute Besserung ...“
Raskolnikoff wandte nicht mal den Kopf um. Peter Petrowitsch schickte sich an, aufzustehen.
„Der Mörder war sicher ein Pfandgeber!“ Sossimoff stimmte zu.
„Unbedingt ein Pfandgeber!“ wiederholte Rasumichin. „Porphyri verrät seine Gedanken nicht, aber er verhört doch die Pfandgeber ...“
„Verhört die Pfandgeber?“ fragte Raskolnikoff laut.
„Ja, was ist denn?“
„Nichts.“
„Wo findet er sie denn?“ fragte Sossimoff.
„Einige hat Koch genannt; von anderen waren die Namen auf den Umschlägen der Sachen notiert, und manche kamen von selbst, als sie hörten ...“
„Na, das muß doch eine gewandte und erfahrene Kanaille sein! Welche Kühnheit! Welche Entschlossenheit!“
„Das ist es ja, daß dies nicht der Fall ist!“ unterbrach Rasumichin. „Das bringt auch alle von der Spur ab. Ich aber sage – er war ungewandt und unerfahren und sicher war es das erstemal. – Nimm Berechnung und eine gewandte Kanaille an, und es erscheint unglaublich. Nimm aber einen Unerfahrenen an, und es zeigt sich, daß nur der Zufall ihn unterstützt und gerettet hat, und was tut nicht der Zufall? Ich bitte dich, er hat vielleicht nicht einmal Hindernisse vorausgesehen! Und wie führt er die Tat aus? – Er nimmt Sachen im Werte von zehn und zwanzig Rubel, stopft sich damit die Taschen voll, wühlt in dem Kasten, in allerhand Weiberlumpen, – und in der Kommode, in der oberen Schublade findet man nachher in einer Schatulle an barem Gelde gegen anderthalb tausend, außer den Wertpapieren. Er hat nicht mal verstanden zu rauben, er hat bloß verstanden zu morden! Ich sage dir, es ist sein erster Fall, sein allererster; er hat seine Fassung verloren. Und nicht durch Berechnung, sondern durch Zufall ist er entkommen.“
„Mir scheint, Sie sprechen von der kürzlichen Ermordung der alten Beamtenwitwe,“ mischte sich Peter Petrowitsch ein, sich an Sossimoff wendend. Er stand schon mit dem Hute und Handschuhen in der Hand, aber vor dem Fortgehen wollte er noch einige geistreiche Worte fallen lassen. Er mühte sich sichtlich, einen guten Eindruck zu hinterlassen und die Eitelkeit überwand die Vernunft.
„Ja. Haben Sie davon gehört?“
„Selbstverständlich, es ist ja in der Nachbarschaft ...“
„Kennen Sie die Einzelheiten?“
„Das kann ich nicht behaupten. Mich aber interessiert dabei ein anderer Umstand, sozusagen die ganze Frage. Ich spreche nicht davon, daß in den letzten fünf Jahren die Verbrechen in der unteren Klasse sich vermehrt haben; ich spreche nicht von den ununterbrochenen Raubanfällen und Feuersbrünsten, die überall nun vorkommen; am auffallendsten aber erscheint mir, daß die Verbrechen auch in den höheren Klassen sich ebenso vermehren und sozusagen in paralleler Weise. Dort, hört man, hat ein ehemaliger Student auf offener Straße die Post beraubt; dort wieder fabrizieren Menschen, die nach ihrer gesellschaftlichen Stellung zu den ersten gehören, falsches Papiergeld; in Moskau ertappt man eine ganze Gesellschaft beim Fälschen von Scheinen der letzten Prämienanleihe, – und einer der Hauptbeteiligten ist ein Professor der Weltgeschichte; dort, im Auslande ermordet man einen von unsern Botschaftssekretären aus rätselhaften Gründen ... Und wenn jetzt diese alte Pfandleiherin von jemand aus der besseren Gesellschaft getötet ist, – denn einfache Leute versetzen keine Goldsachen, – wie kann man denn diese Verdorbenheit des gebildeten Teiles unserer Gesellschaft erklären?“
„Es gibt viele ökonomische Verschiebungen,“ bemerkte Sossimoff.
„Wie erklären?“ unterbrach ihn Rasumichin.
„Gerade durch die uns anhaftende Untüchtigkeit kann man es erklären.“
„Wieso denn?“
„Was antwortete Ihr Professor in Moskau auf die Frage, warum er die Scheine gefälscht habe? Alle werden durch allerhand Mittel reich, da wollte ich auch schnell reich werden – das war seine Antwort. Des Wortlautes entsinne ich mich nicht genau; aber der Sinn war, daß er auf fremde Kosten schnell, ohne zu arbeiten, reich werden wollte. Wir sind gewohnt, Hilfe zu erhalten, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu essen ... Nun, und schlägt die große Stunde, da zeigt sich jeder in seiner wahren Gestalt ...“
„Aber es gibt doch Moral. Und sozusagen Begriffe ...“
„Ja, was ereifern Sie sich denn?“ mischte sich Raskolnikoff plötzlich ins Gespräch. „Es ist doch nach Ihrer Theorie!“
„Wieso nach meiner Theorie?“
„Ziehen Sie doch die Konsequenzen dessen, was Sie vorhin predigten, und es ergibt sich, daß man Menschen umbringen darf ...“
„Aber ich bitte!“ rief Luschin aus.
„Nein, so ist das nicht!“ bemerkt Sossimoff.
Raskolnikoff lag bleich mit zuckender Lippe da und atmete schwer.
„Alles hat seine Grenzen,“ fuhr Luschin hochmütig fort, „eine ökonomische Idee ist noch keine Aufforderung zum Mord, und wenn man nur annimmt ...“
„Ist es wahr, daß Sie,“ unterbrach ihn von neuem Raskolnikoff mit vor Wut zitternder Stimme, aus der man die Freude zu beleidigen heraus merkte, „ist es wahr, daß Sie Ihrer Braut ... in derselben Stunde, als Sie ihr Jawort erhielten, gesagt haben, daß Sie sich am meisten darüber freuten ... daß sie eine Bettlerin sei ... weil es vorteilhafter sei, eine bettelarme Frau zu nehmen, um über sie später herrschen ... und ihr vorhalten zu können, daß Sie ihr Wohltäter seien? ...“
„Mein Herr!“ rief Luschin betroffen und gereizt aus und wurde rot und verwirrt. „Mein Herr ... so meine Worte zu entstellen ... Entschuldigen Sie, aber ich muß Ihnen sagen, daß die Gerüchte, die zu Ihnen gedrungen sind, oder besser gesagt, die Ihnen zugetragen sind, auch nicht den Schatten eines vernünftigen Grundes haben, und ich ... vermute, wer ... mit einem Worte ... dieser ... Pfeil ... mit einem Worte, Ihre Frau Mutter ... Sie erschien mir auch ohnedem, bei allen ihren übrigens ausgezeichneten Eigenschaften, in ihrer Auffassung ein wenig schwärmerisch und romantisch angehaucht ... Aber ich war doch tausend Meilen entfernt von der Voraussetzung, daß sie die Sache in solch einer von der Phantasie verunstalteten Weise auffassen und auslegen würde ... Und schließlich ... schließlich ...“
„Wissen Sie was?“ rief Raskolnikoff aus, erhob sich auf dem Kissen und sah ihn mit durchdringendem, scharfem Blicke an. „Wissen Sie was?“
„Was denn?“ Luschin hielt inne und wartete mit gekränkter und herausfordernder Miene.
Das Schweigen dauerte einige Sekunden.
„Daß, wenn Sie noch einmal ... wagen, nur ein Wort ... von meiner Mutter zu erwähnen, ich Sie die Treppe hinunterwerfe!“
„Was ist dir?“ rief Rasumichin aus.
„Ah, so ist die Sache!“ Luschin erbleichte und biß sich auf die Lippen. „Hören Sie, Herr,“ begann er stockend und mit aller Kraft an sich haltend, aber dennoch atemlos, „ich habe schon vorhin beim ersten Schritt Ihre Feindseligkeit erraten, aber ich blieb absichtlich hier, um noch mehr zu erfahren. Vieles konnte ich einem Kranken und Verwandten zugute halten, jetzt aber ... Ihnen ... niemals ...“
„Ich bin nicht krank!“ rief Raskolnikoff aus.
„Um so schlimmer ...“
„Scheren Sie sich zum Teufel!“
Luschin ging schon von selbst, ohne seine Rede zu vollenden, indem er wieder zwischen dem Tisch und Stuhl hindurchkroch; Rasumichin stand diesmal auf, um ihn durchzulassen. Ohne jemand anzusehen und ohne sogar Sossimoff mit einem Kopfnicken zu grüßen, der ihm längst schon Zeichen gegeben hatte, den Kranken in Ruhe zu lassen, ging Luschin hinaus, und als er durch die Tür gebückt hindurchging, hielt er vorsichtshalber seinen Hut in Schulterhöhe. Sogar die Krümmung seines Rückens schien ausdrücken zu wollen, daß er sich furchtbar beleidigt fühle.
„Aber wie kann man denn, wie kann man denn so ...“ sagte der verblüffte Rasumichin und schüttelte den Kopf.
„Laßt mich, laßt mich alle in Ruhe!“ rief Raskolnikoff rasend. „Ja, wollt ihr endlich mich in Ruhe lassen, ihr Quälgeister! Ich fürchte euch nicht! Ich fürchte jetzt niemand, niemand! Geht fort! Ich will allein sein, allein, allein sein!“
„Gehen wir!“ sagte Sossimoff und winkte Rasumichin.
„Erlaube, kann man ihn denn so lassen?“
„Gehen wir,“ bestand Sossimoff und ging hinaus.
Rasumichin sann nach und lief dann hinaus, ihn einzuholen.
„Es könnte schlimmer werden, wenn wir nicht gehorcht hätten,“ sagte Sossimoff, schon auf der Treppe. „Man darf ihn nicht reizen ...“
„Was ist mit ihm?“
„Wenn ihm bloß etwas Glückliches widerfahren wollte, das wäre gut. Vorhin war er bei Kräften ... Weißt du, er hat etwas auf dem Herzen. Etwas Starkes, Bedrückendes ... Das fürchte ich sehr!“
„Ja, vielleicht ist es dieser Herr Peter Petrowitsch! Aus dem Gespräche konnte man entnehmen, daß er seine Schwester heiraten will, und daß Rodja darüber kurz vor der Krankheit einen Brief erhalten hat ...“
„Ja; der Teufel hat ihn jetzt hergeführt; vielleicht hat er die ganze Sache verdorben. Hast du aber gemerkt, daß er gegen alles gleichgültig ist, über alles schweigt, außer den einen Punkt, wo er aus sich herausgeht – den Mord ...“
„Ja, ja!“ bestätigte Rasumichin. „Ich habe es sehr gut gemerkt. Er interessiert sich dafür, gerät in Aufregung. Man hat ihn am Tage, als er krank wurde, in dem Polizeibureau damit erschreckt; er fiel in Ohnmacht.“
„Erzähle mir darüber genauer heute abend, ich will dir auch später etwas sagen. Er interessiert mich sehr! Nach einer halben Stunde will ich ihn aufsuchen ... Ein Fieber wird übrigens nicht folgen.“
„Ich danke dir. Ich will unterdessen bei der lieben Praskovja warten und will durch Nastasja ihn beobachten lassen ...“
Raskolnikoff blickte voll Ungeduld und traurig Nastasja an; sie aber zögerte wegzugehen.
„Willst du jetzt Tee trinken?“ fragte sie ihn.
„Nachher! Ich will schlafen! Laß mich ...“ Er wandte sich krampfhaft der Wand zu. Nastasja ging hinaus.
Kaum aber war sie hinausgegangen, als er aufstand, die Tür zuhakte, das Bündel mit Kleidern, das Rasumichin vorhin gebracht und wieder zugebunden hatte, aufmachte und sich anzukleiden begann. Merkwürdig, plötzlich schien er völlig ruhig geworden zu sein, weder das halbwahnsinnige Phantasieren, wie vorhin, noch die panische Angst, wie in der ganzen letzten Zeit, waren vorhanden. Es war der erste Augenblick einer seltsamen Ruhe. Seine Bewegungen waren bestimmt und klar, eine feste Absicht lag in ihnen. „Heute noch, heute noch! ...“ murmelte er vor sich hin. Er begriff jedoch, daß er noch schwach sei, aber eine starke, seelische Spannung, die sich bis zur Ruhe, bis zu einer unerschütterlichen Idee gesteigert hatte, verlieh ihm Kraft und Selbstbewußtsein; er hoffte auch, daß er auf der Straße nicht hinstürzen würde. Nachdem er sich neu angezogen hatte, erblickte er das Geld, das auf dem Tische lag, dachte nach und steckte es in die Tasche. Es waren fünfundzwanzig Rubel. Er nahm auch das Kupfergeld, den Rest von den zehn Rubeln, die Rasumichin für die Kleidung ausgegeben hatte. Dann hob er leise den Haken ab, ging aus dem Zimmer, stieg die Treppe hinab und warf einen Blick in die weit geöffnete Küche! Nastasja stand mit dem Rücken gegen ihn und blies gebückt in den Samowar. Sie hatte nichts gehört. Wer konnte auch voraussetzen, daß er fortgehen würde? Nach einer Minute war er schon auf der Straße.
Es war gegen acht Uhr, die Sonne ging unter. Es herrschte die frühere Schwüle, aber er atmete gierig diese stinkende, staubige, durch die Stadt verpestete Luft ein. Der Kopf begann ihm ein wenig zu schwindeln; eine wilde Energie blitzte in seinen entzündeten Augen und in seinem abgemagerten, bleichen, gelben Gesichte auf. Er wußte nicht und dachte auch nicht nach, wohin er wollte; er wußte bloß eins, „daß man alles heute noch, mit einem Schlage, sofort beenden müsse, daß er anders nicht nach Hause zurückkehren würde, weil er nicht so weiterleben wolle. Wie enden? Wodurch? Davon hatte er keinen Begriff und wollte auch daran nicht denken. Er verscheuchte den Gedanken, der ihn quälte. Bloß eins fühlte und wußte er, daß alles sich ändern müsse, so oder so; einerlei wie,“ wiederholte er mit einer verzweifelten, starren Entschlossenheit und Festigkeit.
Nach seiner Gewohnheit ging er wieder dem Heumarkt zu. Kurz vor dem Heumarkte stand auf der Straße vor einem kleinen Laden ein junger schwarzhaariger Mann mit einem Leierkasten und spielte ein rührseliges Stück. Er begleitete ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor ihm auf dem Fußsteig stand und wie eine Dame mit Krinoline, Mantille, Handschuhen und einem Strohhut mit einer Feder von flammendem Rot bekleidet war; alles war alt und abgetragen. Sie sang in Erwartung einer Zweikopekenmünze eine Romanze mit zitternder, aber nicht unangenehmer und kräftiger Straßenstimme. Raskolnikoff blieb neben ein paar anderen Zuhörern stehen, hörte zu, nahm ein Fünfkopekenstück und legte es in die Hand des jungen Mädchens. Sie brach bei der höchsten und rührseligsten Note ab, rief dem Leiermann scharf „Schluß!“ zu, und beide wanderten weiter zu dem nächsten Laden.
„Haben Sie Straßengesang gern?“ wandte sich plötzlich Raskolnikoff an einen nicht mehr jungen Mann, der neben ihm stand und das Aussehen eines Bummlers hatte. Dieser blickte ihn erschrocken und verwundert an.
„Ich habe es gern,“ fuhr Raskolnikoff fort, und mit einem Ausdrucke, als rede er gar nicht über Straßengesang. „Ich liebe es, wenn nach einer Leierkastenmelodie gesungen wird an einem kalten, dunklen und feuchten Herbstabend, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Vorübergehenden blaßgrüne und kranke Gesichter haben, oder noch besser, wenn ein nasser Schnee kerzengerade, ohne Wind, niederfällt, wissen Sie, und die Gasflammen hindurchschimmern ...“
„Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...“ murmelte der Herr, betroffen über die Worte und das sonderbare Aussehen Raskolnikoffs, und ging auf die andere Seite der Straße hinüber.
Raskolnikoff schritt weiter und kam zu der Ecke auf dem Heumarkte, wo der Kleinbürger und seine Frau, die sich damals mit Lisaweta unterhielten, ihren Handel trieben, aber sie waren jetzt nicht da. Als er die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der am Eingange eines Mehlladens gähnte.
„Hier an der Ecke handelt doch ein Kleinbürger und seine Frau, nicht wahr?“
„Es handeln hier viele Leute,“ antwortete der Bursche und blickte Raskolnikoff von oben herab an.
„Wie heißt er?“
„Wie man ihn getauft hat, so heißt er auch.“
„Bist du nicht aus dem Rjasanschen Gouvernement? Aus welcher Gegend bist du denn?“
Der Bursche sah Raskolnikoff wieder an.
„Wie soll ich es denn wissen, Eure Durchlaucht, bin zu dumm, um es zu wissen ... Entschuldigen Sie gütigst, Durchlaucht.“
„Ist dort oben eine Schenke?“
„Das ist ein Restaurant, hat auch ein Billard und schöne Damen findet man dort auch ... Tra-la-la.“
Raskolnikoff ging quer über den Platz. Dort auf der anderen Ecke stand eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er zwängte sich durch den dicksten Knäuel und sah die Gesichter an. Aus irgendeinem Grunde zog es ihn an alle anzureden. Aber die Bauern schenkten ihm keine Beachtung und lamentierten alle unter sich. Er blieb stehen, dachte nach und ging nach rechts, auf den Fußsteg, in der Richtung zu dem W.-schen Prospekt. Als er den Platz verlassen hatte, geriet er in die N.-Gasse.
Er war auch früher oft durch diese sehr kurze Gasse gegangen, die eine Biegung macht und von dem Platze auf die Ssadowaja führte. In der letzten Zeit zog es ihn sogar an, wenn es ihm schwer zumute war, in dieser Gegend herumzuirren, damit „es ihm noch schwerer werden sollte“. Jetzt aber war er hierhergekommen, ohne etwas zu wollen. Hier gab es ein großes Haus, das ganz mit Schenken und anderen Speise- und Trinkanstalten angefüllt war; alle Augenblicke kamen von dort Frauenzimmer herausgelaufen, gekleidet, wie man „in der Nachbarschaft“ herumzugehen pflegt – ohne Kopfbekleidung und Überrock. Sie sammeln sich auf dem Fußsteig an, ein paar stehen in Gruppen, besonders bei den Eingängen in das Erdgeschoß, wo man zwei Stufen tiefer in allerhand sehr lustige Lokale gelangen konnte. In einem von diesen Etablissements herrschte in diesem Augenblicke starker Lärm und Geschrei, so daß man es in der ganzen Straße hören konnte, auf einer Guitarre wurde geklimpert, es wurde gesungen, es ging sehr bunt zu. Eine große Gruppe von Frauen drängte sich am Eingange; einige saßen auf den Stufen, andere auf dem Fußsteig, andere wieder standen und unterhielten sich. Auf dem Fahrdamme daneben schlenderte ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette, schimpfte laut und wie es schien, wollte er irgendwo hineingehen, aber wahrscheinlich hatte er vergessen, wohin er wollte. Ein zerlumpter Kerl schimpfte einen anderen und ein total Betrunkener lag quer über der Straße. Raskolnikoff blieb bei der großen Gruppe von Weibern stehen. Sie sprachen mit heiseren Stimmen, alle hatten sie Kattunkleider an und billige Stiefel und waren barhaupt. Einige waren über vierzig Jahre alt, es waren aber auch siebzehnjährige dabei, fast alle hatten sie zerbläute Gesichter. – Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn der Gesang und dieser ganze Lärm und Tumult dort unten ... Man konnte hören, wie unter Lachen und Kreischen jemand mit einer hohen Fistelstimme burschikos zu einer Guitarre sang und wie ein anderer toll dazu tanzte und mit den Absätzen den Takt schlug. Er hörte aufmerksam, düster und nachdenklich zu, indem er, am Eingange stehend und sich vorbeugend, neugierig in das Vorzimmer hineinblickte.
Oh, mein schöner Schutzmann
Schlägt mich so ohne Grund! ...
ertönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikoff hatte schreckliche Lust zu hören, was man sang, als wäre das jetzt die Hauptsache.
„Soll ich nicht hineingehen?“ dachte er. „Sie lachen laut! Aus Betrunkenheit. Warum soll ich mich nicht auch betrinken?“
„Kommen Sie doch herein, lieber Herr!“ sagte eine der Frauen mit ziemlich heller und nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und gar nicht abstoßend – die einzige von der ganzen Gruppe.
„Sieh mal, wie hübsch du bist!“ antwortete er, den Kopf erhebend und blickte sie an.
Sie lächelte; das Kompliment hatte ihr sehr gefallen.
„Sie sind auch selbst sehr hübsch,“ sagte sie.
„Wie mager Sie sind!“ bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. „Kommen wohl eben aus dem Krankenhause?“
„Ihr seid alle aus feiner Familie, aber die Nasen sind zu platt!“ unterbrach sie plötzlich ein herantretender Bauer, ein wenig angeheitert, mit einem listig lächelnden Gesichte. – „Das ist aber ein Vergnügen!“
„Geh hinein, wenn du schon da bist!“
„Ich will auch hineingehen. Du Süße!“
Und er stolperte hinunter.
Raskolnikoff ging weiter.
„Hören Sie, mein Herr!“ rief ihm das Mädchen nach.
„Was?“
Sie tat schämig.
„Ich würde mich freuen, mein Herr, mit Ihnen die Zeit zu vertreiben, ich bin aber ganz außer Fassung vor Ihnen. Schenken Sie mir, hoher Herr, sechs Kopeken zu einem Trunk.“
Raskolnikoff nahm heraus, was er erfaßt hatte – es waren fünfzehn Kopeken.
„Ach, was für ein guter Herr!“
„Wie heißt du?“
„Fragen Sie nach Duklida.“
„Nein, das geht nicht an,“ sagte plötzlich eine aus der Gruppe und schüttelte den Kopf über Duklida. „Ich verstehe nicht, wie man so betteln kann. Ich würde vor lauter Scham in die Erde sinken ...“
Raskolnikoff blickte neugierig die Sprechende an. Es war ein pockennarbiges Mädchen, etwa dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken mit geschwollener Lippe. Sie sprach und tadelte ruhig und ernst.
„Wo habe ich,“ dachte Raskolnikoff, während er weiterging, „wo habe ich es gelesen, wie ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor seinem Ende spricht oder denkt, daß wenn er irgendwo auf einer Höhe, auf einem Felsen und auf einem schmalen Streifen, wo er bloß seine zwei Füße hinsetzen könnte, leben sollte, – umgeben von Abgründen, von Ozean, von ewiger Finsternis, ewiger Einsamkeit und ewigem Sturm, – und so, auf diesem ellenbreiten Streifen stehend, sein ganzes Leben, tausend Jahre, eine Ewigkeit verbringen müßte, – daß es besser sei so zu leben, als sofort zu sterben! Nur leben, leben, leben! Wie, ganz gleich! – bloß leben! ... Wie wahr! Herrgott, wie wahr! Der Mensch ist ein Schuft! ... Und ein Schuft ist der, welcher ihn darum einen Schuft nennt,“ fügte er nach einer Weile hinzu.
Er kam auf eine andere Straße hinaus.
„Ah! Das ist ja der Kristallpalast! Rasumichin sprach vorhin vom Kristallpalast! Ja, was wollte ich aber? Ah, ich wollte lesen! ... Sossimoff erzählte, daß er in den Zeitungen gelesen hätte ...“
„Haben Sie Zeitungen?“ fragte er, indem er in ein ziemlich geräumiges und sogar reinliches Restaurant mit mehreren jetzt ziemlich leeren Räumen eintrat. Zwei, drei Gäste tranken Tee und in einem der Hinterzimmer saßen etwa vier Menschen und tranken Champagner. Raskolnikoff glaubte unter ihnen Sametoff zu erkennen. Von weitem konnte man es nicht unterscheiden.
„Und wenn auch!“ dachte er.
„Befehlen Sie Branntwein?“ fragte der Kellner.
„Bringe mir Tee. Und bringe mir Zeitungen, alte Zeitungen, so von den letzten fünf Tagen, ich gebe dir ein Trinkgeld dafür.“
„Jawohl. Hier sind die heutigen. Befehlen Sie auch Branntwein?“
Alte Zeitungen und der Tee erschienen. Raskolnikoff setzte sich hin und begann zu suchen: – „Isler ... Isler ... Azteken ... Azteken ... Isler ... Bartola ... Massimo ... Azteken ... Isler ... pfui, zum Teufel! ah, da ist die Lokalchronik ... von der Treppe herabgestürzt ... ein Kleinbürger gestorben an Alkoholvergiftung ... Feuersbrunst ... Feuersbrunst ... noch eine Feuersbrunst ... und noch eine Feuersbrunst ... Isler ... Massimo ... Isler ... Isler ... Massimo ... Ah, da ist es ...“
Er hatte endlich gefunden, was er suchte und begann zu lesen; die Zeilen hüpften vor seinen Augen, trotzdem las er die ganze „Nachricht“ zu Ende und begann voll Gier in den weiteren Nummern die Fortsetzung zu suchen. Seine Hände zitterten vor starker Ungeduld, indem er in den Zeitungen blätterte. Plötzlich setzte sich jemand neben ihn, an seinen Tisch. Er schaute hin – es war Sametoff, derselbe Sametoff und mit demselben Äußern, mit Ringen, Uhrketten, mit einem Scheitel in seinen schwarzen gekräuselten und pomadisierten Haaren, in einer eleganten Weste, in einem etwas abgetragenen Rocke und nicht ganz reiner Wäsche. Er war lustig gestimmt, wenigstens lachte er sehr vergnügt und gutmütig. Sein gebräuntes Gesicht war vom genossenen Champagner ein wenig erhitzt.
„Wie! Sie hier?“ begann er mit Staunen und in einem Tone, als wäre er ein ewigalter Bekannter. „Mir erzählte gestern noch Rasumichin, daß Sie immer noch bewußtlos daliegen. Das ist merkwürdig! Wissen Sie, ich war bei Ihnen ...“
Raskolnikoff hatte sich’s gedacht, daß er zu ihm herankommen würde. Er legte die Zeitungen beiseite und wandte sich zu Sametoff. Auf seinen Lippen spielte ein hämisches Lächeln, aber in diesem Lächeln lag eine gereizte Ungeduld.
„Ich weiß es, daß Sie da waren,“ antwortete er, „ich habe es gehört. Sie haben meinen Strumpf gesucht ... Wissen Sie, Rasumichin ist ganz entzückt von Ihnen, er erzählte, daß Sie mit ihm bei Louisa Iwanowna waren, wissen Sie, wegen der Sie damals so angelegentlich dem Leutnant Pulver zuzwinkerten und er immer nicht begriff, erinnern Sie sich noch? Und es war doch nicht viel zu verstehen – es war ja eine klare Sache ... nicht?“
„Was für ein Schwätzer er ist!“
„Pulver?“
„Nein, Ihr Freund Rasumichin ...“
„Sie haben es gut, Herr Sametoff; zu den angenehmsten Orten zollfreien Eintritt! Wer hat Ihnen soeben Champagner spendiert?“
„Wir haben ... ein wenig getrunken ... Und Sie sagen – spendiert?!“
„Ein wenig Honorar! Sie ziehen eben aus allem Nutzen!“ Raskolnikoff lachte. „Hat nichts zu sagen, mein guter junger Mann, tut nichts!“ fügte er hinzu und schlug Sametoff auf die Schulter. „Ich sage es nicht aus Bosheit, sondern ‚aus Freundschaft, im Scherze,‘ so wie der Arbeiter sagte, als er Dmitri schlug, wissen Sie, in der Sache der Alten ...“
„Woher wissen Sie es?“
„Ich weiß vielleicht mehr als Sie ...“
„Wie komisch Sie sind ... Wahrscheinlich sind Sie noch sehr krank. Es war unvorsichtig von Ihnen auszugehen.“
„Erscheine ich Ihnen komisch?“
„Ja. Was lesen Sie da, Zeitungen?“
„Ich lese Zeitungen.“
„Es wird viel von Feuersbrünsten geschrieben.“
„Nein, ich lese nicht über Feuersbrünste.“ Hier blickte er Sametoff rätselhaft an; ein höhnisches Lächeln verzog wieder seine Lippen. „Nein, ich las nicht über Feuersbrünste,“ fuhr er fort und zwinkerte Sametoff zu. „Gestehen Sie nur, lieber junger Mann, daß Sie furchtbar gern wissen möchten, was ich gelesen habe?“
„Ich will es gar nicht wissen; ich habe bloß so gefragt. Darf man denn nicht fragen? Was haben Sie nur immer ...“
„Hören Sie, Sie sind doch ein gebildeter, belesener Mensch?“
„Ich habe die Sekunda eines Gymnasiums,“ antwortete Sametoff mit Würde.
„Die Sekunda! Ach, Sie kleiner Spatz! Mit einem Scheitel, mit Ringen – ein reicher Mann! Nein, welch ein lieber Junge!“ Hier verfiel Raskolnikoff in ein nervöses Lachen und lachte Sametoff direkt ins Gesicht. Der fuhr zurück und war, wie es schien, nicht gekränkt, eher sehr verwundert.
„Nein, wie komisch Sie sind!“ wiederholte Sametoff ernsthaft. „Mir scheint, Sie phantasieren immer noch.“
„Ich phantasiere? Das lügst du, mein Spätzchen! ... Also, ich bin komisch? Nun errege ich aber Ihre Neugier? Nicht wahr?“
„Ja, Sie erregen meine Neugier.“
„Soll ich Ihnen also sagen, was ich gelesen, was ich gesucht habe? Sehen Sie, wieviel Nummern ich mir bringen ließ. Erscheint das nicht verdächtig?“
„Sagen Sie mir ...“
„Sind Ihre Ohren gespitzt?“
„Warum sollen sie gespitzt sein?“
„Ich will es Ihnen nachher sagen, jetzt aber erkläre ich Ihnen, mein Lieber ... nein, besser, ‚ich gestehe‘ ... Nein, das ist auch nicht das richtige, ‚ich gebe es Ihnen zu Protokoll und Sie schreiben es,‘ so lautet’s doch. Also, ich gebe zu Protokoll, daß ich gelesen, mich interessiert, gesucht habe ... nachgeforscht ...“
Raskolnikoff kniff die Augen zusammen und wartete eine Weile. „Nachgeforscht habe, – und bin auch darum hierher gekommen, – betreffs der Ermordung der Alten, der Beamtenwitwe,“ sagte er endlich, fast im Flüstertone, wobei er mit seinem Gesichte außerordentlich nahe dem Sametoffs kam.
Sametoff sah ihn unverwandt an, ohne sich zu bewegen und ohne sein Gesicht zurückzuziehen. Am merkwürdigsten erschien es Sametoff nachher, daß das Schweigen wohl eine volle Minute gedauert hatte und daß sie solange einander anblickten.
„Nun, was ist dabei, daß Sie darüber gelesen haben?“ rief er plötzlich ungehalten und ungeduldig aus. „Was geht das mich an? Was ist denn dabei?“
„Das ist dieselbe Alte,“ fuhr Raskolnikoff fort, in demselben Flüstertone und ohne sich bei dem Ausrufe Sametoffs zu rühren, „es ist dieselbe, von der man, erinnern Sie sich, im Polizeibureau zu sprechen begann, wobei ich in Ohnmacht fiel. Merken Sie was?“
„Ja, was denn? Was ... soll ich merken?“ sagte Sametoff unruhig.
Das unbewegliche und ernste Gesicht Raskolnikoffs veränderte sich plötzlich und wieder verfiel er in das nervöse Lachen von vorhin, als hätte er keine Macht darüber. Und auf einen Augenblick schwebte ihm außerordentlich klar und intensiv jener Moment vor Augen, als er mit dem Beil hinter der Türe stand, wie der Haken hüpfte, und wie die hinter der Tür schimpften und an der Türe rissen, und wie er plötzlich Lust bekam, ihnen zuzurufen, sie zu schimpfen, ihnen die Zunge zu zeigen, sie zu verhöhnen, zu lachen, laut zu lachen, lachen und lachen!
„Sie sind entweder verrückt oder ...“ sagte Sametoff – und hielt inne, als hätte er über einem plötzlichen Gedanken die Sprache verloren.
„Oder? Was – ‚oder‘? Was ist’s? Sprechen Sie?“
„Nichts!“ antwortete Sametoff gereizt. „Es ist ja alles Unsinn!“
Beide verstummten. Auf den Lachanfall wurde Raskolnikoff gleich wieder nachdenklich und düster. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hand. Es schien, als hätte er die Gegenwart Sametoffs völlig vergessen. Das Schweigen dauerte ziemlich lange.
„Warum trinken Sie Ihren Tee nicht? Er wird kalt,“ sagte Sametoff.
„Ah? Was? Tee? ... Meinetwegen ...“ Raskolnikoff nahm einen Schluck aus dem Glase, steckte ein kleines Stück Brot in den Mund, blickte Sametoff an und schien sich auf einmal an alles zu erinnern. Sein Gesicht nahm im selben Augenblick den früheren höhnischen Ausdruck an. Er fuhr fort, Tee zu trinken.
„Heutzutage passieren viele Gaunereien,“ sagte Sametoff. „Ich las vor kurzem in den ‚Moskowskije Wedomosti‘, daß man in Moskau eine Bande Falschmünzer festgenommen habe. Es war eine ganze Gesellschaft ... Sie fälschten Papiergeld.“
„Oh, das ist schon lange her. Ich habe es vor einem Monat gelesen,“ antwortete Raskolnikoff ruhig.
„Also, das sind Ihrer Meinung nach Gauner!“ fügte er lächelnd hinzu.
„Warum nicht Gauner?“
„Die? Das sind Grünspechte, aber keine Gauner! Ganze fünfzig Menschen vereinigen sich zu diesem Zwecke! Geht denn das an? Bei so einer Sache sind schon drei zu viel, da muß jeder dem andern mehr als sich selbst vertrauen. Es braucht bloß einer in Betrunkenheit mit anderen zu plappern, und alles ist verloren! Grünspechte waren es! Sie mieteten sich unzuverlässige Menschen, um das Geld in allerhand Banken umwechseln zu können, – so eine Sache dem ersten besten anvertrauen! Nun gut, nehmen wir an, daß es ihnen geglückt wäre, jeder hat eine Million eingewechselt, nun, was weiter, das ganze Leben hindurch? Jeder ist von dem anderen sein Lebelang abhängig! Da ist es besser, sich gleich zu erhängen! Und sie verstanden nicht mal einzuwechseln, – der eine geht in eine Bank zum wechseln, empfängt fünftausend und die Hände beginnen zu zittern. Viertausend zählt er nach, das fünfte Tausend aber nimmt er ohne nachzuzählen, auf gut Glauben, um es schneller in die Tasche stecken zu können und fortzulaufen. Er erregte Verdacht, und die ganze Sache ging in die Brüche bloß wegen eines einzigen Dummkopfes! Ja, ist das denkbar?“
„Daß die Hände zitterten?“ unterbrach Sametoff.
„Das ist denkbar. Ich bin vollkommen überzeugt, daß es möglich ist. Manchmal kann man so etwas nicht standhalten.“
„So etwas?“
„Könnten Sie standhalten? Ich hielte es nicht aus! Für eine Bezahlung von hundert Rubel diese Angst auf sich nehmen! Nein! Mit einem gefälschten Papier hingehen – und wohin noch – in ein Bankhaus, wo sie so gewitzt sind, – nein, ich hätte die Fassung verloren. Und Sie hätten nicht die Fassung verloren?“
Raskolnikoff hatte plötzlich wieder große Lust, „die Zunge zu zeigen“. Ein Schüttelfrost packte ihn wieder.
„Ich würde nicht so gehandelt haben,“ begann er, weit ausholend. „Ich hätte so gewechselt, – ich hätte das erste Tausend so gegen viermal von allen Seiten nachgezählt, jeden Schein betrachtet, und hätte mich dann an das zweite Tausend gemacht; ich hätte angefangen zu zählen, wäre bis zur Hälfte gekommen, hätte dann irgendeinen Schein von fünfzig Rubel hervorgeholt, und ihn gegen das Licht gehalten, dann ihn umgedreht und wieder gegen das Licht gehalten, – ob er nicht gefälscht ist? Ich bin ängstlich – hätte ich gesagt, – eine Verwandte von mir hat auf diese Weise vor kurzem fünfundzwanzig Rubel eingebüßt, – und hätte nun eine Geschichte zum Besten gegeben. Und wenn ich das dritte Tausend zu zählen angefangen hätte, – würde ich sagen, – erlauben Sie, ich habe, scheint mir, in dem zweiten Tausend das siebente Hundert nicht richtig nachgezählt, ich bin im Zweifel. – Ich hätte das dritte Tausend zur Seite gelegt und wieder das zweite Tausend nachgezählt, – und in dieser Weise hätte ich es mit allen fünf gemacht. Und wenn ich damit fertig gewesen wäre, hätte ich aus dem zweiten und aus dem fünften Tausend je einen Schein herausgenommen, gegen das Licht gehalten und voll Zweifel gebeten, ihn umzutauschen, – und ich hätte den Angestellten zum Schwitzen gebracht, so daß er alles getan hätte, um mich endlich los zu werden. Und nach dem allen wäre ich schließlich zur Türe gegangen, hätte sie geöffnet – und wäre wieder zurückgegangen, um unter Entschuldigung irgend etwas zu fragen oder mich über etwas zu erkundigen, – sehen Sie, so hätte ich es gemacht!“
„Oh, was für Schauergeschichten Sie erzählen!“ sagte Sametoff lachend. „Das redet man so, bei der Ausführung aber würden Sie schon stolpern. Bei so einer Sache, sage ich Ihnen, kann nicht mal ein geübter, geriebener Mensch für sich einstehen, geschweige denn wir beide. Wozu so weit ausholen, – da haben Sie ein Beispiel, in unserem Revier hat man eine alte Frau ermordet. Allem Anschein nach ein verwegener Bursche, am hellen lichten Tage hat er’s gewagt, nur durch ein Wunder rettete er sich, – die Hände aber haben doch versagt; er hat nicht verstanden zu stehlen, hat nicht standgehalten; man sieht es aus dem Tatbestande ...“
Raskolnikoff schien sich gekränkt zu fühlen.
„Man sieht es! So nehmen Sie ihn doch fest!“ rief er höhnisch aus, um Sametoff zu reizen.
„Man wird ihn schon kriegen.“
„Wer? Sie? Sie wollen ihn kriegen? Das wird lange dauern! Sehen Sie, was ist denn bei Ihnen die Hauptsache, – ob ein Mensch viel Geld ausgibt oder nicht? Hatte er vor kurzem keins, gibt jetzt plötzlich Geld aus, – so muß er das sein! In dieser Weise kann Sie jedes kleine Kind irreführen, wenn es will.“
„Das ist es ja, daß sie alle so handeln,“ antwortete Sametoff. „Erst morden sie mit Bedacht, riskieren ihr Leben und gehen dann fort ohne Beute in eine Schenke und werden dort festgenommen. Beim Geldausgeben werden sie festgenommen. Nicht alle sind so schlau wie Sie. Sie würden selbstverständlich in keine Schenke gehen!“
Raskolnikoff zog die Augenbrauen zusammen und blickte Sametoff scharf an.
„Sie haben, wie es scheint, Appetit bekommen und möchten wissen, wie ich auch in diesem Falle gehandelt hätte?“ fragte er bitter.
„Ich möchte es sehr gern wissen,“ antwortete jener fest und bestimmt. Seine Stimme und sein Blick waren jetzt fast zu ernst geworden.
„Sehr?“
„Sehr.“
„Gut. Ich hätte folgendermaßen gehandelt,“ begann Raskolnikoff, indem er plötzlich sein Gesicht wieder dem Sametoffs näherte, ihn unverwandt anblickte und wieder im Flüstertone sprach, so daß jener diesmal zusammenzuckte. „Ich hätte folgendermaßen gehandelt, – ich hätte das Geld und die Sachen an mich genommen und kaum entkommen, wäre ich sofort ohne Aufenthalt zu einem abgelegenen Platz gegangen, wo es nur Zäune gibt und wo es fast menschenleer ist, – zu einem Gemüsegarten oder etwas ähnlichem. Ich hätte mir dort auf diesem Hofe schon früher irgendeinen Stein, ungefähr im Gewichte von zwanzig Kilo oder mehr ausgesucht, irgendwo in einer Ecke am Zaune einen Stein also, der, seitdem das Haus gebaut ist, dort liegt; ich hätte diesen Stein aufgehoben – unter ihm muß es eine Vertiefung geben, – und in diese Vertiefung hätte ich alle Sachen und das Geld hineingelegt. Dann hätte ich den Stein auf seinen alten Platz gerückt, die Erde ringsum mit dem Fuße ausgeglättet und wäre fortgegangen. Ja, und ich würde ein Jahr, zwei oder auch drei Jahre nichts angerührt haben, – nun, sucht mal! Es war da und nun ist es weg.“
„Sie sind verrückt!“ sagte Sametoff auch fast im Flüstertone und rückte plötzlich von Raskolnikoff weg.
Raskolnikoffs Augen funkelten; er war furchtbar bleich, seine Oberlippe zuckte und zitterte. Er beugte sich zu Sametoff noch näher hin und bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen; das währte eine halbe Minute; er wußte, was er tat, aber er konnte sich nicht mehr halten. Ein fürchterliches Wort, wie damals der Haken an der Türe, hüpfte auf seinen Lippen – jeden Augenblick konnte es sich lösen, er brauchte es nur entschlüpfen zu lassen, nur auszusprechen!
„Wie, wenn ich die Alte und Lisaweta ermordet hätte?“ sagte er plötzlich und – kam zu sich. Sametoff blickte ihn wild an und wurde so weiß wie das Tischtuch. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
„Wie wäre das möglich?“ sagte er kaum hörbar.
Raskolnikoff blickte ihn zornig an.
„Gestehen Sie, daß Sie es glaubten? – Ja? Nicht wahr?“
„Nein, nicht! Jetzt weniger als je!“ sagte Sametoff hastig.
„Nun haben Sie sich verraten! Das Spätzlein ist erwischt! Also haben Sie es früher geglaubt, wenn Sie es ‚jetzt weniger als je‘ glauben?“
„Aber gar nicht!“ rief Sametoff sichtlich betroffen. „Sie haben mich deshalb erschreckt, um mich dahin zu bringen?“
„Also Sie glaubten es nicht? Worüber aber sprachen Sie damals, als ich aus dem Bureau fortging? Und warum verhörte mich der Leutnant Pulver nach meiner Ohnmacht? Hör mal, du!“ rief er dem Kellner zu, stand auf und nahm seine Mütze. „Was habe ich zu zahlen?“
„Dreißig Kopeken im ganzen!“ antwortete der Kellner.
„Da hast du noch zwanzig Kopeken als Trinkgeld. Sehen Sie, wieviel Geld ich habe,“ er streckte Sametoff seine zitternde Hand mit Papiergeld hin, – „rote und blaue Scheine, fünfundzwanzig Rubel sind es. Woher habe ich es? Und woher stammt die neue Kleidung? Sie wissen doch, daß keine Kopeke da war! Sie haben doch sicher meine Wirtin ausgefragt ... Nun, genug! Assez causé![2] Auf Wiedersehen ... auf angenehmes Wiedersehen! ...“
Er ging hinaus, am ganzen Körper von einer wilden, hysterischen Erregtheit zitternd, in die sich das Gefühl eines qualvollen Genusses mischte, – sonst aber düster und todmüde. Sein Gesicht war verzerrt, wie nach einem Anfalle. Und seine Ermattung nahm rasch überhand. Seine Kräfte ließen sich spannen und zeigten sich beim ersten Anlaß, beim ersten Empfinden des Reizes und erschlafften ebenso schnell, in dem Maße, wie der Reiz nachließ.
Nachdem Sametoff allein geblieben war, saß er noch lange sinnend auf demselben Platz. Raskolnikoff hatte seine Gedanken in diesem Punkte zum Umschlagen gebracht, und eine neue Auffassung hatte sich in ihm endgültig befestigt.
„Ilja Petrowitsch ist ein Dummkopf!“ sagte er endlich.
Kaum hatte Raskolnikoff die Türe zur Straße geöffnet, als er plötzlich auf der Außentreppe mit dem eintretenden Rasumichin zusammenstieß. Sie hatten beide einander nicht gesehen, so daß sie fast mit den Köpfen zusammenstießen. Eine Weile maßen sie sich mit den Blicken. Rasumichin war höchst erstaunt, aber plötzlich flammte der Zorn, ein wirklicher Zorn, drohend in seinen Augen auf.
„Also hier bist du!“ schrie er aus vollem Halse. „Du bist dem Bette entsprungen! Und ich habe dich sogar unter dem Sofa gesucht! Wir sind auf dem Boden gewesen. Ich habe Nastasja deinetwegen beinahe verprügelt ... Und nun bist du hier! Rodjka! Was soll das bedeuten? Sag die Wahrheit! Gestehe! Hörst du?“
„Es bedeutet, daß ich euch alle ernstlich satt habe, und daß ich allein sein will,“ antwortete Raskolnikoff ruhig.
„Allein sein? Wo du nicht mal gehen kannst, wo deine Fratze noch bleich wie Leinwand ist, und wo du den Atem verlierst! Dummkopf! ... Was hast du im Kristallpalast gesucht? Gestehe es sofort!“
„Laß mich!“ sagte Raskolnikoff, und wollte an ihm vorbeigehen.
Das brachte Rasumichin ganz außer sich, er packte ihn fest an der Schulter.
„Laß mich? Du wagst zu sagen ‚Laß mich‘? Weißt du auch, was ich mit dir gleich tun werde? Ich packe dich zu einem Bündel zusammen und bringe dich unterm Arm nach Hause und sperre dich ein!“
„Höre, Rasumichin,“ begann Raskolnikoff leise und scheinbar völlig ruhig. „Siehst du denn nicht, daß ich deine Wohltaten nicht wünsche? Und was ist es für ein Vergnügen, denen Wohltaten zu erweisen, die ... darauf pfeifen? Denen, schließlich, die sie in allem Ernste am wenigsten vertragen? Nun, sage mir, warum hast du mich beim Beginn meiner Krankheit aufgesucht? Ich wäre vielleicht glücklich gewesen zu sterben! Nun, habe ich dir heute nicht genügend gezeigt, daß du mich quälst, daß ich deiner ... überdrüssig geworden bin? Was für ein Vergnügen hast du daran, Menschen zu quälen! Ich versichere dir, daß dies alles meine Genesung ernstlich hindert, weil es mich ununterbrochen reizt. Sossimoff ging doch vorhin fort, um mich nicht zu reizen. Laß du mich um Gotteswillen auch in Ruhe! Und was für ein Recht hast du schließlich, mich mit Gewalt zurückzuhalten? Ja, siehst du denn nicht, daß ich jetzt bei vollem Verstande bin? Wie, wie – sage mir – soll ich dich schließlich bitten, daß du mich in Ruhe läßt und mir keine Wohltaten mehr erweisest? Mag ich undankbar sein, mag ich gemein sein, aber um Gotteswillen laßt mich, laßt mich alle in Ruhe. Laßt mich in Ruhe!“
Er hatte ruhig begonnen und freute sich im voraus über das ganze Gift, das er sich auszuschütten anschickte, er schloß aber in Raserei und fast erstickend, wie vorhin bei Luschin.
Rasumichin stand eine Weile da, dachte nach und ließ seine Hand los.
„Scher dich zum Teufel!“ sagte er leise und fast nachdenklich.
„Halt!“ brüllte er plötzlich, als Raskolnikoff fortgehen wollte. „Höre mich an. Ich erkläre dir, daß ihr alle ohne Ausnahme Großmäuler und aufgeblasene Kerls seid! Wenn ihr ein kleines Leid habt, lauft ihr wie ein Huhn mit einem Ei herum! Auch in diesem Falle stehlt ihr von anderen. Keine Spur von Selbständigkeit steckt in euch! Ihr seid aus Spermacetsalbe gemacht und anstatt Blut habt ihr Quark in den Adern! Keinem von euch glaube ich! Das erste, die Hauptsache bei euch in allen Dingen ist – nur nicht einem Menschen ähnlich sein! War–te!“ rief er mit verstärkter Wut, als er merkte, daß Raskolnikoff sich anschickte wegzugehen. „Höre mich zu Ende! Du weißt, heute kommen Leute zu mir, um die neue Wohnung einzuweihen, vielleicht sind sie schon da, ich habe den Onkel dortgelassen, – ich war soeben zu Hause, – die Gäste zu empfangen. Also, wenn du kein Dummkopf, kein flacher Dummkopf, kein Esel wärest, keine Übersetzung aus fremden Sprachen ... siehst du, Rodja, ich gestehe, du bist ein kluger Bursche, aber ein Dummkopf, – also, wenn du kein Dummkopf wärest, würdest du heute besser den Abend bei mir verbringen, als unnütz die Stiefel abzulaufen. Du bist nun einmal ausgegangen, da ist weiter nichts mehr daran zu machen! Ich würde dir einen weichen Sessel hereinbringen, meine Wirtsleute haben einen ... Tee würde es geben, Gesellschaft ... Und wenn du den Sessel nicht wünschst, – lege ich dich auf die Chaiselongue hin, – aber du würdest dann doch unter uns liegen ... Auch Sossimoff kommt. Kommst du?“
„Nein!“
„Du lügst!“ rief Rasumichin ungeduldig aus. „Warum weißt du es? Du kannst für dich nicht bestimmen! Und übrigens du verstehst davon nichts. Ich habe mich tausendmal ebenso mit Menschen verkracht und bin wieder zurückgegangen ... man schämt sich – und kehrt zu dem Menschen zurück. Also, erinnere dich, Haus Potschinkoff, dritter Stock ...“
„Auf diese Weise werden Sie, Herr Rasumichin, möglicherweise sich schlagen lassen, nur dem, der Sie schlägt, zu Gefallen?“
„Was? Schlagen! Schon für den Gedanken drehte ich dem die Nase ab. Haus Potschinkoff, Nr. 47, in der Wohnung des Beamten Babuschkin ...“
„Ich komme nicht, Rasumichin!“ Raskolnikoff wandte sich um und ging fort.
„Ich wette, daß du kommst!“ rief ihm Rasumichin nach. „Sonst bist du ... sonst bist du ... sonst will ich nichts mehr von dir wissen! Warte! Ist Sametoff hier?“
„Ja, er ist hier.“
„Ich habe ihn gesehen.“
„Hast du mit ihm gesprochen?“
„Ich habe mit ihm gesprochen.“
„Worüber? Nun, hol dich der Teufel, meinetwegen brauchst du es nicht zu sagen. Haus Potschinkoff, 47, Babuschkins Wohnung, vergiß nicht!“
Raskolnikoff ging bis zur Ssadowaja und bog um die Ecke. Rasumichin blickte ihm sinnend nach. Endlich machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand und ging in das Haus hinein, aber auf der Mitte der Treppe blieb er stehen.
„Teufel noch einmal!“ fuhr er fast laut fort. „Er spricht vernünftig, und doch scheint’s ... Ich bin auch ein Dummkopf. Sprechen denn Verrückte nicht vernünftig? Und Sossimoff hatte, ich glaube, davor Angst!“ Er tippte mit dem Finger an seine Stirn. „Wenn aber ... wie kann man ihn jetzt allein gehen lassen? Er kann sich ertränken ... Ach, daran habe ich nicht gedacht! Man darf ihn nicht allein lassen!“ und er lief zurück, um Raskolnikoff einzuholen, aber der war verschwunden. Er spie aus und eilte in den Kristallpalast zurück, um etwas von Sametoff zu erfahren.
Raskolnikoff ging direkt auf die N.sche Brücke, blieb in der Mitte stehen, stützte beide Ellbogen auf das Geländer und begann in die Ferne zu schauen. Nachdem er von Rasumichin Abschied genommen hatte, war er so schwach geworden, daß er nur mit Mühe hierher gekommen war. Er wollte sich irgendwo hinsetzen oder hinlegen, und sei’s auf die Straße. Über das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten, rosigen Widerschein des Sonnenuntergangs, auf die Reihe Häuser, die in der hereinbrechenden Dämmerung dunkel hervortraten, auf das weit entfernte, kleine Fenster in irgendeiner Mansarde auf dem linken Quai, das wie im Flammenschein von dem letzten Sonnenstrahl getroffen, leuchtete; er blickte auf das dunkle Wasser des Kanals und schien dieses Wasser aufmerksam zu betrachten. Auf einmal zeigten sich vor seinen Augen rote Kreise, die Häuser drehten sich, die Vorübergehenden, die Ufer, Equipagen, – alles drehte sich und tanzte. Er fuhr auf, vielleicht vor einem neuen Ohnmachtsanfall durch ein schauerliches, wildes und widerwärtiges Ereignis bewahrt. Er fühlte, wie jemand an seine rechte Seite trat; sah hin und bemerkte ein Weib, hochgewachsen, mit einem Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgemagerten Gesichte und mit geröteten, eingefallenen Augen. Sie schaute auf ihn, aber offenbar sah sie ihn nicht und unterschied niemanden. Plötzlich stützte sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das linke Bein und stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser spritzte hoch auf, verschlang auf einen Moment sein Opfer, aber nach einer Minute tauchte noch einmal die Selbstmörderin auf, und die Strömung nahm sie mit fort. Ihr Kopf und ihre Füße waren im Wasser, mit dem Rücken lag sie nach oben, ihr Rock war übergeschlagen und wie ein Kissen vom Wasser aufgeblasen.
„Sie hat sich ertränkt! Sie hat sich ertränkt!“ riefen ein Dutzend Stimmen; Menschen liefen zusammen, die beiden Ufer bedeckten sich mit Zuschauern, auf der Brücke, rings um Raskolnikoff, drängte sich das Volk, stieß ihn und preßte ihn von hinten.
„Leute, das ist ja unsere Afrosinja!“ schrie unweit eine weinerliche Frauenstimme. „Leute, rettet sie! Gute, liebe Leute, zieht sie heraus!“
„Ein Boot! Ein Boot!“ rief man in der Menge. Ein Boot war aber nicht mehr nötig; ein Schutzmann war die Stufen zu dem Kanal hinuntergelaufen, hatte seinen Mantel und seine Stiefel von sich geworfen und stürzte sich ins Wasser. Es war keine große Arbeit, – die Unglückliche schwamm nur ein paar Schritte entfernt von der Treppe, er erfaßte mit der rechten Hand ihr Kleid und mit der linken gelang es ihm, die Stange, die ihm ein Kamerad entgegenhielt, zu ergreifen, und die Selbstmörderin wurde alsbald herausgezogen. Man legte sie auf die Granitfliesen der Treppe. Sie kam rasch zu sich, erhob sich, setzte sich hin, begann zu niesen und zu prusten und wischte mit den Händen mechanisch ihr nasses Kleid ab. Sie sprach nichts.
„Sie hat sich bis zur Bewußtlosigkeit vollgesoffen, Leute,“ heulte dieselbe Frauenstimme, jetzt schon neben der Afrosinja. „Vor kurzem wollte sie sich hängen, wir haben sie aus der Schlinge gezogen. Ich ging eben in einen Laden, hatte ein kleines Mädchen dagelassen, um auf sie aufzupassen, – und da ist das Unglück geschehen! Sie ist eine Kleinbürgerin, wohnt hier nebenan, im zweiten Hause von hier, dort ...“
Das Volk ging auseinander, die Schutzleute gaben sich noch mit der Lebensmüden ab, jemand rief etwas „vom Polizeibureau“ ... Raskolnikoff sah allem mit einem seltsamen Gefühle von Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit zu. Ihm wurde übel.
„Nein, es ist abscheulich ... das Wasser ... es lohnt sich nicht, hier zu bleiben,“ murmelte er vor sich hin. „Nichts wird hier geschehen,“ fügte er hinzu. „Es lohnt sich nicht, zu warten. Wie wär’s mit dem Polizeibureau ... Warum aber ist Sametoff nicht im Bureau? Das Bureau ist doch in der zehnten Stunde offen ...“
Er wandte dem Geländer den Rücken und blickte um sich.
„Nun, was ist dabei! Auch so gut!“ sagte er entschlossen, ging über die Brücke und schlug die Richtung nach dem Polizeibureau ein. Sein Herz war leer und öde. Denken wollte er nicht. Auch seine schwermütige Stimmung war verschwunden, von der früheren Energie, als er seine Wohnung verließ, um allem ein Ende zu machen, war keine Spur mehr vorhanden. Eine völlige Apathie war an ihre Stelle getreten.
„Es gibt doch einen Ausweg!“ dachte er, indem er langsam und träge längs des Kanalufers ging. „Ich werde ein Ende machen, weil ich will ... Ist es aber ein Ausweg? Ach, einerlei! Einen drei Ellen langen Raum wird es doch noch geben ... he! Aber was ist das für ein Ende! Und soll es wirklich das Ende sein? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ah ... zum Teufel! Ich bin auch müde, könnte ich mich doch irgendwo bald hinlegen oder hinsetzen! Am meisten schäme ich mich, daß es so dumm ist. Aber auch darauf pfeife ich! Was für Dummheiten einem in den Sinn kommen ...“
Um in das Polizeibureau zu gelangen, mußte man geradeaus gehen und bei der zweiten Biegung links einschwenken, – es war nur zwei Schritte entfernt. Als er die erste Biegung erreicht hatte, blieb er stehen, dachte nach, bog in eine Seitengasse ein und ging durch zwei Straßen auf einem Umwege dorthin, – vielleicht ohne jedes Ziel, vielleicht aber um es noch eine Minute hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und sah zur Erde. Plötzlich schien ihm jemand etwas ins Ohr geflüstert zu haben. Er erhob den Kopf und sah, daß er an dem Hause, direkt am Toreingange stehe. Seit jenem Abend war er hier nicht mehr gewesen und auch nicht vorübergegangen.
Ein unbezähmbares und unerklärliches Verlangen zog ihn. Er ging in das Haus hinein, durchschritt das Tor, bog in den ersten Eingang rechts ein und begann die bekannte Treppe in das vierte Stockwerk hinaufzusteigen. Es war sehr dunkel auf der engen und steilen Treppe. Er blieb auf jedem Absatz stehen und sah sich neugierig um. Auf dem Absatze des ersten Stockes war ein Fensterrahmen herausgenommen. „Das war damals nicht gewesen,“ dachte er. Da ist auch die Wohnung im zweiten Stock, wo Nikolai und Dmitri gearbeitet haben. „Sie ist verschlossen. Und die Türe ist neu bemalt, also wird sie vermietet sein.“
„Und da ist auch der dritte Stock ... und der vierte ...
Hier war es!“
Ein Zweifel packte ihn. Die Türe zu dieser Wohnung war sperrweit geöffnet, es waren Menschen drin, man hörte Stimmen. Dies hatte er keineswegs erwartet. – Nachdem er eine Weile unschlüssig dagestanden hatte, stieg er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein.
Sie wurde auch neu hergerichtet; es waren Arbeiter da, dies schien ihn zu verwundern. Er glaubte aus irgendeinem Grunde alles ebenso anzutreffen, wie er es damals verlassen hatte, vielleicht sogar die Leichen an denselben Stellen auf der Diele. Jetzt aber fand er kahle Wände, keine Möbel, – es war so eigentümlich! Er ging zum Fenster und setzte sich auf das Fensterbrett.
Es waren nur zwei Arbeiter da, beide junge Burschen, der eine schien bedeutend jünger zu sein als der andere. Sie beklebten die Wände mit neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben, die zerrissen und schmutzig waren. Raskolnikoff gefiel dies ganz und gar nicht; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm leid, daß man alles so verändert habe.
Die Arbeiter schienen sich verspätet zu haben. Sie rollten schnell das Papier zusammen und schickten sich an, nach Hause zu gehen. Raskolnikoffs Erscheinen hatten sie fast nicht beachtet. Sie unterhielten sich und Raskolnikoff kreuzte die Arme und begann zuzuhören.
„Sie kam also am Morgen zu mir,“ sagte der ältere, „ganz früh schon, schön geputzt. Warum hast du dich denn so fein gemacht – sagte ich – warum hast du dich denn so geputzt?“ „Ich will – sagt sie – nun völlig zu Ihren Diensten stehn.“ „Siehst du, so war es. Und wie fein geputzt sie war, – wie aus einem Journal, wie aus einem Mode-Journal!“
„Was ist ein Journal, Onkelchen?“ fragte der jüngere. Er schien offenbar bei dem „Onkelchen“ in die Schule zu gehen.
„Ein Journal ist, ja weißt du, solche bemalte Bilder, und sie kommen jeden Sonnabend per Post aus dem Auslande hierher, zu den hiesigen Schneidern, damit man weiß, wie sich jeder – ein Mann oder eine Frau, – kleiden soll. So eine Zeichnung also. Die Männer werden meistens in langen Röcken gemalt und für die Frauen gibt es feine Sachen, daß man Mund und Augen aufsperren muß.“
„Was man nicht alles in diesem Petersburg hat!“ rief der jüngere begeistert aus. „Außer Vater und Mutter kann man doch alles haben.“
„Ja, außer diesen gibt es hier alles,“ sagte in belehrendem Tone der Ältere.
Raskolnikoff stand auf und ging in das andere Zimmer, wo früher die Truhe, das Bett und die Kommode der Alten gestanden hatten; das Zimmer erschien ihm ohne Möbel furchtbar klein. Die Tapeten waren dieselben; in der Ecke konnte man deutlich an der Tapete sehen, wo der Heiligenschrank mit den Heiligenbildern gestanden hatte. Er blickte sich um und kehrte zu seinem früheren Platz am Fenster zurück. Der ältere Arbeiter blickte ihn von der Seite an.
„Was wünschen Sie?“ fragte er, sich plötzlich an ihn wendend.
Anstatt zu antworten, stand Raskolnikoff auf, ging in das Vorzimmer, ergriff die Klingel und zog daran. Dieselbe Klingel, derselbe blecherne Ton! Er zog zum zweiten und zum dritten Male; er lauschte und entsann sich. Das frühere, qualvoll schreckliche, abscheuliche Gefühl begann immer deutlicher und lebendiger in seiner Erinnerung aufzuwachen, er zuckte bei jedem Tone zusammen, ihm wurde dabei immer wohler und wohler.
„Was willst du denn? Wer bist du?“ rief der Arbeiter, indem er zu ihm hinausging. Raskolnikoff war wieder durch die Türe eingetreten.
„Ich will die Wohnung mieten,“ sagte er, „und sehe sie mir an.“
„In der Nacht mietet man keine Wohnung, und außerdem müssen Sie mit dem Hausknecht kommen.“
„Ist die Diele gewaschen, wird man sie streichen?“ fuhr Raskolnikoff fort. „Blut ist nicht da?“
„Was für Blut?“
„Man hat doch die Alte und ihre Schwester ermordet. Hier war eine ganze Pfütze.“
„Ja, was bist du für ein Mensch?“ rief der Arbeiter unruhig.
„Ich?“
„Ja.“
„Möchtest du es wissen? ... Komm in das Polizeibureau, dort will ich es dir sagen.“
Die Arbeiter sahen ihn starr an.
„Wir müssen fortgehen, haben uns verspätet. Komm, Aljoschka. Wir müssen nun abschließen,“ sagte der ältere Arbeiter.
„So wollen wir gehen!“ antwortete Raskolnikoff gleichgültig, ging zuerst hinaus und stieg langsam die Treppe hinab. „He, Hausknecht!“ rief er, als er im Tore war. Einige Menschen standen am Eingange von der Straße und sahen sich die Vorübergehenden an; es waren die beiden Hausknechte, ein Weib, ein Kleinbürger im Schlafrocke und noch jemand. Raskolnikoff ging auf sie zu.
„Was wünschen Sie?“ sagte der eine Hausknecht.
„Bist du im Polizeibureau gewesen?“
„Ich war soeben dort. Was wünschen Sie?“
„Sind die Beamten dort?“
„Ja, sie sind da.“
„Ist auch der Gehilfe des Aufsehers da?“
„Er war da. Was wünschen Sie?“
Raskolnikoff antwortete nicht und blieb neben ihm, in Nachdenken versunken, stehen.
„Er kam sich die Wohnung anzusehen,“ sagte der herantretende ältere Arbeiter.
„Welche Wohnung?“
„Wo wir arbeiten. ‚Warum ist das Blut abgewaschen‘, fragte er. ‚Hier ist doch ein Mord geschehen und ich möchte nun die Wohnung mieten.‘ Und an der Klingel hat er gerissen, beinahe hätte er sie abgerissen. Wir wollen, sagt er, auf das Polizeibureau gehen, dort will ich alles erklären. Wir konnten gar nicht von ihm loskommen.“
Der Hausknecht betrachtete mißtrauisch und finster Raskolnikoff.
„Wer sind Sie eigentlich?“ rief er barsch.
„Ich heiße Rodion Romanytsch Raskolnikoff, bin ehemaliger Student, und wohne im Hause Schill, hier in der Seitengasse, nicht weit von hier, in Wohnung Nr. 14. Frage den Hausknecht ... er kennt mich.“
Raskolnikoff sagte dies träge und nachdenklich, ohne sich umzuwenden, und blickte dabei stier auf die dunkel gewordene Straße.
„Ja, warum sind Sie in die Wohnung gegangen?“
„Was ist dort zu sehen?“
„Nehmt ihn doch und bringt ihn auf das Polizeibureau!“ warf der Kleinbürger ein und verstummte wieder.
Raskolnikoff blickte ihn über die Schulter aufmerksam an und sagte ebenso leise und träge:
„Wollen wir hingehen.“
„Bringt ihn doch hin!“ wiederholte der Kleinbürger, der wieder Mut gefaßt hatte. „Warum hat er danach gefragt, was hat er im Sinn?“
„Betrunken scheint er nicht zu sein, weiß Gott, was er ist,“ murmelte der Arbeiter.
„Ja, was wollen Sie denn?“ rief von neuem der Hausknecht, der ernstlich böse wurde. „Was suchst du hier?“
„Dir ist Angst, mit aufs Polizeibureau zu gehen!“ sagte Raskolnikoff höhnisch.
„Mir Angst? Was suchst du hier?“
„Spitzbube!“ rief das Weib.
„Was ist da viel zu reden,“ rief der andere Hausknecht, ein sehr großer Bauer, in einem offenen langen Mantel und mit Schlüsseln am Gürtel. „Pack dich! ... Ist wahrhaftig ein Spitzbube ... Pack dich!“
Und er nahm Raskolnikoff an der Schulter und stieß ihn auf die Straße.
Dieser wäre beinahe gefallen, fing sich jedoch noch, reckte sich, sah schweigend alle Zuschauer an und ging weiter.
„Närrischer Mensch,“ sagte der Arbeiter.
„Närrische Leute gibt es heutzutage viele,“ meinte das Weib.
„Besser wäre es doch, ihn aufs Polizeibureau zu bringen,“ fügte der Kleinbürger hinzu.
„Es lohnt sich nicht, mit so einem anzubinden,“ sagte der große Hausknecht. „Man sieht doch, daß er ein Spitzbube ist! Er will es ja selbst, und wenn man ihm den Willen tut, wird man ihn nicht los ... Wir kennen das.“
„Also soll ich hingehen oder nicht?“ dachte Raskolnikoff, indem er mitten auf der Straße an einer Kreuzung stehen blieb und sich umsah, als erwarte er von jemand das entscheidende Wort. Aber von keiner Seite kam es; alles war still und tot, wie die Steine, über die er ging, für ihn war alles tot, für ihn allein ... Da, zweihundert Schritt vor ihm, unterschied er am Ende der Straße in der Dunkelheit eine Menschenmenge, hörte Stimmen, Geschrei ... Mitten im Gewühl stand eine Equipage ... Ein Licht schimmerte in der Straße. „Was ist da geschehen?“ Raskolnikoff wandte sich nach rechts und ging auf die Menge zu. Er schien sich an alles anzuklammern, und lächelte kalt, als er es inne ward, denn er war schon fest entschlossen, auf das Polizeibureau zu gehen und glaubte sicher, daß alles sogleich ein Ende haben würde.
Mitten in der Straße stand eine elegante herrschaftliche Equipage mit zwei feurigen grauen Pferden. In der Equipage saß niemand, der Kutscher war vom Bock gestiegen und stand daneben; die Pferde hielt man am Zügel. Ringsherum drängten sich die Menschen, ganz vorne standen Polizisten. Einer von ihnen hielt eine kleine brennende Laterne in der Hand, mit der er, sich bückend, etwas auf der Straße dicht bei den Rädern der Equipage beleuchtete. Alle redeten, schrien und stießen Ah!-Rufe aus; der Kutscher schien bestürzt zu sein und rief mehrmals:
„Welch ein Unglück! Herrgott, welch ein Unglück!“
Raskolnikoff drängte sich nach Möglichkeit nach vorne und erblickte endlich die Ursache dieses Zusammenlaufs und der Neugierde. Auf dem Boden lag ein von den Pferden getretener Mann, ohne Besinnung, anscheinend schlecht gekleidet, ganz mit Blut bedeckt. Das Blut floß ihm vom Gesicht und Kopf; sein Gesicht war vollkommen zerschlagen, zerrissen und verstümmelt. Man sah, daß er schwer verwundet war.
„Liebe Leute!“ klagte der Kutscher. „Habe ich Schuld daran? Ja, wenn ich die Pferde gejagt oder ihm nicht zugerufen hätte, ich fuhr aber langsam, gleichmäßig. Alle haben es gesehen und können es bezeugen ... Ich sah ihn, wie er über die Straße ging, hin und her wankte, beinahe hinfiel, – ich rief ihm einmal zu, noch einmal und zum drittenmal, hielt die Pferde zurück, aber er fiel direkt unter ihre Hufe! Hat er es absichtlich getan oder war er zu stark angetrunken ... Die Pferde sind jung und ängstlich, – sie zogen an und wurden wild, als er aufschrie ... und das Unglück war geschehen.“
„Es ist so, wie er sagt!“ rief ein Augenzeuge.
„Er hat ihm zugerufen, das ist wahr, dreimal hat er gerufen,“ sagte eine andere Stimme.
„Genau dreimal hat er gerufen, wir haben es alle gehört,“ rief ein dritter.
Der Kutscher war übrigens nicht allzu sehr niedergeschlagen und erschrocken. Man konnte sehen, daß die Equipage einem reichen und angesehenen Herrn gehöre, der irgendwo abgeholt werden sollte; die Polizisten gaben sich deshalb nicht Mühe, diesen letzten Umstand zu berücksichtigen. Den Überfahrenen wollte man auf das Polizeibureau und ins Krankenhaus schaffen. Niemand kannte ja seinen Namen.
Unterdessen hatte sich Raskolnikoff nach vorn gedrängt und beugte sich über ihn. Plötzlich beleuchtete die Laterne hell das Gesicht des Unglücklichen, – er erkannte ihn.
„Ich kenne ihn, kenne ihn!“ rief er aus und drängte sich ganz nach vorne. „Es ist ein verabschiedeter Beamter, Titularrat Marmeladoff! Er wohnt hier, nebenan, im Hause Kosel ... Holt schnell einen Arzt! Ich will bezahlen, hier ist Geld!“
Er zog aus der Tasche sein Geld hervor und zeigte es einem Schutzmann. Er war in merkwürdiger Aufregung.
Die Polizeibeamten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer der Überfahrene sei. Raskolnikoff nannte auch seinen Namen, gab seine Wohnung an und bat inständig, als gelte es seinem leiblichen Vater, den besinnungslosen Marmeladoff schnell in dessen Wohnung zu schaffen.
„Er wohnt hier, drei Häuser weit,“ sagte er, „im Hause Kosel, eines reichen Deutschen ... Er ging wahrscheinlich betrunken nach Hause. – Ich kenne ihn ... Er ist ein Trinker ... Er hat Familie, Frau und Kinder und noch eine Tochter. Ihn ins Krankenhaus zu schleppen, dauert zu lange, hier im Hause aber ist sicher ein Arzt. Ich bezahle, bezahle alles! ... Er wird doch Pflege bei den Seinigen finden, man wird ihm sofort helfen, auf dem Wege zum Krankenhause aber kann er sterben ...“ Er hatte sogar Zeit gefunden, etwas dem Schutzmanne unbemerkt in die Hand zu drücken; übrigens war die Sachlage gesetzlich klar und jedenfalls war Hilfe hier näher. Man hob den Verunglückten auf und trug ihn; es fanden sich bereitwillige Hände. Das Haus Kosel war nur dreißig Schritte entfernt. Raskolnikoff ging hinterher, stützte vorsichtig den Kopf des Verletzten und wies den Weg. „Hierher, hierher! Die Treppe hinauf muß man ihn mit dem Kopfe voran tragen; dreht euch um ... so ist’s gut! Ich will’s bezahlen, ich will’s euch danken!“ murmelte er.
Katerina Iwanowna spazierte, wie immer, wenn sie einen freien Augenblick hatte, in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, vom Fenster bis zum Ofen und zurück, wobei sie die Hände über der kranken Brust gekreuzt hatte und mit sich selbst redete. In der letzten Zeit hatte sie angefangen, öfter und mehr mit dem älteren Mädchen, der zehnjährigen Poljenka, zu sprechen, die vieles noch nicht begriff, dafür aber sehr gut verstanden hatte, daß die Mutter sie brauchte, und die darum ihr stets mit ihren großen, klugen Augen folgte und sich mit aller Kraft den Anschein gab, als verstehe sie alles. Jetzt zog Poljenka gerade ihren kleinen Bruder aus, der sich den ganzen Tag nicht wohl gefühlt hatte, um ihn schlafen zu legen. Der Knabe wartete darauf, daß man ihm das Hemdchen wechselte, das in der Nacht noch gewaschen werden mußte, und saß auf einem Stuhl schweigend, mit ernstem Gesichte, kerzengerade und unbeweglich, mit nach vorn gestreckten Füßen. Er horchte auf das, was die Mutter mit der Schwester sprach, mit offenem Munde, seine kleinen Augen schauten starr, er rührte sich nicht, alles so, wie gewöhnlich brave Kinder dasitzen müssen, wenn sie ausgekleidet werden, um schlafen zu gehen. Das jüngste Mädchen, in Lumpen gehüllt, stand bei dem Bettschirm und wartete, bis sie an die Reihe kam. Die Türe nach der Treppe zu war offen, wegen der Tabakswolken, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die die arme Schwindsüchtige alle Augenblicke zwangen, lange und qualvoll zu husten. Katerina Iwanowna schien in diesen acht Tagen noch magerer geworden zu sein, und die roten Flecken auf ihren Wangen brannten noch greller als früher.
„Du kannst nicht glauben, du kannst es dir nicht vorstellen, Poljenka,“ sagte sie, indem sie auf und ab ging, „wie lustig und prachtvoll wir im Hause meines Papas lebten, und wie dieser Trinker mich zugrunde gerichtet hat und euch alle zugrunde richten wird! Mein Papa war Oberst im Zivildienst und beinahe schon Gouverneur; er war ganz nahe daran, so daß alle zu ihm kamen und sagten: ‚Wir sehen Sie, Iwan Michailytsch, schon als unseren Gouverneur an.‘ Als ich ... khe! ... als ich ... khe ... khe–khe ... oh, verfluchtes Leben!“ rief sie aus, als sie ausgehustet hatte, und griff nach der Brust. „Als ich ... ach, auf dem letzten Balle ... bei dem Adelsmarschall ... mich die Fürstin Bessemeljanja erblickte, – die mir späterhin den Segen gab, als ich deinen Papa heiratete, Polja, – frug sie mich sofort: ‚Sind Sie nicht das liebe Mädchen, das mit dem Shawl beim Schlußexamen getanzt hatte?‘ ... (Das Loch muß man zunähen, nimm eine Nadel und stopfe es sofort, sonst ... khe ... khe ... zerreißt es ... khe–khe–khe ... mor–gen noch mehr! rief sie fast erstickend aus.) ... Damals war aus Petersburg soeben der Kammerjunker Fürst Tschegolski angekommen ... er tanzte mit mir Mazurka und wollte am anderen Tage kommen, mir einen Antrag zu machen, aber ich dankte ihm in der schmeichelhaftesten Weise und sagte, daß mein Herz längst einem anderen gehöre. Dieser andere war dein Vater, Polja. Mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib das Hemd ... wo sind die Strümpfe? ... Lida,“ wandte sie sich an die jüngste Tochter, „schlaf diese Nacht einmal ohne Hemd ... und lege die Strümpfe nebenan hin ... Ich will gleich mitwaschen ... Warum kommt der Lump nicht, der Trinker! Er trägt sein Hemd schon lange, es ist wie ein schmutziger Lappen, hat es auch zerrissen ... Ich würde es jetzt waschen, um mich nicht zwei Nächte nacheinander zu quälen! Herr Gott! Khe–khe–khe–khe! Schon wieder! Was ist das?“ rief sie aus, als sie die Menge auf der Treppe erblickte, und ein paar Männer, die etwas in ihr Zimmer hineintrugen. „Was ist das? Was bringen sie da? Oh, Gott!“
„Wo soll man ihn hinlegen?“ fragte ein Schutzmann und sah sich um, nachdem man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladoff in das Zimmer hineingebracht hatte.
„Auf das Sofa! Legen Sie ihn auf das Sofa, mit dem Kopfe hierher!“ zeigte Raskolnikoff.
„Er ist überfahren worden, auf der Straße! Er war betrunken!“ rief jemand von der Treppe aus.
Katerina Iwanowna stand bleich und atmete schwer. Die Kinder waren erschrocken. Die kleine Lida schrie auf, stürzte zu Poljenka hin, umfaßte sie und erzitterte am ganzen Körper.
Nachdem Marmeladoff gebettet war, eilte Raskolnikoff zu Katerina Iwanowna hin.
„Beruhigen Sie sich, um Gotteswillen, erschrecken Sie nicht!“ sagte er hastig. „Er ging über die Straße, eine Equipage hat ihn überfahren, beruhigen Sie sich, er wird zu sich kommen, ich habe angeordnet, daß man ihn hierher bringe ... ich war schon bei Ihnen, erinnern Sie sich ... Er wird zu sich kommen, ich will bezahlen!“
„So weit hat er’s gebracht!“ schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf und stürzte zu ihrem Manne.
Raskolnikoff merkte bald, daß diese Frau keine von denen war, die sofort in Ohnmacht fallen. Im Nu ward unter den Kopf des Unglücklichen ein Kissen geschoben, an das niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann ihn zu entkleiden, besah ihn, war die ganze Zeit um ihn und verlor nicht die Fassung; sie hatte ihr eigenes Leid vergessen, biß die zitternden Lippen zusammen und unterdrückte den Schrei, der sich ihrer Brust entringen wollte.
Raskolnikoff hatte indessen jemand veranlaßt, einen Arzt zu holen. Wie es sich zeigte, wohnte im Nebenhause ein Arzt.
„Ich habe nach einem Arzt geschickt,“ sagte er zu Katerina Iwanowna, „beunruhigen Sie sich nicht, ich will bezahlen. Haben Sie Wasser? ... Geben Sie mir auch eine Serviette oder ein Handtuch, irgend etwas, schnell; man kann noch nicht sehen, wie stark er verletzt ist ... Er ist nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt. – Wir wollen sehen, was der Arzt sagt!“
Katerina Iwanowna rannte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem durchgesessenen Stuhl eine große tönerne Schüssel mit Wasser, zum Waschen der Kinderwäsche und der Wäsche des Mannes. Diese nächtliche Wäsche vollzog Katerina Iwanowna selbst, wenigstens zweimal in der Woche, zuweilen auch öfters, denn sie waren so heruntergekommen, daß sie fast gar keine Wäsche zum Wechseln besaßen und daß jedes Mitglied der Familie nur hatte, was es auf dem Leibe trug; Katerina Iwanowna aber konnte Unreinlichkeit nicht vertragen und lieber quälte sie sich in der Nacht und über ihre Kraft, um bis zum Morgen die nasse Wäsche trocknen und ihnen reine Wäsche geben zu können, als Schmutz im Hause zu dulden. Sie ergriff die Schüssel, um sie Raskolnikoff hinzubringen, wäre aber fast damit hingefallen. Raskolnikoff hatte schon ein Handtuch gefunden, angefeuchtet und begann das mit Blut bedeckte Gesicht Marmeladoffs abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, atmete schwer und hielt die Hände auf die Brust gepreßt. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikoff fing an, zu begreifen, daß er vielleicht töricht daran getan hatte, den Überfahrenen hierher schaffen zu lassen. Der Schutzmann stand noch unschlüssig da.
„Polja!“ rief Katerina Iwanowna, „laufe zu Ssonja, schnell. Wenn du sie nicht zu Hause triffst, sag, sag dort jedenfalls, daß Vater überfahren sei und daß sie sofort herkommen soll ... wenn sie nach Hause kommt. Schnell, Polja! Da hast du ein Tuch, bedecke dich!“
„Lauf, was du kannst!“ rief plötzlich der Kleine von seinem Stuhle, dann fiel er wieder in sein früheres Schweigen zurück und saß auf dem Stuhle kerzengerade, mit starren Augen und mit vorgestreckten Füßchen.
Indessen füllte sich das Zimmer so an, daß man sich kaum rühren konnte. Die Polizeibeamten waren, außer einem, fortgegangen, der blieb eine Weile da und bemühte sich, die Zuschauer, die von der Treppe hereingedrungen waren, wieder hinauszutreiben. Aus den anderen Zimmern dagegen waren fast alle Mieter der Frau Lippewechsel erschienen, zuerst drängten sie sich nur an der Türe, dann aber überfluteten sie in einem Haufen das ganze Zimmer. Katerina Iwanowna geriet in Zorn.
„Laßt ihn doch wenigstens ruhig sterben!“ schrie sie die Menge an. „Meint ihr, hier wird eine Vorstellung gegeben? Mit Zigaretten im Munde kommen sie her! Khe–khe–khe! Setzt doch noch die Hüte auf den Kopf! ... Da ist ja auch einer im Hute ... Hinaus mit euch! Habt doch wenigstens vor einem Sterbenden Achtung!“
Der Husten erstickte sie fast, aber ihr Appell half. Man hatte offenbar vor Katerina Iwanowna Respekt; die Mieter zogen sich, einer nach dem anderen, zurück zu der Türe, mit dem eigentümlichen Gefühle der Befriedigung, das sich stets, sogar bei den Allernächsten, bemerklich macht, wenn einen ihrer Nebenmenschen ein Unglück trifft. Von diesem Gefühle ist kein Mensch, ohne jede Ausnahme, frei, mag er noch so aufrichtiges Mitleid und Teilnahme hegen.
Hinter der Türe wurden Stimmen laut, die vom Krankenhaus sprachen und meinten, es gehöre sich nicht, hier unnütze Aufregung hervorzurufen.
„Es gehört sich nicht, zu sterben!“ rief Katerina Iwanowna und stürzte zur Türe hin, um sie zu öffnen und ihrem Zorne Luft zu machen, aber bei der Türe stieß sie mit Frau Lippewechsel zusammen, die soeben von dem Unglücke vernommen hatte und gelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie war eine außerordentlich alberne und fahrige Deutsche.
„Ach mein Gott!“ schlug sie die Hände zusammen. „Ihr Mann ist betrunken unter die Pferde geraten. Er muß ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!“
„Amalie Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen,“ begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie stets im hochmütigen Tone, damit die „ihre Stellung nicht vergesse,“ und konnte sich auch jetzt dieses Vergnügen nicht versagen), „Amalie Ludwigowna ...“
„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie mich nicht Amalie Ludwigowna nennen sollen, ich heiße Amalie Iwanowna.“
„Sie heißen nicht Amalie Iwanowna, sondern Amalie Ludwigowna, und da ich nicht zu den schuftigen Schmeichlern gehöre, wie Herr Lebesjätnikoff, der jetzt hinter der Türe lacht“ (hinter der Türe hörte man wirklich Lachen und den Ruf: „Sie sind sich in die Haare gefahren!“), „so werde ich Sie stets Amalie Ludwigowna nennen, obgleich ich gar nicht verstehen kann, warum Ihnen dieser Name nicht gefällt. Sie sehen selbst, was mit Ssemjon Sacharowitsch ist, – er stirbt. Ich bitte Sie, diese Türe sofort abzuschließen und niemanden hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst, versichere ich Sie, wird über Ihre Handlungsweise noch morgen der Generalgouverneur selbst erfahren. Der Fürst kannte mich, als ich noch ein junges Mädchen war, und erinnert sich sehr gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er viele Male geholfen hat. Es ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner hatte, von denen er sich selbst in edlem Stolz zurückgezogen hatte, weil er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war, jetzt aber (sie zeigte auf Raskolnikoff) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und Verbindungen besitzt, und den Ssemjon Sacharowitsch noch als Kind gekannt hat, und seien Sie versichert, Amalie Ludwigowna ...“
Dies alles wurde mit außerordentlicher Schnelligkeit hervorgestoßen, und je länger desto schneller; aber der Husten unterbrach mit einem Male die Rede von Katerina Iwanowna. In diesem Augenblicke kam der Sterbende zu sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Er öffnete die Augen, und ohne jemand zu erkennen und etwas zu verstehen, begann er den über ihn gebeugten Raskolnikoff zu betrachten. Er atmete schwer, tief und mit großen Pausen: auf den Lippen zeigte sich Blut; der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Da er Raskolnikoff nicht erkannt hatte, begann er unruhig die Augen hin und her zu wenden. Katerina Iwanowna blickte ihn voll Traurigkeit, aber streng an; aus ihren Augen quollen Tränen.
„Mein Gott! Seine ganze Brust ist zerquetscht! Sehen Sie, wieviel Blut!“ sagte sie voll Verzweiflung.
„Man muß ihn ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn du kannst,“ rief sie ihm zu.
Marmeladoff erkannte sie.
„Einen Priester!“ sagte er mit heiserer Stimme. Katerina Iwanowna ging zum Fenster, lehnte die Stirn an den Fensterrahmen und rief verzweifelt aus:
„Oh, dreimal verfluchtes Leben!“
„Priester!“ sagte nach einer Weile von neuem der Sterbende.
„Man holt ihn schon!“ schrie ihn Katerina Iwanowna an; da schwieg er.
Mit schüchternem, traurigem Blicke suchte er sie; sie war wieder zu ihm zurückgekehrt und stellte sich an seinem Kopfe hin. Er beunruhigte sich ein wenig, aber es dauerte nicht lange. Seine Augen blieben bald an der kleinen Lidotschka (seinem Liebling) in der Ecke haften, die wie im Fieber zitterte und ihn mit erstaunten, weit aufgerissenen Augen ansah.
„Ach ... ach ...“ zeigte er voll Unruhe auf sie. Er wollte etwas sagen.
„Was ist denn?“ rief Katerina Iwanowna.
„Barfuß. Barfuß!“ murmelte er und zeigte mit einem irren Blick auf die nackten Füßchen des Kindes.
„Schweig!“ rief gereizt Katerina Iwanowna. „Du weißt selbst, warum sie barfuß ist.“
„Gott sei Dank, da ist der Arzt!“ rief erfreut Raskolnikoff.
Der Arzt, ein sorgfältig gekleideter, alter Mann, ein Deutscher, trat ein und blickte mißtrauisch um sich; er trat zu dem Verunglückten heran, fühlte seinen Puls, betastete aufmerksam den Kopf, öffnete das mit Blut völlig durchtränkte Hemd und machte die Brust frei. Die Brust war ganz zerquetscht, eingedrückt und zerrissen, einige Rippen auf der rechten Seite waren gebrochen. Auf der linken Seite, ganz am Herzen, war ein schrecklicher, großer, gelblich schwarzer Fleck, ein furchtbarer Hufschlag. Des Arztes Blick wurde trüb. Der Schutzmann erzählte ihm, daß der Verunglückte von einem Rade erfaßt und etwa dreißig Schritte auf der Straße geschleift worden sei.
„Merkwürdig, daß er noch zu sich gekommen ist,“ flüsterte der Arzt leise Raskolnikoff zu.
„Was meinen Sie?“ fragte der.
„Er wird gleich sterben.“
„Gibt es gar keine Hoffnung?“
„Nicht die geringste. Er liegt in den letzten Zügen ... Außerdem ist der Kopf sehr gefährlich verletzt ... Hm. Vielleicht könnte man ihn noch zu Ader lassen ... aber ... es ist nutzlos. Nach fünf oder zehn Minuten stirbt er unbedingt.“
„Lassen Sie ihn doch zu Ader!“
„Gut ... Ich sage aber im voraus, es ist völlig nutzlos.“
In diesem Augenblicke ertönten Schritte, die Menge auf der Treppe machte Platz und auf der Schwelle erschien der Priester, ein alter Mann, mit den Sakramenten. Ihn hatte ein Schutzmann sofort nach dem Unglück geholt. Der Arzt trat ihm sofort seinen Platz ab und wechselte mit ihm einen bedeutungsvollen Blick. Raskolnikoff bat den Arzt, noch eine Weile zu bleiben. Der zuckte die Achseln und blieb.
Alle traten zurück. Die Beichte dauerte nicht lange. Der Sterbende schien kaum etwas zu verstehen; er konnte bloß abgerissene, unklare Laute hervorbringen. Katerina Iwanowna hatte Lidotschka an die Hand genommen, den Knaben vom Stuhle heruntergeholt, war mit ihnen in eine Ecke am Ofen gegangen, auf die Knie gesunken, die Kinder vor sich. Das kleine Mädchen zitterte; der Knabe aber lag auf seinen nackten Knien ernst da, erhob sein Händchen, schlug ein großes Kreuz und beugte sich zum Boden nieder, wobei er mit der Stirne anstieß, was ihm anscheinend Vergnügen machte. Katerina Iwanowna biß sich auf die Lippen und hielt die Tränen zurück; sie betete auch; ab und zu zog sie dem Knaben das Hemdchen zurecht, und warf über die nackten Schultern des Mädchens ein Tuch, das sie von der Kommode nahm, ohne sich zu erheben und weiter betend. Indessen wurde die Türe zu den anderen Zimmern wieder von Neugierigen geöffnet. Im Treppenflure drängten sich immer mehr und mehr Zuschauer, Mieter vom ganzen Hause, aber ohne die Schwelle des Zimmers zu überschreiten. Ein Lichtstümpfchen beleuchtete die ganze Szene.
In diesem Augenblicke drängte sich durch die Menge auf dem Flure Poljenka, die gelaufen war, die Schwester zu holen. Sie kam atemlos vom schnellen Laufen, nahm ihr Tuch ab, suchte mit den Augen die Mutter, trat an sie heran und sagte: „Sie kommt! Ich habe sie auf der Straße getroffen!“ Die Mutter zog sie neben sich auf die Knie. Durch die Menge drängte sich leise und schüchtern ein junges Mädchen, und ihre Erscheinung in diesem Zimmer, mitten in dieser Armut, Lumpen, Tod und Verzweiflung war grotesk. Sie war auch in Lumpen; ihre Kleidung war von billiger Sorte, aber straßenmäßig geschmückt, mit Geschick und Verständnis für ihren besonderen Zweck und diesen Zweck in peinlich aufdringlicher Weise unterstreichend. Ssonja blieb im Flure neben der Schwelle stehen, trat nicht in das Zimmer und blickte wie verloren vor sich hin; sie schien ganz fassungslos, schien vergessen zu haben, daß sie ein seidenes, farbiges, aus vierter Hand gekauftes und hier unpassendes Kleid anhatte, mit einer langen und lächerlichen Schleppe und einer ungeheuren Krinoline, die die ganze Türe einnahm, auch daß sie helle Stiefel und einen Sonnenschirm trug, den sie doch in der Nacht nicht brauchte, und einen lächerlichen runden Strohhut mit einer grell feuerroten Feder aufhatte. Unter diesem keck aufgesetzten Hute blickte ein mageres, bleiches und erschrockenes Gesichtchen hervor, mit geöffnetem Munde und vor Schreck unbeweglichen Augen. Ssonja war klein von Wuchs, etwa achtzehn Jahre alt, mager, aber eine hübsche Blondine mit wundervollen blauen Augen. Sie blickte starr auf das Sofa und auf den Priester und atmete schwer vom schnellen Gehen. Wahrscheinlich hatte sie das Flüstern und einige Worte unter der Menge vernommen. Sie senkte den Kopf, tat einen Schritt über die Schwelle und blieb im Zimmer stehen, wieder aber ganz an der Türe.
Die Beichte und das Abendmahl waren beendet. Katerina Iwanowna ging wieder an das Lager ihres Mannes. Der Priester trat zurück und wandte sich beim Weggehen an Katerina Iwanowna, um ihr ein paar Worte zum Trost und als Beileid zu sagen.
„Wo soll ich denn mit diesen hin?“ unterbrach sie ihn scharf und gereizt und zeigte auf die Kleinen.
„Gott ist gnädig. Vertrauen Sie auf die Hilfe des Allmächtigen,“ begann der Priester.
„Ja–a! Er ist gnädig, aber nicht für uns!“
„So etwas zu sagen ist eine Sünde, meine Dame,“ bemerkte der Priester und schüttelte den Kopf.
„Und ist das keine Sünde?“ rief Katerina Iwanowna aus und wies auf den Sterbenden.
„Vielleicht werden die, welche die unwillkürliche Ursache waren, bereit sein, es Ihnen zu entgelten, wenigstens hinsichtlich des verlorenen Verdienstes ...“
„Sie verstehen mich nicht!“ rief gereizt Katerina Iwanowna und winkte mit der Hand ab. „Ja, wofür sollen sie mich entgelten? Er ist ja selbst betrunken unter den Wagen geraten? Was für ein Verdienst? Wir hatten von ihm keinen Verdienst, sondern nur Qual. Er vertrank doch alles! Er bestahl uns und schleppte es in die Schenke, das Leben der Kinder und meines hat er in der Schenke verpraßt. Und Gott sei Dank, daß er stirbt! Weniger Ausgaben bedeutet es!“
„Sie sollten lieber in der Todesstunde verzeihen. Solche Gefühle zu haben, ist eine große Sünde!“ Katerina Iwanowna war um den Sterbenden bemüht, sie reichte ihm zu trinken, trocknete den Schweiß und das Blut von seinem Kopfe, machte die Kissen zurecht und während der Arbeit unterhielt sie sich mit dem Priester, wobei sie sich nur selten zu ihm wandte. Jetzt aber stürzte sie sich fast rasend auf ihn.
„Ach, Väterchen! Das sind nur Worte und weiter nichts! Verzeihung! Sehen Sie, wenn er nicht überfahren wäre, wäre er heute betrunken nach Hause gekommen, – er hat nur ein Hemd, ganz schmutzig und zerrissen, – er hätte sich schlafen gelegt, ich aber hätte bis zum frühen Morgen im Wasser geplantscht, seine Lumpen und die Kinderwäsche gewaschen, hätte es vor dem Fenster getrocknet, und wenn der Morgen gekommen wäre, hätte ich mich hingesetzt und die Sachen ausgebessert, – sehen Sie, das wäre meine Nachtruhe gewesen! ... Also, was ist da vom Verzeihen zu reden! Ich habe auch so verziehen!“
Ein hohler, schrecklicher Husten unterbrach sie. Sie hustete, spie in ein Taschentuch, hielt die eine Hand vor Schmerz an die Brust und zeigte mit der anderen dem Priester das Taschentuch. Das Taschentuch war voll Blut ...
Der Priester senkte den Kopf und schwieg.
Marmeladoff lag in den letzten Zügen; er wandte von Katerina Iwanowna, die sich wieder über ihn gebeugt hatte, seine Augen nicht ab. Er wollte ihr immer etwas sagen, er begann auch, bewegte voll Anstrengung die Zunge und sprach die Worte unklar aus, aber Katerina Iwanowna, die verstanden hatte, daß er sie um Verzeihung bitten möchte, rief ihm sofort in befehlendem Tone zu:
„Schweig ... schweig! Ist nicht nötig! ... Ich weiß, was du sagen willst! ...“
Und der Sterbende verstummte, aber in diesem Augenblicke fiel sein irrender Blick auf die Türe, und er erblickte Ssonja.
Vorher hatte er sie nicht bemerkt, – sie stand im Schatten in der Ecke.
„Wer ist das? Wer ist das?“ sagte er plötzlich mit heiserer, erstickender Stimme, ganz aufgeregt und zeigte voll Schrecken mit den Augen auf die Türe, wo seine Tochter stand, und versuchte sich zu erheben.
„Bleib liegen!“ rief Katerina Iwanowna. Ihm war es mit unnatürlicher Anstrengung gelungen, sich auf seine Hand zu stützen. Er sah wild und unbeweglich eine Weile die Tochter an, als ob er sie nicht erkenne. Er hatte sie auch noch nie in diesem Aufzuge gesehen. Plötzlich erkannte er sie, die gedemütigte, völlig niedergeschlagene, geputzte und sich schämende, die demütig wartete, bis an sie die Reihe kam, vom sterbenden Vater Abschied zu nehmen. Ein grenzenloses Leid zeigte sich auf seinem Gesichte.
„Ssonja! Tochter! Verzeih!“ rief er und wollte nach ihr die Hand ausstrecken, aber er verlor das Gleichgewicht und stürzte vom Sofa mit dem Gesichte zu Boden. Man lief hin, um ihn aufzuheben und legte ihn auf das Sofa hin, aber er war schon im Sterben. Ssonja schrie schwach auf, lief hin, umarmte ihn und blieb bewegungslos stehen. Er starb in ihren Armen.
„Er hat’s erreicht!“ rief Katerina Iwanowna, als sie ihren Mann tot sah. „Aber was soll ich jetzt tun! Womit soll ich ihn beerdigen? Und womit soll ich diese hier füttern?“
Raskolnikoff trat zu Katerina Iwanowna.
„Katerina Iwanowna,“ begann er. „Ihr verstorbener Gatte erzählte mir in der vorigen Woche sein ganzes Leben und alle seine Verhältnisse ... Seien Sie versichert, daß er von Ihnen mit Wärme und Achtung sprach. Seit diesem Abend, als ich erfuhr, wie er an Ihnen hing und wie er Sie, Katerina Iwanowna, besonders hochschätzte und liebte, trotz seiner unglücklichen Schwäche, seit diesem Abend waren wir Freunde ... Erlauben Sie mir jetzt also ... Ihnen behilflich zu sein ... meinem verstorbenen Freunde die letzte Ehre erweisen zu können. Sehen Sie, hier habe ich ... zwanzig Rubel, glaube ich ... und wenn dies Ihnen eine Hilfe sein kann, so ... ich ... will mit einem Worte wiederkommen, ... ich komme unbedingt ... ich komme unbedingt ... ich komme vielleicht schon morgen zu Ihnen ... Leben Sie wohl!“
Und er ging schnell aus dem Zimmer und drängte sich durch die Menge, da aber stieß er plötzlich mit Nikodim Fomitsch, dem Polizeikommissar, zusammen, der von dem Unglück gehört hatte und persönlich Anordnungen treffen wollte. Seit dem Auftritt im Polizeibureau hatten sie einander nicht gesehen, aber Nikodim Fomitsch erkannte ihn sofort.
„Ah, Sie sind hier?“ fragte er.
„Er ist gestorben,“ antwortete Raskolnikoff. „Ein Arzt war dagewesen, auch ein Priester war da, alles ist in Ordnung. Regen Sie die arme Frau nicht auf, sie hat ohnedem die Schwindsucht. Flößen Sie ihr Mut ein, so gut Sie können ... Sie sind ja ein guter Mensch, ich weiß es ...“ fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu und blickte ihm in die Augen.
„Wie Sie sich mit Blut befleckt haben,“ bemerkte Nikodim Fomitsch, als er beim Lichte der Laterne einige frische Flecken auf der Weste Raskolnikoffs erblickte.
„Ja, ich habe mich bespritzt ... ich bin mit Blut bedeckt!“ sagte Raskolnikoff mit einem eigentümlichen Ausdruck, lächelte, nickte ihm zu und ging die Treppe hinab. Er stieg langsam hinab, ohne sich zu beeilen, tief ergriffen, voll von einem einzigen, neuen, unermeßlichen Gefühl, das als volle und mächtige Lebenswelle über ihn gekommen war. Ein Gefühl, das dem eines zu Tode Verurteilten gleichen mochte, dem man unerwartet die Begnadigung mitgeteilt hatte. Auf der Treppe überholte ihn der Priester, der nach Hause ging; Raskolnikoff ließ ihn schweigend an sich vorübergehen und wechselte mit ihm einen stummen Gruß. Als er aber die letzten Stufen hinabschritt, hörte er eilige Schritte hinter sich. Jemand wollte ihn einholen. Es war Poljenka, sie lief ihm nach und rief: „Hören Sie, hören Sie doch!“
Sie kam die letzte Treppe herab und blieb eine Stufe über ihm stehen. Ein schwaches Licht drang vom Hofe herein. Raskolnikoff schaute in das magere, aber liebe Gesichtchen des kleinen Mädchens, das ihm zulächelte und ihn fröhlich, nach Kinderart, ansah. Sie war mit einem Auftrage gekommen, der ihr selbst sehr zu gefallen schien.
„Sagen Sie mir, wie heißen Sie denn? ... und noch ... wo wohnen Sie denn?“ fragte sie ihn hastig mit erstickendem Stimmchen.
Er legte beide Hände auf ihre Schultern und blickte sie glücklich an. Es war ihm wohltuend, sie anzusehen, – er wußte selbst nicht warum.
„Wer hat dich zu mir geschickt?“
„Schwesterchen Ssonja hat mich geschickt,“ antwortete das kleine Mädchen und lächelte noch freundlicher.
„Ich wußte, daß Schwesterchen Ssonja dich geschickt hat.“
„Mama hat mich auch geschickt. Als Schwesterchen Ssonja mich schickte, kam Mama auch und sagte: Ja, lauf schnell, Poljenka!“
„Liebst du Schwesterchen Ssonja?“
„Ich liebe sie mehr als alle anderen!“ sagte Poljenka mit besonderer Festigkeit, und ihr Gesicht wurde plötzlich ernst.
„Wirst du mich auch lieben können?“
Anstatt einer Antwort näherte sich ihm das Gesichtchen des Kindes, und die kleinen Lippen streckten sich ihm zum Kuß entgegen. Ihre Ärmchen, streichhölzchendünn, umschlangen ihn kräftig, ihr Kopf senkte sich auf seine Schulter, und das kleine Mädchen fing leise an zu weinen und preßte sich immer fester und fester mit dem Gesicht an ihn.
„Papa tut mir so leid!“ sagte sie nach einer Weile, hob ihr verweintes Gesichtchen in die Höhe und wischte sich mit den Händen die Tränen ab. „Wir haben immer Unglück,“ fügte sie unerwartet hinzu und mit jenem besonders wichtigen Ausdruck, den Kinder annehmen, wenn sie wie Erwachsene sprechen wollen.
„Papa hat dich auch geliebt?“
„Er hat Lidotschka mehr als uns alle geliebt,“ fuhr sie mit dem gleichen Ernste fort, „er liebte sie, weil sie klein und krank ist, und er brachte ihr immer etwas mit, uns aber lehrte er das Lesen, und mich Grammatik und Religion,“ fügte sie mit Stolz hinzu, „Mama sagte nichts dazu, aber wir wußten doch, daß sie das gern hatte, und Papa wußte es auch. Mama will mich Französisch lehren, es ist Zeit, daß ich eine Erziehung erhalte.“
„Kannst du auch beten?“
„Oh, gewiß können wir es. Schon lange, ich bete, seitdem ich groß bin, allein für mich, Kolja und Lidotschka beten laut mit Mama; zuerst sagen sie das Gebet an die Gottesmutter und dann noch ein Gebet, ‚lieber Gott, verzeihe und segne Schwesterchen Ssonja,‘ und dann ‚lieber Gott, verzeihe und segne unsern andern Papa,‘ denn unser älterer Papa ist schon gestorben, dieser war unser zweiter Papa, doch wir beten auch für ihn.“
„Poletschka, ich heiße Rodion; bete auch für mich einmal, – ‚für den Gottesknecht Rodion‘ – und mehr nicht.“
„Ich werde mein ganzes künftiges Leben für Sie beten,“ sagte eifrig das kleine Mädchen, lachte wieder heiter und umarmte ihn von neuem. Raskolnikoff nannte ihr seinen Namen, gab ihr seine Adresse und versprach, morgen unbedingt zu ihr zu kommen. Das kleine Mädchen ging völlig entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße hinaustrat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an derselben Stelle, wo vorhin die Frau sich ins Wasser gestürzt hatte.
„Genug!“ sagte er entschlossen und feierlich, „fort mit den Traumgebilden, fort mit den eingebildeten Schrecken, fort mit den Gespenstern! ... Es gibt noch ein Leben! Habe ich eben nicht gelebt? Mein Leben ist noch nicht mit der alten Witwe gestorben! Möge ihr das Himmelreich beschieden sein und, – und genug, Mütterchen, es ist Zeit für dich zu ruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichtes ist jetzt gekommen! ... und ... und des Willens ... und der Kraft ... und nun wollen wir sehen! Wir wollen unsere Kräfte messen“ fügte er herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Macht und fordere sie zum Kampfe auf. „Und ich war schon bereit, mich auf den ellenlangen Raum einzurichten!“
„... Sehr schwach fühle ich mich in diesem Augenblicke, aber ... es scheint, die Krankheit ist vorüber. Ich wußte, daß sie vergehen wird, als ich vor kurzem wegging. Wie ist mir denn – ist nicht das Haus Potschinkoff kaum zwei Schritte von hier. Jetzt gehe ich zu Rasumichin, wenn es auch nicht nur zwei Schritte wären ... mag er die Wette gewinnen! ... mag er auch sein Vergnügen haben, – tut nichts, mag er es haben! Kraft, Kraft ist nötig, – ohne Kraft kann man nichts überwinden, und die Kraft muß wieder durch Kraft erworben werden, aber davon haben sie keine Ahnung,“ fügte er stolz und selbstbewußt hinzu, und konnte kaum seine Füße noch heben. Der Stolz und das Selbstvertrauen wuchsen mit jeder Minute in ihm; im nächsten Augenblicke war er schon ein anderer Mensch als in dem vorhergehenden. Was war mit ihm Besonderes vorgegangen, das ihn so verwandelt hatte? Er wußte es selbst nicht; ihm war es wie einem Menschen, der nach einem Strohhalm greift, um sich zu retten; und es war ihm, als ob es noch Leben gab für ihn, als ob sein Leben mit der Alten nicht gestorben sei. Vielleicht war er zu eilig mit der Schlußfolgerung, aber daran dachte er nicht.
„Den Gottesknecht Rodion soll sie im Gebet nennen,“ durchfuhr es ihn, „und das ist ... für alle Fälle!“ fügte er hinzu, und mußte selber über den Einfall lachen.
Er befand sich in ausgezeichneter Stimmung.
Rasumichin fand er mit Leichtigkeit; im Hause Potschinkoff kannte man schon den neuen Mieter, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg. Auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Stimmen einer großen Gesellschaft vernehmen. Die Türe zur Treppe war sperrangelweit auf; man hörte, wie geschrien und gestritten wurde. Rasumichins Zimmer war ziemlich groß, und es waren etwa fünfzehn Menschen bei ihm. Raskolnikoff blieb im Flure stehen. Hier, hinter einer Rollwand, waren zwei Mädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars beschäftigt, hier standen Flaschen, Teller und Schüsseln mit Pasteten und Imbiß, die aus der Küche der Wirtsleute hierher geschafft worden waren. Raskolnikoff ließ Rasumichin herausholen. Der kam freudig überrascht herausgelaufen. Man merkte beim ersten Blick, daß er ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie betrunken hatte, konnte man es ihm dieses Mal doch anmerken.
„Höre,“ beeilte sich Raskolnikoff zu sagen, „ich bin nur hergekommen, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast, und daß tatsächlich niemand wissen kann, was alles mit ihm geschieht. Hineingehen kann ich nicht, – ich fühle mich zu schwach, so daß ich fürchten muß, hinzufallen. Und darum sage ich dir gleich ‚Guten Abend‘ und ‚Lebewohl‘! Komm du morgen zu mir ...“
„Weißt du was, ich begleite dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, daß du dich schwach fühlst, da ...“
„Und deine Gäste? Wer ist dieser mit dem lockigen Haar, der soeben herausguckte?“
„Der? Weiß der Teufel, wer er ist! Wahrscheinlich ein Bekannter meines Onkels, vielleicht ist er auch ohne Aufforderung hergekommen ... Ich lasse den Onkel bei den Gästen; er ist ein prächtiger Mensch. Schade, daß du ihn jetzt nicht kennenlernst. Im übrigen, hol sie alle der Teufel! Jetzt haben sie keine Zeit, an mich zu denken, und ich muß frische Luft schöpfen; du bist mir sehr gelegen gekommen. Noch zwei Minuten und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Sie lügen so das dümmste Zeug zusammen ... Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß der Mensch im Lügen ist! Na, warum sollst du es dir nicht vorstellen können? Wir lügen doch selbst? Ja, mögen sie auch jetzt lügen, dafür werden sie später nicht mehr lügen ... Warte einen Augenblick, ich sage es noch Sossimoff ...“
Sossimoff eilte hastig auf Raskolnikoff zu; man merkte in ihm eine besondere Neugierde, jedoch sein Gesicht hellte sich sofort auf.
„Gleich ins Bett,“ sagte er, nachdem er nach Möglichkeit den Kranken untersucht hatte, „und zur Nacht nehmen Sie noch ein Pülverchen. Wollen Sie es nicht? Ich habe schon vorher für Sie ... ein Pülverchen bereitet.“
„Meinetwegen nehme ich auch zwei Pulver,“ antwortete Raskolnikoff.
Und das Pulver wurde sofort eingenommen.
„Es ist sehr gut, daß du ihn begleitest,“ sagte Sossimoff zu Rasumichin, „wie es morgen sein wird, werden wir sehen, heute ist es nicht übel mit ihm, – eine bedeutende Verbesserung seit kurzem. Man lernt sein ganzes Leben ...“
„Weißt du, was Sossimoff mir soeben zuflüsterte, als wir fortgingen,“ platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. „Ich will dir, Bruder, nicht alles so direkt sagen, denn sie sind Dummköpfe. Sossimoff bat mich, den ganzen Weg mit dir zu schwatzen und dich selbst zum Schwatzen zu veranlassen, um ihm dann alles nachher zu erzählen, denn er hat eine Idee ... nämlich daß du ... verrückt seist, oder nahe daran bist. Stell’ dir das vor! Erstens bist du dreimal klüger als er, zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du darauf, daß er so dummes Zeug im Kopfe hat, und drittens, dieses Stück Fleisch, trotz seiner Spezialität für Chirurgie, ist jetzt auf Geisteskrankheiten versessen, und in bezug auf dich hat ihn dein heutiges Gespräch mit Sametoff endgültig darauf gebracht.“
„Hat dir Sametoff alles erzählt?“
„Ja, alles, und es ist sehr gut, daß er es erzählt hat. Jetzt habe ich alles, auch was drum und dran hängt, begriffen, und Sametoff hat auch begriffen ... Nun ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ... Ich bin jetzt ein bißchen betrunken ... Aber das tut nichts ... die Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... in der Tat ihnen hin und wieder kam ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut auszusprechen, denn es ist das dümmste Zeug, und besonders, nachdem man diesen Anstreicher verhaftet hatte, zerfiel alles in nichts und verschwand auf immer. Aber warum sind sie solche Dummköpfe? Ich hatte damals Sametoff ein wenig verprügelt, – das soll unter uns bleiben, Bruder; bitte, laß dir auch nicht das geringste merken, daß du es weißt, ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist, es geschah bei Louisa, – heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er benutzte damals deine Ohnmacht im Polizeibureau, später schämte er sich selber dessen, ich weiß es ...“
Raskolnikoff hörte aufmerksam zu. Rasumichin plapperte in seiner Trunkenheit alles aus.
„Ich fiel damals darum in Ohnmacht, weil so schlechte Luft war und weil die Ölfarbe so widerlich roch,“ sagte Raskolnikoff.
„Du willst noch erklären! Nicht die Ölfarbe war es allein, die Krankheit bereitete sich schon einen ganzen Monat vor, – Sossimoff ist doch Zeuge! Aber wie niedergeschlagen jetzt dieser Junge – Sametoff – ist, du kannst dir es nicht vorstellen! – ‚Ich bin den kleinen Finger dieses Menschen nicht mal wert‘, sagt er. Das heißt deinen kleinen Finger. Er hat zuweilen schöne Gefühle, Bruder. Aber die Lehre, die heutige Lehre im Kristallpalast – das ist der Hauptcoup! Du hast ihn zuerst erschreckt und fast zum Wahnsinn gebracht! Du hast ihn fast gezwungen, wieder an diesen ganzen scheußlichen Unsinn zu glauben und dann plötzlich zeigtest du ihm die Zunge, – als würdest du sagen, – na, da hast du es jetzt, glaubst du nun? Es war köstlich! Er ist jetzt zermalmt, zerknirscht! Du bist ein Meister, bei Gott, so muß man mit ihnen umspringen! Schade, daß ich nicht dabei war! Er erwartete dich jetzt sehnlichst bei mir. Porphyri will dich auch kennenlernen ...“
„Ah ... auch der ... Und warum halten sie mich für verrückt?“
„Das heißt nicht für verrückt. Ich habe, scheint mir, da zuviel gesagt ... Siehst du, es setzte ihn in Erstaunen, daß dich diese Sache interessiert; wo er alle Umstände kennt ... und er sah, wie es dich gereizt hatte und wie es mit deiner Krankheit zusammenfiel ... Ich bin ein wenig betrunken, Bruder, aber weiß der Teufel, er hat so seine eigene Idee ... Ich sage dir, – er ist jetzt auf Geisteskrankheiten versessen. Pfeif’ ihm darauf ...“
Beide schwiegen eine Weile.
„Höre, Rasumichin,“ begann Raskolnikoff, „ich will dir offen gestehen; ich war soeben bei einem Sterbenden, Beamter ist er gewesen ... dort habe ich mein ganzes Geld hergegeben ... außerdem hat mich soeben ein Wesen geküßt, das auch, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte, ebenso ... mit einem Worte, ich habe dort noch ein anderes Wesen gesehen ... mit einer feuerroten Feder ... übrigens, aber ich phantasiere ... ich bin sehr schwach, stütze mich ... gleich sind wir bei der Treppe ...“
„Was ist mit dir? Was ist mit dir?“ fragte Rasumichin ängstlich.
„Mir schwindelt ein wenig der Kopf, aber das ist es nicht, mir ist so traurig, so traurig ... wie jener Frau ... es ist wahr! Sieh, was ist das? Sieh! Sieh!“
„Was denn?“
„Siehst du denn nicht? Siehst du nicht, in meinem Zimmer ist Licht! Durch die Ritze ...“
Sie standen schon auf dem letzten Treppenabsatz, neben der Türe zu der Wirtin Wohnung; man konnte wirklich von unten aus sehen, daß Raskolnikoffs Kammer erleuchtet war.
„Sonderbar! Es ist vielleicht Nastasja,“ bemerkte Rasumichin.
„Sie ist niemals um diese Zeit bei mir, und außerdem schläft sie schon längst, doch ... mir ist es einerlei. Lebe wohl!“
„Was ist dir? Ich begleite dich doch, wir gehen beide hinein!“
„Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen werden, aber ich will hier deine Hand drücken und hier von dir Abschied nehmen. Da, gib mir die Hand, lebwohl!“
„Was ist dir, Rodja?“
„Nichts ... komm, wir gehen ... du wirst Zeuge sein ...“
Sie begannen die Treppe hinaufzusteigen, und Rasumichin durchzuckte der Gedanke, daß Sossimoff doch vielleicht recht habe. „Ach! Ich habe ihn mit meinem Geschwätz verwirrt!“ murmelte er vor sich hin. Als sie an die Türe kamen, hörten sie Stimmen im Zimmer.
„Was ist da los?“ rief Rasumichin aus.
Raskolnikoff ergriff zuerst die Türklinke und öffnete die Türe weit und blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen.
Seine Mutter und Schwester saßen auf dem Sofa und warteten auf ihn schon seit anderthalb Stunden. Sie hatte er am allerwenigsten erwartet und noch weniger an sie gedacht, trotzdem ihm heute noch einmal die Mitteilung geworden war, daß sie abgereist, unterwegs wären und jeden Augenblick ankommen könnten. Sie hatten die anderthalb Stunden, einander unterbrechend, Nastasja ausgefragt, die auch jetzt noch vor ihnen stand und ihnen schon alles erzählt hatte, und waren vor Schreck fast gelähmt, als sie hörten, daß er „heute weggelaufen sei,“ krank, wie er war, und sicher nicht bei vollem Bewußtsein, wie man aus der Erzählung entnehmen konnte! „Mein Gott, was wird mit ihm geschehen sein!“ Sie weinten beide, und beide hatten in diesen anderthalb Stunden Folterqualen erlitten.
Ein freudiger, entzückter Schrei begrüßte Raskolnikoffs Erscheinen. Beide stürzten auf ihn zu. Er aber stand wie leblos da; eine unerträgliche Empfindung hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Seine Hände erhoben sich nicht, um sie zu umarmen, – sie konnten sich nicht erheben. Die Mutter und Schwester erdrückten ihn in ihrer Umarmung, küßten ihn, lachten und weinten ... Er tat einen Schritt, schwankte und stürzte ohnmächtig zu Boden.
Aufregung, erschreckte Ausrufe, Gestöhn ... Rasumichin, der auf der Schwelle stand, flog ins Zimmer herein, packte den Kranken mit seinen kräftigen Armen, und jener lag im Nu auf dem Sofa.
„Hat nichts zu sagen! Tut nichts!“ rief er Mutter und Schwester zu, „das ist eine Ohnmacht, das ist nichts! Soeben hat noch der Arzt gesagt, daß es ihm bedeutend besser gehe, daß er vollkommen gesund sei! Wasser her! Sehen Sie, er kommt schon zu sich, er ist bei Bewußtsein!“
Er ergriff die Hand Dunetschkas so stark, daß er sie beinahe verrenkte, und zog sie näher, damit sie sich überzeuge, daß „er schon bei Bewußtsein sei“. Mutter und Schwester blickten Rasumichin wie die Vorsehung, mit Rührung und Dankbarkeit an; sie hatten schon von Nastasja gehört, was dieser „eifrige junge Mann,“ wie ihn am selben Abend Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa selbst in einem intimen Gespräche mit Dunetschka genannt hatte, für ihren Rodja gewesen war.
Raskolnikoff erhob sich und setzte sich auf das Sofa. Er winkte mit der Hand schwach Rasumichin ab, damit er dem Strome seiner eifrigen Trostspendung an Mutter und Schwester ein Ende mache, nahm beider Hände und blickte etwa zwei Minuten schweigend bald die eine, bald die andere an. Die Mutter erschrak vor seinem Blick. In diesem Blicke lag ein bis zur Qual gesteigertes Gefühl, aber gleichzeitig etwas Starres, fast Irrsinniges. Pulcheria Alexandrowna begann zu weinen.
Awdotja Romanowna war bleich, ihre Hand zitterte in der des Bruders.
„Geht nach Hause ... mit ihm,“ sagte er mit stockender Stimme und wies auf Rasumichin, „bis morgen; morgen wird alles ... Seid ihr schon lange angekommen?“
„Heute abend, Rodja,“ antwortete Pulcheria Alexandrowna, „der Zug hat sich schrecklich verspätet. Rodja, ich will aber jetzt um keinen Preis der Welt von dir gehen! Ich schlafe hier neben dir ...“
„Quält mich nicht!“ sagte er und machte eine gereizte Bewegung mit der Hand.
„Ich bleibe bei ihm!“ rief Rasumichin. „Ich will ihn keinen einzigen Augenblick verlassen, und hol der Teufel alle meine Gäste, mögen sie außer sich sein! Mein Onkel mag dort repräsentieren.“
„Wie, wie soll ich Ihnen danken!“ begann Pulcheria Alexandrowna und drückte von neuem Rasumichin die Hand, aber Raskolnikoff unterbrach sie.
„Ich kann nicht, kann nicht,“ wiederholte er gereizt, „quält mich nicht! Genug, geht weg ... Ich kann nicht! ...“
„Gehen wir, Mama, gehen wir wenigstens auf einen Augenblick aus dem Zimmer heraus,“ flüsterte die erschrockene Dunja, „wir martern ihn, man sieht’s doch.“
„Soll ich denn gar nicht bei ihm sein, nach drei Jahren langer Trennung!“ weinte Pulcheria Alexandrowna.
„Wartet!“ hielt Raskolnikoff sie zurück, „ihr unterbrecht mich immer, und meine Gedanken verwischen sich ... Habt ihr Luschin gesehen?“
„Nein, Rodja, aber er weiß schon, daß wir angekommen sind. Wir haben gehört, Rodja, daß Peter Petrowitsch so gut war und dich heute besucht hat,“ fügte ein wenig schüchtern Pulcheria Alexandrowna hinzu.
„Ja ... er war so gut ... Dunja, ich habe vorher Luschin gesagt, daß ich ihn die Treppe hinunterwerfen werde und habe ihn zum Teufel gejagt ...“
„Rodja, was ist dir! Du hast sicher ... du willst doch nicht sagen,“ begann Pulcheria Alexandrowna erschreckt, hielt aber vor einem Blick Dunjas inne.
Awdotja Romanowna sah den Bruder aufmerksam an und wartete auf das, was er weiter sagen würde. Beide waren schon von dem Streite durch Nastasja benachrichtigt, so weit sie es selber begriffen hatte und mitteilen konnte, und hatten unter der Ungewißheit und Erwartung gelitten.
„Dunja,“ fuhr Raskolnikoff mit Mühe fort, „ich wünsche diese Heirat nicht, und darum mußt du morgen noch Luschin absagen, damit er völlig verschwinde.“
„Mein Gott!“ rief Pulcheria Alexandrowna aus.
„Bruder, überlege, was du sprichst!“ begann Awdotja Romanowna erregt, aber hielt sofort an sich. „Du bist vielleicht jetzt nicht imstande, du bist müde,“ fügte sie sanft hinzu.
„Gar im Fieber? Nein ... Du heiratest Luschin um meinetwillen. Ich aber nehme das Opfer nicht an. Und darum schreibe morgen den Brief ... mit der Absage ... Gib ihn mir morgen früh zu lesen, und Schluß damit!“
„Ich kann es nicht tun!“ rief das gekränkte Mädchen aus. „Mit welchem Recht ...“
„Dunetschka, du bist zu hitzig, hör auf, morgen ... Siehst du denn nicht ...“ suchte die erschrockene Mutter zu beruhigen. „Ach, gehen wir besser fort!“
„Er redet im Fieber!“ rief der berauschte Rasumichin. „Sonst würde er das nicht sagen! Morgen ist dieser ganze Unsinn verschwunden ... Heute hat er ihn wohl hinausgejagt. Das ist wahr. Nun, und jener wurde böse ... Er hat hier schöne Reden gehalten, seine Kenntnisse ausgekramt und ging dann mit eingezogenem Schwanz weg ...“
„Also, es ist wahr?“ rief Pulcheria Alexandrowna aus.
„Bis auf morgen, Bruder!“ sagte Dunja mitleidsvoll. „Gehen wir, Mama ... Leb wohl, Rodja!“
„Hörst du, Schwester,“ rief er ihnen mit letzten Kräften nach, „ich phantasiere nicht; diese Heirat ist eine Schuftigkeit. Mag ich ein Schuft sein, du aber darfst nicht ... einer von beiden ... und wenn ich auch ein Schuft bin, aber so eine Schwester will ich nicht als Schwester anerkennen. Entweder ich oder Luschin! Geht ...“
„Du bist verrückt geworden! Despot!“ brüllte Rasumichin, aber Raskolnikoff antwortete nicht mehr, vielleicht hatte er auch nicht mehr die Kraft, zu antworten.
Er hatte sich auf das Sofa gelegt und sich in völliger Ermattung der Wand zugekehrt. Awdotja Romanowna blickte Rasumichin voll Interesse an; ihre schwarzen Augen funkelten, – Rasumichin zuckte unter diesem Blicke zusammen. Pulcheria Alexandrowna stand, wie vom Donner gerührt, da.
„Ich kann nicht weggehen!“ flüsterte sie fast verzweifelt Rasumichin zu, „ich bleibe hier, irgendwo ... begleiten Sie Dunja.“
„Und Sie werden die ganze Sache verderben!“ flüsterte Rasumichin außer sich. „Gehen wir wenigstens auf die Treppe hinaus. Nastasja, leuchte uns! Ich schwöre Ihnen,“ fuhr er im Flüstertone fort, als sie schon auf der Treppe waren, „daß er vorhin beinahe mich und den Arzt verprügelt hätte! Verstehen Sie! Selbst den Arzt! Und der gab nach, um ihn nicht zu reizen und ging fort, ich aber blieb unten, um auf ihn aufzupassen, er hatte sich aber inzwischen angekleidet und entschlüpfte mir. Er wird uns auch jetzt entschlüpfen, wenn Sie ihn reizen werden, und es ist Nacht, und er kann sich etwas antun ...“
„Ach, was sagen Sie?“
„Und Awdotja Romanowna kann auch nicht ohne Sie allein in diesen möblierten Zimmern bleiben! Denken Sie nach, wo Sie abgestiegen sind! Dieser Schuft Peter Petrowitsch konnte Ihnen doch eine bessere Wohnung ... Übrigens, wissen Sie, ich bin ein wenig betrunken und habe darum ... ihn geschimpft; beachten Sie es nicht ...“
„Ich gehe zu seiner Wirtin,“ bestand Pulcheria Alexandrowna auf ihrer Absicht, „ich will sie bitten, mir und Dunja einen Platz für diese Nacht zu geben. Ich kann ihn nicht so verlassen, ich kann nicht!“
Während sie darüber sprachen, standen sie auf dem Treppenabsatz vor der Türe zu der Wohnung der Wirtin. Nastasja leuchtete ihnen von der letzten Stufe herab. Rasumichin war ungewöhnlich erregt. Vor einer halben Stunde noch, als er Raskolnikoff nach Hause begleitete, war er wohl übermäßig geschwätzig und wußte es auch, er war aber völlig munter und ganz frisch, ungeachtet des fürchterlichen Quantums Wein, das er an diesem Abend getrunken hatte. Jetzt aber geriet er in Ekstase und der ganze Wein schien mit einem Male mit verstärkter Macht ihm zu Kopf gestiegen zu sein. Er stand vor den beiden Damen, hatte sie beide an den Händen gefaßt, redete auf sie ein und machte ihnen mit erstaunlicher Offenheit Vorstellungen und wahrscheinlich, um sie besser zu überzeugen, preßte er bei jedem Worte, wie mit Klammern, ihre Hände, daß ihnen die Tränen kamen und schien Awdotja Romanowna mit den Augen zu verschlingen, ohne sich dabei groß zu genieren. Vor Schmerz suchten sie ihre Hände aus seiner großen und knochigen Hand zu befreien, aber er merkte den Grund nicht und zog beide noch stärker zu sich. Wenn sie ihm in diesem Augenblicke befohlen hätten, ihnen zuliebe sich von der Treppe kopfüber hinabzustürzen, er hätte es getan, ohne sich zu besinnen und zu zögern. Pulcheria Alexandrowna, ganz aufgeregt im Gedanken an ihren Rodja, fühlte wohl, daß der junge Mann sehr exzentrisch sei und zu schmerzhaft ihre Hand drücke, aber da er doch für sie ein Stück Vorsehung war, so wollte sie alle diese exzentrischen Einzelheiten nicht bemerken. Trotz ihrer Aufregung wegen des Bruders und obwohl sie nicht ängstlicher Natur war, bemerkte Awdotja Romanowna doch voll Staunen und fast mit Schrecken die in wildem Feuer funkelnden Augen des Freundes ihres Bruders, und bloß das grenzenlose Vertrauen, das ihr die Erzählung Nastasjas über diesen sonderbaren Menschen eingeflößt hatte, hielt sie ab, wegzulaufen und die Mutter von ihm wegzubringen. Sie begriff aber auch, daß sie von ihm jetzt nicht loskommen könne. Nach etwa zehn Minuten aber hatte sie sich schon gefaßt, – Rasumichins Art war es, sich schnell restlos zu zeigen, in welcher Stimmung er auch war, so daß alle sehr bald wußten, mit wem sie es zu tun hatten.
„Bei der Wirtin ist es unmöglich, und ein greulicher Unsinn ist es!“ fiel er Pulcheria Alexandrowna in die Rede. „Mögen Sie auch die Mutter sein, wenn Sie aber hier bleiben, versetzen Sie ihn in Raserei und dann weiß der Teufel, was folgen wird! Hören Sie, ich will es so machen, – jetzt bleibt bei ihm Nastasja sitzen, ich aber begleite Sie beide zu Ihrer Wohnung, denn Sie können nicht allein auf der Straße gehen. Bei uns in Petersburg ist es in dieser Hinsicht ... Nun, lassen wir das ... Ich laufe dann sofort hierher zurück und bringe Ihnen nach einer Viertelstunde, mein heiliges Ehrenwort darauf, Rapport, – wie es mit ihm steht, ob er schläft oder nicht und dergleichen. Dann, hören Sie weiter! Dann laufe ich von Ihnen auf einen Sprung zu mir, – ich habe Gäste, alle sind betrunken, – nehme Sossimoff – das ist der Arzt, der ihn behandelt, er sitzt jetzt bei mir, ist nicht betrunken, er ist nie betrunken. Ich schleppe ihn zu Rodja und bin wieder sofort bei Ihnen, also im Laufe von einer Stunde haben Sie zwei Rapporte über ihn, – und vom Arzte, verstehen Sie, vom Arzte selbst, das ist mehr wert als von mir! Sollte es schlimmer sein, ich schwöre Ihnen, so bringe ich Sie selbst hierher, steht aber alles gut, so gehen Sie schlafen. Ich aber werde diese Nacht hier schlafen, im Flure, er wird nichts hören, und Sossimoff werde ich sagen, er soll bei der Wirtin schlafen, damit er da ist, wenn man ihn braucht. Nun, was ist für ihn jetzt besser, – Sie oder der Arzt? Der Arzt ist doch nützlicher, nützlicher. Nun, gehen Sie also nach Hause! Zu der Wirtin ist es unmöglich; mir ist es möglich, Ihnen aber nicht, – sie wird Sie nicht hereinlassen, weil ... weil sie eine Närrin ist. Sie wird auf Awdotja Romanowna meinetwegen eifersüchtig sein, wenn Sie es wissen wollen, und auch auf Sie selbst ... Auf Awdotja Romanowna aber unbedingt. Sie ist ein vollkommen, vollkommen unberechenbarer Charakter! Übrigens, ich bin auch ein Narr ... Ich pfeife darauf! Gehen wir! Glauben Sie mir? Nun, glauben Sie mir oder nicht? ...“
„Gehen wir, Mama,“ sagte Awdotja Romanowna, „er wird bestimmt so tun, wie er versprochen hat. Er hat schon einmal den Bruder zum Leben erweckt, und wenn der Arzt wirklich damit einverstanden ist, hier zu schlafen, dann ist es am besten so.“
„Sehen Sie ... Sie ... Sie verstehen mich, weil Sie ein Engel sind!“ rief Rasumichin entzückt aus. „Gehen wir! Nastasja! Schnell herauf und setze dich mit dem Lichte zu ihm; ich komme in einer Viertelstunde ...“
Obwohl Pulcheria Alexandrowna nicht ganz überzeugt war, widersetzte sie sich nicht mehr. Rasumichin bot ihnen beiden seinen Arm und zog sie die Treppe hinab. Es beunruhigte sie übrigens eins – „obwohl er flink und gut ist, kann er aber auch erfüllen, was er verspricht? Er ist doch in solchem Zustande! ...“
„Sie haben Angst, weil Sie glauben, daß ich nicht ganz klar im Kopfe bin!“ unterbrach Rasumichin ihren Gedankengang, als ob er ihn erraten hätte, während er mit Riesenschritten weiterging, ohne zu bemerken, daß die beiden Damen ihm kaum folgen konnten. „Unsinn! das heißt ... ich bin wie ein Stück Holz betrunken, aber das hat nichts zu sagen; denn ich bin nicht vom Wein betrunken. Als ich Sie erblickte, da stieg mir das Blut zu Kopfe ... Aber pfeifen Sie auf mich! Achten Sie nicht darauf, – ich lüge; ich bin Ihrer unwürdig! ... Wenn ich Sie nach Hause gebracht habe, gieße ich mir schleunigst hier aus diesem Kanal zwei Eimer Wasser über den Kopf, damit ich wieder zur Besinnung komme ... Wenn Sie nur wüßten, wie ich Sie beide liebe! ... Lachen Sie nicht und seien Sie mir nicht böse! ... Seien Sie auf alle böse, aber auf mich sollen Sie nicht böse sein! Ich bin sein Freund, also bin ich auch Ihr Freund. Ich will es so ... Ich habe es geahnt, ... im vorigen Jahre gab es so einen Augenblick ... Übrigens, ich habe gar nichts geahnt, denn Sie sind wie vom Himmel gefallen. Ich werde vielleicht auch die ganze Nacht nicht schlafen ... Dieser Sossimoff fürchtete vorhin, daß er den Verstand verlieren könnte ... Darum muß man ihn nicht reizen ...“
„Was sagen Sie?“ rief die Mutter aus.
„Hat das der Arzt gesagt?“ fragte erschrocken Awdotja Romanowna.
„Er hat gesagt, aber nicht das, sondern ganz was anderes. Er hat ihm auch eine Arznei gegeben, ein Pulver, ich habe es gesehen, und da kamen Sie ... Ach! ... Es wäre besser, Sie wären morgen gekommen! Insofern ist es gut, daß wir weggingen. Nach einer Stunde wird Ihnen Sossimoff selbst über alles Rapport erstatten. Sehen Sie, der ist nicht betrunken! Auch ich wäre nicht betrunken ... Warum aber habe ich so viel getrunken? Wie sie mich in eine Diskussion hineingebracht haben, die Verfluchten! Ich habe mir selbst das Versprechen gegeben, nicht zu streiten! ... Nun redeten sie aber so einen Blödsinn zusammen! Ich habe mich beinahe mit ihnen geprügelt! Ich habe nun meinen Onkel als Präsidium hinterlassen ... Können Sie es glauben, – sie verlangen völlige Unpersönlichkeit des einzelnen und finden darin den Sinn des Lebens! Bloß nicht für sich selbst sein, möglichst wenig eigenartig sein! Und das halten sie für den allergrößten Fortschritt. Und wenn sie wenigstens auf eigene Art lügen würden, so aber ...“
„Hören Sie,“ unterbrach ihn schüchtern Pulcheria Alexandrowna, aber das brachte ihn noch mehr in Eifer.
„Ja, was meinen Sie?“ rief Rasumichin und erhob seine Stimme noch mehr. „Meinen Sie, ich rede so, weil sie lügen? Unsinn! Ich liebe es, wenn man lügt. Das Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen Organismen. Wenn du lügst, – kommst du zur Wahrheit! Ich bin darum auch Mensch, weil ich lüge. Keine einzige Wahrheit ist erreicht, ohne daß man vorher vierzigmal, vielleicht auch hundertundvierzigmal gelogen hat, und das ist in seiner Art höchst ehrenvoll. Wir aber verstehen nicht einmal, auf eigene Art zu lügen! Lüge mir vor, aber lüge in deiner Weise, und ich gebe dir dann einen Kuß. In seiner eigenen Weise zu lügen ist besser noch als Wahrheit nur aus fremder Quelle; im ersten Falle bist du ein Mensch, im letzteren bist du bloß ein Papagei. Die Wahrheit wird nicht fortlaufen, das Leben aber kann man dabei mit Brettern zunageln; wir haben Beispiele dafür. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle, alle ohne Ausnahme, sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken, Erfindungen, Ideale, Wünsche, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und alles, alles, alles und alles noch in der ganz untersten Klasse des Gymnasiums! Uns hat es genügt, mit fremder Weisheit auszukommen, – wir haben Geschmack daran gefunden! Ist es nicht so? Habe ich recht?“
„Oh, mein Gott, ich weiß es nicht,“ sagte die arme Pulcheria Alexandrowna.
„Es ist so, so ... obwohl ich mit Ihnen nicht in allem einverstanden bin,“ fügte Awdotja Romanowna ernst hinzu, aber gleich darauf schrie sie auf, weil er ihr diesmal zu stark die Hand gedrückt hatte.
„So? Sie sagen, es sei so? Ach, dann sind Sie ... Sie ...“ rief er voll Entzücken aus. „Sie sind die Quelle der Güte, Reinheit, der Vernunft und ... der Vollkommenheit! Geben Sie mir Ihre Hand, geben Sie ... geben auch Sie Ihre Hand, ich will Ihnen beiden die Hände küssen, hier, sofort, auf den Knien!“
Und er warf sich mitten auf dem Trottoir, das zum Glück leer war, auf die Knie hin.
„Hören Sie auf, ich bitte Sie, was machen Sie?“ rief die äußerst betroffene Pulcheria Alexandrowna.
„Stehen Sie doch auf, stehen Sie doch auf!“ lachte Dunja, aber mit einer gewissen Unruhe.
„In keinem Falle, Sie müssen erst Ihre Hände gegeben haben! So ist es gut, nun genug, ich bin aufgestanden und nun wollen wir weitergehen! Ich bin ein unglückseliger Tolpatsch, ich bin Ihrer unwürdig und bin betrunken und schäme mich ... Ich bin nicht wert, Sie zu lieben, aber die Knie vor Ihnen zu beugen ist die Pflicht eines jeden, wenn er nicht ein vollkommenes Tier ist! Und ich habe vor Ihnen die Knie gebeugt ... Da sind auch Ihre möblierten Zimmer, und schon ihretwegen allein war Rodion im Rechte, als er vorhin Ihren Peter Petrowitsch hinauswarf! Wie durfte er es wagen, Sie in solchen Zimmern unterzubringen? Das ist ein Skandal! Wissen Sie, wer hier absteigt? Sie sind doch seine Braut! Sie sind seine Braut, nicht wahr? Und nun sage ich Ihnen, daß Ihr Bräutigam nach diesem ein Schuft ist!“
„Hören Sie, Herr Rasumichin, Sie haben vergessen ...“ begann Pulcheria Alexandrowna.
„Ja, ja, Sie haben recht, ich habe mich vergessen, ich schäme mich!“ rief Rasumichin erschrocken. „Aber ... aber ... aber ... Sie können mir nicht böse sein, daß ich so rede! Denn ich sage es aufrichtig und nicht weil ... hm! das wäre gemein; mit einem Worte, nicht weil ich Sie ... hm! ... nun, also, es ist nicht nötig, ich will nicht sagen, warum, ich darf es nicht! ... Wir hatten alle vorhin gleich begriffen, als er hereinkam, daß dieser Mensch nicht zu uns paßt. Nicht weil er mit gebrannten Locken vom Friseur kam, nicht weil er sich beeilte, seinen Verstand zu zeigen, sondern weil er ein Aushorcher und Spekulierer ist, weil er ein Jude und Gauner ist, und das sieht man. Sie denken, er ist klug? Nein, er ist ein Dummkopf! Nun, paßt er denn zu Ihnen? Oh, mein Gott! Sehen Sie, meine Damen,“ er blieb plötzlich auf der Treppe stehen, „wenn sie alle bei mir auch betrunken sind, dafür aber sind sie alle ehrlich, und obgleich wir auch lügen, denn ich lüge auch, aber wir werden uns schließlich bis zur Wahrheit durchlügen, weil wir auf einem anständigen Wege gehen, Peter Petrowitsch jedoch ... geht nicht auf einem anständigen Wege. Ich habe wohl soeben sie alle tüchtig geschimpft, aber ich achte sie alle; sogar Sametoff, wenn ich ihn auch nicht achte, so liebe ich ihn doch, denn er ist noch wie ein junger Hund! Selbst dieses Vieh von Sossimoff, weil er auch ehrlich ist und seine Sache versteht ... Aber genug, alles ist gesagt und wird verziehen. Ist es verziehen? Ist es wirklich? Nun, gehen wir. Ich kenne diesen Korridor, bin hier ein paarmal gewesen; sehen Sie hier, in Nummer drei, war einmal ein Skandal ... Nun, wo wohnen Sie? Welche Nummer? Acht? Nun, schließen Sie sich für die Nacht ein, lassen Sie niemand herein. Nach einer Viertelstunde kehre ich mit einer Nachricht zurück und dann noch einmal nach einer halben Stunde mit Sossimoff, Sie werden sehen! Leben Sie wohl, ich springe!“
„Mein Gott, Dunetschka, was wird geschehen?“ sagte Pulcheria Alexandrowna und wandte sich voll Unruhe und Angst an die Tochter.
„Beruhigen Sie sich, Mama,“ antwortete Dunja, indem sie ihren Hut und die Mantille abnahm. „Uns hat Gott selbst diesen Mann gesandt, obgleich er direkt von einer Kneiperei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen, ich versichere Sie. Was hat er alles schon für den Bruder getan ...“
„Ach Dunetschka, Gott weiß, ob er kommen wird? Wie konnte ich mich dazu entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Und ich habe es mir nicht, durchaus nicht vorgestellt, ihn so zu finden! Wie ernst er war, als wäre er um uns nicht froh ...“
Tränen zeigten sich in ihren Augen.
„Nein, das ist nicht wahr, Mama. Sie konnten ihn nicht gut sehen, weil Sie fortwährend weinten. Er ist von einer schweren Krankheit sehr mitgenommen, – das ist der ganze Grund.“
„Ach, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll daraus werden! Und wie er mit dir sprach, Dunja!“ sagte die Mutter und blickte schüchtern der Tochter in die Augen, um ihre Gedanken zu erraten, und teilweise schon dadurch getröstet, weil Dunja ihren Bruder in Schutz nahm, somit ihm verziehen habe. „Ich bin überzeugt, daß er morgen seinen Sinn ändern wird,“ fügte sie hinzu, sie weiter auszuforschen.
„Und ich dagegen bin überzeugt, daß er auch morgen dasselbe sagen wird ...“ schnitt Awdotja Romanowna ab, und man sprach nicht mehr darüber, denn es berührte einen Punkt, über den jetzt zu sprechen Pulcheria Alexandrowna sich zu sehr fürchtete.
Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie schweigend und innig. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung Rasumichins hin, begann scheu die Tochter zu beobachten, die mit gekreuzten Armen und selbst voll Erwartung in Gedanken versunken im Zimmer auf und ab ging. Das Auf- und Abgehen in Gedanken war die Angewohnheit von Awdotja Romanowna, und die Mutter hütete sich immer, ihr Nachdenken zu stören.
Rasumichin war selbstverständlich lächerlich mit seiner plötzlichen, in der Trunkenheit entflammten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna. Aber wenn man Awdotja Romanowna gesehen hatte, besonders jetzt, wo sie mit gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich auf und ab ging, würden vielleicht viele ihn entschuldigt haben, ganz abgesehen von seinem exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war sehr schön, – hochgewachsen, wundervoll schlank, kräftig und selbstbewußt, – das äußerte sich in jeder ihrer Bewegungen, tat aber der Weichheit und Grazie derselben in keiner Weise Eintrag. Ihr Gesicht ähnelte dem des Bruders, man konnte sie mit Recht eine Schönheit nennen. Ihr Haar war dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders; die Augen waren fast schwarz, ihr Blick stolz und doch wieder zuweilen von ungewöhnlicher Güte. Sie war bleich, aber nicht krankhaft; ihr Gesicht hatte vielmehr die Frische der Gesundheit. Ihr Mund war etwas klein, die Unterlippe, frisch und rot, stand kaum merklich hervor; ebenso das Kinn, das war aber auch die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesichte und verlieh ihm dafür eine besondere Eigentümlichkeit und vielleicht auch etwas wie Hochmut. Der Ausdruck ihres Gesichtes war in der Regel mehr ernst und sinnend als fröhlich; wie stand aber dafür ein Lächeln diesem Gesichte, wie kleidete sie ein lustiges, junges und sorgloses Lachen! Es war begreiflich, daß der hitzige, offene, schlichte, ehrliche, reckenhafte und betrunkene Rasumichin, der noch nie etwas Ähnliches gesehen hatte, beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem zeigte ihm der Zufall gleich zuerst Dunja, wie absichtlich, in dem schönen Momente der Liebe zum Bruder und der Freude des Wiedersehens. Er sah dann, wie ihre Unterlippe vor Entrüstung gegenüber den ungestümen und undankbar grausamen Wünschen des Bruders zuckte, – und er konnte nicht mehr widerstehen.
Er hatte übrigens die Wahrheit gesagt, als er vorhin in seiner Trunkenheit auf der Treppe damit herausplatzte, daß die exzentrische Wirtin Raskolnikoffs, Praskovja Pawlowna, nicht bloß wegen Awdotja Romanowna, sondern vielleicht auch wegen Pulcheria Alexandrowna auf ihn eifersüchtig sein würde. Trotzdem Pulcheria Alexandrowna schon dreiundvierzig Jahre alt war, wies ihr Gesicht immer noch Zeichen der früheren Schönheit auf und außerdem erschien sie bedeutend jünger als sie war, was so oft der Fall ist bei Frauen, die die Klarheit des Geistes, die Frische der Eindrücke und das ehrliche, reine Feuer des Herzens bis zum Alter sich bewahrten. Wir wollen in Parenthese hinzufügen, daß dies zu bewahren das einzige Mittel ist, auch seine Schönheit bis ins Alter zu behalten. Ihr Haar zwar begann grau und dünn zu werden, kleine strahlenartige Runzeln hatten sich schon lange um die Augen gelegt, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen hager geworden, und dennoch war dieses Gesicht schön. Es war Dunetschkas Abbild, nur zwanzig Jahre älter und ohne den besonderen Ausdruck der Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war empfindsam, aber nicht bis zur Süßlichkeit, sie war schüchtern und nachgiebig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, – sie konnte in vielem nachgeben, konnte mit vielem sich abfinden, selbst wenn es ihrer Überzeugung widersprach, aber zur Verleugnung der Ehrlichkeit und ihrer tiefsten Überzeugungen konnten sie keine Umstände bringen.
Genau nach zwanzig Minuten, seit Rasumichin weggegangen war, wurde zweimal nicht laut, aber hastig an die Türe geklopft; er war zurückgekehrt.
„Ich komme nicht herein, habe keine Zeit!“ sagte er hastig, als die Türe geöffnet wurde. „Er schläft einen Herkulesschlaf, ausgezeichnet, ruhig und geb’s Gott, daß er zehn Stunden fortschläft. Nastasja sitzt bei ihm; ich habe ihr befohlen, nicht wegzugehen, bis ich zurückgekommen bin. Jetzt schleppe ich Sossimoff her, er wird Ihnen Rapport erstatten, und dann legen Sie sich schlafen; ich sehe, Sie sind abgespannt bis zum äußersten ...“ Und er lief den Korridor hinab.
„Welch ein flinker und ... ergebener junger Mann!“ rief die Pulcheria Alexandrowna außerordentlich erfreut aus.
„Er scheint ein prächtiger Mensch zu sein!“ antwortete Awdotja Romanowna mit einem gewissen Eifer und begann von neuem im Zimmer hin und her zu wandern.
Fast nach einer Stunde vernahm man Schritte auf dem Korridor, und bald darauf wieder ein Klopfen an der Türe. Beide Frauen warteten, diesmal vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend, – und er hatte auch tatsächlich Sossimoff mitgeschleppt. Sossimoff hatte sich sofort bereit erklärt, das Fest zu verlassen und Raskolnikoff zu besuchen, aber zu den Damen ging er unwillig und mißtrauisch, da er dem betrunkenen Rasumichin nicht geglaubt hatte. Seine Eigenliebe war aber sofort beruhigt und er fühlte sich sogar geschmeichelt, – er sah, daß man wirklich auf ihn, wie auf einen Propheten, gewartet hatte. Er blieb genau zehn Minuten und hatte es verstanden, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu beruhigen. Er sprach voll ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und sehr ernst, ganz wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen Konsultation, mit keinem Worte schweifte er vom Gegenstande ab und zeigte nicht den geringsten Wunsch, mit den Damen in ein persönlicheres und privates Verhältnis zu kommen. Als er beim Eintritt gesehen hatte, wie blendend schön Awdotja Romanowna war, vermied er, sie zu beachten und wandte sich während des ganzen Besuches ausschließlich an Pulcheria Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere Genugtuung. Über den Kranken äußerte er, daß er ihn gegenwärtig in durchaus befriedigendem Zustande gefunden habe. Seinen Beobachtungen nach, habe die Krankheit des Patienten, außer der schlechten materiellen Lage in den letzten Monaten, noch einige seelische Ursachen, „sie ist sozusagen das Resultat vieler komplizierter, moralischer und materieller Einflüsse, Aufregungen, Sorgen, gewisser Ideen ... und dergleichen“. Als er zufällig bemerkte, daß Awdotja Romanowna besonders aufmerksam zuzuhören begann, ging er auf dieses Thema näher ein. Auf die aufgeregte und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas, wegen seines „gewissen Verdachts von geistiger Störung,“ antwortete er mit ruhigem und offenem Lächeln, daß man seine Worte übertrieben habe, daß man bei dem Kranken wohl eine fixe Idee, etwas, das auf Monomanie deute, konstatieren könne, – er, Sossimoff, verfolge jetzt besonders diesen äußerst interessanten Zweig der Medizin, – aber man dürfe auch nicht vergessen, daß der Kranke bis heute in fieberhaften Phantasien befangen war, und ... und, selbstverständlich werde die Ankunft der Verwandten auf ihn kräftigend, zerstreuend und heilbringend wirken, „wenn nur neue, besondere Erschütterungen vermieden würden,“ fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann erhob er sich, verabschiedete sich einfach und freundlich, begleitet von Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten; das Händchen Awdotja Romanownas streckte sich sogar, ohne daß er es suchte, zum Abschied ihm entgegen, und er ging fort, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche und noch mehr mit sich selbst.
„Morgen wollen wir weiter sehen; legen Sie sich jetzt unbedingt nieder!“ sagte Rasumichin, indem er mit Sossimoff fortging. „Morgen bin ich möglichst früh mit einem Rapport bei Ihnen.“
„Welch ein reizendes kleines Mädchen diese Awdotja Romanowna ist!“ bemerkte Sossimoff und schnalzte mit der Zunge, als sie beide auf die Straße hinaustraten.
„Reizend? Du hast reizend gesagt!“ brüllte Rasumichin, stürzte sich plötzlich auf Sossimoff und packte ihn an der Kehle. „Wenn du es noch einmal wagst ... Verstehst du? Verstehst du?“ schrie er, schüttelte ihn am Kragen und drückte ihn an die Wand. „Hast du gehört?“
„Laß mich los, betrunkener Teufel!“ wehrte sich Sossimoff, blickte ihn dann, nachdem Rasumichin ihn losgelassen hatte, aufmerksam an und schüttelte sich plötzlich vor Lachen.
Rasumichin stand mit gesenkten Armen und in düster ernstem Nachdenken vor ihm.
„Selbstverständlich bin ich ein Esel,“ sagte er finster, wie eine Gewitterwolke, „aber auch du ... bist einer.“
„Nein, Bruder, nein, ich bin keiner. Ich träume nicht von Dummheiten.“
Sie gingen schweigend weiter und erst, als sie sich der Wohnung Raskolnikoffs näherten, unterbrach Rasumichin mit sorgenvollem Gesichte das Schweigen.
„Höre,“ sagte er zu Sossimoff, „du bist ein prächtiger Bursche, aber du bist, außer all deinen üblen Eigenschaften, noch ein Stromer, das weiß ich, und außerdem einer von den ärgsten. Du bist ein nervöser, schwacher Lappen, hast verrückte Anwandlungen, hast Fett angesetzt und kannst dir nichts versagen, – und das nenne ich schon gemein, denn es führt zum Gemeinen. Du hast dich so verwöhnt, daß ich – offen gesagt, – nicht im geringsten verstehe, wie du dabei ein guter und sogar aufopfernder Arzt sein kannst. Du – ein Arzt – schläfst auf einem Pfühle und stehst für einen Kranken in der Nacht auf! Nach drei Jahren wirst du nicht mehr wegen eines Kranken aufstehen ... Nun, zum Teufel damit, das ist es nicht, sondern folgendes, – du schläfst heute Nacht in der Wohnung der Wirtin, – ich habe sie mit Mühe dazu überredet, – und ich in der Küche, – da habt ihr Gelegenheit, einander näher kennenzulernen! Nicht etwa, wie du meinst, um ...! Davon ist keine Rede!“
„Ich meine auch gar nichts.“
„Hier findest du, Bruder, Schamhaftigkeit, Schweigsamkeit, Schüchternheit, eine gräßliche Keuschheit und dabei – Seufzer, und sie schmilzt wie Wachs! Befreie mich von ihr, im Namen aller Teufel in der Welt! Sie ist sehr ansprechend! ... Ich vergelte es dir, tausendfach vergelte ich es dir!“
Sossimoff lachte noch stärker als vorher.
„Sieh mal, wie du aus dem Häuschen bist! Was soll ich denn mit ihr?“
„Ich versichere dich, du brauchst dich wenig mit ihr abzugeben, rede bloß irgendeinen Unsinn, sprich, was du willst, setze dich aber neben sie und rede frisch drauf los. Du bist ja auch Arzt, fange an, sie zu behandeln. Ich schwöre dir, du wirst es nicht bereuen. Sie hat ein Klavier; du weißt, ich klimpere ein bißchen; ich habe bei ihr ein kleines Lied, ein echtes russisches Lied liegen, ‚Ich vergieße bittre Tränen ...‘ Sie liebt echte Volkslieder, – nun, mit einem Liede fing es auch an; und du spielst doch Klavier, wie ein Virtuos, wie ein Meister, wie Rubinstein ... Ich versichere, du wirst es nicht bereuen! ...“
„Hast du ihr denn etwas versprochen? Hast du ihr etwas Schriftliches gegeben? Hast du ihr versprochen, sie zu heiraten ...“
„Nein, nichts, rein gar nichts! Und sie ist gar nicht so; Tschebaroff wollte ihr einen Antrag ...“
„Nun, so laß sie doch laufen!“
„Man kann sie nicht so ohne weiteres laufen lassen!“
„Warum denn nicht?“
„Man kann es nicht tun, und basta! Es ist da etwas, was mich festhält.“
„Warum hast du sie denn verleitet?“
„Ich habe sie gar nicht verleitet, ich habe mich selbst vielleicht aus Dummheit verleiten lassen, ihr aber wird es gleichgültig sein, ob du oder ich, nur, daß jemand neben ihr sitzt und seufzt. Es ist Bruder ... Ich kann es dir nicht erklären, es ist ... nun, du kannst doch gut Mathematik, und beschäftigst dich noch jetzt damit, soviel ich weiß ... fang an mit ihr die Integralrechnung durchzunehmen, bei Gott, ich scherze nicht, ich spreche im Ernst, ihr wird es vollkommen gleich sein, – sie wird dich ansehen und seufzen, und so wird es ein Jahr dauern. Ich habe ihr unter anderem sehr lange, zwei Tage nacheinander, von dem Herrenhaus in Preußen erzählt, – denn was soll man mit ihr reden? – sie seufzte bloß und schwitzte! Nur über Liebe sprich nicht, – sie wird furchtbar verlegen, – aber zeige doch, daß du nicht weggehen kannst, – das genügt. Es ist sehr komfortabel dort; man ist ganz wie zu Hause, – kann lesen, sitzen, liegen oder schreiben ... Man kann sogar einen Kuß geben, mit Vorsicht jedoch ...“
„Was soll ich aber mit ihr?“
„Ach, ich kann dir es nicht erklären. Siehst du, – ihr paßt ausgezeichnet zueinander! Ich habe schon früher an dich gedacht ... Du wirst schon damit enden! Ist es denn dir nicht einerlei, – ob früher oder später? Hier ist, Bruder, so etwas wie ein Pfühl, – ach! und auch nicht das allein! Hier lockt es einen und zieht, hier ist das Ende der Welt, hier wirft man den Anker, hat einen stillen Zufluchtsort, sozusagen das Zentrum der Erde, die Essenz von Pfannkuchen, Abendsamowars, stillen Seufzern und warmen gestrickten Jacken und geheizten Ofenbänken – nun, es ist, als ob du gestorben wärest und gleichzeitig am Leben bist, von beidem die Vorteile auf einen Schlag! Nun, Bruder, zum Teufel, ich habe zu viel geschwätzt, es ist Zeit, schlafen zu gehen! Höre, – ich wache in der Nacht zuweilen auf, und da will ich nach ihm sehen. Es ist aber nichts, Unsinn, alles ist gut. Beunruhige dich nicht besonders, wenn du aber willst, sieh auch mal nach. Wenn du aber etwas merken solltest, Fieber zum Beispiel oder Phantasieren oder etwas anderes, weck mich sofort auf. Übrigens, es wird nichts passieren ...“
Am andern Morgen gegen acht Uhr wachte Rasumichin ernst und sorgenvoll auf. Eine Menge von neuen und unvorhergesehenen Fragen tauchte in ihm auf. Er hätte sich’s früher nicht träumen lassen, daß er jemals so aufwachen würde. Er erinnerte sich bis aufs geringste alles gestern Vorgefallenen und begriff, daß ihm etwas nicht Alltägliches widerfahren sei; daß er in sich einen ihm bis jetzt völlig neuen Eindruck, der keinem früheren ähnelte, aufgenommen habe. Gleichzeitig war er sich vollkommen klar, daß der Traum, der in seinem Kopfe entflammt war, im höchsten Grade unerfüllbar sei, – so unerfüllbar, daß er sich seiner schämte, und er sich schleunigst anderen, alltäglichen Sorgen und Plagen, die ihm der „verfluchte gestrige Tag“ gebracht hatte, zuwandte.
Die unangenehmste Erinnerung war für ihn, wie „niedrig und gemein“ er sich gestern benommen hatte, nicht allein, weil er betrunken war, sondern weil er vor dem jungen Mädchen aus dummer übereilter Eifersucht, ihre Lage ausnutzend, ihren Bräutigam geschimpft hatte, ohne daß er ihr gegenseitiges Verhältnis und die Verpflichtungen, geschweige denn den Mann selbst ordentlich kannte. Und welches Recht hatte er, so schnell und übereilt über ihn zu urteilen? Und wer hatte ihn zum Richter berufen? Und kann denn solch ein Wesen, wie Awdotja Romanowna, sich einem unwürdigen Menschen des Geldes wegen hingeben? Also, muß er doch auch Tugenden haben. Die möblierten Zimmer? Woher sollte er denn in der Tat erfahren, was für möblierte Zimmer er genommen hatte? Er läßt doch eine Wohnung instand setzen ... pfui, welche Erniedrigung! War das etwa eine Entschuldigung, daß er betrunken war? Eine dumme Ausrede, die ihn noch mehr bloßstellte. Im Weine liegt die Wahrheit, und da hat sich auch die ganze Wahrheit, „das heißt, der ganze Schmutz seines neidischen, rohen Herzen“, gezeigt! Ist denn solch eine Idee ihm, Rasumichin, überhaupt erlaubt? Wer ist er im Vergleiche mit solch einem jungen Mädchen, – er, der betrunkene Skandalmacher und gestrige Prahlhans? „Ist denn so eine zynische und lächerliche Zusammenstellung überhaupt möglich?“ Rasumichin wurde bei diesem Gedanken rot, dazu erinnerte er sich noch, wie absichtlich, deutlich, daß er ihnen gestern auf der Treppe erzählt hatte, die Wirtin werde um seinetwillen auf Awdotja Romanowna eifersüchtig sein ... nein, es war unerträglich. Wütend schlug er mit der Faust auf den Küchenherd, verletzte sich die Hand und schlug einen Ziegelstein heraus.
„Gewiß,“ – murmelte er nach einer Weile vor sich hin, im Gefühle seiner Erniedrigung, – „gewiß, alle diese Scheußlichkeiten lassen sich nie mehr beschönigen und verwischen ... also, soll man auch daran nicht denken, sondern man muß schweigend seine Pflichten erfüllen ... nicht um Verzeihung bitten, überhaupt nichts sagen, und ... und selbstverständlich ist jetzt alles verloren!“
Trotzdem besah er beim Ankleiden seinen Anzug sorgfältiger als sonst. Einen anderen Anzug besaß er nicht, und wenn er auch einen anderen gehabt hätte, hätte er ihn vielleicht nicht angezogen, – „gerade nicht angezogen“. Auf keinen Fall aber durfte man ein Zyniker und Schmutzfink bleiben, – er hatte kein Recht, die Gefühle anderer zu beleidigen, um so mehr, als sie, die anderen, ihn brauchten und ihn selbst zu sich riefen. Also bürstete er aufs peinlichste seine Kleider aus. Seine Wäsche war stets erträglich, darauf hielt er etwas.
Er wusch sich an diesem Morgen mit großer Sorgfalt, – bei Nastasja fand er Seife, – er wusch sein Haar, den Hals und besonders die Hände. Als aber die Frage an ihn herantrat, ob er seine Borsten rasieren sollte oder nicht, – Praskovja Pawlowna hatte noch von ihrem verstorbenen Manne, Herrn Sarnitzin, ausgezeichnete Rasiermesser, – da wurde sie unbarmherzig abgelehnt, – „so soll es bleiben! Wenn sie meinen, daß ich mich rasiert habe, um ... und sie würden es meinen! Nein, ich tue es nicht, um keinen Preis in der Welt!“
„Und ... und die Hauptsache ist, daß er so grob, schmutzig ist und Manieren wie aus der Kneipe hat, und ... und er weiß auch wohl, daß er nun wenigstens ein bißchen ein anständiger Mensch ist ... nun, was ist denn da stolz zu sein, daß er ein anständiger Mensch ist? Jeder muß ein anständiger Mensch sein und mehr ... er aber hat – das weiß er – manches auf dem Kerbholz ... nichts Unehrenhaftes zwar, aber doch allerlei! ... Und was für Gedanken hatte er gehabt? Hm ... und kann man denn dies alles auf eine Stufe mit Awdotja Romanowna stellen? Nun, aber zum Teufel damit! Mag es so bleiben! Ich will absichtlich so schmutzig, schmierig, wie aus der Kneipe sein, und pfeife auf alles andere! Ich will es noch mehr zeigen! ...“
Bei diesen Selbstgesprächen traf ihn Sossimoff an, der in der Wohnstube von Praskovja Pawlowna geschlafen hatte. Er wollte nach Hause gehen und sich vorher noch einmal den Kranken ansehen. Rasumichin teilte ihm mit, daß derselbe wie ein Murmeltier schlafe. Sossimoff ordnete an, ihn nicht zu wecken, bis er selbst aufwache. Er versprach, in der elften Stunde wiederzukommen.
„Wenn er nur zu Hause bleiben wird,“ – fügte er hinzu. –
„Pfui, Teufel! Man hat noch nicht einmal Macht über seinen Kranken und soll ihn behandeln! Weißt du es, geht er zu denen, oder kommen die hierher?“
„Ich glaube, die kommen her,“ – antwortete Rasumichin, als er den Zweck der Frage verstanden hatte, – „und sie werden sicher über ihre Familienangelegenheiten sprechen. Ich gehe fort. Du als Arzt hast selbstverständlich mehr Rechte als ich.“
„Ich bin doch kein Beichtvater; ich will kommen und sofort weggehen. Ich habe noch mehr zu tun.“
„Mich beunruhigt eins,“ – unterbrach ihn Rasumichin mit verdüstertem Gesichte, – „ich habe gestern in der Trunkenheit ihm auf dem Wege hierher allerhand Dummheiten erzählt, – allerhand ... unter anderem auch, daß du fürchtest, daß er anscheinend ... zum Irrsinn neige ...“
„Du hast auch gestern den Damen davon geschwatzt.“
„Ich weiß, daß es dumm war. Meinetwegen kannst du mich verhauen! Sag’ mir aber, hattest du wirklich daran geglaubt?“
„Ich sage doch, es ist Scherz gewesen; was soll ich geglaubt haben? Du hast ihn mir selbst als einen Monomanen geschildert, als du mich zu ihm brachtest ... Nun, und gestern haben wir noch mehr geschürt, das heißt, eigentlich du, mit deiner Erzählung ... von dem Anstreicher; ein schönes Gespräch, wenn vielleicht gerade damit seine Verwirrung zusammenhängt! Wenn ich alles genau gewußt hätte, was damals im Polizeibureau vorgefallen war und daß ihn dort irgendeine Kanaille mit diesem Verdacht ... gekränkt hatte, ich hätte gestern ein solches Gespräch nicht zugelassen. Diese Monomanen machen doch aus einem Tropfen einen Ozean und sehen die unsinnigsten Dinge deutlich im wachen Zustande ... Wie ich mich erinnere, ist mir gestern aus der Erzählung von Sametoff schon die Sache zur Hälfte klar geworden. Das ist noch gar nichts. Ich kenne einen Fall, wo ein Hypochonder, ein vierzigjähriger Mann, nicht imstande war, den täglichen Spott eines achtjährigen Knaben bei Tische zu ertragen und ihn deshalb ermordete! Und hier, er zerlumpt, ein frecher Polizeikommissar, beginnende Krankheit, und – so ein Verdacht! Einem ausgesprochenen Hypochonder gegenüber! Mit einer wahnsinnigen, besonders ausgeprägten Eigenliebe! Vielleicht sitzt gerade hier der Ausgangspunkt der Krankheit! Nun, aber zum Teufel! ... Apropos, dieser Sametoff ist wirklich ein lieber Junge, aber hm ... es war doch überflüssig, daß er gestern dies alles erzählte. Ein furchtbarer Schwätzer!“
„Wem hat er denn alles erzählt? Mir und dir!“
„Und Porphyri.“
„Nun, was tut denn das?“
„Hm, sag’ mal, hast du irgendeinen Einfluß auf die Mutter und Schwester? Man müßte heute ihm gegenüber vorsichtiger sein ...“
„Sie werden sich schon einigen!“ – antwortete Rasumichin unwillig.
„Und warum ist er so gegen den Luschin? Ein Mensch mit Geld, ihr, wie es scheint, nicht unangenehm ... und sie haben doch keinen blanken Heller!“
„Was forschest du mich aus?“ – rief Rasumichin gereizt. – „Woher soll ich wissen, ob sie einen Heller haben oder nicht? Frage sie doch selbst, vielleicht sagen sie es dir ...“
„Na, wie dumm du zuweilen bist! Der gestrige Rausch sitzt noch in dir ... Auf Wiedersehen! Danke in meinem Namen deiner Praskovja Pawlowna für das Nachtlager. Sie hat sich eingeschlossen, auf meinen ‚Guten Morgen‘ hat sie durch die Tür geantwortet, war aber um sieben Uhr aufgestanden, man brachte ihr aus der Küche durch den Korridor den Samowar ... Ich hatte nicht die Ehre, sie zu sehen ...“
Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in Bakalejeffs „Möbliertem Zimmer“. Beide Damen erwarteten ihn schon lange mit nervöser Ungeduld. Sie waren schon vor sieben Uhr aufgestanden. Er trat finster wie die Nacht ein, machte eine linkische Verbeugung, worüber er sofort ärgerlich wurde – selbstverständlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, – Pulcheria Alexandrowna stürzte buchstäblich zu ihm hin, erfaßte ihn an beiden Händen und küßte sie beinahe. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna, aber auch auf diesem stolzen Gesichte lag in diesem Augenblicke solch ein Ausdruck von Dankbarkeit und freundlicher Gesinnung, solch eine vollkommene und unerwartete Achtung – (an Stelle von spöttischen Blicken und unwillkürlicher schlecht verborgener Verachtung) – daß es ihm tatsächlich angenehmer gewesen wäre, wenn man ihn mit Scheltworten begrüßt hätte, es war zu beschämend. Zum Glück gab es ein Thema zur Unterhaltung, und er benutzte es sofort.
Als Pulcheria Alexandrowna vernahm, daß er zwar noch nicht aufgewacht, aber „daß alles ausgezeichnet gehe,“ erklärte sie, das wäre sehr gut, weil sie noch vorher mit ihm, Rasumichin, über sehr, sehr vieles zu sprechen habe. Er wurde gefragt, ob er schon Tee getrunken habe und dann eingeladen, mit ihnen den Tee zu trinken, – sie hatten in Erwartung Rasumichins noch nicht gefrühstückt. Awdotja Romanowna klingelte, auf ihr Zeichen erschien ein schmutziger, zerlumpter Kerl, und bei ihm wurde der Tee bestellt, der auch endlich gereicht wurde, aber so schmutzig und so unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin begann energisch über diese möblierten Zimmer zu schimpfen, erinnerte sich aber Luschins, verstummte, wurde verlegen und war sehr froh, als Pulcheria Alexandrowna ihn mit ihren Fragen nicht mehr losließ.
Er beantwortete sie alle, sprach drei Viertelstunden lang, wurde beständig unterbrochen und von neuem befragt, und teilte alles Hauptsächliche und Notwendige, das er aus dem letzten Jahre kannte, mit, und schloß mit einer genauen Erzählung von der Krankheit Rodion Romanowitschs. Er ließ aus, was verschwiegen werden mußte, unter anderem den Auftritt in dem Polizeibureau mit allen seinen Folgen. Man lauschte gierig seiner Erzählung; als er aber glaubte, daß er zu Ende sei und seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie kaum begonnen zu haben schien.
„Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie, ich kenne ja noch nicht einmal Ihren und Ihres Vaters Namen!“ – sagte Pulcheria Alexandrowna eilig.
„Dmitri Prokofjitsch.“
„Also, Dmitri Prokofjitsch, ich möchte sehr gern erfahren ... wie er überhaupt ... wie er jetzt die Dinge betrachtet, das heißt, verstehen Sie mich ... wie soll ich es Ihnen erklären, das heißt, besser gesagt, – was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so gereizt? Was hat er für Wünsche und Träume, wenn man so sagen kann? Was hat auf ihn jetzt einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...“
„Ach, Mama, wie kann man denn das alles auf einmal beantworten!“ – bemerkte Dunja.
„Ach, mein Gott, ich habe doch nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu finden, Dmitri Prokofjitsch.“
„Das ist sehr natürlich,“ – antwortete Rasumichin. – „Ich habe keine Mutter mehr, aber mein Onkel kommt jedes Jahr hergereist und erkennt mich jedesmal beinahe nicht mehr, selbst dem äußeren nach nicht, und ist doch auch ein kluger Mann. Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung ist viel Wasser den Berg hinuntergeflossen. Ja, und was soll ich Ihnen sagen? Anderthalb Jahre kenne ich Rodion, – er ist verschlossen, düster, selbstbewußt und stolz; in der letzten Zeit – vielleicht aber auch schon früher – argwöhnisch und hypochondrisch. Dabei großmütig und gut. Er liebt nicht seine Gefühle zu zeigen, und würde lieber hart erscheinen, als sein Herz zu offenbaren. Zuweilen erscheint er übrigens gar nicht hypochondrisch, sondern einfach kalt und gefühllos bis zur Unmenschlichkeit, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere abwechselten. Er ist zuweilen schrecklich einsilbig! Er hat nie Zeit, immer stören ihn die anderen, dabei liegt er still und tut nichts. Er ist nicht spöttisch, nicht als ob es ihm an Witz mangelte, sondern weil er keine Zeit für solche Nichtigkeiten übrig hat. Er hört nicht bis zu Ende, wenn man ihm erzählt. Er interessiert sich nie für Dinge, für die sich alle im gegebenen Augenblicke interessieren. Er schätzt sich hoch ein und ich glaube, nicht ohne ein gewisses Recht dazu. Nun, was noch ... Mir dünkt, Ihre Ankunft wird auf ihn einen sehr heilsamen Einfluß ausüben.“
„Ach, möge es Gott geben!“ – rief Pulcheria Alexandrowna aus, die durch die Ansicht Rasumichins über ihren Rodja niedergedrückt war.
Rasumichin aber blickte endlich Awdotja Romanowna mit etwas mehr Mut an. Er hatte sie während des Gespräches öfters angesehen, aber nur flüchtig, auf einen kurzen Augenblick, und wandte immer gleich seine Augen ab. Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu, bald stand sie wieder auf, begann nach ihrer Gewohnheit mit gekreuzten Armen und zusammengepreßten Lippen im Zimmer auf und ab zu gehen und stellte zuweilen Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen, und in Gedanken versunken. Auch sie hatte die Gewohnheit, nicht bis zu Ende zuzuhören. Sie war mit einem dunklen Kleide aus leichtem Stoff bekleidet, um den Hals war ein weißes durchsichtiges Tüchlein geschlungen. Aus vielen Anzeichen hatte Rasumichin bald die dürftigsten Verhältnisse der beiden Frauen ersehen. Wenn Awdotja Romanowna wie eine Königin gekleidet gewesen wäre, hätte er sich wohl vor ihr gar nicht gefürchtet; jetzt aber hatte sich vielleicht gerade aus dem Grunde, weil sie so ärmlich gekleidet war, und weil er die ganze ärmliche Umgebung bemerkt hatte, in seinem Herzen eine gewisse Scheu eingenistet, und er ängstigte sich für jedes seiner Worte und für jede Bewegung, was für einen Menschen, der ohnedem sich nicht traute, sicher unbequem war.
„Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt und ... haben es unparteiisch gesagt. Das ist gut; ich dachte, Sie beten ihn an,“ – bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln. – „Es scheint auch besser, wenn um ihn eine Frau ist,“ – fügte sie nachdenklich hinzu.
„Das habe ich nicht gemeint, aber Sie haben vielleicht auch darin recht, nur ...“
„Was?“
„Er liebt doch niemand; vielleicht wird er auch nie lieben,“ – schnitt Rasumichin ab.
„Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?“
„Wissen Sie, Awdotja Romanowna, daß Sie Ihrem Bruder auffallend ähnlich sehen, in allem!“ – platzte er plötzlich heraus, sich selber überraschend, als er sich aber erinnerte, was er ihr soeben über den Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und stark verlegen.
Awdotja Romanowna mußte bei seinem Anblicke laut auflachen.
„In bezug auf Rodja könntet ihr beide euch irren,“ – sagte Pulcheria Alexandrowna etwas pikiert. – „Ich rede nicht von dem jetzigen, Dunetschka. Das, was Peter Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und was wir mit dir voraussetzten, – kann unwahr sein, aber Sie können sich nicht vorstellen, Dmitri Prokofjitsch, wie phantastisch er ist und – wie soll ich es sagen – launisch er ist. Ich konnte mich nie auf seinen Charakter verlassen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich irgend etwas tun kann, woran keiner je dachte ... Wir brauchen nicht weit zu gehen, – ist es Ihnen bekannt, wie er vor anderthalb Jahren mich überraschte, erschütterte, ja fast bis zum Tode erschreckte, als er diese, wie heißt sie doch, – die Tochter von dieser Sarnitzin heiraten wollte?“
„Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?“ – fragte ihn Awdotja Romanowna.
„Glauben Sie,“ – fuhr Pulcheria Alexandrowna voll Eifer fort, – „ihn hätten damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod vielleicht aus Gram, unsere große Armut, zurückgehalten? Er würde über alle Hindernisse in größter Ruhe hinweggeschritten sein. Aber ist es möglich, ist es möglich, daß er uns nicht liebt?“
„Er hat mir nie selbst etwas über diese Geschichte gesagt,“ – antwortete Rasumichin vorsichtig, – „aber ich habe einiges von Frau Sarnitzin selbst gehört, die in ihrer Art auch nicht von den Mitteilsamen ist, und was ich gehört habe, ist vielleicht ein wenig seltsam.“
„Und was, was haben Sie gehört?“ – frugen gleichzeitig beide Frauen.
„Es ist nichts gar so Besonderes. Ich erfuhr nur, daß diese Heirat, die schon eine vollständig abgemachte Sache war und bloß wegen des Todes der Braut nicht zustande kam, Frau Sarnitzin selbst sehr mißfiel ... Außerdem erzählt man, daß die Braut nicht hübsch war, das heißt, man sagt, sie sei sogar häßlich gewesen ... und sehr kränklich ... und eigentümlich ... sie hatte aber, wie es scheint, auch ihre Vorzüge. Es mußten unbedingt irgendwelche Vorzüge dagewesen sein, sonst konnte man so was nicht verstehen ... Mitgift hatte sie gar keine, und auf Mitgift hätte er auch nicht gerechnet ... Es ist überhaupt schwer in solch einer Sache zu urteilen.“
„Ich bin überzeugt, daß sie ein würdiges junges Mädchen war,“ bemerkte Awdotja Romanowna kurz.
„Gott wird es mir verzeihen, ich habe mich aber doch über ihren Tod gefreut, obwohl ich es nicht weiß, wer von ihnen den andern zugrunde gerichtet hätte, – er sie oder sie ihn,“ schloß Pulcheria Alexandrowna.
Dann begann sie vorsichtig mit Unterbrechungen, wobei sie ständig Dunja anblickte, was jener offenbar unangenehm war, wieder über den gestrigen Auftritt zwischen Rodja und Luschin zu fragen. Dieser Vorfall beunruhigte sie, wie man merken konnte, am meisten, bis zu Angst und Zittern. Rasumichin erzählte von neuem alles bis ins einzelne und fügte diesmal noch seine Ansicht hinzu, – er beschuldigte Raskolnikoff, daß er Peter Petrowitsch vorsätzlich gekränkt habe und entschuldigte ihn sehr wenig durch seine Krankheit.
„Er hat es sich noch vor der Erkrankung ausgedacht,“ – fügte er hinzu.
„Das denke ich auch“ – sagte Pulcheria Alexandrowna niedergeschlagen.
Sie war aber sehr überrascht, daß Rasumichin heute sich so vorsichtig und mit Achtung über Peter Petrowitsch äußerte. Auch Awdotja Romanowna war erstaunt.
„Ist das Ihre Meinung über Peter Petrowitsch?“ – konnte sich Pulcheria Alexandrowna nicht enthalten zu fragen.
„Über den künftigen Mann Ihrer Tochter kann ich auch keine andere Meinung haben,“ – antwortete Rasumichin fest und eifrig. – „Und ich sage es nicht aus fader Höflichkeit, sondern weil ... weil ... nun, sagen wir, aus dem Grunde allein, weil Awdotja Romanowna selbst freiwillig diesen Menschen mit ihrer Wahl beehrte. Wenn ich ihn aber gestern so geschimpft habe, so war es, weil ich gestern schmählich betrunken und außerdem ... ohne Verstand war, ja, ohne Verstand, ich hatte den Verstand verloren, vollkommen ... und heute schäme ich mich dessen! ...“ Er errötete und verstummte. Auch Awdotja wurde rot, aber unterbrach nicht das Schweigen. Sie hatte kein einziges Wort seit dem Augenblicke gesagt, als man über Luschin zu sprechen begann. Und Pulcheria Alexandrowna war ohne ihre Unterstützung offenbar unschlüssig. Schließlich sagte sie, stockend und ununterbrochen die Tochter anblickend, daß ein Umstand sie jetzt außerordentlich beunruhige.
„Sehen Sie, Dmitri Prokofjitsch,“ – begann sie. „Ich will gegenüber Dmitri Prokofjitsch vollkommen offen sein, Dunetschka.“
„Selbstverständlich, Mama,“ – bemerkte Awdotja Romanowna nachdrücklich.
„Sehen Sie, die Sache ist die,“ – beeilte sie sich nun, ihren Kummer mitzuteilen, als hätte man ihr durch die Erlaubnis eine schwere Bürde abgenommen. – „Heute, in aller Frühe, erhielten wir von Peter Petrowitsch einen Brief, als Antwort auf unsere gestrige Mitteilung von unserer Ankunft. Sehen Sie, er sollte uns gestern auf dem Bahnhofe selbst, wie er auch versprochen hatte, empfangen.
Anstatt dessen war ein Diener zu unserem Empfang auf den Bahnhof gesandt worden, mit der Adresse von diesen möblierten Zimmern und um uns den Weg zu zeigen. Peter Petrowitsch aber ließ uns mitteilen, daß er heute morgen hier bei uns erscheinen werde. Anstatt dessen kam heute früh dieser Brief von ihm ... Es ist das beste, Sie lesen ihn selbst; in ihm ist ein Punkt, der mich sehr beunruhigt ... Sie werden selbst sofort sehen, welchen Punkt ich meine, und ... sagen Sie mir Ihre aufrichtige Meinung, Dmitri Prokofjitsch! Sie kennen besser als alle den Charakter Rodjas und können uns am besten raten. Ich sage Ihnen im voraus, daß Dunetschka schon alles vom ersten Schritt an beschlossen hat, ich aber, ich weiß noch nicht, wie ich handeln soll und ... und wartete die ganze Zeit auf Sie.“
Rasumichin entfaltete den Brief, der mit dem gestrigen Datum versehen war, und las folgendes:
„Sehr verehrte Pulcheria Alexandrowna!
Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich infolge plötzlich eingetretener Hindernisse Sie auf dem Bahnsteige nicht empfangen konnte, ich sandte darum einen gewandten Menschen. Ebenso werde ich auch morgen früh nicht die Ehre einer Zusammenkunft mit Ihnen haben können, infolge unaufschiebbarer Angelegenheiten im Senat, und um Ihre verwandtschaftliche Zusammenkunft mit Ihrem Sohne und Awdotja Romanownas mit ihrem Bruder nicht zu stören. Ich will mir aber die Ehre nehmen, Sie spätestens morgen, Punkt acht Uhr abends, aufzusuchen, um Ihnen meine Aufwartung in Ihrer Wohnung zu machen, wobei ich mir erlaube, eine inständige und – ich füge hinzu – dringende Bitte auszusprechen, daß bei unserer gemeinsamen Zusammenkunft Rodion Romanowitsch nicht anwesend sein soll, da er mich bei meinem gestrigen Besuche während seiner Krankheit beispiellos und schwer gekränkt hat, und weil ich außerdem mit Ihnen persönlich eine notwendige und ausführliche Erklärung über einen Punkt haben möchte, über den ich Ihre eigene Deutung zu erfahren wünsche. Ich habe die Ehre, im voraus mitzuteilen, daß, falls ich, entgegen meiner Bitte, Rodion Romanowitsch antreffen sollte, ich gezwungen sein würde, mich zu entfernen, woran Sie allein sich die Schuld zuzuschreiben hätten.
Ich schreibe es in der Voraussetzung, daß Rodion Romanowitsch, der bei meinem Besuche so schwer krank zu sein schien, nach zwei Stunden plötzlich genas, ausgehen und also zu Ihnen kommen kann. Ich habe mich davon mit meinen eigenen Augen überzeugt, als er gestern in der Wohnung eines von Pferden überfahrenen Trunkenboldes, der an den Verletzungen gestorben ist, dessen Tochter, einem Mädchen von verrufenem Lebenswandel, etwa fünfundzwanzig Rubel aushändigte, unter dem Vorwande, die Kosten der Beerdigung zu tragen, was mich sehr überraschte, weil ich wußte, mit welcher Mühe Sie diese Summe erhielten. Hierbei übermittele ich meine besondere Achtung der geehrten Awdotja Romanowna und bitte Sie, meine achtungsvolle Ergebenheit entgegenzunehmen.
Ihr untertänigster Diener
P. Luschin.“
„Was soll ich jetzt tun, Dmitri Prokofjitsch?“ – sagte Pulcheria Alexandrowna fast weinend. – „Wie kann ich Rodja zumuten, nicht zu kommen? Er verlangte gestern so eindringlich die Absage an Peter Petrowitsch, und nun verlangt man, ihn selber abzuweisen. Ja, er wird absichtlich kommen, wenn er es erfährt und ... was geschieht dann?“
„Handeln Sie so, wie Awdotja Romanowna beschlossen hat,“ – antwortete ruhig und sofort Rasumichin.
„Ach, mein Gott! Sie sagt ... sie sagt – Gott weiß was, und erklärt mir nicht den Zweck! Sie sagt, es würde am besten sein, das heißt, nicht am besten sein, sondern es sei aus einem Grunde unbedingt nötig, daß auch Rodja heute um acht Uhr abends bestellt werde, und daß sie unbedingt hier einander träfen ... Und ich wollte ihm nicht einmal den Brief zeigen, und es irgendwie durch Ihre Vermittelung einrichten, daß er nicht herkäme ... denn er ist so gereizt ... Ja, und ich verstehe gar nicht, was für ein Trunkenbold dort gestorben ist und was das für eine Tochter ist, und in welcher Weise konnte er dieser Tochter das letzte Geld abgeben ... das ...“
„Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mama,“ – fügte Awdotja Romanowna hinzu.
„Er war gestern außer sich,“ – sagte Rasumichin nachdenklich. – „Wenn Sie erst wüßten, was er gestern in einer Restauration angerichtet hat, es war ja klug ... hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen sprach er tatsächlich gestern etwas zu mir, als wir nach Hause gingen, aber ich habe kein Wort verstanden ... übrigens, war ich gestern auch ...“
„Mama, am besten gehen wir zu ihm hin und dort, versichere ich Sie, werden wir sofort sehen, was zu tun ist. Und außerdem ist es Zeit, – Herrgott! Es ist über zehn Uhr!“ – rief sie aus, nachdem sie einen Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille warf, die an einer sehr feinen venetianischen Kette um ihren Hals hing, und mit der übrigen Kleidung gar nicht harmonierte.
„Ein Geschenk des Bräutigams,“ – dachte Rasumichin.
„Ach, es ist Zeit ... es ist Zeit, Dunetschka, es ist Zeit!“ – regte sich Pulcheria Alexandrowna auf. „Er wird denken, daß wir ihm noch von gestern her böse sind, weil wir solange nicht kommen. Ach, mein Gott!“
Indem sie es sagte, warf sie eilig ihre Mantille um und setzte den Hut auf; auch Dunetschka zog sich an. Ihre Handschuhe waren nicht bloß abgetragen, sondern sogar zerrissen, wie Rasumichin bemerkte, indessen verlieh diese augenscheinliche Armut der Kleidung den Damen eine Art Würde, was immer bei denen der Fall ist, die ein ärmliches Kleid zu tragen verstehen. Rasumichin blickte voll Ehrfurcht Dunetschka an und war stolz, daß er sie begleiten durfte. „Die Königin,“ – dachte er im stillen, – „die ihre Strümpfe in Gefängnissen stopfte, sah sicher in jenem Augenblicke wie eine echte Königin aus und königlicher als zur Zeit der prachtvollsten Feste und Empfänge.“
„Mein Gott!“ – rief Pulcheria Alexandrowna aus, – „habe ich je gedacht, daß ich ein Wiedersehen mit meinem Sohne, mit meinem lieben, lieben Rodja fürchten werde, wie ich es jetzt tue! ... Ich fürchte mich, Dmitri Prokofjitsch!“ – fügte sie hinzu und blickte ihn schüchtern an.
„Fürchten Sie sich nicht, Mama,“ sagte Dunja und küßte sie, – „glauben Sie besser an ihn. Ich glaube.“
„Ach, mein Gott! Ich glaube auch, habe aber die ganze Nacht nicht geschlafen!“ – rief die arme Frau aus.
Sie traten auf die Straße hinaus.
„Weißt du, Dunetschka, als ich gegen Morgen erst ein wenig einschlief, träumte ich plötzlich von der verstorbenen Marfa Petrowna ... sie war ganz in weiß ... sie kam auf mich zu, nahm mich an der Hand, schüttelte den Kopf über mich, und so streng, so streng, als ob sie mich verdamme ... Ist das auch ein gutes Zeichen? Ach, mein Gott, Dmitri Prokofjitsch, Sie wissen es noch nicht, – Marfa Petrowna ist gestorben!“
„Nein, ich weiß es nicht. Was für eine Marfa Petrowna?“
„Nachher, Mama,“ – mischte sich Dunja ein, – „er weiß ja noch nicht, wer Marfa Petrowna war.“
„Ach, Sie wissen es nicht? Und ich dachte, Sie kennen schon alles. Entschuldigen Sie mich, Dmitri Prokofjitsch, ich verliere in diesen Tagen völlig den Verstand. Ich sehe Sie wirklich wie unsere Vorsehung an, und darum war ich auch so überzeugt, daß Sie alles schon kennen. Ich betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie mir nicht böse, daß ich so spreche. Ach, mein Gott, was ist mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie sie verletzt?“
„Ja, ich habe sie verletzt,“ – murmelte glückselig Rasumichin.
„Ich spreche zuweilen so offenherzig, daß Dunja mich korrigiert ... Aber, mein Gott, in was für einer Kammer er lebt! Ist er wohl schon aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, rechnet dies für ein Zimmer? Hören Sie, Sie sagen, er liebt nicht, sein Herz zu zeigen, so daß ich vielleicht ihm auch überdrüssig werden kann ... mit meinen Schwächen? ... Können Sie mir nicht sagen, Dmitri Prokofjitsch, wie ich ihm gegenüber sein soll? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.“
„Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie merken, daß er das Gesicht verzieht; besonders über seine Gesundheit fragen Sie ihn nicht zu viel, er liebt es nicht.“
„Ach, Dmitri Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein.“
„Hier ist die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe ...“
„Mama, Sie sind so bleich, beruhigen Sie sich, meine Liebe,“ – sagte Dunja und schmiegte sich an sie, – „er muß glücklich sein, Sie zu sehen, und Sie quälen sich so,“ – fügte sie mit funkelnden Augen hinzu.
„Warten Sie, ich sehe zuerst nach, ob er aufgewacht ist.“
Die Damen folgten langsam Rasumichin, der vorher die Treppe hinaufgegangen war, und als sie im vierten Stock an der Türe der Wirtin vorbei gingen, bemerkten sie, daß die Türe zu deren Wohnung ganz unbedeutend geöffnet war, und daß zwei schwarze Augen sie beide schnell in der Dunkelheit betrachteten. Als ihre Blicke sich kreuzten, wurde die Türe plötzlich zugeschlagen und mit solch einem Knall, daß Pulcheria Alexandrowna vor Schreck beinahe aufgeschrien hätte.
„Er ist gesund, gesund!“ – rief den Eintretenden Sossimoff fröhlich zu.
Er war schon vor zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke auf dem Sofa. Raskolnikoff saß in der andern Ecke ihm gegenüber, vollkommen angekleidet und frisch gewaschen und gekämmt, was schon lange nicht mehr vorgekommen war. Das Zimmer war mit einem Male voll, aber Nastasja fand doch Zeit, den Besuchern zu folgen, um zuzuhören.
In der Tat, Raskolnikoff war fast gesund, besonders im Vergleiche mit gestern, er war bloß sehr blaß, zerstreut und düster. Dem Äußeren nach glich er einem Verwundeten oder einem, der einen starken physischen Schmerz duldet, – seine Augenbrauen waren zusammengezogen, die Lippen aufeinander gepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und widerwillig, wie mit großer Anstrengung oder als erfülle er eine Pflicht, und eine Unruhe zeigte sich zuweilen in seinen Bewegungen.
Es fehlte bloß die Binde um den Arm oder ein Verband um den Finger, um die völlige Ähnlichkeit mit einem Verletzten vollzumachen.
Aber dieses bleiche und düstere Gesicht erhellte sich auf einen Augenblick, als Mutter und Schwester eintraten, aber sein Gesicht nahm rasch statt der früheren düsteren Zerstreutheit den Ausdruck innerer Pein an, und Sossimoff, der seinen Patienten mit dem ganzen Eifer des Anfängers beobachtete und studierte, bemerkte voll Verwunderung, statt Freude über die Ankunft der Verwandten, die mühsam versteckte Entschlossenheit, eine mehrstündige Folterqual zu ertragen, die man nicht umgehen kann. Er sah später, wie fast jedes Wort der nachträglichen Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten zu berühren und aufzuwühlen schien, gleichzeitig aber war er wieder erstaunt, wie dieser heute verstand, sich zu bemeistern und seine Gefühle zu verbergen, – der gestrige Monomane, der wegen des geringsten Wortes fast in Raserei geriet.
„Ja, ich sehe jetzt selbst, daß ich fast gesund bin,“ sagte Raskolnikoff, und küßte die Mutter und die Schwester freundlich, worüber Pulcheria Alexandrowna in Entzücken geriet, „und ich spreche nicht mehr wie gestern,“ fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend, und drückte ihm freundschaftlich die Hand.
„Ich habe mich heute nicht wenig über ihn gewundert,“ begann Sossimoff, der über die Eingetretenen sehr erfreut war, weil er in den zehn Minuten den Faden des Gespräches mit seinem Kranken schon verloren hatte. „Nach drei oder vier Tagen, wenn es so weiter geht, wird alles beim alten sein, das heißt, wie es vor einem oder zwei Monaten ... vielleicht auch vor drei Monaten war. Es hat sich doch seit langem vorbereitet und entwickelt ... ah? Wollen Sie jetzt eingestehen, daß Sie selbst vielleicht mit daran schuld waren?“ fügte er mit einem vorsichtigen Lächeln hinzu, als fürchte er, ihn schon dadurch zu reizen.
„Es ist sehr möglich,“ antwortete Raskolnikoff kalt.
„Ich sage es nur aus dem Grunde,“ fuhr Sossimoff fort, „weil Ihre völlige Genesung jetzt hauptsächlich von Ihnen allein abhängt. Jetzt, wo man mit Ihnen reden kann, möchte ich Ihnen vorhalten, daß es notwendig ist, die ursprünglichen, sozusagen die Grundursachen zu beseitigen, die Ihren Krankheitszustand hervorgerufen haben, dann werden Sie auch genesen, sonst kann es wieder schlimmer werden. Diese ursprünglichen Ursachen kenne ich nicht, aber Ihnen müssen Sie bekannt sein. Sie sind ein kluger Mensch und haben sich selbst sicher beobachtet. Mir scheint, der Anfang Ihrer Krankheit fällt teilweise mit Ihrem Austritt aus der Universität zusammen. Sie dürfen nicht ohne Beschäftigung sein, und darum können Arbeit und ein fest vorgenommenes Ziel, wie mich dünkt, Ihnen von sehr großem Werte sein.“
„Ja, ja, Sie haben vollkommen recht ... ich will sofort die Universität besuchen, und dann wird alles ... wie geschmiert gehen ...“
Sossimoff, der seine klugen Ratschläge teilweise wegen der Wirkung auf die Damen erteilt hatte, war natürlich verblüfft, als er seine Rede beendete und auf dem Gesicht seines Zuhörers einen entschieden spöttischen Ausdruck bemerkte. Das währte übrigens nur einen Augenblick. Pulcheria Alexandrowna begann sofort, Sossimoff zu danken, besonders für seinen Nachtbesuch im Hotel.
„Wie, er ist in der Nacht bei euch gewesen?“ fragte Raskolnikoff anscheinend beunruhigt. „Also habt ihr auch nach der Reise nicht geschlafen?“
„Ach, Rodja, das war doch vor zwei Uhr. Wir haben uns auch zu Hause nicht früher als um zwei Uhr schlafen gelegt.“
„Ich weiß nicht, wie ich ihm danken soll,“ fuhr Raskolnikoff finster fort und den Blick senkend, „abgesehen von der Geldfrage – entschuldigen Sie, daß ich es erwähnte“ (er wandte sich an Sossimoff), „ich weiß gar nicht, wodurch ich so eine besondere Aufmerksamkeit Ihrerseits verdient habe? Ich verstehe es einfach nicht ... und ... es lastet auf mir sogar, weil es mir unverständlich ist, – ich sage es Ihnen ganz offen –.“
„Werden Sie nur nicht gereizt,“ lachte Sossimoff gezwungen. „Stellen Sie sich vor, daß Sie mein erster Patient sind, nun, und unsereiner, der soeben zu praktizieren anfängt, liebt seine ersten Patienten wie eigene Kinder, und manche sogar verlieben sich in sie. Und ich bin an Patienten nicht reich.“
„Ich will gar nicht reden von dem dort,“ fügte Raskolnikoff hinzu und wies auf Rasumichin, „auch er hat außer Kränkungen und Sorgen nichts von mir erfahren.“
„Was er faselt! Bist du etwa heute in einer gerührten Stimmung?“ rief Rasumichin.
Wenn er etwas scharfsinniger gewesen wäre, hätte er gesehen, daß hier nichts von einer gerührten Stimmung da war, eher das Gegenteil. Awdotja Romanowna aber hatte es gemerkt. Sie beobachtete durchdringend und voll Unruhe den Bruder.
„Von Ihnen, Mama, wage ich nicht zu sprechen,“ fuhr er fort, als sage er etwas vorher auswendig Gelerntes auf. „Heute erst konnte ich einigermaßen einsehen, wie Sie sich gestern hier in Erwartung meiner Rückkehr gequält haben müssen.“
Dann reichte er plötzlich stumm und mit einem Lächeln der Schwester die Hand. In diesem Lächeln schimmerte ein wahres, unverfälschtes Gefühl. Dunja erfaßte sofort, erfreut und dankbar, die ausgestreckte Hand und drückte sie innig. Zum erstenmal wandte er sich an sie nach dem gestrigen Zerwürfnis. Das Gesicht der Mutter leuchtete vor Entzücken und Glück beim Anblick dieser endgültigen und wortlosen Aussöhnung zwischen Bruder und Schwester.
„Dafür liebe ich ihn!“ flüsterte, sich energisch auf dem Stuhle wendend, Rasumichin, der sich leicht begeisterte. „Er hat solche Regungen! ...“
„Und wie alles sich bei ihm gut macht,“ dachte die Mutter, „was für edle Regungen er hat, und wie schlicht und zart er das gestrige Mißverständnis mit der Schwester beseitigt hat – nur dadurch, daß er ihr die Hand im richtigen Augenblicke reichte und sie lieb anblickte ... Und was für schöne Augen er hat und wie schön das ganze Gesicht ist ... Er ist sogar schöner als Dunetschka ... Aber, mein Gott, was für einen Anzug hat er an, wie schrecklich ist er gekleidet! Der Markthelfer Wassja im Laden Atanassi Iwanowitsch ist besser gekleidet! ... Und ich möchte mich ihm an den Hals werfen und ihn umarmen, und ... weinen – aber ich fürchte mich, ich fürchte ... wie er es auffassen könnte, oh Gott! Er spricht wohl freundlich, aber ich fürchte mich! Nun, warum fürchte ich mich? ...“
„Ach, Rodja, du wirst nicht glauben,“ beeilte sie sich plötzlich, seine Bemerkung zu beantworten, „wie wir gestern, ich und Dunetschka ... unglücklich waren! Jetzt, wo alles vorüber und beendet ist, und wir alle wieder glücklich sind, – kann man es sagen. Stell dir vor, wir laufen hierher, um dich zu umarmen, fast direkt von der Eisenbahn, und diese Frau, – ah, da ist sie auch! Guten Tag, Nastasja! ... Sie sagt uns plötzlich, daß du im starken Fieber liegst und daß du soeben ohne Wissen des Arztes im Fieber weggelaufen seist, und daß man dich suchen gegangen sei. Du glaubst nicht, wie das uns traf! Ich stellte mir sofort vor, wie der Leutnant Potantschikoff, unser Bekannter, ein Freund deines Vaters, – du kannst dich seiner nicht erinnern, Rodja – tragisch endete, er hatte auch starkes Fieber und war in derselben Weise weggelaufen und in einen Brunnen im Hofe hineingefallen, am anderen Tage erst konnte man ihn herausziehen. Und wir haben es uns selbstverständlich noch schwärzer ausgemalt. Wir wollten hinausstürzen und Peter Petrowitsch suchen, um mit seiner Hilfe wenigstens ... denn wir waren allein, vollkommen allein,“ sagte sie mit kläglicher Stimme und verstummte plötzlich, als sie sich erinnerte, daß es noch ziemlich gefährlich sei, über Peter Petrowitsch zu sprechen, ungeachtet dessen, „daß alle schon wieder vollkommen glücklich sind.“
„Ja, ja ... das alles ist sicher ärgerlich ...“ murmelte Raskolnikoff, aber mit solch einem zerstreuten und fast unaufmerksamen Ausdrucke, daß Dunetschka ihn voll Erstaunen ansah.
„Was wollte ich doch sagen,“ fuhr er fort und versuchte sich zu besinnen, „ja, – bitte, Mama, und du, Dunetschka, denkt nicht, daß ich nicht als erster heute zu euch kommen wollte und etwa auf euren Besuch wartete.“
„Ja, was fällt dir ein, Rodja!“ rief Pulcheria Alexandrowna, die jetzt auch erstaunte, aus.
„Weshalb spricht er so konventionell?“ dachte Dunetschka. „Er söhnt sich aus und bittet um Verzeihung, als erfülle er eine Pflicht oder sage das Gelernte auf!“
„Ich bin soeben aufgewacht und wollte zu euch gehen, aber mich hielten meine Kleider auf; ich hatte vergessen, ihr ... Nastasja zu sagen ... dieses Blut auszuwaschen ... Jetzt, soeben erst habe ich mich angezogen.“ –
„Blut! Was für Blut?“ sagte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.
„Es ist nichts ... regen Sie sich nicht auf. Das Blut kommt daher, weil ich, als ich gestern besinnungslos herumirrte, auf einen überfahrenen Menschen stieß ... auf einen Beamten ...“
„Besinnungslos? Aber du erinnerst dich an alles,“ unterbrach ihn Rasumichin.
„Das ist richtig,“ antwortete ihm Raskolnikoff mit Bedacht, „ich erinnere mich an alles, bis auf die geringste Kleinigkeit, aber dennoch, denk dir, – warum ich das getan und dort gewesen bin und jenes gesagt habe, – kann ich mir nicht erklären.“
„Das ist eine sehr bekannte Tatsache,“ mischte sich Sossimoff ein, „zuweilen ist die Ausführung einer Sache meisterlich, glänzend, die Direktion der Handlungen aber, der Ursprung der Handlungen, ist dunkel und hängt von allerhand krankhaften Empfindungen ab. Es ist wie im Traume.“
„Es ist vielleicht gut, daß er mich beinahe für einen Irrsinnigen hält,“ dachte Raskolnikoff.
„Aber das kann man vielleicht auch von Gesunden sagen,“ bemerkte Dunetschka und sah Sossimoff besorgt an.
„Ihre Bemerkung ist ziemlich richtig,“ antwortete er, „in diesem Sinne gleichen wir fast alle tatsächlich und sehr oft Verrückten, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß die ‚Kranken‘ ein bißchen mehr verrückt sind als wir, man muß hier eine Grenze festhalten. Einen ganz harmonischen Menschen aber, – das ist wahr, – gibt es fast nicht; auf Zehntausende, vielleicht aber auch auf viele Hunderttausende findet man einen ...“
Bei dem Worte „verrückt,“ das Sossimoff unvorsichtigerweise entschlüpfte, als er auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, verzogen alle die Gesichter. Raskolnikoff saß in Gedanken und mit einem seltsamen Lächeln auf den bleichen Lippen da, als schenke er dem keine Aufmerksamkeit. Er fuhr fort etwas zu erwägen.
„Nun, was ist mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!“ rief schnell Rasumichin.
„Was?“ schien er zu erwachen, „ja ... nun, da habe ich mich mit Blut beschmutzt, als ich half, ihn in seine Wohnung zu tragen ... Ja, Mama, ich habe gestern etwas Unverzeihliches getan, – ich war wirklich nicht bei Verstand. Ich habe gestern alles Geld, das Sie mir geschickt haben, ... seiner Frau ... zur Beerdigung gegeben. Sie ist jetzt Witwe, eine schwindsüchtige, beklagenswerte Frau ... drei kleine Kinder, Waisen, hungrig ... im Hause ist nichts ... und es ist noch eine Tochter da ... Vielleicht hätten Sie auch selbst gegeben, wenn Sie gesehen hätten ... Ich hatte übrigens gar kein Recht, ich gestehe es ein, besonders weil ich weiß, wie Sie dieses Geld sich verschafft haben. Um zu helfen, muß man erst ein Recht dazu haben, sonst – ‚Crevez, chiens, si vous n’êtes pas contents[3]‘.“ Er lachte. „Ist es nicht wahr, Dunja?“
„Nein, es ist nicht wahr,“ antwortete Dunja fest.
„Bah! Auch du hast ... Ansichten! ...“ murmelte er und blickte sie fast mit Haß an und lächelte spöttisch. „Ich hätte dies in Betracht ziehen müssen ... Nun, was ist dabei, es ist lobenswert und für dich besser ... und wenn du bis zu einer Grenze kommst, die du nicht übertreten kannst – wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, – wirst du vielleicht noch unglücklicher sein ... Übrigens aber, dies ist alles Unsinn!“ fügte er gereizt hinzu, ärgerlich über seine unwillkürliche Offenheit. „Ich wollte bloß sagen, daß ich Sie, Mama, um Verzeihung bitte,“ schloß er scharf und bündig.
„Aber Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!“ sagte erfreut die Mutter.
„Seien Sie nicht davon überzeugt,“ antwortete er und verzog den Mund zu einem Lächeln.
Ein Schweigen trat ein. Etwas Gespanntes lag in diesem ganzen Gespräche und im Schweigen, wie auch in der Versöhnung und Verzeihung, und alle fühlten es.
„Als ob sie sich vor mir fürchteten,“ dachte Raskolnikoff und blickte die Mutter und die Schwester unter der gesenkten Stirn hervor an.
Pulcheria Alexandrowna wurde immer ängstlicher, je länger sie schwieg.
„Aus der Ferne schien sie doch zu lieben,“ durchzuckte es ihn.
„Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!“ platzte plötzlich Pulcheria Alexandrowna heraus.
„Was für eine Marfa Petrowna?“
„Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Sswidrigailowa! Ich habe dir so viel über sie geschrieben.“
„Ach, ja ich erinnere mich ... also sie ist gestorben? Ach, in der Tat?“ fuhr er plötzlich auf, als sei er erwacht. „Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?“
„Stell dir vor, ganz plötzlich!“ beeilte sich Pulcheria Alexandrowna ihm zu antworten, ermutigt durch seine Neugier, „und gerade in der Zeit, als ich dir den Brief schickte, sogar an demselben Tage! Denk dir, dieser schreckliche Mensch scheint auch die Ursache ihres Todes zu sein. Man erzählt, er habe sie furchtbar verprügelt!“
„Leben sie denn in dieser Weise?“ fragte er, sich an die Schwester wendend.
„Nein, im Gegenteil. Er war ihr gegenüber stets sehr geduldig und höflich. In vielen Fällen sogar zu duldsam ihrer Art gegenüber, volle sieben Jahre ... Mit einem Male scheint er die Geduld verloren zu haben.“
„Also ist er gar nicht so schrecklich, wenn er sieben Jahre ausgehalten hat? Du scheinst ihn, Dunetschka, zu entschuldigen?“
„Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen,“ antwortete Dunja fast erbebend, zog die Augenbrauen zusammen und wurde nachdenklich.
„Es geschah am Morgen,“ fuhr Pulcheria Alexandrowna eilig fort. „Dann befahl sie, sofort anzuspannen, um gleich nach dem Mittagessen in die Stadt zu fahren, weil sie stets in solchen Fällen in die Stadt fuhr; sie aß zu Mittag, wie man sagt, mit großem Appetit ...“
„Verprügelt, wie sie war?“
„... Sie hatte übrigens auch immer diese ... Angewohnheit, und kaum als sie gegessen hatte, ging sie, um nicht zu spät abzufahren, sofort in die Badestube ... Siehst du, sie nahm aus Gesundheitsrücksichten Bäder; sie haben dort eine kalte Quelle, und sie badete dort jeden Tag, und als sie ins Wasser stieg, traf sie plötzlich der Schlag!“
„Kein Wunder,“ sagte Sossimoff.
„Und hat er sie stark verprügelt?“
„Das ist aber doch gleichgültig,“ sagte Dunja.
„Hm. Übrigens, was haben Sie für ein Vergnügen, Mama, solch einen Unsinn zu erzählen,“ kam es gereizt und plötzlich von den Lippen Raskolnikoffs.
„Ach, mein Freund, ich wußte nicht mehr, worüber ich sprechen soll,“ sagte Pulcheria Alexandrowna.
„Ja, was ist das, fürchtet ihr mich etwa?“ sagte er mit einem gezwungenen Lächeln.
„Das ist wahr,“ antwortete Dunja und sah den Bruder offen und streng an. „Als Mama die Treppe hinaufging, schlug sie sogar ein Kreuz vor Angst.“
Sein Gesicht verzog sich wie im Krampf.
„Ach, Dunja, was ist mit dir! Sei nicht böse, Rodja, ich bitte dich ... Warum hast du das gesagt, Dunja!“ sagte Pulcheria Alexandrowna verlegen, „das ist wahr, als ich hierherreiste, träumte ich den ganzen Weg, wie wir uns wiedersehen, wie wir einander alles erzählen werden ... und war so glücklich, daß ich die Reise nicht einmal belästigend fand! Ja, was sage ich! Ich bin auch jetzt glücklich ... Du hast unrecht, Dunja ... Ich bin schon allein dadurch glücklich, daß ich dich sehe, Rodja ...“
„Lassen Sie es, Mama,“ murmelte er in Verlegenheit und drückte ihr die Hand ohne sie anzublicken, „wir werden schon Zeit haben uns auszusprechen.“
Nachdem er das gesagt hatte, wurde er wieder verlegen und erbleichte, – wieder durchzog eine kurze schreckliche Empfindung in toter Kälte seine Seele, wieder wurde es ihm plötzlich vollkommen klar, daß er soeben eine furchtbare Lüge gesagt hatte, daß er nie wieder sich aussprechen könne, daß er nie mehr, niemals und mit niemandem, überhaupt sprechen dürfe. Der Eindruck dieses qualvollen Gedankens war so stark, daß er auf einen Moment sich fast vergaß, von seinem Platze aufstand und ohne jemand anzublicken, aus dem Zimmer zu gehen im Begriffe war.
„Was ist dir?“ rief Rasumichin und faßte ihn an der Hand.
Er setzte sich wieder hin und begann sich schweigend umzusehen; alle blickten ihn befremdet an.
„Ja, warum seid ihr alle so langweilig!“ rief er plötzlich, ganz unerwartet. „Sagt doch etwas! Warum sitzen wir so herum! Nun, so redet doch! Wollen wir uns unterhalten ... Sind zusammengekommen und schweigen ... redet doch etwas!“
„Gott sei dank! Ich dachte, mit ihm geschieht irgend etwas wie gestern,“ sagte Pulcheria Alexandrowna und bekreuzigte sich.
„Was ist mit dir, Rodja?“ fragte Awdotja Romanowna mißtrauisch.
„Nichts, ich denke gerade an etwas Komisches,“ antwortete er und lachte plötzlich.
„Nun, wenn es etwas Komisches ist, so ist es gut! Ich dachte beinahe selbst ...“ murmelte Sossimoff und erhob sich vom Sofa. „Ich muß jetzt gehen; ich komme noch einmal her, vielleicht ... wenn ich Sie antreffe ...“ Er verabschiedete sich und ging hinaus.
„Welch ein prächtiger Mensch!“ bemerkte Pulcheria Alexandrowna.
„Ja, er ist prächtig, ausgezeichnet, gebildet, klug ...“ sagte plötzlich Raskolnikoff schnell und mit einer an ihm nicht gewohnten Lebhaftigkeit, „ich erinnere mich nicht, daß ich ihn vor meiner Krankheit getroffen hätte ... und doch ist mir, als hätte ich ihn irgendwo schon getroffen ... Dieser da ist auch ein guter Mensch!“ er wies mit dem Kopfe auf Rasumichin, – „gefällt er dir, Dunja?“ fragte er sie und lachte plötzlich, ohne daß man wußte warum.
„Er gefällt mir sehr,“ antwortete Dunja.
„Pfui, wie ... gemein du bist!“ sagte Rasumichin furchtbar verlegen und errötend und stand vom Stuhle auf.
Pulcheria Alexandrowna lächelte ein wenig und Raskolnikoff lachte laut.
„Wohin willst du denn?“
„Ich muß auch ... gehen.“
„Du mußt gar nicht, bleibe hier! Sossimoff ist fortgegangen und da mußt du auch gehen? Bleib nur. Wieviel Uhr ist es? Ist es schon zwölf? Was du für eine nette Uhr hast, Dunja! Ja, warum schweigt ihr wieder? Bloß ich, ich allein rede die ganze Zeit! ...“
„Die Uhr ist ein Geschenk von Marfa Petrowna,“ antwortete Dunja.
„Und eine sehr teure Uhr,“ fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu.
„So–o! Wie groß ist sie, fast keine Damenuhr mehr.“
„Ich habe solche gern,“ sagte Dunja.
„Also, es ist kein Geschenk vom Bräutigam,“ dachte Rasumichin und wurde froh darüber.
„Ich dachte, sie ist ein Geschenk von Luschin,“ bemerkte Raskolnikoff.
„Nein, er hat Dunetschka noch nichts geschenkt.“
„So–o! Erinnern Sie sich noch, Mama, daß ich verliebt war und heiraten wollte,“ sagte er plötzlich und sah die Mutter an, die von der unerwarteten Bemerkung und dem Tone, mit dem er sprach, betroffen war.
„Ach, mein Freund, ja ich erinnere mich!“ Pulcheria Alexandrowna wechselte mit Dunetschka und Rasumichin einen Blick.
„Hm! Ja! Was soll ich Ihnen erzählen? Ich erinnere mich dessen ganz wenig. Sie war ein sehr krankes Mädchen,“ fuhr er fort, anscheinend wieder in Gedanken versunken und mit gesenktem Blicke, „ganz krank war sie; sie liebte Almosen zu geben und träumte immer vom Kloster, und einmal weinte sie arg, als sie mir davon erzählte. Ja, ja ... ich erinnere mich ... ich erinnere mich dessen gut. Sie sah so ... häßlich aus. Ich weiß wirklich nicht, warum ich damals eine Neigung zu ihr faßte, vielleicht weil sie immer krank war ... Wäre sie noch lahm oder buckelig gewesen, ich hätte sie dann, glaube ich, noch mehr geliebt ...“ (er lächelte nachdenklich). „Es war so ... ein Frühlingstraum ...“
„Nein, es war nicht allein ein Frühlingstraum,“ sagte Dunetschka innig.
Er blickte aufmerksam und durchdringend die Schwester an, ohne ihre Worte recht gehört oder gar verstanden zu haben. Dann stand er in tiefem Nachdenken auf, trat an die Mutter heran, küßte sie, kehrte auf seinen Platz zurück und setzte sich wieder.
„Du liebst sie auch jetzt noch!“ sagte Pulcheria Alexandrowna gerührt.
„Sie? Jetzt? Ach ja ... Sie meinen sie! Nein. All das ist jetzt wie aus einer anderen Welt ... und so lange her. Ja und alles, was hier rings um mich geschieht, ist, als geschähe es nicht hier ...“
Er blickte sie aufmerksam an.
„Auch euch ... ich sehe euch, wie tausend Werst weit von hier ... Ja, und zum Teufel, warum sprechen wir darüber! Und warum fragt ihr mich aus?“ fügte er ärgerlich hinzu und verstummte, kaute an den Fingernägeln und wurde von neuem nachdenklich.
„Wie schlecht deine Wohnung ist, Rodja, sie ist wie ein Sarg,“ sagte plötzlich Pulcheria Alexandrowna, das peinliche Schweigen unterbrechend, „ich bin überzeugt, daß zur Hälfte dich diese Wohnung zu einem Melancholiker gemacht hat.“
„Die Wohnung? ...“ antwortete er zerstreut. „Ja, diese Wohnung hat viel dazu beigetragen ... ich habe es auch gedacht ... Wenn Sie aber wüßten, welchen merkwürdigen Gedanken Sie soeben aussprachen,“ fügte er plötzlich hinzu und lächelte eigentümlich.
Noch ein Weniges, und diese Gesellschaft, seine nächsten Verwandten, die er nach dreijähriger Trennung wiedersah, und diese Art von Gesprächen, die kein Thema festzuhalten vermochten, mußten ihm schließlich ganz unerträglich werden. Es gab jedoch noch eine unaufschiebbare Angelegenheit, die heute noch, so oder so, aber unbedingt entschieden werden sollte, – so hatte er vorhin schon, als er erwachte, beschlossen. Jetzt freute er sich darüber, wie über einen Ausweg.
„Höre, Dunja,“ begann er ernst und trocken, „ich bitte selbstverständlich wegen des Gestrigen um Verzeihung, aber ich halte es für meine Pflicht, dich noch einmal zu erinnern, daß ich von meinem Hauptverlangen nicht zurücktrete. Entweder ich oder Luschin. Mag ich ein Schuft sein, du aber darfst es nicht werden. Einer allein. Wenn du Luschin heiratest, höre ich sofort auf, dich als meine Schwester anzusehen.“
„Rodja, Rodja! Das ist doch dasselbe wie gestern,“ rief Pulcheria Alexandrowna kummervoll aus, „und warum nennst du dich immer einen Schuft, ich kann es nicht ertragen! Auch gestern war dasselbe ...“
„Bruder,“ antwortete Dunja fest und ebenso trocken, „in alledem liegt ein Irrtum deinerseits. Ich habe es heute überlegt und den Irrtum gefunden. Die Hauptsache ist, daß du, wie es mir scheint, denkst, ich bringe mich jemandem und um jemandes willen zum Opfer. Das ist nicht richtig. Ich heirate nur meinethalben, weil mir das Leben so zu führen selbst schwer fällt; dann aber will ich auch sicher froh sein, wenn es mir gelingen sollte, meinen Verwandten nützlich zu sein, zu meinem Entschlusse aber ist dies nicht der hauptsächlichste Beweggrund ...“
„Sie lügt!“ dachte er und kaute vor Wut an seinen Nägeln. „Sie ist stolz! Sie will es nicht eingestehen, daß sie Wohltaten erweisen möchte! Oh, diese niedrigen Charaktere! Sie lieben, als haßten sie ... Oh, wie ich sie alle ... hasse!“
„Mit einem Worte, ich heirate Peter Petrowitsch,“ fuhr Dunetschka fort, „weil ich von zwei Übeln das kleinste wähle. Ich habe die Absicht, alles ehrlich zu erfüllen, was er von mir erwartet, also betrüge ich ihn nicht ... Warum lächelst du jetzt?“
Sie errötete und in ihren Augen blitzte der Zorn.
„Du willst alles erfüllen?“ fragte er mit einem giftigen Lächeln.
„Bis zu einer gewissen Grenze. Die Art und die Form des Antrages von Peter Petrowitsch haben mir sofort gezeigt, was er braucht. Er schätzt sich gewiß vielleicht zu hoch ein, aber ich hoffe, daß er auch mich schätzt ... Warum lachst du wieder?“
„Und warum errötest du wieder? Du lügst, Schwester, du lügst bewußt, bloß aus weiblichem Eigensinn, um nur auf deinem Willen vor mir zu bestehen ... Du kannst Luschin nicht achten, – ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Also, verkaufst du dich für Geld und also handelst du in jedem Falle niedrig, und ich freue mich, daß du wenigstens noch erröten kannst!“
„Es ist nicht wahr, ich lüge nicht! ...“ rief Dunetschka, ihre ganze Kaltblütigkeit verlierend, „ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß er mich schätzt und auf mich etwas gibt; ich würde ihn nicht heiraten, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß ich ihn selbst achten kann. Zum Glück kann ich mich davon sicher und heute noch überzeugen. Und solch eine Heirat ist keine Schuftigkeit, wie du sagst! Und wenn du auch recht hättest, wenn ich tatsächlich mich zu einer Schuftigkeit entschlossen hätte, – ist es dann nicht grausam von dir, so mit mir zu sprechen? Warum verlangst du von mir ein Heldentum, das du vielleicht selbst nicht hast? Das ist Despotismus, das ist Gewalttätigkeit! Wenn ich jemand zugrunde richte, doch höchstens mich selbst ... Ich habe noch niemanden getötet ... Warum schaust du mich so an? Warum bist du so bleich geworden? Rodja, was ist dir? Rodja, lieber ...“
„Herrgott! Sie hat ihn bis zur Ohnmacht gebracht!“ – rief Pulcheria Alexandrowna aus.
„Nein, nein ... das ist Unsinn ... es ist nichts! ... Der Kopf schwindelt mir nur ein wenig. Es ist keine Ohnmacht ... Ihr wittert überall Ohnmachten ... Hm! ja ... was wollte ich sagen? Ja, – wie willst du dich heute überzeugen, daß du ihn achten kannst, und daß er dich ... schätzt etwa, wie du sagtest? Du sagtest, schien mir, heute? Oder habe ich mich verhört?“
„Mama, zeigen Sie dem Bruder den Brief von Peter Petrowitsch,“ – sagte Dunetschka.
Pulcheria Alexandrowna reichte ihm mit zitternden Händen den Brief. Er nahm ihn mit großer Neugierde. Ehe er ihn aber öffnete, blickte er plötzlich verwundert Dunetschka an.
„Sonderbar,“ – sagte er langsam, als wäre er durch einen neuen Gedanken überrascht, „warum rege ich mich so auf? Warum dieses ganze Geschrei? Heirate, wen du willst!“
Er sagte es scheinbar für sich selbst, sprach es aber laut aus und blickte eine Weile die Schwester wie verblüfft an.
Er öffnete endlich den Brief, wobei er immer noch den Ausdruck einer seltsamen Verwunderung behielt; dann begann er langsam und aufmerksam zu lesen und las den Brief zweimal. Pulcheria Alexandrowna war in großer Unruhe, auch die anderen erwarteten etwas Besonderes.
„Mich wundert es,“ – begann er nach einigem Nachdenken und gab den Brief der Mutter zurück, wandte sich aber zu keinem einzelnen, – „er führt doch Prozesse, ist Advokat, und seine Weise zu sprechen hat auch so einen ... Anstrich, – aber wie ungebildet er schreibt.“ Alle rührten sich, das hatten sie nicht erwartet.
„Sie schreiben doch alle so,“ – bemerkte Rasumichin kurz.
„Hast du den Brief gelesen?“
„Ja.“
„Wir haben ihn gezeigt, Rodja, wir ... haben vorhin uns beratschlagt,“ – begann Pulcheria Alexandrowna verlegen.
„Es ist eigentlich der Gerichtsstil,“ – unterbrach Rasumichin, – „Gerichtspapiere werden heute noch so geschrieben.“
„Gerichtsstil? Ja, wirklich, Gerichtsstil, Geschäftsstil ... Er ist nicht ganz ungebildet geschrieben und auch nicht sehr literarisch; ein Geschäftsbrief!“
„Peter Petrowitsch verheimlicht auch nicht, daß er wenig gelernt hat, und ist sogar stolz darauf, daß er seinen Weg selbst gemacht hat,“ – bemerkte Awdotja Romanowna, neuerlich durch den Ton des Bruders gekränkt.
„Nun, wenn er stolz darauf ist, hat er auch ein Recht dazu, – ich widerspreche nicht. Du, Schwester, scheinst gekränkt zu sein, daß ich aus dem ganzen Brief nur so eine frivole Schlußfolgerung gezogen habe, und meinst, daß ich absichtlich über solche Kleinigkeiten gesprochen habe, um mich über dich aus Ärger lustig zu machen. Im Gegenteil, mir kam in bezug des Stils ein in diesem Falle nicht ganz überflüssiger Gedanke. In dem Briefe ist ein Ausdruck – ‚woran Sie allein sich die Schuld zuzuschreiben hätten‘, der sehr bedeutungsvoll und klar hingesetzt ist, und außerdem enthält der Brief die Drohung, daß er sofort fortgehen werde, wenn ich hinkomme. Diese Drohung fortzugehen, ist gleichbedeutend der Drohung, euch beide zu verlassen, wenn ihr unfolgsam sein werdet, und gerade jetzt zu verlassen, wo er euch nach Petersburg gebracht hat. Nun, was meinst du, – kann man durch solch einen Ausdruck seitens Luschins ebenso gekränkt sein, wie wenn er es geschrieben hätte“ – (er zeigte auf Rasumichin) – „oder Sossimoff oder einer von uns?“
„N–nein,“ – antwortete Dunetschka, – „ich habe sehr gut verstanden, daß es zu naiv ausgedrückt ist, und daß er vielleicht bloß nicht versteht zu schreiben ... Das hast du gut beurteilt, Bruder. Ich habe das nicht mal erwartet ...“
„Das ist in Gerichtssprache ausgedrückt und im Gerichtsstil kann man es anders nicht schreiben, und es ist gröber herausgekommen, als er vielleicht wollte. Übrigens, ich muß dich ein wenig enttäuschen, – in diesem Briefe gibt es noch eine Äußerung, eine Verleumdung in bezug auf mich, und eine ziemlich gemeine. Ich habe das Geld gestern der Witwe, einer schwindsüchtigen und niedergeschmetterten Frau, gegeben, und nicht unter dem Vorwande, die Beerdigungskosten zu tragen, sondern einfach zur Beerdigung, auch nicht der Tochter, – einem Mädchen, wie er schreibt, ‚von verrufenem Lebenswandel‘ – und die ich gestern zum ersten Male in meinem Leben gesehen habe, sondern tatsächlich der Witwe. In diesem allen sehe ich den zu eiligen Wunsch, mich mit Schmutz zu bewerfen und mit euch zu verzwisten. Es ist wiederum in der Gerichtssprache ausgedrückt, das heißt mit einer zu deutlichen Klarlegung des Zweckes und einer sehr naiven Eile. Er ist ein kluger Mann, aber um klug zu handeln genügt nicht, nur Verstand zu haben. Dies alles zeigt den Menschen und ... ich glaube nicht, daß er dich hochschätzt. Ich teile es dir nur zur Belehrung mit, denn ich wünsche aufrichtig dein Gutes ...“
Dunetschka antwortete nicht; ihr Entschluß war schon vorhin gefaßt, sie erwartete bloß den Abend.
„Wie entschließt du dich denn, Rodja?“ – fragte Pulcheria Alexandrowna, noch mehr beunruhigt als vorhin, durch den plötzlichen, neuen, geschäftlichen Ton seiner Rede.
„Was heißt – entschließest du dich?“ –
„Peter Petrowitsch schreibt doch, daß du heute abend nicht bei uns sein sollst, und daß er fortgehen werde ... wenn du doch kommen solltest. Also, wie ... wirst du kommen?“
„Die Entscheidung hierüber kommt doch selbstverständlich nicht mir, sondern erstens Ihnen zu, wenn Sie dieses Verlangen von Peter Petrowitsch nicht kränkt, und zweitens Dunja, wenn sie sich auch nicht gekränkt fühlt. Und ich will handeln, wie es für sie am besten ist,“ – fügte er trocken hinzu.
„Dunetschka hat schon beschlossen, und ich bin mit ihr völlig einverstanden,“ – beeilte sich Pulcheria Alexandrowna zu bemerken.
„Ich habe beschlossen, dich, Rodja, zu bitten, eindringlich zu bitten, unbedingt bei dieser Zusammenkunft zugegen zu sein,“ – sagte Dunja, – „willst du kommen?“
„Ich will kommen.“
„Auch Sie bitte ich, bei uns um acht Uhr zu sein,“ – wandte sie sich an Rasumichin, – „Mama, ich fordere ihn auch auf.“
„Sehr gut, Dunetschka. Nun, wie ihr beschlossen habt, möge es bleiben,“ – fügte Pulcheria Alexandrowna hinzu. – „Und für mich ist es auch leichter; ich liebe nicht, mich zu verstellen und zu lügen; besser wollen wir die ganze Wahrheit sagen ... Mag Peter Petrowitsch jetzt böse sein oder nicht!“
In diesem Augenblicke wurde die Türe leise geöffnet und ins Zimmer trat, sich schüchtern umblickend, ein junges Mädchen herein. Alle wandten sich mit Erstaunen und Neugier zu ihr um. Raskolnikoff erkannte sie nicht gleich auf den ersten Blick. Es war Ssofja Ssemenowna Marmeladowa. Gestern hatte er sie zum ersten Male gesehen, aber in solch einem Augenblicke, in solcher Umgebung und solch einem Aufzuge, daß in seiner Erinnerung das Bild einer ganz anderen Person haften geblieben war. Jetzt war es ein einfach und sogar ärmlich angezogenes Mädchen, noch sehr jung, fast einem Kinde ähnlich, mit bescheidenem und anständigem Wesen, und mit einem klaren, aber anscheinend verängstigten Gesichte. Sie hatte ein sehr einfaches Hauskleid an und auf dem Kopfe einen alten Hut von früherer Mode; nur in den Händen trug sie den Sonnenschirm von gestern. Als sie plötzlich ein Zimmer voll Menschen erblickte, wurde sie nicht bloß verlegen, sondern verlor die Fassung und ward verzagt wie ein kleines Kind, und machte sogar eine Bewegung, als wollte sie wieder gehen.
„Ach ... Sie sind es? ...“ sagte Raskolnikoff außerordentlich verwundert, und wurde plötzlich selbst verlegen. Er dachte sofort daran, daß die Mutter und die Schwester aus dem Briefe Luschins schon etwas von einem gewissen Mädchen „von verrufenem Lebenswandel“ wußten. Soeben hatte er noch gegen die Verleumdung Luschins protestiert und erwähnt, daß er dieses Mädchen zum ersten Male gesehen habe, und plötzlich tritt sie selbst ein. Er erinnerte sich auch, daß er gar nicht gegen den Ausdruck – „von verrufenem Lebenswandel“ protestiert habe. Dies alles durchzog unklar und flüchtig seinen Kopf. Als er aber aufmerksamer hinblickte, sah er, wie gedrückt dieses erniedrigte Wesen war, und sie tat ihm plötzlich leid. Als sie aber im Schreck sich anschickte wegzulaufen, schlug seine Stimmung um.
„Ich habe Sie nicht erwartet,“ – sagte er hastig und hielt sie mit seinem Blicke zurück. – „Setzen Sie sich bitte. Sie kommen sicher im Auftrage Katerina Iwanownas. Erlauben Sie, setzen Sie sich nicht hierhin, sondern dorthin“ ... Bei Ssonjas Eintritt war Rasumichin, der auf einem der drei Stühle Raskolnikoffs gerade neben der Türe gesessen hatte, aufgestanden, um ihr zum Hereingehen Platz zu machen. Zuerst wollte ihr Raskolnikoff den Platz in der Ecke des Sofas anbieten, wo Sossimoff gesessen hatte, aber es fiel ihm ein, daß dieses Sofa ein zu familiärer Platz sei, ihm als Bett diene und beeilte sich, ihr den Stuhl Rasumichins anzubieten.
„Und du setzt dich hierher,“ – sagte er zu Rasumichin und wies ihn in die Ecke, wo Sossimoff gesessen hatte.
Ssonja setzte sich, fast zitternd vor Angst, und blickte schüchtern auf die beiden Damen. Man sah, daß sie selbst nicht begriff, wie sie sich neben sie hinsetzen konnte. Als es ihr bewußt wurde, erschrak sie so, daß sie wieder aufstand und sich in völliger Verwirrung an Rasumichin wandte.
„Ich ... ich ... bin nur auf einen Augenblick gekommen, verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe,“ – sagte sie stockend.
„Ich komme im Auftrage Katerina Iwanownas, sie hatte sonst niemanden zum Schicken ... Und Katerina Iwanowna läßt Sie sehr bitten, zu der Totenmesse morgen früh ... zu kommen. Nach dem Gottesdienst ... auf dem Mitrofaniewschen Friedhof und nachher bei uns ... bei ihr ... zu essen ... Ihr die Ehre zu erweisen ... Sie läßt Sie bitten.“
Sie stockte und verstummte.
„Ich will es unbedingt versuchen ... unbedingt,“ – antwortete Raskolnikoff, indem er sich auch erhob, ebenso stockte und nicht ausredete. – „Bitte, tun Sie mir den Gefallen, setzen Sie sich,“ – sagte er plötzlich, – „ich muß mit Ihnen sprechen. Bitte, – Sie haben es vielleicht eilig, – tun Sie mir aber den Gefallen und schenken Sie mir nur noch zwei Minuten ...“ und er schob ihr den Stuhl hin. Ssonja setzte sich wieder, und wieder warf sie schüchtern und verstört einen schnellen Blick auf die beiden Damen und senkte sogleich wieder die Augen.
Das bleiche Gesicht Raskolnikoffs errötete; er schien wie umgewandelt, seine Augen funkelten.
„Mama,“ – sagte er fest und eindringlich, – „das ist Ssofja Ssemenowna Marmeladowa, die Tochter des unglücklichen Herrn Marmeladoff, der gestern vor meinen Augen vom Pferde zu Boden getreten wurde, was ich Ihnen schon erzählt habe ...“
Pulcheria Alexandrowna blickte nach Ssonja und kniff ein wenig die Augen zusammen. Trotz ihrer Verlegenheit vor dem eindringlichen und herausfordernden Blicke Rodjas konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen. Dunetschka sah ernst und unverwandt dem armen Mädchen ins Gesicht und betrachtete sie unschlüssig. Als Ssonja diese Vorstellung hörte, erhob sie die Augen auf einen Augenblick und wurde noch mehr verlegen.
„Ich wollte Sie fragen,“ – wandte sich Raskolnikoff schnell zu ihr, – „wie hat sich heute alles bei Ihnen gemacht? Hat man sie nicht belästigt? ... Zum Beispiel die Polizei.“
„Nein, alles ging glatt ... Es war doch deutlich zu sehen, woran er gestorben ist; man hat uns weiter nicht belästigt, nur die Mieter sind böse.“
„Warum?“
„Weil die Leiche so lange steht ... jetzt ist es doch heiß, es gibt einen Geruch ... so daß man die Leiche heute zur Abendmesse auf den Friedhof tragen wird, und läßt sie dort bis morgen in der Kapelle stehen. Katerina Iwanowna wollte es zuerst nicht, jetzt aber sieht sie selbst ein, daß es so besser ist ...“
„Also heute?“
„Sie bittet Sie, uns die Ehre zu erweisen, morgen bei der Totenmesse in der Kirche zu sein, und dann bei ihr zu essen.“
„Sie gibt zu seinem Andenken ein Essen?“
„Ja, einen Imbiß; sie läßt Ihnen sehr danken, daß Sie gestern uns geholfen haben ... ohne Sie wäre gar nichts da, womit man ihn hätte beerdigen können.“
Ihre Lippen und ihr Kinn bebten plötzlich, aber sie nahm sich zusammen, hielt an sich, und senkte wieder die Augen zu Boden.
Während des Gespräches schaute sie Raskolnikoff unverwandt an. Sie hatte ein zartes, ganz mageres und blasses Gesichtchen, ziemlich unregelmäßige Züge, mit einer spitzen kleinen Nase und ebensolchem Kinn. Man konnte sie nicht einmal hübsch nennen, aber ihre blauen Augen waren so klar, und, wenn sie sich belebten, wurde der Ausdruck ihres Gesichtes so gut und schlicht, daß sie einen unwillkürlich anzog. In ihrem Gesichte und auch in ihrer ganzen Gestalt lag außerdem etwas besonders Charakteristisches, – trotz ihrer achtzehn Jahre sah sie jünger aus als sie war, fast wie ein Kind, und dies zeigte sich zuweilen in gelungener Weise bei einigen ihrer Bewegungen.
„Aber wie konnte denn Katerina Iwanowna mit so wenig Mitteln auskommen, und hat dazu noch die Absicht, ein Essen zu geben?“ ... fragte Raskolnikoff, bestrebt, das Gespräch fortzuführen.
„Der Sarg ist einfach ... und alles ist einfach, so daß es nicht teuer kommt ... wir haben vorhin mit Katerina Iwanowna alles ausgerechnet, es bleibt noch so viel übrig, um sein Andenken zu ehren ... und Katerina Iwanowna möchte das so sehr gern. Man kann nichts dagegen sagen ... ihr ist es ein Trost ... so ist sie nun, Sie wissen doch ...“
„Ich verstehe, verstehe ... Selbstverständlich ... Warum betrachten Sie so mein Zimmer? Meine Mama sagt auch, daß es einem Sarge ähnelt.“
„Sie haben gestern uns alles gegeben!“ – sagte plötzlich Ssonjetschka leise und hastig, und schlug wieder die Augen nieder.
Ihre Lippen und ihr Kinn bebten wieder. Sie war längst schon von der ärmlichen Umgebung Raskolnikoffs überrascht, und jetzt waren ihr diese Worte entschlüpft. Es trat Schweigen ein. Dunetschkas Augen schienen zu leuchten, und Pulcheria Alexandrowna blickte Ssonja freundlich an.
„Rodja,“ – sagte sie, sich erhebend, – „wir essen selbstverständlich zusammen zu Mittag. Dunetschka, komm ... Rodja, du solltest ausgehen, etwas spazieren gehen, dann dich ausruhen, hinlegen, und dann kommst du zu uns ... Ich fürchte, wir haben dich ermüdet ...“
„Ja, ja, ich will kommen,“ – antwortete er eilig im Aufstehen, – „... ich habe übrigens noch zu tun ...“
„Ja, werdet ihr nicht mal zusammen zu Mittag essen?“ – rief Rasumichin und blickte erstaunt Raskolnikoff an. – „Was ist mit dir?“
„Ja, ja, ich komme selbstverständlich ... Bleibe noch einen Augenblick. Sie brauchen ihn doch jetzt nicht, Mama? Oder nehme ich ihn euch vielleicht weg?“
„Ach, nein, nein! Und Sie, Dmitri Prokofjitsch, kommen Sie zu Mittag, seien Sie so gut.“
„Bitte, kommen Sie,“ – bat auch Dunetschka.
Rasumichin verbeugte sich und strahlte förmlich. Auf einen Augenblick waren alle sonderbar verlegen.
„Lebwohl, Rodja, das heißt, auf Wiedersehen! Ich liebe nicht ‚lebwohl‘ zu sagen. Lebwohl, Nastasja, ... ach, wieder habe ich ‚lebwohl‘ gesagt! ...“
Pulcheria Alexandrowna wollte sich auch vor Ssonjetschka verbeugen, aber sie brachte es nicht fertig und ging eilig aus dem Zimmer.
Awdotja Romanowna wartete, bis die Reihe an sie kam, und als sie hinter der Mutter an Ssonja vorbeiging, verabschiedete sie sich von ihr mit einem aufmerksamen, höflichen und achtungsvollen Gruß. Ssonjetschka wurde verlegen, grüßte hastig und erschrocken, und ein schmerzliches Empfinden drückte sich in ihrem Gesichte aus, als ob die Höflichkeit und Aufmerksamkeit Awdotja Romanownas sie bedrückte und peinigte.
„Dunja, lebwohl!“ – rief Raskolnikoff ihr auf der Treppe nach, – „gib mir doch die Hand!“
„Ich habe sie dir doch gereicht, hast du es vergessen?“ antwortete Dunja innig und wandte sich zu ihm um.
„Nun, was tut es, gib sie mir noch einmal!“
Und er drückte stark ihre kleinen Finger. Dunetschka lächelte ihm zu, errötete, riß schnell ihre Hand aus der seinen und ging glücklich der Mutter nach.
„Nun, das ist prächtig!“ – sagte er zu Ssonja, indem er in sein Zimmer zurückkehrte und sie klar anblickte, – „gebe Gott den Toten die Ruhe und lasse die Lebenden leben! Nicht wahr? Nicht wahr? Es ist doch so?“
Ssonja sah verwundert in sein plötzlich erhelltes Gesicht; er blickte sie einige Augenblicke schweigend und unverwandt an, – was ihr verstorbener Vater von ihr erzählt hatte, lebte in dieser Minute in seiner Erinnerung auf ...
„Herrgott, Dunetschka!“ – sagte Pulcheria Alexandrowna, als sie kaum auf der Straße waren, – „ich freue mich, daß wir weggegangen sind; es wird mir leichter zumute. Wie hätte ich mir gestern im Eisenbahnwagen denken können, daß ich darüber froh sein könnte!“
„Ich sage Ihnen noch einmal, Mama, daß er noch sehr krank ist. Können Sie es denn nicht sehen? Vielleicht ist er so aufgeregt, weil er unseretwegen litt. Man muß nachsichtig sein, und man kann vieles, vieles verzeihen.“
„Du aber warst nicht nachsichtig!“ – unterbrach sie eifrig und eifersüchtig Pulcheria Alexandrowna. – „Weißt du, Dunja, ich sah euch beide an, du bist sein Ebenbild, und nicht so sehr äußerlich als seelisch, beide seid ihr schwerblütig, beide seid ihr düster und jähzornig, beide hochmütig und beide hochherzig ... Es kann doch nicht sein, daß er ein Egoist ist, Dunetschka, he? ... Und wenn ich daran denke, was uns heute abend bevorsteht, so steht mir das Herz still!“
„Regen Sie sich nicht auf, Mama, es wird geschehen, was geschehen muß.“
„Dunetschka! Denk doch nur, in welcher Lage wir jetzt sind! Was geschieht, wenn Peter Petrowitsch sich zurückzieht?“ – sagte unvorsichtigerweise die arme Pulcheria Alexandrowna.
„Ja, und was ist er dann wert?“ – antwortete Dunetschka scharf und verächtlich.
„Wir haben gut getan, daß wir jetzt weggingen,“ – beeilte sich Pulcheria Alexandrowna fortzufahren, – „er hatte etwas Eiliges vor; mag er ausgehen, er wird frische Luft amten ... es ist furchtbar dumpf bei ihm ... aber wo kann man hier frische Luft atmen? Auch auf den Straßen hier ist es wie in einem Zimmer ohne Ventilation – Herrgott, was ist das für eine Stadt! ... Warte doch, geh aus dem Wege, man wird dich noch umstoßen, sie tragen da etwas! Ein Klavier tragen sie, wirklich ... wie sie stoßen ... Dieses Mädchen fürchte ich auch sehr ...“
„Was für ein Mädchen, Mama?“
„Ja, diese dort, Ssofja Ssemenowna, die soeben da war ...“
„Warum denn?“
„Ich habe so eine Ahnung, Dunja. Nun, glaube mir oder nicht, aber als sie hereinkam, dachte ich im selben Augenblick, daß hier die Hauptsache sei ...“
„Nichts ist da!“ – rief Dunja ärgerlich aus. – „Was haben Sie auch für Ahnungen, Mama! Er kennt sie erst seit gestern, und jetzt, als sie hereintrat, erkannte er sie nicht einmal gleich.“
„Nun, du wirst sehen! ... Sie bringt mich in Verwirrung, du wirst sehen, wirst sehen! Und ich bin so erschrocken, – sie blickt mich an und blickt mich an, hat solche Augen, ich konnte kaum auf dem Stuhle sitzen bleiben, erinnerst du dich, als er sie vorstellte? Und sonderbar erscheint es mir, – Peter Petrowitsch schreibt über sie in solcher Weise, und er stellt sie uns vor und dir noch dazu! Sie muß ihm doch teuer sein!“
„Er schreibt über vieles! Über uns hat man auch gesprochen und geschrieben, haben Sie es vergessen? Und ich bin überzeugt, daß sie ... gut ist, und daß alles Unsinn ist!“
„Möge es Gott geben!“
„Und Peter Petrowitsch ist ein häßliches Klatschmaul,“ – schnitt plötzlich Dunetschka ab.
Pulcheria Alexandrowna fuhr zusammen. Das Gespräch war plötzlich abgebrochen. – –
„Höre, höre mal, ich habe etwas mit dir vor ...“ – sagte Raskolnikoff und führte Rasumichin zum Fenster hin.
„Also, ich will Katerina Iwanowna ausrichten, daß Sie kommen ...“ wollte sich Ssonjetschka verabschieden.
„Sofort, Ssofja Ssemenowna, wir haben keine Geheimnisse, Sie stören nicht ... Ich möchte Ihnen noch ein paar Worte sagen ... Höre mal,“ – wandte er sich wieder an Rasumichin. – „Du kennst doch diesen ... Wie heißt er? ... Porphyri Petrowitsch?“
„Und ob? Er ist doch verwandt mit mir. Weshalb?“ – fügte jener mit Neugier hinzu.
„Er führt doch jetzt diese Sache ... nun, über den Mord ... worüber ihr gestern gesprochen habt ...?“
„Ja ... und?“ – Rasumichin sperrte die Augen auf.
„Er hat die Pfandgeber befragt, ich habe auch dort versetzt, Kleinigkeiten, jedoch auch einen Ring von der Schwester, den sie mir zum Andenken schenkte, als ich abreiste, und die silberne Uhr meines Vaters. Alles das kostet fünf oder sechs Rubel, mir aber sind sie zu teuer als Andenken. Was soll ich jetzt tun? Ich will nicht, daß die Sachen verloren gehen, besonders die Uhr. Ich bebte davor, daß die Mutter danach fragen würde, als wir über Dunetschkas Uhr sprachen. Es ist das einzige, was vom Vater herrührt. Sie wird krank werden, wenn die Uhr verloren geht! Frauen sind einmal so! Also, was soll ich tun, sage es mir! Ich weiß, daß ich im Polizeibureau es anmelden muß. Ist es aber nicht besser, sich an Porphyri selbst zu wenden?? Ah! He! Wie meinst du? Man müßte es schnell tun. Du wirst sehen, daß die Mutter mich vor dem Mittage danach noch fragt.“
„Keinesfalls im Polizeibureau, unbedingt sich an Porphyri wenden!“ rief Rasumichin in ungewöhnlicher Aufregung. – „Nun, wie ich froh bin! Ja, was ist da viel zu denken, gehen wir sofort hin, es sind bloß zwei Schritte, wir treffen ihn bestimmt an.“
„Meinetwegen ... gehen wir zu ihm ...“
„Und er wird sehr, sehr erfreut sein, dich kennenzulernen! Ich habe ihm viel von dir gesprochen, zu verschiedenen Malen ... Auch gestern wieder. Gehen wir! ... Also du hast die Alte gekannt? So so! ... Ausgezeichnet hat sich alles gemacht! ... Ach, ja ... Ssofja Iwanowna ...“
„Ssofja Ssemenowna,“ – korrigierte ihn Raskolnikoff. – „Ssofja Ssemenowna, das ist mein Freund Rasumichin, und ein guter Mensch ist er ...“
„Wenn Sie jetzt gehen müssen ...“ – begann Ssonja, wobei sie Rasumichin gar nicht angesehen hatte, was sie noch mehr verwirrt machte.
„Nun, gehen wir!“ – beschloß Raskolnikoff, – „ich komme zu Ihnen heute noch, Ssofja Ssemenowna, sagen Sie mir, wo Sie wohnen.“
Er war nicht verwirrt, aber er schien es eilig zu haben und vermied ihren Blick. Ssonja gab ihre Adresse und errötete dabei. Sie gingen gleichzeitig fort.
„Schließt du denn das Zimmer nicht ab?“ – sagte Rasumichin, hinter ihnen die Treppe hinabsteigend.
„Nie! ... ich will schon seit zwei Jahren ein Schloß kaufen,“ – fügte er nachlässig hinzu. – „Glücklich sind die Menschen, die nichts abzuschließen haben, nicht wahr?“ – wandte er sich lachend an Ssonja.
Auf der Straße blieben sie am Tore stehen.
„Sie müssen nach rechts, Ssofja Ssemenowna! Wie haben Sie mich denn gefunden?“ – fragte er sie, schien aber etwas ganz anderes sagen zu wollen.
Er wollte die ganze Zeit in ihre stillen klaren Augen blicken, und es gelang ihm immer nicht ...
„Sie gaben doch gestern Poletschka Ihre Adresse.“
„Polja? Ach ja ... Poletschka! Das ist ... die Kleine ... das ist Ihre Schwester? Also, ich gab ihr meine Adresse!“
„Haben Sie es denn vergessen?“
„Nein ... ich erinnere mich ...“
„Und ich habe von Ihnen noch durch den Verstorbenen gehört ... Ich kannte bloß damals Ihren Namen nicht, und auch er selbst wußte ihn nicht ... Jetzt aber kam ich ... und als ich gestern Ihren Namen hörte ... da fragte ich heute: wo wohnt hier Herr Raskolnikoff? ... Und ich wußte nicht, daß Sie auch ein Zimmer gemietet ... Leben Sie wohl ... Ich will Katerina Iwanowna ...“
Sie war sehr froh, daß sie endlich loskam; und ging mit gesenktem Kopfe eilig, um nur schneller aus ihren Augen zu verschwinden, um nur schneller diese zwanzig Schritte bis zur Biegung nach rechts in die Seitenstraße zu durcheilen und endlich allein zu sein; um im schnellen Gehen, ohne jemand anzublicken und unbeachtet, nachzudenken, sich zu erinnern und jedes Wort und jeden Umstand sich zurückzurufen. Nie, nie hatte sie Ähnliches empfunden. Eine ganz neue Welt war unbekannt und dunkel in ihre Seele gedrungen. Sie erinnerte sich plötzlich, daß Raskolnikoff heute selbst zu ihr kommen wollte, vielleicht schon heute morgen, vielleicht gleich!
„Besser nicht heute, bitte, nicht heute!“ – murmelte sie mit stockendem Herzen, als flehe sie jemand an, wie ein erschrecktes Kind. – „Herrgott! Zu mir ... in dies Zimmer ... er wird sehen ... oh, Gott!“
Sie konnte sicher in diesem Augenblicke den fremden Herrn nicht bemerken, der eifrig sie beobachtete und ihr auf den Fersen folgte. Er begleitete sie schon von dem Tore der Wohnung Raskolnikoffs an. In dem Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikoff und sie auf dem Fußsteige, um ein paar Worte zu wechseln, stehen blieben, schien dieser Vorübergehende plötzlich aufzufahren, als er an ihnen vorbeiging und zufällig die Worte Ssonjas auffing, – „da fragte ich, wo wohnt hier Herr Raskolnikoff?“ Er warf einen schnellen, aber aufmerksamen Blick allen dreien zu, besonders aber Raskolnikoff, an den sich Ssonja wandte, sah dann das Haus an und merkte es sich. Dies alles war in einem kurzen Augenblick, im Vorbeigehen geschehen und unauffällig, nun verminderte er seine Schritte, als wartete er. Er wartete auf Ssonja, denn er hatte gesehen, daß sie sich verabschiedete und wohl sofort nach Hause gehen würde.
„Aber wohin nach Hause? Ich habe dieses Gesicht irgendwo gesehen,“ – dachte er und forschte in seiner Erinnerung nach dem Gesicht Ssonjas, – „... ich muß es erfahren.“ Als er die Biegung erreichte, ging er auf die andere Seite der Straße hinüber, wandte sich um und sah, daß Ssonja denselben Weg wie er eingeschlagen hatte und ihn nicht gewahrte. Sie bog in dieselbe Straße ein. Er verlor sie nicht aus den Augen und ging nach etwa fünfzig Schritten wieder auf dieselbe Seite hinüber, auf der Ssonja dahinschritt, holte sie ein und folgte ihr auf fünf Schritt Entfernung. – Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas mehr als mittelgroß, wohlbeleibt, mit breiten und schrägen Schultern, was ihm ein etwas gebücktes Aussehen verlieh. Er war elegant und bequem gekleidet und sah ansehnlich aus. In den Händen trug er einen hübschen Stock, den er bei jedem Schritt auf das Trottoir aufstieß, und seine Hände staken in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen war nicht unangenehm, und seine Gesichtsfarbe frisch, nicht von Petersburger Art. Sein noch sehr dichtes Haar war ganz hellblond und kaum leicht ergraut, und der breite dichte Bart, der wie eine Schaufel herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine blauen Augen blickten kalt, durchdringend und sinnend; die Lippen waren rot. Überhaupt war er ein ausgezeichnet konservierter Mann und schien bedeutend jünger zu sein, als er war.
Als Ssonja auf den Kanal hinauskam, waren sie beide allein auf dem Fußsteige. Während er sie beobachtete, hatte er schon ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Ssonja ihr Haus erreichte, ging sie durch das Tor, er folgte ihr und schien überrascht zu sein. Im Hofe bog sie rechts in die Ecke ab, wo die Treppe zu ihrer Wohnung war. „Ah!“ – murmelte der Unbekannte und begann hinter ihr her die Stufen hinaufzusteigen. Hier erst bemerkte ihn Ssonja. Sie ging bis ins dritte Stockwerk, bog in den Korridor ein und klingelte an der Türe Nr. 9, wo mit Kreide – „Kapernaumoff, Schneider“ – angeschrieben war. „Ah!“ – wiederholte der Unbekannte, verwundert über dieses seltsame Zusammentreffen, und klingelte an der Türe Nr. 8. Beide Türen waren voneinander kaum sechs Schritte entfernt.
„Sie wohnen bei Kapernaumoff!“ sagte er, blickte Ssonja an und lachte. „Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben Ihnen bei Madame Gertrude Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!“ Ssonja schaute ihn aufmerksam an.
„Wir sind also Nachbarn,“ fuhr er besonders freundlich fort. „Ich bin erst seit drei Tagen in der Stadt. Nun, vorläufig auf Wiedersehen.“
Ssonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet und sie schlüpfte hinein. Sie schämte sich und schien sich zu ängstigen ...
Rasumichin war auf dem Wege zu Porphyri in besonders aufgeregtem Zustande.
„Das ist prächtig, Bruder,“ wiederholte er ein paarmal, „und ich freue mich! Ich freue mich!“
„Ja, worüber freut er sich?“ dachte Raskolnikoff.
„Ich wußte gar nicht, daß du auch bei der Alten versetzt hast. Und ... und ... ist es lange her? Das heißt, warst du vor längerer Zeit bei ihr?“
„Wie naiv und dumm er ist!“
„Wann? ...“ Raskolnikoff blieb stehen und besann sich: „Ja, drei Tage vielleicht vor ihrem Tode war ich dort. Übrigens, ich gehe doch nicht jetzt hin, um die Sachen auszulösen,“ sagte er hastig und wie besorgt um seine Sachen, „ich habe ja wieder bloß einen einzigen Rubel in Silber ... infolge des gestrigen verfluchten Fieberanfalls ...“
Den Fieberanfall betonte er besonders.
„Nun, ja, ja, ja,“ bestätigte Rasumichin eilig, „also darum auch hat dich ... er damals überrascht ... und weißt du, du hast auch im Fieber von allerhand Ringen und Ketten immer phantasiert! ... Nun, ja, ja ... Das ist klar, alles ist jetzt klar.“
„Also doch! Wie dieser Gedanke bei ihnen sich festgesetzt hat! Dieser da, dieser Mensch ließe sich für mich ans Kreuz schlagen, und er ist doch froh, daß es sich geklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen redete! Wie tief es bei ihnen allen wurzelt! ...“
„Werden wir ihn auch antreffen?“ fragte er laut.
„Wir treffen ihn bestimmt an,“ beeilte sich Rasumichin zu antworten. „Er ist ein prächtiger Bursche, du wirst sehen! Ein wenig plump, das heißt, er ist wohl Weltmann, aber ich meine in anderem Sinne ist er plump. Ein kluger Bursche. Er hat nur eine eigentümliche Denkweise. Mißtrauisch, skeptisch, ein Zyniker ... liebt er zu betrügen, das heißt nicht zu betrügen, sondern einen anzuführen ... Er hat die alte Mode auf Indizien ... versteht aber seine Sache, versteht sie gut ... Er hat im vorigen Jahre das Dunkel über einen Mord ausgetüftelt, wo fast alle Spuren schon verloren waren! Er wünscht sehr, dich kennenzulernen!“
„Ja, warum denn sehr?“
„Das heißt, nicht etwa so ... siehst du, in der letzten Zeit, als du krank wurdest, hatte ich viel und oft Gelegenheit, dich zu erwähnen ... Nun, er hörte zu ... und als er erfuhr, daß du Jura studiert hast und infolge allerhand Umstände den Kursus nicht beenden konntest, sagte er, wie schade! Ich folgerte daraus ... das heißt, dies alles zusammen, nicht nur dies eine ... gestern hat Sametoff ... Siehst du, Rodja, ich habe dir gestern in meiner Betrunkenheit, als wir nach Hause gingen, etwas erzählt ... und ich fürchte nun, Bruder, daß du es übertreiben könntest, siehst du ...“
„Was denn? Daß man mich für verrückt hält? Ja, vielleicht ist es auch wahr.“
Er lächelte gezwungen.
„Ja, ja ... das heißt, pfui, nein! ... Nun, alles, was ich sprach ... und auch über anderes, ist Unsinn und in Betrunkenheit gesagt.“
„Ja, wozu entschuldigst du dich! Wie mir das alles zum Ekel ist!“ rief Raskolnikoff mit übertriebener, zum Teil gespielter Gereiztheit.
„Ich weiß, ich weiß, verstehe es. Sei überzeugt, daß ich es verstehe. Ich sollte mich schämen, davon nur zu sprechen ...“
„Wenn du dich schämst, was sprichst du darüber!“
Beide verstummten. Rasumichin war äußerst vergnügt und Raskolnikoff fühlte es voll Widerwillen. Ihn beunruhigte auch das, was Rasumichin soeben über Porphyri erzählt hatte.
„Vor dem muß man auch ein Klagelied anstimmen,“ dachte er erbleichend und mit Herzklopfen, „und es recht natürlich machen. Am besten wäre vielleicht, nichts vorzuklagen. Absichtlich nichts vorklagen! Nein, absichtlich wäre wieder nicht natürlich ... Nun, wie es sich macht ... wir werden ja sehen ... bald genug ... aber ist es gut oder nicht gut, daß ich hingehe? Der Schmetterling fliegt von selbst ins brennende Licht. Mein Herz klopft, das ist nicht gut! ...“
„In diesem grauen Hause wohnt er,“ sagte Rasumichin.
„Am wichtigsten ist es, ob Porphyri es weiß oder nicht, daß ich gestern in der Wohnung dieser Hexe war ... und von dem Blut sprach? Sogleich muß ich es erfahren, beim ersten Schritt, wenn ich hineinkomme, muß ich es ihm am Gesichte anmerken; sonst ... und wenn ich zugrunde gehe, ich muß es erfahren!“
„Weißt du auch?“ wandte er sich plötzlich an Rasumichin mit einem schelmischen Lächeln, „ich habe bemerkt, Bruder, daß du dich seit heute früh in einer ungewöhnlichen Aufregung befindest? Ist es so?“
„In was für einer Aufregung? In gar keiner Aufregung,“ fuhr Rasumichin auf.
„Nein, Bruder, es ist dir tatsächlich anzusehen. Auf dem Stuhl saßest du vorhin, wie du sonst nie sitzest, so nur auf einem Endchen und die ganze Zeit durchzuckte es dich, wie wenn du Krämpfe hättest. Du sprangst mir nichts dir nichts auf. Bald sahst du böse aus, bald verzog sich dein Gesicht plötzlich zu einem süßen Lächeln. Sogar rot wurdest du, besonders als man dich zu Mittag einlud.“
„Nichts von alledem ist wahr, du lügst! ... Was denkst du dir?“
„Ja, und jetzt drehst und wendest du dich wie ein Schulbube? Pfui! Teufel! Er ist schon wieder rot geworden!“
„Was du für ein Schwein bist!“
„Ja, warum wirst du so verlegen? Romeo! Warte, ich will es irgend jemanden heute noch erzählen, ha–ha–ha! Ich werde Mama zum Lachen bringen ... und noch jemand ...“
„Höre mal, höre, aber im Ernste, es ist doch ... Was soll das bedeuten, zum Teufel!“ Rasumichin wurde ganz verwirrt und starr vor Schrecken. „Was willst du ihnen erzählen? Ich bin, Bruder ... Pfui, welch ein Schwein du bist!“
„Du bist wie eine Frühlingsrose! Und wie es dir steht, wenn du es nur wüßtest. Romeo, ein neuer Romeo! Und wie du dich heute gewaschen hast, vielleicht auch die Nägel gereinigt? Ah? Wann war dies zuletzt der Fall? Und du hast dich, bei Gott, mit Pomade eingeschmiert! Beuge dich mal!“
„Schwein!“
Raskolnikoff lachte so stark, daß er sich nicht mehr halten konnte, mit Lachen traten sie auch in die Wohnung von Porphyri Petrowitsch ein. Das wollte eben Raskolnikoff bezwecken, – drinnen in den Zimmern konnte man es hören, daß sie lachend ins Vorzimmer eingetreten waren und dort immer noch lachten.
„Kein Wort hier, oder ich ... zerschmettere dich!“ flüsterte Rasumichin und packte wütend Raskolnikoff an der Schulter.
Sie gingen hinein. Raskolnikoff sah aus, als hielte er mit Gewalt an sich, um nicht loszuplatzen. Ihm folgte mit gänzlich verändertem Gesichte Rasumichin, rot wie eine Päonie, vor Scham und Wut, und verlegen. Sein Gesicht und die ganze Gestalt waren in diesem Augenblicke lächerlich und rechtfertigten Raskolnikoffs Heiterkeit. Raskolnikoff, dem Hausherrn noch nicht bekannt, verbeugte sich vor ihm, der mitten im Zimmer stand und sie fragend anblickte, reichte ihm die Hand und drückte die seinige, immer noch mit sichtlicher, großer Mühe seine Lustigkeit bekämpfend, um wenigstens ein paar Worte sagen und sich vorstellen zu können. Aber kaum war es ihm gelungen, eine ernste Miene anzunehmen und etwas hinzumurmeln, – als er plötzlich, wie unwillkürlich wieder Rasumichin anblickte und da hielt er es nicht mehr aus, – sein unterdrücktes Lachen brach um so ungestümer hervor, je stärker er es bis jetzt zurückgehalten hatte. Die ungewöhnliche Wut, mit der Rasumichin dieses „herzliche“ Lachen auffaßte, verlieh diesem ganzen Auftritt das Aussehen von aufrichtigster Lustigkeit und, was die Hauptsache war, Natürlichkeit. Rasumichin trug, als beabsichtigte er’s, noch viel dazu bei.
„Pfui, zum Teufel!“ brüllte er, holte mit der Hand aus und traf einen kleinen runden Tisch, auf dem ein leeres Teeglas stand. Alles fiel hin und zerbrach.
„Ja, warum müssen denn gleich Stühle zerschlagen werden, meine Herren, das ist ein Verlust für den Staat!“ rief Porphyri Petrowitsch lachend aus.
Der Auftritt stellte sich wie folgt dar, – Raskolnikoff lachte weiter, seine Hand in der Hand des Hausherrn lassend, aber er kannte das Maß und wartete nur auf den Augenblick, um schnell und natürlich zu enden. Rasumichin, durch den Fall des Tisches und des zerschlagenen Glases völlig verwirrt, blickte düster auf die Scherben, spie aus und drehte sich schroff nach dem Fenster, wo er sich mit dem Rücken gegen die übrigen hinstellte und mit fürchterlich finsterem Gesichte hinausschaute, aber nichts sah. Porphyri Petrowitsch lachte und hätte noch mehr gelacht, wenn er nur eine Erklärung dafür gehabt hätte. In der Ecke auf einem Stuhle hatte Sametoff gesessen, der sich beim Eintritt der Besucher erhob und in Erwartung dastand; sein Mund war zu einem Lächeln verzogen, aber er schaute stutzig und mißtrauisch dem ganzen Auftritt zu und sah Raskolnikoff verwirrt an. Die unerwartete Anwesenheit Sametoffs überraschte Raskolnikoff unangenehm.
„Da muß man sich in acht nehmen!“ dachte er.
„Entschuldigen Sie, bitte,“ begann er plötzlich ganz verlegen, „Raskolnikoff ...“
„Erlauben Sie aber, sehr angenehm, und Sie kamen so angenehm herein ... Was, will er nicht mal ‚Guten Tag‘ sagen?“ wies Porphyri Petrowitsch auf Rasumichin.
„Bei Gott, ich weiß nicht, warum er auf mich wütend ist. – Ich sagte ihm bloß auf dem Wege hierher, daß er Romeo ähnlich sei und ... habe es bewiesen, sonst war nichts.“
„Du bist ein Schwein!“ rief Rasumichin, ohne sich umzuwenden.
„Er hatte also sehr ernste Gründe, um wegen dieses einzigen Wortes so böse zu werden,“ lachte Porphyri Petrowitsch.
„Nun auch der Untersuchungsrichter! ... Zum Teufel mit euch allen!“ schnitt Rasumichin ab, plötzlich aber lachte er selbst und ging mit heiterem Gesichte, als wäre nichts vorgefallen, auf Porphyri Petrowitsch zu.
„Schluß damit! Alle seid ihr Dummköpfe. Jetzt zur Sache, – hier ist mein Freund, Rodion Romanytsch Raskolnikoff, der erstens von dir viel gehört hat und mit dir bekannt werden wollte, und der zweitens ein kleines Ansuchen an dich hat. Ah! Sametoff! Wie kommst du hierher? Kennt ihr denn einander? Seid ihr schon lange bekannt?“
„Was bedeutet das!“ dachte Raskolnikoff voll Unruhe.
Sametoff schien ein wenig verlegen zu werden.
„Wir haben uns gestern doch bei dir kennengelernt,“ sagte er ungezwungen.
„Also hat mich Gott vor Schererei behütet; in der vorigen Woche hat er mich geplagt, ihn mit dir, Porphyri, irgendwie bekannt zu machen, und nun habt ihr euch, ohne meine Hilfe, gefunden ... Wo hebst du deinen Tabak auf?“
Porphyri Petrowitsch war in Hauskleidung, – in einem Schlafrock, sehr reiner Wäsche und in abgetretenen Pantoffeln. Es war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, unter Mittelgröße, dick, mit einem Bäuchlein, glattrasiert, ohne Schnurrbart, mit kurz geschnittenem Haare auf dem großen runden Kopfe, der nach hinten zu besonders gewölbt war. Sein volles, rundes und ein wenig stumpfnäsiges Gesicht hatte eine kränkliche, dunkelgelbe Farbe, war aber munter und sogar spöttisch. Es wäre gutmütig zu nennen, wenn nicht der Ausdruck der Augen, die mit fast weißen, zwinkernden Wimpern bedeckt waren, mit ihrem wässerigen Glanze störend gewirkt hätte. Der Blick dieser Augen paßte wenig zu der ganzen Gestalt, die entschieden etwas Weibisches an sich hatte, und machte ihn viel ernster, als man beim ersten Anblick vermutete.
Als Porphyri Petrowitsch vernahm, daß der Besucher ein kleines Ansuchen an ihn habe, bat er ihn sofort, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er setzte sich selbst in die andere Ecke und sah den Besucher voll Erwartung mit einer starken und zu ernsten Aufmerksamkeit an, die bedrücken und vollends gleich beim ersten Zusammensein verwirren mußte, um so mehr, wenn das, was man vorzubringen hat, durchaus in keinem Verhältnisse zu einer so ungewöhnlichen Aufmerksamkeit zu stehen scheint. Raskolnikoff jedoch legte seine Angelegenheit in kurzen und bündigen Worten, deutlich und klar dar, und war mit sich so zufrieden, daß er noch Gelegenheit fand, Porphyri Petrowitsch genau zu betrachten. Auch Porphyri Petrowitsch wandte keinen Augenblick seine Augen von ihm ab. Rasumichin hatte an demselben Tische ihnen gegenüber Platz genommen und verfolgte eifrig und ungeduldig die Darstellung der Sache, wobei er alle Augenblicke und ziemlich auffällig seine Augen von einem zu dem andern gleiten ließ.
„Dummkopf!“ schimpfte Raskolnikoff bei sich.
„Sie müssen eine Eingabe an das Polizeibureau machen,“ antwortete mit Geschäftsmiene Porphyri, „daß Sie über diesen Vorfall, das heißt von diesem Mord erfahren haben, und bitten den Untersuchungsrichter, der diese Sache führt, zu benachrichtigen, daß die und die Sachen Ihnen gehören, und daß Sie sie einlösen möchten ... oder Ähnliches ... man wird Ihnen das übrigens sagen.“
„Das ist ja das Unbequeme, daß ich in diesem Augenblicke,“ Raskolnikoff bemühte sich, möglichst verlegen zu werden, „nicht recht bei Kassa bin ... und sogar so eine Kleinigkeit nicht kann ... sehen Sie, ich möchte jetzt nur erklären, daß es meine Sachen sind, und daß, wenn ich Geld haben werde, ich ...“
„Das ist einerlei,“ antwortete Porphyri Petrowitsch, die Erklärung über die Finanzlage kalt aufnehmend, „übrigens, Sie können auch direkt an mich, wenn Sie wollen, in demselben Sinne schreiben, daß Sie das und das in Erfahrung gebracht haben und die und die Sachen als Ihr Eigentum angeben und bitten ...“
„Man kann es auf einfachem Papiere schreiben?“ beeilte sich Raskolnikoff, ihn zu unterbrechen, wieder ein Interesse für die Geldfrage zeigend.
„Oh, auf dem allereinfachsten Papiere!“ und plötzlich blickte ihn Porphyri Petrowitsch spöttisch mit zusammengekniffenen Augen an und schien ihm zuzuzwinkern.
Vielleicht hatte es auch Raskolnikoff bloß so geschienen, denn es dauerte nur einen Augenblick. Etwas war wenigstens gewesen. Raskolnikoff hätte darauf schwören mögen, daß er ihm zugezwinkert habe, weiß der Teufel warum.
„Er weiß alles!“ durchzuckte es ihn wie ein Blitz.
„Entschuldigen Sie, daß ich Sie mit solchen Kleinigkeiten belästigt habe,“ fuhr er etwas verwirrt fort, „meine Sachen sind im ganzen höchstens fünf Rubel wert, aber sie sind mir besonders teuer, als ein Andenken an die, von denen ich sie erhalten habe und, offen gestanden, als ich es hörte, erschrak ich sehr ...“
„Darum fuhrst du auch gestern so auf, als ich Sossimoff erzählte, daß Porphyri die Pfandgeber ausfrage!“ bemerkte Rasumichin mit deutlicher Absicht.
Das war schon unerträglich. Raskolnikoff konnte sich’s nicht versagen, ihn wütend mit seinen vor Zorn funkelnden schwarzen Augen anzublicken. Er besann sich aber sofort.
„Du scheinst dich über mich lustig zu machen, Bruder?“ wandte er sich an ihn mit geschickt gespielter Gereiztheit. „Ich sehe es ein, daß ich vielleicht meine Sorge um diesen Schund übertreibe, der er doch in deinen Augen ist, aber man darf mich darum weder für einen Egoisten, noch für einen habgierigen Menschen halten, und für mich brauchen diese zwei geringen Gegenstände gar kein Schund zu sein. Ich sagte dir schon vorhin, daß diese silberne Uhr, die einen Spottwert hat, das einzige ist, was mir von meinem Vater geblieben ist. Du kannst dich über mich amüsieren, aber soeben ist meine Mutter angekommen,“ wandte er sich plötzlich an Porphyri, „und wenn sie erfahren würde,“ kehrte er sich wieder schnell zu Rasumichin und gab sich besondere Mühe, um mit der Stimme zu zittern, „daß diese Uhr verloren sei, so würde sie – schwöre ich – in Verzweiflung sein! Sie ist doch eine Frau!“
„Ich sagte es gar nicht in dem Sinne! Ganz im Gegenteil!“ rief Rasumichin gekränkt.
„War es auch gut? War es natürlich? Habe ich nicht übertrieben?“ sagte Raskolnikoff bebend zu sich selbst. „Warum sagte ich – sie ist doch eine Frau!“
„Ihre Frau Mutter ist zu Ihnen gekommen?!“ erkundigte sich aus irgendeinem Grunde Porphyri Petrowitsch.
„Ja.“
„Wann denn?“
„Gestern abend.“
Porphyri Petrowitsch schwieg, als überlege er etwas.
„Ihre Sachen konnten in keiner Weise verloren gehen,“ fuhr er ruhig und kalt fort. „Ich erwarte Sie schon seit langem.“
Und als wäre nichts vorgefallen, schob er sorgsam einen Aschbecher Rasumichin zu, der unbarmherzig die Asche von seiner Zigarette auf den Teppich streute. Raskolnikoff zuckte zusammen, aber Porphyri schien ihn nicht anzublicken, noch immer um Rasumichins Zigarette besorgt.
„Was? Du hast ihn erwartet! Wußtest du denn, daß auch er dort versetzt hatte?“ rief Rasumichin aus.
„Ihre beiden Sachen, der Ring und die Uhr, waren bei ihr in einem und demselben Stück Papier eingewickelt, und auf dem Papier war mit Bleistift deutlich Ihr Name vermerkt, ebenso auch das Datum, wann sie sie von Ihnen erhalten hatte ...“
„Wie genau Sie sind! ...“ lächelte ein wenig ungeschickt Raskolnikoff und versuchte, ihm in die Augen zu sehen, er konnte sich aber nicht enthalten, hinzuzufügen:
„Ich sage das nur deshalb, weil wahrscheinlich sehr viele Pfandgeber waren ... so daß es Ihnen doch schwer fallen mußte, sich aller zu erinnern ... Sie aber erinnern sich im Gegenteil an alles so deutlich, und ... und ...“
„Es war dumm! Schwach! Warum habe ich es hinzugefügt!“
„Alle Pfandgeber sind jetzt schon bekannt, so daß Sie der einzige sind, der sich noch nicht meldete,“ antwortete Porphyri Petrowitsch mit einem kaum merklichen Anfluge von Spott.
„Ich war nicht ganz gesund.“
„Auch davon habe ich gehört. Habe sogar gehört, daß Sie von etwas sehr mitgenommen waren. Sie sind auch jetzt noch etwas bleich!“
„Ich bin gar nicht bleich ... im Gegenteil, ich bin ganz gesund!“ schnitt ihn grob und böse Raskolnikoff ab, plötzlich seinen Ton verändernd.
Die Wut pochte in ihm und er konnte sie nicht unterdrücken. „Und in der Wut werde ich mich versprechen!“ durchzuckte es ihn von neuem. „Und warum quälen sie mich! ...“
„Nicht ganz gesund!“ hub Rasumichin an. „Wie er aufschneidet! Bis gestern noch phantasierte er und war bewußtlos ... Du kannst es mir glauben, Porphyri, er konnte kaum mehr auf den Füßen stehen, und trotzdem, als wir, Sossimoff und ich, gestern uns nur auf einen Augenblick entfernten, – zog er sich an, lief heimlich weg und irrte irgendwo fast bis Mitternacht herum, und das, sage ich dir, ganz im Fieber, kannst du dir so etwas vorstellen! Ein ganz merkwürdiger Fall!“
„Und geschah es wirklich ganz im Fieber? Sagen Sie mal?“ Mit einer weibischen Bewegung schüttelte Porphyri Petrowitsch den Kopf.
„Ah, Unsinn! Glauben Sie ihm nicht! Übrigens, Sie glauben es ja auch sowieso nicht!“ entschlüpfte es Raskolnikoff in seiner Wut.
Aber Porphyri Petrowitsch schien diese seltsamen Worte überhört zu haben.
„Wie konntest du dann weggehen, wenn du nicht im Fieber warst?“ ereiferte sich Rasumichin. „Warum bist du weggegangen? Wozu? ... Und warum gerade heimlich? Sag, warst du damals bei gesundem Verstande? Jetzt, wo die ganze Gefahr vorbei ist, sage ich es dir offen!“
„Ich war ihrer gestern überdrüssig geworden,“ wandte sich rasch Raskolnikoff an Porphyri Petrowitsch mit einem dreisten, herausfordernden Lächeln, „und ich lief von ihnen fort, mir eine Wohnung zu mieten, damit sie mich nicht wiederfinden sollten, und habe einen Haufen Geld mitgenommen. Herr Sametoff hat das Geld gesehen. Und sagen Sie, Herr Sametoff, war ich gestern vernünftig oder im Fieber, entscheiden Sie unseren Streit!“
Er hätte in diesem Augenblicke Sametoff erwürgen können. Dessen Blick und sein Schweigen waren ihm äußerst peinlich.
„Meiner Ansicht nach redeten Sie sehr vernünftig und sogar schlau, Sie waren bloß sehr reizbar,“ erklärte Sametoff trocken.
„Und heute sagte mir Nikodim Fomitsch,“ bemerkte Porphyri Petrowitsch, „er hätte Sie gestern noch sehr spät in der Wohnung eines überfahrenen Beamten getroffen ...“
„So nehmen wir diesen Fall her!“ begann Rasumichin, „warst du nicht verrückt bei diesem Beamten? Das letzte Geld hat er der Witwe für die Beerdigung gegeben! Und, wenn du helfen wolltest, – konntest du ihr fünfzehn oder zwanzig Rubel geben und wenigstens drei Rubel für dich behalten, du schenktest ihnen aber alle fünfundzwanzig.“
„Vielleicht habe ich irgendwo einen Schatz gefunden, was du noch nicht weißt? Darum war ich gestern auch so freigebig ... Herr Sametoff weiß, daß ich einen Schatz gefunden habe! ... Entschuldigen Sie, bitte,“ wandte er sich mit bebenden Lippen an Porphyri Petrowitsch, „daß wir Sie mit solchem kleinlichen Geschwätz eine halbe Stunde belästigen. Sie sind unserer überdrüssig, ja?“
„Erlauben Sie, im Gegenteil, im Ge–gen–teil! Wenn Sie wüßten, wie Sie mich interessieren! Es ist amüsant, zuzusehen und zuzuhören ... und ich bin, offen gesagt, so froh, daß Sie endlich einmal gekommen sind ...“
„Gib aber doch wenigstens Tee! Die Kehle trocknet einem ein!“ rief Rasumichin aus.
„Eine ausgezeichnete Idee! Vielleicht beteiligen Sie sich alle. Willst du aber nicht ... etwas Wesentlicheres vor dem Tee haben?“
„Nein, laß gut sein!“
Porphyri Petrowitsch ging hinaus, um Tee zu bestellen.
Die Gedanken drehten sich wie im Wirbelwinde in Raskolnikoffs Kopfe. Er war aufs äußerste gereizt.
„Das schönste ist, daß sie sich nicht mal verbergen und nicht einmal den Anstand wahren wollen! Aus welchem Grunde aber sprach er, wenn er mich gar nicht kennt, mit Nikodim Fomitsch über mich? Also wollen sie nicht mal verbergen, daß sie wie eine Koppel Hunde mich verfolgen! Sie speien mir ganz offen ins Gesicht!“ Er zitterte vor Wut. „Schlagt doch offen zu und spielt nicht wie die Katze mit der Maus. Das ist doch geschmacklos. Porphyri Petrowitsch, das erlaube ich dir einfach nicht! ... Ich stehe auf und schleudere allen die ganze Wahrheit ins Gesicht und Sie werden wenigstens sehen, wie ich Sie verachte!“ Er holte schwer Atem. „Wenn mir aber dies alles nur so vorkommt? Wenn dies aber bloß ein Spiel meiner Phantasie ist und ich mich irre, aus Unerfahrenheit mich ärgere und meine gemeine Rolle nicht gut spiele? Vielleicht ist alles ohne jede Absicht? Ihre Worte sind alle gewöhnlich, aber etwas liegt doch in ihnen ... All dieses kann stets gesagt werden, aber etwas ist doch dabei. Warum sagte er einfach – ‚bei ihr?‘ Warum fügte Sametoff hinzu, daß ich schlau gesprochen habe? Warum reden sie in solch einem Tone? Ja ... der Ton ... Aber Rasumichin saß doch auch hier, warum fiel ihm nichts auf? Diesem naiven Holzklotze fällt eben nie etwas auf! Ich habe wieder Fieber! ... Zwinkerte mir Porphyri Petrowitsch vorhin zu oder nicht? Es war sicher nichts; warum sollte er mir zuzwinkern? Wollen sie meine Nerven reizen, oder führen sie mich an der Nase herum? Entweder ist alles ein Phantasiespiel oder sie wissen es! Sogar Sametoff ist dreist ... Ist Sametoff wirklich dreist? Sametoff hat sich’s über Nacht überlegt. Ich ahnte es doch, daß er es sich überlegen wird! Er benimmt sich wie zu Hause, ist aber zum ersten Male hier. Porphyri betrachtet ihn nicht als seinen Gast, sitzt mit dem Rücken zu ihm. Sie stecken unter einer Decke! Sie stecken unbedingt meinetwegen unter einer Decke! Sie haben sicher vor unserem Kommen über mich gesprochen! ... Wissen sie etwas von der Wohnung gestern? Mag es schneller herauskommen! ... Als ich sagte, daß ich gestern weggelaufen wäre, mir eine Wohnung zu mieten, ließ er es gelten, erfaßte nicht die Gelegenheit ... Mit der Wohnung habe ich’s fein angedeutet, – es kann mir später nützen! ... Im Fieber war es, kann ich sagen! ... Ha–ha–ha! Er weiß alles über den gestrigen Abend! Von der Ankunft der Mutter wußte er nicht! ... Und die Hexe hat auch das Datum mit Bleistift vermerkt! ... Ihr lügt, ich ergebe mich nicht! Das sind doch keine Tatsachen, bloß Phantasiegebilde! Nein, rückt mal mit Tatsachen heraus! Auch der Besuch der Wohnung ist keine Tatsache, sondern Fieber, – ich weiß, was ich ihnen sagen muß ... Wissen sie, daß ich in der Wohnung war? Ich gehe nicht fort, ehe ich es nicht erfahre! Warum bin ich hergekommen? Daß ich mich jetzt ärgere, das ist vielleicht eine Tatsache! Wie reizbar ich bin! Vielleicht aber ist es auch gut; es ist die Rolle eines Kranken ... Er betastet mich. Er wird mich verwirren wollen. Warum bin ich überhaupt gekommen?“
Dies alles fuhr ihm durch den Kopf wie ein Blitz.
Porphyri Petrowitsch kehrte bald zurück. Er war auf einmal vergnügter geworden.
„Mein Kopf brummt von dem gestrigen Abend bei dir, Bruder ... und ich bin ganz zerschlagen,“ begann er in einem ganz anderen Tone und wandte sich lachend an Rasumichin. „War es interessant? Ich verließ euch doch gestern bei dem interessantesten Punkte. Wer siegte?“
„Niemand, selbstverständlich. Wir kamen später zu den ewigalten Fragen, schwebten in höheren Regionen.“
„Was meinst du, Rodja, worauf sie gestern zu sprechen kamen, – gibt es oder gibt es keine Verbrecher? Ich sag dir, sie schwatzten das Blaue vom Himmel herunter!“
„Was ist da Merkwürdiges dran? Eine gewöhnliche soziale Frage,“ antwortete Raskolnikoff zerstreut.
„Die Frage war nicht so formuliert,“ bemerkte Porphyri Petrowitsch.
„Nein, nicht ganz so, das ist wahr,“ pflichtete Rasumichin wie gewöhnlich eilig und sich ereifernd bei. „Sieh, Rodion, höre mich an und sage dann deine Meinung. Es wäre mir lieb. Ich wollte gestern geradezu aus der Haut fahren, ich wartete auf dich, denn ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen wirst ... Es begann mit der Anschauung der Sozialisten. Die Anschauung ist bekannt, – das Verbrechen ist ein Protest gegen die anormale soziale Einrichtung, und – mehr nichts, keine andern Gründe wurden zugelassen, – nichts mehr! ...“
„Da schwindelst du schon!“ rief Porphyri Petrowitsch. Er wurde sichtbar belebter und lachte alle Augenblicke, indem er Rasumichin ansah, der dadurch noch mehr in Hitze kam.
„Sonst wurde nichts zugelassen!“ unterbrach ihn Rasumichin voll Eifer, „ich schwindle nicht! ... Ich will dir ihre Bücher zeigen, – an allem soll die sogenannte ‚gute Gesellschaft schuld sein‘ – und weiter nichts! Das ist ihre Lieblingsphrase! Und daraus geht hervor, daß, wenn die Gesellschaft normal eingerichtet sein wird, mit einem Male auch alle Verbrecher verschwinden werden, weil es nichts mehr geben wird, dagegen zu protestieren, und alle werden auf einmal gerecht werden. Die Natur wird nicht in Betracht gezogen, die Natur wird hinausgejagt, die Natur hat keinen Platz! Bei ihnen wird die Menschheit nicht von selbst sich in eine normale Gesellschaft verwandeln, indem sie den historischen, lebendigen Entwicklungsgang durchmacht, sondern im Gegenteil, ein soziales System, irgendeinem mathematischen Kopfe entsprungen, soll sofort die ganze Menschheit verändern und im Nu sie gerecht und sündenlos machen, ohne jeden historischen und lebendigen Entwicklungsgang, ohne jeglichen lebendigen Prozeß! Darum hassen sie auch so instinktiv die Geschichte, – ‚in ihr kommen bloß Scheußlichkeiten und Dummheiten vor‘, – und alles wird bloß durch Dummheit allein erklärt! Darum lieben sie auch nicht den lebendigen Lebensprozeß, – sie brauchen keine lebendige Seele. Eine lebendige Seele wird Leben verlangen, eine lebendige Seele will nicht einem Mechanismus gehorchen, eine lebendige Seele ist mißtrauisch, eine lebendige Seele ist rückschrittlich! Und bei ihnen kann man die Seele aus Kautschuk machen, tut nichts, daß sie Leichengeruch hat, – sie ist dafür nicht lebendig, ohne Willen, eine Sklavenseele und wird sich nicht empören. Und im Resultate kommt es darauf hinaus, daß sich alles nur um das Zusammensetzen von Ziegelsteinen und um die Lage der Korridore und der Zimmer in der kommunistischen Kolonie dreht! Die kommunistische Kolonie ist fertig, sie verlangt Leben, hat ihren Lebensprozeß noch nicht abgeschlossen, es ist zu früh für sie, auf den Kirchhof zu kommen! Mit der Logik allein kann man nicht die Natur überspringen! Die Logik will drei Fälle voraussetzen, und es gibt ihrer eine Million! Soll man die ganze Million Fälle abschneiden und alles bloß zur Frage des Komforts konzentrieren? Die leichteste Lösung der Aufgabe! Sie ist verlockend einfach und man braucht nicht zu denken! Und das ist die Hauptsache – man braucht nicht zu denken! Das ganze Lebensgeheimnis findet auf zwei Druckbogen Platz!“
„Wie es dich gepackt hat, du schlugst fest die Trommel! Man muß dich festhalten,“ lachte Porphyri Petrowitsch. „Stellen Sie sich vor,“ wandte er sich an Raskolnikoff, „so war es auch gestern abend, und das in einem Zimmer, angefüllt mit sechs Mann, die er dazu noch vorher mit Punsch bewirtet hat, – können Sie sich so was vorstellen? Nein, Bruder, du schwindelst, – ‚die Gesellschaft‘ hat bei einem Verbrechen viel zu bedeuten; das kann ich dir bestätigen.“
„Ich weiß es selbst, daß sie viel zu bedeuten hat, aber sage mir, – wenn ein Vierzigjähriger ein Mädchen von zehn Jahren vergewaltigt, – hat ihn etwa die Gesellschaft, die Umgebung dazu gezwungen?“
„Ja, im strengen Sinne vielleicht auch die Gesellschaft,“ bemerkte Porphyri Petrowitsch mit merkwürdiger Wichtigkeit, „ein Verbrechen an einem kleinen Mädchen kann man sehr, sehr gut durch ‚die Gesellschaft‘ erklären.“
Rasumichin geriet nun fast in Wut.
„Nun, willst du, so werde ich dir sofort beweisen,“ brüllte er „daß du weiße Wimpern einzig und allein darum hast, weil der Turm von Iwan Weliki fünfundsiebzig Meter hoch ist, und ich will es dir klar, genau, fortschrittlich, und sogar mit einem liberalen Anfluge beweisen! Ich übernehme es! Nun, willst du mit mir wetten?“
„Ich nehme die Wette an! Wollen wir mal hören, wie er es beweisen will!“
„Ja, du stellst dich bloß so an, zum Teufel!“ rief Rasumichin aus, sprang von seinem Stuhle und wehrte mit der Hand ab. „Nun, lohnt es sich mit dir zu sprechen? Er tut dies nur absichtlich, du kennst ihn noch nicht, Rodion! Auch gestern war er auf ihrer Seite, bloß, um sie alle anzuführen. Und was er gestern alles sagte, oh Gott! Und die waren um ihn froh! ... Er kann in dieser Weise zwei Wochen aushalten. Im vorigen Jahre erzählte er uns aus irgendeinem Grunde, daß er ins Kloster gehe, – zwei Monate blieb er dabei! Vor kurzem wollte er uns aufbinden, daß er heiraten würde, und daß alles schon zur Hochzeit bereit sei. Sogar einen neuen Anzug hatte er sich bestellt. Wir fingen schon an, ihm zu gratulieren. Keine Braut, nichts war da, – alles Phantasiespiel!“
„Da hast du wieder geschwindelt! Den Anzug hatte ich vorher bestellt! Wegen des neuen Anzuges kam es mir auch in den Sinn, euch alle anzuführen!“
„Können Sie sich wirklich so verstellen?“ fragte Raskolnikoff nachlässig.
„Und Sie glauben es nicht? Warten Sie, auch Sie will ich anführen – ha–ha–ha! Nein, hören Sie, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Bei allen diesen Fragen, Verbrechen, Gesellschaft, kleinen Mädchen erinnere ich mich plötzlich, – übrigens habe ich mich stets dafür interessiert, – an einen Aufsatz von Ihnen, – ‚Über Verbrechen ...‘ oder wie er heißt, ich habe den Titel vergessen, ich erinnere mich nicht genau an ihn. Vor zwei Monaten hatte ich das Vergnügen, ihn in dem ‚Periodischen Worte‘ zu lesen.“
„Meinen Aufsatz? In dem ‚Periodischen Worte?‘“ fragte verwundert Raskolnikoff, „ich habe tatsächlich vor einem halben Jahre, als ich die Universität verließ, einen Aufsatz geschrieben, aber ich habe ihn damals der Zeitung ‚Das wöchentliche Wort‘ und nicht dem ‚Periodischen‘ übergeben.“
„Er ist aber im ‚Periodischen‘ erschienen.“
„Das ‚Wöchentliche Wort‘ hörte damals auf zu erscheinen, darum druckte man ihn auch nicht ...“
„Das ist richtig; und das ‚Wöchentliche Wort‘ verschmolz mit dem ‚Periodischen‘ und darum erschien auch Ihr Aufsatz vor zwei Monaten dort. Sie wußten es nicht?“
Raskolnikoff wußte tatsächlich nichts davon.
„Erlauben Sie, Sie können doch Geld für den Aufsatz verlangen! Was Sie für ein Mensch sind! Sie leben so einsam, daß Sie selbst von solchen Dingen, die Sie doch direkt angehen, keine Ahnung haben.“
„Bravo, Rodja! Auch ich wußte nichts,“ rief Rasumichin aus. „Ich gehe heute noch in die Lesehalle und verlange die Nummer. Vor zwei Monaten war es! Welches Datum? Na, einerlei, ich werde ihn schon finden! Das ist mal eine Sache! Und er sagte nichts davon!“
„Woher haben Sie zu wissen bekommen, daß der Aufsatz von mir ist? Er ist nur mit einem Buchstaben unterzeichnet.“
„Zufällig, und auch erst in diesen Tagen. Durch den Redakteur; ich kenne ihn ... Ich war sehr interessiert.“
„Ich betrachtete, soweit ich mich erinnere, den psychologischen Zustand eines Verbrechers während des ganzen Vorganges.“
„Ja, und Sie behaupteten, daß die Vollbringung eines Verbrechens stets von einer Krankheit begleitet wird. Sehr, sehr originell, aber ... mich interessierte eigentlich nicht dieser Teil Ihres Aufsatzes, sondern ein gewisser Gedanke, der zum Schlusse vorkommt, den Sie aber leider nur unklar andeuteten ... Wenn Sie sich entsinnen, es ist da angedeutet, daß in der Welt offenbar Menschen existieren, die tun können ... das heißt nicht bloß können, sondern volles Recht dazu haben, allerhand Scheußlichkeiten und Verbrechen zu vollbringen, und daß für sie das Gesetz nicht geschrieben ist.“
Raskolnikoff lächelte über die starke absichtliche Verdrehung seiner Idee.
„Wie? Was? Ein Recht auf Verbrechen? Aber doch nicht aus dem Grunde, weil die Gesellschaft schuld ist?“ erkundigte sich Rasumichin voll Schrecken.
„Nein, nein, nicht aus dem Grunde,“ antwortete Porphyri Petrowitsch. „Die ganze Sache dreht sich darum, daß in seinem Aufsatze die Menschen in ‚gewöhnliche‘ und ‚ungewöhnliche‘ eingeteilt werden. Die Gewöhnlichen müssen in Gehorsam leben und haben kein Recht, ein Gesetz zu überschreiten, weil sie – eben Gewöhnliche sind. Und die Ungewöhnlichen haben das Recht, allerhand Verbrechen zu vollbringen und in jeder Weise das Gesetz zu verletzen, und das, weil sie Ungewöhnliche sind. So scheint es mir in Ihrem Aufsatze zu stehen, wenn ich nicht irre?“
„Aber wie ist denn das? Es kann nicht sein, daß es so gemeint ist!“ murmelte Rasumichin zweifelnd.
Raskolnikoff lächelte wieder. Er hatte sofort verstanden, wie die Sache stand und worauf man ihn bringen wollte; er entsann sich der Stelle und beschloß, die Herausforderung anzunehmen.
„Es steht nicht ganz so in meinem Aufsatze,“ begann er schlicht und bescheiden. „Übrigens, ich muß gestehen, daß Sie ihn nahezu richtig wiedergegeben haben, und wenn Sie es wünschen, auch vollkommen richtig ...“ Es paßte ihm anscheinend, zuzugeben, daß der Gedanke vollkommen richtig wiedergegeben war. „Der Unterschied besteht einzig darin, daß ich gar nicht behauptete, daß die ungewöhnlichen Menschen unbedingt allerhand Scheußlichkeiten vollbringen müssen und dazu verpflichtet sind, wie Sie es sagen. Ich glaube auch, daß man einen solchen Aufsatz in der Presse nicht zugelassen hätte. Ich habe einfach angedeutet, daß ein ‚ungewöhnlicher‘ Mensch das Recht habe ... das heißt kein offizielles Recht, sondern in sich selbst das Recht trage, seinem Gewissen zu gestatten ... einige Hindernisse zu überschreiten, und einzig in dem Falle, wenn die Erfüllung seiner Idee, – die zuweilen vielleicht für die ganze Menschheit heilbringend ist, – dieses verlangt. Sie beliebten zu sagen, daß mein Aufsatz nicht deutlich sei; ich bin bereit, ihn Ihnen nach Möglichkeit zu erklären. Ich irre mich vielleicht nicht, wenn ich annehme, daß Sie es wünschen, gut. Meine Ansicht geht dahin, – wenn die Entdeckungen von Newton und Kepler, infolge irgendwelcher Kombinationen, in keiner Weise der Menschheit anders bekannt werden konnten als durch den Verlust des Lebens von einem, zehn, hundert und mehr Menschen, die der Erfindung störend waren, oder ihr als ein Hindernis im Wege standen, so hätte Newton das Recht gehabt und wäre sogar verpflichtet gewesen ... diese zehn oder hundert Menschen zu beseitigen, um seine Erfindungen der ganzen Menschheit bekannt zu machen. Daraus läßt sich übrigens gar nicht schließen, daß Newton das Recht hatte, jeden beliebigen, den ersten besten zu ermorden oder jeden Tag auf dem Markte zu stehlen. Weiter entwickelte ich – soweit ich mich erinnern kann – in meinem Aufsatze, daß alle ... nun, nehmen wir zum Beispiel die Gesetzgeber und Führer der Menschheit, angefangen von den allerältesten Lykurg, Solon bis Mahomet, Napoleon und so weiter herauf: alle waren ohne Ausnahme Verbrecher, schon dadurch allein, daß sie ein neues Gesetz gaben, das alte, von der Gesellschaft heilig geehrte und von den Vätern übernommene Gesetz verletzten, – und sie schraken sicher nicht vor dem Blutvergießen zurück, wenn ihnen nur das Blut, – und es war zuweilen ganz unschuldiges und tapfer für das alte Gesetz vergossenes Blut – helfen konnte. Es ist sogar auffallend, daß der größte Teil dieser Wohltäter und Führer der Menschheit besonders grausame Blutvergießer waren. Mit einem Worte, ich ziehe den Schluß, daß auch alle, nicht bloß die Großen, sondern auch die kaum über das Maß hervortretenden Menschen, das heißt, die auch nur eine geringe Fähigkeit haben, etwas Neues zu sagen, unbedingt ihrer Natur nach mehr oder weniger Verbrecher sein müssen. Anders würde es ihnen schwer fallen, aus dem Gleise herauszukommen; und im Gleise zu bleiben können sie gar nicht wollen, wiederum ihrer Natur nach, und meiner Ansicht nach sind sie sogar verpflichtet, es nicht zu wollen. Mit einem Worte, Sie sehen, daß bis dato etwas besonders Neues nicht in dem Aufsatze steht. Das wurde schon tausendmal gedruckt und gelesen. Was meine Einteilung der Menschen in gewöhnliche und ungewöhnliche anbetrifft, gebe ich zu, daß sie ein wenig willkürlich ist, aber ich klammere mich auch nicht an genaue Zahlen. Ich glaube nur an meinen Hauptgedanken. Er besteht gerade darin, daß die Menschen infolge eines Naturgesetzes überhaupt in zwei Gattungen zerfallen, – eine niedrige, die gewöhnlichen, das heißt sozusagen das Material, das einzig zur Weitererzeugung dient, und eigentliche Menschen, das heißt solche, die die Begabung oder das Talent haben, in ihrem Kreise ein neues Wort zu sagen. Selbstverständlich gibt es hier endlose Unterabteilungen, aber die bezeichnenden Merkmale beider Gattungen sind ziemlich scharf, – die erste Gattung, das heißt das Material, besteht, im allgemeinen gesagt, aus Menschen, die ihrer Natur nach konservativ und gesittet sind, in Gehorsam leben und es lieben, gehorsam zu sein. Meiner Ansicht nach sind sie auch verpflichtet, gehorsam zu sein, denn das ist ihre Bestimmung und dabei ist entschieden nichts Erniedrigendes für sie. Die zweite Gattung, – die überschreiten alle das Gesetz, sind Zerstörer oder neigen dazu, je nach ihren Fähigkeiten. Die Verbrechen dieser Menschen sind selbstverständlich relativ und verschieden; meistens verlangen sie die Zerstörung des Gegenwärtigen im Namen eines Besseren. Wenn er aber seiner Idee wegen, – sagen wir – über eine Leiche schreiten oder Blut vergießen muß, so kann er, meine ich, innerlich von seinem Gewissen aus sich die Erlaubnis geben, über diese Leiche hinwegzuschreiten, – das heißt, je nach der Idee und ihrem Umfange, – halten Sie das fest! Nur in diesem Sinne spreche ich auch in meinem Aufsatze über ihr Recht auf Verbrechen. Sie entsinnen sich doch, daß wir mit einer juristischen Frage anfingen. Übrigens, es ist nicht wert, sich viel aufzuregen, – die Menge erkennt fast nie dieses Recht für sie an, sie läßt sie hinrichten und hängen – mehr oder weniger – und erfüllt dadurch vollkommen richtig ihre konservative Bestimmung, jedoch mit dem Unterschiede, daß dieselbe Menge in den folgenden Generationen die Hingerichteten auf das Piedestal stellen und sie anbeten wird – mehr oder weniger. Die erste Gattung ist immer der Herr der Gegenwart, die zweite – der Herr der Zukunft. Die ersten bewahren die Welt und vermehren sie der Zahl nach; die zweiten bewegen die Welt und führen sie zum Ziele. Wie die einen, so haben auch die anderen das vollkommen gleiche Recht, zu existieren. Mit einem Worte, in meinem Aufsatze haben alle gleich großes Recht und – vive la guerre éternelle[1], – bis zum Neuen Jerusalem, versteht sich!“
„Also, Sie glauben trotzdem an Neu-Jerusalem?“
„Ich glaube daran,“ antwortete Raskolnikoff fest. Indem er dies sagte, blickte er zu Boden, wie er auch während seiner langen Rede auf einen Punkt des Teppiches geblickt hatte.
„Und, und glauben Sie auch an Gott? Entschuldigen Sie meine Neugier.“
„Ich glaube an ihn,“ wiederholte Raskolnikoff und hob die Augen zu Porphyri Petrowitsch empor.
„Und, und glauben Sie an die Auferstehung des Lazarus?“
„Ich glau–be. Warum wollen Sie das wissen?“
„Glauben Sie buchstäblich daran?“
„Buchstäblich.“
„So, so ... ich fragte bloß aus Neugier. Entschuldigen Sie. Aber erlauben Sie, – ich kehre zu dem Gesagten zurück, – jene werden doch nicht immer hingerichtet, manche ganz im Gegenteil ...“
„Triumphieren während ihres Lebens? Oh ja, manche erreichen es auch während ihrer Lebenszeit, und dann ...“
„Beginnen sie selbst hinzurichten?“
„Wenn es nötig ist, und wissen Sie, eigentlich meistenteils. Ihre Bemerkung war treffend.“
„Danke. Aber sagen Sie bitte, wie soll man diese Ungewöhnlichen von den Gewöhnlichen unterscheiden? Gibt es etwa bei der Geburt solche Merkmale? Ich meine, daß hier mehr Klarheit, sozusagen mehr äußerliche Genauigkeit sein müßte, – entschuldigen Sie bei mir die natürliche Besorgnis eines praktischen und loyalen Menschen, aber könnte man hier nicht zum Beispiel eine besondere Kleidung einführen, irgend etwas tragen, irgendwie sie kennzeichnen? ... Denn, gestehen Sie selbst, wenn eine Verwechslung stattfindet, und einer aus der einen Gattung sich einbildet, daß er zu der anderen Gattung gehöre und anfängt ‚alle Hindernisse zu beseitigen‘, wie Sie sich sehr treffend ausdrückten, so kann dabei ...“
„Oh, das kommt sehr oft vor! Ihr letzter Einwurf ist noch besser als der vorige ...“
„Danke sehr ...“
„Keine Ursache; aber ziehen Sie doch in Betracht, daß ein Irrtum nur seitens der ersten Gattung, das heißt der ‚gewöhnlichen‘ Menschen, wie ich sie vielleicht sehr unglücklich genannt habe, möglich ist. Trotz ihrer angeborenen Neigung zum Gehorsam lieben es sehr viele von ihnen, aus einem gewissen, lebhaften Naturell, das auch einer Kuh nicht versagt ist, sich einzubilden Fortschrittsmänner, ‚Zerstörer‘, zu sein und glauben es mit einem neuen Worte erreicht zu haben, und sie tun vollkommen aufrichtig. Und die tatsächlich Neuen bemerken sie darüber sehr oft nicht, verachten sie sogar als rückschrittliche und untergeordnete Menschen. Meiner Ansicht nach aber kann hier keine große Gefahr vorliegen, denn sie erreichen nie viel im Leben. Für ihre Verblendung könnte man sie zuweilen züchtigen, um sie an ihren Platz zu erinnern, aber auch nicht mehr; man braucht aber dabei oftmals keinen Vollstrecker, sie werden sich selbst züchtigen, weil sie sehr wohlgesittet sind, – manche erweisen einander diesen Dienst, andere aber tun es eigenhändig ... Sie legen sich dabei allerhand öffentliche Bußen auf, – es macht sich das hübsch und wirkt belehrend: mit einem Worte, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen ... Für sie besteht ein Gesetz.“
„Nun, in diesem Punkte haben Sie mich wenigstens etwas beruhigt, aber da haben wir noch einen bösen Punkt, – sagen Sie mir bitte, gibt es viele solche Leute, die das Recht haben, andere zu morden, sogenannte ‚Ungewöhnliche‘? Ich bin selbstverständlich bereit, mich vor Ihnen zu beugen, aber Sie müssen doch selbst zugeben, daß es ängstlich ist, wenn es viele von der Art gäbe?“
„Oh, regen Sie sich auch in diesem Punkte nicht auf,“ fuhr Raskolnikoff in demselben Tone fort, „Menschen mit neuen Gedanken, sogar solche, die nur einigermaßen befähigt sind, etwas Neues zu sagen, werden überhaupt ungewöhnlich wenige geboren, sogar merkwürdig wenig. Eines ist mir klar, daß die Ordnung für das Entstehen und Gedeihen aller dieser Kategorien und Subkategorien sehr genau und sicher durch irgendein Naturgesetz bestimmt ist. Dieses Gesetz ist uns selbstverständlich unbekannt, aber ich glaube, daß es existiert und späterhin vielleicht auch einmal bekannt werden wird. Die ungeheure Menge Menschen, das Material existiert bloß in der Welt, um schließlich durch irgendeine Anstrengung, durch einen geheimnisvollen Vorgang, durch eine Kreuzung von Geschlechtern und Gattungen sich zusammen zu fassen und einen einzigen – sagen wir von tausend – einigermaßen selbständigen Menschen in die Welt zu setzen. Mit einer noch größeren Selbständigkeit wird vielleicht nur ein einziger von zehntausend geboren, – ich spreche bildlich. Mit einer noch größeren von hunderttausend ein einziger. Geniale Menschen von Millionen und große Genies, die Vollender der Menschheit, kommen vielleicht zur Welt nach dem Ableben von vielen tausend Millionen Menschen. Mit einem Worte, ich habe keinen Blick in die Retorte geworfen, in der dies alles vorgeht. Aber ein bestimmtes Gesetz existiert unbedingt und muß existieren; hier kann es keinen Zufall geben.“
„Ja, sagt einmal, scherzt ihr etwa beide?“ rief Rasumichin endlich aus. „Führt ihr einander an der Nase herum oder nicht? Sie sitzen und treiben miteinander Spaß! Meinst du es ernst, Rodja?“
Raskolnikoff erhob sein bleiches und fast trauriges Gesicht zu ihm und antwortete nichts. Und merkwürdig erschien Rasumichin, im Vergleiche zu diesem stillen und traurigen Gesichte, der offene, zudringliche, gereizte und unhöfliche, beißende Spott von Porphyri Petrowitsch.
„Nun, Bruder, wenn es tatsächlich ernst ist, so ... Du hast gewiß recht, wenn du sagst, daß dies nicht neu sei und allem, was wir tausendmal gelesen und gehört haben, gleiche. Aber was tatsächlich originell in alledem ist, – und in der Tat dir zu meinem Entsetzen allein gehört, ist der Punkt, daß du trotzdem Blutvergießen dem Gewissen nach gestattest und es – entschuldige mich, – sogar mit so einem Fanatismus tust ... In diesem also besteht auch der Hauptgedanke deines Aufsatzes. Diese Erlaubnis, dem Gewissen nach Blut zu vergießen, das ... das ist meiner Meinung nach schrecklicher als eine offizielle Erlaubnis, Blut zu vergießen, sozusagen eine gesetzliche ...“
„Vollkommen richtig, – es ist schrecklicher,“ pflichtete Porphyri Petrowitsch bei.
„Nein, du hast dich von irgend etwas hinreißen lassen! Das muß ein Irrtum sein. Ich will den Aufsatz lesen ... Du hast dich bestimmt hinreißen lassen! Du kannst nicht so denken ... Ich will es lesen.“
„Im Aufsatze steht dies alles nicht, es ist dort bloß angedeutet,“ sagte Raskolnikoff.
„So, so,“ Porphyri Petrowitsch rückte auf seinem Stuhle hin und her, „mir ist es jetzt ziemlich klar, wie Sie belieben Verbrechen zu betrachten, aber ... entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, – ich belästige Sie zu sehr, schäme mich selbst darüber, – aber sehen Sie, – Sie haben mich vorhin sehr beruhigt über die Möglichkeit einer Verwechslung der beiden Kategorien, aber ... mich quälen nun allerhand praktische Fälle! Nehmen wir an, irgendein Mann oder Jüngling bildet sich plötzlich ein, er sei Lykurg oder Mahomet ... ein Zukünftiger, verstehen Sie, und – beginnt nun alle Hindernisse zu beseitigen ... Es steht ihm, sagt er sich, ein langer Weg bevor und für diesen Weg braucht er Geld ... so beginnt er sich das Geld zu verschaffen ... wissen Sie?“
Sametoff prustete plötzlich vor Lachen; Raskolnikoff würdigte ihn nicht eines Blickes.
„Ich muß zugeben,“ antwortete er ruhig, „daß solche Fälle in der Tat vorkommen müssen. Dümmere und besonders eitle Menschen fallen darauf herein; insbesondere die Jugend.“
„Sehen Sie. Nun, was soll da geschehen?“
„Ja, was denn,“ lächelte ein wenig Raskolnikoff, „ich bin doch daran nicht schuld. So ist es einmal und wird immer so bleiben. Er“ – er wies auf Rasumichin – „sagte soeben, daß ich Blutvergießen gestatte. Was ist denn dabei? Die Gesellschaft ist doch mit Verbannung, Gefängnissen, Untersuchungsrichtern, Zuchthäusern genug gesichert, – wozu denn sich beunruhigen? Sucht den Dieb! ...“
„Nun, und wenn wir ihn finden?“
„Das ist sehr logisch. Nun, und wie steht es mit dem Gewissen?“
„Was kümmert Sie das?“
„Doch, aus Humanität.“
„Wer ein Gewissen hat, mag darunter leiden, wenn er seinen Irrtum einsieht. Das ist auch eine Strafe für ihn, – außer der Zwangsarbeit.“
„Nun, und die tatsächlich Genialen,“ fragte Rasumichin mit düsterem Gesichte, „die nämlich, denen das Recht gegeben ist zu morden, die sollen gar nicht, auch nicht wegen des vergossenen Blutes leiden?“
„Warum sagst du: sollen? Es gibt hier weder eine Erlaubnis, noch ein Verbot. Mag er leiden, wenn ihm das Opfer leid tut ... Leiden und Schmerz hängen immer mit einer weiten Erkenntnis und einem tiefen Herzen zusammen. Die wirklich großen Menschen müssen auf Erden großes Leid empfinden,“ fügte er plötzlich nachdenklich, nicht im Tone des Gespräches, hinzu.
Er hob die Augen auf, blickte alle sinnend an, lächelte und nahm seine Mütze. Er war im Vergleiche mit seinem Eintritt zu ruhig, und er fühlte es auch. Alle erhoben sich.
„Nun, schelten Sie mich oder nicht, ärgern Sie sich über mich oder nicht, aber ich kann es nicht unterlassen,“ sagte Porphyri Petrowitsch wieder, „erlauben Sie mir noch eine kleine Frage – ich belästige Sie sehr, – nur eine einzige kleine Idee möchte ich aussprechen, bloß um es nicht zu vergessen ...“
„Gut, sagen Sie Ihre kleine Idee.“ Raskolnikoff stand ernst und bleich in Erwartung vor ihm.
„Ja, sehen Sie ... ich weiß wirklich nicht, wie ich mich glücklich ausdrücken soll ... die Idee ist zu gelungen ... ist psychologisch ... Sehen Sie, als Sie Ihren Aufsatz schrieben, – da war es doch nicht ganz ohne, he–he–he–, – daß Sie sich selbst, – nun, sagen wir, ein bißchen vielleicht, – auch für einen ‚ungewöhnlichen‘ Menschen hielten, der ein neues Wort – in Ihrem Sinne, versteht sich, – sagt ... War es nicht so?“
„Sehr möglich,“ antwortete Raskolnikoff verächtlich. Rasumichin machte eine Bewegung.
„Und wenn es so ist, würden Sie in diesem Falle sich entschließen, – nun, sagen wir, wegen irgendwelcher Fehlschläge und beschränkter Verhältnisse oder auch um irgendwie die Menschheit zu fördern, – über ein Hindernis hinweg zu schreiten? ... Nun, zum Beispiel, zu morden und zu rauben? ...“
Und wieder schien er ihm plötzlich mit dem linken Auge zuzuzwinkern und lachte unhörbar, – genau wie vorhin.
„Wenn ich auch über eines hinweg schreiten würde, so würde ich es Ihnen sicher nicht sagen,“ antwortete Raskolnikoff mit herausfordernder hochmütiger Verachtung.
„Ach was, ich interessiere mich doch in rein literarischer Hinsicht, um eigentlich Ihren Aufsatz mehr zu verstehen ...“
„Jetzt wird er deutlich und unverschämt!“ dachte Raskolnikoff voll Widerwillen.
„Gestatten Sie mir gütigst zu bemerken,“ antwortete er trocken, „daß ich mich weder für einen Mahomet noch für einen Napoleon halte ... für keine von solchen Persönlichkeiten, also kann ich, da ich keiner von denen bin, Ihnen auch keine befriedigende Erklärung geben, wie ich handeln würde.“
„Nun, aber bitte, wer hält sich jetzt in Rußland nicht für einen Napoleon?“ sagte Porphyri Petrowitsch plötzlich mit großer Familiarität.
Sogar im Tone seiner Stimme lag diesmal etwas besonders Deutliches.
„Möglicherweise hat auch ein künftiger Napoleon unsere Aljona Iwanowna in der vorigen Woche mit dem Beile erschlagen?“ platzte Sametoff heraus.
Raskolnikoff schwieg und blickte unverwandt und fest Porphyri Petrowitsch an. Rasumichins Gesicht verfinsterte sich. Ihm war schon vorher etwas aufgefallen. Er blickte zornig um sich. Eine Minute düsteren Schweigens verging. Raskolnikoff wandte sich, um wegzugehen.
„Sie wollen schon fortgehen?“ sagte Porphyri Petrowitsch freundlich und reichte ihm außerordentlich liebenswürdig die Hand. „Ich freue mich sehr, sehr über Ihre Bekanntschaft. Und was Ihre Bitte anbetrifft, seien Sie ohne Sorge. Schreiben Sie nur so, wie ich Ihnen sagte. Oder noch besser, kommen Sie selber einmal zu mir ... vielleicht in diesen Tagen ... morgen ... ich werde gegen elf Uhr da sein. Wir wollen dann alles besorgen ... uns auch etwas unterhalten ... Sie, als einer der letzten, die dort gewesen waren, könnten uns vielleicht etwas mitteilen ...“
„Sie wollen mich offiziell, mit allem Zubehör, verhören?“ fragte Raskolnikoff scharf.
„Warum denn? Vorläufig ist das gar nicht nötig. Sie haben das falsch verstanden. Sehen Sie, ich lasse mir keine Gelegenheit entgehen und ... und habe schon mit allen Pfandgebern gesprochen ... manche Aussagen habe ich zu Protokoll genommen ... und Sie, als der letzte ... Ja, a propos!“ rief er plötzlich, sich über etwas freuend, „ich erinnere mich jetzt, was ist denn mit mir! ...“ wandte er sich an Rasumichin. „Siehst du, du hast mir von diesem Nikolai die Ohren vollgeblasen ... nun, ich weiß auch selbst, ich weiß,“ wandte er sich an Raskolnikoff, „daß der Bursche unschuldig ist, aber was ist da zu machen, ich mußte auch Dmitri belästigen ... ja, die Sache ist nun die, – als Sie damals die Treppe hinaufgingen ... erlauben Sie, – Sie waren doch in der achten Stunde dort?“
„Ja, in der achten,“ antwortete Raskolnikoff und empfand es im selben Momente unangenehm, da er dies doch nicht zu sagen brauchte.
„Also, als Sie die Treppe in der achten Stunde hinaufgingen, haben Sie da nicht im zweiten Stock, in einer offenstehenden Wohnung – erinnern Sie sich? – zwei Arbeiter oder wenigstens einen von ihnen gesehen? Sie strichen dort an, haben Sie sie nicht bemerkt? Das ist sehr, sehr wichtig für die beiden! ...“
„Anstreicher? Nein, ich habe sie nicht gesehen ...“ antwortete Raskolnikoff langsam und wie in seiner Erinnerung suchend, dabei spannte er unter schweren Qualen sein ganzes Wesen an, um alsbald die gestellte Falle zu erkennen und nichts zu übersehen. „Nein, ich habe sie nicht gesehen und eine offenstehende Wohnung auch nicht bemerkt ... aber ich erinnere mich – (er hatte die Falle jetzt erkannt und triumphierte) – daß im vierten Stock ein Beamter aus der Wohnung auszog ... gerade gegenüber Aljona Iwanowna ... ich erinnere mich dessen ... erinnere mich klar ... Soldaten trugen ein Sofa hinaus und preßten mich dabei an die Wand ... Anstreicher, nein, deren erinnere ich mich nicht ... und eine offenstehende Wohnung habe ich nirgends gesehen. Ja, nirgends ...“
„Ja, was ist denn das!“ rief plötzlich Rasumichin, als sei er zu sich gekommen und hätte es sich überlegt, „ja, die Anstreicher arbeiteten doch am Tage des Mordes dort und er war drei Tage vorher dort? Was fragst du denn?“
„Ach! Ich habe es verwechselt!“ schlug sich Porphyri Petrowitsch vor die Stirn. „Zum Teufel, ich verliere noch den Verstand durch diese Sache!“ wandte er sich wie entschuldigend an Raskolnikoff. „Uns ist es so wichtig, zu erfahren, ob man jemand in der achten Stunde in der Wohnung gesehen hat und da bildete ich mir ein, daß Sie es auch sagen könnten ... ich habe es rein verwechselt!“
„Man muß eben aufmerksamer sein,“ bemerkte Rasumichin grimmig.
Die letzten Worte wurden schon im Vorzimmer gesagt. Porphyri Petrowitsch begleitete sie außerordentlich liebenswürdig bis zur Türe. Beide traten finster und verdrießlich auf die Straße hinaus und redeten einige Schritte kein Wort. Raskolnikoff tat einen tiefen Atemzug.
„... Ich glaube nicht daran! Ich kann es nicht glauben!“ wiederholte Rasumichin bestürzt und versuchte mit aller Kraft die Einwände Raskolnikoffs zu widerlegen.
Sie näherten sich schon den „Möblierten Zimmern“ von Bakalejeff, wo Pulcheria Alexandrowna und Dunja sie seit langem erwarteten. Rasumichin blieb alle Augenblicke im Eifer des Gespräches stehen, verwirrt und schon dadurch allein aufgeregt, daß sie zum erstenmale darüber klar gesprochen hatten.
„Du glaubst es nicht!“ antwortete Raskolnikoff mit einem kalten und nachlässigen Lächeln. „Du hast nach deiner Gewohnheit nicht acht gehabt, aber ich wog jedes Wort ab.“
„Du bist argwöhnisch, darum legtest du auch jedes Wort auf die Wage ... Hm ... in der Tat, ich gebe zu, der Ton von Porphyri war ziemlich merkwürdig; besonders aber dieser Schuft Sametoff! ... Du hast recht, etwas war an ihm, – aber warum? Warum?“
„Er hat sich’s über Nacht überlegt.“
„Aber im Gegenteil, im Gegenteil! Wenn sie diesen hirnlosen Gedanken wirklich hätten, so würden sie mit allen Kräften ihn zu verbergen suchen und ihre Karten verdeckt halten, um dich später plötzlich zu fangen ... Jetzt aber ist es unverschämt und unvorsichtig!“
„Wenn sie Tatsachen, das heißt wirklich Tatsachen oder einen einigermaßen begründeten Verdacht hätten, dann würden sie wirklich versuchen, ihr Spiel zu verbergen, – in der Hoffnung, noch mehr zu gewinnen und ... hätten übrigens auch längst eine Haussuchung vorgenommen! Aber sie haben keine Tatsache, keine einzige, – alles ist Phantasie, alles hat zwei Seiten, sie haben nur im allgemeinen eine Idee, – so versuchen sie durch Unverschämtheit zu verwirren. Vielleicht aber ist er auch wütend darüber, daß er keine Tatsachen hat, und aus Ärger läßt er sich gehen. Vielleicht aber hat er auch damit einen Zweck verfolgt ... Er scheint ein kluger Mann zu sein ... Er wollte mich vielleicht erschrecken damit, daß er etwas weiß ... Hier, Bruder, liegt eine eigene Psychologie ... Übrigens aber, ist es gemein, dies alles zu erklären. Laß es!“
„Und beleidigend, beleidigend! Ich verstehe dich! Aber ... da wir schon einmal deutlich darüber reden – und es ist gut, daß wir endlich klar darüber sprechen können, ich freue mich darüber, – so will ich dir jetzt offen gestehen, daß ich lange schon bei ihnen diesen Gedanken, in dieser ganzen Zeit gemerkt habe, selbstverständlich in einer kaum merkbaren, in einer schleichenden Form. Warum aber? Wie können sie es wagen? Wo liegen bei ihnen die Gründe? Wenn du wüßtest, wie ich wütend war! Wie, – aus dem Grunde, weil da ein armer Student ist, heruntergekommen durch große Armut und Hypochondrie, am Vorabend einer schrecklichen Krankheit, verbunden mit Fieberwahn, die vielleicht längst in ihm saß, – merk dir das! – ein argwöhnischer, ehrgeiziger Mensch, der seinen Wert kennt und der sechs Monate in einem Winkel gesessen und niemand gesehen hat; er steht in Lumpen und in Stiefeln ohne Sohlen vor allerhand Polizisten und leidet unter ihren Schmähungen; dazu kommt noch eine unerwartete Schuld, ein nicht eingelöster Wechsel von Hofrat Tschebaroff, dumpfer Farbengeruch, dreißig Grad Wärme, stickige Luft, eine Menge Menschen, die Erzählung von der Ermordung einer Person, bei der er am Vorabend war, und dies alles – auf leeren Magen! Ja, wie soll man dabei nicht ohnmächtig werden! Und darauf, darauf wird alles begründet! Zum Teufel! Ich verstehe, daß es einen ärgert, aber an deiner Stelle, Rodja, würde ich ihnen allen ins Gesicht lachen, oder noch besser, ihnen allen ordentlich in die Fratze spucken, ich würde noch ein paar Dutzend Ohrfeigen verteilen, selbstverständlich in kluger Weise, wie man sie stets geben muß, und würde damit die Sache abschließen. Pfeif darauf! Halt dich fest! Es ist eine Schande!“
„Er hat es gut dargestellt,“ dachte Raskolnikoff.
„Pfeif darauf? Und morgen ist wieder Verhör!“ sagte er bitter. „Soll ich mich etwa in Verhandlungen mit ihnen einlassen? Ich ärgere mich schon, daß ich mich gestern in dem Restaurant bis zu Sametoff erniedrigt habe ...“
„Zum Teufel! Ich will selbst zu Porphyri gehen! Und ich will ihn schon in verwandtschaftlicher Weise vorkriegen; er soll mir alles haarklein erzählen. Und Sametoff ...“
„Endlich kommt er auf ihn!“ dachte Raskolnikoff.
„Halt!“ rief Rasumichin und packte ihn plötzlich an der Schulter, „halt! Du hast geschwindelt! Ich habe es mir überlegt, du hast geschwindelt! Wieso ist das eine Falle? Du sagst, daß die Frage über die Anstreicher eine Falle war? Denk doch nach, – wenn du es getan hättest, hättest du es zugegeben, daß du gesehen hast, wie die Wohnung gemalt wurde ... und die Arbeiter? Im Gegenteil, – du hättest gesagt, ich habe nichts gesehen, wenn du es auch gesehen hättest! Wer zeugt denn gegen sich selbst?“
„Wenn ich es getan hätte, so würde ich unbedingt gesagt haben, daß ich wie die Anstreicher, so auch die Wohnung gesehen habe,“ antwortete Raskolnikoff unwillig und mit sichtlichem Ekel.
„Ja, warum gegen sich selbst aussagen?“
„Weil nur Bauern oder ganz unerfahrene Neulinge beim Verhör offen und alles nacheinander leugnen. Ein einigermaßen gebildeter und schlauer Mann versucht unbedingt und nach Möglichkeit alle äußeren, unverfänglichen Tatsachen zu bestätigen; er sucht bloß andere Gründe anzuführen, bringt seine eigene besondere und unerwartete Erklärung hinein, die eine vollkommen andere Bedeutung gibt und alles in einem anderen Lichte erscheinen läßt. Porphyri konnte gerade damit rechnen, daß ich unbedingt in dieser Weise antworten und sicher sagen würde, daß ich sie gesehen habe, nur der Wahrscheinlichkeit halber, und dabei irgend etwas zur Erklärung hinzufügen würde.“
„Er hätte dir sofort gesagt, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter dort gewesen sein konnten, und daß also du gerade am Tage des Mordes, um acht Uhr, dort gewesen bist. Er hätte dich mit dieser Kleinigkeit gefangen.“
„Er rechnete auch damit, daß ich keine Zeit haben werde, es mir zu überlegen und mich beeilen würde, wahrheitsgetreuer zu antworten und dabei vergessen würde, daß zwei Tage vorher keine Arbeiter da sein konnten.“
„Wie kann man aber das vergessen?“
„Sehr leicht! Auf solche geringfügigen Dinge fallen am ehesten schlaue Menschen herein. Je schlauer ein Mensch ist, um so weniger ahnt er, daß man ihn bei etwas Einfachem ertappen würde. Den schlauesten Menschen muß man gerade mit dem Einfachsten verwirren. Porphyri ist gar nicht so dumm, wie du denkst ...“
„Er ist nach alledem ein Schuft!“
Raskolnikoff konnte sich des Lachens nicht erwehren. Aber im selben Augenblicke erschien ihm seine eigene Lust und die Begeisterung, mit der er seine letzte Erklärung abgegeben hatte, überaus sonderbar; das ganze vorangehende Gespräch hatte er mit einem düsteren Widerwillen, nur unter dem Zwange der Situation geführt.
„Ich bekomme noch Geschmack daran!“ dachte er.
Jedoch gleich darauf wurde er unruhig, als hätte ihn ein unerwarteter und beunruhigender Gedanke überrascht. Seine Unruhe wuchs. Sie waren schon am Eingange zu den möblierten Zimmern von Bakalejeff.
„Geh allein hinein,“ sagte plötzlich Raskolnikoff, „ich komme sofort zurück.“
„Wohin willst du? Wir sind ja schon da!“
„Ich muß, ich muß; ich habe etwas zu tun ... ich komme nach einer halben Stunde wieder ... Sage es ihnen.“
„Wie du willst, ich begleite dich aber!“
„Was, willst auch du mich quälen!“ rief er mit solcher bitteren Gereiztheit und solcher Verzweiflung im Blicke, daß Rasumichin fassungslos wurde.
Er blieb eine Weile auf der Außentreppe stehen und sah finster zu, wie jener schnell in der Richtung nach seiner Wohnung dahinschritt. Schließlich biß er die Zähne zusammen, ballte die Faust, schwur sich selbst, daß er heute noch den ganzen Porphyri wie eine Zitrone ausquetschen würde, und ging die Treppe hinauf, um Pulcheria Alexandrowna, die durch ihre lange Abwesenheit schon aufgeregt war, zu beruhigen.
Als Raskolnikoff bei seinem Hause anlangte, waren seine Schläfen mit Schweiß bedeckt und er atmete schwer. Er eilte die Treppe hinauf, trat in seine nicht abgeschlossene Wohnung und hakte sofort die Türe zu. Dann stürzte er erschreckt und wie wahnsinnig zu der Ecke, zu dem Loche hinter den Tapeten, wohin er damals die Sachen gelegt hatte, steckte die Hand hinein und scharrte einige Minuten aufs höchste erregt in dem Loche und untersuchte alle Ecken und Falten der Tapete. Als er nichts fand, stand er auf und holte tief Atem. Als er sich vorhin der Treppe von Bakalejeff näherte, war es ihm plötzlich in den Sinn gekommen, daß irgendeine Sache, eine Kette oder ein Manschettenknopf etwa, oder auch ein Stück Papier, in dem sie eingewickelt waren, mit einem Vermerk von der Hand der Alten auf irgendeiner Spalte liegen geblieben sein konnte und als ein unerwarteter und unabwendbarer Beweis vor ihnen auftauchen konnte.
Er stand, wie in Nachdenken versunken und ein sonderbares, demütiges, halb sinnloses Lächeln umspielte seine Lippen. Er nahm seine Mütze und ging langsam hinaus. Seine Gedanken irrten umher. Nachdenklich trat er unter das Tor.
„Da ist der Herr selbst!“ rief eine laute Stimme; er erhob den Kopf.
Der Hausknecht stand an der Türe seiner Kammer und zeigte auf einen nicht sonderlich großen Mann, der wie ein Kleinbürger aussah, und der mit einem Mantel, einem Schlafrock ähnlich, und einer Weste bekleidet war und von weitem eine große Ähnlichkeit mit einem Weibe hatte. Sein Kopf, mit einer fettigen Mütze bedeckt, hing nach vorne, die ganze Gestalt schien gekrümmt. Sein schlaffes, runzeliges Gesicht deutete auf ein Alter über fünfzig; die kleinen verschwommenen Augen blickten finster, ernst und mißvergnügt drein.
„Was soll’s?“ fragte Raskolnikoff und trat zu dem Hausknechte.
Der Kleinbürger wendete seine Augen zu ihm und blickte ihn unter der Stirn hervor durchdringend, aufmerksam und andauernd an; dann wandte er sich um und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben, zum Tore auf die Straße hinaus.
„Ja, was ist denn das?“ rief Raskolnikoff.
„Dieser da fragte, ob hier ein Student wohne, nannte Ihren Namen, und bei wem Sie wohnen. Sie kamen gerade, ich zeigte Sie ihm, nun ist er fortgegangen. Das ist komisch.“
Der Hausknecht hatte auch gewisse Bedenken, er dachte eine kleine Weile nach, drehte sich aber um und ging in seine Kammer.
Raskolnikoff stürzte dem Kleinbürger nach und erblickte ihn sofort, wie er auf der anderen Seite der Straße gleichmäßig und nicht eilig, mit zu Boden gerichteten Augen und anscheinend nachdenklich dahinschritt. Er holte ihn bald ein, ging eine Weile hinter ihm; schließlich trat er neben ihn und blickte ihm von der Seite ins Gesicht. Der Kleinbürger bemerkte ihn sofort und schaute ihn schnell von oben bis unten an, ließ aber wieder die Augen sinken, und in dieser Weise gingen sie eine Strecke nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen.
„Haben Sie nach mir gefragt ... beim Hausknecht?“ sagte Raskolnikoff endlich, aber nicht sehr laut.
Der Kleinbürger gab ihm keine Antwort und blickte ihn nicht an. Wieder gingen sie stumm dahin.
„Ja, warum ... kommen Sie und fragen ... und schweigen jetzt ... ja, was ist denn das?“ Raskolnikoffs Stimme stockte und die Worte kamen ihm schwer über die Lippen.
Der Kleinbürger erhob diesmal die Augen und sah mit einem drohenden, finsteren Blicke Raskolnikoff an. „Mörder!“ sagte er plötzlich mit leiser, aber klarer und deutlicher Stimme ...
Raskolnikoff ging neben ihm weiter. Seine Füße wurden plötzlich schrecklich schwach, im Rücken fühlte er Kälte und sein Herz schien auf einen Augenblick still zu stehen; dann fing es an zu klopfen, als wollte es sich losreißen. So gingen sie etwa hundert Schritte nebeneinander und wieder vollkommen stumm.
Der Kleinbürger blickte ihn nicht an.
„Was fällt Ihnen ein ... was ... wer ist ein Mörder?“ murmelte Raskolnikoff kaum hörbar.
„Du bist ein Mörder,“ sagte jener, noch deutlicher und bedeutungsvoller und blickte mit dem Lächeln eines haßerfüllten Triumphes in das bleiche Gesicht Raskolnikoffs und seine erloschenen Augen.
Sie kamen zu einer Straßenkreuzung. Der Kleinbürger bog links in eine Straße ein und ging weiter, ohne sich umzusehen. Raskolnikoff blieb stehen und sah ihm lange nach. Er sah, wie jener nach fünfzig Schritten ungefähr sich umwandte und ihn, der immer noch unbeweglich auf derselben Stelle stand, anblickte. Man konnte nicht sehen, aber Raskolnikoff schien es, als hätte er auch diesmal sein kaltes, haßvolles und triumphierendes Lächeln gehabt.
Mit langsamen, schweren Schritten, mit zitternden Knien und fröstelnd kehrte Raskolnikoff zurück und ging in sein Zimmer hinauf. Er nahm seine Mütze ab und legte sie auf den Tisch hin und stand etwa zehn Minuten unbeweglich daneben. Dann legte er sich völlig ermattet auf das Sofa und streckte sich mit einem schwachen, krankhaften Stöhnen aus; seine Augen waren geschlossen. So lag er eine halbe Stunde.
Er dachte an nichts. Es waren wohl Gedanken oder Fetzen von Gedanken da, Vorstellungen, ohne Ordnung und Zusammenhang, – Gesichter von Menschen, die er noch als Kind gesehen hatte, oder denen er irgendwo nur ein einziges Mal begegnet war, und an die er sich nie mehr erinnert hatte, – der Turm der W.schen Kirche, ein Billard, Zigarrengeruch in einem Tabaksladen im Kellergeschosse, eine Kneipe, eine Küchentreppe, ganz dunkel, ganz mit Unrat begossen und mit Eierschalen bedeckt, und irgendwo ertönte das Sonntagsgeläute der Glocken ... Die Gegenstände wechselten und drehten sich wie im Wirbelwinde. Manche gefielen ihm sogar und er wollte sich an ihnen festklammern, aber sie erloschen, es bedrückte ihn innerlich etwas, aber nicht sehr stark. Zuweilen war es sogar gut ... Ein leichtes Frösteln blieb und selbst das war fast angenehm. Er hörte die eiligen Schritte Rasumichins und seine Stimme, er schloß die Augen und stellte sich schlafend. Rasumichin öffnete die Türe und blieb eine Weile auf der Schwelle, wie unschlüssig, stehen. Dann trat er leise in das Zimmer und ging vorsichtig zu dem Sofa. Man hörte Nastasja flüstern.
„Laß ihn; mag er schlafen; er kann nachher essen.“
„Das ist wahr,“ antwortete Rasumichin.
Beide gingen leise hinaus und machten die Türe zu. Noch eine halbe Stunde verging. Raskolnikoff öffnete die Augen, legte sich wieder auf den Rücken und steckte die Hände unter den Kopf ...
„Wer ist er? Wer ist dieser wie aus der Erde hervorgewachsener Mensch? Wo war er und was hat er gesehen? Er hat alles gesehen, das ist zweifellos. Wo war er damals und von wo sah er es? Warum erscheint er erst jetzt, wie aus der Erde gestiegen? Und wie konnte er es sehen, – ist es denn möglich? ... Hm ...“ fuhr Raskolnikoff fort, erstarrend und zusammenfahrend, „aber das Etui, das Nikolai hinter der Türe gefunden hat, – war denn das nicht auch möglich? Beweise? Ein Hunderttausendstel übersieht man, – und der Beweis wächst zu einer ägyptischen Pyramide! Eine Fliege ist vorbeigeflogen, sie hat es gesehen! Aber ist es denn möglich?“
Und er fühlte mit Ekel, wie er plötzlich schwach, physisch schwach geworden war.
„Ich hätte es wissen müssen,“ dachte er mit einem bitteren Lächeln, „und wie durfte ich, indem ich mich kannte und ahnte, wie ich sein würde, ein Beil nehmen und mit Blut mich besudeln. Ich war verpflichtet, es vorher zu wissen ... Ach! Ich wußte es doch vorher!“ ...
Zuweilen blieb er unbeweglich an irgendeinem Gedanken haften.
„Nein, die Menschen sind nicht so gemacht; ein wahrer Herrscher, dem alles erlaubt ist, zerstört Toulon, veranstaltet eine Abschlachtung in Paris, vergißt eine Armee in Ägypten, verbraucht eine halbe Million Menschen im russischen Feldzuge und wird in Wilna durch ein Wortspiel damit fertig; und ihm stellt man nach dem Tode Standbilder auf, – somit ist auch alles erlaubt. Nein, solche Menschen sind offenbar nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Eisen!“
Ein plötzlicher Nebengedanke brachte ihn fast zum Lachen.
„Napoleon, Pyramiden, Waterloo, – und eine magere Beamtenwitwe, Wucherin, mit einer roten Truhe unter dem Bett, – nun, wie soll das – sagen wir selbst Porphyri Petrowitsch – verdauen können! ... Wie sollen sie es auch verdauen! ... Die Ästhetik wird sie hindern. ‚Will ein Napoleon,‘ werden sie sagen, ‚unter das Bett zu einer Alten kriechen!‘ Ach, Unsinn! ...“ Ab und zu fühlte er, daß er phantasiere, – er verfiel dann einer fieberhaften verzückten Stimmung.
„Die Alte ist Unsinn!“ dachte er und wühlte eifrig und heftig seine Gedankengänge weiter:
„Daß es diese Alte war, war vielleicht ein Irrtum, aber die Hauptsache liegt nicht an ihr. Die Alte war nur eine Krankheit ... ich wollte schneller darüber hinweg schreiten ... ich habe nicht einen Menschen getötet, ich habe ein Prinzip getötet! Das Prinzip habe ich wohl getötet, bin aber nicht darüber hinweg geschritten, ich bin auf dieser Seite geblieben ... Ich habe bloß verstanden, zu töten. Auch das habe ich nicht mal verstanden, wie es sich zeigt ... Prinzip? Warum hat vorhin der Dummkopf Rasumichin die Sozialisten gescholten? Sie sind fleißige Leute und arbeitsam; sie beschäftigen sich mit dem ‚allgemeinen Glück‘. Nein, mir ist das Leben einmal gegeben und nie kommt es wieder; ich will nicht auf das ‚allgemeine Glück‘ warten. Ich will auch selbst leben, sonst lieber gar nicht. Was denn? Ich konnte nicht an einer hungrigen Mutter vorbeigehen und meinen Rubel in der Erwartung des ‚allgemeinen Glücks‘ in der Tasche festhalten. ‚Ich trage‘, konnte ich sagen, ‚einen kleinen Stein bei zum allgemeinen Glück, und darum habe ich Seelenruhe.‘ Ha–ha–ha! Warum seid ihr an mir vorbeigegangen? Ich lebe doch bloß einmal, ich will doch auch ... Ach was, ich bin eine ästhetische Laus und mehr nicht,“ fügte er hinzu und lachte plötzlich wie ein Irrsinniger. „Ja, ich bin tatsächlich eine Laus,“ fuhr er fort, indem er sich voll Schadenfreude an den Gedanken klammerte, sich hineinbohrte, mit ihm spielte und sich mit ihm amüsierte, „und schon aus dem Grunde allein, weil ich erstens jetzt darüber räsonniere, daß ich eine Laus bin, und zweitens, weil ich einen ganzen Monat die allgütige Vorsehung belästige, indem ich sie als Zeuge anrief, daß ich es nicht meines Fleisches und meiner Lust willen unternehme, sondern ein prächtiges und herrliches Ziel im Auge habe, – ha–ha–ha! Drittens, weil ich mir vorgenommen hatte, möglichst Gerechtigkeit bei der Ausführung walten zu lassen und Gewicht und Maß, wie auch Berechnung einzuhalten, – von allen Läusen wählte ich die allernutzloseste und beschloß, nachdem ich sie ermordet haben würde, genau so viel zu nehmen, als ich zum ersten Schritt brauche, – nicht mehr und nicht weniger ... und das übrige würde also laut dem Vermächtnis dem Kloster zugefallen sein ... ha–ha–ha! Und zu guter Letzt bin ich selber eine Laus,“ fügte er mit Zähneknirschen hinzu, „weil ich vielleicht selbst noch schlimmer und abscheulicher bin als die getötete Laus, und weil ich im voraus ahnte, daß ich mir dies sagen würde, nachdem ich sie ermordet haben würde! Kann ich denn mit diesem Entsetzen irgend etwas vergleichen! Oh, Trivialität! Oh, Gemeinheit! ... Oh, wie ich den ‚Propheten‘ zu Pferde mit einem Säbel in der Hand begreife, – Allah befiehlt und die ‚zitternden‘ Kreaturen sollen gehorchen! Der ‚Prophet‘ ist tausendmal im Rechte, wenn er irgendwo mitten in der Straße eine aus–ge–zeich–ne–te Batterie aufstellt und auf Unschuldige und Schuldige schießt, ohne sich herabzulassen, eine Erklärung abzugeben! Gehorcht, zitternde Kreaturen und – wünscht nichts, denn – ihr habt nichts zu wünschen! ... Oh, um nichts in der Welt, um keinen Preis will ich der Alten verzeihen!“ Sein Haar war mit Schweiß bedeckt, die bebenden Lippen waren trocken und der unbewegliche Blick auf die Zimmerdecke gerichtet.
„Mutter und Schwester, – wie ich sie geliebt habe! Warum hasse ich sie jetzt? Ja, ich hasse sie, hasse sie physisch, ich kann sie nicht mehr neben mir ertragen ... Vorhin ging ich zur Mutter hin und küßte sie, ich erinnere mich dessen ... Sie zu umarmen und denken zu müssen, wenn sie es wüßte, so ... soll ich ihr es sagen? Man kann mir das zutrauen ... Hm! Sie muß ebenso sein wie ich ...“ fügte er hinzu, mühsam seinen Gedanken verfolgend, als kämpfe er mit dem ihn packenden Fieber. „Oh, wie ich jetzt diese Alte hasse! Ich könnte sie noch einmal ermorden, wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie hinzu? ... Sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr armen sanften Geschöpfe mit euren sanften Augen ... Ihr Lieben! ... Warum weinen sie nicht? Warum stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... blicken sanft und still ... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ...“
Er verlor das Bewußtsein; merkwürdig erschien es ihm, daß er sich nicht entsann, wie er auf die Straße gekommen. Es war schon später Abend. Die Dämmerung nahm zu, der volle Mond leuchtete immer heller und heller; aber die Luft war besonders dumpf. Menschen gingen in Haufen in den Straßen; Handwerker und Geschäftsleute wanderten nach Hause; andere gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser. Raskolnikoff schritt traurig und sorgenvoll dahin, – er erinnerte sich sehr gut, daß er zu irgendeinem Zwecke aus dem Hause gegangen sei und daß er etwas tun sollte und sich dabei beeilen müßte, was es aber war, – hatte er vergessen. Plötzlich blieb er stehen und sah, daß auf der anderen Seite der Straße, auf dem Fußwege, ein Mann stand und ihm mit der Hand winkte. Er ging über die Straße zu ihm hin, da wandte sich dieser Mann um, ging weiter, als wäre nichts gewesen, mit gesenktem Kopfe, ohne sich umzuwenden und ohne merken zu lassen, daß er ihn gerufen habe. „Ja, hatte er mich auch gerufen?“ dachte Raskolnikoff und ging ihm nach. Kaum zehn Schritte entfernt von ihm, erkannte er ihn plötzlich – und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im selben Schlafrocke und ebenso gekrümmt. Raskolnikoff folgte ihm von weitem; sein Herz klopfte; sie bogen in eine Gasse ein, – der Kleinbürger wandte sich noch immer nicht um.
„Weiß er, daß ich ihm folge?“ dachte Raskolnikoff. Der Kleinbürger trat in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikoff ging schnell zu dem Tore hin, um hineinzusehen, ob er sich nicht umschaue und ihn rufen würde. Und in der Tat, als der Kleinbürger durch das Tor geschritten war und schon in den Hof trat wandte er sich wieder um und schien ihm wieder zu winken. Raskolnikoff durchschritt sofort das Tor, aber der Kleinbürger war nicht mehr auf dem Hofe. Also muß er hier die erste Treppe hinaufgegangen sein. Raskolnikoff stürzte ihm nach. Ein paar Treppen höher vernahm man gleichmäßige, nicht eilige Schritte. Sonderbar, die Treppe kam ihm bekannt vor! Hier im ersten Stock ist ein Fenster; durch die Scheiben schimmert traurig und geheimnisvoll der Mond; da ist auch der zweite Stock. Oh! Das ist dieselbe Wohnung, in der die Arbeiter anstrichen ... Wie hatte er das Haus nicht sofort wiedererkennen können? Die Schritte des vorangehenden Menschen waren verhallt, „er ist also stehen geblieben oder hat sich irgendwo versteckt“. Da ist der dritte Stock; soll ich weitergehen? Und welch eine Stille hier herrscht, es ist zum Fürchten ... Er ging jedoch höher hinauf. Das Geräusch seiner eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Mein Gott, wie dunkel es ist! Der Kleinbürger hat sich sicher irgendwo in einer Ecke versteckt. Ah! Die Wohnung ist weit offen; er dachte nach und trat ein. Im Vorzimmer war es sehr dunkel und leer, keine Menschenseele, als hätte man alles fortgebracht; leise, auf den Fußspitzen ging er in die Wohnstube hinein, – das ganze Zimmer war hell vom Mondenschein überflutet; alles war hier wie vorher, – die Stühle standen da, der Spiegel, das gelbe Sofa und die eingerahmten Bilder. Der große, runde, kupferrote Mond blickte durch die Fensterscheiben hinein. „Diese Stille kommt vom Monde,“ dachte Raskolnikoff, „er gibt jetzt sicher ein Rätsel auf.“ Er stand und wartete, wartete lange, und je stiller der Mond war, um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer noch diese Stille. Plötzlich ertönte ein kurzes trockenes Knacken, als hätte man einen Holzspan zerbrochen und wieder wurde alles still. Eine aufgewachte Fliege stieß im Fluge an die Scheibe und summte kläglich. Im selben Augenblicke entdeckte er in der Ecke zwischen einem kleinen Schrank und dem Fenster, wie es ihm schien, einen an der Wand hängenden Pelzmantel. „Warum hängt da ein Pelzmantel?“ dachte er, „er war doch früher nicht da ...“ Er trat sehr leise heran und erriet; daß hinter dem Pelzmantel sich jemand versteckt hielt. Er schob vorsichtig mit der Hand den Mantel zur Seite und entdeckte einen Stuhl, und auf dem Stuhle in der Ecke saß die Alte, ganz zusammengekauert und mit gesenktem Kopfe, so daß er das Gesicht gar nicht sehen konnte, aber sie war es. Er stand eine Weile vor ihr; „sie fürchtet sich!“ dachte er; zog dann leise das Beil aus der Schlinge und versetzte der Alten einen Schlag auf den Kopf und noch einen zweiten. Aber merkwürdig, – sie rührte sich nicht bei den Schlägen, als wäre sie aus Holz. Er erschrak, beugte sich über sie und begann sie zu betrachten, da ließ sie den Kopf noch mehr sinken. Er beugte sich dann fast zu Boden und blickte ihr von unten ins Gesicht; er sah sie an und erstarrte, – die Alte saß und lachte, – sie schüttelte sich vor Lachen, ein leises, unhörbares Lachen, sie hielt aus Leibeskräften an sich, damit er es nicht hören solle. Da schien es ihm, als würde die Tür zum Schlafzimmer ein wenig geöffnet, und auch da schien man zu lachen und zu flüstern. Die Wut übermannte ihn, – er begann aus voller Kraft der Alten auf den Kopf zu schlagen, aber mit jedem Schlage hörte man immer stärker das Lachen und Flüstern im Schlafzimmer, und die Alte schüttelte sich nur so vor Lachen. Er stürzte hinaus, da war das ganze Vorzimmer schon voll von Menschen, die Tür zu der Treppe war weit geöffnet und auf dem Flure, auf der Treppe und dort unten standen Menschen, Kopf an Kopf, und blickten alle auf ihn, sie waren alle still, sie schienen auf etwas zu warten und schwiegen! ... Sein Herz krampfte sich, die Füße ließen sich nicht mehr bewegen, waren wie angewachsen ... Er wollte schreien und – wachte auf.
Er holte schwer Atem, – aber merkwürdig, der Traum schien sich immer noch fortzusetzen, – seine Tür war weit geöffnet und auf der Schwelle stand ein völlig unbekannter Mann und betrachtete ihn aufmerksam.
Raskolnikoff hatte die Augen noch nicht ganz geöffnet und schloß sie auch sofort wieder. Er lag auf dem Rücken und rührte sich nicht. „Ist das noch der Traum oder nicht?“ dachte er und hob kaum merklich die Wimpern, um zu sehen, – der Unbekannte stand auf derselben Stelle und blickte ihn weiter unverwandt an. Auf einmal trat er vorsichtig über die Schwelle, schloß leise die Türe hinter sich zu, ging an den Tisch und wartete eine Weile, – während dieser Zeit wandte er kein Auge von Raskolnikoff ab, – er setzte sich leise auf einen Stuhl neben das Sofa hin; seinen Hut stellte er auf den Boden neben sich, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und legte das Kinn auf die Hände. Man konnte sehen, daß er sich anschickte, lange zu warten. Soweit Raskolnikoff durch die blinzelnden Wimpern sehen konnte, war dieser Mann nicht mehr jung, und hatte einen dichten, hellblonden, fast weißen Bart.
Es vergingen etwa zehn Minuten. Es war noch hell, aber der Abend nahte schon. Im Zimmer herrschte eine vollkommene Stille. Sogar von der Treppe drang kein Ton herein. Bloß eine große Fliege summte und schlug sich im Fluge an die Fensterscheibe. Dies wurde endlich unerträglich. – Raskolnikoff erhob sich plötzlich und setzte sich auf das Sofa hin.
„Nun sagen Sie, was wünschen Sie?“
„Sehen Sie, ich wußte es doch, daß Sie nicht schlafen, sondern sich bloß den Anschein geben,“ antwortete der Unbekannte eigentümlich und lachte ruhig. „Erlauben Sie mich Ihnen vorzustellen: Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff ...“
„Ist das etwa die Fortsetzung des Traumes?“ dachte Raskolnikoff noch einmal.
Er betrachtete vorsichtig und mißtrauisch den unerwarteten Besucher.
„Sswidrigailoff? Welch ein Unsinn! Es kann nicht sein!“ sagte er schließlich laut und zweifelnd.
Der Besucher schien über diesen Ausruf gar nicht erstaunt zu sein.
„Ich bin zu Ihnen aus zwei Gründen gekommen, – erstens wollte ich Sie persönlich kennenlernen, da ich längst über Sie sehr Interessantes und Vorteilhaftes gehört habe; zweitens aber bilde ich mir ein, daß Sie sich vielleicht nicht weigern werden, mir bei einem Vorhaben zu helfen, das besonders die Interessen Ihrer Schwester Awdotja Romanowna betrifft. Mich allein, ohne Empfehlung, wird sie vielleicht jetzt nicht mal ins Haus lassen infolge eines Vorurteiles; mit Ihrer Hilfe rechne ich darauf.“
„So rechnen Sie schlecht,“ unterbrach ihn Raskolnikoff.
„Ihre Angehörigen sind doch erst gestern angekommen, erlauben Sie mir die Frage?“
Raskolnikoff antwortete nicht.
„Ja, gestern, ich weiß es. Ich bin selbst erst seit vorgestern hier. Doch, was soll ich Ihnen weiter sagen, Rodion Romanowitsch; ich halte es für überflüssig, mich zu rechtfertigen, nur eins lassen Sie mich bemerken, – habe ich denn tatsächlich etwas verbrochen, wenn man alles ohne Vorurteile, mit ruhiger Vernunft betrachtet?“
Raskolnikoff betrachtete ihn immer noch schweigend.
„Der Umstand, daß ich in meinem Hause ein wehrloses, junges Mädchen verfolgt und ‚sie mit meinen abscheulichen Anerbieten beleidigt habe‘, soll ein Verbrechen sein? Ich komme Ihnen zuvor. – Denken Sie doch daran, daß ich auch nur ein Mensch bin, et nihil humanum ... mit einem Worte, daß ich auch fähig bin, Reize zu empfinden und zu lieben, – was sicher nicht mit unserem Wollen geschieht, sondern in unserer Natur liegt, und damit läßt sich alles auf die allernatürlichste Weise erklären. Die Frage ist nur die, bin ich ein Scheusal oder selbst ein Opfer? Nun, und wenn ich das Opfer bin? Und sehen Sie, indem ich dem Gegenstande meiner Liebe anbot, mit mir nach Amerika oder in die Schweiz zu fliehen, empfand ich dabei die allerehrerbietigsten Gefühle und glaubte uns zum gegenseitigen Glück zu verhelfen! ... Der Verstand dient doch der Leidenschaft, und ich richtete mich selbst dabei zugrunde, das müssen Sie doch auch in Betracht ziehen! ...“
„Darum handelt es sich gar nicht,“ unterbrach ihn Raskolnikoff voll Widerwillen. „Sie sind mir einfach widerlich, ob Sie schuldig sind oder nicht, und man will mit Ihnen nichts zu tun haben, man jagt Sie fort und so gehen Sie doch Ihrer Wege! ...“
Sswidrigailoff lachte laut auf.
„Aber Sie sind ... man kann Sie nicht verwirren!“ sagte er und lachte offen heraus, „ich dachte es schlau angefangen zu haben, aber es gelang nicht, Sie stellten sich gleich auf den richtigsten Standpunkt.“
„Ja, und Sie wollen auch in diesem Augenblicke schlau sein.“
„Was wäre dabei? Nun, was wäre dabei?“ wiederholte Sswidrigailoff und lachte weiter. „Es ist doch bonne guerre[4], wie man es nennt und eine höchst erlaubte Schlauheit! ... Aber Sie haben mich unterbrochen; ich wiederhole noch einmal, ob es so oder anders gekommen wäre, es wären keine Unannehmlichkeiten vorgefallen, wenn nicht noch der Auftritt im Garten hinzugekommen wäre. Marfa Petrowna ...“
„Marfa Petrowna, sagt man, haben Sie auch ins Grab gebracht?“ unterbrach ihn schroff Raskolnikoff.
„Sie haben auch davon gehört? Wie sollten Sie es übrigens nicht zu hören bekommen ... Hier weiß ich wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll, obwohl mein eigenes Gewissen in dieser Beziehung im höchsten Maße ruhig ist. Glauben Sie ja nicht, daß ich irgend etwas dabei fürchte; dies alles ist in völliger Ordnung und mit Genauigkeit geprüft worden, – die ärztliche Untersuchung hat einen Herzschlag nachgewiesen, der infolge sofortigen Badens nach einem reichlichen Mittagessen erfolgt ist, wobei fast eine ganze Flasche Wein geleert wurde, und anderes konnte nicht festgestellt werden ... Nein, sehen Sie, ich habe eine Zeitlang, besonders im Eisenbahnwagen auf dem Wege hierher nachgedacht, ob ich zu diesem ... Unglück irgendwie, moralisch, durch Reizung oder etwas ähnliches, nicht beigetragen habe? Ich bin zu dem Resultate gekommen, daß dies positiv nicht der Fall sein konnte.“
Raskolnikoff lachte.
„Warum fällt es Ihnen denn noch ein, sich so zu beunruhigen?“
„Worüber lachen Sie denn? Denken Sie doch nach, – ich habe sie nur zweimal mit der Reitgerte geschlagen, ohne daß Spuren zu sehen waren ... Halten Sie mich, bitte, nicht für frivol; ich weiß sehr wohl, daß das schändlich von mir war ... und so weiter; aber ich weiß auch sicher, daß Marfa Petrowna vielleicht froh war über meinen, sagen wir, Mangel an Beherrschung. Die Geschichte mit Ihrer Schwester war bis zum letzten Tropfen erschöpft. Marfa Petrowna sah sich gezwungen, den dritten Tag schon zu Hause zu sitzen; sie hatte nichts, womit sie sich im Städtchen zeigen konnte, und außerdem war sie allen mit diesem Briefe – über das Vorlesen dieses Briefes haben Sie doch gehört, – lästig geworden. Da kamen ihr diese zwei Schläge mit der Reitgerte wie vom Himmel geschickt, – ihr erstes war, sofort den Wagen vorfahren zu lassen! ... Ich spreche nicht mal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen sehr, sehr angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der zur Schau getragenen Entrüstung! Diese Fälle kommen bei allen vor. – Der Mensch liebt es im allgemeinen sehr, beleidigt zu sein; haben Sie das noch nicht bemerkt? Bei Frauen aber ist dies besonders der Fall. Man kann so weit gehen und sagen, daß sie sich damit gern die Zeit vertreiben.“
Einen Augenblick dachte Raskolnikoff aufzustehen und wegzugehen, um dadurch diesem Besuche ein Ende zu machen. Eine gewisse Neugier aber und vielleicht Berechnung hielten ihn für eine Weile zurück.
„Sie prügeln wohl gerne?“ fragte er ihn zerstreut.
„Nein, nicht besonders,“ antwortete Sswidrigailoff ruhig. „Und mit Marfa Petrowna habe ich mich fast nie geprügelt. Wir lebten in großer Eintracht und sie war stets mit mir zufrieden. Die Gerte habe ich in den sieben Jahren nur zweimal gebraucht, wenn man ein drittes Mal, das übrigens sehr zweifelhaft ist, nicht mitzählt; das erste Mal war es zwei Monate nach unserer Heirat, gleich nach der Ankunft auf dem Gut, und nun der jetzige, letzte Fall. Sie dachten schon, ich sei so ein Scheusal, Rückschrittler und Anhänger der Leibeigenschaft? He–he–he ... Ja, nebenbei gesagt, – erinnern Sie sich nicht, Rodion Romanowitsch, wie vor einigen Jahren, noch zu Zeiten der wohltätigen Pressefreiheit, man einen Edelmann – ich habe seinen Namen vergessen, – der eine Deutsche im Eisenbahnwagen verprügelte, öffentlich an den Pranger stellte, erinnern Sie sich noch? Es war im selben Jahre, glaube ich, als die ‚Egyptischen Nächte‘ öffentlich vorgetragen wurden und ein Skandal passierte, erinnern Sie sich jetzt? ‚Schwarze Augen! Oh, wo bist du, goldene Zeit unserer Jugend! ...‘ So, und hier haben Sie meine Meinung, – für den Herrn, der die Deutsche verprügelte, habe ich keine Sympathie, denn warum soll man in der Tat ... mit dem sympathisieren! Hierbei kann ich nicht umhin zu bemerken, daß zuweilen sich solche anregende ‚Deutsche‘ finden, und daß es keinen einzigen Fortschrittler, wie es mir scheint, gibt, der für sich vollkommen garantieren könnte. Von diesem Standpunkte hatte damals niemand die Sache betrachtet, indessen aber ist er der eigentlich humane Standpunkt wahrhaftig, so ist es!“
Nachdem er das gesagt hatte, lachte Sswidrigailoff von neuem. Raskolnikoff war es klar, daß dieser Mensch, der sich etwas fest vorgenommen hatte, darauf bestimmt lossteuerte.
„Sie haben jedenfalls einige Tage nacheinander mit niemandem gesprochen?“ fragte er ihn.
„Das könnte stimmen. Warum? Sie wundern sich wohl, daß ich so gesprächig bin.“
„Nein, ich wundere mich, daß Sie so vernünftig reden.“
„Weil ich mich durch die Grobheit Ihrer Zwischenfragen nicht gekränkt fühlte? Ist es so? Ja ... warum sollte ich gekränkt sein? Wie man mich fragte, so antwortete ich auch,“ fügte er mit wunderbarer Gutmütigkeit hinzu. „Ich interessiere mich fast für nichts, bei Gott,“ fuhr er fort, wie sinnend. „Ich bin besonders jetzt mit nichts beschäftigt ... Übrigens ist es begreiflich, wenn Sie denken, ich wollte mich bei Ihnen einschmeicheln und um so mehr, weil ich ein Anliegen, wie ich selbst erklärte, an Ihre Schwester habe. Aber ich will Ihnen offen sagen, – mir ist es langweilig, besonders seit diesen drei Tagen, so daß ich mich auf Ihre Gesellschaft freute ... Seien Sie mir aber nicht böse, Rodion Romanowitsch, Sie kommen mir aber selbst sehr merkwürdig vor. Fassen Sie es auf wie Sie wollen, aber es ist etwas an Ihnen und gerade jetzt, nicht nur in diesem Augenblicke, sondern überhaupt jetzt ... Nun, nun, ich will nicht mehr davon reden, verziehen Sie nur nicht gleich die Stirn! Ich bin doch nicht solch ein Bär, wie Sie glauben.“
Raskolnikoff blickte ihn finster an.
„Sie sind vielleicht gar kein Bär,“ sagte er. „Mir scheint es sogar, Sie gehören zur guten Gesellschaft oder Sie verstehn wenigstens bei Gelegenheit auch ein anständiger Mann zu sein.“
„Ich interessiere mich auch nicht besonders für irgend wessen Meinung über mich,“ antwortete Sswidrigailoff trocken, mit einem Anfluge von Hochmut, „und warum soll man nicht fade sein, wenn diese Art unserem Lande so geläufig ist und ... und wenn man noch eine natürliche Neigung dazu hat,“ fügte er hinzu und lachte wieder.
„Ich habe gehört, daß Sie hier viele Bekannte haben. Sie sind doch nicht ohne das, was man ‚Verbindungen‘ nennt. Wozu haben Sie mich denn nötig, wenn nicht zu einem bestimmten Zwecke?“
„Ganz richtig, ich habe Bekannte hier,“ fuhr Sswidrigailoff fort, ohne die Hauptfrage zu beantworten, „ich habe auch einige getroffen; ich wandre schon den dritten Tag herum, erkenne manche selbst wieder und mich scheint man auch wiederzuerkennen. Ich bin anständig angezogen und werde für keinen armen Menschen gehalten; uns hat die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht berührt, – uns sind Wälder und Wiesen geblieben, das Einkommen ist demnach nicht vermindert worden. Aber ... ich will meine Beziehungen nicht pflegen, auch früher waren sie mir langweilig. Ich gehe nun den dritten Tag herum und gebe mich nicht zu erkennen ... Dazu kommt noch diese Stadt! Sagen Sie mir bitte, wie ist sie entstanden! Eine Stadt von Beamten und allerhand Seminaristen! Ich habe wirklich früher vieles nicht bemerkt, als ich vor acht Jahren mich hier herumtrieb ... Ich setzte alle meine Hoffnungen nur noch ganz allein auf die Anatomie, bei Gott!“
„Was für eine Anatomie?“
„Nun, ich hoffe auf alle diese Klubs und französischen Restaurants und vielleicht noch auf den Fortschritt, – nun, der möge nach unserem Tode kommen,“ fuhr er fort, ohne wieder die Frage zu beachten. „Und was ist das für ein Vergnügen, Falschspieler zu sein?“
„Waren Sie denn auch Falschspieler?“
„Warum denn auch nicht? Wir waren eine ganze Gesellschaft vor acht Jahren und eine höchst anständige; wir vertrieben uns die Zeit, und wissen Sie, es waren alles Menschen mit guten Umgangsformen, es waren Dichter und reiche Leute darunter. Ja, und überhaupt bei uns in der russischen Gesellschaft trifft man bei denen, die schon Prügel bekommen haben, die allerbesten Umgangsformen, – haben Sie es noch nicht gemerkt? Ich bin auf dem Lande ein wenig heruntergekommen. Und trotzdem wollte mich damals ein Griechenkerl aus Njeschin wegen Schulden ins Gefängnis einsperren lassen. Da tauchte Marfa Petrowna auf, handelte ein wenig und löste mich für dreißigtausend Silberlinge aus – im ganzen schuldete ich siebzigtausend. Wir traten in den gesetzlichen Ehestand und sie brachte mich sofort auf ihr Gut, als habe sie einen Schatz gehoben. Sie war um fünf Jahre älter als ich. Liebte mich sehr. Sieben Jahre habe ich dort gelebt. Und stellen Sie sich vor, sie hatte ihr ganzes Leben das Dokument in Händen, es war auf einen fremden Namen über diese dreißigtausend von mir ausgestellt, so daß, wenn ich beabsichtigte, mich gegen sie zu empören, – ich sofort ins Loch gekommen wäre. Und sie hätte es getan! Bei Frauen ist alles möglich.“
„Und wäre das Dokument nicht vorhanden gewesen, so wären Sie auch sicherlich schon lange ausgekniffen?“
„Ich weiß nicht, was ich Ihnen da sagen soll. Dieses Dokument genierte mich fast gar nicht. Ich hatte keine Lust, irgendwohin zu reisen, und Marfa Petrowna riet mir selbst ein paarmal eine Auslandsreise, als sie merkte, daß ich mich langweile. Wozu aber? Im Auslande war ich vorher gewesen und da war es mir immer langweilig. Eigentlich langweilte ich mich nicht, aber sehen Sie, man sieht die Sonne untergehen, ringsum ist das Meer – die Bucht von Neapel, und es wird einem traurig zumute. Am unangenehmsten ist es, daß man tatsächlich Sehnsucht nach Hause bekommt. Nein, in der Heimat ist es besser, – hier schiebt man die Schuld immer den andern zu und nimmt sich selbst in Schutz. Ich würde mich vielleicht jetzt gegebenenfalls an einer Expedition nach dem Nordpol beteiligen, denn – j’ai le vin mauvais[5], es widert mich an, zu trinken, und außer dem Wein bleibt mir nichts übrig. Man sagt, daß Berg am Sonntag im Jussupoffschen Garten in einem großen Ballon aufsteigen will und Mitreisende gegen eine bestimmte Bezahlung auffordert, ist das wahr?“
„Was, Sie wollen wohl mitfliegen?“
„Ich? Nein ... so ...“ murmelte Sswidrigailoff und wurde wirklich nachdenklich.
„Was ist mit dem nur los?“ dachte Raskolnikoff.
„Nein, das Dokument genierte mich nicht,“ fuhr Sswidrigailoff sinnend fort. „Ich verließ freiwillig nicht das Gut. Ja und es wird bald ein Jahr, seit Marfa Petrowna mir zu meinem Namenstage dieses Dokument zurückgab und außerdem mir noch eine nennenswerte Summe schenkte. Sie hatte ein schönes Vermögen. ‚Sehen Sie, wie ich Ihnen vertraue, Arkadi Iwanowitsch‘, wahrhaftig, so sagte sie. Sie glauben nicht, daß sie so gesagt hat? Wissen Sie, ich bin auf dem Lande ein anständiger Hauswirt geworden; man kennt mich im ganzen Umkreise. Ich ließ mir auch Bücher kommen. Marfa Petrowna fand es zuerst gut, später aber fürchtete sie immer, ich könnte mich durch zu vieles Lesen überanstrengen.“
„Sie vermissen Marfa Petrowna, wie es scheint, sehr?“
„Ich? Vielleicht. Wahrhaftig, vielleicht. Ja, nebenbei gesagt, glauben Sie an Gespenster?“
„Was für Gespenster?“
„An gewöhnliche Gespenster!“
„Sie glauben daran?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht, pour vous plaire[6] ... Das heißt eigentlich, glaube ich ...“
„Erscheinen sie bei Ihnen etwa?“
Sswidrigailoff blickte ihn sonderbar an.
„Marfa Petrowna geruht mich zu besuchen,“ sagte er und verzog seinen Mund zu einem merkwürdigen Lächeln.
„Was heißt es, sie geruht Sie zu besuchen?“
„Ja, sie ist schon dreimal dagewesen. Zum erstenmal sah ich sie am Tage der Beerdigung, eine Stunde nach ihrem Begräbnis. Das war am Tage vor meiner Abreise. Das zweitemal war es vorgestern auf der Reise, am frühen Morgen auf der Station Malaja Wischera, und zum dritten Male heute, vor zwei Stunden, in der Wohnung, wo ich abgestiegen bin; ich war allein.“
„Sehen Sie sie im wachen Zustande?“
„Vollkommen. Alle dreimal im wachen Zustande. Sie tritt herein, spricht einen Augenblick und geht durch die Tür hinaus, stets durch die Türe. Man kann es sogar hören.“
„Ich habe es mir gleich gedacht, daß mit Ihnen unbedingt irgend etwas dieser Art vorgehen muß!“ sagte plötzlich Raskolnikoff und staunte im selben Augenblicke, daß er das gesagt hatte. Er war in großer Aufregung.
„So, so? Sie haben es sich gedacht?“ fragte Sswidrigailoff verwundert. „Ist es möglich? Sagte ich nicht, daß es zwischen uns einen gemeinsamen Punkt geben muß.“
„Das haben Sie nie gesagt!“ antwortete scharf und außer sich Raskolnikoff.
„Habe ich es nicht gesagt?“
„Nein!“
„Mir war, als hätte ich es gesagt. Als ich vorhin eintrat und sah, daß Sie mit geschlossenen Augen liegen und sich bloß schlafend stellten, da sagte ich mir, ‚er ist derselbe!‘“
„Was heißt das – er ist derselbe? Was meinen Sie damit?“ rief Raskolnikoff aus.
„Was ich meine? Wirklich, ich weiß es nicht ...“ murmelte Sswidrigailoff offenherzig und scheinbar selbst verwirrt vor sich hin. Sie schwiegen etwa eine Minute und blickten einander unablässig an.
„Das ist alles Unsinn!“ rief Raskolnikoff ärgerlich. „Was sagt sie Ihnen denn, wenn sie erscheint?“
„Sie? Stellen Sie sich vor, sie spricht über die geringsten Kleinigkeiten und mögen Sie sich über mich wundern oder nicht, – gerade das ärgert mich. Das erstemal, als sie erschien, – wissen Sie, ich war müde nach der Totenmesse und dem Begräbnis und dem Essen und war in meinem Schreibzimmer allein geblieben, hatte mir eine Zigarre angesteckt und war in Gedanken versunken, – da trat sie also durch die Türe ein und sagte: ‚Arkadi Iwanowitsch, Sie haben heute bei all dem Trubel vergessen, die Uhr im Speisezimmer aufzuziehen.‘ Diese Uhr habe ich tatsächlich all die sieben Jahre jede Woche selbst aufgezogen, und wenn ich es vergessen hatte, erinnerte sie mich stets daran. Am anderen Morgen war ich schon auf der Reise hierher. Ich komme am frühen Morgen auf einer Station an, hatte die Nacht nur wenig geschlummert, fühlte mich zerschlagen, die Augen waren müde, und als ich mir eine Tasse Kaffee nahm, sah ich plötzlich, wie sich Marfa Petrowna neben mich mit einem Kartenspiel in der Hand hinsetzte. ‚Soll ich Ihnen nicht die Karten legen, Arkadi Iwanowitsch?‘ fragte sie mich. Sie war eine Meisterin im Kartenlegen. Nein, ich werde es mir nie verzeihen, daß ich mir die Karten nicht legen ließ. Ich lief im Schrecken fort, es war auch höchste Zeit, denn es wurde zum Abfahren geläutet. Heute sitze ich nun nach einem sehr schlechten Essen aus einer Stadtküche mit schwerem Magen da und rauche, – da erscheint wieder Marfa Petrowna sehr geputzt, in einem neuen grünen Seidenkleide mit einer sehr langen Schleppe. ‚Guten Tag, Arkadi Iwanowitsch!‘ sagte sie. ‚Wie gefällt Ihnen mein Kleid? Anisja kann es nicht so gut machen.‘ Anisja, wissen Sie, ist unsere Schneiderin auf dem Lande, eine frühere Leibeigene, hat ihr Handwerk in Moskau erlernt, – ein hübsches Mädel. Also, Marfa Petrowna steht vor mir und zeigt sich von allen Seiten. Ich besah mir das Kleid und blickte ihr dann aufmerksam ins Gesicht. ‚Was ist es für ein Vergnügen, Marfa Petrowna, wegen solcher Kleinigkeiten zu mir zu kommen und mich zu belästigen.‘ – ‚Ach, mein Gott, man darf Sie auch nicht mal fragen!‘ Und ich sagte ihr, um sie zu necken: ‚Ich will mich verheiraten, Marfa Petrowna.‘ – ‚Das kann man von Ihnen erwarten, Arkadi Iwanowitsch; Sie legen damit nicht viel Ehre ein, da Sie kaum Ihre Frau beerdigt haben und schon heiraten wollen. Und wenn Sie noch gut gewählt hätten, so aber – ich weiß es – werden weder Sie selbst, noch Ihre Auserwählte es gut haben.‘ Darauf ging sie hinaus mit rauschender Schleppe. Ist das nicht alles Unsinn?“
„Ich glaube, das sind alles ausgedachte Lügen?“ erwiderte Raskolnikoff.
„Ich lüge selten,“ antwortete Sswidrigailoff sinnend und als hätte er die Grobheit der Frage gar nicht gemerkt.
„Haben Sie nie vorher Gespenster gesehen?“
„Nein, ich habe wohl ein einziges Mal im Leben vor sechs Jahren ein Gespenst gesehen. Ich hatte einen Diener Filka; gerade, als man ihn beerdigt hatte, rief ich in der Zerstreutheit: ‚Filka, die Pfeife!‘ und er kam herein und ging zu dem Pfeifenständer. Ich saß und dachte, ‚er wird sich wohl rächen wollen‘, denn vor seinem Tode hatten wir uns ordentlich gezankt. ‚Wie, wagst du‘, sagte ich zu ihm, ‚zu mir mit einem zerrissenen Ellenbogen zu kommen, – hinaus, Hallunke!‘ Er wandte sich um, ging hinaus und erschien nie mehr. Ich habe es Marfa Petrowna nicht erzählt. Ich wollte für ihn eine Totenmesse abhalten lassen, aber genierte mich.“
„Gehen Sie zu einem Arzte!“
„Ich weiß auch ohne Sie, daß ich nicht gesund bin, obwohl ich wahrhaftig nicht weiß, wo es mir fehlt; meiner Ansicht nach bin ich sicher fünfmal gesünder als Sie. Ich habe Sie jedoch nicht danach gefragt. Ich habe Sie vielmehr gefragt, glauben Sie, daß es Gespenster gibt?“
„Nein, ich kann um nichts in der Welt daran glauben!“ rief Raskolnikoff wütend aus.
„Wie spricht man von solchem Falle gewöhnlich?“ murmelte Sswidrigailoff vor sich hin, sah dabei zur Seite und hatte ein wenig den Kopf gesenkt. „Die einen sagen, – du bist krank, und das, was sich dir vorstellt, ist ein nicht existierender Wahn. Das ist aber doch unlogisch. Ich gebe zu, daß Gespenster nur Kranken erscheinen, aber das beweist doch bloß, daß die Gespenster niemand anderen als Kranken erscheinen können, jedoch nicht, daß sie an und für sich nicht existieren.“
„Gewiß, sie existieren auch nicht!“ bestand Raskolnikoff gereizt auf seiner Ansicht.
„Nicht? Sie meinen es?“ fuhr Sswidrigailoff langsam fort und blickte ihn an. „Nun, man kann es auch so betrachten, – Sie müssen mir helfen, – Gespenster sind sozusagen Teile und Stückchen aus anderen Welten, ihr Anfang. Ein gesunder Mensch braucht sie selbstverständlich nicht zu sehn, denn ein Gesunder ist der meist irdische Mensch und soll also der Ordnung und Vollständigkeit wegen nur das gegenwärtige Leben leben. Nun, wenn er aber erkrankt und wenn die normale irdische Ordnung im Organismus ein wenig ins Wanken geraten ist, beginnt sich sofort die Möglichkeit einer anderen Welt zu zeigen, und je stärker er erkrankt, um so mehr gibt es für ihn Berührungspunkte mit dieser Welt, bis er, wenn er schließlich stirbt, in die andere Welt übergeht. Ich habe darüber seit langem nachgedacht. Wenn Sie an ein zukünftiges Leben glauben, so können Sie auch an diesen Gedanken glauben.“
„Ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben,“ sagte Raskolnikoff.
Sswidrigailoff saß nachdenklich da.
„Wenn es aber dort drüben nur Spinnen oder dergleichen gibt,“ sagte er rasch.
„Er ist verrückt,“ dachte Raskolnikoff.
„Uns erscheint immer die Ewigkeit als eine Idee, die man nicht erfassen kann, als etwas ungeheuer Großes. Aber warum soll sie denn unbedingt ungeheuer groß sein? Und schließlich stellen Sie sich vor, anstatt dessen wird dort ein kleines Zimmer sein, ähnlich einer Badestube auf dem Lande; verräuchert, in allen Ecken Spinnen, und das wird die ganze Ewigkeit sein. Wissen Sie, ich stelle sie mir zuweilen in dieser Art vor.“
„Und stellen Sie sich tatsächlich nichts tröstlicheres und gerechteres vor, als dieses!“ rief Raskolnikoff aufgeregt.
„Gerechteres? Woher wissen wir es, vielleicht ist dies auch gerecht; und wissen Sie, ich würde es unbedingt so einrichten!“ antwortete Sswidrigailoff und lächelte unbestimmt.
Es überlief Raskolnikoff bei dieser abscheulichen Antwort kalt. Sswidrigailoff erhob den Kopf, blickte ihn aufmerksam an und lachte plötzlich laut auf.
„Nein, bedenken Sie bloß,“ rief er aus, „vor einer halben Stunde hatten wir einander noch nicht gesehen, hielten uns für Feinde, hatten eine Angelegenheit auszutragen; wir ließen die Sache fallen und verwirren uns in diese Ideen! Nun, habe ich nicht die Wahrheit gesagt, daß wir von einem Stamme sind?“
„Tun Sie mir den Gefallen,“ fuhr Raskolnikoff gereizt fort, „erklären Sie sich schneller und teilen Sie mir mit, warum Sie mir die Ehre erwiesen haben, mich zu besuchen ... und ... und ich habe Eile, habe keine Zeit, ich will fortgehen ...“
„Bitte, bitte. Ihre Schwester Awdotja Romanowna heiratet Herrn Peter Petrowitsch Luschin?“
„Können Sie nicht jede Frage über meine Schwester vermeiden und ihren Namen unerwähnt lassen? Ich begreife nicht, wie Sie es wagen, in meiner Gegenwart ihren Namen auszusprechen, wenn Sie tatsächlich Sswidrigailoff sind.“
„Ich bin doch gekommen, um über sie zu sprechen, wie soll ich denn ihren Namen nicht erwähnen?“
„Gut. Reden Sie, aber schnell!“
„Ich bin überzeugt, daß Sie sich Ihre Meinung über diesen Herrn Luschin, einen Verwandten meiner Frau, schon gebildet haben, wenn Sie ihn nur eine halbe Stunde gesehen oder irgend etwas Sicheres und Genaues über ihn gehört haben. Er paßt nicht für Awdotja Romanowna. Meiner Ansicht nach bringt sich Awdotja Romanowna hier sehr großmütig und uneigennützig zum Opfer für ... für ihre Familie. Mir schien es, auf Grund all dessen, was ich über Sie gehört habe, daß Sie Ihrerseits sehr zufrieden sein würden, wenn diese Heirat ohne Verletzung der Interessen nicht zustandekommen würde. Jetzt aber, nachdem ich Sie persönlich kennengelernt habe, bin ich davon sogar überzeugt.“
„Ihrerseits ist dies alles sehr naiv, entschuldigen Sie, ich wollte sagen, frech,“ erwiderte Raskolnikoff.
„Das heißt, Sie sagen damit, daß ich für meinen eigenen Nutzen sorge. Seien Sie ruhig, Rodion Romanowitsch, wenn ich meine eigenen Vorteile im Auge haben würde, so hätte ich mich nicht so offen ausgesprochen, ich bin doch nicht ganz dumm. In dieser Beziehung will ich Ihnen eine psychologische Merkwürdigkeit offenbaren. Vorhin sagte ich, als ich meine Liebe zu Awdotja Romanowna rechtfertigte, daß ich selbst ein Opfer dieser Liebe sei. Nun, mögen Sie wissen, daß ich jetzt gar keine Liebe mehr, absolut gar keine empfinde, so daß ich mich über mich selbst wundere, denn ich hatte doch tatsächlich so empfunden ...“
„Aus Müßiggang und Unsittlichkeit,“ unterbrach ihn Raskolnikoff.
„Ich bin wirklich ein Nichtstuer und Wüstling. Aber, Ihre Schwester hat so viele Vorzüge, daß ich einem gewissen Eindrucke unterliegen mußte. Doch das ist alles Unsinn, wie ich es selbst jetzt auch einsehe.“
„Haben Sie es seit langem eingesehen?“
„Ich habe es schon früher gemerkt, mich aber vorgestern im Augenblicke meiner Ankunft in Petersburg endgültig davon überzeugt. Übrigens, in Moskau noch stellte ich mir vor, daß ich nur reise, um mit Herrn Luschin in Konkurrenz zu treten und um Awdotja Romanownas Hand anzuhalten.“
„Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber tun Sie mir den Gefallen, sich kürzer zu fassen und direkt auf den Zweck Ihres Besuches überzugehen. Ich habe Eile, ich muß fortgehen ...“
„Mit größtem Vergnügen. Als ich hier angekommen war und mich entschlossen hatte, jetzt eine ... Reise anzutreten, wollte ich einige notwendige Anordnungen vorher treffen. Meine Kinder sind bei der Tante geblieben und sind reich; mich persönlich brauchen sie nicht. Was für ein Vater wäre ich auch? Ich habe mir selbst nur das genommen, was mir Marfa Petrowna vor einem Jahre geschenkt hatte. Für mich reicht es. Entschuldigen Sie, ich komme sofort zur Sache selbst. Vor meiner Reise, die vielleicht bald verwirklicht wird, will ich aber mit Herrn Luschin abrechnen. Nicht etwa, daß ich ihn gar nicht ausstehen kann, aber um seinetwillen entstand der Streit mit Marfa Petrowna, nachdem ich erfahren hatte, daß sie diese Heirat eingeleitet hat. Ich möchte jetzt, durch Ihre Vermittlung, Awdotja Romanowna sehen und meinetwegen in Ihrer Anwesenheit ihr erklären, daß sie von seiten des Herrn Luschin nicht nur nicht den geringsten Vorteil, sondern sicher eine unbedingte Enttäuschung erfahren wird. Dann möchte ich, nachdem ich sie wegen aller Unannehmlichkeiten um Entschuldigung gebeten habe, mir die Erlaubnis einholen, ihr zehntausend Rubel anzubieten, um ihr in dieser Weise den Bruch mit Herrn Luschin zu erleichtern; ich bin überzeugt, daß sie sich gegen einen Bruch mit ihm nicht sträubt, wenn sich nur eine Möglichkeit bietet.“
„Sie sind aber tatsächlich, tatsächlich verrückt!“ rief Raskolnikoff, mehr erstaunt als ärgerlich. „Wie können Sie sich unterstehen, so zu sprechen!“
„Ich wußte es, daß Sie mich anschreien werden, aber trotzdem ich nicht reich bin, kann ich vollkommen über diese zehntausend Rubel verfügen, ich brauche sie gar nicht. Wenn Awdotja Romanowna sie nicht annehmen will, werde ich sie vielleicht in der dümmsten Art verwenden. Das ist das eine. Mein Gewissen ist vollkommen ruhig, ich biete sie ohne jeglichen Hintergedanken an. Nun zweitens. Glauben Sie es, oder glauben Sie es nicht, später werden Sie und Awdotja Romanowna es erfahren. Die ganze Sache dreht sich doch darum, daß ich tatsächlich Mühe und Unannehmlichkeiten Ihrer verehrten Schwester verursacht habe; und da ich eine aufrichtige Reue empfinde, wünsche ich von Herzen, – mich nicht etwa loskaufen und die Unannehmlichkeiten bezahlen, sondern einfach ihr etwas Vorteilhaftes aus dem Grunde zu erweisen, weil ich doch schließlich kein Privilegium habe, nur Böses zu tun. Wenn sich in meinem Anerbieten eine winzige Spur von Berechnung fände, so würde ich ihr doch nicht bloß zehntausend anbieten, da ich vor fünf Wochen ihr viel mehr angeboten habe. Außerdem werde ich vielleicht sehr, sehr bald ein junges Mädchen heiraten, folglich muß dadurch der ganze Verdacht, daß ich gegen Awdotja Romanowna etwas im Schilde führe, fortfallen. Zum Schlusse möchte ich noch sagen, daß Awdotja Romanowna, indem sie Herrn Luschin heiratet, dasselbe Geld nimmt, nur von anderer Seite ... Ärgern Sie bitte sich nicht, Rodion Romanowitsch, überlegen Sie es sich ruhig und kaltblütig ...“
Sswidrigailoff war, während er dies sagte, selbst außerordentlich kaltblütig und ruhig.
„Ich bitte Sie, zu Ende zu kommen,“ sagte Raskolnikoff. „Jedenfalls ist es unverzeihlich frech.“
„Keineswegs. Demnach könnte ein Mensch einem anderen in dieser Welt nur Böses zufügen und hat im Gegenteil kein Recht wegen leerer konventioneller Formalitäten, ihm ein bißchen Gutes zu erweisen. Das ist unsinnig. Wenn ich zum Beispiel gestorben wäre und diese Summe Ihrer Schwester laut Testament hinterlassen hätte, würde sie sich auch dann weigern, sie anzunehmen?“
„Sehr möglich.“
„Nein, das glaube ich nicht. Übrigens, wenn sie nein sagt, mag es dabei bleiben, zehntausend aber sind unter Umständen eine angenehme Sache. In jedem Falle bitte ich Sie, Awdotja Romanowna das Gesagte mitzuteilen.“
„Nein, ich werde es ihr nicht mitteilen.“
„In diesem Falle, Rodion Romanowitsch, werde ich gezwungen sein, eine persönliche Zusammenkunft herbeizuführen, also auch sie belästigen.“
„Und wenn ich es ihr mitteilen werde, wollen Sie dann von einer persönlichen Zusammenkunft absehen?“
„Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen sagen soll. Einmal möchte ich sie doch gerne sehen.“
„Hoffen Sie nicht darauf!“
„Schade. Sie kennen mich noch nicht. Vielleicht werden wir uns näherkommen.“
„Sie meinen, daß wir einander näherkommen werden?“
„Warum denn nicht?“ sagte Sswidrigailoff lächelnd, stand auf und nahm seinen Hut. „Nicht, daß es mir Spaß machte, Sie zu belästigen, und als ich hierher ging, rechnete ich nicht mit dieser Möglichkeit, obwohl mir Ihr Gesicht schon vorhin, heute morgen, auffiel ...“
„Wo haben Sie mich heute früh gesehen?“ fragte Raskolnikoff voll Unruhe.
„Zufällig ... Mir kommt es immer vor, als wäre etwas in Ihnen, was meinem Wesen entspricht ... Regen Sie sich nicht auf, ich bin nicht aufdringlich; ich bin mit Falschspielern gut ausgekommen, war dem Fürsten Sswirbei, einem entfernten Verwandten und Würdenträger, nicht zur Last gefallen, habe es verstanden, Frau Prilukoff ins Album ein Gedicht über die Raphaelsche Madonna zu schreiben, habe mit Marfa Petrowna sieben Jahre auf einem Fleck verlebt, in früheren Zeiten im Hause Wjasemski auf dem Heumarkte geschlafen und werde nun vielleicht mit Berg im Luftballon aufsteigen.“
„Nun, schon gut. Erlauben Sie mir die Frage, wollen Sie bald Ihre Reise antreten?“
„Welch eine Reise?“
„Von der Sie sprachen ... Sie sagten es doch selbst.“
„Ach ja! ... in der Tat, ich sprach von der Reise ... Nun, das ist eine große Frage ... Wenn Sie aber wüßten, wonach Sie mich soeben fragten!“ fügte er hinzu und lachte laut und kurz. „Ich werde vielleicht anstatt zu reisen, mich verheiraten. Man freit mir eine Braut.“
„Hier?“
„Ja.“
„Wann haben Sie denn dazu Zeit gefunden?“
„Mit Awdotja Romanowna jedoch möchte ich sehr gern einmal zusammentreffen. Ich bitte Sie in allem Ernst. Nun, auf Wiedersehen, ach ... ja! Ich hätte bald vergessen, Rodion Romanowitsch! Teilen Sie bitte Ihrer Schwester mit, daß sie im Testamente Marfa Petrownas mit dreitausend Rubeln bedacht ist. Das ist absolut richtig. Marfa Petrowna hat es eine Woche vor ihrem Tode angeordnet, und zwar in meiner Anwesenheit. Nach zwei oder drei Wochen kann Awdotja Romanowna auch das Geld erhalten.“
„Sagen Sie die Wahrheit?“
„Die volle Wahrheit. Teilen Sie es ihr mit. Nun, Ihr Diener. Ich wohne nicht sehr weit von Ihnen.“
Beim Weggehen stieß Sswidrigailoff in der Tür mit Rasumichin zusammen.
Es war schon fast acht Uhr; beide eilten zu Bakalejeff, um früher als Luschin da zu sein.
„Wer war denn das?“ fragte Rasumichin, als sie auf die Straße hinaustraten.
„Es war Sswidrigailoff, derselbe Gutsbesitzer, in dessen Hause meine Schwester als Gouvernante Kränkungen dulden mußte. Weil er ihr nachstellte, verließ sie das Haus, von seiner Frau Marfa Petrowna hinausgejagt. Dieselbe Marfa Petrowna hat nachher Dunja um Verzeihung gebeten und ist jetzt plötzlich gestorben. Vorhin sprachen wir von ihr. Ich weiß nicht warum, aber ich fürchte diesen Menschen sehr. Er reiste sofort nach der Beerdigung seiner Frau hierher, ist sehr sonderbar und hat sich zu etwas entschlossen ... Er scheint etwas zu wissen ... Man muß Dunja vor ihm schützen ... und das wollte ich dir auch sagen, hörst du?“
„Schützen! Was kann er denn gegen Awdotja Romanowna vorhaben? Nun, ich danke dir, Rodja, daß du so zu mir sprichst ... Wir wollen sie schützen! ... Wo lebt er?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum hast du ihn nicht gefragt? Ach, schade! Ich werde es übrigens bald erfahren!“
„Hast du ihn gesehen?“ fragte Raskolnikoff nach einigem Schweigen.
„Nun ja, ich habe ihn mir gemerkt; gut gemerkt!“
„Hast du ihn wirklich gesehen? Deutlich gesehen?“ wiederholte Raskolnikoff.
„Freilich, ich erinnere mich seiner deutlich; unter tausend erkenne ich ihn wieder, ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.“
„Hm ... das ist gut ...“ murmelte Raskolnikoff. „Sonst, weißt du ... dachte ich ... mir scheint es manchmal, als wenn es eine Einbildung von mir wäre.“
„Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht ganz.“
„Ihr sprecht doch alle davon,“ fuhr Raskolnikoff fort und verzog den Mund zu einem Lächeln, „daß ich verrückt sei; mir schien es nun augenblicklich, als ob ich tatsächlich verrückt sei und bloß ein Gespenst gesehen habe.“
„Was fällt dir ein?“
„Wer weiß es denn! Vielleicht bin ich wahrhaftig verrückt, und alles, was in diesen Tagen vorgefallen ist, geschah vielleicht nur in meiner Einbildung ...“
„Ach, Rodja! Man hat dich wieder aufgeregt! ... Ja, was sagte er denn, warum kam er?“
Raskolnikoff antwortete nicht, Rasumichin sann eine Weile nach.
„Nun, höre mir zu,“ begann er. „Ich war bei dir gewesen, da schliefst du. Dann aßen wir zu Mittag und ich ging nachher zu Porphyri. Sametoff war noch immer da. Ich wollte anfangen mit ihm zu sprechen, aber es kam nichts heraus. Ich konnte nie in richtiger Weise beginnen. Sie schienen auch nicht zu begreifen und wollten nichts begreifen und waren gar nicht beschämt. Ich führte Porphyri zum Fenster hin und begann zu sprechen, aber es kam wieder nichts dabei heraus, – er blickte zur Seite und ich blickte zur Seite. Schließlich streckte ich ihm die Faust drohend entgegen und sagte, daß ich ihn in verwandtschaftlicher Weise zerschmettern werde. Er sah mich bloß an und sagte nichts. Ich ließ die Sache fallen und ging weg, das ist alles. Sehr dumm, nicht wahr. Mit Sametoff redete ich kein Wort. Siehst du aber, – ich dachte anfangs, ich habe die Sache verschlimmert, aber wie ich die Treppe hinunterstieg, kam mir, nein besser, erleuchtete mich der Gedanke, warum beunruhigen wir uns eigentlich? Wenn dir wenigstens eine Gefahr drohen würde oder etwas ähnliches in Aussicht wäre, nun, dann wäre es verständlich! Was geht es aber dich an? Du hast mit der Sache nichts zu tun, also pfeife auf sie; wir werden noch später über sie lachen und ich würde an deiner Stelle sie noch mystifizieren. Wie sie sich nachher schämen werden! Pfeif darauf; wir können sie auch nachher verprügeln, jetzt aber wollen wir über sie lachen!“
„Du hast recht, versteht sich!“ antwortete Raskolnikoff.
„Aber was wirst du morgen sagen?“ dachte er sofort.
Sonderbar, bis jetzt war ihm noch nie der Gedanke gekommen, „was wird Rasumichin denken, wenn er es erfährt?“ Und bei diesem Gedanken blickte Raskolnikoff ihn gespannt an. An dem jetzigen Berichte Rasumichins über seinen Besuch bei Porphyri hatte er weniger Interesse, – seit der Zeit war vieles verschwunden und hinzugekommen! ...
Im Korridor stießen sie mit Luschin zusammen, – er war punkt acht Uhr erschienen und suchte das Zimmer, so daß alle drei zugleich eintraten, ohne aber einander anzublicken und ohne sich zu grüßen. Die jungen Leute gingen sofort in die Stube hinein, Peter Petrowitsch verblieb aus Anstand eine Weile im Vorzimmer und nahm den Mantel ab. Pulcheria Alexandrowna ging ihm sofort entgegen, um ihn an der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte den Bruder.
Peter Petrowitsch trat ein und verneigte sich ziemlich liebenswürdig, aber auch mit besonderer Zurückhaltung vor den Damen. Er sah aus, als wäre er ein wenig verwirrt und als ob er sich noch nicht gefaßt hätte. Pulcheria Alexandrowna, auch ein wenig aufgeregt, beeilte sich sofort, alle um einen Tisch, auf dem ein Samowar brannte, zu placieren. Dunja und Luschin setzten sich einander gegenüber zu beiden Seiten des Tisches. Rasumichin und Raskolnikoff kamen Pulcheria Alexandrowna gegenüber zu sitzen, – Rasumichin neben Luschin, Raskolnikoff neben der Schwester.
Es trat Schweigen ein. Peter Petrowitsch zog langsam ein Batisttaschentuch hervor, das nach Parfüm duftete und schneuzte sich mit der Miene eines tugendhaften, in seiner Würde gekränkten Menschen, der fest entschlossen ist, Erklärungen zu verlangen. Im Vorzimmer war ihm der Gedanke gekommen, – den Mantel nicht abzunehmen und fortzugehen und dadurch die Damen streng und nachdrücklich zu bestrafen, um sie mit einem Male ihr Unrecht fühlen zu lassen. Aber er konnte sich nicht dazu entschließen. Außerdem liebte er keine Ungewißheit, und hier galt es, festzustellen, aus welchem Grunde sein Befehl so offensichtlich nicht befolgt wurde, es mußte irgend etwas Besonderes sein, und so war es besser abzuwarten; zu strafen war immer Zeit genug, es lag ja in seinen Händen.
„Ich hoffe, die Reise ist glücklich abgelaufen?“ wandte er sich im offiziellen Tone an Pulcheria Alexandrowna.
„Gottlob ja, Peter Petrowitsch.“
„Sehr angenehm zu hören. Und Awdotja Romanowna ist auch nicht ermüdet?“
„Ich bin jung und stark und werde nicht müde, aber für Mama war es sehr schwer gewesen,“ antwortete Dunetschka.
„Was ist da zu machen; die Entfernungen in unserm Lande sind groß. Groß ist das sogenannte ‚Mütterchen Rußland‘ ... Ich aber konnte beim besten Willen Sie gestern nicht empfangen. Ich hoffe jedoch, daß alles ohne Aufregung gut verlaufen ist?“
„Ach nein, Peter Petrowitsch, wir waren sehr mutlos,“ beeilte sich Pulcheria Alexandrowna mit besonderer Betonung zu bemerken, „und wenn uns nicht Gott selbst Dmitri Prokofjitsch gestern gesandt hätte, so wären wir sehr verlassen gewesen. Das ist er, Dmitri Prokofjitsch Rasumichin,“ fügte sie hinzu, ihn Luschin vorstellend.
„Ich hatte schon das Vergnügen ... gestern,“ murmelte Luschin und sah Rasumichin dabei feindselig von der Seite an, sein Gesicht verdüsterte sich und er schwieg.
Peter Petrowitsch gehörte zu den Leuten, die in der Gesellschaft außerordentlich liebenswürdig sind und auf Liebenswürdigkeit besonderen Anspruch erheben, die aber auch sofort, wenn das geringste nicht nach ihrem Geschmack ist, alle ihre guten Eigenschaften verlieren und eher Mehlsäcken als gewandten und die Gesellschaft belebenden Kavalieren gleichen. Alle verstummten wieder eine Weile, – Raskolnikoff schwieg hartnäckig und Awdotja Romanowna wollte das Schweigen nicht vorzeitig unterbrechen. Rasumichin hatte nichts zu sagen, so daß Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig wurde.
„Marfa Petrowna ist gestorben, Sie haben es wohl gehört?“ begann sie zu einem ihrer Hauptaushilfemittel greifend.
„Ich habe es gehört. Ich wurde sofort benachrichtigt und bin sogar jetzt gekommen, Ihnen mitzuteilen, daß Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff unverzüglich nach der Beerdigung seiner Gattin nach Petersburg abgereist ist. So lauten wenigstens die sichersten Nachrichten, die ich empfangen habe.“
„Nach Petersburg? Hierher?“ fragte Dunja voll Unruhe und wechselte mit der Mutter einen Blick.
„Ja, es ist ganz sicher und er kommt selbstverständlich nicht ohne Absichten, wenn man die Eile der Abreise und überhaupt die vorangegangenen Umstände in Betracht zieht.“
„Mein Gott! Will er etwa auch hier Dunetschka nicht in Ruhe lassen?“ rief Pulcheria Alexandrowna aus.
„Mir scheint es, weder Sie noch Awdotja Romanowna brauchen sich besonders aufzuregen, wenn Sie natürlich nicht selbst mit ihm in Verbindung treten wollen. Was mich anbetrifft, so werde ich nach ihm forschen und mich erkundigen, wo er abgestiegen ist ...“
„Ach, Peter Petrowitsch, Sie werden nicht glauben, wie Sie mich jetzt erschreckt haben!“ fuhr Pulcheria Alexandrowna fort. „Ich habe ihn bloß zweimal gesehen, er erschien mir schrecklich, fürchterlich! Ich bin überzeugt, daß er die Ursache von Marfa Petrownas Tode ist.“
„Darüber läßt sich nichts sagen. Ich habe genaue Nachrichten. Ich bestreite nicht, daß er vielleicht den Gang der Dinge sozusagen durch den moralischen Einfluß von Kränkungen beschleunigt habe; denn im Urteil über sein Benehmen und überhaupt über seinen sittlichen Charakter bin ich mit Ihnen völlig einig. – Ich weiß nicht, ob er jetzt reich ist und was Marfa Petrowna ihm hinterlassen hat, darüber werde ich in kürzester Zeit erfahren, aber hier, in Petersburg, wird er selbstverständlich, wenn er nur einigermaßen Mittel besitzt, sofort seinen alten Gewohnheiten nachgehen. Er ist der verdorbenste und in Lastern verkommenste Mensch seines Geschlechts. Ich habe einen triftigen Grund anzunehmen, daß Marfa Petrowna, die das Unglück hatte, sich in ihn zu verlieben und ihn vor acht Jahren von Schulden befreite, auch in anderer Hinsicht ihm geholfen hat, – einzig und allein dank ihrer Bemühungen und Opfer wurde eine kriminelle Sache mit einem Beigeschmack von tierischer und sozusagen phantastischer Roheit vertuscht, für die er mit größter Wahrscheinlichkeit nach Sibirien geschickt worden wäre. Sehen Sie, so ist dieser Mensch, wenn Sie es wissen wollen.“
„Ach, mein Gott!“ rief Pulcheria Petrowna aus.
Raskolnikoff hörte aufmerksam zu.
„Sagen Sie die Wahrheit, daß Sie darüber genaue Nachrichten besitzen?“ fragte Dunja streng und nachdrücklich.
„Ich erzähle bloß das, was ich selbst, als Geheimnis, von der verstorbenen Marfa Petrowna gehört habe. Ich muß bemerken, daß diese Sache vom juristischen Standpunkte sehr dunkel ist. Hier lebte und scheint noch jetzt eine gewisse Rößlich zu leben, eine Ausländerin, eine kleine Wucherin, die aber sich auch mit anderen Geschäften abgibt. Zu dieser Rößlich stand seit langem Herr Sswidrigailoff in gewissem sehr nahem und geheimnisvollem Verhältnisse. Bei der Rößlich wohnte eine entfernte Verwandte, eine Nichte, glaube ich, ein taubstummes Mädchen von fünfzehn oder vierzehn Jahren, die diese Rößlich grenzenlos haßte, der sie jedes Stück Brot vorwarf und die sie sogar unmenschlich schlug. Eines Tages wurde dieses Mädchen auf dem Boden erhängt aufgefunden. Es wurde festgestellt, daß sie mit Selbstmord geendet hatte. Nach den gewöhnlichen Formalitäten wurde die Sache abgeschlossen, später aber lief eine Denunziation ein, daß das Kind von Herrn Sswidrigailoff ... grausam mißhandelt worden sei. Es ist wahr, die Sache war sehr dunkel, die Denunziation stammte von einer anderen Deutschen, einem verwerflichen Frauenzimmer, die kein Vertrauen genoß; schließlich ergab es sich dank den Bemühungen und dem Gelde Petrownas, daß im Grunde genommen gar keine Denunziation eingelaufen sei; alles beschränkte sich auf ein Gerücht. Aber dieses Gerücht war bedeutsam genug. Sie, Awdotja Romanowna, haben sicher auch von der Geschichte mit dem Diener Filka gehört, der vor sechs Jahren, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, an Mißhandlungen gestorben ist.“
„Ich habe im Gegenteil gehört, daß dieser Filka sich selbst erhängt habe.“
„Das stimmt, aber die ununterbrochenen Verfolgungen und Strafen des Herrn Sswidrigailoff haben ihn gezwungen oder besser gesagt, zum Selbstmorde getrieben.“
„Davon weiß ich nichts,“ antwortete Dunja trocken, „ich habe bloß eine sehr sonderbare Geschichte gehört, – dieser Filka war ein Hypochonder, ein Philosoph, die Menschen sagten von ihm, er habe zu viel gelesen, und er hat sich eher wegen der Spötteleien, als wegen der Schläge von Herrn Sswidrigailoff erhängt. Als ich dort im Hause war, behandelte er die Leute gut, und die Leute liebten ihn sogar, obwohl sie ihm an dem Tode Filkas die Schuld gaben.“
„Ich sehe, Awdotja Romanowna, daß Sie auf einmal geneigt sind, ihn zu entschuldigen,“ bemerkte Luschin und verzog den Mund zu einem zweideutigen Lächeln. „Er ist in der Tat ein schlauer Mensch und für Damen verführerisch, wofür Marfa Petrowna, die eines eigentümlichen Todes gestorben ist, als trauriges Beispiel dient. Ich wollte bloß Ihnen und Ihrer Frau Mutter mit meinem Ratschlage einen Dienst erweisen, in Anbetracht seiner neuen und zweifellos bevorstehenden Annäherungsversuche. Was mich anbetrifft, so bin ich fest überzeugt, daß dieser Mensch selbstverständlich wieder im Schuldgefängnisse verschwinden wird. Marfa Petrowna hat nie und nimmer die Absicht gehabt, irgend etwas auf seinen Namen zu übertragen, weil sie die Kinder im Auge hatte, und wenn sie ihm etwas hinterlassen hat, so ist es höchstens das Notwendigste, kaum nennenswert und was für einen Menschen von seinen Gewohnheiten auch nicht ein Jahr ausreicht.“
„Peter Petrowitsch, ich bitte Sie,“ sagte Dunja, „hören wir auf, von Herrn Sswidrigailoff zu sprechen. Es macht mich schwermütig.“
„Er war soeben bei mir,“ sagte plötzlich Raskolnikoff, zum ersten Male sein Schweigen brechend.
Von allen Seiten ertönten Ausrufe und alle wandten sich an ihn. Sogar Peter Petrowitsch wurde aufgeregt.
„Vor anderthalb Stunden, als ich schlief, kam er herein, weckte mich auf und stellte sich vor,“ fuhr Raskolnikoff fort. „Er war ziemlich ungezwungen und lustig und hofft sicher, daß ich mit ihm in nähere Beziehungen treten werde. Unter anderem bittet er sehr um eine Zusammenkunft mit dir, Dunja, und bat mich, der Vermittler dieser Zusammenkunft zu sein. Er will dir ein Anerbieten machen; worin dies besteht, hat er mir mitgeteilt. Außerdem teilte er mir positiv mit, daß Marfa Petrowna Zeit gefunden hat, eine Woche vor ihrem Tode, dir, Dunja, dreitausend Rubel zu vermachen, und daß du dieses Geld in sehr kurzer Zeit erhalten kannst!“
„Gott sei Dank!“ rief Pulcheria Alexandrowna und schlug ein Kreuz. „Bete für sie, Dunja, bete!“
„Das ist tatsächlich wahr?“ entschlüpfte es Luschin.
„Nun und weiter?“ drängte Dunja.
„Dann sagte er, daß er selbst nicht reich sei und das ganze Vermögen seinen Kindern, die jetzt bei der Tante sind, zufällt. Er sagte auch, daß er irgendwo nicht weit von mir abgestiegen sei, wo aber – das weiß ich nicht, ich habe ihn nicht gefragt ...“
„Aber, was will er denn Dunetschka anbieten?“ fragte die erschrockene Pulcheria Alexandrowna. „Hat er es dir gesagt?“
„Ja, er hat es gesagt.“
„Was ist es denn?“
„Ich will es nachher sagen.“ Raskolnikoff verstummte und wandte sich zu seinem Glase Tee.
Peter Petrowitsch sah auf seine Uhr.
„Ich muß in einer notwendigen Angelegenheit weggehen und werde dann nicht stören,“ fügte er mit merklich gekränkter Miene hinzu und erhob sich halb vom Stuhle.
„Bleiben Sie, Peter Petrowitsch,“ sagte Dunja, „Sie hatten doch die Absicht, den ganzen Abend hier zu verbringen. Außerdem schrieben Sie selbst, daß Sie wünschen, über etwas mit Mama zu sprechen.“
„Das ist richtig, Awdotja Romanowna,“ sagte Peter Petrowitsch mit Nachdruck, setzte sich wieder hin, behielt aber den Hut in der Hand, „ich wollte tatsächlich mit Ihnen und mit Ihrer verehrten Frau Mutter, und sogar über sehr wichtige Punkte, sprechen. Aber, wie Ihr Bruder in meiner Gegenwart sich über einige Angebote Herrn Sswidrigailoffs nicht näher erklären kann, so wünschte ich auch nicht und kann nicht ... in Gegenwart von anderen ... über einige äußerst wichtige Punkte sprechen. Außerdem ist meine Haupt- und eindringlichste Bitte nicht erfüllt worden ...“ Luschin nahm eine bittre Miene an und schwieg würdevoll.
„Ihre Bitte, daß mein Bruder bei unserer Zusammenkunft nicht zugegen wäre, ist einzig auf mein Verlangen nicht erfüllt worden,“ sagte Dunja. „Sie schrieben, daß Sie von meinem Bruder beleidigt worden sind; ich denke, daß sich dies sofort aufklären läßt und Sie beide werden sich vertragen. Und wenn Rodja Sie tatsächlich beleidigt hat, so muß und wird er Sie um Entschuldigung bitten.“
Peter Petrowitsch wurde sofort kouragierter.
„Es gibt gewisse Beleidigungen, Awdotja Romanowna, die man beim besten Willen nicht vergessen kann. In allem gibt es eine Grenze, die zu überschreiten gefährlich ist; denn, ist sie einmal überschritten, so ist es unmöglich, zurückzukehren.“
„Ich sprach eigentlich nicht darüber, Peter Petrowitsch,“ unterbrach ihn Dunja ein wenig ungeduldig, „verstehn Sie mich so, daß die ganze Zukunft jetzt davon abhängt, ob dieses alles sich möglichst schnell aufklären und erledigen wird oder nicht? Ich sage offen, daß ich anders es nicht ansehen kann, und wenn Sie mich nur ein wenig schätzen, so muß die ganze Geschichte, wie schwer es auch sein mag, heute noch beigelegt werden. Ich wiederhole Ihnen, wenn mein Bruder die Schuld trägt, wird er um Verzeihung bitten.“
„Ich bin erstaunt, daß sie die Frage so stellen, Awdotja Romanowna,“ wurde Luschin immer mehr gereizt, „wenn ich Sie schätze und sozusagen verehre, brauche ich doch gleichzeitig nicht jeden aus Ihrer Familie besonders gern zu haben. Wenn ich auf den glücklichen Besitz ihrer Hand Anspruch erhebe, brauche ich doch nicht gleichzeitig Verpflichtungen zu übernehmen, die unvereinbar ...“
„Ach, lassen Sie diese Empfindlichkeit, Peter Petrowitsch,“ unterbrach ihn Dunja mit Wärme, „und seien Sie der kluge und edle Mensch, für den ich Sie stets gehalten habe und halten will. Ich habe Ihnen ein großes Versprechen gegeben, ich bin Ihre Braut geworden; vertrauen Sie doch mir in dieser Sache und glauben Sie mir, ich werde die Kraft haben, unparteiisch zu urteilen. Der Umstand, daß ich die Rolle eines Richters übernehme, ist für meinen Bruder ebenso eine Überraschung wie für Sie. Als ich ihn heute nach dem Empfang Ihres Briefes aufforderte, unbedingt zu unserer Zusammenkunft zu kommen, habe ich ihm nichts von meinen Absichten mitgeteilt. Verstehn Sie doch, daß, wenn Sie sich nicht vertragen, ich zwischen Ihnen beiden wählen muß, – entweder Sie oder ihn. So ist die Frage, wie von seiner, so auch von Ihrer Seite gestellt. Ich will und darf mich nicht in der Wahl irren. Ihretwegen muß ich mit meinem Bruder brechen; meines Bruders wegen muß ich mit Ihnen brechen. Ich will und kann jetzt sicher erfahren, – ist er mir wirklich ein Bruder? Und von Ihnen, ob ich Ihnen teuer bin, ob Sie mich schätzen und Sie mir ein Gatte sein können?“
„Awdotja Romanowna,“ sagte Luschin verletzt. „Ihre Worte sind für mich zu bedeutungsvoll, ich will sogar sagen, kränkend, in Anbetracht der Stellung, die ich die Ehre habe Ihnen gegenüber einzunehmen. Ich spreche schon gar nicht von der kränkenden und sonderbaren Gegenüberstellung zwischen mir ... und einem aufgeblasenen Jüngling, aber in Ihren Worten geben Sie mir die Möglichkeit zu, das mir gegebene Versprechen zu brechen. Sie sagen, ‚entweder Sie, oder er‘? also zeigen Sie damit, wie wenig ich für Sie bedeute ... ich kann dies bei den Beziehungen ... und Umständen, die zwischen uns bestehen, nicht zulassen.“
„Wie!“ flammte Dunja auf. „Ich stelle Ihre Interessen auf eine Stufe mit allem, was mir im Leben bis jetzt teuer war, was bis jetzt mein ganzes Leben ausmachte, und Sie sind gekränkt, daß ich Sie zu wenig schätze!“
Raskolnikoff lächelte schweigend und höhnisch, Rasumichin war empört; Peter Petrowitsch aber ließ die Erwiderung nicht gelten, er wurde im Gegenteil mit jedem Worte immer zudringlicher und gereizter, als hätte er daran Geschmack gefunden.
„Die Liebe zum künftigen Lebensgefährten, zum Manne, muß die Liebe zum Bruder überwiegen,“ sagte er sentenziös, „in jedem Falle aber kann ich nicht auf ein und derselben Stufe stehn ... Aber obwohl ich vorhin bestimmt sagte, daß ich in Gegenwart Ihres Bruders nicht wünsche, alles zu erklären, und nicht sagen könne, weswegen ich hierhergekommen bin, habe ich jetzt trotzdem die Absicht, mich an Ihre verehrte Frau Mutter zu wenden, um eine notwendige Aufklärung über einen sehr wichtigen und mich beleidigenden Punkt zu erhalten. Ihr Sohn,“ wandte er sich an Pulcheria Alexandrowna, „hat mich gestern in Gegenwart des Herrn Rassudkin“ ... („Nicht wahr, der Name ist doch richtig, ich habe Ihren Namen vergessen, entschuldigen Sie,“ verbeugte er sich höflich vor Rasumichin) „durch die Verdrehung eines Gedankens von mir, den ich Ihnen einmal in einem Privatgespräch bei einer Tasse Kaffee mitteilte, beleidigt. Mein Gedanke war, daß die Heirat mit einem armen Mädchen, das schon die Sorgen des Lebens erfahren hat, meiner Ansicht nach vom Standpunkte der Ehe aus vorteilhafter sei, als mit einem, das im Überflusse lebt, weil es in moralischer Hinsicht nützlicher sei. Ihr Sohn hat absichtlich den Sinn meiner Worte äußerst entstellt und mich böswilliger Absichten beschuldigt, indem er sich meiner Ansicht nach auf Ihren eigenen Brief stützte. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn es Ihnen, Pulcheria Alexandrowna, möglich wäre, mich vom Gegenteil zu überzeugen und mich dadurch sehr zu beruhigen. Teilen Sie mir mit, in welchen Ausdrücken Sie meine Worte in Ihrem Briefe an Rodion Romanowitsch wiedergegeben haben?“
„Ich entsinne mich nicht,“ sagte Pulcheria Alexandrowna verwirrt, „ich habe sie aber wiedergegeben, wie ich sie selbst verstanden hatte. Ich weiß nicht, wie Rodja es Ihnen erzählt hat ... Vielleicht hat er auch einiges übertrieben.“
„Ohne Ihren Anstoß konnte er sie nicht übertreiben.“
„Peter Petrowitsch,“ erwiderte Pulcheria Alexandrowna voll Würde, „der Beweis, daß ich und Dunja Ihre Worte nicht in sehr schlechtem Sinne aufgefaßt haben, ist, daß wir hier sind.“
„Das war gut, Mama!“ sagte Dunja lobend.
„Also, auch daran bin ich schuld!“ bemerkte Luschin gekränkt.
„Sehen Sie, Peter Petrowitsch, Sie beschuldigen immer Rodion, Sie selbst aber haben vorhin in dem Briefe über ihn die Unwahrheit geschrieben,“ fügte Pulcheria Alexandrowna ermutigt hinzu.
„Ich erinnere mich nicht, daß ich irgendeine Unwahrheit geschrieben hätte.“
„Sie haben geschrieben,“ sagte Raskolnikoff scharf, ohne sich zu Luschin umzuwenden, „daß ich gestern das Geld nicht der Witwe des Überfahrenen gegeben habe, wie es in der Tat war, sondern seiner Tochter, die ich nebenbei gesagt niemals vor dem gestrigen Tage gesehen habe. Sie haben dies geschrieben, um mich mit meinen Verwandten zu entzweien, und haben auch aus dem Grunde sich in abscheulichen Ausdrücken über den Lebenswandel des jungen Mädchen geäußert, das Sie nicht einmal kennen. Das sind alles gemeine Klatschereien.“
„Entschuldigen Sie, mein Herr,“ antwortete Luschin zitternd vor Wut, „in meinem Briefe habe ich mich über Ihre Eigenschaften und Handlungen einzig aus dem Grunde geäußert, um die Bitte Ihrer Schwester und Mutter zu erfüllen und ihnen zu beschreiben, wie ich Sie gefunden und welch einen Eindruck Sie auf mich gemacht haben. Was das in meinem Briefe Erwähnte anbetrifft, so zeigen Sie mir wenigstens eine unwahre Zeile, das heißt, daß Sie das Geld nicht verbraucht haben und daß in dieser wenn auch unglücklichen Familie keine unwürdigen Personen sich befinden?“
„Meiner Ansicht nach sind Sie mit allen Ihren Vorzügen nicht den kleinen Finger dieses unglücklichen Mädchens wert, auf das Sie einen Stein werfen.“
„Nun, können Sie sich auch entschließen, sie in die Gesellschaft Ihrer Mutter und Schwester einzuführen?“
„Ich habe es schon getan, wenn Sie es wissen wollen. Ich habe sie heute neben meine Mutter und Dunja gesetzt.“
„Rodja!“ rief Pulcheria Alexandrowna aus.
Dunetschka errötete; Rasumichin zog die Augenbrauen zusammen. Luschin lächelte höhnisch und hochmütig.
„Sie belieben selbst zu sehen, Awdotja Romanowna,“ sagte er, „daß hier keine Verständigung möglich ist. Ich hoffe jetzt, daß diese Sache abgetan und ein für allemal aufgeklärt ist. Ich will mich entfernen, um die weitere angenehme Zusammenkunft der Verwandten und die Mitteilung von Geheimnissen nicht zu stören.“ Er erhob sich vom Stuhle und nahm seinen Hut. „Beim Weggehen erlaube ich mir zu bemerken, daß ich hoffe, künftig von ähnlichen Begegnungen und sozusagen Ausgleichsversuchen befreit zu sein. Sie, verehrte Pulcheria Alexandrowna, möchte ich besonders bitten, um so mehr, als auch mein Brief an Sie und nicht an andere adressiert war.“
Pulcheria Alexandrowna fühlte sich gekränkt.
„Was, wollen Sie uns ganz in Ihre Macht nehmen, Peter Petrowitsch? Dunja hat uns den Grund gesagt, warum Ihr Wunsch nicht erfüllt worden ist, – sie hatte gute Absichten damit verfolgt. Ja, und Sie schreiben mir, als ob Sie mir zu befehlen hätten. Sollen wir denn jeden Ihrer Wünsche als Befehl ansehen? Ich will Ihnen im Gegenteil sagen, daß Sie jetzt uns gegenüber besonders delikat und nachgiebig sein sollten, weil wir alles im Stich gelassen haben und im Vertrauen zu Ihnen hierhergereist sind, also auch uns sowieso fast in Ihrer Gewalt befinden.“
„Das ist nicht ganz richtig, Pulcheria Alexandrowna, und besonders im gegenwärtigen Augenblick nicht, wo Ihnen über die von Marfa Petrowna nachgelassenen dreitausend Rubel Mitteilung zukam, was Ihnen sehr willkommen zu sein scheint, wie man nach dem neuen Tone, in dem Sie mit mir sprechen, annehmen kann,“ fügte er höhnisch hinzu.
„Nach dieser Bemerkung zu urteilen, haben Sie tatsächlich auf unsere Hilflosigkeit gerechnet,“ sagte Dunja gereizt.
„Jetzt wenigstens kann ich dies nicht mehr, und ich möchte besonders nicht die Mitteilung der geheimnisvollen Angebote von Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff stören, mit denen er Ihren Bruder betraut hat, und die für Sie, wie ich sehe, eine wichtige und vielleicht auch sehr angenehme Überraschung sind.“
„Ach, mein Gott!“ rief Pulcheria Alexandrowna aus.
Rasumichin konnte nicht mehr auf dem Stuhle sitzen.
„Und du schämst dich jetzt nicht, Schwester?“ fragte Raskolnikoff.
„Ich schäme mich, Rodja,“ sagte Dunja. „Peter Petrowitsch, gehen Sie hinaus!“ wandte sie sich zu ihm, bleich vor Zorn.
Mit einem solchen Ende hatte Peter Petrowitsch nicht gerechnet. Er hatte zu sehr auf sich selbst, auf seine Macht und die Hilflosigkeit seiner Opfer gebaut. Aber er glaubte es auch jetzt noch nicht. Er erbleichte und seine Lippen zitterten.
„Awdotja Romanowna, wenn ich jetzt zu dieser Türe hinausgehe mit einem solchen Abschiede, so – bedenken Sie es – kehre ich nie mehr zurück. Überlegen Sie es sich gut! Mein Wort ist unerschütterlich.“
„Welch eine Frechheit!“ rief Dunja und erhob sich schnell von ihrem Platze, „ich will gar nicht, daß Sie zurückkehren!“
„Wie! Also so steht es!“ rief Luschin aus, der bis zum letzten Augenblicke an solchen Ausgang nicht geglaubt hatte, und der nun vollkommen den Faden verlor, „also, so ist es gemeint! Aber wissen Sie auch, Awdotja Romanowna, daß ich dagegen protestieren könnte.“
„Welch ein Recht haben Sie, in solcher Weise mit ihr zu sprechen!“ trat Pulcheria Alexandrowna hitzig ein. „Wie können Sie protestieren? Und was für Rechte haben Sie? Und soll ich Ihnen, solch einem, meine Dunja geben? Gehen Sie, verlassen Sie uns! Wir sind selbst schuld, daß wir auf solch eine ungerechte Sache eingingen und am meisten ich ...“
„Sie haben mich doch, Pulcheria Alexandrowna,“ ereiferte sich Luschin in seiner Wut, „durch Ihr gegebenes Wort gebunden, von dem Sie sich jetzt lossagen ... und endlich ... endlich haben Sie mich dadurch sozusagen in Unkosten gestürzt ...“
Diese letzte Anmaßung war dem Charakter von Peter Petrowitsch so entsprechend, daß Raskolnikoff, bleich vor Zorn und Anstrengung an sich zu halten, sich nicht enthalten konnte und – laut auflachte. Pulcheria Alexandrowna aber war außer sich.
„In Unkosten? In was für Unkosten? Meinen Sie etwa damit unseren Koffer? Es hat doch ein Schaffner ihn umsonst hergeschafft. Mein Gott, wir haben Sie gebunden! Besinnen Sie sich doch, Peter Petrowitsch, Sie haben uns an Händen und Füßen gebunden und nicht wir Sie!“
„Genug, Mama, bitte, genug!“ bat Awdotja Romanowna. „Peter Petrowitsch, tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie!“
„Ich gehe sofort, aber noch ein letztes Wort!“ sagte er, völlig außer sich. „Ihre Mutter scheint vollkommen vergessen zu haben, daß ich mich entschlossen hatte, trotz den Gerüchten in der Stadt, die im ganzen Umkreise über Ihren Ruf verbreitet waren, Sie zu heiraten. Indem ich Ihretwegen die öffentliche Meinung nicht beachtete und Ihren Ruf herstellte, konnte ich sicher sehr auf eine Vergeltung hoffen und sogar Ihre Dankbarkeit verlangen ... Und jetzt erst sind mir die Augen geöffnet worden! Ich sehe selbst, daß ich sehr übereilt gehandelt habe, indem ich der öffentlichen Stimme keine Beachtung schenkte ...“
„Ja, hat er denn zwei Köpfe!“ rief Rasumichin aus, sprang vom Stuhle auf und schickte sich schon an, ihm einen Denkzettel zu geben.
„Sie sind ein gemeiner und böser Mensch!“ sagte Dunja.
„Kein Wort mehr! Keine Bewegung!“ rief Raskolnikoff und hielt Rasumichin zurück; dann trat er dicht an Luschin heran.
„Gehen Sie sofort hinaus!“ sagte er leise und deutlich, „und kein Wort mehr, sonst ...“
Peter Petrowitsch blickte ihn einige Sekunden mit bleichem vor Wut verzogenem Gesichte an, wandte sich um und ging hinaus, und sicher hat selten jemand soviel Haß auf einen andern in seinem Herzen davongetragen, wie dieser Mann gegen Raskolnikoff. Ihn und nur ihn allein machte er für alles verantwortlich. Merkwürdig, daß er sich, als er schon die Treppe hinabstieg, immer noch einbildete, daß die Sache vielleicht nicht ganz verloren und bei den Damen wenigstens sogar „sehr leicht“ ins Geleise zu bringen sei.
Die Hauptsache war, daß er bis zum letzten Augenblicke einen derartigen Ausgang gar nicht erwartet hatte. Er spielte bis zum letzten Momente den Überlegenen, ohne auch nur die Möglichkeit zu ahnen, daß zwei arme und schutzlose Frauen sich seiner Macht entziehen könnten. Zu dieser Überzeugung trugen seine Eitelkeit und sein übermäßiges Selbstbewußtsein viel bei, das man am besten Selbstverliebtheit nennen kann. Peter Petrowitsch, der sich aus kleinen Verhältnissen emporgearbeitet hatte, hatte die krankhafte Angewohnheit, sich selbst mit Wohlgefallen zu betrachten, schätzte seinen Verstand und seine Fähigkeiten hoch ein, ja, er besah sogar zuweilen, wenn er allein war, sein Gesicht mit Liebe im Spiegel. Am meisten in der Welt aber liebte und schätzte er sein Geld, das er durch Arbeit und allerhand Machinationen erworben hatte, – es stellte ihn nach seinem Dafürhalten auf gleiche Stufe mit allem, was höher war als er.
Indem er voll Bitterkeit Dunja daran erinnerte, daß er sich entschlossen hatte, sie, trotz der schlechten Gerüchte über sie, zu heiraten, sprach Peter Petrowitsch vollkommen aufrichtig, er empfand eine tiefe Entrüstung über solch einen „schwarzen Undank“. Als er aber damals um Dunja anhielt, war er schon von der Sinnlosigkeit aller dieser Klatschgeschichten völlig überzeugt, die von Marfa Petrowna selbst öffentlich widerrufen und schon längst vom ganzen Städtchen, das Dunja warm in Schutz nahm, vergessen waren. Er würde es selber jetzt nicht geleugnet haben, daß er alles damals schon gewußt hatte. Aber trotzdem rechnete er seinen Entschluß, Dunja zu sich zu erheben, hoch an und hielt ihn für eine große Tat. Indem er dies gegen Dunja aussprach, drückte er einen geheimen längst gehegten Gedanken aus, an dem er mehr als einmal sich selber erbaut hatte, und er konnte es nicht begreifen, daß die anderen seine große Tat nicht mit gleicher Bewunderung ansahen. Als er damals Raskolnikoff einen Besuch machte, kam er mit den Gefühlen eines Wohltäters, der sich anschickt, die Früchte seiner Taten zu ernten und schmeichelhaftes Lob zu hören. Auch jetzt, als er die Treppe hinabstieg, hielt er sich selbstverständlich für im höchsten Grade gekränkt und verkannt.
Dunja hatte er einfach nötig; es war ihm undenkbar, auf sie zu verzichten. Lange schon, seit einigen Jahren, träumte er mit Behagen von einer Heirat, aber er sparte fortwährend noch mehr Geld und wartete. Er dachte mit Begeisterung in seinen geheimsten Träumen an ein wohlgesittetes und armes (sie mußte unbedingt arm sein) Mädchen, das jung, sehr hübsch, aus guter Familie, gebildet, sehr eingeschüchtert sein mußte, das außerordentlich viel Unglück durchgemacht hatte und das sich vor ihm vollkommen beugen würde, an ein solches Mädchen, das ihr ganzes Leben lang ihn als ihren Retter ansehen, ihn verehren, sich ihm unterordnen und ihn, nur ihn allein bewundern würde. Wieviel Szenen, wieviel wonnige Episoden hatte er sich in der Phantasie über dieses verführerische und reizende Thema ausgemalt, wenn er in aller Stille von der Arbeit ausruhte! Und siehe da, der Traum von so viel Jahren wurde fast ganz zur Wirklichkeit, – die Schönheit und die Bildung Awdotja Romanownas hatten ihn überrascht, und ihre hilflose Lage reizte ihn aufs äußerste. Hier war mehr noch vorhanden, als er geträumt hatte; er hatte ein stolzes, charakterfestes, tugendhaftes Mädchen getroffen, das an Erziehung und Bildung höher stand, als er selber (das fühlte er), und solch ein Wesen wird ihm ihr ganzes Leben wegen seiner großen Tat sklavisch dankbar sein und in Verehrung sich vor ihm in den Staub werfen, er aber wird grenzenlos und unbedingt über sie herrschen ... Als hätte es so sein müssen, hatte er sich kurz vorher nach langem Wägen und Warten entschlossen, seine Laufbahn zu ändern und in einen größeren Wirkungskreis überzugehen, um gleichzeitig allmählich in die höhere Gesellschaft, an die er lange schon mit Sehnsucht gedacht hatte, hineinzukommen ... Mit einem Worte, er entschloß sich, es in Petersburg zu versuchen. Er wußte, daß man durch Frauen sehr viel machen konnte. Der Zauber einer reizenden, tugendhaften und gebildeten Frau konnte wunderbar seinen Weg ebnen, Leute an ihn heranziehen, ihm einen Glorienschein verleihen ... und nun war alles zerstört! Dieser plötzliche abscheuliche Bruch traf ihn wie ein Donnerschlag. Aber es war ein schlechter Spaß, war Unsinn! Er hat doch nur ein bißchen übertrieben; er hatte nicht mal Zeit gehabt, sich auszusprechen, er hatte bloß gescherzt, ließ sich ein wenig gehen, und es hat so ein ernstes Ende genommen! Und schließlich, er liebte doch Dunja in seiner Weise, er herrschte schon über sie in seinen Träumen, – und nun plötzlich dieses! ... Nein! Morgen, morgen schon muß alles wieder ausgeglichen, aufgeklärt und gutgemacht werden, Hauptsache war – diesen aufgeblasenen Milchbart, der an allem Schuld war, zu vernichten. Mit Unbehagen dachte er plötzlich an Rasumichin ... aber er beruhigte sich gleich – „es fehlte gerade noch, daß auch er auf eine Stufe mit ihm gestellt würde!“ Wen er aber tatsächlich allen Ernstes fürchtete – war Sswidrigailoff ... Mit einem Worte, es standen viel Mühe und Sorgen bevor ...
„Nein, ich, ich bin am meisten schuld!“ sagte Dunja, umarmte und küßte die Mutter, „ich habe mich von seinem Gelde verlocken lassen, aber ich schwöre dir, Bruder, – ich konnte nicht glauben, daß er so unwürdig ist. Hätte ich ihn vorher erkannt, hätte ich mich um alles in der Welt nicht verlocken lassen! Klage mich nicht an, Bruder!“
„Gott hat uns gerettet! Gott hat uns gerettet!“ murmelte Pulcheria Alexandrowna, aber wie unbewußt, als hätte sie noch nicht ganz begriffen, was vorgefallen war.
Alle freuten sich, und nach fünf Minuten lachten sie sogar. Zuweilen erblaßte Dunetschka ein wenig und verzog die Augenbrauen bei der Erinnerung an das Vorgefallene. Pulcheria Alexandrowna konnte es nicht begreifen, daß sie sich auch freute; der Bruch mit Luschin war ihr heute früh noch als ein schreckliches Unglück erschienen. Rasumichin aber war entzückt. Er wagte noch nicht ganz sein Entzücken zu äußern, aber er bebte am ganzen Körper wie im Fieber, als hätte sich eine zentnerschwere Last von seinem Herzen gelöst. Jetzt hat er das Recht, ihnen sein ganzes Leben hinzugeben, ihnen zu dienen ... und noch mehr. – Aber sofort jagte er ängstlich alle Zukunftsgedanken fort, er fürchtete sich vor seiner Phantasie. Nur Raskolnikoff allein saß auf demselben Platze, fast düster und zerstreut. Er, der am meisten auf den Bruch mit Luschin bestanden hatte, schien sich jetzt am allerwenigsten für das Vorgefallene zu interessieren. Dunja dachte unwillkürlich, daß er immer noch sehr böse auf sie sei, und Pulcheria Alexandrowna betrachtete ihn ängstlich.
„Was hat dir denn Sswidrigailoff gesagt?“ trat Dunja an ihn heran.
„Ach ja, ja!“ rief Pulcheria Alexandrowna aus.
Raskolnikoff erhob den Kopf.
„Er will dir unbedingt zehntausend Rubel schenken und äußert dabei den Wunsch, dich einmal in meiner Gegenwart zu sehen.“
„Sie zu sehen! Um keinen Preis in der Welt!“ rief Pulcheria Alexandrowna, „und wie wagt er es, ihr Geld anzubieten!“
Darauf teilte Raskolnikoff ziemlich trocken sein Gespräch mit Sswidrigailoff mit, wobei er von dem Erscheinen Marfa Petrownas als Gespenst nichts erwähnte, um nicht zu weit zu gehen, und weil er einen Widerwillen empfand, irgendeine Unterhaltung, außer der notwendigsten, zu führen.
„Was hast du ihm geantwortet?“ fragte Dunja.
„Ich sagte zuerst, daß ich dir keine Mitteilung machen wolle. Darauf erklärte er mir, daß er dann selbst mit allen Mitteln versuchen werde, dich zu sehen. Er beteuerte, daß seine Leidenschaft zu dir eine Torheit gewesen sei und daß er jetzt dir gegenüber nichts mehr empfinde ... Er will nicht, daß du Luschin heiratest ... Er sprach überhaupt verworren.“
„Wie erklärst du ihn dir, Rodja? Wie ist er dir erschienen?“
„Ich muß gestehen, daß ich mir nicht so ganz klar über ihn bin. Er bietet zehntausend an, sagt aber selbst, er sei nicht reich. Er erklärt, daß er irgendwohin reisen will, und nach zehn Minuten vergißt er, daß er darüber gesprochen hat. Plötzlich sagt er auch, daß er heiraten will und daß man ihm schon eine Braut freit ... Sicher hat er Absichten und am wahrscheinlichsten – schlimme ... Aber wieder ist es sonderbar anzunehmen, daß er so dumm die Sache anfassen würde, wenn er dir gegenüber schlimme Absichten hätte ... Ich habe selbstverständlich dieses Geld in deinem Namen ein für allemal ausgeschlagen. Überhaupt erschien er mir sehr eigentümlich und ... sogar ... mit Anzeichen von Geistesstörung. Ich kann mich jedoch auch irren; er kann einfach geschwindelt haben. Der Tod von Marfa Petrowna scheint aber einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben ...“
„Gott schenke ihrer Seele Ruhe!“ rief Pulcheria Alexandrowna, „ich will ewig, ewig für sie zu Gott beten! Nun, wie würde es mit uns jetzt stehen, Dunja, ohne diese dreitausend Rubel! Mein Gott, sie sind wie vom Himmel geschickt! Ach, Rodja, wir hatten ja am Morgen im ganzen noch drei Rubel, und ich überlegte mit Dunetschka die ganze Zeit, wie wir am schnellsten irgendwo die Uhr versetzen könnten, um bloß nicht von diesem ... zu fordern, bis es ihm selbst in den Sinn kommt.“
Dunja hatte das Anerbieten Sswidrigailoffs zu stark überrascht. Sie stand die ganze Zeit in Gedanken versunken.
„Er hat irgend etwas Schreckliches im Sinn!“ sagte sie fast im Flüstertone zu sich selbst und schauderte.
Raskolnikoff bemerkte diese maßlose Furcht.
„Ich glaube, ich werde ihn noch einmal sehen,“ sagte er zu Dunja.
„Wir wollen ihn beobachten! Ich werde ihn finden!“ rief Rasumichin energisch. „Ich will mein Auge nicht von ihm lassen! Rodja hat es mir erlaubt. Er hat mir selbst vorhin gesagt: Beschütze die Schwester! Und wollen Sie es auch erlauben, Awdotja Romanowna?“
Dunja lächelte und reichte ihm die Hand, aber die Sorge verließ nicht ihr Gesicht. Pulcheria Alexandrowna blickte sie schüchtern an; die dreitausend Rubel hatten sie sichtlich beruhigt.
Nach einer Viertelstunde waren alle in lebhaftester Unterhaltung. Sogar Raskolnikoff hörte einige Zeit aufmerksam zu, obwohl er sich nicht am Gespräch beteiligte.
Rasumichin redete in einem fort.
„Und warum, warum sollen Sie abreisen!“ ergoß er sich mit Wonne in einer begeisterten Rede, „und was wollen Sie in dem Städtchen machen? Und die Hauptsache, Sie leben alle hier zusammen, und der eine besucht den anderen, ... braucht ihn sehr, verstehen Sie mich! So versuchen Sie es wenigstens eine Weile ... Mich nehmen Sie als Ihren Freund, als Kompagnon, und ich versichere Sie, wir wollen ein ausgezeichnetes Unternehmen gründen. Hören Sie, ich will Ihnen alles genau erklären, – das ganze Projekt mit allen Details! Schon heute Morgen, als noch nichts vorgefallen war, kam es mir in den Sinn ... Sehen Sie, die Sache besteht aus folgendem, – ich habe einen Onkel, – ich will Sie mit ihm bekannt machen, ein ausgezeichneter und verehrungswürdiger alter Herr, – und dieser Onkel hat ein Vermögen von tausend Rubel, er selbst lebt von seiner Pension und leidet keine Not. Fast zwei Jahre schon quält er mich, daß ich diese tausend Rubel für ihn anlegen und ihm sechs Prozent dafür zahlen soll. Ich weiß ja, wie der Hase läuft, – er will mir einfach helfen; im vorigen Jahre aber brauchte ich es nicht, in diesem Jahre jedoch wartete ich bloß auf seine Ankunft und habe mich entschlossen, es anzunehmen. Sie geben dann das zweite Tausend von Ihren drei, und sehen Sie, das genügt für den Anfang, und wir verbünden uns. Was machen wir aber damit?“
Und nun begann Rasumichin sein Projekt zu entwickeln und redete viel darüber, wie wenig fast alle unsere Buchhändler und Verleger von ihrer Sache verstehen, darum seien sie auch gewöhnlich schlechte Verleger, während anständige Buchausgaben sich sicher bezahlt machten und einen zuweilen bedeutenden Nutzen abwürfen. Von der Tätigkeit eines Verlegers träumte also Rasumichin; er hatte schon zwei Jahre für andere gearbeitet und beherrschte drei europäische Sprachen recht gut, wenn er auch vor sechs Tagen Raskolnikoff erklärt hatte, daß er im Deutschen „schwach“ sei, aber das tat er, um ihn zu bewegen, die Hälfte der Übersetzungsarbeit und die drei Rubel Vorschuß anzunehmen. Er log damals, und Raskolnikoff wußte, daß er log.
„Warum denn sollen wir unseren eigenen Vorteil versäumen, wenn wir plötzlich eines der Hauptmittel besitzen, – und zwar eigenes Geld?“ ereiferte sich Rasumichin. „Gewiß, man muß viel arbeiten, aber wir wollen arbeiten, Sie, Awdotja Romanowna, ich, Rodion ... manche Buchausgaben rentieren jetzt prächtig! Und die Hauptunterlage des Unternehmens besteht darin, daß wir wissen werden, was gerade übersetzt werden muß. Wir wollen übersetzen und verlegen und lernen, alles zusammen. Jetzt kann ich nützlich sein, denn ich habe darin Erfahrung. Es sind bald zwei Jahre, seit ich bei den Verlegern herumlaufe, und ich kenne alle ihre Schliche; es ist keine Hexerei, glauben Sie mir! Und warum soll man nicht nach dem Bissen greifen! Ich kenne selbst und bewahre es als ein Geheimnis, zwei oder drei solcher Werke; für den Gedanken allein, sie zu übersetzen und zu verlegen, kann man hundert Rubel für jedes Buch nehmen, und das eine Werk, die Idee allein schon, gebe ich nicht um fünfhundert Rubel. Was meinen Sie, wenn ich es jemand mitteilen würde, so ein Holzklotz täte vielleicht noch daran zweifeln. Und was die geschäftlichen Dinge – Druckerei, Papier, Verkauf – anbetrifft, so überlassen Sie dies mir. Ich kenne alle Schliche! Wir wollen mit kleinem anfangen und großes erreichen; wenigstens ernähren können wir uns und erhalten in jedem Falle unser Geld zurück.“
Dunjas Augen leuchteten.
„Was Sie vorbringen, gefällt mir sehr, Dmitri Prokofjitsch,“ sagte sie.
„Ich verstehe hiervon gar nichts,“ sagte Pulcheria Alexandrowna, „vielleicht ist es auch gut, aber Gott weiß. Es ist neu und unbekannt. Gewiß müssen wir hierbleiben, wenigstens eine Zeitlang ...“
Sie blickte Rodja an.
„Was meinst du, Bruder?“ sagte Dunja.
„Ich meine, daß er einen sehr guten Gedanken hat,“ antwortete er. „Von einer Firma muß man selbstverständlich vorher nicht träumen, aber fünf oder sechs Bücher kann man tatsächlich mit zweifellosem Erfolg verlegen. Ich kenne auch selbst ein Werk, das unbedingt gehen wird. Und daß er die Sache zu leiten versteht, unterliegt keinem Zweifel, – er versteht die Sache ... Übrigens habt ihr noch Zeit, euch zu besprechen ...“
„Hurra!“ rief Rasumichin. „Warten Sie, hier im selben Hause und bei denselben Wirtsleuten ist eine Wohnung frei. Sie ist ganz abgeschlossen, hat mit diesen Zimmern keine Verbindung und besteht aus drei möblierten Stuben, der Preis ist mäßig. Die können Sie fürs erste nehmen. Die Uhr will ich für Sie morgen versetzen und Ihnen das Geld bringen und das weitere wird sich finden. Die Hauptsache aber ist, daß Sie alle drei zusammen leben können, auch Rodja mit Ihnen. Wohin willst du denn, Rodja?“
„Wie, Rodja, gehst du schon fort?“ fragte Pulcheria Alexandrowna erschreckt.
„In solch einem Augenblick!“ rief Rasumichin.
Dunja blickte den Bruder mit mißtrauischem Erstaunen an. Er hielt die Mütze in den Händen und schickte sich an, wegzugehen.
„Ihr tut ja, als ob ihr mich beerdigen oder auf ewig Abschied nehmen müßtet,“ sagte er eigentümlich.
Er wollte lächeln, aber dieses Lächeln gelang ihm schlecht.
„Wer weiß, vielleicht sehen wir uns auch zum letztenmal,“ fügte er unvermutet hinzu.
Er wollte es bloß denken, doch die Worte entschlüpften ihm.
„Um Gottes willen, was ist mit dir!“ rief die Mutter aus.
„Wohin willst du gehen, Rodja?“ fragte ihn Dunja in angstvollem Tone.
„Ich muß jetzt fortgehen,“ antwortete er unklar, als sei er im Zweifel, was er sagen wollte.
In seinem bleichen Gesichte drückte sich eine feste Entschlossenheit aus.
„Ich wollte sagen ... als ich hierher ging ... ich wollte Ihnen, Mama ... und dir, Dunja, sagen, daß es besser sei, wenn wir uns für eine Zeitlang trennen. Ich fühle mich nicht wohl, ich bin unruhig ... ich will später wiederkommen, ich werde von selbst kommen, wenn ... es mir möglich sein wird. Ich denke an euch und liebe euch ... Doch laßt mich! Laßt mich allein! Ich habe es so beschlossen, schon früher ... Ich habe es bestimmt beschlossen ... Was mit mir auch geschieht, ob ich zugrunde gehen werde oder nicht, ich will allein sein. Vergeßt mich ganz und gar. Es ist so am besten. Erkundigt euch auch nicht nach mir. Wenn es nötig sein wird, komme ich von selbst oder ... ich rufe euch. Vielleicht wird noch alles gut! ... Jetzt aber sagt euch von mir los, wenn ihr mich liebt ... Sonst muß ich euch hassen, ich fühle es ... Lebt wohl!“
„Mein Gott!“ rief Pulcheria Alexandrowna.
Die Mutter und die Schwester waren furchtbar erschrocken; Rasumichin ebenfalls.
„Rodja, Rodja! Versöhne dich mit uns, wir wollen wieder wie früher sein!“ rief die arme Mutter aus.
Er wandte sich langsam der Türe zu und ging langsam hinaus. Dunja holte ihn ein.
„Bruder! Was tust du deiner Mutter an!“ flüsterte sie, und ihr Blick leuchtete vor Empörung.
Er schaute sie schwermütig an.
„Es hat nichts zu bedeuten, ich komme, ich werde kommen!“ murmelte er halblaut, als ob er sich nicht völlig bewußt sei, was er sagen wollte, und ging aus dem Zimmer.
„Gefühlloser, böser Egoist!“ rief Dunja.
„Er ist ver–rückt und nicht gefühllos! Er ist geistesgestört! Sehen Sie es denn nicht? Sonst sind Sie gefühllos! ...“ flüsterte Rasumichin ihr zu und drückte stark ihre Hand.
„Ich komme sofort!“ wandte er sich an die erstarrte Pulcheria Alexandrowna und lief aus dem Zimmer. Raskolnikoff erwartete ihn am Ende des Korridors.
„Ich wußte, daß du mir nachgehen wirst,“ sagte er. „Gehe zu ihnen zurück und bleibe bei ihnen ... Sei auch morgen bei ihnen ... und stets. Ich komme ... vielleicht ... wenn ich kann. Leb wohl!“
Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging er weiter.
„Ja, wohin gehst du? Was ist mit dir? Was ist geschehen? Kann man denn so! ...“ murmelte Rasumichin fassungslos.
Raskolnikoff blieb noch einmal stehen.
„Ich sage dir ein für allemal, – frage mich nicht und über nichts. Ich habe dir nichts zu antworten ... Komme nicht zu mir. Vielleicht komme ich selbst hierher ... Laß mich ... sie aber verlasse nicht. Verstehst du?“
Es war ziemlich dunkel auf dem Korridor, sie standen unter einer spärlich brennenden Lampe. Eine Minute blickten sie einander schweigend an. Rasumichin erinnerte sich sein ganzes Leben dieser Minute. Der brennende und starre Blick Raskolnikoffs schien mit jedem Momente sich zu verstärken und drang in seine Seele und in sein Bewußtsein. Da zuckte Rasumichin zusammen. Ein fürchterliches Etwas trat zwischen sie ... Ein Gedanke, spürbar wie ein Hauch; ein schauerlicher gräßlicher Gedanke von beiden gedacht, von beiden verstanden ... Rasumichin wurde bleich wie ein Toter.
„Verstehst du jetzt?“ sagte Raskolnikoff plötzlich mit schmerzlich verzogenem Gesichte. „Kehre zurück, gehe zu ihnen,“ fügte er sofort hinzu, drehte sich schnell um und verließ das Haus.
Ich will nicht beschreiben, was an diesem Abend bei Pulcheria Alexandrowna geschah, wie Rasumichin zu ihnen zurückkehrte, wie er sie beruhigte, wie er schwur, daß man Rodja in seiner Krankheit Ruhe geben müsse, wie er schwur, daß Rodja unbedingt kommen würde, daß er jeden Tag herkommen würde, daß er sehr, sehr aufgeregt sei, daß man ihn nicht reizen dürfe; wie er, Rasumichin, auf ihn aufpassen werde, ihm einen guten Arzt, den besten, ein ganzes Konsilium verschaffen werde ... Mit einem Worte, Rasumichin wurde an diesem Abend ihr Sohn und Bruder. –
Raskolnikoff aber ging direkt zu dem Hause am Kanal, wo Ssonja wohnte. Es war ein dreistöckiges Haus, alt und grün angestrichen. Er suchte den Hausknecht auf und erhielt von ihm die ungefähre Auskunft, wo der Schneider Kapernaumoff wohne. Er fand in einer Ecke auf dem Hofe einen Eingang zu einer schmalen, dunklen Treppe, er stieg zum zweiten Stock hinauf und kam auf eine Galerie, die das Haus auf der Hofseite umgab. Während er in der Dunkelheit und voll Ungewißheit, wo der Eingang zu Kapernaumoff sein könne, herumirrte, öffnete sich plötzlich drei Schritte von ihm eine Türe; er griff mechanisch nach ihr.
„Wer ist da?“ fragte eine weibliche Stimme ängstlich.
„Ich bin es ... komme zu Ihnen,“ antwortete Raskolnikoff und trat in ein winziges Vorzimmer ein. Hier brannte auf einem durchgesessenen Stuhle ein Licht in einem kupfernen Leuchter.
„Sie sind es! Oh, Gott!“ rief Ssonja mit schwacher Stimme und blieb wie versteinert stehen.
„Wo geht es in Ihr Zimmer? Hier?“
Raskolnikoff suchte nicht ihren Blick und ging schnell in ihr Zimmer hinein.
Nach einer Minute kam auch Ssonja mit dem Lichte, stellte es hin und blieb vor ihm stehen, vollkommen verwirrt, in einer unbeschreiblichen Aufregung und sichtbar erschrocken durch seinen unerwarteten Besuch. Eine Röte stieg in ihr bleiches Gesicht, und Tränen traten in ihre Augen ... Es war ihr schwer zumute, sie schämte sich auch, und doch war es ihr lieb ... Raskolnikoff wandte sich schnell von ihr ab und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Tisch. Er fand Zeit, einen flüchtigen Blick auf das Zimmer zu werfen.
Es war ein großes Zimmer, aber außerordentlich niedrig, das einzige Zimmer, das Kapernaumoffs vermieteten; in der Wand links war eine verschlossene Tür, die zu ihnen führte. Auf der entgegengesetzten Seite, rechts in der Wand, befand sich noch eine Tür, die immer verschlossen war. Hinter ihr war eine andere Wohnung unter einer anderen Nummer. Ssonjas Zimmer glich einer Scheune, hatte die Gestalt eines unregelmäßigen Vierecks, was ihm etwas Eigentümliches verlieh. Die eine Wand mit drei Fenstern, die auf den Kanal hinausgingen, durchschnitt das Zimmer etwas schief, wodurch die eine Ecke sehr spitz war und in der Tiefe verlief, so daß man bei schwacher Beleuchtung sie nicht gut überschauen konnte; die andere Ecke war wieder häßlich stumpf. In diesem ganzen Zimmer waren fast gar keine Möbel. In einer Ecke rechts war ein Bett, neben ihm näher zur Türe ein Stuhl. An derselben Wand, wo das Bett war, standen an der Türe gegen die fremde Wohnung ein einfacher Tisch, bedeckt mit einem blauen Tischtuche und daneben zwei geflochtene Stühle. An der entgegengesetzten Wand, in der Nähe der spitzen Ecke, befand sich eine kleine Kommode aus einfachem Holze, verloren wie in einer Wüste. Das war das ganze Mobiliar. Die gelblichen, abgerissenen und beschmutzten Tapeten waren an allen Ecken schwarz geworden; im Winter mußte es hier feucht und dunstig sein. Die Armut war offensichtlich; selbst am Bette waren keine Gardinen angebracht.
Ssonja blickte schweigend ihren Besucher an, der so aufmerksam und ungeniert ihr Zimmer betrachtete und begann vor Angst zu zittern, als stände sie vor einem Richter, der über ihr Schicksal entscheiden sollte.
„Ich komme spät ... Es ist wohl schon elf Uhr?“ fragte er sie und erhob noch immer nicht die Augen zu ihr.
„Ja,“ murmelte Ssonja. „Ach, ja, es ist soviel!“ beeilte sie sich zu sagen, als wäre es ein Ausweg, „soeben schlug bei dem Hauswirte die Uhr ... und ich habe die Schläge gezählt ... Es ist soviel.“
„Ich komme zum letztenmal zu Ihnen,“ fuhr Raskolnikoff düster fort, obwohl es doch zum erstenmal war, daß er hier war, „ich werde Sie vielleicht nicht mehr sehen ...“
„Reisen Sie ... fort?“
„Ich weiß es nicht ... alles hängt von morgen ab ...“
„Also, Sie werden morgen nicht bei Katerina Iwanowna sein?“ bebte Ssonjas Stimme.
„Ich weiß es nicht. Alles hängt von morgen früh ab ... Aber darum handelt es sich nicht, ich bin gekommen, Ihnen ein paar Worte zu sagen ...“
Er erhob seinen nachdenklichen Blick zu ihr auf und bemerkte jetzt erst, daß er saß, während sie noch immer vor ihm stand.
„Warum stehen Sie denn? Setzen Sie sich doch,“ sagte er mit veränderter Stimme leise und weich.
Sie setzte sich. Er blickte sie freundlich, fast mitleidig eine Minute an.
„Wie mager Sie sind! Sehen Sie nur Ihre Hand! Ganz durchsichtig. Diese Finger, wie bei einer Toten.“
Er nahm ihre Hand. Ssonja lächelte schwach.
„Ich war immer so,“ sagte sie.
„Auch, als Sie zu Hause lebten?“
„Ja.“
„Ach, selbstverständlich ja!“ sagte er abgerissen, und sein Gesichtsausdruck und der Ton seiner Stimme veränderten sich wieder.
Er blickte sich noch einmal um.
„Sie mieteten das Zimmer von Kapernaumoff?“
„Ja ...“
„Diese wohnen dort hinter der Türe?“
„Ja ... Sie haben auch ein solches Zimmer.“
„Sie leben alle in einem Zimmer?“
„Ja, in einem Zimmer.“
„Ich würde mich nachts in Ihrem Zimmer fürchten,“ bemerkte er düster.
„Die Wirtsleute sind sehr gut, sehr freundlich,“ antwortete Ssonja, die immer noch nicht zu sich gekommen schien und seine Bemerkung nicht verstanden hatte, „und alle Möbel und alles ... alles gehört den Wirtsleuten. Sie sind sehr gut, und die Kinder kommen auch oft zu mir ...“
„Die stotternden?“
„Ja ... Er stottert auch und ist dazu auch lahm. Und die Frau auch ... Das heißt, sie stottert nicht so sehr, sie spricht bloß nicht alles aus. Sie ist sehr gut. Er ist früher Leibeigener gewesen. Und sie haben sieben Kinder ... und bloß der Älteste stottert, die anderen sind nur immer krank ... stottern nicht ... Woher wissen Sie das aber?“ fügte sie ein wenig verwundert hinzu.
„Ihr Vater hat es mir damals erzählt. Er hat mir auch alles über Sie erzählt ... Auch davon, wie Sie um sechs Uhr fortgingen und um neun zurückkamen, auch, wie Katerina Iwanowna an Ihrem Bette auf den Knien gelegen hat.“
Ssonja wurde verlegen.
„Mir schien es, als hätte ich ihn heute gesehen,“ flüsterte sie unentschlossen.
„Wen?“
„Den Vater. Ich ging in die Straße dort, nebenan, an der Ecke in der zehnten Stunde, und er schien vor mir zu gehen, ganz, als wäre er es. Ich wollte eben zu Katerina Iwanowna hingehen ...“
„Waren Sie spazieren gegangen?“
„Ja,“ flüsterte Ssonja abgerissen, wurde wieder verlegen und senkte die Augen.
„Katerina Iwanowna hat Sie doch wohl geschlagen, als Sie beim Vater lebten?“
„Ach nein, wie kommen Sie darauf, nein, nein!“ Ssonja blickte ihn voll Schrecken an.
„Also, Sie lieben sie?“
„Sie? Warum denn nicht!“ sagte Ssonja klagend und faltete mit leidendem Ausdruck die Hände. „Ach! Sie ... Wenn Sie nur wüßten. Sie ist ja ganz wie ein Kind ... Ihr Verstand ist ja wie gestört ... vor lauter Kummer. Und wie sie klug war ... wie großmütig ... wie gut! Sie wissen nichts, nichts ... ach!“
Ssonja sagte dies wie in Verzweiflung, aufgeregt, darunter leidend und händeringend. Ihre bleichen Wangen erröteten wieder und in ihren Augen drückte sich eine tiefe Qual aus. Man sah, daß in ihr sehr vieles durch seine Worte wachgerufen worden war und daß sie gern etwas äußern und sagen und für Katerina Iwanowna eintreten wollte. Ein unerschöpfliches Mitleid, wenn man sich so ausdrücken darf, lag in ihrem Gesichte.
„Sie soll mich geschlagen haben! Ja, wie kommen Sie dazu! Oh, Gott, sie mich schlagen! Und wenn sie mich auch geschlagen hätte, was wäre dabei! Was wäre dabei! Sie wissen nichts, gar nichts ... Sie ist so unglücklich, ach, wie unglücklich sie ist! Und sie ist krank ... Sie sucht Gerechtigkeit ... Sie ist rein. Sie glaubt so daran, daß in allem Gerechtigkeit sein müsse und verlangt sie ... Und Sie können sie quälen, sie wird nichts Ungerechtes tun. Sie merkt selbst nicht, wie unmöglich es ist, daß es unter den Menschen gerecht zugehe und ist reizbar ... Sie ist wie ein Kind, wie ein Kind! Sie ist gerecht, gerecht!“
„Und was wird mit Ihnen geschehen?“
Ssonja blickte ihn fragend an.
„Die Last ist doch auf Ihren Schultern geblieben. Es ist wahr, auch früher lag alles auf Ihren Schultern, und der Verstorbene kam auch zu Ihnen mit seinen Bitten, um zu einem Gläschen zu kommen. Aber was wird jetzt werden?“
„Ich weiß es nicht,“ erwiderte Ssonja traurig.
„Werden sie dort bleiben?“
„Ich weiß nicht, sie sind der Wirtin die Wohnung schuldig; und die Wirtin hat heute gesagt, ich hörte es, daß sie ihr kündigen will; Katerina Iwanowna jedoch sagte schon, daß sie auch selbst keinen Augenblick länger dort bleiben will.“
„Aus welchem Grunde ist sie denn so tapfer? Hofft sie auf Sie?“
„Ach, nein, sagen Sie nicht so etwas ... Wir leben zusammen, gehören zueinander,“ Ssonja wurde wieder erregt und selbst gereizt, genau wie wenn ein Kanarienvogel oder ein anderer kleiner Vogel böse wird. „Ja, was soll sie denn tun? Was denn, was soll sie tun?“ fragte sie, sich ereifernd und erregt. „Und wie, wie lange sie heute geweint hat! Ihr Verstand ist gestört, haben Sie es nicht gemerkt? Er ist gestört; bald regt sie sich wie ein Kind darüber auf, ob morgen auch alles anständig sei, die Speisen und alles da sei ... bald ringt sie die Hände, speit Blut, weint und schlägt die Stirne gegen die Wand aus lauter Verzweiflung. Dann wird sie wieder ruhiger, hofft auf Sie, – sagt, daß Sie ihr ein Helfer sein werden und daß sie bei irgend jemand Geld leihen und nach ihrer Heimatsstadt mit mir reisen wird; sie will dort eine Pension für junge Mädchen aus guter Familie errichten, mich als Aufseherin anstellen, und ein ganz neues, schönes Leben soll für uns beginnen; sie küßt mich, umarmt und tröstet mich und glaubt fest an die Ausführung ihres Planes. Sie glaubt so stark an diese Träume. Kann man ihr denn da widersprechen? Und sie wusch, säuberte und besserte heute den ganzen Tag alles aus; hat selbst mit ihren schwachen Kräften eine Wanne ins Zimmer hereingeschleppt, geriet dabei außer Atem und fiel auf das Bett hin. Wir sind heute am frühen Morgen mit ihr in den Läden gewesen, um Poletschka und Lene Stiefel zu kaufen, denn die ihrigen sind ganz zerrissen, da reichte das Geld nach der Berechnung nicht aus, es fehlte noch sehr viel. Und sie hat so hübsche Stiefelchen ausgesucht, denn sie hat Geschmack, Sie glauben nicht ... Sie fing dort selbst in dem Laden, in Gegenwart der Verkäufer, zu weinen an, da das Geld nicht ausreichte ... Ach, wie leid es einem tat, sie zu sehen.“
„Dann ist es begreiflich, daß Sie ... so leben,“ sagte Raskolnikoff mit bitterem Lächeln.
„Und tut es Ihnen denn nicht auch leid? Nicht auch weh?“ fuhr Ssonja wieder fort. „Ich weiß doch, Sie haben selbst Ihr letztes abgegeben, ohne je wieder etwas davon zu sehen. Und wenn Sie erst alles wüßten, oh, Gott! Und wie oft, wie oft habe ich sie zu Tränen gereizt! In der vorigen Woche noch! Ach, ich ... Genau eine Woche vor seinem Tode. Ich habe grausam gehandelt! Und wie oft, wie oft war ich es! Ach, wie es weh tut, ich wurde heute den ganzen Tag daran erinnert!“
Ssonja rang in schmerzlicher Erinnerung die Hände, während sie sprach.
„Sie wollen grausam sein?“
„Ja, ich, ich bin es! Ich kam damals hin,“ fuhr sie weinend fort, „als der Verstorbene zu mir sagte, ‚lies mir vor, Ssonja,‘ sagte er, ‚mein Kopf tut mir etwas weh, lies mir vor ... hier ist ein Buch‘, er hatte irgendein Buch von Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff erhalten; er wohnt auch dort und hat immer solche spaßige Bücher. Und ich sagte, ‚ich muß gehen‘, wollte ihm also nicht vorlesen. Ich war hauptsächlich zu ihnen gekommen, um Katerina Iwanowna die Kragen zu zeigen, hübsche, neue und ausgewählte Kragen und Manschetten, die mir Lisaweta, eine Händlerin, billig besorgt hatte. Und Katerina Iwanowna gefielen sie sehr, sie legte einen Kragen um, besah sich im Spiegel, und sie gefielen ihr sehr. ‚Schenk sie mir, Ssonja,‘ sagte sie, ‚bitte schenk sie mir.‘ Sie hatte bitte gesagt, und sie wollte sie so gern haben. Wann soll sie aber die Kragen umlegen? Sie dachte nur an die frühere, glücklichere Zeit. Sie sah sich im Spiegel, betrachtete sich mit Wohlgefallen und hat doch keine passenden Kleider, gar keine Sachen dazu, – wer weiß, wie viele Jahre schon! Und niemals wird sie etwas von jemand erbitten, – sie ist stolz und gibt eher das letzte fort, nun aber hatte sie mich gebeten, – so hatten ihr die Kragen gefallen! Mir aber tat es leid sie wegzugeben. ‚Wozu brauchen Sie sie, Katerina Iwanowna‘, sagte ich, so direkt: wozu? Das hätte ich ihr nicht sagen dürfen. Sie blickte mich schmerzlich an und wurde sehr traurig, daß ich sie ihr abgeschlagen hatte, und es war so traurig anzusehen ... Nicht der Kragen wegen, sondern weil ich es ihr abgeschlagen habe, ich hatte doch ... Ihnen ist dies doch gleichgültig!“
„Haben Sie diese Händlerin Lisaweta gekannt?“
„Ja ... Sie auch?“ fragte Ssonja ihn mit einigem Erstaunen.
„Katerina Iwanowna hat die Schwindsucht im höchsten Grade, sie wird bald sterben,“ sagte Raskolnikoff nach einigem Schweigen, ohne auf ihre Frage zu antworten.
„Ach nein, nein, nein!“ Und Ssonja ergriff unbewußt seine beiden Hände, als ob es an ihm läge, dies zu verhindern und als könnte sie das von ihm erflehen.
„Es ist doch besser, wenn sie stirbt!“
„Nein, es ist nicht, es ist gar nicht besser!“ wiederholte sie erschrocken und ohne Überlegung.
„Und was wird aus den Kindern? Sie werden sie sicher zu sich nehmen?“
„Ach, ich weiß es nicht!“ rief Ssonja fast in Verzweiflung aus und faßte sich an den Kopf.
Man merkte, daß dieser Gedanke schon viele Male ihr aufgetaucht war und daß sie ihn immer wieder abgewiesen hatte.
„Und wenn Sie noch bei Katerina Iwanownas Lebzeiten krank werden und man Sie ins Krankenhaus schafft, was dann?“ drang er erbarmungslos weiter in sie.
„Ach, wie ist es möglich! Das kann doch nicht sein!“ und Ssonjas Gesicht verzog sich in furchtbarem Schrecken.
„Wieso kann es nicht sein?“ fuhr Raskolnikoff mit einem harten Lächeln fort. „Sie sind doch nicht davor geschützt? Was wird dann mit jenen geschehen? Sie werden auf die Straße alle zusammen gehen, Katerina Iwanowna wird husten und betteln und mit der Stirn an die Wand schlagen, wie heute, und die Kinder werden weinen ... Dann wird sie hinfallen, man bringt sie zur Wache, nachher ins Krankenhaus, nachher wird sie sterben, und was wird aus den Kindern ...“
„Ach nein! ... Gott wird es nicht zulassen!“ entrang es sich der zusammengeschnürten Brust Ssonjas.
Sie hörte ihm ängstlich zu, blickte ihn flehend an und faltete in stummer Bitte die Hände, als hinge alles von ihm ab. Raskolnikoff stand auf und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Es vergingen Minuten. Ssonja stand mit gesenktem Kopfe und herabhängenden Händen da in unsäglichem Leid.
„Kann man nicht sparen? Einen Notgroschen sammeln?“ fragte er und blieb vor ihr stehen.
„Nein,“ flüsterte Ssonja.
„Versteht sich, nein! Haben Sie es aber auch schon versucht?“ fragte er spöttisch.
„Ich habe es versucht.“
„Und es gelang nicht! Nun, das ist ja selbstverständlich! Was ist da noch zu fragen!“
Und er wanderte wieder im Zimmer auf und nieder. Es verstrich wieder eine Weile.
„Sie erhalten nicht jeden Tag Geld?“
Ssonja wurde noch mehr betreten, und wieder stieg ihr das Blut ins Gesicht.
„Nein,“ flüsterte sie mit qualvoller Anstrengung.
„Mit Poletschka wird sicher dasselbe geschehen,“ sagte er plötzlich.
„Nein, nein! Das darf nicht sein, unmöglich!“ rief sie laut, vollkommen verzweifelt, als hätte man ihr einen Stich ins Herz gegeben. „Gott, Gott wird so was Schreckliches nicht zulassen! ...“
„Bei Ihnen läßt er es doch zu.“
„Nein, nein! Gott wird sie schützen! ...“ wiederholte sie ganz außer sich.
„Ja, vielleicht gibt es gar keinen Gott,“ antwortete Raskolnikoff mit einem Anflug von Schadenfreude, lachte und blickte sie an. Ssonjas Gesicht verzerrte sich krampfhaft. Mit einem unbeschreiblichen Vorwurf schaute sie ihn an, wollte etwas sagen, konnte aber nichts herausbringen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte dann bitterlich.
„Sie sagen, Katerina Iwanownas Verstand sei gestört. Ihr eigener ist auch gestört,“ sagte er nach einigem Schweigen.
Es vergingen wieder etwa fünf Minuten, während er schweigend auf und ab ging, ohne sie anzublicken. Endlich trat er an sie heran; seine Augen funkelten. Er packte sie mit beiden Händen an den Schultern und sah in ihr weinendes Gesicht. Seine Augen hatten einen heißen, trockenen, durchdringenden Blick, und seine Lippen bebten vor Erregung ... Plötzlich beugte er sich nieder, warf sich auf den Boden und küßte ihren Fuß. Ssonja fuhr entsetzt vor ihm zurück, wie vor einem Irrsinnigen. Er sah wirklich ganz wie ein Irrsinniger aus.
„Was ist mit Ihnen, was tun Sie? Vor mir!“ murmelte sie erbleichend, und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Er stand sofort auf.
„Ich habe mich nicht vor dir verneigt, sondern vor dem ganzen menschlichen Leiden,“ sagte er mit eigentümlichem Ton und ging zum Fenster hin. „Höre,“ setzte er hinzu, als er nach einem Augenblick zu ihr zurückkam, „ich habe vorhin zu einem bösen Menschen gesagt, daß er deinen kleinen Finger nicht wert sei ... und daß ich meiner Schwester heute eine Ehre erwiesen habe, indem ich sie neben dich hingesetzt habe ...“
„Ach, was haben Sie gesagt! Und in ihrer Gegenwart?“ rief Ssonja erschrocken aus. „Neben mir zu sitzen! Eine Ehre! Ja, ich bin doch ... ehrlos ... Ach, warum haben Sie das gesagt?“
„Nicht wegen deiner Ehrlosigkeit und Sünde habe ich es von dir gesagt, sondern wegen deines großen Leides. Daß du eine große Sünderin bist, ist wahr,“ fügte er fast entzückt hinzu, „und am meisten bist du dadurch eine Sünderin, weil du dich umsonst getötet und verkauft hast. Ist das nicht entsetzlich! Ist es nicht entsetzlich, daß du in diesem Schmutze lebst, den du so haßt und gleichzeitig es selbst weißt, – man braucht dir nur die Augen zu öffnen – daß du niemandem damit hilfst und niemanden dadurch rettest! Ja, sage mir doch endlich,“ fuhr er fast in Wut fort, „wie kannst du solche Schande und solche Gemeinheit mit deinen anderen besten und heiligsten Gefühlen in dir vereinigen? Es wäre doch gerechter, tausendmal gerechter und vernünftiger, sich mit dem Kopfe voran ins Wasser zu stürzen und allem ein Ende zu machen!“
„Und was wird mit ihnen allen geschehen?“ fragte Ssonja mit schwacher Stimme, blickte ihn leidend an, zeigte aber über seinen Vorschlag gar kein Erstaunen. Raskolnikoff blickte sie eigentümlich an.
Er hatte alles in ihrem Blicke gelesen. Auch sie hatte tatsächlich schon selbst diesen Gedanken gehabt. Vielleicht hatte sie sich in der Verzweiflung oft und ernstlich überlegt, dem Leben schneller ein Ende zu machen, so daß sie jetzt gar nicht über seinen Vorschlag erstaunt war. Sie hatte selbst die Härte seiner Worte nicht empfunden, auch den Sinn seiner Vorwürfe und seine besondere Ansicht über ihre Schande hatte sie nicht erfaßt, das konnte er sehen. Er aber begriff vollkommen, wie grauenhaft und schmerzlich sie schon seit langem der Gedanke an ihre ehrlose und schmachvolle Lage gequält hatte. Was aber war es, was konnte es sein, – dachte er, – das ihren Entschluß, mit einem Schlage allem ein Ende zu machen, aufhielt? Jetzt erst verstand er völlig, was für sie diese armen, kleinen verwaisten Kinder und diese beklagenswerte halbverrückte Katerina Iwanowna mit ihrer Schwindsucht und mit ihrer Verzweiflung bedeuteten.
Aber ebenso klar war es ihm, daß Ssonja mit ihrem Charakter und ihrer Bildung, die sie doch immerhin genossen hatte, in keinem Falle weiter in dieser Lage aushalten konnte. Und dennoch blieb die Frage offen, – wie hatte sie so lange, zu lange schon, in dieser Lage aushalten können, ohne den Verstand zu verlieren, wenn sie nicht die Kraft besaß, sich ins Wasser zu stürzen? Gewiß, er begriff, daß Ssonjas Lage eine häufige Erscheinung in der Gesellschaft war, und unglücklicherweise bei weitem keine einzelne Ausnahme. Aber dieser Umstand selbst, ihre Bildung und ihr ganzes vorheriges Leben hätten sie doch sofort beim ersten Schritt auf diesem widerwärtigen Wege töten müssen. Was hielt sie denn? Doch nicht die Unzucht? Diese ganze Schande hatte sie offenbar nur mechanisch berührt; die echte Unzucht war noch mit keinem Tropfen in ihr Herz gedrungen; er sah es; sie stand völlig rein vor ihm da ...
„Sie hat drei Wege,“ dachte er, „entweder sich in den Kanal zu stürzen, ins Irrenhaus zu kommen oder ... oder sich schließlich wirklich dem Laster zu ergeben, das den Verstand betäubt und das Herz versteinert“.
Der letzte Gedanke war ihm am widerwärtigsten; aber er war schon zu sehr Skeptiker, er war jung, abstrakt und somit grausam, darum mußte er auch glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt das Laster, am allerwahrscheinlichsten sei.
„Aber ist es denn möglich,“ rief er innerlich aus, „soll sich auch dieses Wesen, das sich noch die Reinheit des Herzens bewahrt hat, bewußt in diesen abscheulichen stinkenden Schlamm hinabziehen lassen? Hat diese Erniedrigung schon begonnen und konnte sie etwa dieses Leben schon aus diesem Grunde leben, weil das Laster ihr nicht mehr widerwärtig erschien? Nein, nein, es kann nicht sein!“ rief er bei sich aus, wie vorhin Ssonja laut gerufen, „nein, vom Wasser hielt sie bis jetzt der Gedanke an die Sünde zurück und an jene ... Wenn sie aber bis jetzt den Verstand nicht verloren hat ... aber wer sagt es denn, daß sie den Verstand noch nicht verloren hat? Ist sie denn bei gesundem Verstande? Kann man denn so reden, wie sie es tut? Kann man denn bei gesundem Verstande so urteilen, wie sie es tut? Kann man denn so über dem Abgrunde, über dem stinkenden Schlamm sitzen und in der Gefahr, jeden Augenblick hineingezogen zu werden, trotzdem mit den Händen sich gegen die Mahnungen wehren und sich die Ohren zuhalten? Was, erwartet sie etwa ein Wunder? Sicher, so ist es. Sind dies nicht Anzeichen von Geistesstörung?“
Er blieb hartnäckig bei diesem Gedanken stehen. Dieser Ausweg gefiel ihm sogar besser, als jeder andere. Er begann sie aufmerksamer zu betrachten.
„Also du betest sehr oft zu Gott, Ssonja?“ fragte er sie.
Ssonja schwieg, er stand neben ihr und wartete auf die Antwort.
„Was wäre ich denn ohne Gott?“ flüsterte sie schnell und energisch, indem sie ihn flüchtig mit funkelnden Augen anblickte und seine Hand stark drückte.
„Ja, es ist so, wie ich gedacht!“ sagte er zu sich.
„Und was tut Gott dir dafür?“ fragte er sie weiter ausforschend.
Ssonja schwieg lange, als könnte sie nicht antworten. Ihre schwache Brust hob und senkte sich in heftiger Aufregung.
„Schweigen Sie! Fragen Sie nicht! Sie sind es nicht wert ...“ rief sie plötzlich und sah ihn streng und zornig an.
„Es ist so! Es ist so!“ wiederholte er hartnäckig vor sich hin.
„Alles tut er!“ flüsterte sie schnell und schlug wieder die Augen nieder.
„Das ist ihr Ausweg! Das ist die Lösung!“ entschied er bei sich und betrachtete sie mit gesteigertem Interesse.
Mit einem neuen, eigentümlichen, fast krankhaften Gefühle schaute er in dieses bleiche magere und regelmäßig eckige Gesichtchen, diese sanften blauen Augen, die mit so einem Feuer, mit so einem strengen energischen Blick leuchten konnten, diesen kleinen Körper, der vor Empörung und Zorn noch bebte, und dies alles erschien ihm noch merkwürdiger und unfaßlicher.
„Sie ist närrisch! Sie hat den religiösen Wahnsinn!“ wiederholte er für sich.
Auf der Kommode lag ein Buch. Jedesmal, wenn er auf und ab ging, hatte er es bemerkt; jetzt nahm er es und sah es sich an. Es war das Neue Testament in russischer Übersetzung. Das Buch, in Leder gebunden, war alt und viel gebraucht.
„Woher hast du es?“ rief er. Sie stand immer noch auf derselben Stelle, drei Schritte vom Tische entfernt.
„Man hat es mir gebracht,“ antwortete sie unwillig und ohne ihn anzublicken.
„Wer hat es dir gebracht?“
„Lisaweta hat es gebracht, ich habe sie darum gebeten.“
„Lisaweta! Wie seltsam!“ dachte er.
Alles erschien ihm bei Ssonja mit jeder Minute merkwürdiger, wunderlicher. Er holte das Buch zum Lichte und begann darin zu blättern.
„Wo steht hier die Geschichte vom armen Lazarus?“ fragte er.
Ssonja blickte unverwandt zu Boden und antwortete nicht. Sie stand ein wenig abgewandt vom Tische.
„Von der Auferstehung des Lazarus, wo ist es? Suche es mir, Ssonja.“
Sie sah ihn mit einem Seitenblick an.
„Nicht dort ... im vierten Evangelium steht es ...“ flüsterte sie streng, ohne sich ihm zu nähern.
„Suche es und lies es mir vor,“ sagte er, setzte sich, stützte die Ellbogen auf den Tisch, den Kopf in die Hand legend, blickte düster zur Seite und bereitete sich vor zuzuhören.
„Nach drei Wochen ist sie im städtischen Irrenhause! Ich werde vielleicht selbst auch dort sein, wenn es nicht noch schlimmer enden wird,“ murmelte er vor sich hin.
Ssonja trat unschlüssig an den Tisch, nachdem sie das sonderbare Verlangen Raskolnikoffs mißtrauisch gehört hatte. Sie nahm das Buch.
„Haben Sie es denn nicht gelesen?“ fragte sie und blickte ihn unter der Stirn hervor an. Ihre Stimme wurde immer ernster und ernster.
„Vor langer Zeit ... Als ich noch zur Schule ging. Lies!“
„Und haben Sie es nicht in der Kirche gehört?“
„Ich ... bin nie in der Kirche gewesen. Gehst du oft hin?“
„N–nein,“ flüsterte Ssonja.
„Ich verstehe ... Du wirst wohl morgen auch nicht zur Beerdigung des Vaters hineingehen?“
„Ich werde hingehen. Ich war auch in der vorigen Woche in der Kirche ... habe eine Totenmesse halten lassen.“
„Für wen?“
„Für Lisaweta. Man hat sie mit einem Beile erschlagen.“
Seine Nerven wurden immer reizbarer. Der Kopf begann ihm zu schwindeln.
„Warst du mit Lisaweta befreundet?“
„Ja ... Sie war gerecht ... sie kam ... selten ... sie konnte nicht. Wir lasen zusammen und ... sprachen. Sie wird Gott schauen!“
Eigentümlich klangen für ihn diese Worte aus der Bibel und wieder erfuhr er eine Neuigkeit, – sie hatte mit Lisaweta geheimnisvolle Zusammenkünfte gehabt und beide waren religiös wahnsinnig.
„Man kann hier selbst geisteskrank werden! Es steckt an!“ dachte er.
„Lies!“ rief er plötzlich hartnäckig und gereizt.
Ssonja war noch immer unentschlossen. Ihr Herz klopfte. Sie wagte nicht ihm vorzulesen. Er sah mit Qual die „unglückliche Geisteskranke“ an.
„Wozu denn? Sie glauben doch nicht daran? ...“ flüsterte sie leise und mit stockendem Atem.
„Lies! Ich will es haben!“ bestand er. „Du hast doch auch Lisaweta vorgelesen.“
Ssonja schlug das Buch auf und suchte die Stelle. Ihre Hände zitterten, die Stimme versagte. Zweimal begann sie und konnte über das erste Wort nicht hinwegkommen.
„Es lag aber einer krank mit Namen Lazarus, von Bethanien ...“ sagte sie endlich mit Anstrengung, aber bei dem dritten Worte zitterte plötzlich ihre Stimme und brach ab, wie eine zu straff gespannte Saite. Der Atem versagte ihr und die Brust schnürte sich zusammen.
Raskolnikoff begriff zum Teil, warum Ssonja sich nicht entschließen konnte, ihm vorzulesen, und je mehr er es begriff, um so entschiedener und gereizter bestand er darauf. Er verstand zu gut, wie schwer es ihr jetzt fiel, alles eigene preiszugeben und zu enthüllen. Er hatte begriffen, daß diese Gefühle tatsächlich ihr wahres und vielleicht seit langer Zeit gehegtes Geheimnis bildeten, vielleicht schon seit der Jugendzeit, schon in der Familie, neben dem unglücklichen Vater und der vor Kummer wahnsinnig gewordenen Stiefmutter, mitten unter den hungrigen Kindern, ihrem häßlichen Geschrei und den fortwährenden Vorwürfen. Aber gleichzeitig erkannte er, und zwar mit Sicherheit, daß sie trotz ihres Grams und ihrer Furcht, in dem sie jetzt vorzulesen begann, doch gern, sehr gern es tat und zwar vor ihm, damit er es höre und unbedingt jetzt – mochte kommen, was da wolle! ... Er hatte das in ihren Augen gelesen und es aus ihrer verzückten Erregung entnommen! ... Sie überwand sich, unterdrückte den Krampf im Halse, der ihr die Stimme am Anfange benommen hatte, und fuhr fort, aus dem elften Kapitel des Evangeliums St. Johannis vorzulesen. So kam sie bis zum 19. Vers: „Und viele Juden waren zu Martha und Maria gekommen, sie zu trösten über ihren Bruder. Als Martha nun hörete, daß Jesus kommt, gehet sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Martha zu Jesu: Herr, wärest du hiergewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben; aber ich weiß auch noch, daß, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“
Hier blieb sie wieder stehn, in schamhafter Vorahnung, daß ihre Stimme zittern und versagen würde ... „Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder soll auferstehen. Martha spricht zu ihm: Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: (und wie mit Schmerz atemholend, las Ssonja deutlich und voller Kraft, als lege sie selbst öffentlich ein Glaubensbekenntnis ab):
‚Herr, ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.‘“
Sie hielt einen Moment inne, erhob schnell zu ihm die Augen, überwand sich aber rasch und las weiter. Raskolnikoff saß und hörte unbeweglich zu, ohne sich umzuwenden, den Ellbogen auf den Tisch gestützt und zur Seite blickend. Sie las bis zum 32. Vers:
„Als nun Maria kam, da Jesus war, und sahe ihn, fiel sie zu seinen Füßen und sprach zu ihm: Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Als Jesus sie sahe weinen und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst. Und sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und siehe es. Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt! Etliche aber unter ihnen sprachen: Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, daß auch dieser nicht stürbe?“
Raskolnikoff wandte sich zu ihr um und sah sie mit Erregung an, – ja, es ist so! Sie zitterte am ganzen Körper in wahrem, wirklichem Fieber. Er hatte es erwartet. Sie näherte sich den Worten über das größte und unerhörte Wunder, und das Gefühl eines großen Triumphes erfaßte sie. Ihre Stimme wurde klingend wie Metall; Triumph und Freude klangen darin und stärkten sie. Die Zeilen verwischten sich, weil es vor ihren Augen dunkel wurde, aber sie kannte auswendig, was sie las. Bei dem letzten Vers: „Konnte, der dem Blinden die Augen aufgetan hat ...“ ließ sie die Stimme sinken und gab heiß und leidenschaftlich den Zweifel, den Vorwurf und Tadel der ungläubigen, blinden Juden wieder, die gleich darauf, nach einer Minute, wie vom Donner getroffen, niederfallen, schluchzen und glauben werden ... „Auch er, er – ebenfalls verblendet und ungläubig, wird es gleich hören, auch er wird glauben, ja, ja, gleich, jetzt gleich,“ durchzuckte es sie und sie bebte in freudiger Erwartung.
„Jesus aber ergrimmete abermals in ihm selbst und kam zum Grabe. Es war aber eine Kluft und ein Stein daraufgelegt. Jesus sprach: Hebet den Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen.“
Sie betonte energisch das Wort – vier.
„Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast; doch ich weiß, daß du mich allezeit erhörest; sondern um des Volkes Willen, das umher stehet, sage ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazare, komme heraus! Und der Verstorbene kam heraus ...“ (Laut und verzückt las sie es, zitternd und fröstelnd, als sähe sie es mit eigenen Augen.)
„Gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen und sein Angesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf und laßt ihn gehen.“
„Viele nun der Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.“
Weiter las sie nicht und konnte auch nicht lesen, sie schloß das Buch und stand schnell vom Stuhle auf. „Das ist alles über die Auferstehung des Lazarus,“ flüsterte sie abgerissen und streng und blieb unbeweglich, zur Seite gekehrt, stehen, ohne zu wagen und als schäme sie sich, die Augen zu ihm zu erheben. Ihr fieberhaftes Frösteln dauerte noch an. Der Lichtstumpf begann in dem schiefen Leuchter auszugehen und beleuchtete trübe in diesem armseligen Zimmer den Mörder und die Dirne, die so sonderbar beim Lesen des ewigen Buches zusammengekommen waren. Es vergingen fünf Minuten oder noch mehr.
„Ich bin gekommen, um über eine Angelegenheit mit dir zu sprechen,“ sagte Raskolnikoff plötzlich laut und mit düsterem Gesichte, stand auf und trat an Ssonja heran. Sie erhob schweigend die Augen zu ihm. Sein Blick war besonders streng und drückte eine wilde Entschlossenheit aus.
„Ich habe heute meine Verwandten verlassen,“ sagte er, „meine Mutter und Schwester. Ich werde nicht mehr zu ihnen gehen. Ich habe mit allem dort gebrochen.“
„Warum?“ fragte ihn Ssonja bestürzt. Ihre Begegnung mit seiner Mutter und Schwester hatte in ihr einen ungewöhnlichen, wenn auch ihr selbst nicht klaren Eindruck hinterlassen. Die Mitteilung von seinem Bruche mit ihnen hörte sie fast mit Entsetzen.
„Ich habe jetzt dich allein,“ fügte er hinzu. „Gehen wir zusammen ... Ich bin zu dir gekommen. Wir sind beide verflucht und so wollen wir auch beide zusammengehen!“
Seine Augen leuchteten. „Wie ein Wahnsinniger!“ dachte Ssonja.
„Wohin sollen wir gehen?“ fragte sie voll Angst und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Woher soll ich es wissen? Ich weiß nur eins, daß wir einen und denselben Weg haben, das weiß ich sicher, – und weiter nichts. Ein und dasselbe Ziel.“
Sie blickte ihn an und verstand nichts. Sie begriff nur eins, daß er furchtbar, grenzenlos unglücklich sei.
„Niemand von ihnen wird etwas verstehn, wenn du zu ihnen sprechen wirst,“ fuhr er fort, „ich aber habe dich verstanden. Ich brauche dich, darum bin ich auch zu dir gekommen.“
„Ich begreife nicht ...“ flüsterte Ssonja.
„Du wirst später begreifen. Hast du denn nicht ebenso gehandelt. Auch du bist hinüber geschritten ... du hast es vermocht. Du hast Hand an dich gelegt, du hast ein Leben zugrunde gerichtet ... dein Leben, das ist einerlei! Du hättest im Geist und in der Vernunft leben können und wirst auf dem Heumarkte enden ... Auch du kannst es nicht aushalten, und wenn du allein bleibst, wirst du den Verstand verlieren, wie ich auch. Du bist schon jetzt wie geistesgestört; also müssen wir zusammengehen, ein und denselben Weg! Gehen wir ihn also!“
„Warum? Warum sagen Sie das?“ sagte Ssonja eigentümlich berührt und tief erregt durch seine Worte.
„Warum? Weil es so nicht bleiben darf – das ist der Grund! Man muß doch endlich ernst und offen es bedenken, und nicht wie ein Kind weinen und ausrufen, daß Gott es nicht zulassen wird! Nun, was wird geschehen, wenn man dich morgen tatsächlich ins Krankenhaus schleppt? Die da ist nicht bei Verstand und hat Schwindsucht, wird bald sterben und was soll aus den Kindern werden? Wird denn Poletschka nicht auch zugrunde gehen? Hast du denn nicht hier Kinder an allen Ecken gesehen, die ihre Mütter betteln schicken? Ich habe mich erkundigt, wo diese Mütter leben und in welcher Umgebung. Dort können die Kinder nicht Kinder bleiben. Dort ist ein siebenjähriger lasterhaft und ein Dieb. Und die Kinder sind doch Ebenbilder Christi. ‚Ihrer ist das Himmelreich.‘ Er hat geboten, sie zu achten und zu lieben, sie sind das künftige Menschengeschlecht ...“
„Was soll, was soll ich denn tun?“ wiederholte Ssonja nervös weinend und händeringend.
„Was tun? Ein für allemal das, was nötig ist, abbrechen und weiter nichts, – und das Leiden auf sich nehmen! Was? Du verstehst es nicht? Du wirst es nachher verstehen ... Freiheit und Macht, hauptsächlich Macht! Über alle zitternde Kreaturen und über den ganzen Ameisenhaufen! ... Das ist das Ziel! Denk daran! Das ist mein Geleitwort dir auf den Weg! Vielleicht spreche ich mit dir zum letzten Male. Wenn ich morgen nicht zu dir komme, wirst du selbst von allem hören, und dann erinnere dich meiner jetzigen Worte. Und irgendwann, nachher, nach Jahren, mit der Zeit, wirst du auch vielleicht verstehn, was sie bedeuteten. Wenn ich aber morgen zu dir komme, will ich dir sagen, wer Lisaweta ermordet hat. Leb wohl!“
Ssonja fuhr vor Schreck zusammen.
„Ja, wissen Sie denn, wer sie ermordet hat?“ fragte sie und erstarrte vor Entsetzen und blickte ihn wild an.
„Ich weiß es und will es sagen ... Dir, nur dir allein! Ich habe dich gewählt. Ich werde nicht kommen zu dir, um Verzeihung zu bitten, ich will es bloß sagen. Ich habe dich seit langem gewählt, um es dir zu sagen, damals noch, als dein Vater über dich erzählte, und ich dachte daran, als Lisaweta noch lebte. Leb wohl. Gib mir nicht die Hand. Morgen!“
Er ging hinaus. Ssonja sah ihm wie einem Geistesgestörten nach; aber auch sie selbst war wie verrückt und fühlte es. Der Kopf schwindelte ihr.
„Mein Gott, wie weiß er es, wer Lisaweta ermordet hat? Was bedeuteten diese Worte? Es ist furchtbar!“
Aber ein Gedanke kam ihr nicht in den Sinn. Durchaus nicht! ...
„Oh, er muß furchtbar unglücklich sein! ... Er hat Mutter und Schwester verlassen. Warum? Was ist vorgefallen? Und was für Absichten hat er? Was hat er zu ihr gesagt? Er hat ihren Fuß geküßt und gesagt ... gesagt ... ja, er hat es deutlich gesagt, daß er ohne sie nicht mehr leben kann ... Oh, Gott!“
Ssonja verbrachte in Fieber und Träumen die ganze Nacht. Sie sprang zuweilen auf, weinte, rang die Hände und bald verfiel sie wieder in Fieberträume und sie träumte von Poletschka, Katerina Iwanowna, Lisaweta, von Vorlesen aus dem Evangelium und von ihm ... ihm mit dem bleichen Gesicht, mit den funkelnden Augen ... Er küßt ihr die Füße, weinte ... Oh, Gott!
Hinter der Türe rechts, hinter derselben Türe, die das Zimmer Ssonjas von der Wohnung von Gertrude Karlowna Rößlich abteilte, war ein Durchgangszimmer, seit langem unbewohnt, das zu der Wohnung der Frau Rößlich gehörte und das zu vermieten war, worauf die Zettel an dem Tore und an den Scheiben der Fenster, die zum Kanal hinausgingen, hinwiesen. Ssonja war seit langem gewöhnt, dieses Zimmer als unbewohnt zu betrachten. Indessen aber hatte in dem leeren Zimmer die ganze Zeit an der Türe Herr Sswidrigailoff gestanden und heimlich gelauscht. Als Raskolnikoff fortgegangen war, blieb er stehn, dachte nach, ging auf den Fußspitzen in sein Zimmer, das an das leere grenzte, holte dort einen Stuhl und stellte ihn leise an die Türe, die zu Ssonjas Zimmer führte. Das Gespräch erschien ihm amüsant und bedeutungsvoll und hatte ihm sehr gefallen, – hatte ihm so gefallen, daß er einen Stuhl hinbrachte, um künftig, zum Beispiel morgen schon, nicht wieder der Unannehmlichkeit ausgesetzt zu sein, eine ganze Stunde stehen zu müssen, sondern sich’s bequemer zu machen, um in jeder Beziehung völlig befriedigt zu werden.
Als Raskolnikoff am anderen Morgen, punkt elf Uhr, in das Haus des –schen Polizeireviers, in die Abteilung des Untersuchungsrichters eingetreten war und gebeten hatte, ihn Porphyri Petrowitsch anzumelden, war er verwundert, wie lange man ihn warten ließ, – es vergingen mindestens zehn Minuten, ehe man ihn rief. Seiner Berechnung nach mußte man sich sofort auf ihn stürzen. Er stand indessen im Wartezimmer, es gingen Menschen an ihm vorüber, die offenbar sich gar nicht für ihn interessierten. In dem anderen Zimmer, das einer Kanzlei glich, saßen und schrieben einige Schreiber, und es war ersichtlich, daß niemand auch eine Ahnung davon hatte, – wer und was Raskolnikoff sei? Mit unruhigem und mißtrauischem Blicke beobachtete er alles umher, und suchte, – ob nicht neben ihm irgendeine Wache stehe, und ob er keinen geheimnisvollen Wink sähe, bestimmt, auf ihn acht zu geben, daß er nicht entrinne? Aber nichts von alledem, – er sah bloß sorgenvolle Kanzleigesichter und einige andere Leute, und niemand kümmerte sich um sein Kommen und Gehen. Immer mehr befestigte sich in ihm der Gedanke, daß, wenn dieser geheimnisvolle Mensch von gestern, dieses Gespenst, das aus der Erde hervorgestiegen schien, tatsächlich alles wußte und alles gesehen hatte, – man ihm, Raskolnikoff, nicht erlauben würde, jetzt so dazustehen und ruhig abzuwarten? Und würde man auf ihn bis elf Uhr gewartet haben, bis es ihm selbst eingefallen wäre, zu erscheinen? Es zeigte sich also, daß dieser Mensch entweder noch nichts mitgeteilt hatte, oder ... oder er einfach nichts wußte und mit seinen eigenen Augen nichts gesehen hatte, – ja, und wie konnte er es auch gesehen haben? – und schließlich war alles, was gestern mit ihm, Raskolnikoff, vorgefallen war, nichts als eine Wahnerscheinung, die seine gereizte und kranke Einbildung übertrieben hatte. Diese Vermutung hatte ja gestern schon während der stärksten Aufregungen und der Verzweiflung in ihm sich zu befestigen angefangen. Nachdem er sich dies alles jetzt noch einmal überlegt hatte und sich zu einem neuen Kampfe anschickte, fühlte er plötzlich, daß er zittre, – und eine Empörung erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er aus Furcht vor dem verhaßten Porphyri Petrowitsch zittere. Am schrecklichsten für ihn war es, mit diesem Menschen wieder zusammenzutreffen; er haßte ihn über alle Maßen, grenzenlos, und fürchtete direkt, seinen Haß irgendwie zu offenbaren. Seine Empörung über sich selbst war so stark, daß das Zittern sofort aufhörte; er schickte sich an, mit einer kalten und frechen Miene hineinzugehen und versprach sich selbst, möglichst viel zu schweigen, zu beobachten und zuzuhören und dieses Mal um jeden Preis seine krankhafte gereizte Natur zu überwinden. In diesem Augenblicke rief man ihn zu Porphyri Petrowitsch hinein.
Es traf sich, daß in diesem Momente Porphyri Petrowitsch in seinem Arbeitszimmer allein war. Sein Arbeitszimmer war weder klein, noch groß; es standen darin ein großer Schreibtisch vor einem Divan, der mit Wachstuch bezogen war, ein Schrank in einer Ecke und einige Stühle, – alles gehörte dem Staate und war aus gelbem poliertem Holze. In einer Ecke der Hinterwand oder besser gesagt der Scheidewand, war eine verschlossene Türe, – also, mußten hinter dieser Wand sich noch andere Zimmer befinden. Nach Raskolnikoffs Eintritt schloß Porphyri Petrowitsch sofort die Türe, durch die er eingetreten war, und sie waren allein. Er begrüßte seinen Besuch mit sichtlich fröhlichstem und freundlichstem Ausdruck, und erst nach einigen Minuten merkte Raskolnikoff aus einigen Anzeichen eine gewisse Bestürztheit, als sei er plötzlich aus dem Konzept gebracht, oder als hatte man ihn auf etwas Verstecktem und Geheimem ertappt.
„Ah, Verehrtester! Da sind Sie ja ... in unserer Gegend ...“ begann Porphyri Petrowitsch und streckte ihm beide Hände entgegen. „Nun, nehmen Sie Platz, Väterchen! Oder vielleicht haben Sie es nicht gern, daß man Sie Verehrtester und ... Väterchen nennt, – sozusagen tout court[7]? Halten Sie es bitte nicht für familiär ... Bitte, hierher auf den Divan.“
Raskolnikoff setzte sich, ohne die Augen von ihm zu wenden.
„Ja unserer Gegend,“ Entschuldigung wegen Familiarität, das französische „tout court[7]“ und dergleichen mehr, dies alles waren charakteristische Anzeichen. „Er hat mir beide Hände entgegengestreckt, hat aber keine Hand gereicht, hat sie rechtzeitig zurückgezogen,“ dachte er mißtrauisch. Beide beobachteten einander, aber kaum begegneten sich ihre Blicke, als sie beide mit Blitzesschnelle sie voneinander abwandten.
„Ich habe Ihnen diese Anmeldung ... über die Uhr gebracht ... hier haben Sie es. Ist es richtig geschrieben, oder soll ich es umschreiben?“
„Was? Die Anmeldung? Ja, so ... machen Sie sich keine Sorge, es ist richtig,“ sagte Porphyri Petrowitsch, als hätte er Eile, und erst nachdem er das gesagt hatte, nahm er das Schriftstück und sah es durch. „Ja, es ist richtig. Mehr ist auch nicht nötig,“ bestätigte er noch einmal schnell und legte das Papier auf den Tisch.
Nach einer Minute, als er schon von etwas anderem sprach, nahm er es wieder in die Hand und legte es in seinen Schreibtisch.
„Ich glaube, Sie sagten gestern, daß Sie wünschten, mich ... in aller Form ... über meine Bekanntschaft mit dieser ... Ermordeten zu fragen?“ begann wieder Raskolnikoff. „Nun, warum habe ich ‚ich glaube‘ gesagt?“ durchfuhr es ihn. „Warum beunruhige ich mich denn so, daß ich dieses ‚ich glaube‘ hinzugefügt habe?“ kam ihm alsbald ein zweiter Gedanke. Und plötzlich empfand er, daß seine Zweifelsucht, nur bei der Berührung mit Porphyri Petrowitsch, nur nach zwei Worten, nur von zwei Blicken, in einem einzigen Augenblick schon ins Ungeheure gestiegen sei ... und daß dies sehr gefährlich sei, – seine Nerven wurden gereizt, die Erregung steigerte sich. „Es ist ein Unglück! Ein Unglück! ... Ich werde mich wieder versprechen.“ –
„Ja, ja, ja! Haben Sie keine Sorge! Es hat Zeit, hat Zeit!“ murmelte Porphyri Petrowitsch und ging vor dem Tische auf und ab, wie absichtslos. Bald eilte er zu dem Fenster, bald zum Schreibtisch, bald zu dem anderen Tisch, bald mied er den mißtrauischen Blick Raskolnikoffs, bald blieb er plötzlich stehen und sah ihm unverwandt ins Gesicht. Sonderbar erschien dabei seine kleine, dicke und runde Gestalt, die wie ein Gummiball überall hinrollte und sofort von den Wänden und den Ecken absprang.
„Wir haben Zeit, wir haben Zeit! ... Rauchen Sie? Haben Sie was zu rauchen? Bitte, hier ist eine Zigarette,“ fuhr er fort und reichte dem Besucher Zigaretten ... „Wissen Sie, ich empfange Sie hier, meine Wohnung aber ist hier hinter der Zwischenwand ... freie Dienstwohnung, ich wohne jetzt noch in meiner alten, eigenen. Man mußte hier einige kleine Reparaturen vornehmen. Jetzt ist alles fast in Ordnung ... eine freie Dienstwohnung ist eine schöne Sache? Meinen Sie nicht?“
„Ja, es ist eine schöne Sache,“ antwortete Raskolnikoff und blickte ihn fast spöttisch an.
„Eine schöne Sache, eine schöne Sache ...“ wiederholte Porphyri Petrowitsch, als ob er an etwas ganz anderes denke, „ja! eine schöne Sache!“ rief er zum Schlusse laut, erhob plötzlich die Augen zu Raskolnikoff und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.
Diese fortwährende dumme Wiederholung, daß eine Dienstwohnung eine schöne Sache sei, widersprach sehr dem ernsten sinnenden und rätselhaften Blicke, mit dem er jetzt seinen Besuch anstarrte.
Dies aber reizte noch mehr die Wut Raskolnikoffs, so daß er eine spöttische und ziemlich unvorsichtige Herausforderung nicht unterdrücken konnte.
„Sie wissen doch,“ sagte er unerwartet, indem er ihn fast dreist anblickte, und als empfände er einen Genuß von seiner Dreistigkeit, „daß es eine juristische Regel, ein juristischer Kniff mancher Untersuchungsrichter ist, – zuerst von weitem her mit Kleinigkeiten, oder auch mit etwas Ernstem aber Fernliegendem zu beginnen, um den zu Verhörenden sozusagen zu ermutigen, oder besser gesagt, abzulenken, seine Vorsicht einzuschläfern, um ihn nachher plötzlich und unversehens mit einer verhängnisvollen und gefährlichen Frage zu betäuben, habe ich recht? Das wird, glaube ich, in allen Lehrbüchern und Vorschriften bis heute als unfehlbarer Kunstgriff festgehalten.“
„Es ist richtig ... und Sie meinen, daß ich es mit der freien Dienstwohnung bei Ihnen versucht habe ... ah?“
Als Porphyri Petrowitsch dies gesagt hatte, kniff er die Augen zusammen und blinzelte ihm zu; etwas Lustiges und Schlaues huschte über sein Gesicht, die Falten auf seiner Stirn glätteten sich, die Augen wurden schmäler, die Gesichtszüge erweiterten sich, und plötzlich brach er in ein nervöses langandauerndes Lachen aus, das seinen ganzen Körper erschütterte, dabei sah er Raskolnikoff unentwegt in die Augen. Raskolnikoff zwang sich in das Lachen einzustimmen. Als aber Porphyri Petrowitsch sah, daß auch er lache, brach er in ein Gelächter aus, daß ihm das Blut zu Kopf stieg. Raskolnikoffs Widerwillen überwog seine Vorsicht, – er hörte auf zu lachen, sein Gesicht verfinsterte sich und er sah Porphyri Petrowitsch lange und voll Haß an während dieses anhaltenden und wie absichtlich nicht aufhörenden Lachens. Übrigens war die Unvorsichtigkeit beiderseits – es war doch klar, daß Porphyri Petrowitsch über seinen Besucher lachte und daß er über dessen unverhohlenen Mißmut sich nicht im geringsten kümmerte. Das aber war für Raskolnikoff sehr wichtig – er hatte begriffen, daß Porphyri Petrowitsch auch vorhin sich gar nicht verlegen gefühlt hatte, daß im Gegenteil er, Raskolnikoff, wahrscheinlich in eine Falle geraten sei, daß es hier etwas gab, was er nicht ahnte, daß vielleicht schon alles vorbereitet sei, um sich im nächsten Augenblick zu zeigen und ihn zu überrumpeln ...
Er ging gerade auf das Ziel los, stand von seinem Platze auf und nahm seine Mütze.
„Porphyri Petrowitsch,“ begann er gereizt, aber entschlossen, „Sie äußerten gestern den Wunsch, daß ich zu einem Verhöre herkommen sollte.“ (Er betonte besonders das Wort Verhör.) „Ich bin gekommen, und wenn Sie etwas wünschen, fragen Sie mich, sonst aber gestatten Sie mir, wegzugehen. Ich habe keine Zeit, denn ich habe zu tun ... Ich muß zu der Beerdigung eines Beamten, der überfahren worden ist und von dem ... Sie auch ... schon wissen ...“ fügte er hinzu, ärgerte sich aber sofort, daß er das hinzugefügt hatte und wurde noch gereizter. „Ich bin des Ganzen überdrüssig, hören Sie, und seit langem schon ... ich bin zum Teil auch deshalb krank gewesen ... mit einem Worte,“ schrie er fast, als er fühlte, daß die Phrase über seine Krankheit sehr überflüssig war, „mit einem Worte, – belieben Sie mich entweder zu fragen oder zu entlassen, und zwar sofort ... und wenn Sie mich fragen wollen, dann nicht anders, als nach der gesetzlichen Form! Anders werde ich es nicht erlauben, und darum sage ich Ihnen einstweilen, leben Sie wohl, da wir jetzt beide nichts miteinander zu schaffen haben.“
„Mein Gott! Ja, was ist mit Ihnen? Ja, worüber soll ich Sie denn fragen,“ sagte auf einmal Porphyri Petrowitsch aufgeregt, indem er sofort den Ton und seine Miene änderte und aufhörte zu lachen, „bitte, regen Sie sich doch nicht auf,“ bemühte er sich um Raskolnikoff, bald nötigte er ihn, seinen Platz wieder einzunehmen, bald lief er im Zimmer umher, „es hat Zeit, es hat Zeit und alles sind doch bloß Kleinigkeiten! Ich bin im Gegenteil so froh, daß Sie endlich zu mir gekommen sind ... Ich empfange Sie als meinen Gast. Und dieses verfluchte Lachen bitte ich Sie zu entschuldigen, Väterchen, Rodion Romanowitsch. – Rodion Romanowitsch, so ist doch Ihr Vatername, nicht wahr? ... Ich bin ein nervöser Mensch. Sie haben mich durch Ihre witzige Bemerkung stark zum Lachen gebracht; zuweilen schüttelt es mich wirklich, als wäre ich aus Kautschuk, und das dauert manchmal eine halbe Stunde ... Ich neige zum Lachen. Bei meiner Statur fürchte ich dadurch einmal einen Schlaganfall zu bekommen. Ja, setzen Sie sich doch, warum stehn Sie? ... Bitte, setzen Sie sich, Väterchen, sonst denke ich, daß Sie mir böse sind ...“
Raskolnikoff schwieg, hörte zu und beobachtete ihn, noch immer zornig und mit düsterem Gesichte. Er nahm Platz, legte aber die Mütze nicht aus der Hand.
„Ich will Ihnen, Väterchen Rodion Romanowitsch, von mir selbst etwas sagen, um Ihnen meinen Charakter sozusagen zu erklären,“ fuhr Porphyri Petrowitsch fort, indem er im Zimmer hin und her eilte und wie vorhin den Blick seines Gastes zu meiden schien. „Wissen Sie, ich bin ein alter Junggeselle, ohne weltmännische Art und ohne Beziehungen, außerdem ein abgetaner Mensch, der schon über die Reife hinaus und in Samen geschossen ist ... Und Rodion Romanowitsch, haben Sie nicht auch schon beobachtet, daß bei uns, das heißt bei uns in Rußland, und meistens in unseren Petersburger Kreisen, wenn zwei kluge Menschen zusammenkommen, die einander noch nicht gut kennen, aber sich sozusagen gegenseitig achten, wie wir jetzt zusammengekommen sind, so können sie kaum vor Ablauf einer halben Stunde ein Gesprächsthema finden, – sie sitzen, starren einander an und genieren sich. Alle haben einen Gesprächsstoff, Damen zum Beispiel ... Leute aus der großen Welt zum Beispiel haben immer ein Thema zur Unterhaltung, c’est de rigueur[8]. Die Leute aber aus den mittleren Schichten, das heißt denkende Menschen, wie wir, – sind alle verlegen und nicht gesprächig. Woher kommt das, Väterchen? Haben wir keine gemeinsamen Interessen, oder sind wir zu ehrlich und wollen einander nicht betrügen, ich weiß es nicht? Ah? Wie meinen Sie? Legen Sie doch bitte die Mütze fort, es sieht so aus, als wollten Sie gleich fortgehen, das ist wirklich peinlich ... Ich freue mich im Gegenteil sehr, daß Sie hier sind ...“
Raskolnikoff legte die Mütze weg, verhielt sich aber schweigend und hörte ernst und mit düsterem Gesichte dem leeren und verworrenen Geschwätz von Porphyri Petrowitsch zu.
„Will er tatsächlich mit seinem dummen Geschwätz meine Aufmerksamkeit ablenken?“ dachte er.
„Ich kann Ihnen leider keinen Kaffee anbieten, es geht hier nicht an; doch warum soll man sich nicht fünf Minuten mit einem guten Bekannten zerstreuen,“ redete Porphyri Petrowitsch ohne Unterbrechung fort, „und wissen Sie, alle diese dienstlichen Pflichten ... aber seien Sie bitte, Väterchen, nicht böse, daß ich in einem fort auf und ab gehe; entschuldigen Sie, Väterchen, ich fürchte sehr, Sie zu kränken, Bewegung aber tut mir einfach nötig. Ich sitze die ganze Zeit und bin sehr froh, so fünf Minuten herumgehen zu können ... Hämorrhoiden ... ich will mich durch Gymnastik behandeln; man erzählt, daß Staatsräte, wirkliche Staatsräte und sogar Geheimräte, sehr gern ab und zu über die Schnur springen; ja, ja, die Wissenschaft in unserem Jahrhundert ... leistet viel ... Und diese dienstlichen Pflichten, Verhöre und diese ganzen Formalitäten ... Sie erwähnten, Väterchen, soeben etwas von Verhören ... ja, wissen Sie, Väterchen Rodion Romanowitsch, diese Verhöre verwirren zuweilen den Verhörer selbst mehr als den zu Verhörenden ... Das haben Sie, Väterchen, sehr richtig und witzig soeben bemerkt“ (Raskolnikoff hatte gar keine derartige Bemerkung gemacht). – „Man wird konfus! Wirklich, man wird konfus, und immer hat man ein und dasselbe, immer ein und dasselbe, es geht in einer Leier so fort! Die Reform ist im Anzuge, wir werden wenigstens einen anderen Titel erhalten, he–he–he! Und was unser Verfahren, über das Sie vorhin so gelungen sprachen, anbetrifft, so bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber, sagen Sie bitte, welcher Angeklagte, und wäre es der dümmste Bauer, wüßte nicht, daß man zuerst anfängt, ihn durch nebensächliche Fragen einzuschläfern, wie Sie treffend bemerkten, um ihn dann plötzlich mit einem Schlage zu betäuben, he–he–he! ihn zu betäuben, nach Ihrem glücklichen Ausdruck! He–he–he! Also, Sie dachten tatsächlich, daß ich es bei Ihnen mit der Dienstwohnung versuchen wollte ... he, he! Sie sind ein spöttischer Mensch! Also, ich werde nicht mehr darüber reden! Ach ja, beiläufig, das eine Wort zieht ja das andere nach, und ein Gedanke ruft den andern, – Sie haben vorhin auch die gesetzliche Form erwähnt, wissen Sie, in bezug auf das Verhör ... Wozu denn eine gesetzliche Form? Die Form ist, wissen Sie, in vielen Fällen ein Unsinn. Manchesmal ist es vorteilhafter, in aller Freundschaft miteinander zu sprechen. Die Form läuft nie davon, darin gestatte ich mir Sie zu beruhigen; ja, und was ist eigentlich die Form, frage ich Sie? Die gesetzliche Form darf nicht bei jedem Schritt den Untersuchungsrichter hemmen. Die Arbeit eines Untersuchungsrichters ist doch sozusagen freie Kunst in ihrer Art, oder etwas Ähnliches ... he! he!“
Porphyri Petrowitsch machte für einen kurzen Augenblick eine Pause. Er redete in einem fort, ohne zu ermüden, bald sinnloses und inhaltloses Zeug, bald machte er plötzlich rätselhafte Anspielungen und verlor sich von neuem in sinnloses Geschwätz. Er lief schon fast im Zimmer herum und bewegte immer schneller und schneller seine dicken kurzen Beine; blickte dabei die ganze Zeit zu Boden, hatte die rechte Hand auf dem Rücken und machte mit der linken allerhand Bewegungen, die jedesmal nur wenig mit seinen Worten übereinstimmten. Raskolnikoff bemerkte plötzlich, daß er ein paarmal neben der Tür stehen blieb und zu lauschen schien ...
„Wartet er etwa auf etwas?“ dachte er.
„Und Sie sind vollkommen im Rechte,“ begann von neuem Porphyri Petrowitsch und blickte heiter und mit ungewöhnlicher Treuherzigkeit Raskolnikoff an, was jenen zu vermehrter Achtsamkeit veranlaßte. „Sie haben tatsächlich recht, daß Sie über die Rechtsformen sich so lustig machen, he–he! Diese tiefsinnigen psychologischen Kunstgriffe – einige natürlich nur – sind äußerst lächerlich, ja und vielleicht nutzlos, wenn sie durch die gesetzliche Form zu sehr beschränkt sind. Ja ... ich komme wieder auf die gesetzliche Form zurück, – also, wenn ich den einen oder den anderen sozusagen für den Verbrecher halte, oder besser gesagt, ihn im Verdacht habe, in irgendeiner mir übertragenen Angelegenheit ... Sie bereiten sich doch vor, Jurist zu werden, Rodion Romanowitsch?“
„Ja, ich wollte es werden ...“
„Nun, da möchte ich Ihnen sozusagen ein Beispiel für die Zukunft anführen, – das heißt, glauben Sie nicht, daß ich es wage, Sie zu belehren, – Sie lassen doch selber große Artikel über Verbrechen drucken! Nein, ich will Ihnen nur, als eine Tatsache, ein Beispiel erwähnen, – also falls ich den einen oder den anderen für den Verbrecher halten sollte, fragt es sich, soll ich ihn vor der Zeit beunruhigen, wenn ich auch Beweise gegen ihn habe? Den einen muß ich zum Beispiel schneller verhaften, ein anderer aber hat einen ganz anderen Charakter, wirklich, – warum soll man ihm denn nicht gestatten, in der Stadt herumzuspazieren – he–he–he! Nein, ich sehe, daß Sie nicht ganz verstehn, ich will es Ihnen deutlicher erklären, – wenn ich ihn zum Beispiel zu früh einsperre, so gebe ich ihm vielleicht dadurch eine moralische Stütze, sozusagen, he–he! Sie lachen?“ (Raskolnikoff dachte gar nicht daran, zu lachen; er saß mit zusammengepreßten Zähnen und wandte seinen glühenden Blick von den Augen Porphyri Petrowitschs nicht ab.) „Das kann bei dem einen Subjekt genau das richtige sein, denn die Menschen sind verschieden, und da muß vor allem die Praxis entscheiden. Sie werden jetzt einwenden – und die Beweise! Ja, nehmen wir an, es sind Beweise da, aber Beweise haben doch meistenteils, Väterchen, zwei Seiten, und ich bin doch Untersuchungsrichter, also auch nur ein schwacher Mensch, und ich gestehe, daß ich die Untersuchung sozusagen mathematisch klarstellen möchte, und solch einen Beweis zu erbringen wünsche, daß es so klar wäre, wie zweimal zwei vier ist! Daß es einer klaren unbestreitbaren Tatsache gleiche! Wenn ich ihn aber vor der Zeit einsperre, – und wäre ich fest überzeugt, daß er es ist, – so kann ich mich selbst vielleicht der Mittel berauben, ihn weiter zu überführen, und warum? Weil ich ihm sozusagen eine bestimmte Lage gebe, ihn sozusagen psychologisch bestimme und festlege, und da wird er sich vor mir in seine Schale verkriechen, – er wird endlich begreifen, daß er Gefangener ist. Man erzählt sich, daß kluge Leute in Sebastopol sofort nach der Schlacht bei Alma schreckliche Angst hatten, daß der Feind gleich darauf einen offenen Sturm auf Sebastopol machen und die Stadt einnehmen würde; als sie aber sahen, daß der Feind eine regelrechte Belagerung vorzog und die erste Parallele zog, da haben sich die klugen Leute ordentlich gefreut und sich beruhigt, – die Sache zieht sich wenigstens noch zwei Monate hin, denn es dauert ein Endchen, ehe sie durch eine regelrechte Belagerung die Stadt einnehmen können. Sie lachen wieder, Sie glauben wieder nicht? Sie sind selbstverständlich auch im Recht. Sie sind im Recht, Sie sind im Recht! Ich bin mit Ihnen einverstanden, es sind alles Einzelfälle; der angeführte Fall steht tatsächlich vereinzelt da! Aber sehen Sie, lieber Rodion Romanowitsch, man muß dabei folgendes nicht außer acht lassen, – es gibt doch keinen allgemeinen Fall, einen solchen, auf den alle rechtlichen Formen und Regeln passen, nach dem sie berechnet und in Bücher eingetragen sind, aus dem bloßen Grunde, weil jede Tat, jedes Verbrechen, zum Beispiel sofort, kaum daß es in Wirklichkeit geschehen ist, sich in einen vollkommenen Einzelfall verwandelt und zuweilen in einen solchen, der einem früheren ganz und gar nicht ähnlich ist. Zuweilen passieren in dieser Hinsicht ganz komische Sachen. Wenn ich nun einen Herrn ganz allein lasse, ihn nicht festnehme und nicht beunruhige, aber er soll jede Stunde und jeden Augenblick wissen oder wenigstens ahnen, daß ich alles weiß, sein ganzes Geheimnis, Tag und Nacht ihn beobachten lasse, über ihn rastlos wache, und wenn er sich bewußt unter ewigem Verdachte und in ewiger Angst fühlt, – bei Gott, da wird er nicht aus und ein wissen, er wird tatsächlich selbst kommen und wird vielleicht noch etwas tun, was dem Zweimalzwei bestimmt ähnlich sein wird, was sozusagen wie ein mathematisches Exempel aussieht, – und das ist sehr angenehm. Das kann auch mit einem plumpen Bauern geschehen, aber um so mehr mit unsereinem, einem modern gebildeten und nach einer bestimmten Richtung entwickelten Menschen! Denn, mein Lieber, es ist sehr wichtig zu wissen, in welcher Richtung ein Mensch entwickelt ist. Und die Nerven, die Nerven, die haben Sie ganz vergessen! Die sind doch heutzutage krank, schlecht und gereizt! ... Und die Galle, – wieviel Galle sie alle haben! Das ist ja, will ich Ihnen nur sagen, in manchen Fällen eine Fundgrube in ihrer Art! Und warum soll ich beunruhigt sein, daß er ungefesselt in der Stadt herumgeht? Mag er, mag er vorläufig spazieren gehen; ich weiß auch ohnedem, daß er mein Opfer ist und niemals von mir fortläuft! Ja, und wohin soll er auch fliehen, he–he! Ins Ausland etwa? Ein Pole wird ins Ausland fliehen, aber nicht er, um so mehr, da ich ihn beobachte und Maßregeln ergriffen habe. Soll er ins Innere des Vaterlandes etwa fliehen? Dort leben aber Bauern, echte, ungewaschene Russen; da wird ein modern entwickelter Mensch eher das Gefängnis vorziehen, als mit solchen Ausländern, wie es unsere Bauern sind, leben, he–he–he! Aber das ist Unsinn, sind reine Äußerlichkeiten. Was heißt, – er wird fliehen! Das ist formell gemeint, es ist nicht die Hauptsache; er wird mir nicht entfliehen, nicht, weil er nirgends hinfliehen könnte, – er wird mir psychologisch nicht entfliehen, he–he! Was sagen Sie zu dem Ausdruck? Er wird dem Naturgesetze nach mir nicht entfliehen, wenn er auch irgendwohin fliehen könnte. Haben Sie einen Schmetterling vor einem Lichte gesehen? Nun, er wird auch so die ganze Zeit um mich, wie um ein Licht, herumflattern; die Freiheit wird ihm unlieb werden, er wird nachdenklich werden, sich verwirren, sich selbst wie in ein Netz verwickeln und sich zu Tode zappeln! ... Nicht das allein, – er wird mir selbst irgendein mathematisches Exempel, wie Zweimalzwei, bringen, – wenn ich ihm bloß genügend Zeit dazu lasse ... Und er wird die ganze Zeit, wird die ganze Zeit mich umkreisen und immer kleinere und kleinere Kreise ziehen und – bardautz! Er wird mir direkt in den Mund fliegen und ich werde ihn verschlucken, und das ist aber sehr angenehm, he–he–he! Sie glauben nicht?“
Raskolnikoff antwortete nicht, er saß bleich und unbeweglich und sah die ganze Zeit Porphyri Petrowitsch starr ins Gesicht.
„Die Lehre ist gut!“ dachte er erschauernd. „Das ist nicht mehr ein Spiel, wie die Katze mit der Maus, wie es gestern der Fall war. Und er zeigt mir doch nicht nutzlos seine Macht und ... souffliert mir; er ist dazu zu klug ... Er verfolgt einen anderen Zweck, aber was für einen? He, es ist Unsinn, Bruder, du willst mir nur Furcht einjagen und spielst den Schlauen! Du hast keine Beweise und der Mann von gestern existiert gar nicht! Du willst mich bloß verwirren, vorzeitig reizen und in diesem Zustande auf mich losschlagen, aber nein, du schlägst vorbei! Aber warum, warum souffliert er mir in dieser Weise? ... Rechnet er etwa mit meinen kranken Nerven! ... Nein, Bruder, das wird dir nicht gelingen, obwohl du etwas vorbereitet hast ... Nun, wollen wir mal sehen, was du da vorbereitet hast.“
Und er nahm alle Kräfte zusammen, um sich auf eine furchtbare und unbekannte Katastrophe gefaßt zu machen. Zuweilen fühlte er einen heftigen Drang, sich auf Porphyri Petrowitsch zu stürzen und ihn auf der Stelle zu erwürgen. Als er hereintrat, fürchtete er sich vor dieser Wut. Er fühlte, daß seine Lippen trocken waren, sein Herz klopfte und daß der Schaum vor dem Munde eingetrocknet war. Er beschloß trotzdem zu schweigen. Er begriff, daß das die beste Taktik in seiner Situation sei, weil er nicht bloß keine Gelegenheit hatte, sich zu versprechen, sondern im Gegenteil durch sein Schweigen den Gegner reizen konnte, und jener vielleicht noch sich selbst verraten würde. Er hoffte wenigstens darauf.
„Nein, ich sehe, Sie glauben mir nicht, Sie meinen, daß ich Ihnen unschuldige Späße erzähle,“ sagte Porphyri Petrowitsch, indem er lustiger wurde, vor Vergnügen ununterbrochen kicherte und wieder im Zimmer herumwanderte. „Sie haben selbstverständlich ein Recht dazu. Gott hat mir so eine Gestalt verliehen, daß sie nur lächerliche Gedanken bei anderen erregt; bin der Possenreißer, aber ich will nur eins sagen und wiederhole noch einmal, entschuldigen Sie mich alten Mann, Väterchen Rodion Romanowitsch, – Sie sind noch ein junger Mann, sozusagen in der Jugendblüte, und schätzen darum am höchsten, wie überhaupt die Jugend, den menschlichen Verstand. Schärfe des Verstandes und abstrakte Vernunftschlüsse ziehen Sie an. Das ist genau, wie mit dem früheren österreichischen Hofkriegsrat, soweit ich über Kriegsereignisse urteilen kann, – auf dem Papier hatten sie Napoleon geschlagen und gefangen genommen, haben in ihrem Arbeitszimmer alles in der scharfsinnigsten Weise ermessen und berechnet, und zuguterletzt ergibt sich General Mack mit seiner ganzen Armee, he–he–he! Ich sehe, ich sehe, Väterchen Rodion Romanowitsch, Sie lachen über mich, daß so ein Zivilist, wie ich, Beispiele aus der Kriegsgeschichte anführt. Ja, was soll ich tun, ich habe einmal diese Schwäche, liebe alles Militärische und lese sehr gern alle diese Kriegsrelationen ... ich habe entschieden in der Wahl meines Berufes gefehlt. Ich sollte als Militär dienen, gewiß, zum Napoleon hätte ich es nicht gebracht, höchstens bis zum Major, he–he–he! Nun, ich will Ihnen jetzt die volle Wahrheit in bezug auf den Einzelfall sagen, mein Lieber. Wirklichkeit und Natur, mein Herr, sind wichtige Dinge und machen zuweilen die allerglänzendste Berechnung zuschanden! He, hören Sie auf mich, einen alten Mann, ich spreche im Ernst. Rodion Romanowitsch,“ – (indem er dies sagte, schien der kaum fünfunddreißigjährige Porphyri Petrowitsch tatsächlich gealtert zu sein, – sogar seine Stimme hatte sich verändert und sie schien wie verfallen) – „und außerdem bin ich aufrichtig ... Bin ich nicht aufrichtig? Was meinen Sie? Mir scheint, ich bin es im vollen Maße, – teile Ihnen solche Dinge umsonst mit, und verlange dafür gar keine Belohnung, he–he–he! Nun, also, ich fahre fort, – Scharfsinn ist meiner Meinung nach ein prächtiges Ding; er ist sozusagen eine Zierde der Natur und ein Trost des Lebens, und kann solche Kunststücke produzieren, daß zuweilen ein armer Untersuchungsrichter beim besten Willen sie nicht erraten kann, der zudem von seiner eigenen Phantasie geleitet wird, wie es oft genug vorkommt, denn er ist auch nur ein Mensch! Aber die Natur hilft dem armen Untersuchungsrichter, das ist das Unglück! Daran aber denkt die von ihrem Scharfsinn hingerissene Jugend nicht, ‚die über alle Hindernisse hinwegschreitet‘, – wie Sie sich scharfsinnig und trefflich auszudrücken beliebten. Er wird – nehmen wir es an – lügen, das heißt, der Mensch, der Einzelfall, der Inkognito, und wird ausgezeichnet und in der schlauesten Weise lügen; nun müßte er, sollte man meinen, triumphieren und die Früchte seines Scharfsinnes genießen, aber es kommt ein Krach, – bei der interessantesten, skandalösesten Stelle fällt er in Ohnmacht. Angenommen, es kann von Krankheit und zuweilen von der dumpfen Luft in einem Zimmer kommen, aber trotzdem! Trotzdem ist der Gedanke gegeben! Er hat unvergleichlich gelogen, hat aber nicht verstanden, mit der Natur zu rechnen. Darin aber lag die Tücke! Ein anderes Mal läßt er sich von der Lebhaftigkeit seines Scharfsinnes hinreißen, beginnt einen Menschen, der ihn im Verdacht hat, zum Narren zu halten, erbleicht, wie absichtlich, wie im Scherze, aber erbleicht schon zu natürlich, so daß es zu sehr wirklichem Erbleichen gleicht, und wieder ist der Gedanke gegeben! Wenn ihm auch der Betrug zum ersten Male gelingt, aber über Nacht denkt jener nach und überlegt es sich anders, wenn er nicht dumm ist. Und so geschieht es auf Schritt und Tritt! Das ist noch nichts, – er beginnt sich selbst vorzudrängen, beginnt sich hineinzumischen, wo man ihn nicht fragt, spricht in einem fort über Dinge, über die er im Gegenteil schweigen müßte, läßt allerhand Allegorien vom Stapel, he–he!, kommt selbst und fragt, warum man ihn so lange nicht festnimmt, he–he–he! und das kann auch mit dem scharfsinnigsten Menschen, mit einem Psychologen und Literaten, passieren! Die Natur ist ein Spiegel, der durchsichtigste Spiegel! Sieh hinein und betrachte dich, ja so ist es! Ja, warum sind Sie so blaß geworden, Rodion Romanowitsch, ist es für Sie hier zu dumpf, soll ich nicht das Fenster aufmachen?“
„Oh, bemühen Sie sich, bitte, nicht,“ – rief Raskolnikoff aus und lachte plötzlich laut, – „bitte, bemühen Sie sich nicht.“
Porphyri Petrowitsch blieb vor ihm stehen, wartete eine Weile und stimmte dann in das Lachen ein. Raskolnikoff erhob sich vom Diwan und brach plötzlich seinen Lachanfall ab.
„Porphyri Petrowitsch!“ – sagte er laut und deutlich, obwohl er kaum auf den zitternden Füßen stehen konnte, – „ich sehe endlich klar, daß Sie mich positiv im Verdacht haben, diese Alte und ihre Schwester Lisaweta ermordet zu haben. Meinerseits erkläre ich Ihnen, daß ich all dessen längst überdrüssig bin. Wenn Sie finden, daß Sie ein Recht haben, mich gesetzlich zu verfolgen, so verfolgen Sie mich, zu arretieren, so arretieren Sie mich. Aber ich erlaube nicht, daß man mir ins Gesicht lacht und mich quält ...“
Seine Lippen zitterten plötzlich, die Augen loderten vor Wut und die bis jetzt gemäßigte Stimme schwoll an. „Ich erlaube es nicht!“ rief er plötzlich und schlug aus aller Kraft mit der Faust auf den Tisch, – „hören Sie, Porphyri Petrowitsch? Ich erlaube es nicht!“
„Ach, mein Gott, was ist Ihnen!“ rief Porphyri Petrowitsch, offenbar völlig erschreckt; – „Väterchen! Rodion Romanowitsch! Lieber! Was ist mit Ihnen?“
„Ich erlaube es nicht!“ – rief Raskolnikoff noch einmal.
„Leise, Väterchen! Man könnte es hören und herkommen! Und, was wollen wir ihnen dann sagen, bedenken Sie!“ – flüsterte Porphyri Petrowitsch entsetzt und näherte sein Gesicht dem Raskolnikoffs.
„Ich erlaube es nicht, ich erlaube es nicht!“ – wiederholte Raskolnikoff mechanisch, aber plötzlich ganz leise.
Porphyri Petrowitsch wandte sich schnell um und lief, um das Fenster zu öffnen.
„Frische Luft hereinlassen! und etwas Wasser müssen Sie trinken, mein Lieber, es ist ja ein Anfall!“ – und er wollte zur Türe stürzen, um nach Wasser zu schicken, fand jedoch hier selbst in einer Ecke eine volle Karaffe.
„Da, Väterchen, trinken Sie,“ – flüsterte er, mit der Karaffe zu ihm eilend, – „vielleicht hilft es ...“
Die Angst und selbst die Teilnahme von Porphyri Petrowitsch waren so natürlich, daß Raskolnikoff verstummte und mit Neugier ihn betrachtete. Das Wasser nahm er nicht an.
„Rodion Romanowitsch! Lieber! Ja, in dieser Weise werden Sie noch den Verstand verlieren, ich versichere Sie! Ach! Trinken Sie! Trinken Sie wenigstens etwas!“
Er zwang ihn doch, das Glas Wasser in die Hand zu nehmen. Raskolnikoff führte es mechanisch an die Lippen, besann sich aber und stellte es mit Widerwillen auf den Tisch.
„Ja, Sie haben einen kleinen Anfall gehabt! In dieser Weise werden Sie, mein Lieber, wieder, wie früher schon, krank,“ – begann mit freundschaftlicher Teilnahme Porphyri Petrowitsch, und anscheinend noch fassungslos. – „Mein Gott! Ja, wie kann man sich so wenig schonen? Gestern war Dmitri Prokofjitsch bei mir gewesen, – ich gebe zu, ich habe einen schlimmen, böswilligen Charakter, – aber was sie alles für Schlüsse daraus ziehen ... Mein Gott! Er kam gestern zu mir, als Sie fortgegangen waren, wir saßen beim Mittagessen, er redete und redete, ich staunte bloß ... kam er etwa in Ihrem Auftrage? Ja, so setzen Sie sich doch, Väterchen, nehmen Sie Platz um Christi willen!“
„Nein, er kam nicht in meinem Auftrage! Aber ich wußte, daß er zu Ihnen gehen und warum er zu Ihnen gehen würde,“ – antwortete Raskolnikoff scharf.
„Sie wußten es?“
„Ich wußte es. Nun, was ist denn dabei?“
„Ja, Väterchen, Rodion Romanowitsch, ich weiß noch ganz andere Dinge von Ihnen; ich weiß alles! Ich weiß auch, wie Sie, als es dunkelte, in der Nacht eine Wohnung zu mieten gingen, an der Glocke klingelten, und nach dem Blut fragten, und die Arbeiter und die Hausknechte verwirrt machten. Ich verstehe auch Ihre damalige Seelenstimmung ... aber Sie werden sich in dieser Weise um den Verstand bringen, bei Gott! Werden zugrundegehen! Eine starke, edle Entrüstung kocht in Ihnen gegen die empfangenen Kränkungen, zuerst vom Schicksal, dann von den Polizeibeamten, darum stürzen Sie auch hierhin und dorthin, um sozusagen schneller alle zum Sprechen zu bringen, und um allem mit einem Male ein Ende zu machen, denn dieser Unsinn und dieser ganze Verdacht ist Ihnen zum Überdruß. Ist es nicht so? Habe ich die Stimmung erraten? ... Und in dieser Weise werden Sie nicht allein zugrunde gehen, sondern ziehen auch unseren Rasumichin hinein, er ist doch dafür ein zu guter Mensch, Sie wissen es ja selbst. Bei Ihnen ist es eine Krankheit, bei ihm Tugend ... die Krankheit könnte auch ihn anstecken ... Ich will Ihnen, Väterchen, wenn Sie sich beruhigt haben, etwas erzählen ... aber setzen Sie sich doch um Christi willen, Väterchen! Bitte, ruhen Sie sich aus, Sie sehen blaß aus, ja, setzen Sie sich doch!“ Raskolnikoff setzte sich hin, das Zittern ging vorüber, und sein ganzer Körper begann zu glühen. Mit tiefem Erstaunen und aufmerksam hörte er dem erschrockenen und freundschaftlich um ihn bemühten Porphyri Petrowitsch zu. Aber er glaubte keinem einzigen seiner Worte, obwohl er eine seltsame Neigung empfand zu glauben. Die unerwarteten Worte Porphyri Petrowitsch’ über die Wohnung hatten ihn äußerst bestürzt. – „Wie, er weiß also von der Wohnung?“ – dachte er plötzlich, – „und erzählt es mir selbst!“
„Ja, in unserer Gerichtspraxis gab es einmal einen fast ähnlichen Fall, auch einen psychopathischen, krankhaften Fall,“ – fuhr Porphyri Petrowitsch schnell fort, – „da hat auch einer einen Mord sich zugedichtet und wie, – eine ganze Halluzination führte er an, brachte Tatsachen, erzählte einzelne Umstände, verwirrte alle und machte jeden konfus, und aus welchem Grunde? Er selbst war völlig ohne Absicht und Wissen mit die Ursache an dem Morde, und als er erfuhr, daß er den Mördern Veranlassung zu ihrer Tat gegeben hatte, wurde er schwermütig und tiefsinnig, hatte Erscheinungen, verlor ganz den Verstand und bildete sich ein, daß er selbst der Mörder sei! Aber der Senat klärte schließlich die Sache auf, und der Unglückliche wurde freigesprochen und in Pflege gegeben. Dank dem Senate! Ach, ja, ja! Ja, wie soll es mit Ihnen enden, Väterchen? In dieser Weise kann man leicht an Nervenfieber erkranken, wenn man solche Anwandlungen hat, seine Nerven zu reizen, nachts die Klingel zu ziehen und nach Blut zu fragen! Ich habe diese ganze Psychologie in der Praxis studiert. In dieser Weise packt es einen Menschen zuweilen, aus dem Fenster oder von einem Turme zu springen, und es ist eine verführerische Empfindung. Ebenso ist es auch mit dem Klingelziehen ... Es ist eine Krankheit, Rodion Romanowitsch, Sie sind krank! Sie vernachlässigen Ihre Krankheit zu sehr. Sie sollten zu einem erfahrenen Arzt hingehen, der Dicke kann Ihnen doch nicht viel nützen! ... Sie haben Fieberwahn! Sie tun alles nur im Fieberwahne! ...“
Auf einen Augenblick drehte sich alles vor Raskolnikoffs Augen.
„Ist es möglich,“ – schwirrte es in seinem Kopfe, – „ist es möglich, daß er auch jetzt lügt? Es ist undenkbar, unmöglich!“ – er stieß diesen Gedanken von sich, da er fühlte, in welchen Grad von Zorn und Raserei ihn derselbe bringen müßte, und daß er vor Wut den Verstand verlieren könne.
„Das war nicht im Fieberwahn, das war im wachen Zustande!“ – rief er aus und spannte alle Kräfte seines Verstandes an, um das Spiel Porphyri Petrowitsch’ zu durchschauen. – „Im wachen Zustande, bei vollem Verstande! Hören Sie?“
„Ja, ich verstehe und höre es! Sie sagten auch gestern, daß es nicht im Fieberwahne war, Sie betonten sogar, daß es nicht im Fieberwahne war! Ich begreife alles, was Sie sagen! Ach! ... Hören Sie doch, Rodion Romanowitsch, mein lieber Mensch, ziehen Sie doch diesen Umstand in Erwägung. Wenn Sie tatsächlich in dieser verfluchten Sache schuldig oder irgendwie darin verwickelt wären, würden Sie dann – ich bitte Sie – selbst betonen, daß Sie dies alles nicht im Fieberwahne, sondern im Gegenteil bei vollem Verstande getan haben? Und es ganz besonders betonen, mit einer besonderen Hartnäckigkeit es betonen, – wäre es denn möglich, wäre es denkbar, ich bitte Sie? Meiner Meinung nach würden Sie das Gegenteil behaupten. Wenn Sie kein reines Gewissen hätten, so müßten Sie unbedingt betonen, – daß Sie es unbedingt im Fieberwahne getan haben! Ist es nicht so? Meine Annahme ist doch richtig?“
Etwas Heimtückisches klang in dieser Frage. Raskolnikoff wich vor Porphyri Petrowitsch zurück, der sich zu ihm gebeugt hatte, und betrachtete ihn schweigend, starr und voller Zweifel.
„Oder nehmen wir den Fall mit Rasumichin, das heißt, ob er gestern aus freien Stücken kam zu sprechen, oder ob Sie ihn dazu gebracht haben? Ja, Sie müßten unbedingt gesagt haben, daß er aus eigenem Antriebe gekommen war, und verheimlichen, daß er es in Ihrem Auftrage getan hat! Sie aber verheimlichen es nicht! Sie betonen gerade, daß er in Ihrem Auftrage hier gewesen war!“
Raskolnikoff hatte es niemals betont. Ein Schauer durchzog seinen Rücken.
„Sie lügen wieder,“ – sagte er langsam und schwach, und seine Lippen verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln, – „Sie wollen mir wieder zeigen, daß Sie mein ganzes Spiel kennen und alle meine Antworten im voraus wissen,“ – sagte er und fühlte selbst nicht, daß er seine Worte nicht mehr genügend erwog, – „Sie wollen mir Furcht einjagen ... oder Sie lachen einfach über mich ...“
Er fuhr fort, ihn starr anzusehen, als er dies sagte, und wieder leuchtete eine grenzenlose Wut in seinen Augen auf.
„Sie lügen alles!“ – rief er aus. – „Sie wissen selbst ausgezeichnet, daß der beste Ausweg für einen Verbrecher ist, nach Möglichkeit nichts zu verheimlichen, was man nicht verheimlichen kann. Ich glaube Ihnen nicht!“
„Wie spitzfindig Sie sind!“ – kicherte Porphyri Petrowitsch, – „man wird mit Ihnen, Väterchen, nicht fertig; eine Art Monomanie steckt tief in Ihnen. Also, Sie glauben mir nicht? Ich sage Ihnen aber, daß Sie mir schon glauben, daß Sie mir schon zu einem Viertel glauben, und ich will mein Möglichstes tun, daß Sie mir noch ganz und gar glauben werden, denn ich habe Sie wirklich gern und wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.“
Raskolnikoffs Lippen bebten.
„Ja, ich wünsche Ihnen Gutes, sage ich Ihnen noch einmal,“ – fuhr er fort, und faßte Raskolnikoff leicht und freundschaftlich am Arm, ein wenig über dem Ellbogen, – „ich will es Ihnen auch noch einmal sagen, – achten Sie auf Ihre Krankheit. Außerdem sind auch Ihre allernächsten Verwandten jetzt angekommen; denken Sie auch an die. Sie sollen sie pflegen und hüten, und Sie erschrecken sie bloß ...“
„Was geht das Sie an? Woher wissen Sie es? Warum interessieren Sie sich in dieser Weise für mich? Also, Sie beobachten mich und wollen es mir zeigen?“
„Väterchen! Ich habe es doch von Ihnen, von Ihnen selbst erfahren! Sie merken nicht mal, daß Sie in Ihrer Erregung mir selbst alles und anderen auch erzählen. Auch von Dmitri Prokofjitsch Rasumichin habe ich gestern viele interessante Details erfahren. Nein, Sie haben mich unterbrochen, ich sage aber, daß Sie durch Ihren Argwohn, trotz Ihres ganzen Scharfsinnes, den gesunden Blick für die Dinge verlieren. Nun, nehmen wir, zum Beispiel, wieder das Klingelziehen, – solch eine Krankheit, diese Tatsache, – es ist doch eine ganze Tatsache, – liefere ich Ihnen ohne weiteres aus, ich, der Untersuchungsrichter! Und Sie sehen darin gar nichts? Nun, sagen Sie, wenn ich nur einen kleinen Verdacht auf Sie hätte, würde ich so handeln können? Ich müßte im Gegenteil Ihren Argwohn zuerst einschläfern und nicht mal zeigen, daß ich diese Tatsache schon kenne, ich müßte Sie in entgegengesetzter Richtung ablenken, um Sie plötzlich, wie mit einem Schlage auf den Kopf, mit der Frage zu betäuben, – ‚was suchten Sie – würde ich fragen, – um zehn Uhr abends, oder es kann auch elf Uhr gewesen sein, in der Wohnung der Ermordeten? Warum haben Sie an der Klingel gezogen? Und warum fragten Sie nach dem Blute? Warum machten Sie die Hausknechte konfus und forderten sie auf, auf das Polizeibureau, zum Revieraufseher, mitzugehen?‘ Sehen Sie, in dieser Weise müßte ich handeln, wenn ich den winzigsten Verdacht gegen Sie hätte. Ich müßte Sie in aller Form verhören, eine Haussuchung bei Ihnen vornehmen und Sie möglicherweise auch arretieren ... Also kann ich doch keinen Verdacht gegen Sie hegen, wenn ich anders gehandelt habe! Sie haben aber den gesunden Blick verloren und sehen gar nichts, wiederhole ich!“
Raskolnikoff zuckte zusammen, so daß Porphyri Petrowitsch es zu deutlich bemerkte.
„Sie lügen alles!“ – rief er aus, – „ich kenne Ihre Absichten nicht, aber Sie lügen ... Vorhin haben Sie nicht in diesem Sinne gesprochen und ich kann mich nicht irren ... Sie lügen!“
„Ich lüge?“ – unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch, sich scheinbar ereifernd, behielt jedoch das lustigste und spöttischste Aussehen bei, als kümmerte es ihn wenig, welch eine Meinung Herr Raskolnikoff über ihn habe. – „Ich lüge? ... Und wie habe ich vorhin Ihnen gegenüber gehandelt, ich, der Untersuchungsrichter? Ich habe Ihnen selbst alle Mittel zur Verteidigung genannt und ausgeliefert, habe selbst Ihnen die ganze Psychologie erklärt, habe Krankheit, Fieberwahn, Kränkungen, Melancholie und Polizeibeamte und dergleichen mehr erwähnt! Ah! He–he–he! Obwohl – nebenbei gesagt, – alle diese psychologischen Mittel zur Verteidigung, Ausflüchte und Ausreden äußerst unstichhaltig sind und zwei Seiten haben. ‚Ich war krank, hatte Fieberträume, war im Wahne, erinnere mich nicht‘, – alle diese Ausreden sind ja richtig, aber es fragt sich, Väterchen, warum in der Krankheit und im Fieberwahne immer solche Vorstellungen auftauchen und nicht andere? Es können einem doch auch andere Vorstellungen erscheinen? Ist es nicht so? He–he–he!“
Raskolnikoff blickte ihn stolz und voll Verachtung an.
„Mit einem Worte,“ – sagte er laut und eindringlich, indem er aufstand und dabei Porphyri Petrowitsch ein wenig zur Seite stieß – „mit einem Worte, ich will endgültig wissen, ob Sie mich frei von jedem Verdacht finden oder nicht? Sagen Sie es, Porphyri Petrowitsch, sagen Sie es mir positiv, endgültig, und schnell, sofort!“
„Das ist eine Geschichte! Ist das eine Plage mit Ihnen,“ – rief Porphyri Petrowitsch mit vollkommen lustiger, schlauer und gar nicht bewegter Miene, – „ja, wozu wollen Sie es wissen, wozu wollen Sie so vieles wissen, wenn man noch nicht einmal begonnen hat, Sie in irgendeiner Weise zu belästigen? Sie sind wie ein Kind, dem man Feuer in die Hand geben soll! Warum beuunruhigen Sie sich in dieser Weise? Warum drängen Sie sich uns auf, aus welchen Gründen? Ah? He–he–he!“
„Ich wiederhole Ihnen,“ – rief Raskolnikoff in blinder Wut, – „daß ich es länger nicht ertragen kann ...“
„Was denn? Die Ungewißheit?“ – unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch.
„Höhnen Sie nicht! Ich will es nicht haben! Ich sage Ihnen, ich will es nicht! ... Ich kann und will es nicht! ... Hören Sie! Hören Sie!“ – rief er und schlug wieder mit der Faust auf den Tisch.
„Stiller, leiser! Man könnte es hören! Ich warne Sie in allem Ernst, – schonen Sie sich. Ich scherze nicht!“ – sagte Porphyri Petrowitsch im Flüstertone, aber diesmal lag in seinem Gesichte nicht mehr der frühere weibisch gutmütige und erschrockene Ausdruck; im Gegenteil, er befahl es streng, mit zusammengezogenen Augenbrauen und ließ alle Geheimnistuerei und Zweideutigkeit fallen. Das dauerte jedoch nur einen kurzen Augenblick. Der bestürzte Raskolnikoff geriet in die höchste Wut, und doch, merkwürdig, – wie hypnotisiert gehorchte er wieder dem Befehle, leiser zu sprechen.
„Ich lasse mich nicht quälen!“ – flüsterte er, wie vorhin, indem er sofort voll Schmerz und Haß einsah, daß er dem Befehle gehorchen mußte, und geriet bei diesem Gedanken in immer größere Wut, – „arretieren Sie mich, lassen Sie bei mir Haussuchung halten, aber handeln Sie nach gesetzlicher Form und spielen Sie nicht mit mir! Wagen Sie es nicht ...“
„So regen Sie sich doch nicht wieder wegen der gesetzlichen Form auf,“ – unterbrach ihn Porphyri Petrowitsch mit dem früheren schlauen Lächeln und betrachtete scheinbar Raskolnikoff mit Vergnügen, – „Väterchen, ich habe Sie doch in aller Gemütlichkeit, in aller Freundschaft eingeladen!“
„Ich will nicht Ihre Freundschaft, ich pfeife darauf! Hören Sie? Und jetzt nehme ich meine Mütze und gehe fort. Nun, was willst du jetzt sagen, wenn du mich arretieren willst?“
Er nahm seine Mütze und ging zu der Türe.
„Wollen Sie nicht noch die Überraschung sehen, die ich für Sie habe?“ kicherte Porphyri Petrowitsch, faßte ihn wieder am Arme und hielt ihn an der Türe zurück. Er wurde sichtlich wieder lustiger und lebhafter, was Raskolnikoff ganz außer sich brachte.
„Was für eine Überraschung? Was ist es?“ – fragte er, stehen bleibend und Porphyri Petrowitsch erschreckt anblickend.
„Die Überraschung sitzt hier hinter der Türe, he–he–he!“ – er zeigte mit dem Finger auf die verschlossene Tür in der Scheidewand, die in seine Amtswohnung führte. – „Ich habe sie dort eingeschlossen, damit sie nicht fortläuft.“
„Was sagen Sie? Wo? Was? ...“ – Raskolnikoff trat an die Türe und wollte sie öffnen, jedoch sie war verschlossen.
„Sie ist verschlossen, den Schlüssel habe ich!“
Und er zog aus seiner Tasche einen Schlüssel hervor und zeigte ihn ihm.
„Du lügst!“ – schrie Raskolnikoff, ohne sich noch einen weiteren Zwang aufzuerlegen,– „du lügst, verfluchter Hanswurst!“ Er stürzte sich auf Porphyri Petrowitsch, der sich zwar zur Türe zurückgezogen hatte, aber keineswegs aus Furcht.
„Ich merke alle deine Absichten, alle! – Du lügst und neckst mich, damit ich mich verraten soll.“
„Ja, mehr kann man sich doch nicht verraten, als Sie es tun, Väterchen Rodion Romanowitsch. – Sie haben ja einen Anfall von Tobsucht. Schreien Sie nicht so, ich rufe sonst nach Hilfe.“
„Du lügst, nichts wird geschehen! Rufe deine Leute! Du weißt, daß ich krank bin und willst mich wütend machen, damit ich mich verraten soll, das ist deine Absicht! Nein, zeige mir Tatsachen! Ich habe alles begriffen! Ich weiß, du hast keine Tatsachen, du hast bloß elende, nichtige Vermutungen von Sametoff! ... Du kanntest meinen Charakter, wolltest mich in rasende Wut bringen, und dann mich plötzlich mit Priestern und Delegierten überrumpeln ... Du wartest auf sie? Ah! Was wartest du? Wo? komm doch mit ihnen!“
„Was für Delegierte sollte ich haben, Väterchen? Was dem Menschen nicht alles einfällt! In dieser Weise kann man doch gar nicht nach der gesetzlichen Form handeln, wie Sie meinen, Sie kennen diesen gesetzlichen Weg überhaupt nicht, mein Lieber ... Die gesetzliche Form läuft nicht davon, Sie werden es noch selbst sehen ... –“ murmelte Porphyri Petrowitsch und lauschte an der Türe.
In diesem Augenblicke hörte man wirklich im anderen Zimmer in der Nähe der Türe einen Lärm.
„Ah, sie kommen!“ – rief Raskolnikoff aus, – „du hast nach ihnen geschickt! ... Die hast du erwartet! Hast auf sie gerechnet ... Nun, komme mit ihnen allen, mit den Delegierten, Zeugen ... komme mit was du willst! Ich bin bereit! Bin bereit!“
Aber in diesem Momente trat ein merkwürdiges Ereignis ein, für den gewöhnlichen Gang der Dinge so unerwartet, daß weder Raskolnikoff noch Porphyri Petrowitsch einen solchen Ausgang erwartet hatte.
Raskolnikoffs Erinnerung an diesen Moment war in späterer Zeit folgende:
Das Geräusch hinter der Türe verstärkte sich und die Türe wurde ein wenig geöffnet.
„Was soll das?“ – rief Porphyri Petrowitsch ärgerlich. „Ich habe doch gesagt ...“
Einen kurzen Augenblick erfolgte keine Antwort, jedoch man merkte, daß hinter der Türe einige Leute standen, die jemanden zurückzuhalten schienen.
„Was ist denn los?“ – wiederholte Porphyri Petrowitsch beunruhigt.
„Man hat den Arrestanten Nikolai gebracht,“ – ertönte eine Stimme.
„Es ist nicht nötig! Fort mit ihm! Soll warten! ... Weshalb hat man ihn hierher gebracht? Was ist das für eine Unordnung!“ – rief Porphyri Petrowitsch, zur Türe stürzend.
„Ja, er ...,“ – begann dieselbe Stimme und brach plötzlich ab.
Nicht länger als zwei Sekunden währte ein regelrechter Kampf, als jemand mit aller Kraft zurückgestoßen wurde, und darauf ein sehr bleicher Mann direkt in das Arbeitszimmer von Porphyri Petrowitsch eintrat.
Dieser Mensch sah sehr eigentümlich aus. Er blickte vor sich hin, ohne von seiner Umgebung etwas zu merken. In seinen Augen funkelte eine Entschlossenheit, Totenblässe bedeckte sein Gesicht, als hätte man ihn zum Schafott gebracht. Seine blutleeren Lippen zuckten.
Er war gekleidet wie ein Mann aus dem Volke, war noch sehr jung, von mittlerem Wuchse, hager, mit rund beschnittenen Haaren und feinen, herben Gesichtszügen. Der von ihm unerwartet Zurückgestoßene, ein Gefängniswärter, stürzte als erster ihm ins Zimmer nach und packte ihn an den Schultern. Nikolai zog seinen Arm zurück und riß sich abermals von ihm los.
In der Türe drängten sich die Neugierigen. Manche von ihnen wollten eintreten. Alles das geschah in einem Augenblick.
„Fort, es ist zu früh! Warte, bis ich dich rufen lasse! ... Warum hat man ihn schon jetzt hergebracht?“ murmelte ärgerlich Porphyri Petrowitsch, ganz außer sich.
Da warf sich Nikolai auf die Knie nieder.
„Was ist mir dir?“ – rief Porphyri Petrowitsch erstaunt.
„Ich bin schuldig! Ich bin der Sünder! Ich bin der Mörder!“ – sagte plötzlich Nikolai, stockend, aber mit ziemlich lauter Stimme.
Ein Schweigen, als wären alle erstarrt, trat ein; der eskortierende Soldat wich zurück und trat nicht mehr an Nikolai heran, er ging mechanisch zur Türe und blieb dort unbeweglich stehen.
„Was sagst du?“ – rief Porphyri Petrowitsch, aus seiner Erstarrung erwachend.
„Ich ... bin der Mörder ...,“ – wiederholte Nikolai nach kurzem Schweigen.
„Wie ... du ... wie ... Wen hast du ermordet?“
Porphyri Petrowitsch war sichtbar betreten.
Nach einer kurzen Pause antwortete Nikolai wieder.
„Aljona Iwanowna und ihre Schwester Lisaweta Iwanowna habe ich ... mit dem Beile ... erschlagen. Eine Verblendung kam über mich ... –“ fügte er plötzlich hinzu und verstummte von neuem, immer noch auf den Knien liegend.
Porphyri Petrowitsch stand nachdenklich da; als er wieder zu sich kam, winkte er mit den Händen den ungebetenen Zeugen, fortzugehen. Sie verschwanden sogleich und die Türe wurde zugemacht. Dann blickte er Raskolnikoff an, der in einer Ecke stand und Nikolai verstört ansah, er ging auf ihn zu, blieb jedoch auf halbem Wege wieder stehen, betrachtete ihn nochmals, wandte dann seinen Blick Nikolai zu, und so besah er beide abwechselnd, bis er sich plötzlich auf Nikolai stürzte, von einem Gedanken gepackt.
„Was kommst du mir mit deiner Verblendung daher?“ – rief er ihm wütend zu. – „Ich habe doch noch gar nicht gefragt, ob eine Verblendung über dich gekommen ist oder nicht ... sage mir, hast du gemordet?“
„Ich bin der Mörder ... ich mache das Bekenntnis ...“ – sagte Nikolai.
„Ach was! Und womit hast du gemordet?“
„Mit einem Beile. Ich hatte es mir vorher besorgt.“
„Nur langsam, nicht so schnell! Du allein?“
Nikolai verstand die Frage nicht.
„Hast du allein gemordet?“
„Allein. Dmitri ist unschuldig und ganz unbeteiligt.“
„Eile nicht so mit Dmitri! ...“
„Wie bist du denn damals die Treppe hinuntergelaufen? Die Hausknechte haben doch euch beide zusammen gesehen?“
„Ich bin absichtlich ... damals ... mit Dmitri hinuntergelaufen,“ – antwortete Nikolai schnell als hätte er sich vorher vorbereitet.
„Ja, da haben wir’s wieder!“ rief Porphyri Petrowitsch wütend aus, – „er glaubt selbst nicht, was er sagt!“ – murmelte er scheinbar vor sich hin und bemerkte im selben Augenblick Raskolnikoff wieder.
Er war so stark mit Nikolai beschäftigt, daß er für eine kurze Zeit die Anwesenheit Raskolnikoffs offenbar vergessen hatte. Er wurde verlegen ...
„Rodion Romanowitsch, Väterchen! Entschuldigen Sie mich, es geht nicht an ... bitte ... Sie haben hier nichts zu tun ... ich bin auch selbst ... Sie sehen, welch eine Überraschung! ... Bitte! ...“
Er nahm ihn bei der Hand und zeigte auf die Türe.
„Das haben Sie nicht erwartet?“ – sagte Raskolnikoff, der die Sache selbst noch nicht begriff, jedoch seine Fassung wiedergefunden hatte.
„Auch Sie, Väterchen, haben es nicht erwartet. Wie Ihre Hand zittert! He–he–he!“
„Auch Sie zittern, Porphyri Petrowitsch.“
„Ja, ich zittere auch; hätte das nie für möglich gehalten! ...“
Sie standen beide schon an der Türe. Porphyri Petrowitsch wartete mit Ungeduld auf Raskolnikoffs Hinausgehen.
„Und Ihre Überraschung, wollen Sie sie mir nicht zeigen?“ – sagte Raskolnikoff höhnisch.
„Sie fangen schon wieder so an, während Ihnen die Zähne noch ordentlich klappern, he–he! Sie sind ein eigener Mensch! Nun, auf Wiedersehen.“
„Es wäre besser, Lebewohl zu sagen!“
„So Gott will, so Gott will!“ – murmelte Porphyri Petrowitsch mit einem schiefen Lächeln.
Als Raskolnikoff durch die Kanzlei ging, bemerkte er, daß viele ihn aufmerksam anblickten. Im Vorzimmer sah er unter der Menge die beiden Hausknechte aus jenem Hause, die er damals in der Nacht mit zum Polizeiaufseher gehen hieß. Sie standen und warteten. Kaum hatte er die Treppe erreicht, als er die Stimme Porphyri Petrowitschs hinter sich vernahm. Er kehrte sich um und bemerkte, daß dieser ihm ganz außer Atem nachkam.
„Nur ein Wort noch, Rodion Romanowitsch, über die Sache ... nun, wie Gott will! aber dennoch muß ich Sie über einiges der Form wegen fragen ... so sehen wir uns noch, nicht wahr?“
Und Porphyri Petrowitsch blieb lächelnd vor ihm stehen.
„Nicht wahr?“ – fügte er noch einmal hinzu.
Man hatte den Eindruck, daß er noch etwas sagen wollte, aber es erfolgte nichts.
„Ich bitte Sie, Porphyri Petrowitsch, mich zu entschuldigen wegen des vorhin Vorgefallenen ... ich habe mich hinreißen lassen,“ – begann Raskolnikoff, vollkommen gefaßt und dem unwiderstehlichen Wunsche nachgebend, sich wichtig zu tun.
„Hat nichts zu sagen, hat nichts auf sich,“ – fiel Porphyri Petrowitsch fast freudig ein. – „Auch ich selbst ... ich habe einen gehässigen Charakter, ich gebe es zu, ich gebe es zu! Wir werden uns ja wiedersehen. Wenn Gott will, werden wir uns sehr bald wiedersehen! ...“
„Und dann einander endgültig kennenlernen?“ – fiel Raskolnikoff ein.
„Und dann einander endgültig kennenlernen,“ – pflichtete ihm Porphyri Petrowitsch bei, kniff die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an. – „Jetzt eilen Sie zum Namenstage?“
„Zur Beerdigung.“
„Ja, richtig, zur Beerdigung! Schonen Sie Ihre Gesundheit vor allem, Ihre Gesundheit ...“
„Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen meinerseits wünschen soll!“ – fiel Raskolnikoff ein, der schon die Treppe hinabstieg und sich wieder zu Porphyri Petrowitsch umwandte, – „ich möchte Ihnen ‚guten Erfolg‘ wünschen, aber Ihr Amt ist zu eigenartig!“
„Wieso denn, eigenartig?“ – Porphyri Petrowitsch spitzte die Ohren, obwohl er sich schon umgekehrt hatte, um fortzugehen.
„Warum denn nicht; diesen armen Nikolai haben Sie wahrscheinlich auch ordentlich psychologisch in Ihrer Weise gequält und gemartert, bis er gestanden hat; haben ihm wahrscheinlich Tag und Nacht vorinspiriert, – ‚du bist der Mörder, du bist der Mörder ...‘, und jetzt, wo er es eingestanden hat, werden Sie ihn wieder anders vorkriegen. Jetzt heißt es: ‚Du lügst, du bist nicht der Mörder! Du kannst es nicht sein! Du glaubst nicht an deine eigenen Worte!‘ Nun, ist Ihr Amt nicht komisch?“
„He–he–he! Sie haben es also gehört, daß ich zu Nikolai gesagt habe, er glaube nicht an seine eigenen Worte?“
„Warum sollte ich es nicht gehört haben?“
„He–he! Sie sind scharfsinnig, sehr scharfsinnig! Sie bemerken alles! Sie haben einen ausgezeichneten lebhaften Verstand! Und erwischen immer die komischeste Seite ... he–he! Sagt man nicht, von den Schriftstellern hatte Gogol am ausgeprägtesten diese Eigenschaft.“
„Ja, Gogol ... Auf angenehmes Wiedersehen!“
„Auf angenehmes Wiedersehen!“
Raskolnikoff ging direkt nach Hause. Er war zuletzt so verwirrt und konfus geworden, daß er, als er nach Hause kam, sich auf das Sofa warf und erst eine Viertelstunde ausruhen mußte, ehe er versuchen konnte, seine Gedanken einigermaßen zu sammeln. Den Fall mit Nikolai wollte er gar nicht einmal erörtern, er fühlte eine mächtige Erregung in sich, und fühlte, daß in dem Geständnis Nikolais etwas Unerklärliches und Seltsames war; er war jetzt noch nicht imstande, dies alles zu fassen. Das Geständnis Nikolais war eine unbestreitbare Tatsache. Die Folgen dieser Tatsache wurden ihm sofort klar, – die Lüge mußte sich offenbaren und dann nahm man ihn wieder vor. Aber bis dahin war er wenigstens frei, er muß nun unbedingt irgend etwas für sich tun, denn die Gefahr war unvermeidlich.
Jedoch, in welcher Weise? Die Lage begann sich zu klären. Während er sich im allgemeinen des ganzen Auftrittes bei Porphyri Petrowitsch entsann, durchlief es ihn eiskalt. Gewiß kannte er noch nicht alle Absichten Porphyri Petrowitschs, konnte alle seine Berechnungen vorhin nicht enträtseln. Doch ein Teil des Spieles war offenbar; selbstverständlich konnte niemand besser als er selbst verstehen, wie schrecklich für ihn dieser „Schachzug“ im Spiele Porphyri Petrowitschs sei. Noch ein wenig, und er hätte sich vollkommen verraten. Indem Porphyri Petrowitsch die Empfindlichkeit seines Charakters erkannt hatte und vom ersten Augenblick richtig eingeschätzt und durchschaut hatte, handelte er sehr entschlossen, und fast mit sicherem Erfolge. Es war nicht zu bestreiten, daß Raskolnikoff sich schon stark kompromittiert hatte, doch bis zu Tatsachen war es noch nicht gekommen; dies alles war nur relativ. Faßte er jedoch jetzt auch alles richtig auf? Irrte er sich nicht? Zu welchem Resultate wollte heute Porphyri Petrowitsch kommen? Hatte er heute wirklich etwas vorbereitet? Und was war es? Wartete er wirklich auf etwas oder nicht? Wie würden sie sich heute getrennt haben, wenn der unerwartete Vorfall mit Nikolai nicht eingetreten wäre?
Porphyri Petrowitsch hatte fast sein ganzes Spiel aufgedeckt; es war selbstverständlich von ihm riskiert, aber er hatte es doch getan, und – hatte alles aufgedeckt, wie es Raskolnikoff schien, – wenn Porphyri Petrowitsch wirklich mehr gehabt hätte, würde er es auch aufgedeckt haben. Was war nur diese „Überraschung“? War es etwa Fopperei? Hatte sie eine Bedeutung oder nicht? Konnte sich darunter etwas, das einer Tatsache, einem positiven Beweis glich, verbergen? Vielleicht der Mann von gestern? Wo ist er hinverschwunden? Wo war er heute? Wenn Porphyri Petrowitsch etwas Positives hatte, so hing es sicher mit dem Manne von gestern zusammen ... Er saß auf dem Sofa, hatte den Kopf tief sinken lassen, stützte sich auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Ein nervöses Zittern durchlief immer noch seinen ganzen Körper. Schließlich stand er auf, nahm seine Mütze in die Hand, dachte eine Weile nach und ging zur Türe.
Ein Gefühl, daß er wenigstens heute sich in Sicherheit fühlen könne, rief fast Freude in seinem Herzen wach, – er wollte jetzt schnell zu Katerina Iwanowna gehen. Zur Beerdigung kam er selbstverständlich zu spät, zum Essen langte es noch und er würde dort Ssonja sehen.
Er blieb stehen, sann nach und ein schmerzliches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
„Heute! Heute!“ – wiederholte er vor sich, – „ja, heute noch! Es muß so sein ...“
Er wollte gerade die Türe öffnen, als sie auch schon von außen geöffnet wurde. Er erzitterte und sprang zurück. Sie öffnete sich langsam und leise, und die Gestalt – des Mannes von gestern kam zum Vorschein.
Der Mann blieb auf der Schwelle stehen, sah Raskolnikoff schweigend an und machte einen Schritt in das Zimmer. Er war genau wie gestern gekleidet, er hatte die gleiche gebückte Gestalt, nur in seinem Gesicht und im Blick war eine große Veränderung vorgegangen, – er sah traurig drein, und nachdem er eine Weile dagestanden hatte, seufzte er tief. Es fehlte bloß, daß er die Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur Seite beugte, um völlig einem Weibe zu ähneln.
„Was wünschen Sie?“ – fragte Raskolnikoff.
Der Mann schwieg und verneigte sich auf einmal tief, so tief, daß er mit einem Finger der rechten Hand den Boden berührte.
„Was ist mit Ihnen?“ – rief Raskolnikoff aus.
„Verzeihen Sie,“ – sagte leise der Mann.
„Was soll ich verzeihen?“
„Meine bösen Gedanken.“
Sie blickten einander an.
„Es quälte mich. Als Sie damals kamen, vielleicht berauscht, und die Hausknechte aufforderten, mit auf die Polizei zu gehen und nach dem Blut fragten, quälte es mich, daß man die Sache so ohne weiteres ließ und Sie für einen Betrunkenen ansah. Und es quälte mich so stark, daß ich den Schlaf verlor. Und da ich mich Ihrer Adresse erinnerte, bin ich gestern hierher gekommen und habe den Hausknecht gefragt ...“
„Wer ist hergekommen?“ – unterbrach ihn Raskolnikoff und da erinnerte er sich wieder.
„Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.“
„Also, Sie sind aus jenem Hause?“
„Ja, ich stand damals mit den anderen am Tore, erinnern Sie sich nicht? Ich habe dort seit langem eine Werkstatt. Ich bin Kürschner, Kleinbürger, arbeite zu Hause ... Am meisten aber quälte es mich ...“
Und Raskolnikoff erinnerte sich auf einmal klar der ganzen Szene von vorgestern am Tore; er entsann sich, daß außer den Hausknechten dort noch einige Menschen, darunter auch Frauen, gestanden hatten. Er erinnerte sich einer Stimme, die vorschlug, ihn auf die Polizei zu bringen. Auf das Gesicht des Sprechenden konnte er sich nicht entsinnen und erkannte ihn auch jetzt nicht, aber er wußte noch, daß er ihm damals geantwortet und sich nach ihm umgewandt habe ...
Also, das war die Lösung des ganzes Schreckens von gestern. Am furchtbarsten war ihm der Gedanke, daß er dadurch fast zugrunde gegangen wäre, eines solch nichtigen Verhängnisses wegen sich fast zugrunde gerichtet hätte. Also, außer des Besuches in der Wohnung und des Gespräches über das Blut konnte dieser Mensch gar nichts erzählen. So hatte auch Porphyri Petrowitsch gar nichts, keine Tatsachen, nichts Positives, nichts außer diesem Fieberwahn, und außer der Psychologie, die ihre zwei Seiten hat. Wenn keine Tatsachen mehr auftauchen – und sie dürfen nicht mehr auftauchen, dürfen, dürfen nicht, – was ... was kann man ihm anhaben? Wodurch kann man ihn denn endgültig überführen, selbst wenn sie ihn auch arretieren würden? So hat Porphyri Petrowitsch erst jetzt, soeben erst von der Wohnung erfahren, und vorher nichts davon gewußt.
„Haben Sie es heute Porphyri Petrowitsch gesagt ... daß ich dort gewesen war?“ – rief er aus, von einer neuen Idee überrascht.
„Was für einem Porphyri Petrowitsch?“
„Dem Untersuchungsrichter.“
„Ja, ich habe es gesagt. Die Hausknechte gingen damals nicht hin, und da ging ich denn.“
„Heute?“
„Ich war einen Augenblick früher da, als Sie kamen. Ich habe alles mit angehört, alles, und wie er Sie peinigte.“
„Wo? Was? Wann?“
„Ich saß die ganze Zeit bei ihm hinter der Wand.“
„Wie? Also Sie waren die Überraschung? Ja, wie konnte es denn zugehen? Erlauben Sie!“
„Als ich sah,“ – begann der Kleinbürger, – „daß die Hausknechte trotz meiner Worte nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, schon spät sei und er vielleicht böse würde, daß sie in so später Stunde noch daherkämen, quälte es mich, ich verlor den Schlaf und begann mich zu erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute hin. Als ich zum erstenmal kam, war er noch nicht da, als ich nach einer Stunde wieder kam, empfing er mich nicht, und als ich zum drittenmal da war, – ließ man mich zu ihm. Ich erzählte ihm alles, wie es war, er lief im Zimmer herum und schlug sich mit der Faust vor die Brust. ‚Was macht ihr mit mir,‘ – sagte er, – ‚ihr Räuber? Hätte ich das gewußt, ich würde ihn mit einer Eskorte geholt haben!‘ Dann lief er aus dem Zimmer, rief jemand und begann in einer Ecke mit ihm zu sprechen, dann kam er wieder zu mir, frug mich aus, schimpfte mich und machte auch sich Vorwürfe. Ich teilte ihm alles mit, sagte auch, daß Sie gestern nicht gewagt hätten, mir auf meine Worte zu antworten, und daß Sie mich nicht erkannt hätten. Da begann er wieder herumzulaufen, sich vor die Brust zu schlagen und zu ärgern. Als man aber Sie anmeldete, sagte er, – ‚nun, krieche hinter die Wand, sitze dort, rühr dich nicht, was du auch hören solltest‘, und brachte mir selbst einen Stuhl dorthin und schloß mich ein; ‚vielleicht werde ich dich noch ausfragen‘, sagte er. Als man aber Nikolai hineingeführt hatte, ließ er mich hinaus, nachdem Sie gegangen waren. ‚Ich werde noch einmal nach dir schicken,‘ sagte er ‚und werde dich fragen ...‘“
„Und hat er Nikolai in deiner Gegenwart verhört?“
„Als er Sie hinausgeleitet und mich hinausgelassen hatte, begann er Nikolai zu verhören.“
Der Kleinbürger hielt inne und verneigte sich plötzlich noch einmal tief und berührte wieder mit einem Finger den Boden.
„Verzeihen Sie mir die Beschuldigung und meine Bosheit.“
„Gott vergebe dir,“ – antwortete Raskolnikoff, und kaum hatte er es gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder vor ihm, aber diesmal nicht bis zum Boden, drehte sich um und verließ das Zimmer.
„Alles hat zwei Seiten, jetzt hat alles zwei Seiten,“ – wiederholte Raskolnikoff und ging mutiger als je aus dem Zimmer.
„Ha, jetzt wollen wir noch kämpfen!“ – sagte er mit einem bösen Lächeln, als er die Treppe hinabstieg. Das böse Lächeln war für ihn selbst bestimmt; er erinnerte sich seines „Kleinmutes“ mit Verachtung und Beschämung.
Der Morgen, der auf die für Peter Petrowitsch Luschin verhängnisvolle Erklärung mit Dunetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, verfehlte seine ernüchternde Wirkung auch auf Luschin nicht. Er mußte zu seinem größten Leidwesen allmählich das Ereignis als eine vollzogene und unwiderrufliche Tatsache ansehen, das ihm noch gestern als Phantom, als Unmöglichkeit erschienen war. Die schwarze Schlange der verletzten Eigenliebe hatte die ganze Nacht an seinem Herzen genagt. Nachdem er das Bett verlassen hatte, besah er sich sofort im Spiegel. Er fürchtete, daß die Galle ihm übergelaufen sei. Aber es war alles vorläufig in bester Ordnung, und als Peter Petrowitsch sein edles, weißes und in der letzten Zeit voller gewordenes Antlitz erblickte, tröstete er sich für einen Augenblick in der festen Überzeugung, irgendwo anders eine Braut, und vielleicht eine noch bessere, zu finden. Er wies den Gedanken alsbald von sich und spie energisch aus, wodurch er ein stilles, aber sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Stubengenossen Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff hervorrief. Peter Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und beschloß sofort, es seinem jungen Freunde heimzuzahlen. Es hatte sich in letzter Zeit noch mehr angesammelt. Seine Wut vergrößerte sich, als es ihm noch bewußt wurde, daß es ganz unnötig gewesen war, Andrei Ssemenowitsch sein gestriges Erlebnis mitzuteilen. Das war der zweite Fehler, den er gestern im Eifer, in überflüssiger Aufregung, in Gereiztheit gemacht hatte ... Zudem folgte nun diesen ganzen Morgen, wie absichtlich, eine Unannehmlichkeit der anderen. Sogar im Senate hatte er einen Mißerfolg in der Sache, die er vertrat. Ganz besonders aber hatte ihn der Hauswirt gereizt, von dem er in Anbetracht seiner baldigen Heirat eine Wohnung gemietet hatte und die er auf eigene Rechnung reparieren ließ. Dieser Wirt, irgendein reichgewordener deutscher Handwerker, weigerte sich, den soeben abgeschlossenen Vertrag rückgängig zu machen und verlangte die volle Bezahlung der im Vertrage genannten Entschädigungssumme, obgleich ihm Peter Petrowitsch eine nahezu völlig renovierte Wohnung zurückgab. Ebenso wollte man auch in dem Möbelgeschäfte keinen einzigen Rubel von der Anzahlungssumme für die gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückgeben. „Ich kann mich doch nicht der Möbel wegen verheiraten!“ – knirschte Peter Petrowitsch mit den Zähnen, und gleichzeitig durchfuhr ihn noch einmal eine verzweifelte Hoffnung. – „Ja, ist denn wirklich alles unwiderruflich verloren und abgetan? Kann man es denn nicht noch einmal versuchen?“ Der Gedanke an Dunetschka traf verführerisch sein Herz. Es war ihm ein Augenblick voller Qual, und hätte jetzt gleich der bloße Wunsch Raskolnikoff töten können, Peter Petrowitsch hätte unverzüglich diesen Wunsch geäußert.
„Mein Fehler war auch der, daß ich ihnen kein Geld gab,“ – dachte er, als er traurig in die Stube von Lebesjätnikoff zurückkehrte, – „und warum bin ich, zum Kuckuck, so ein Jude geworden? Hier war es nicht angebracht! Ich dachte sie in Not zu halten und sie so weit zu bringen, daß sie mich als ihre Vorsehung betrachten müßten, und es kam so anders ... Pfui! ... Nein, ich hätte ihnen während dieser Zeit, sagen wir, anderthalbtausend zur Aussteuer geben müssen, allerhand Geschenke, Nähkästchen, Necessaires, Stoffe und anderen Schund, und die Sache war gut, war sicher! Man hätte mir nicht so leicht absagen können! Sie gehören zu den Leuten, die es unbedingt für ihre Pflicht gehalten hätten, im Falle einer Aufhebung der Verlobung die Geschenke und das Geld zurückzugeben; und das würde ihnen schwer gefallen sein und hätte ihnen leid getan! Auch das Gewissen würde sie geplagt haben; wie kann man, hätten sie sich gesagt, plötzlich einen Menschen verjagen, der bis jetzt so freigebig und zartfühlend war? ... Ich habe einen schweren Fehler begangen!“ Peter Petrowitsch knirschte mit den Zähnen und nannte sich einen Dummkopf, – selbstverständlich nur bei sich. Als er zu dieser Folgerung gekommen war, kehrte er noch wütender und gereizter nach Hause zurück, als er fortgegangen war. Die Vorbereitungen für das Essen in Katerina Iwanownas Zimmer zum Angedenken an den Verstorbenen nahmen teilweise seine Neugier in Anspruch. Er hatte schon gestern einiges über dieses Essen gehört; es schwebte ihm selbst vor, als hätte man auch ihn eingeladen; allein bei seinen eigenen Sorgen hatte er all dem keine Beachtung geschenkt. Er beeilte sich, sich bei Frau Lippewechsel näher zu erkundigen, die während der Anwesenheit Katerina Iwanownas auf dem Friedhofe für das Arrangement sorgte, und erfuhr, daß das Gedächtnismahl feierlich sein würde. Fast alle Mitbewohner, sogar auch solche, die der Verstorbene nicht gekannt hatte, waren eingeladen; Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff war auch, ungeachtet seines kürzlichen Streites mit Katerina Iwanowna, eingeladen. Auch er selbst, Peter Petrowitsch, sei geladen und würde mit großer Ungeduld erwartet, weil er der vornehmste Gast von allen sei. Amalie Iwanowna war ebenfalls, trotz aller vorgefallenen Unannehmlichkeiten, mit großer Ehre eingeladen, und mühte sich jetzt selbst ab, um alle häuslichen Anordnungen zu treffen; sie fühlte sich sehr wichtig dabei, sie war festlich geputzt, wennschon in Trauer, sie hatte ein ganz neues seidenes Kleid an und war nicht wenig stolz darauf. Alle diese Tatsachen und Mitteilungen brachten Peter Petrowitsch auf einen Gedanken; etwas nachdenklich ging er in sein, das heißt in Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoffs Zimmer. Unter anderem hatte er erfahren, daß unter den Eingeladenen auch Raskolnikoff sei.
Andrei Ssemenowitsch blieb diesen ganzen Morgen aus einem bestimmten Grunde zu Hause. Zwischen diesem Herrn und Peter Petrowitsch herrschten eigentümliche, teilweise auch natürliche Beziehungen, – Peter Petrowitsch verachtete und haßte ihn von dem Tage an, als er sich bei ihm einquartierte, über alle Maßen, gleichzeitig ihn ein wenig fürchtend. Er war bei ihm nach seiner Ankunft in Petersburg nicht bloß aus übertriebener Sparsamkeit abgestiegen; obwohl dies wohl der Hauptgrund war, gab es noch eine andere Ursache. Schon in der Provinz hatte er von Andrei Ssemenowitsch, seinem früheren Zögling, gehört, als einem der ersten jungen Progressisten, der sogar eine bedeutende Rolle in gewissen interessanten und vielbesprochenen Kreisen spiele. Das überraschte Peter Petrowitsch. Diese mächtigen, alles wissenden, alles verachtenden und alle entlarvenden Kreise jagten schon lange Peter Petrowitsch einen besonderen, wenn auch ganz unbestimmten Schrecken ein. Er selbst konnte sich, zumal er in der Provinz lebte, in keiner Weise einen annähernd genauen Begriff davon machen. Er hatte, wie viele andere, gehört, daß es besonders in Petersburg Progressisten, Nihilisten, Enthüller und dergleichen mehr gebe, aber er übertrieb gleich vielen, und verdrehte den Sinn und die Bedeutung dieser Benennungen bis ins Absurde. Am meisten fürchtete er, schon seit einigen Jahren, Enthüllungen, und dies war die hauptsächliche Ursache seiner beständigen übertriebenen Unruhe, besonders wenn er daran dachte, seine Tätigkeit nach Petersburg zu verlegen. In dieser Hinsicht war er, wie man sagt, verschreckt, wie zuweilen kleine Kinder verschreckt sind. Vor einigen Jahren in der Provinz, als er eben seine Laufbahn begonnen hatte, erlebte er zwei Fälle schlimmer Enthüllungen für zwei ziemlich bedeutende Persönlichkeiten der Gouvernementsbehörde, zu denen er sich bis dahin gehalten und die ihn protegierten. Der eine Fall endete für den Kompromittierten mit besonderem Eklat, der zweite wäre fast noch schlimmer abgelaufen. Aus diesem Grunde hatte Peter Petrowitsch beschlossen, sich sofort nach der Ankunft in Petersburg zu erkundigen, wie die Sache eigentlich sei, und falls nötig, vorzubeugen und sich bei „unserer jungen Generation“ einzuschmeicheln. Dabei rechnete er auf Andrei Ssemenowitsch, und er hatte schon gelernt, wie beim Besuche Raskolnikoffs, bestimmte Phrasen aus fremder Quelle wiederzugeben ...
Gewiß, es gelang ihm bald, Andrei Ssemenowitsch als einen außerordentlich flachen, einfältigen und unbedeutenden Menschen zu erkennen. Dies hatte aber keineswegs den Glauben Peter Petrowitschs erschüttert oder ihn sicherer gemacht. Selbst wenn er sich überzeugt hätte, daß alle Progressisten eben solche Dummköpfe wären, auch dann würde sich seine Unruhe nicht gelegt haben. Alle Lehren, Gedanken, Systeme, mit denen Andrei Ssemenowitsch sich sofort auf ihn gestürzt hatte, interessierten ihn ganz und gar nicht. Er hatte sein eigenes Ziel. Er wollte bloß schnell, unverzüglich erfahren, was hier vorginge und wie? Hatten diese Leute einen Einfluß oder nicht? Würden sie ihn kompromittieren, wenn er dies oder jenes unternähme, oder nicht? Und wenn sie einen kompromittierten, fragt es sich, was würden sie dabei im Auge haben? Worauf richteten sich jetzt eigentlich die Enthüllungen? Und weiter, – konnte man sich nicht ihnen in irgendeiner Weise anschließen und sie irreführen, wenn sie tatsächlich Einfluß haben sollten? Sollte man es tun oder nicht? Könnte man nicht, zum Beispiel, durch ihre Vermittlung seine Karriere fördern? Mit einem Worte, es standen hunderte von Fragen vor ihm.
Andrei Ssemenowitsch war ein kraftloser und skrophulöser Mann von kleinem Wuchse, der bei irgend jemand bedienstet war; er war auffallend blond und hatte einen Kotelettenbart, auf den er sehr stolz war. Seine Augen waren fast immer entzündet. Er hatte ein ziemlich weiches Herz, in seinen Reden lag etwas sehr Selbstbewußtes, ja zuweilen etwas außerordentlich Herausforderndes – was im Vergleiche zu seiner kleinen Gestalt fast stets lächerlich wirkte. Amalie Iwanowna rechnete auch ihn zu ihren angesehensten Mietern, da er nicht trank und sein Zimmer pünktlich bezahlte. Alles in allem war Andrei Ssemenowitsch wirklich etwas dumm. Er hatte sich den Progressisten und „unserer jungen Generation“ leidenschaftlich zugesellt. Es war einer aus der bunt zusammengesetzten Legion flacher Menschen, verfehlter Existenzen und Halbgebildeten, die nichts ordentliches gelernt hatten, die sich an die modernste gangbarste Idee heranmachen, um sie sofort zu verflachen und um alles in einem Nu zu verzerren, auch wenn sie selbst in der aufrichtigsten Weise ihr dienen.
Übrigens konnte Lebesjätnikoff, ungeachtet seiner Gutmütigkeit, seinen Stubengenossen und früheren Vormund Peter Petrowitsch nicht leiden. Es kam das wie von ungefähr und beruhte auf Gegenseitigkeit. Trotz seiner Beschränktheit begann Andrei Ssemenowitsch allmählich zu merken, daß ihn Peter Petrowitsch beschwindelte und im geheimen verachtete, und daß er nicht der „Rechte“ war. Er versuchte, ihm Fouriers System und Darwins Theorie darzulegen, aber Peter Petrowitsch begann, besonders in der letzten Zeit, sarkastisch zuzuhören und sogar zu schelten. Peter Petrowitsch fühlte instinktiv heraus, daß Lebesjätnikoff nicht bloß ein flacher und ziemlich beschränkter Mensch, sondern auch ein Prahlhans sei, und daß er keine bedeutenden Verbindungen in seinem eigenen Kreise hatte, sondern sich nur mit fremden Federn schmückte; mehr noch, – daß er nicht mal seine eigene Sache, die Propaganda, ordentlich verstand, weil er zu konfus redete, und ein solcher konnte doch kein Ankläger sein! Nebenbei wollen wir noch bemerken, daß Peter Petrowitsch in diesen anderthalb Wochen, besonders aber im Anfange, sehr gern die merkwürdigsten Absichten von Andrei Ssemenowitsch sich beilegen ließ, das heißt, er wies sie nicht zurück und erwiderte auch nichts, z. B., wenn Andrei Ssemenowitsch ihm die Bereitwilligkeit zuschrieb, die künftige und baldige Gründung einer neuen „Kommune“ irgendwo in der nächsten Nähe zu fördern, oder z. B. Dunetschka nicht hinderlich zu sein, wenn es ihr im ersten Monate nach der Hochzeit einfallen sollte, sich einen Geliebten anzuschaffen, oder auch seine künftigen Kinder nicht taufen zu lassen und dergleichen mehr. Peter Petrowitsch widersprach nicht, seiner Gewohnheit nach, wenn ihm diese Eigenschaften zugeschrieben wurden, und ließ es zu, daß man ihn dafür lobte, – so angenehm war ihm jedes Lob.
Peter Petrowitsch, der an diesem Morgen einige fünfprozentige Staatspapiere gewechselt hatte, saß am Tische und zählte das Papiergeld und die Kupons nach. Andrei Ssemenowitsch, der fast nie Geld hatte, ging im Zimmer auf und ab und gab sich den Anschein, als betrachte er diesen Haufen Geld gleichgültig und geringschätzig. Peter Petrowitsch konnte um nichts in der Welt glauben, daß Andrei Ssemenowitsch so viel Geld gleichgültig war, und jener wiederum dachte voll Bitterkeit, daß Peter Petrowitsch wirklich fähig sei, in dieser Weise von ihm zu denken, und sich möglicherweise freue, ihn, seinen jungen Freund, mit den aufgebauten Päckchen von Papiergeld zu reizen und zu verhöhnen, indem er ihn an seine Unbedeutendheit und den zwischen ihnen bestehenden Abstand erinnerte.
Andrei Ssemenowitsch fand ihn heute ungewöhnlich gereizt und unaufmerksam, trotzdem er ihm sein Lieblingsthema über die Errichtung einer neuen eigenartigen „Kommune“ auseinandergesetzt hatte. Die kurzen Erwiderungen und Bemerkungen, die Peter Petrowitsch inmitten seiner Berechnungen machte, zeugten von einer sehr deutlichen und beabsichtigt spöttischen Unhöflichkeit. Aber der „humane“ Andrei Ssemenowitsch schrieb die Stimmung von Peter Petrowitsch dem gestrigen Bruche mit Dunetschka zu und brannte vor Verlangen, schneller dieses Thema zu berühren, – er hätte etwas Fortschrittliches und Propagandistisches für ihn, was seinen ehrenwerten Freund trösten und „sicher“ seiner weiteren Entwicklung von Nutzen sein müßte.
„Was ist das für ein Gedächtnismahl, das diese ... die Witwe da arrangiert?“ – fragte plötzlich Peter Petrowitsch, Andrei Ssemenowitsch bei der interessantesten Stelle unterbrechend.
„Als ob Sie das nicht selbst wüßten; ich habe doch gestern mit Ihnen über dieses Thema gesprochen und Ihnen meine Gedanken über all diese Gebräuche entwickelt ... Sie hat Sie ja auch eingeladen, ich habe es gehört, als Sie gestern selbst mit ihr sprachen ...“
„Ich hätte keineswegs erwartet, daß diese bettelarme, dumme Person all das Geld zu einem Gedächtnismahl verplempern wird, das sie von diesem andern Dummkopf ... Raskolnikoff erhalten hat. Ich war erstaunt, als ich beim Durchgehen sah, – was für Vorbereitungen gemacht sind ... Wein ist aufgestellt! ... Es sind allerhand Menschen geladen, – weiß der Teufel, was das bedeuten soll!“ – fuhr Peter Petrowitsch fort, der absichtlich dieses Gespräch anfing. – „Was? Sie sagen, man hatte auch mich geladen?“ – fügte er plötzlich hinzu und erhob den Kopf. – „Wann war denn das? Ich erinnere mich gar nicht. Ich will übrigens nicht hingehen. Was soll ich dort? Ich habe mit ihr gestern bloß im Vorbeigehen über die Möglichkeit gesprochen, daß sie, als die arme Witwe eines Beamten, seinen Jahresgehalt als eine einmalige Unterstützung erhalten könnte. Sollte sie mich deswegen vielleicht eingeladen haben? He–he!“
„Ich habe auch nicht die Absicht hinzugehen,“ – sagte Lebesjätnikoff.
„Das fehlte noch, wo Sie sie eigenhändig verprügelt haben. Das ist doch begreiflich, Sie müßten sich schämen, he–he–he!“
„Wer hat verprügelt und wen?“ – fragte Lebesjätnikoff aufgebracht und errötete.
„Sie, Sie haben doch Katerina Iwanowna vor einem Monat verprügelt! Ich habe es gestern gehört ... Da haben wir die Prinzipien! ... Also die Frauenfrage hinkt auch. He–he!“
Und Peter Petrowitsch setzte wie getröstet seine Berechnungen fort.
„Das ist alles Unsinn und Verleumdung!“ – brauste Lebesjätnikoff auf, der ungern an diese Geschichte erinnert wurde, – „das war gar nicht der Fall! Es war ganz anders ... Sie haben es nicht richtig gehört; alles ist Klatscherei! Ich habe mich damals nur verteidigt. Sie stürzte sich zuerst auf mich ... Sie hat mir fast meinen Backenbart ausgerissen ... ich hoffe denn doch, daß jedem Menschen erlaubt ist, seine Person zu verteidigen. Außerdem gestatte ich niemand, mir Gewalt anzutun ... Aus Prinzip. Denn das ist schon Despotismus. Was sollte ich denn tun, – etwa alles ruhig mir gefallen lassen? Ich habe sie bloß zurückgestoßen ...“
„He–he–he!“ kicherte Luschin boshaft weiter.
„Sie sticheln mich nur, weil Sie selbst geärgert wurden und nun böse darüber sind ... Das ist doch Unsinn und hat gar nichts, rein gar nichts mit der Frauenfrage zu tun! Sie haben das nicht richtig aufgefaßt; ich denke sogar, wenn man annimmt, daß die Frau in allem dem Manne gleich sei, selbst in der physischen Kraft, wie man schon behauptet, so muß hier erst recht Gleichheit herrschen. Gewiß, ich habe es mir nachher überlegt, daß es so eine Frage überhaupt nicht geben soll, weil Prügeleien sowieso nicht stattfinden sollen. In der künftigen Gesellschaft wird dies undenkbar sein ... es wäre doch sonderbar, eine Gleichberechtigung zum Prügeln anzustreben. So dumm bin ich nicht ... obwohl Prügeleien übrigens auch vorkommen können ... ich will sagen, nachher nicht vorkommen werden, jetzt aber noch vorkommen ... pfui! zum Teufel! Mit Ihnen wird man ganz konfus! Ich gehe nicht zu diesem Essen, nicht weil diese Unannehmlichkeit passiert ist, ich gehe vielmehr aus Prinzip nicht hin, um nicht bei einem so schändlichen Brauch wie einer Gedächtnisfeier mitzutun; ja, das ist der Grund! Man könnte eigentlich hingehen, um sich darüber lustig zu machen ... Nur schade, daß keine Priester da sein werden. Sonst würde ich unbedingt hingehen.“
„Mit anderen Worten: Gastliches Salz und Brot essen und gleich darauf es ebenso beschimpfen wie die, die Sie eingeladen haben. So ist es doch gemeint?“
„Durchaus nicht beschimpfen, nur protestieren. Ich gehe mit bester Absicht hin. Ich kann indirekt die Entwicklung und die Propaganda fördern. Jeder Mensch ist verpflichtet, andere zu fördern und auf sie zu wirken, je kräftiger er es tut, desto besser ist es vielleicht. Ich kann eine Idee bringen, einen Samen ausstreuen ... Aus diesem Samen wird eine Tat entstehen. Womit hätte ich da gekränkt? Anfangs fühlen sie sich vielleicht gekränkt, nachher aber werden sie selbst einsehen, daß es ihnen nur von Nutzen war. Bei uns beschuldigte man eine Zeitlang Terebjewa, – dieselbe, die jetzt in der Kommune ist, – weil sie, als sie sich von ihrer Familie lossagte und ... sich einem hingab, ihrer Mutter und ihrem Vater geschrieben hatte, sie wolle nicht mehr in Vorurteilen leben und gehe eine illegale Ehe ein; man fand es rücksichtslos, so mit den Eltern umzugehen, und meinte, sie hätte es ihnen schonender und milder beibringen sollen. Meiner Ansicht nach ist dies alles Unsinn, man soll gar nicht so mild sein, im Gegenteil, ganz im Gegenteil, man soll erst recht scharf protestieren. Nehmen wir zum Beispiel die Warentz; sie hat sieben Jahre mit ihrem Manne zusammengelebt, hat ihn und ihre zwei Kinder verlassen und ihrem Manne in einem Briefe die Wahrheit gesagt. – ‚Ich habe eingesehen, daß ich mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde Ihnen nie vergeben, daß Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlichten, daß noch eine andere gesellschaftliche Einrichtung, nämlich die Kommune existiert. Ich habe es vor kurzem durch einen großmütigen Mann erfahren, dem ich mich auch hingegeben habe, und mit ihm zusammen begründe ich eine Kommune. Ich sage Ihnen dies offen, weil ich es für ehrlos halte, Sie zu betrügen. Tun Sie, was Sie für gut halten. Hoffen Sie nicht, mich zurückzuerobern, es ist zu spät. Ich wünsche Ihnen alles Glück.‘ So muß man schreiben!“
„Nicht wahr, diese Terebjewa ist doch die, von der Sie erzählten, daß sie in der dritten illegalen Ehe lebe?“
„Richtig betrachtet, erst in der zweiten! Aber mag sie auch in der vierten oder fünfzehnten Ehe leben, was ist dabei! Und wenn ich jemals bedauerte, daß mein Vater und meine Mutter gestorben sind, so ist es sicher jetzt der Fall. Ich habe schon ein paarmal gedacht, wie ich sie mit meinem Protest aufrütteln würde, wenn sie noch am Leben wären! Ich hätte absichtlich alles so eingerichtet ... Ich hätte es ihnen gezeigt! Ich hätte sie staunen gemacht! Es ist wirklich schade, daß ich niemanden habe!“
„Um ihn erstaunen zu machen? He–he! Nun, gut!“ – unterbrach ihn Peter Petrowitsch, – „sagen Sie mir lieber, Sie kennen doch die Tochter des Verstorbenen, ein zartes, unbedeutendes Ding! Ist es wahr, was man von ihr erzählt, hm?“
„Und was wäre dabei? Meiner Meinung, das heißt meiner persönlichen Überzeugung nach ist es die normale Lage der Frau. Warum denn nicht? Das heißt distinguons[9]. In der gegenwärtigen Gesellschaft gilt das nicht als normal, weil es eine gezwungene Lage ist, in der künftigen Gesellschaft ist sie vollkommen normal, weil sie freiwillig sein wird. Ja, auch jetzt hatte sie das Recht dazu, – sie litt Not und das war ihr Fond, sozusagen ihr Kapital, über das sie vollkommenes Recht hat zu verfügen. Selbstverständlich werden in der künftigen Gesellschaft keine Fonds mehr nötig sein, ihre Rolle wird in anderer Hinsicht bestimmt, harmonisch und vernünftig bedingt sein. Was Ssofja Ssemenowna persönlich anbetrifft, so betrachte ich ihre Handlungen als einen energischen und personifizierten Protest gegen die gesellschaftliche Einrichtung und achte sie deswegen um so höher, ja ich freue mich ihrer Handlungsweise!“
„Man hat mir aber doch erzählt, daß gerade Sie sie gezwungen haben, von hier auszuziehen!“
Lebesjätnikoff wurde wütend.
„Das ist wieder eine Klatscherei!“ – schrie er. – „Die Sache verhält sich ganz und gar nicht so! Das ist absolut nicht so gewesen! Katerina Iwanowna hat damals alles geschwindelt, weil sie nichts davon verstanden hat! Ich habe mich gar nicht an Ssofja Ssemenowna herangemacht! Ich habe sie bloß gefördert, vollkommen ohne Hintergedanken, und versuchte in ihr den Protest zu erwecken ... Mir war es bloß um den Protest zu tun, und außerdem konnte Ssofja Ssemenowna sowieso nicht mehr hier bleiben!“
„Luden Sie sie in die Kommune ein?“
„Sie machen sich immer lustig über mich, doch ohne Erfolg, erlaube ich mir zu bemerken. Sie verstehen gar nichts davon. Solche Rollen gibt es in einer Kommune nicht. Darum wird gerade eine Kommune gegründet, damit solche nicht mehr existieren sollen. In einer Kommune wird ihr Stand sein jetziges Wesen völlig verändern, und was hier dumm ist, wird dort vernünftig sein, was jetzt bei den gegenwärtigen Verhältnissen unnatürlich ist, wird dort vollkommen natürlich sein. Alles hängt davon ab, in welcher Umgebung und in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt. Der Mensch selbst ist nichts. Mit Ssofja Ssemenowna stehe ich noch jetzt auf gutem Fuße, was Ihnen als Beweis dienen kann, daß sie mich nie als ihren Feind und Beleidiger angesehen hat. Ja! Ich schlage ihr jetzt vor, in eine Kommune einzutreten, aber auf einer ganz anderen Basis! Was erscheint Ihnen wieder lächerlich? Wir wollen eine eigene Kommune, eine besondere Kommune auf viel breiteren Grundlagen begründen, als alle früheren. Wir sind in unseren Überzeugungen weiter gegangen. Wir negieren mehr! Wenn Dobroljuboff[10] aus dem Grabe steigen würde, möchte ich mit ihm diskutieren! Und Belinski[11] würde ich übel zurichten! Vorläufig aber fahre ich fort, Ssofja Ssemenowna zu fördern! Sie ist eine herrliche, herrliche Natur!“
„Nun, und Sie benutzen auch die herrliche Natur, ah? He–he!“
„Nein, nein! Oh, nein! Im Gegenteil!“
„Nun, nun im Gegenteil! He–he–he! Was Sie nicht sagen!“
„Glauben Sie mir doch! Warum soll ich es vor Ihnen verheimlichen, ich bitte Sie? Im Gegenteil, mir erscheint es selbst merkwürdig, – sie ist mir gegenüber besonders ängstlich, keusch und schamhaft!“
„Und Sie fördern sie selbstverständlich ... he–he! Beweisen ihr, daß diese ganze Schamhaftigkeit Unsinn ist? ...“
„Gott bewahre, durchaus nicht! Oh, wie gemein, wie dumm – verzeihen Sie es mir – Sie das Wort ‚Förderung‘ verstehen! Nichts, rein gar nichts verstehen Sie! Oh, mein Gott, wie Sie noch ... unreif sind! Wir erstreben Freiheit für die Frau, und Sie haben bloß das eine im Sinn ... Ich lasse die Frage über Keuschheit und weibliche Schamhaftigkeit vollkommen beiseite, als Dinge, die an und für sich nutzlos und voller Vorurteile sind, aber ich verstehe sie vollkommen und lasse ihre Keuschheit mir gegenüber gelten, weil darin – ihr Wille, ihr ganzes Recht besteht. Wenn sie selbst zu mir sagen würde: – ‚Ich will dich haben‘, – könnte ich mich eines großen Erfolges rühmen, weil das Mädchen mir sehr gefällt. Gegenwärtig behandelt sie gewiß niemand höflicher und zuvorkommender und mit größerer Achtung ihrer Würde, als ich ... Ich warte und hoffe – und weiter nichts!“
„Schenken Sie ihr besser etwas. Ich wette, daß Sie daran noch nicht gedacht haben.“
„Sie verstehen nichts, gar nichts; ich habe es Ihnen schon oft gesagt! Gewiß, ihre Lage ist derart, aber hier ist noch eine andere Frage! Eine ganz andere Frage! Sie verachten sie einfach. Wenn Sie eine Tatsache sehen, die Sie irrtümlicherweise für verachtungswürdig halten, verweigern Sie einem menschlichen Wesen eine humane Betrachtung. Sie wissen noch gar nicht, was sie für eine Natur ist! Mir tut es nur sehr leid, daß sie in der letzten Zeit fast gänzlich aufgehört hat zu lesen und keine Bücher von mir mehr nimmt. Früher hat sie sich öfters Bücher geholt. Es ist auch schade, daß sie trotz ihrer Energie und Entschlossenheit, zu protestieren, – die sie schon einmal bewiesen hat, immer noch wenig Selbständigkeit, sozusagen Unabhängigkeit, wenig Verneinung besitzt, um sich endgültig von einigen Vorurteilen und ... Dummheiten loszureißen. Und ungeachtet dessen, daß sie manche Fragen ausgezeichnet begreift. Sie hat z. B. glänzend die Frage über das Handküssen verstanden, das heißt, daß der Mann das Gesetz der Gleichheit mit der Frau überschreitet, wenn er ihr die Hand küßt. Über diese Frage wurde bei uns debattiert und ich habe es ihr sofort mitgeteilt. Auch für Assoziationen der Arbeiter in Frankreich zeigt sie Interesse. Jetzt erörterte ich mit ihr die Frage des ungehinderten Zutritts in alle Wohnungen der künftigen Gesellschaft.“
„Was ist das?“
„In letzter Zeit wurde über die Frage debattiert, ob ein Mitglied der Kommune das Recht habe, zu jeder Zeit in das Zimmer eines anderen Mitgliedes, sei es ein Mann oder eine Frau, eintreten darf ..., und es wurde beschlossen, daß er das Recht dazu habe ...“
„Wenn aber der oder die in diesem Augenblicke mit einem natürlichen Bedürfnisse beschäftigt ist, he–he!“
Andrei Ssemenowitsch wurde böse.
„Sie reden immer über dasselbe, über die verfluchten ‚Bedürfnisse‘!“ – rief er voll Haß aus, – „pfui, wie ärgere ich mich, wie bin ich wütend, daß ich damals, als ich Ihnen das System erklärte, so vorzeitig diese verfluchten Bedürfnisse erwähnte! Zum Teufel! Das ist immer der Stein des Anstoßes für Ihresgleichen, am schlimmsten ist es, daß sie es zur Zielscheibe ihrer Witzeleien machen, ehe sie erfahren, wie die Sache ist! Als wären sie im Rechte! Als könnten Sie sich etwas darauf einbilden! Pfui! Ich habe immer behauptet, daß man diese ganze Frage Neulingen erst am Schlusse darstellen kann, wenn sie schon von dem System überzeugt sind, wenn sie schon entwickelt und auf dem richtigen Wege sich befinden. Ja, und sagen Sie mir bitte, was finden Sie Häßliches und Verachtungswürdiges, z. B. an einer Mistgrube? Ich bin der erste, der bereit ist, alle beliebigen Mistgruben zu reinigen! Da ist noch nicht mal etwas Selbstaufopferndes dabei. Es ist einfach eine Arbeit, eine edle, für die Gesellschaft nützliche Tätigkeit, die jeder andern wert ist, nur bedeutend höher steht, als zum Beispiel die Tätigkeit irgendeines Rafael oder Puschkin, weil sie nützlicher ist.“
„Und edler vor allem, edler ist, – he–he!“
„Was heißt edel? Ich verstehe solche Ausdrücke bei der Feststellung von menschlicher Tätigkeit nicht. ‚Edel‘, ‚großmütig‘ – Unsinn, Dummheiten, alte Worte voller Vorurteile, die ich verneine! Alles, was der Menschheit von Nutzen ist, ist auch edel. Ich verstehe nur das eine Wort, – nützlich! Kichern Sie, soviel Sie wollen, es ist doch so!“
Peter Petrowitsch lachte laut. Er hatte seine Berechnungen abgeschlossen und das Geld eingesteckt. Ein Teil davon blieb noch auf dem Tische liegen. Die Frage „über Mistgruben“ hatte schon ein paarmal, trotz ihrer ganzen Flachheit, zur Folge gehabt, daß es zwischen Peter Petrowitsch und seinem jungen Freunde zu Mißverständnissen und Uneinigkeiten gekommen war. Die ganze Dummheit war, daß Andrei Ssemenowitsch sich tatsächlich ärgerte. Luschin fand nur eine Zerstreuung darin, heute jedoch wollte er Lebesjätnikoff ärgern.
„Sie sind wegen Ihres gestrigen Mißerfolges wütend und suchen Streit,“ – platzte endlich Lebesjätnikoff heraus, der trotz seiner „Unabhängigkeit“ und aller seiner „Proteste“ nicht wagte, Peter Petrowitsch entgegenzutreten und noch immer aus früheren Jahren her gewohnt war, Respekt zu beobachten.
„Sagen Sie mir lieber,“ – unterbrach ihn Peter Petrowitsch hochmütig und ärgerlich, – „können Sie ... oder besser gesagt, sind Sie tatsächlich so gut mit der erwähnten jungen Person bekannt, daß Sie sie sofort, auf einen Augenblick, in dieses Zimmer bitten können? Ich glaube, sie sind schon alle vom Friedhofe zurückgekehrt ... Ich höre Schritte ... Ich möchte diese Person einen Augenblick sehen.“
„Wozu denn?“ fragte verwundert Lebesjätnikoff.
„Ich möchte sie sehen. Heute oder morgen verlasse ich diese Wohnung und möchte ihr noch etwas mitteilen ... Ich bitte Sie übrigens, während der Unterredung hier zu bleiben. Es ist besser. Sonst könnten Sie, Gott weiß noch was, denken.“
„Ich denke mir gar nichts dabei ... Ich habe nur gefragt, und wenn Sie etwas vorhaben, so gibt’s nichts Leichteres, als sie hierher zu bitten. Ich will sofort hingehen. Und ich will Sie, seien Sie überzeugt, nicht stören.“
Und wirklich, nach etwa fünf Minuten kehrte Lebesjätnikoff mit Ssonjetschka zurück. Sie trat äußerst verwundert und schüchtern ein. In solchen Fällen war sie stets schüchtern und fürchtete neue Gesichter und neue Bekanntschaften, schon als Kind fürchtete sie sich davor und wieviel mehr noch jetzt ... Peter Petrowitsch begrüßte sie „freundlich und höflich,“ und mit einem Anflug von Vertraulichkeit, die bei solch einem ehrenwerten und soliden Menschen, wie er, einem jungen und in gewissem Sinne interessanten Wesen gegenüber, seiner Meinung nach, gut angebracht war. Er beeilte sich, sie „zu ermutigen,“ und bot ihr einen Platz ihm gegenüber am Tische an. Ssonja setzte sich hin, sah sich um, – sah Lebesjätnikoff an, das auf dem Tisch liegende Geld, blickte wieder zu Peter Petrowitsch und wandte die Augen nicht mehr von ihm ab. Lebesjätnikoff ging zur Türe, Peter Petrowitsch aber stand auf, gab Ssonja ein Zeichen, sitzen zu bleiben und hielt Lebesjätnikoff zurück.
„Ist Raskolnikoff dort? Ist er gekommen?“ fragte er ihn im Flüstertone.
„Raskolnikoff? Er ist da. Warum? Ja, er ist da ... Er ist soeben gekommen, ich habe ihn gesehen ... Was ist mit ihm?“
„Nun, dann bitte ich Sie inständig, hier bei uns zu bleiben und mich nicht allein mit diesem ... Fräulein zu lassen. Es ist eine ganz unbedeutende Sache, aber man kann, weiß Gott, was daraus schließen. Ich will nicht, daß es Raskolnikoff dort erzählt ... Verstehen Sie, was ich meine?“
„Ich verstehe, ich verstehe!“ – begriff plötzlich Lebesjätnikoff. – „Ja, Sie haben recht ... Nach meiner persönlichen Überzeugung gehen Sie in Ihren Befürchtungen zu weit, aber ... Sie haben dennoch recht. Bitte, ich bleibe. Ich will mich hier ans Fenster stellen und will Sie nicht stören ... Meiner Ansicht nach haben Sie recht ...“
Peter Petrowitsch kehrte zum Sofa zurück, setzte sich Ssonja gegenüber, blickte sie aufmerksam an und gab sich ein außergewöhnlich solides und sogar ein wenig strenges Aussehen, als möchte er dadurch sagen, – „du sollst dir nichts dabei denken, Verehrteste.“ Ssonja wurde ganz verlegen.
„Zuerst bitte ich Sie, Ssofja Ssemenowna, mich bei Ihrer verehrten Frau Mutter zu entschuldigen ... Es ist doch richtig? Katerina Iwanowna nimmt die Stelle einer Mutter bei Ihnen ein?“ – begann er sehr würdevoll und ziemlich freundlich.
Man merkte, daß er die freundschaftlichsten Absichten hatte.
„Ja, sie vertritt mir die Mutter,“ – antwortete Ssonja hastig und ängstlich.
„Nun, also entschuldigen Sie mich bei ihr, daß ich durch unvorhergesehene Umstände gezwungen bin, abzusagen und zu dem Essen nicht erscheinen kann, trotz der angenehmen Einladung Ihrer Frau Mutter.“
„Ich will es sagen; ihr sofort sagen,“ – und Ssonjetschka sprang hastig vom Stuhle auf.
„Das ist noch nicht alles,“ – hielt sie Peter Petrowitsch zurück und lächelte über ihre Einfalt und Unkenntnis von Anstand, – „Sie kennen mich wenig, liebe Ssofja Ssemenowna, wenn Sie meinen, daß ich wegen dieser unbedeutenden, mich allein angehenden Ursache jemanden wie Sie persönlich bemüht und gebeten hätte, zu mir zu kommen. Ich habe noch ein anderes Anliegen.“
Ssonja setzte sich wieder hastig hin. Die bunten Banknoten, die auf dem Tische lagen, flimmerten wieder vor ihren Augen, sie wandte schnell ihr Gesicht von ihnen ab und erhob die Augen zu Peter Petrowitsch; es kam ihr auf einmal höchst unanständig vor, besonders weil sie es war, fremdes Geld anzublicken. Sie heftete ihren Blick auf den goldenen Kneifer in der linken Hand Peter Petrowitschs, und auf den großen, massiven, wertvollen Ring mit einem gelben Stein an seinem Mittelfinger, – aber schnell wandte sie die Augen auch davon ab, und da sie nicht wußte, wohin sie sehen sollte, blickte sie wieder Peter Petrowitsch unverwandt ins Gesicht. Nachdem er noch würdevoller, als vorhin, eine Weile geschwiegen hatte, fuhr er fort:
„Es traf sich, daß ich gestern im Vorübergehen einige Worte mit der unglücklichen Katerina Iwanowna wechselte. Ein paar Worte genügten, um zu erfahren, daß sie sich in einem – unnatürlichen Zustande befindet, – wenn man sich so ausdrücken kann ...“
„Ja ... in einem unnatürlichen,“ – pflichtete Ssonja hastig ihm bei.
„Oder einfacher und verständlicher gesagt, – in einem kranken Zustande.“
„Ja, einfacher und verständ... ja, sie ist krank.“
„Nicht wahr, das stimmt. Aus dem Gefühle der Humanität, und ... und sozusagen, des Mitleides möchte ich meinerseits, ihr unvermeidliches und unglückliches Schicksal voraussehend, irgendwie ihr nützlich sein. Es scheint mir, daß die ganze arme Familie jetzt auf Ihnen allein lastet.“
„Erlauben Sie mir zu fragen,“ – stand Ssonja plötzlich auf, – „was haben Sie ihr gestern von der Möglichkeit einer Pension gesagt? Sie sagte mir, daß Sie es übernommen hätten, ihr eine Pension zu bewirken. Ist das wahr?“
„Keineswegs, und sogar in gewisser Beziehung ein Unsinn. Ich habe nur von einer einmaligen Unterstützung, als der Witwe eines im Dienste gestorbenen Beamten, erwähnt, – wenn Protektion da sei, – aber wie mir scheint, hat Ihr verstorbener Vater nicht nur die gesetzliche Frist nicht ausgedient, sondern hatte in der letzten Zeit gar nicht im staatlichen Dienste gestanden. Mit einem Worte, es konnte Hoffnung, wenn auch eine ziemlich zweifelhafte, da sein, denn im Grunde genommen, gibt es in diesem Falle keine Rechte auf eine Unterstützung, sondern im Gegenteil ... So, sie dachte schon an eine Pension, he–he–he! Eine flinke Dame!“
„Ja, an eine Pension ... Sie ist leichtgläubig und gut, und aus Güte glaubt sie alles und ... und ... sie hat so einen Verstand ... Ja ... entschuldigen Sie,“ – sagte Ssonja und stand wieder auf, um fortzugehen.
„Erlauben Sie, Sie haben mich nicht zu Ende gehört.“
„Ja, ich habe nicht zu Ende gehört,“ – murmelte Ssonja.
„Also, setzen Sie sich.“
Ssonja wurde furchtbar verlegen und setzte sich, zum dritten Male.
„Nachdem ich ihre Lage mit den unglücklichen kleinen Kindern sehe, möchte ich, – wie ich schon gesagt habe – irgendwie nach meinen Kräften nützlich sein, das heißt, was man nach Kräften nennt, nicht mehr. Man könnte zum Beispiel eine Sammlung veranstalten oder sozusagen eine Verlosung ... oder etwas dieser Art, – wie es auch stets in ähnlichen Fällen von den Nächststehenden oder auch Fremden, überhaupt von Menschen, die helfen möchten, arrangiert wird. Darüber hatte ich die Absicht, mit Ihnen zu reden. Man könnte es tun.“
„Ja, es wäre gut ... Gott wird Sie dafür ...“ stammelte Ssonja und blickte Peter Petrowitsch unverwandt an.
„Man könnte es, aber ... darüber können wir nachher ... das heißt, man könnte gleich heute den Anfang machen. Wir wollen uns noch einmal am Abend sehen, es besprechen und sozusagen die Grundlagen festsetzen. Kommen Sie so gegen sieben Uhr zu mir. Ich hoffe, daß Andrei Ssemenowitsch sich daran beteiligen wird ... Aber ... hier gibt es einen Umstand, der vorher und genau erwähnt werden muß. Deshalb habe ich Sie, Ssofja Ssemenowna, auch hierher bemüht. Meine Ansicht geht nämlich dahin, daß man Katerina Iwanowna selbst kein Geld in die Hände geben darf, ja daß es gefährlich ist; der Beweis dafür liegt in dem heutigen Gedächtnismahl. Ohne eine trockene Rinde Brot zu morgen und ... Stiefel, und andere nötigen Dinge zu haben, – wird heute Rum und Madeira und ... Kaffee eingekauft. Ich habe es im Vorbeigehen gesehen. Morgen hängt wieder alles bis auf das letzte Stück Brot an Ihnen, und das ist unsinnig. Darum muß die Sammlung nach meiner persönlichen Ansicht so vor sich gehen, daß die unglückliche Witwe von dem Gelde nichts wissen darf, nur Sie allein würden es zu wissen bekommen. Ist das nicht richtiger?“
„Ich weiß es nicht. Sie ist nur heute so ... nur einmal im Leben ... sie wollte so gern sein Gedächtnis feiern, ihm die Ehre erweisen ... Sie ist sonst sehr klug. Aber, wie Sie wollen, und ich werde Ihnen sehr, sehr, sehr ... und sie werden Ihnen sehr ... Gott wird Ihnen ... und die Waisen ...“
Ssonja sprach nicht zu Ende und weinte.
„So. Nun, also behalten Sie es im Auge, jetzt aber belieben Sie zur Unterstützung Ihrer Verwandten fürs erste eine meinen Kräften angemessene Summe von mir entgegenzunehmen. Ich möchte ausdrücklich wünschen, daß mein Name dabei nicht genannt wird. Bitte ... da ich sozusagen selbst Sorgen habe, bin ich nicht imstande, mehr ...“
Und Peter Petrowitsch streckte Ssonja einen Zehnrubelschein entgegen, wobei er ihn peinlich aufrollte. Ssonja nahm den Schein in Empfang, errötete, sprang auf, murmelte etwas und begann sich eilig zu verabschieden. Peter Petrowitsch begleitete sie feierlich bis zur Türe. Sie sprang aus dem Zimmer, ganz erregt und abgequält und kehrte zu Katerina Iwanowna in größter Verlegenheit zurück.
Während dieses Vorganges stand Andrei Ssemenowitsch bald am Fenster, bald ging er im Zimmer herum und wollte das Gespräch nicht unterbrechen. Als Ssonja fortgegangen war, trat er auf Peter Petrowitsch zu und reichte ihm feierlich die Hand.
„Ich habe alles gehört und alles gesehen,“ sagte er und betonte besonders das letzte Wort. „Das ist edel, das heißt, ich wollte sagen, human! Sie wollten keinen Dank, ich habe es gesehen! Und obwohl ich, offen gestanden, prinzipiell mit der privaten Wohltätigkeit nicht sympathisieren kann, weil sie nicht bloß das Übel nicht vertilgt, sondern es nur noch mehr stärkt, muß ich gestehn, daß ich Ihre Handlung mit Vergnügen gesehen habe, – ja, ja, mir gefällt es.“
„Oh, das ist Unsinn!“ murmelte Peter Petrowitsch ein wenig erregt und blickte aufmerksam Lebesjätnikoff an.
„Nein, es ist kein Unsinn! Ein Mann, der wie Sie durch den gestrigen Vorfall beleidigt und geärgert ist, und gleichzeitig fähig ist, an das Unglück von anderen zu denken, – ein solcher Mensch ist ... obwohl er durch seine Handlungen einen sozialen Fehler begeht, – dennoch ... der Achtung würdig! Ich habe es sogar von Ihnen, Peter Petrowitsch, nicht erwartet, um so mehr, nach Ihren Begriffen ... oh, wie Ihre Begriffe Ihnen noch hinderlich sind! Wie Sie, zum Beispiel, dieser gestrige Mißerfolg aufregt!“ rief der gute kleine Andrei Ssemenowitsch aus und fühlte wieder eine stärkere Sympathie für Peter Petrowitsch, „und wozu, wozu brauchen Sie unbedingt diese Ehe, diese gesetzliche Ehe, lieber, edler Peter Petrowitsch? Warum brauchen Sie unbedingt diese Gesetzlichkeit in der Ehe? Nun, wenn Sie wollen, schlagen Sie mich, aber ich freue mich, freue mich, daß diese Ehe nicht zustande gekommen ist, daß Sie frei sind, daß Sie noch nicht ganz für die Menschheit verloren sind, ich freue mich ... So, jetzt habe ich mich ausgesprochen!“
„Weil ich in Ihrer illegalen Ehe keine Hörner tragen und fremde Kinder züchten will, aus diesem Grunde brauche ich die gesetzliche Ehe,“ sagte Luschin, nur um etwas zu sagen.
Er war besonders besorgt und nachdenklich.
„Kinder? Sie sagen Kinder?“ fuhr Andrei Ssemenowitsch auf wie ein Kampfroß, das das Signal gehört hatte, „Kinder – das ist eine soziale Frage und eine Frage von größter Wichtigkeit, das gebe ich zu, aber die Kinderfrage wird sich anders lösen. Einige verwerfen vollkommen die Kinder, wie alles, was mit Familie zu tun hat. Wir wollen über die Kinder nachher reden und wollen uns jetzt mit den Hörnern beschäftigen. Ich muß Ihnen gestehen, daß das mein schwacher Punkt ist. Dieser üble Husarenausdruck, der Ausdruck eines Puschkins ist im künftigen Lexikon undenkbar. Ja, und was sind Hörner? Oh, welch eine Verirrung! Was für Hörner? Wozu Hörner? Welch ein Unsinn! Im Gegenteil, in der illegalen Ehe können sie gar nicht existieren! Die Hörner sind nur die natürliche Folge jeder gesetzlichen Ehe, sozusagen, ihre Korrektur, ein Protest, so daß sie in diesem Sinne keineswegs erniedrigend sind ... Und wenn ich irgendwann, – diesen Unsinn einmal angenommen, – gesetzlich verheiratet sein sollte, so würde ich mich sogar über diese verfluchten Hörner freuen; ich würde dann meiner Frau sagen, – ‚mein Freund, ich habe dich bis jetzt bloß geliebt, jetzt aber achte ich dich auch, weil du verstanden hast, zu protestieren!‘ Sie lachen! Das kommt davon, weil Sie nicht imstande sind, sich von den Vorurteilen loszureißen! Zum Teufel, ich begreife doch, worin gerade die Unannehmlichkeit besteht, wenn man in gesetzlicher Ehe betrogen wird, – aber das ist doch bloß eine niederträchtige Folge einer niederträchtigen Tatsache, wo beide Teile erniedrigt sind. Wenn aber die Hörner einem offen aufgesetzt werden, wie in der illegalen Ehe, dann existieren sie nicht mehr, sie sind undenkbar und verlieren sogar die Benennung Hörner. Im Gegenteil, Ihre Frau wird Ihnen bloß beweisen, wie sie Sie schätzt, indem sie Sie für unfähig hält, ihrem Glücke im Wege zu sein und Sie für so reif betrachtet, daß Sie wegen ihres neuen Mannes an ihr keine Rache nehmen werden. Zum Teufel, ich träume zuweilen, daß, wenn ich mich verheiraten würde, pfui! wenn ich heiraten würde, – ob illegal, ob gesetzlich, das ist einerlei, – würde ich selbst zu meiner Frau einen Liebhaber bringen, wenn sie sich noch keinen angeschafft hätte, und würde ihr sagen, – ‚mein Freund, ich liebe dich, aber ich wünsche auch, daß du mich achtest, – bitte, hier hast du ihn!‘ Ist das nicht das Richtige?“
Peter Petrowitsch hörte zu und lachte, aber ohne besondere Begeisterung. Er hörte fast nicht zu. Er überlegte sich etwas ganz anderes, und Lebesjätnikoff merkte es auch schließlich. Peter Petrowitsch war aufgeregt, rieb sich die Hände und dachte nach. Das alles kam Andrei Ssemenowitsch später erst zum Bewußtsein.
Es würde schwer fallen, genau die Gründe anzuführen, aus welchen die Idee dieses sinnlosen Gedächtnismahles in dem verstörten Gehirn von Katerina Iwanowna entstanden war. Es waren beinahe zehn Rubel von dem Gelde daraufgegangen, das ihr Raskolnikoff eigentlich zur Beerdigung Marmeladoffs gegeben hatte. Vielleicht hielt sich Katerina Iwanowna dem Verstorbenen gegenüber verpflichtet, sein Andenken „wie es sich gehört“ zu ehren, damit alle Mitbewohner und besonders Amalie Iwanowna wissen sollten, daß er „nicht nur gar nicht schlechter als sie, vielleicht weit besser war,“ und daß niemand von ihnen das Recht hatte, sich über ihn zu stellen. Vielleicht hatte hierzu jener besondere Stolz der Armen am meisten beigetragen, aus dem viele bei gewissen gesellschaftlichen Gebräuchen, die, wie es einmal ist, für alle und jeden verbindlich sind, ihre letzten Kräfte anspannen und die letzten Spargroschen ausgeben, um bloß „nicht schlechter, als andere“ zu sein, und damit die anderen nicht darüber „reden“ können. Es war auch sehr möglich, daß Katerina Iwanowna das Verlangen hatte, gerade in diesem Falle, namentlich in dem Augenblicke, wo sie scheinbar von aller Welt verlassen war, allen diesen „unbedeutenden und schlimmen Mietern“ zu zeigen, daß sie nicht nur Lebensart hatte und sich auf Empfänge verstand, sondern daß sie gar nicht zu solch einem Lose bestimmt war, daß sie „in einem feinen, ja in dem aristokratischen Hause eines Obersten“ erzogen war, und daß sie durchaus nicht dazu erzogen war, die Diele selbst zu fegen und des Nachts Kinderlumpen zu waschen. Diese Anfälle von Stolz und Eitelkeit suchen zuweilen die ärmlichsten und unterdrücktesten Menschen heim und verwandeln sich oft bei ihnen in ein gereiztes, unüberwindliches Bedürfnis. Katerina Iwanowna gehörte eigentlich nicht zu den Unterdrückten, man konnte sie durch Umstände töten, aber sie moralisch unterdrücken, das heißt, sie einschüchtern und ihren Willen unterwerfen, – konnte man nicht. Außerdem sagte Ssonjetschka mit gutem Grunde, daß ihr Verstand verstört sei. Man konnte es freilich nicht positiv und endgültig sagen, doch in letzter Zeit, in dem letzten Jahre, wurde ihr armer Kopf zu stark gequält, als daß er nicht zum Teil gelitten hätte. Und eine stark fortgeschrittene Schwindsucht trägt auch, wie die Ärzte sagen, zu einer Geistesstörung bei.
Weine in Mehrzahl und verschiedene Sorten gab es freilich nicht, ebenso fehlte auch Madeira, – das war übertrieben, Wein war aber da. Es gab Branntwein, Rum und Lissaboner, alles von der schlechtesten Sorte, aber in genügender Menge. Von Speisen waren außer Kutje drei oder vier Gerichte vorhanden, alles aus der Küche von Amalie Iwanowna, dazu wurden zwei Samowars aufgestellt für Tee und Punsch, die nach dem Essen gereicht werden sollten. Katerina Iwanowna hatte alles selbst eingekauft, als Hilfe hatte sie einen Mieter mitgehabt, einen kläglichen Polen, der weiß Gott warum bei Frau Lippewechsel wohnte. Er hatte sich sofort zu Katerina Iwanownas Verfügung gestellt, lief den ganzen gestrigen Tag und den ganzen heutigen Morgen Hals über Kopf und mit heraushängender Zunge herum und war besonders bemüht, daß man dies auch bemerken solle. Wegen jeder Kleinigkeit kam er zu Katerina Iwanowna gelaufen, war ihr sogar in die Kaufläden nachgegangen, nannte sie fortwährend „Pani Chorunschina“ und wurde ihr zuletzt bis zum Überdrusse langweilig, obwohl sie zuerst behauptet hatte, daß sie ohne diesen „bereitwilligen und großmütigen“ Menschen vollkommen verloren wäre. Katerina Iwanowna hatte die Eigenschaft in ihrem Charakter, den ersten Besten, der ihr in den Weg lief, mit den hellsten und schönsten Farben zu schmücken, ihn so zu loben, daß mancher sich schämte, allerhand Umstände, die gar nicht existierten, zu seinem Preise zu erfinden, selbst daran vollkommen aufrichtig und ehrlich zu glauben, und dann plötzlich, mit einem Male, sich enttäuscht zu fühlen, alles abzubrechen, den Menschen zu beschimpfen und hinauszuschmeißen, den sie noch vor einigen Stunden buchstäblich angebetet hatte. Von Natur aus hatte sie einen heiteren, fröhlichen und friedfertigen Charakter, infolge des ununterbrochenen Unglücks und Mißerfolges begann sie geradezu rasend zu wünschen und zu verlangen, daß alle in Frieden und Freude leben sollten und anders nicht leben dürfen, und der geringste Mißklang im Leben, die allerkleinsten Mißerfolge brachten sie sofort in Wut, und sie fing an, unmittelbar nach den stärksten Hoffnungen und Phantasien ihr Schicksal zu verfluchen, alles, was ihr unter die Hände geriet, zu zerreißen und fortzuwerfen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Amalie Iwanowna hatte plötzlich in Katerina Iwanownas Augen eine ungewöhnliche Bedeutung und außergewöhnliche Achtung errungen, vielleicht einzig aus dem Grunde, weil dieses Gedächtnismahl vorbereitet wurde und weil Amalie Iwanowna von ganzem Herzen bereit war, an allen Besorgungen teilzunehmen. Sie hatte es übernommen, den Tisch zu decken, die Wäsche, das Geschirr und alles übrige herzugeben und in ihrer Küche das Essen zuzubereiten. Katerina Iwanowna überließ ihr alles und ging auf den Friedhof. Und wirklich war alles aufs beste hergerichtet, – der Tisch war ziemlich reinlich gedeckt, das Geschirr, Gabeln, Messer, Gläser, Weingläser, Tassen – all dieses paßte nicht zusammen, war von den verschiedenen Mietern zusammengeborgt, aber alles stand zur bestimmten Stunde auf seinem Platze, und Amalie Iwanowna, im Vollgefühle ihrer gut besorgten Aufgabe, begrüßte die Zurückkehrenden mit einem gewissen Stolze; sie war sehr geputzt in einer Haube mit neuen Trauerbändern und im schwarzen Kleide. Dieser Stolz, obwohl berechtigt, mißfiel aus irgendeinem Grunde Katerina Iwanowna, „als hätte man in der Tat ohne Amalie Iwanowna nicht verstanden, den Tisch zu decken“! Auch die Haube mit den neuen Bändern erregte ihr Mißfallen, – „möglicherweise ist diese dumme Deutsche noch darauf stolz, daß sie die Wirtin ist und sich aus Gnade bereit erklärt hat, den armen Mietern zu helfen? Aus Gnade? Bitte sehr! Bei Katerina Iwanownas Papa, der Oberst und beinahe Gouverneur war, wurde zuweilen der Tisch für vierzig Personen gedeckt, so daß irgend eine Amalie Iwanowna oder besser gesagt Ludwigowna, dort nicht mal in die Küche zugelassen worden wäre ...“ Katerina Iwanowna beschloß aber, ihre Gefühle nicht vor der Zeit zu äußern, obgleich sie sich im Herzen fest vorgenommen hatte, Amalie Iwanowna heute noch unbedingt abzutrumpfen und sie an ihren richtigen Platz zu erinnern, sonst würde die sich Gott weiß was einbilden; vorläufig behandelte sie sie bloß kalt. Eine andere Unannehmlichkeit hatte auch teilweise zu der Gereiztheit von Katerina Iwanowna beigetragen, – zu der Beerdigung war, außer dem Polen, von den Geladenen fast niemand erschienen, der aber hatte Zeit genug, auf den Friedhof zu laufen; zu dem Gedächtnismahle dagegen waren nur die Unansehnlichsten und Armen gekommen, viele sogar nicht ganz nüchtern, sozusagen das Pack. Die älteren und angesehensten waren, wie absichtlich, ferngeblieben, als hätten sie sich alle verabredet. Peter Petrowitsch Luschin zum Beispiel, man kann sagen, der solideste von allen Mietern, war nicht erschienen, während Katerina Iwanowna schon gestern aller Welt, das heißt Amalie Iwanowna, Poletschka, Ssonjetschka und dem Polen, erzählt hatte, daß dieser edelste und großmütigste Mann mit besten Verbindungen und von sehr großem Vermögen, ein früherer Freund ihres ersten Mannes, der in dem Hause ihres Vaters verkehrt habe, ihr versprochen hätte, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um ihr eine bedeutende Pension zu verschaffen. Wir wollen hierbei bemerken, daß, wenn Katerina Iwanowna mit Verbindungen und Vermögen anderer Leute prahlte, sie es vollkommen uneigennützig, sozusagen aus übervollem Herzen tat, nur aus dem Vergnügen allein, den Gelobten noch mehr zu preisen und ihm einen größeren Wert zu verleihen. Nächst Luschin und wahrscheinlich „seinem Beispiele folgend“ war auch „dieser üble, schändliche Lebesjätnikoff“ nicht erschienen. Was bildet sich denn dieser ein? Man hatte ihn bloß aus Gnade und weil er in einem Zimmer mit Peter Petrowitsch lebte und sein Bekannter war, eingeladen; es wäre peinlich für ihn gewesen, nicht eingeladen zu sein. Auch eine feine Dame mit ihrer Tochter, „einer überreifen alten Jungfer,“ die erst seit zwei Wochen bei Amalie Iwanowna lebten, waren nicht erschienen; sie hatten sich trotz ihres kurzen Aufenthaltes hier schon einige Male über den Lärm und das Geschrei in Marmeladoffs Zimmer, besonders, wenn der Verstorbene betrunken nach Hause gekommen war, beklagt. Das hatte Katerina Iwanowna durch Amalie Iwanowna erfahren, wenn diese sich mit Katerina Iwanowna zankte, ihr drohte, sie und die ganze Familie hinauszujagen, und dabei aus vollem Halse schrie, daß sie „anständige Mieter, deren Fußtritt Sie nicht mal wert sind,“ beunruhige. Katerina Iwanowna hatte absichtlich beschlossen, diese Dame und ihre Tochter, deren „Fußtritt sie angeblich nicht wert sei,“ einzuladen, und um so mehr, weil jene bei zufälligen Begegnungen sich hochmütig abwandte, – damit sie wisse, daß man hier „edler denkt und fühlt und sie, ohne sich des Bösen zu erinnern, einlade,“ und damit sie sehen sollten, daß Katerina Iwanowna nicht gewohnt sei, in solchen Verhältnissen zu leben. Es war unbedingt vorausgesetzt, ihnen allen bei Tische zu erklären und zu erwähnen, daß ihr verstorbener Vater beinahe Gouverneur gewesen sei, und gleichzeitig indirekt zu verstehen zu geben, daß es überflüssig wäre, sich bei Begegnungen abzuwenden, und daß es äußerst dumm wäre. Ebenso war der dicke Oberstleutnant, eigentlich war er Stabskapitän außer Dienst, nicht erschienen, es stellte sich heraus, daß er seit dem gestrigen Morgen vor Trunkenheit „ohne Hinterbeine“ war. Mit einem Worte: es waren bloß erschienen, – der Pole, dann ein häßlicher schweigsamer Kanzlist, in einem stark glänzenden Frack, mit Finnen im Gesichte und einem widerlichen Geruche und noch ein tauber und fast erblindeter alter Mann, der einst in einem Postamt gedient hatte und den jemand seit undenkbaren Zeiten und aus unbekannten Gründen bei Amalie Iwanowna untergebracht hatte. Es war auch ein betrunkener verabschiedeter Leutnant, eigentlich ein Proviantmeister, erschienen mit einem höchst unanständigen lauten Lachen, und: „stellen Sie sich vor,“ ohne Weste! Einer von den Gästen setzte sich direkt an den Tisch, ohne sogar Katerina Iwanowna zu begrüßen, und zuguterletzt tauchte eine Person im Schlafrocke auf, da sie keine Kleider besaß, aber das war so unanständig, daß es den Bemühungen von Amalie Iwanowna und dem Polen gelang, ihn hinauszuexpedieren. Der Pole hatte übrigens noch zwei andere Polen mitgebracht, die niemals bei Amalie Iwanowna gewohnt hatten, und die niemand vorher in ihrem Hause gesehen hatte. Dies alles reizte Katerina Iwanowna in höchstem Grade. „Für wen waren schließlich denn alle Vorbereitungen getroffen?“ Man hatte sogar die Kinder, um an Platz zu gewinnen, nicht am Tische untergebracht, der das ganze Zimmer einnahm, sondern für sie in der hinteren Ecke auf einem Kasten gedeckt, wobei die beiden kleineren auf einer Bank saßen, Poletschka aber, als die Erwachsene, mußte auf sie aufpassen, sie füttern und ihnen „wie Kindern aus feinem Hause“ die Näschen putzen. Mit einem Worte, Katerina Iwanowna glaubte alle mit doppelter Würde und sogar mit Hochmut begrüßen zu müssen. Manche blickte sie besonders streng an und bat sie von oben herab, sich an den Tisch zu setzen. Da sie aber aus irgendeinem Grunde meinte, Amalie Iwanowna für alle Nichterschienenen verantwortlich machen zu müssen, begann sie plötzlich, sie äußerst nachlässig zu behandeln, was jene sofort merkte und dadurch sehr pikiert wurde. Solch ein Anfang deutete auf kein gutes Ende. Endlich hatten alle Platz genommen. Raskolnikoff trat fast in demselben Augenblick ein, als sie von dem Friedhofe zurückkehrten. Katerina Iwanowna war überaus erfreut, ihn zu sehen, erstens, weil er der einzige „gebildete“ von allen Gästen war und „wie bekannt, nach zwei Jahren in der hiesigen Universität einen Lehrstuhl einnehmen werde,“ und zweitens, weil er sofort und ehrerbietig sich entschuldigte, daß er trotz seines Wunsches zu der Beerdigung nicht hatte kommen können. Sie stürzte sich buchstäblich auf ihn, setzte ihn bei Tisch neben sich zur linken Hand, zur rechten saß Amalie Iwanowna, und wandte sich ununterbrochen an Raskolnikoff, trotz ihrer beständigen Unruhe und Sorge, daß das Essen auch richtig herumgereicht wurde und alle erhielten, trotz des qualvollen Hustens, der sie alle Augenblicke unterbrach und peinigte, und der sich in diesen letzten zwei Tagen besonders verstärkt zu haben schien. Sie beeilte sich, ihm halb flüsternd alle angesammelten Gefühle und ihre ganze gerechte Entrüstung über das mißlungene Gedächtnismahl mitzuteilen, wobei die Entrüstung oft unabsichtlich und ohne jede Berechnung, einem ausgelassenen Lachen über die versammelten Gäste, besonders aber über die Wirtin, Platz machte.
„An allem ist dieser Kuckuck schuld. Sie wissen, wen ich meine, – die dort, dort!“ und Katerina Iwanowna wies mit dem Kopfe auf die Wirtin. „Sehen Sie sie an, – sie hat die Augen aufgesperrt, fühlt, daß wir über sie reden, kann aber nichts verstehn. Pfui, so eine Eule! Ha–ha–ha! ... Kche–kche–kche!“ hustete sie. „Und was will sie mit ihrer Haube! Kche–kche–kche! Haben Sie gemerkt, sie möchte gern, daß alle Gäste meinen sollen, sie beschütze mich und erweise mir mit ihrem Hiersein eine Ehre. Ich habe sie gebeten, wie man eine anständige Person bittet, bessere Leute, und zwar die Bekannten des Verstorbenen, einzuladen, und sehen Sie, wen sie hergebracht hat, – allerhand Narren! Schmutzfinke! Sehen Sie nur diesen da mit dem unreinen Teint, – das ist doch eine Rotznase auf zwei Beinen! Und diese Polen ... ha–ha–ha! Kche–kche–kche! Niemand, niemand hat sie vorher hier gesehen, auch ich nicht. Wozu sind die gekommen, frage ich Sie? Wie hübsch sie sitzen, nebeneinander. – Pan, heda!“ rief sie plötzlich einem von ihnen zu, „haben Sie genug vorgelegt? Nehmen Sie noch? Trinken Sie Bier! Wollen Sie nicht Schnaps? Sehen Sie, – er ist aufgesprungen und verbeugt sich, sehen Sie, sehen Sie, – sie sind wahrscheinlich sehr hungrig, die Armen! Tut nichts, mögen sie essen! Sie lärmen wenigstens nicht, aber ... aber ich fürchte ... für die silbernen Löffel der Wirtin! ... Amalie Iwanowna!“ wandte sie sich plötzlich an die Wirtin laut, „ich sage Ihnen im voraus, falls Ihre Löffel gestohlen werden, übernehme ich keine Verantwortung! Ha–ha–ha!“ lachte sie, wandte sich wieder an Raskolnikoff, wies wieder auf die Wirtin und freute sich über ihre Bemerkung. „Sie hat es nicht verstanden, sie hat wieder nichts verstanden! Sehen Sie, wie sie mit aufgesperrtem Munde dasitzt, – wie eine echte Eule, eine Eule mit neuen Bändern, ha–ha–ha!“
Das Lachen verwandelte sich von neuem in einen unerträglichen Husten, der minutenlang anhielt. Auf ihrem Taschentuch zeigte sich Blut, und Schweißtropfen traten auf die Stirne. Sie zeigte Raskolnikoff schweigend das Blut, und kaum hatte sie sich erholt, flüsterte sie mit roten Flecken auf den Wangen ihm lebhaft wieder zu.
„Sehen Sie, ich habe ihr einen sehr heiklen Auftrag gegeben, diese Dame und ihre Tochter einzuladen. Sie wissen doch, von wem ich spreche? Hier mußte man in der zartesten Weise, in der geschicktesten Art handeln, sie war aber so ungeschickt, daß diese angereiste dumme Person, dieses aufgeblasene Geschöpf, diese unbedeutende Provinzmadam, sie die Witwe irgendeines Majors, die sich hier um eine Pension bemüht und bei den Behörden deswegen herumläuft ... und die mit ihren fünfundfünfzig Jahren sich schminkt und färbt ... was allgemein bekannt ist ... daß dieses Geschöpf nicht nur sich für zu gut hielt, hier zu erscheinen, sondern sich nicht einmal entschuldigen ließ, wie es in diesen Fällen doch die gewöhnlichste Höflichkeit verlangt! Ich kann nicht begreifen, warum auch Peter Petrowitsch nicht gekommen ist? Und wo ist Ssonja? Wo ist sie nur hingegangen? Ah, da ist sie ja! Ssonja, wo warst du? Merkwürdig, daß du sogar am Beerdigungstage deines Vaters so unpünktlich bist. Rodion Romanowitsch, sie soll sich neben Sie setzen. Hier ist dein Platz, Ssonjetschka ... nimm, was dir gefällt. Nimm von dem Fisch, er ist gut. Hat man den Kindern auch etwas gegeben? Poletschka, habt ihr alles? Kche–kche–kche! Nun, gut. Sei ein artiges Kind, Lene und du, Kolja, zapple nicht mit den Beinen, sitz, wie ein anständiges Kind sitzen muß. Was sagst du, Ssonjetschka?“
Ssonja beeilte sich sofort, ihr die Entschuldigung von Peter Petrowitsch mitzuteilen und versuchte so laut zu sprechen, daß es alle hören konnten, gebrauchte gewählte und ehrerbietige Ausdrücke, die sie absichtlich Peter Petrowitsch andichtete. Sie fügte hinzu, daß Peter Petrowitsch sie besonders gebeten habe, mitzuteilen, daß er unverzüglich, sobald es ihm nur möglich sei, herkommen würde, um in geschäftlichen Angelegenheiten allein mit Katerina Iwanowna zu sprechen und zu verabreden, was man jetzt und künftig unternehmen könnte und dergleichen mehr.
Ssonja wußte, daß dies Katerina Iwanowna friedlicher stimmen und beruhigen würde, sie würde sich dadurch geschmeichelt fühlen und ihr Stolz würde befriedigt sein. Sie setzte sich neben Raskolnikoff, den sie hastig begrüßte und flüchtig, doch voll Interesse anblickte. Während der folgenden Zeit vermied sie aber ihn anzusehen und mit ihm zu sprechen. Sie war zerstreut, obwohl sie die ganze Zeit Katerina Iwanowna im Auge behielt, um ihre Wünsche zu erraten. Weder sie, noch Katerina Iwanowna waren in Trauer, da sie keine Kleider hatten; Ssonja hatte ein dunkelbraunes Kleid an und Katerina Iwanowna ihr einziges, ein dunkelgestreiftes Kattunkleid. Die Mitteilung über Peter Petrowitsch verbreitete sich rasch. Als Katerina Iwanowna mit Würde Ssonja angehört hatte, erkundigte sie sich ebenso würdevoll, wie es Peter Petrowitsch gehe? Dann flüsterte sie hörbar Raskolnikoff zu, daß es für einen angesehenen und soliden Menschen, wie Peter Petrowitsch, unmöglich gewesen wäre, in solch eine „ungewöhnliche Gesellschaft“ zu kommen, trotz der großen Anhänglichkeit an ihre Familie und der alten Freundschaft mit ihrem Papa.
„Sehen Sie, darum bin ich auch Ihnen, Rodion Romanowitsch, so sehr dankbar, daß Sie trotz solcher Umgebung Salz und Brot von mir nicht verschmäht haben,“ fügte sie fast laut hinzu, „übrigens bin ich überzeugt, daß nur die besondere Freundschaft zu meinem armen Verstorbenen Sie veranlaßt hat, Ihr Wort zu halten.“
Sie blickte noch einmal voll Stolz und Würde ihre Gäste an und erkundigte sich plötzlich mit besonderer Fürsorge laut über den Tisch hinüber bei dem tauben alten Manne, „ob er nicht mehr vom Braten nehmen möchte und ob er Lissaboner bekommen habe?“ Der Alte antwortete nicht und konnte lange nicht begreifen, wonach man ihn frage, obwohl seine Nachbarn aus Scherz ihn anzustoßen begannen. Er blickte nur mit offenem Munde um sich, wodurch er die allgemeine Heiterkeit noch mehr hervorrief.
„Ist das ein Holzklotz! Sehen Sie doch nur! Wozu hat man den hierher gebracht? Was Peter Petrowitsch anbetrifft, so war ich stets seiner sicher,“ fuhr Katerina Iwanowna fort, Raskolnikoff zu erzählen, „so gleicht er selbstverständlich nicht ...“ wandte sie sich laut und scharf und mit äußerst strenger Miene zu Amalie Iwanowna, daß sie darüber erschrak, „so gleicht er nicht jenen aufgedonnerten Madams mit ihren Schleppen, die bei meinem Papa nicht mal als Köchinnen ihren Dienst verrichten gedurft hätten, und denen mein verstorbener Mann nur deshalb die Ehre erwiesen hatte, sie zu empfangen, weil er eine unerschöpfliche Güte hatte.“
„Ja, er liebte eins zu trinken, ja, er liebte es und trank auch!“ rief plötzlich der verabschiedete Proviantmeister und leerte das zwölfte Glas Schnaps.
„Mein verstorbener Mann hatte diese Schwäche, das wissen alle,“ stürzte sich Katerina Iwanowna plötzlich auf ihn, „aber er war ein guter und edler Mensch, der seine Familie liebte und achtete; nur das eine war schlimm, daß er in seiner Güte allerhand verdorbenen Leuten zu sehr traute und weißgott mit wem trank, sogar mit solchen, die seine Stiefelsohle nicht wert waren! Stellen Sie sich vor, Rodion Romanowitsch, man fand in seiner Tasche einen Pfefferkuchenhahn, – er ging total betrunken heim, und dachte doch an seine Kinder.“
„Einen Ha–hn? Sie belieben zu sagen – ei–nen Hahn?“ rief der Proviantmeister.
Katerina Iwanowna würdigte ihn keiner Antwort. Sie dachte über etwas nach und seufzte.
„Sie meinen auch sicher, wie alle, daß ich zu streng zu ihm war,“ fuhr sie fort, sich an Raskolnikoff wendend. „Das ist nicht richtig! Er hat mich geachtet, er hat mich sehr, sehr geachtet! Er war eine gute Seele. Und zuweilen tat er mir so leid! Er saß manchmal in der Ecke und sah mich an, da tat er mir so leid, ich wollte zu ihm freundlich sein, dachte mir aber, wenn ich jetzt freundlich zu ihm bin, betrinkt er sich wieder. Nur mit Strenge konnte man ihn einigermaßen davon zurückhalten.“
„Ja, es ist vorgekommen, daß er an den Haaren gezerrt wurde, es ist vorgekommen, öfters,“ brüllte wieder der Proviantmeister und leerte noch ein Glas.
„Es wäre angebracht, manche Dummköpfe nicht nur an den Haaren zu zerren, sondern mit einem Besenstiel zu verprügeln. Ich rede jetzt nicht von dem Verstorbenen!“ trumpfte Katerina Iwanowna den Proviantmeister ab.
Die roten Flecken auf ihren Wangen traten immer stärker hervor und ihre Brust hob sich. Nur wenig fehlte und ein Skandal begann. Viele kicherten; das wäre ihnen offenbar sehr angenehm gewesen. Man begann den Proviantmeister zu stoßen und ihm etwas zuzuflüstern. Man wollte beide aufeinander hetzen.
„Erlau–ben Sie mir zu fragen, wen Sie damit meinten,“ begann der Proviantmeister wieder, „wessen Ehre ... haben Sie soeben ... Übrigens, es ist unnötig! Unsinn! Eine Witwe! Eine arme Witwe! Ich verzeihe ... Ich passe!“ und er goß sich wieder Schnaps ein.
Raskolnikoff hörte schweigend, voll Widerwillen zu. Er nahm nur aus Höflichkeit, rührte kaum die Stücke an, die ihm Katerina Iwanowna alle Augenblicke auf den Teller legte und aß bloß, um sie nicht zu kränken. Er blickte Ssonja aufmerksam an. Ssonja aber wurde immer unruhiger und besorgter; sie ahnte, daß das Gedächtnismahl kein friedliches Ende nehmen werde und beobachtete voll Angst die sich steigernde Gereiztheit von Katerina Iwanowna. Sie wußte, daß sie der Hauptgrund war, warum die beiden zugereisten Damen so verachtungsvoll mit der Einladung Katerina Iwanownas umgegangen waren. Sie hatte von Amalie Iwanowna selbst gehört, daß die Mutter allein schon durch die Einladung beleidigt worden war und die Frage gestellt hatte, „wie sie es verantworten könne, ihre Tochter neben diese Person zu setzen?“ Ssonja ahnte, daß Katerina Iwanowna dies irgendwie erfahren habe, und eine Kränkung Ssonjas bedeutete für Katerina Iwanowna mehr, als eine persönliche, mehr als eine Kränkung ihrer Kinder, ihres Papas, mit einem Worte, es war für sie eine tödliche Beleidigung, und Ssonja wußte, daß Katerina Iwanowna sich nicht eher beruhigen werde, „bis sie diesen geputzten Krähen bewiesen hätte, daß sie beide ...“ und dergleichen mehr. Wie absichtlich, hatte in diesem Augenblicke jemand vom anderen Ende des Tisches Ssonja einen Teller zugesandt, worauf zwei Herzen, durchbohrt mit einem Pfeile, aus Brot geknetet waren. Katerina Iwanowna flammte auf und bemerkte sofort laut über den ganzen Tisch weg, daß der Absender sicher „ein betrunkener Esel“ sei. Amalie Iwanowna, die auch etwas Schlimmes ahnte, und gleichzeitig durch den Hochmut Katerina Iwanownas im tiefsten Innern gekränkt war, begann ohne jede Veranlassung, nur um die unangenehme Stimmung der Gesellschaft abzulenken und gleichzeitig um ihr Ansehen in aller Augen zu heben, zu erzählen, wie ein Bekannter von ihr „Karl aus der Apotheke“ eines Nachts in einer Droschke nach Hause fuhr und der Kutscher ihn ermorden wollte, daß Karl ihn sehr, sehr gebeten habe, ihn nicht zu ermorden, „die Hände gefaltet und geweint hätte und so erschrocken wäre und daß die Angst sein Herz durchbohrt hätte“. Katerina Iwanowna bemerkte aber lächelnd, daß Amalie Iwanowna keine russischen Anekdoten erzählen solle. Jene fühlte sich dadurch noch mehr gekränkt und erwiderte, daß ihr Vater in Berlin ein sehr, sehr bedeutender Mann gewesen sei und daß er „immer die Hände in die Taschen steckte“. Die lachlustige Katerina Iwanowna konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken, so daß Amalie Iwanowna die letzte Geduld verlor und kaum mehr sich beherrschen konnte.
„Das ist mal eine Eule!“ flüsterte Katerina Iwanowna Raskolnikoff zu und wurde fast heiter gestimmt, „sie wollte sagen, daß er die Hände in den Taschen hatte, sie brachte es aber so heraus, als ob er ein Langfinger gewesen wäre, ha–ha! Haben Sie auch schon bemerkt, daß alle diese Ausländer in Petersburg, hauptsächlich aber die Deutschen, die irgendwoher zu uns kommen, dümmer sind, als wir? Sie müssen doch zugeben, daß man nicht erzählen kann, daß ‚Karls Herz aus Angst durchbohrt sei,‘ und daß er – so eine Memme! – anstatt den Kutscher zu knebeln, die ‚Hände gefaltet, geweint und sehr gebeten hat‘. Ach, so ein Holzklotz! Und sie glaubt noch, daß dies sehr rührend sei und ahnt nicht, wie dumm sie ist! Meiner Ansicht nach ist dieser betrunkene Proviantmeister noch bei weitem klüger als sie; man sieht, daß er ein Bruder Liederlich ist und das bißchen Verstand vertrunken hat, diese andere aber tut so ordentlich, sitzt ernst da ... Sehen Sie nur, wie sie nun die Augen aufreißt. Sie ist böse! Ärgert sich! Ha–ha–ha! Kche–kche–kche!“
Als Katerina Iwanowna so lustig geworden war, kam sie auf allerhand Dinge und erzählte plötzlich, wie sie mit Hilfe der in Aussicht gestellten Pension unbedingt in ihrer Heimatsstadt T... eine Anstalt für junge Mädchen aus besseren Ständen errichten werde. Katerina Iwanowna hatte dies Raskolnikoff noch nicht selbst mitgeteilt und sie ließ sich auf sehr ausführliche, verlockende Einzelheiten ein. Auf rätselhafte Weise tauchte plötzlich in ihren Händen dasselbe „Ehrendiplom“ auf, von dem der verstorbene Marmeladoff in der Schenke Raskolnikoff schon erzählt und dabei erwähnt hatte, daß Katerina Iwanowna, seine Gattin, bei der Entlassung aus dem Stift mit einem Shawl „vor dem Gouverneur und den übrigen hohen Personen“ getanzt habe. Dieses Ehrendiplom mußte offenbar Katerina Iwanowna jetzt als Zeugnis dienen, daß sie auch ein Recht dazu habe, eine Erziehungsanstalt zu gründen, es war hauptsächlich mit der Absicht hervorgeholt und in der Nähe aufbewahrt worden, um endgültig „den beiden aufgedonnerten Krähen,“ wenn sie zu dem Gedächtnismahle gekommen wären, den Hochmut zu nehmen, und um ihnen deutlich zu beweisen, daß Katerina Iwanowna aus einem sehr feinen Hause stamme, „man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen Hause“ und die Tochter eines Obersten und sicher mehr sei, als manche Abenteurerin, die in der letzten Zeit so überhand nahmen. Das Ehrendiplom ging sofort von Hand zu Hand unter den betrunkenen Gästen, was Katerina Iwanowna nicht hinderte, weil darin tatsächlich en toutes lettres[10] bemerkt war, daß sie die Tochter eines Hofrats und Ritters pp. sei, folglich in der Tat beinahe die Tochter eines Obersten. Katerina Iwanowna, einmal entflammt, begann unverzüglich über alle Einzelheiten des künftigen schönen und ruhigen Lebens in T... sich zu verbreiten, – über die Gymnasiallehrer, die sie auffordern würde, in ihrer Anstalt Unterricht zu geben, über einen ehrenwerten, alten Herrn, einen Franzosen Mangot, der Katerina Iwanowna noch im Stifte in französischer Sprache unterwiesen hatte, und der jetzt in T... sein Leben beschloß und sicher für einen angemessenen Preis zu ihr kommen werde. Endlich kam sie auch auf Ssonja zu sprechen, „die zusammen mit Katerina Iwanowna nach T... reisen und dort in allem ihr behilflich sein solle“. Aber hier prustete jemand am andern Ende des Tisches vor Lachen. Katerina Iwanowna gab sich sofort den Anschein, als beachte sie nicht das Lachen am anderen Ende des Tisches, erhob absichtlich die Stimme und begann mit Begeisterung über die unzweifelhaften Vorzüge von Ssofja Ssemenowna als ihrer Stütze zu reden, „über ihre Sanftmut, Geduld, Selbstaufopferung, edlen Sinn und ihre Bildung,“ wobei sie Ssonja auf die Wange tätschelte, aufstand und sie ein paarmal innig küßte. Ssonja errötete und Katerina Iwanowna brach plötzlich in Weinen aus, nannte sich selbst „eine nervenschwache dumme Person, die ziemlich angegriffen sei, und daß es Zeit sei, ein Ende zu machen, da alle gegessen hätten und daß jetzt Tee kommen könne“. Da riskierte Amalie Iwanowna, gänzlich verschnupft, daß sie an der ganzen Unterhaltung nicht den geringsten Anteil genommen hatte, und daß man sie gar nicht angehört hatte, den letzten Versuch und erlaubte sich mit unterdrücktem Ärger, Katerina Iwanowna eine äußerst sachliche und tiefsinnige Bemerkung zu machen, daß man nämlich in der künftigen Pensionsanstalt besonders auf die reine Wäsche der jüngeren Mädchen achthaben müsse, und daß unbedingt eine tüchtige Dame da sein müsse, um darauf aufzupassen, und zweitens darauf, daß die jungen Mädchen heimlich in der Nacht keine Romane lesen könnten. Katerina Iwanowna, wirklich angegriffen und sehr müde, und des Gedächtnismahls überdrüssig, schnitt Amalie Iwanowna schroff das Wort mit der Bemerkung ab, daß sie „Unsinn quatsche“ und nichts verstehe; daß die Sorge um die Wäsche Sache der Kastellanin sei und nicht der Vorsteherin einer Anstalt für junge Mädchen aus besseren Ständen, und was das Lesen von Romanen anbetrifft, sei ihre Bemerkung einfach unanständig, und sie bitte sie endlich zu schweigen. Amalie Iwanowna ward rot und antwortete geärgert, daß sie es nur gut gemeint hätte, und daß sie für die Wohnung schon lange kein Geld erhalten habe. Katerina Iwanowna zeigte ihr sofort den ihr zukommenden Platz, indem sie sagte, daß Amalie Iwanowna lüge, wenn sie behaupte, es nur gut gemeint zu haben, weil sie schon gestern, als der Verstorbene noch auf der Bahre lag, sie wegen der Wohnungsmiete gequält habe. Darauf erwiderte Amalie Iwanowna mit großartiger Konsequenz, daß sie jene Damen eingeladen hätte, aber daß die Damen darum nicht gekommen seien, weil sie feine Damen seien und zu unfeinen Damen nicht gehen könnten. Katerina Iwanowna hielt ihr sofort unter die Nase, daß sie, solch ein Schmutzfink, gar nicht beurteilen könne, was in Wahrheit fein sei. Amalie Iwanowna konnte das nicht vertragen und erklärte sofort, daß „ihr Vater aus Berlin ein sehr, sehr wichtiger Mann gewesen sei, beide Hände in die Taschen gesteckt habe und immer nur – puff! puff! gemacht habe“! Und um ihren Vater augenscheinlicher vorzustellen, sprang Amalie Iwanowna vom Stuhle auf, steckte ihre beiden Hände in die Taschen, blies die Wangen auf und begann mit dem Munde unbestimmte Töne, die – puff! puff! ähnelten, hervorzubringen, unter lautem Lachen von allen Mietern, die Amalie Iwanowna absichtlich durch ihren Beifall reizten, weil sie eine Prügelei voraussahen. Jenes nun konnte wiederum Katerina Iwanowna nicht vertragen und sie sagte unverzüglich und laut, daß Amalie Iwanowna vielleicht nie einen Vater gehabt habe, daß Amalie Iwanowna einfach eine betrunkene Estin aus Petersburg sei und sicher irgendwo früher als Köchin gedient habe, vielleicht aber auch etwas schlimmeres gewesen sei. Amalie Iwanowna wurde krebsrot und kreischte, daß Katerina Iwanowna vielleicht keinen Vater gehabt habe, daß sie aber einen Vater aus Berlin gehabt und er einen langen Rock getragen und immer – puff! puff! – gemacht habe! Katerina Iwanowna bemerkte mit Verachtung, daß ihre Herkunft allen bekannt sei, und daß in diesem Ehrendiplom gedruckt sei, daß ihr Vater Oberst war, daß aber der Vater von Amalie Iwanowna – wenn sie überhaupt einen Vater gehabt habe – sicher ein Este aus Petersburg war und Milch verkauft habe; am wahrscheinlichsten aber sei, daß sie gar keinen Vater gehabt habe, weil es bis jetzt noch nicht festzustellen sei, wie der Vatername von Amalie Iwanowna laute, ob Iwanowna oder Ludwigowna? Da geriet Amalie Iwanowna ganz außer sich, schlug mit der Faust auf den Tisch, fing an zu kreischen, daß sie Amalie Iwanowna und nicht Ludwigowna heiße, daß der Name ihres Vaters Johann sei und daß er Dorfschulze gewesen war und daß der Vater von Katerina Iwanowna niemals Dorfschulze gewesen sei. Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhle und bemerkte streng, scheinbar mit ruhiger Stimme, – obwohl sie ganz bleich war und ihre Brust schwer atmete, – daß, wenn sie noch einmal wagen werde, ihren dreckigen Vater mit ihrem Papa auf gleiche Stufe zu stellen, sie ihr die Haube von ihrem Kopfe herunterreißen und mit den Füßen zertreten werde. Als Amalie Iwanowna das hörte, begann sie im Zimmer herumzulaufen und schrie aus allen Kräften, daß sie die Wirtin sei und daß Katerina Iwanowna sofort das Zimmer räumen solle; dann raffte sie die silbernen Löffel vom Tische zusammen. Es erhob sich ein Lärm und Getöse; die Kinder weinten. Ssonja stürzte zu Katerina Iwanowna hin, um sie zurückzuhalten, als aber Amalie Iwanowna etwas von „Sittenkontrolle“ schrie, stieß Katerina Iwanowna Ssonja von sich, eilte auf Amalie Iwanowna zu, um ihre Drohung bezüglich der Haube sofort wahr zu machen. In diesem Augenblicke öffnete sich die innere Tür und auf der Schwelle erschien Peter Petrowitsch Luschin. Er blieb stehen und warf einen strengen und aufmerksamen Blick auf die ganze Gesellschaft. Katerina Iwanowna stürzte zu ihm hin.
„Peter Petrowitsch!“ rief sie. „Schützen Sie mich! Sagen Sie dieser dummen Kreatur, daß sie eine gebildete Dame im Unglück nicht in dieser Weise behandeln dürfe, daß es ein Gericht gibt ... ich werde zu dem Generalgouverneur gehen ... Sie wird zur Verantwortung gezogen werden ... Gedenken Sie der Gastfreundschaft bei meinem Vater, schützen Sie die Waisen!“
„Erlauben Sie, meine Dame ... Erlauben Sie, erlauben Sie,“ wehrte Peter Petrowitsch ab. „Ich hatte gar nicht die Ehre, Ihren Herrn Vater gekannt zu haben, wie Sie wohl wissen werden ... erlauben Sie, meine Dame!“ Jemand lachte laut. „Und an Ihren ewigen Zänkereien mit Amalie Iwanowna teilzunehmen, habe ich nicht die Absicht ... Ich bin in eigener Angelegenheit hergekommen ... und möchte sofort mit Ihrer Stieftochter, Ssofja ... Iwanowna ... nicht wahr, so heißt sie ... sprechen. Erlauben Sie, daß ich zu ihr gehe ...“
Und Peter Petrowitsch machte einen kleinen Bogen um Katerina Iwanowna und ging in die entgegengesetzte Ecke, wo sich Ssonja befand.
Katerina Iwanowna blieb auf demselben Fleck stehen, wie vom Donner gerührt. Sie konnte nicht begreifen, wie Peter Petrowitsch die Gastfreundschaft ihres Papas leugnen konnte. Nachdem sie sich einmal dies in den Kopf gesetzt hatte, glaubte sie auch schon selber heilig und fest daran. Auch der geschäftliche, trockene Ton Peter Petrowitschs ... in dem Verachtung, ja etwas Drohendes lag, machte sie bestürzt. Bei seinem Erscheinen waren alle allmählich stiller geworden. Abgesehen davon, daß dieser „nüchterne und ernste“ Mensch von der ganzen Versammlung scharf abstach, merkte man, daß er aus einem wichtigen Anlasse hergekommen war, daß eine ungewöhnliche Ursache ihn solch eine Gesellschaft aufzusuchen veranlaßt hatte, und daß es jetzt wohl etwas geben werde. Raskolnikoff, der neben Ssonja stand, wich zur Seite, um Peter Petrowitsch vorbei zu lassen; Luschin schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Nach einem Augenblick erschien Lebesjätnikoff auf der Schwelle; er trat nicht in das Zimmer herein, sondern blieb mit einem besonderen Interesse dort stehen; er hörte zu, wie einer, der etwas nicht begreift.
„Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber es ist eine wichtige Angelegenheit,“ bemerkte Peter Petrowitsch im allgemeinen, „ich freue mich, ein größeres Publikum zu haben. Amalie Iwanowna, ich bitte Sie sehr, als Wirtin dieser Wohnung, mein folgendes Gespräch mit Ssofja Iwanowna aufmerksam anzuhören. Ssofja Iwanowna,“ fuhr er fort, sich direkt an die äußerst erstaunte und im voraus erschrockene Ssonja wendend, „von meinem Tische, in dem Zimmer meines Freundes Andrei Ssemenowitsch Lebesjätnikoff ist mit Ihrem Weggehen eine Reichsbanknote im Werte von hundert Rubel, die mir gehörte, verschwunden. Wenn Sie auf irgendeine Weise es wissen und uns zeigen, wo die Banknote sich jetzt befindet, so versichere ich Ihnen mit meinem Ehrenworte und rufe alle als Zeugen auf, daß die Sache damit erledigt sein wird. Im entgegengesetzten Falle werde ich gezwungen sein, sehr ernste Maßregeln zu ergreifen, und dann ... klagen Sie sich selbst an.“
Ein peinliches Schweigen trat im Zimmer ein. Sogar die weinenden Kinder verstummten. Ssonja stand totenblaß da, sah Luschin an und konnte nichts antworten. Sie schien ihn immer noch nicht zu verstehen. Es vergingen einige Sekunden.
„Nun, wie ist’s?“ fragte Luschin und blickte sie scharf an.
„Ich weiß nicht ... Ich weiß nichts ...“ sagte endlich Ssonja mit schwacher Stimme.
„Nicht? Sie wissen nichts?“ fragte Luschin sie noch einmal und schwieg wieder. „Denken Sie nach, Mademoiselle,“ begann er dann streng, aber als rede er ihr immer noch im Guten zu, „überlegen Sie es sich, ich bin bereit, Ihnen noch einige Zeit zum Überlegen zu geben. Sehen Sie, – wenn ich nicht so fest überzeugt wäre, so hätte ich selbstverständlich bei meiner Erfahrenheit nicht riskiert, Sie in dieser direkten Weise zu beschuldigen; denn für eine solche öffentliche und direkte, aber falsche oder nur auch irrtümliche Beschuldigung kann ich selbst zur Verantwortung gezogen werden. Ich weiß es. Heute Morgen wechselte ich, zu meinen eigenen Zwecken, einige fünfprozentige Staatspapiere in der nominellen Summe von dreitausend Rubel. Die Berechnung ist in meinem Notizbuche eingetragen. Nach Hause gekommen, begann ich, – mein Zeuge ist Andrei Ssemenowitsch, – das Geld zu zählen, und nachdem ich zweitausend und dreihundert Rubel aufgezählt hatte, steckte ich sie in meine Brieftasche und die Brieftasche in die Seitentasche meines Rockes. Auf dem Tische blieben fünfhundert Rubel in Banknoten liegen und unter ihnen drei Noten zu je hundert Rubel. In diesem Augenblick kamen Sie – auf meine Bitte hin – und die ganze Zeit waren Sie äußerst verlegen, so daß Sie dreimal mitten im Gespräch aufstanden und sich aus irgendeinem Grunde beeilten, fortzugehen, obgleich unsere Unterredung noch nicht beendet war. Andrei Ssemenowitsch kann dies alles bestätigen. Wahrscheinlich werden Sie selbst, Mademoiselle, nicht ablehnen, zuzugeben, daß ich Sie durch Andrei Ssemenowitsch nur aus dem einzigen Grunde rufen ließ, um mit Ihnen über die schlimme und hilflose Lage Ihrer Verwandten Katerina Iwanowna, zu der ich zum Gedächtnismahl nicht kommen konnte, zu sprechen und Ihnen vorzuschlagen, wie es von Nutzen wäre, zu ihren Gunsten irgend etwas, wie eine Sammlung, eine Verlosung oder ähnliches, zu veranstalten. Sie haben mir gedankt und sogar Tränen vergossen – ich erzähle alles, wie es war, um Sie erstens an alles zu erinnern, und zweitens, um Ihnen zu zeigen, daß meinem Gedächtnisse nicht das Geringste entschwunden ist. Darauf nahm ich vom Tische einen Zehnrubelschein und überreichte ihn Ihnen, als vorläufige Unterstützung für Ihre Verwandten. Das alles hat Andrei Ssemenowitsch gesehen. Dann begleitete ich Sie zur Türe, – Sie waren immer noch sehr verlegen. Ich blieb mit Andrei Ssemenowitsch allein, unterhielt mich mit ihm etwa zehn Minuten, und Andrei Ssemenowitsch ging bald hinaus. Ich wandte mich von neuem zu dem Tische, wo das Geld lag, mit der Absicht, es nachzuzählen und es, wie ich vorher schon beschlossen hatte, gesondert aufzuheben. Zu meiner Verwunderung fehlte von den übrigen eine Banknote von hundert Rubel. Bitte, überlegen Sie es sich, – Andrei Ssemenowitsch kann ich in keinem Falle in Verdacht haben, ich würde mich selbst bei diesem Gedanken schämen. Bei der Berechnung konnte ich mich auch nicht irren, denn eine Minute vor Ihrem Kommen hatte ich alles nachgezählt und die Summe richtig gefunden. Sie müssen selbst zugeben, daß, wenn ich Ihrer Verlegenheit, Ihrer Eile wegzugehen und des Umstandes denke, daß Sie die Hände eine Weile auf dem Tische hatten, und wenn ich schließlich Ihre gesellschaftliche Lage und die mit ihr verknüpften Gewohnheiten in Betracht zog, ich sozusagen zu meinem Entsetzen und gegen meinen Willen gezwungen war, bei diesem Verdachte stehen zu bleiben, – der sicher grausam, aber – gerechtfertigt ist! Ich füge hinzu und wiederhole, – daß trotz meiner ganzen klaren Überzeugung ich vollkommen verstehe, daß dennoch in meiner jetzigen Beschuldigung ein gewisses Risiko für mich liegt. Aber, ich habe es nicht unterlassen; ich bin gegen Sie aufgetreten und will Ihnen auch sagen warum, – einzig und allein, meine Dame, auf Grund Ihres schwärzesten Undankes! Wie? Ich fordere Sie aus Interesse für Ihre ärmste Verwandte auf, ich überlasse Ihnen eine meinen Kräften entsprechende Gabe von zehn Rubel, und Sie danken mir gleich darauf, auf der Stelle, für alles mit dieser Handlung! Nein, das ist nicht mehr schön! Eine Lehre ist notwendig! Denken Sie nach; noch mehr, ich bitte Sie, als Ihr aufrichtiger Freund, – denn einen besseren Freund können Sie in diesem Augenblicke nicht haben, – besinnen Sie sich! Sonst werde ich unbarmherzig sein! Nun, also!“
„Ich habe nichts von Ihnen genommen,“ – flüsterte Ssonja entsetzt, – „Sie gaben mir zehn Rubel, bitte, nehmen Sie sie wieder, hier.“
Ssonja zog ihr Taschentuch aus der Tasche hervor, suchte den Knoten, löste ihn, nahm einen Zehnrubelschein heraus und streckte ihn Luschin entgegen.
„Und die übrigen hundert Rubel wollen Sie nicht gestehen?“ – sagte er vorwurfsvoll und eindringlich, ohne den Schein zu nehmen.
Ssonja blickte ringsum. Alle schauten sie mit schrecklichen, strengen, spöttischen und haßerfüllten Gesichtern an. Sie blickte Raskolnikoff an ... er stand mit gekreuzten Armen an der Wand und sah sie mit einem brennenden Blick an.
„Oh, Gott!“ – entrang es Ssonja.
„Amalie Iwanowna, man muß die Polizei benachrichtigen, und darum bitte ich Sie sehr, vorläufig nach dem Hausknecht zu schicken,“ – sagte Luschin leise und freundlich.
„Gott der Barmherzige! Ich wußte, daß sie es gestohlen hat!“ – schlug Amalie Iwanowna die Hände zusammen.
„Sie wußten es?“ – fiel Luschin ein, – „also hatten Sie auch früher wenigstens gewisse Gründe, solches zu glauben. Ich bitte Sie, verehrteste Amalie Iwanowna, sich an Ihre Worte zu erinnern, die übrigens in Gegenwart von Zeugen ausgesprochen sind.“
Von allen Seiten erhob sich plötzlich lautes Reden. Alle rührten sich.
„Wie – wie!“ – rief plötzlich Katerina Iwanowna, zu sich gekommen, und stürzte zu Luschin, – „wie! Sie beschuldigen sie des Diebstahls? Ssonja? Ach, ihr Schufte, ihr Schufte!“
Und sie eilte zu Ssonja und umarmte sie fest mit ihren hageren Armen.
„Ssonja! Wie durftest du von ihm zehn Rubel nehmen! Oh, du Dumme! Gib sie her! Gib mir sofort diese zehn Rubel – da haben Sie sie!“
Katerina Iwanowna entriß Ssonja das Papier, zerknüllte es und warf es direkt Luschin ins Gesicht. Der Papierknäuel traf ihn ins Auge und fiel auf die Diele nieder. Amalie Iwanowna beeilte sich, das Geld aufzuheben. Peter Petrowitsch wurde böse.
„Halten Sie diese Verrückte!“ – rief er.
In diesem Augenblicke erschienen in der Türe neben Lebesjätnikoff noch einige Gesichter, zwischen denen auch die der beiden zugereisten Damen hervorguckten.
„Wie! Verrückt? Ich soll verrückt sein? Dummkopf!“ – schrie Katerina Iwanowna. – „Du bist selbst ein Dummkopf, du Rechtsverdreher, niederträchtiger Mensch! Ssonja, Ssonja soll von ihm Geld genommen haben! Ssonja soll eine Diebin sein! Sie wird dir noch Geld geben, Dummkopf!“ – Und Katerina Iwanowna lachte hysterisch. – „Habt ihr schon so einen dummen Kerl gesehen?“ – wandte sie sich nach allen Seiten und zeigte auf Luschin. – „Wie! Auch du!“ – sie erblickte die Wirtin, – „auch du, Wurstmacherin, bestätigst, daß sie gestohlen hat, du gemeines preußisches Hühnerbein in Krinoline! Ach, ihr! Ach, ihr! Ja, sie hat das Zimmer nicht verlassen, und als sie von dir, Schuft, zurückkam, hatte sie sich hier neben Rodion Romanowitsch hingesetzt! ... Untersucht sie doch! Wenn sie nirgendwo hingegangen war, muß doch das Geld bei ihr sein! Suche, suche, suche doch! Wenn du aber nichts findest, dann, lieber Freund, wirst du bestraft! Zu Seiner Majestät, zu Seiner Majestät, zum Zaren selbst laufe ich hin, werfe mich dem Barmherzigen zu Füßen, sofort, heute noch! Ich bin verwaist! Man wird mich zulassen! Du denkst, man wird mich nicht zu ihm lassen? Du lügst, ich komme hin! Ich komme zu ihm hin! Du hast darauf gerechnet, daß sie schüchtern ist? Du hast darauf gehofft? Ich aber, Bruder, bin dafür kühn! Du wirst dein Spiel verlieren! Suche doch! Suche, suche, nun suche doch!“
Und Katerina Iwanowna zerrte Luschin in Wut zu Ssonja.
„Ich bin bereit und trage die Verantwortung ... aber nehmen Sie sich zusammen, meine Dame, nehmen Sie sich zusammen. Ich sehe zu gut, daß Sie kühn sind! ... Das ... das ... das geht nicht an!“ – murmelte Luschin, – „das muß in Gegenwart der Polizei ... obwohl, übrigens, auch jetzt genügend Zeugen vorhanden sind ... Ich bin bereit ... Aber in jedem Falle ist es für einen Mann peinlich ... des Geschlechtes wegen ... Wenn Amalie Iwanowna helfen würde ... obwohl, übrigens, die Sache nicht so gehandhabt wird ... Das geht nicht an!“
„Wenn Sie wünschen! Mag wer da will sie untersuchen!“ – schrie Katerina Iwanowna. – „Ssonja, wende deine Taschen um! Da! da! Sieh, Scheusal, diese Tasche ist leer, hier lag das Taschentuch, die Tasche ist leer, siehst du! Da ist die andere Tasche, da, da! Siehst du! Siehst du!“
Und Katerina Iwanowna wandte, nein besser gesagt, riß die beiden Taschen, eine nach der anderen mit dem Futter hervor. Aber aus der zweiten, rechten Tasche sprang plötzlich ein Stück Papier hervor, beschrieb in der Luft einen Bogen und fiel zu den Füßen Luschins hin. Alle hatten es gesehen, manche schrien. Peter Petrowitsch bückte sich, hob das Stück Papier mit zwei Fingern von der Diele auf, hielt es so, daß alle sehen konnten und faltete es auseinander. Es war ein Hundertrubelschein, dreimal zusammengefaltet. Peter Petrowitsch umschrieb mit seiner Hand einen Bogen und zeigte allen den Schein.
„Diebin! Hinaus aus der Wohnung! Polizei, Polizei!“ – heulte Amalie Iwanowna, – „Sie müssen nach Sibirien! Hinaus!“
Von allen Seiten ertönten Ausrufe. Raskolnikoff schwieg, ohne die Augen von Ssonja abzuwenden, nur selten und schnell blickte er Luschin an. Ssonja stand auf derselben Stelle, wie bewußtlos, – sie schien nicht einmal verwundert zu sein. Plötzlich aber überzog eine Röte ihr ganzes Gesicht; sie schrie auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
„Nein, ich war es nicht! Ich habe nichts genommen! Ich weiß von nichts!“ – rief sie mit einem herzzerreißenden Schrei und stürzte zu Katerina Iwanowna.
Jene umfaßte sie und preßte sie fest an sich, als wolle sie mit eigener Brust sie vor allen schützen.
„Ssonja! Ssonja! Ich glaube es nicht! Siehst du, ich glaube es nicht!“ – rief Katerina Iwanowna, trotz des Augenscheins, und schüttelte sie in ihren Armen, wie ein Kind, küßte sie unzählige Male, erfaßte ihre Hände und küßte sie inbrünstig. – „Du sollst es genommen haben? Ja, wie dumm die Menschen sind! Oh, Gott! Ihr dummen, dummen Leute!“ – rief sie, sich an alle wendend, – „ja, ihr wißt noch gar nicht, ihr wißt nicht, was das für ein Herz, was das für ein Mädchen ist! Sie soll es genommen haben, sie! Ja, sie wird barfüßig gehen, sie wird ihr letztes Kleid ausziehen und es verkaufen, und euch es abgeben, wenn ihr es braucht, – so ist sie! Sie hat den gelben Schein genommen, weil meine, meine Kinder vor Hunger umkamen, sie hat sich unseretwegen verkauft! ... Ach, der Verstorbene, der Verstorbene! Siehst du? Siehst du? Da hast du deine Gedächtnisfeier! Oh, Gott! Ja, schützt sie doch, was steht ihr alle! Rodion Romanowitsch! Warum treten Sie nicht für sie ein? Glauben Sie auch etwa daran? Ihr seid ihres kleinen Fingers nicht wert, ihr alle, alle, alle! Oh, Gott! Schütze du sie doch endlich!“
Das Weinen der armen, schwindsüchtigen, verlassenen Katerina Iwanowna schien einen starken Eindruck auf alle Anwesenden gemacht zu haben. Es war so viel Klägliches, so viel Leidendes in diesem vor Schmerz verzogenen, eingetrockneten, schwindsüchtigen Gesichte, in diesen geborstenen, blutbedeckten Lippen, in dieser heiser schreienden Stimme, in diesem Schluchzen und Weinen, das dem Weinen von Kindern glich, in diesem vertrauensvollen, kindlichen und gleichzeitig verzweifelten Flehen um Schutz, daß alle die Unglückliche zu bedauern schienen. Sogar Peter Petrowitsch schien es sofort leid zu tun.
„Meine Dame! Meine Dame!“ – rief er mit eindringlicher Stimme, – „Sie berührt diese Tatsache nicht! Niemand wird es wagen, Sie der Absicht oder der Teilnahme zu beschuldigen, um so mehr, als Sie es selbst entdeckt haben, indem Sie die Tasche umwandten, – Sie haben dies nicht vorausgesehen. Ich bin bereit, es sehr, sehr zu bedauern, sollte die äußerste Armut Ssofja Ssemenowna dazu bewogen haben, aber warum wollten Sie, Mademoiselle, es nicht eingestehen? Fürchten Sie die Schande? Der erste Schritt? Sie sind wahrscheinlich bestürzt? Es ist begreiflich, sehr begreiflich ... Aber warum läßt man sich auf solche Sachen ein! Meine Herrschaften!“ wandte er sich an alle Anwesenden, – „meine Herrschaften! Weil ich Bedauern und Mitleid habe, bin ich bereit, es sogar jetzt, trotz der empfangenen persönlichen Beleidigungen, zu verzeihen. Möge Ihnen, Mademoiselle, die jetzige Schande als eine Lehre für die Zukunft dienen,“ – wandte er sich an Ssonja, – „ich aber unterlasse alle weiteren Schritte und erledige hiermit die Sache. Genug!“
Peter Petrowitsch blickte Raskolnikoff von der Seite an. Ihre Blicke trafen sich. Der flammende Blick Raskolnikoffs wollte ihn zu Asche verbrennen. Katerina Iwanowna schien nichts mehr gehört zu haben, sie umarmte und küßte Ssonja wie wahnsinnig. Auch die Kinder hatten Ssonja von allen Seiten mit ihren Händchen umfaßt und Poletschka, die nicht ganz verstand, was vor sich ging, schien vollkommen in Tränen zu ertrinken, sie krümmte sich vor lauter Schluchzen und verbarg ihr hübsches, von Tränen geschwollenes Gesichtchen an Ssonjas Schulter.
„Ist das gemein!“ – ertönte plötzlich eine laute Stimme in der Türe.
Peter Petrowitsch blickte sich schnell um.
„Welch eine Gemeinheit!“ – wiederholte Lebesjätnikoff und blickte ihm unverwandt in die Augen. Peter Petrowitsch zuckte zusammen. Alle hatten es bemerkt. Nachher erinnerten sie sich dessen. Lebesjätnikoff trat in das Zimmer.
„Und Sie haben es gewagt, mich als Zeugen anzurufen?“ – sagte er und trat an Peter Petrowitsch heran.
„Was bedeutet das, Andrei Ssemenowitsch? Worüber sprechen Sie?“ – murmelte Luschin.
„Das bedeutet, daß Sie ... ein Verleumder sind, das bedeuten meine Worte!“ – sagte Lebesjätnikoff eifrig und blickte ihn streng mit seinen kurzsichtigen, kleinen Augen an.
Er war furchtbar böse. Raskolnikoff starrte ihn an, als fange er jedes Wort auf. Wieder trat ein Schweigen ein. Peter Petrowitsch war bestürzt, besonders im ersten Momente.
„Wenn Sie mir ...“ – begann er stotternd, – „ja, was ist mit Ihnen? Sind Sie bei Verstand?“
„Ich bin bei Verstand, Sie aber sind ... ein Gauner! Ach, wie ist das gemein! Ich hörte die ganze Zeit zu, ich wartete immer absichtlich, um alles zu verstehen, denn offen gestanden, alles ist mir bis jetzt noch nicht ganz klar ... Aber warum haben Sie dies alles getan – ich verstehe es nicht!“
„Ja, was habe ich denn getan? Hören Sie doch auf, in Ihren unsinnigen Rätseln zu sprechen! Oder haben Sie vielleicht zu viel getrunken?“
„Sie gemeiner Mensch, Sie trinken vielleicht, ich nicht. Ich trinke nicht mal Schnaps, weil es gegen meine Überzeugungen ist. Denken Sie sich, er selbst hat mit eigenen Händen diesen Hundertrubelschein Ssofja Ssemenowna gegeben, – ich habe es gesehen, war Zeuge, ich kann es beschwören! Er, er hat es getan!“ – wiederholte Lebesjätnikoff, sich an alle und jeden einzelnen wendend.
„Sind Sie verrückt geworden oder nicht, Sie Milchbart?“ – kreischte Luschin, – „sie hat doch selbst in Ihrer Gegenwart ... sie hat doch selbst soeben in Gegenwart aller bestätigt, – daß sie außer den zehn Rubel nichts von mir erhalten hat. Wie konnte ich es denn ihr überreichen?“
„Ich habe es gesehen, ich habe es gesehen!“ – rief Lebesjätnikoff, – „und obwohl es gegen meine Überzeugungen ist, bin ich doch bereit, gleich vor Gericht jeden beliebigen Eid zu leisten, denn ich habe es gesehen, wie er ihn ihr heimlich zusteckte! Ich Dummkopf aber dachte, daß Sie es ihr aus gutem Herzen zusteckten! Während Sie sich von ihr an der Türe verabschiedeten, als sie sich umwandte und Sie ihr die eine Hand reichten, steckten Sie mit der anderen, mit der linken Hand ihr heimlich das Papier in die Tasche hinein. Ich habe es gesehen! Ich habe es gesehen!“
Luschin erbleichte.
„Was lügen Sie da vor!“ – rief er ihm frech zu, – „ja, und wie konnten Sie vom Fenster aus das Papier bemerken! Sie haben es geträumt ... Sie, mit Ihren kurzsichtigen Augen. Sie phantasieren!“
„Nein, ich habe es nicht geträumt! Und obwohl ich weit stand, habe ich alles, alles gesehen, und obgleich man vom Fenster aus tatsächlich schwer ein Stück Papier unterscheiden kann, – hier sagen Sie die Wahrheit, – wußte ich doch bestimmt, daß es ein Hundertrubelschein war, denn als Sie Ssofja Ssemenowna den Zehnrubelschein gaben, – ich habe es selbst gesehen, – nahmen Sie gleichzeitig vom Tische einen Hundertrubelschein. Ich habe es gesehen, weil ich in diesem Augenblicke in der Nähe war und weil mir sofort dabei ein Gedanke durch den Sinn fuhr, weiß ich genau, daß Sie diesen Schein in der Hand hielten. Sie haben ihn zusammengefaltet und hielten ihn die ganze Zeit in der Faust. Ich vergaß es später, als Sie aber aufstanden, legten Sie den Schein aus der rechten in die linke Hand und ließen ihn beinahe fallen; da besann ich mich darauf, weil mir wieder derselbe Gedanke durch den Sinn fuhr, und zwar, daß Sie heimlich ihr eine Wohltat erweisen wollen. Sie können sich vorstellen, wie ich nun beobachtete, – und da sah ich auch, wie es Ihnen glückte, ihn in ihre Tasche zu stecken. Ich habe es gesehen, habe es gesehen und werde schwören!“ Lebesjätnikoff geriet fast außer Atem. Von allen Seiten ertönten allerhand Ausrufe, die meistens Erstaunen bedeuteten, aber in manchen brach auch ein drohender Ton durch. Alle drängten sich um Peter Petrowitsch. Katerina Iwanowna stürzte zu Lebesjätnikoff hin.
„Andrei Ssemenowitsch! Ich habe mich in Ihnen geirrt! Schützen Sie sie! Sie allein treten für sie ein! Sie ist eine Waise, Gott hat Sie gesandt! Andrei Ssemenowitsch, mein Lieber, Väterchen!“
Und Katerina Iwanowna, fast ganz außer sich, warf sich vor ihm auf die Knie hin.
„Blödes Zeug!“ – brüllte Luschin, rasend vor Wut, – „Sie reden blödes Zeug, mein Herr ... ‚Ich vergaß es, besann mich, vergaß‘ – was soll das heißen! Also, ich soll ihr den Schein absichtlich zugesteckt haben? Wozu? Zu welchem Zwecke? Was habe ich gemein mit dieser ...“
„Wozu? Das ist es ja, was ich selbst nicht begreife, das aber ist sicher, daß ich die Wahrheit erzähle! Ich irre mich nicht, Sie niederträchtiger Mensch, Sie Verbrecher; ich entsinne mich, daß mir sofort damals die Frage in den Sinn kam, und zwar, als ich Ihnen dankte und Ihnen die Hand drückte. Warum haben Sie es ihr heimlich in die Tasche gesteckt? Das heißt warum heimlich? Vielleicht bloß aus dem Grunde, weil Sie es vor mir verbergen wollten, da Sie wissen, daß ich entgegengesetzter Ansicht bin und die Privatwohltätigkeit, als nicht radikal heilend, verneine? Nun, und ich kam zu der Überzeugung, daß Sie sich in der Tat vor mir schämen, solch einen Haufen Geld fortzugeben, und außerdem meinte ich, daß Sie ihr vielleicht eine Überraschung bereiten und sie in Staunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche volle hundert Rubel finden wird. Denn manche Wohltäter lieben es sehr, ihre Wohltaten so anzubringen, – das weiß ich. Ich dachte auch, daß Sie sie auf die Probe stellen wollen, das heißt, ob sie, wenn sie es gefunden hat, kommen würde, um sich zu bedanken! Ich hatte auch den Gedanken, daß Sie jeden Dank vermeiden möchten, damit ... nun, wie man es sagt ... damit die rechte Hand nicht wüßte ... kurz, wie man es sagt ... Nun, mir kamen so viele Gedanken in den Sinn, daß ich beschloß, mir alles nachher genauer zu überlegen, ich hielt es auch für unzart, Ihnen zu zeigen, daß ich Ihr Geheimnis kenne. Mir kam aber der Gedanke, daß Ssofja Ssemenowna möglicherweise das Geld verlieren könnte, ehe sie es selbst bemerkt hat. Darum beschloß ich, hierher zu kommen, sie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr einen Hundertrubelschein in ihre Tasche gesteckt hat. Auf dem Wege hierher ging ich zuerst in das Zimmer der Damen Kobyljätnikoff hinein, um ihnen die ‚allgemeinen Ergebnisse der positiven Methode‘ zu überbringen und ihnen besonders den Artikel von Piderit – übrigens auch von Wagner – zu empfehlen. Ich kam dann hierher, und hier ist diese schlimme Geschichte passiert. Sagen Sie, konnte ich, konnte ich alle diese Gedanken und Erwägungen gehabt haben, wenn ich tatsächlich nicht gesehen hätte, daß Sie ihr hundert Rubel in die Tasche gesteckt haben?“
Als Andrei Ssemenowitsch seine langatmige Rede mit so einem logischen Abschluß beendet hatte, war er furchtbar ermüdet, und von seinem Gesichte rann der Schweiß. Er konnte nicht einmal ordentlich russisch sprechen, – ohne jedoch eine andere Sprache zu kennen, – so daß er mit einem Male vollkommen erschöpft und nach seiner Advokatentat ganz bleich war. Trotzdem hatte seine Rede eine außerordentliche Wirkung. Er hatte mit solch einer Heftigkeit und solch einer Überzeugung gesprochen, daß ihm alle offensichtlich glaubten. Peter Petrowitsch fühlte, daß seine Sache schlecht stehe.
„Was geht es mich an, daß Ihnen allerhand dumme Fragen in den Kopf gekommen sind,“ – rief er aus. – „Das ist kein Beweis! Sie konnten dies alles im Schlafe geträumt haben, das ist das ganze! Und ich sage Ihnen, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Wut, und zwar aus Ärger, weil ich nicht bereit war, auf Ihre freigeistigen und gottlosen sozialen Ideen einzugehen, das ist es!“
Aber diese Ausrede nützte Peter Petrowitsch nicht. Im Gegenteil, von allen Seiten vernahm man mißbilligendes Gemurmel.
„Ah, damit kommst du!“ – rief Lebesjätnikoff. – „Du lügst! Laß die Polizei holen, ich werde schwören! Eins kann ich bloß nicht begreifen, – warum hat er so eine gemeine Handlung riskiert! Oh, gemeiner, niederträchtiger Mensch!“
„Ich kann es erklären, warum er diese Handlung riskiert hat, und wenn es nötig ist, werde auch ich einen Eid ablegen!“ – sagte endlich Raskolnikoff mit fester Stimme und trat hervor.
Er schien fest und ruhig. Allen wurde es klar bei seinem Anblicke, daß er tatsächlich wußte, um was es sich handle, und daß es zu einer Lösung gekommen war.
„Jetzt ist mir alles vollkommen klar,“ – fuhr Raskolnikoff fort und wandte sich an Lebesjätnikoff. – „Gleich am Anfange der Geschichte hatte ich den Verdacht, daß irgendein gemeiner Kniff dahinter stecke; ich schöpfte ihn infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir allein bekannt sind, und die ich sogleich allen erklären will, – um sie dreht sich auch die ganze Sache. Sie, Andrei Ssemenowitsch, haben durch Ihr wertvolles Zeugnis mir alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle zuzuhören. Dieser Herr,“ – er zeigte auf Luschin, – „freite vor kurzem um ein junges Mädchen, und zwar um meine Schwester, Awdotja Romanowna Raskolnikowa. Nach seiner Ankunft in Petersburg hatte er sich vorgestern bei unserem ersten Zusammentreffen mit mir überworfen, und ich habe ihn hinausgejagt, ich habe zwei Zeugen dafür. Dieser Mensch ist sehr boshaft ... Vorgestern wußte ich noch gar nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrei Ssemenowitsch, lebt, und daß er an demselben Tage, wo wir uns überworfen hatten, das heißt vorgestern, Zeuge war, wie ich, als Freund des verstorbenen Herrn Marmeladoff, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas Geld zur Beerdigung übergab. Er schrieb sofort an meine Mutter einen Brief und teilte ihr mit, daß ich das Geld nicht Katerina Iwanowna, sondern Ssofja Ssemenowna abgegeben hätte, wobei er in den niederträchtigsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja Ssemenownas sich äußerte, das heißt über die Art meiner Beziehungen zu Ssofja Ssemenowna. Dies alles tat er, wie Sie verstehen, in der Absicht, mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen glaubhaft zu machen suchte, daß ich zu unanständigen Zwecken ihr letztes Geld, mit dem sie mich unterstützten, verprasse. Gestern abend stellte ich, in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seiner Anwesenheit, die Wahrheit fest, ich bewies, daß ich das Geld Katerina Iwanowna zur Beerdigung und nicht Ssofja Ssemenowna überreicht habe, und daß ich vorgestern mit Ssofja Ssemenowna noch nicht bekannt war und sie sogar zum erstenmal gesehen habe. Dabei fügte ich hinzu, daß er, Peter Petrowitsch Luschin, mit allen seinen Vorzügen nicht mal des kleinen Fingers von Ssofja Ssemenowna, über die er sich so schlecht geäußert habe, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemenowna neben meine Schwester hinsetzen würde, – antwortete ich, daß ich es bereits am selben Tage getan hätte. Da er darüber böse wurde, daß meine Mutter und Schwester auf seine Verleumdungen hin sich mit mir nicht überwerfen wollten, begann er ihnen unverzeihliche Frechheiten zu sagen. Es kam zu einem endgültigen Bruche und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles war gestern abend vorgefallen. Ich bitte Sie jetzt um besondere Aufmerksamkeit, – stellen Sie sich vor, wäre es ihm jetzt gelungen, Ssofja Ssemenowna des Diebstahls zu überführen, so hätte er doch damit meiner Schwester und Mutter bewiesen, erstens, daß er recht hatte mit seinen Verdächtigungen; zweitens, daß er mit vollkommenem Rechte darüber böse wurde, weil ich meine Schwester und Ssofja Ssemenowna auf gleiche Stufe gestellt habe, und drittens, daß er mit seinem Angriffe auf mich die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und in Schutz nahm. Mit einem Worte, er konnte mich durch dieses alles mit meinen Verwandten entzweien, und hoffte sicher, dadurch wieder bei ihnen zu Gnaden zu kommen. Ich rede schon gar nicht davon, daß er zugleich an mir persönlich Rache nahm, weil er Gründe hat anzunehmen, daß die Ehre und das Glück Ssofja Ssemenownas mir teuer sind. Das war seine ganze Berechnung! In dieser Weise fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze Grund, und einen anderen kann es nicht geben!“
So etwa schloß Raskolnikoff seine Rede, oft durch Ausrufe der Anwesenden unterbrochen, die sehr aufmerksam zuhörten. Aber trotz der Unterbrechungen sprach er scharf, ruhig, genau, klar und entschlossen. Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht machten auf alle einen ungewöhnlichen Eindruck.
„Ja, so wird es gewesen sein, ja, so ist es!“ – pflichtete Lebesjätnikoff entzückt bei. – „Es muß richtig sein, denn er hat mich gerade gefragt, als Ssofja Ssemenowna zu uns ins Zimmer eintrat, – ob Sie hier wären? Ob ich Sie unter den Gästen von Katerina Iwanowna nicht gesehen hätte? Er rief mich aus diesem Grunde zum Fenster und fragte mich dort leise. Also war es für ihn von Wichtigkeit, daß Sie da sind! Das ist richtig, das stimmt!“
Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Er war aber sehr blaß geworden. Es schien, als überlege er sich, wie er sich aus der Affäre ziehen könne. Er hätte vielleicht gern alles mit Vergnügen im Stiche gelassen und wäre fortgegangen, aber es war unmöglich; es wäre gleichbedeutend gewesen mit einer Anerkennung der Wahrheit der angeführten Beschuldigung, daß er Ssofja Ssemenowna verleumdet hatte. Die Anwesenden waren zudem etwas angetrunken und zu erregt. Der Proviantmeister, der zwar nicht alles verstanden hatte, schrie am meisten und schlug einige für Luschin ziemlich peinliche Maßregeln vor. Es waren aber auch nicht Angetrunkene darunter; aus allen Zimmern hatten sich Menschen eingefunden. Die drei Polen waren furchtbar aufgebracht und riefen in einem fort „Pane Strolch!“ ihm zu, wobei sie noch einige Drohungen in polnischer Sprache murmelten. Ssonja hörte mit Anstrengung zu, aber sie schien nicht alles zu begreifen, es war, als erwache sie aus einer Ohnmacht. Sie wendete ihre Augen nicht von Raskolnikoff ab, sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete schwer und heiser und schien schrecklich erschöpft zu sein. Am allerdümmsten stand Amalie Iwanowna da mit offenem Munde und begriff gar nichts. Sie begriff bloß, daß Peter Petrowitsch irgendwie ertappt sei. Raskolnikoff bat wieder ums Wort, aber man ließ ihn nicht zu Ende reden, – alle schrien und drängten sich mit Geschimpfe und Drohungen um Luschin. Ihm aber wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der Beschuldigung Ssonjas vollständig verspielt sei, ergriff er seine Zuflucht zur Dreistigkeit.
„Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie nicht so, lassen Sie mich durchgehen!“ – sagte er und zwängte sich durch die Menge hindurch, – „und tun Sie mir den Gefallen und drohen Sie nicht. Ich versichere Sie, daß daraus nichts wird, daß Sie nichts tun werden, ich bin nicht von den Ängstlichen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie werden noch zur Verantwortung gezogen dafür, daß Sie durch Gewalt eine Kriminalsache vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und ich werde sie gerichtlich belangen. Im Gerichte ist man nicht so blind und ... nicht betrunken, und wird nicht gleich zwei abgefeimten Gottesleugnern, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus persönlicher Rache beschuldigen, was sie selbst in ihrer Dummheit zugeben ... Erlauben Sie!“
„Scheren Sie sich aus meinem Zimmer, ziehen Sie sofort aus. Zwischen uns ist alles aus! Und wenn ich denke, wie ich mich angestrengt und bemüht habe, ihm alles erklärt habe ... volle zwei Wochen ...“
„Ich habe Ihnen, Andrei Ssemenowitsch, doch vorhin selbst gesagt, daß ich ausziehe, als Sie mich noch baten zu bleiben. Jetzt will ich bloß hinzufügen, daß Sie ein dummer Kerl sind. Ich wünsche Ihnen Ihren Verstand und Ihre halbblinden Augen zu kurieren. Erlauben Sie, meine Herrschaften!“
Er drängte sich durch, aber der Proviantmeister wollte ihn nicht so leichten Kaufes, bloß mit Schimpfwörtern, herauslassen, – er ergriff vom Tische ein Glas, holte aus und schleuderte es gegen Peter Petrowitsch, doch das Glas traf Amalie Iwanowna. Sie kreischte auf, der Proviantmeister verlor das Gleichgewicht und fiel schwer unter den Tisch. Peter Petrowitsch ging in sein Zimmer, und nach einer halben Stunde hatte er das Haus verlassen. Ssonja, schüchtern von Natur, wußte es längst, daß man sie leichter als jeden anderen zugrunde richten konnte, und daß jeder sie fast straflos beleidigen durfte. Trotzdem aber glaubte sie bis zu diesem Augenblick, daß man einem Unglück irgendwie, durch Vorsicht, Sanftmut, Nachgiebigkeit allen und jedem einzelnen gegenüber entgehen konnte. Ihre Enttäuschung war zu schwer. Sie konnte gewiß mit Geduld und ohne zu murren alles, – auch dies letzte ertragen. Aber im ersten Augenblicke war es ihr doch zu schwer gefallen. Trotz ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, – als der erste Schreck und die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles deutlich und klar verstanden hatte, – schnürte das Gefühl der Hilflosigkeit und Kränkung ihr qualvoll das Herz zusammen. Sie bekam einen nervösen Anfall und hielt es nicht länger aus, stürzte aus dem Zimmer und lief nach Hause. Das geschah fast unmittelbar, nachdem Luschin fortgegangen war. Als Amalie Iwanowna unter lautem Lachen der Anwesenden von dem Glase getroffen wurde, – hatte sie genug davon, nur für andere zu büßen. Mit Gekreisch stürzte sie wie wahnsinnig auf Katerina Iwanowna zu und maß ihr die Schuld an allem bei.
„Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!“ – und mit diesen Worten begann sie alles, was ihr von den Sachen Katerina Iwanownas unter die Hände kam, auf die Diele zu werfen.
Katerina Iwanowna, ohnedem fast halbtot und einer Ohnmacht nahe, sprang vom Bette, auf das sie in völliger Ermattung hingesunken war, schweratmend und bleich auf und stürzte sich auf Amalie Iwanowna. Der Kampf aber war zu ungleich; die letztere stieß sie, wie eine Feder, von sich.
„Wie! Nicht genug, daß man mich gottlos verleumdet hat, – auch diese Kreatur ist gegen mich! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt man mich, nach meinem Festmahl, mit den Waisen auf die Straße hinaus! Ja, wohin soll ich denn!“ – sagte die arme Frau mit Schluchzen und beinahe erstickend. – „Oh, Gott!“ – rief sie plötzlich mit funkelnden Augen, – „gibt es denn keine Gerechtigkeit! Wen sollst Du denn schützen, wenn nicht uns verlassene Waisen? Aber wir wollen mal sehen? Es gibt noch in der Welt Recht und Wahrheit, es gibt sie noch, und ich will sie finden! Warte, du gottlose Kreatur! Poletschka, bleibe bei den Kindern, ich komme bald zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der Straße! Wir wollen sehen, ob es in der Welt Gerechtigkeit gibt!“
Katerina Iwanowna warf dasselbe grüne große Umlegetuch über den Kopf, das der verstorbene Marmeladoff in seiner Erzählung erwähnt hatte, drängte sich durch die unordentliche und betrunkene Menge der Mieter, die noch immer das Zimmer anfüllten, und lief mit Geheul und unter Tränen auf die Straße hinaus, – mit der unbedingten Absicht, irgendwo sofort, unverzüglich und um jeden Preis Gerechtigkeit zu finden. Poletschka verkroch sich voller Angst mit den Kindern in einer Ecke; sie umschlang, am ganzen Körper zitternd, die beiden Kleinen und begann die Rückkehr der Mutter zu erwarten. Amalie Iwanowna lief aufgeregt im Zimmer herum, kreischte, klagte, schleuderte alles, was ihr in den Weg kam, auf die Diele und lärmte. Die Mieter schrien durcheinander, – einige besprachen das Geschehene, wie sie es verstanden, andere zankten sich und schimpften, einige wieder stimmten ein Lied an ...
„Jetzt muß ich auch gehen!“ – dachte Raskolnikoff. – „Nun, Ssofja Ssemenowna, wir wollen sehen, was Sie jetzt sagen werden!“
Und er ging nach Ssonjas Wohnung.
Raskolnikoff war ein tüchtiger und mutiger Fürsprecher Ssonjas gegen Luschin gewesen, trotzdem so viel eigener Schrecken und eigenes Leid auf seiner Seele lasteten. Weil er aber am Morgen so stark gelitten hatte, so war er gewissermaßen froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich wurden, zu ändern, ganz abgesehen davon, wieviel Persönliches und Herzliches in seinem Bestreben lag, für Ssonja einzutreten. Außerdem ging ihm die bevorstehende Zusammenkunft mit Ssonja nicht aus dem Sinn und beunruhigte ihn in manchen Augenblicken furchtbar, – er mußte ihr sagen, wer Lisaweta ermordet hat, fühlte die schreckliche Qual im voraus und suchte sich ihrer zu erwehren. Als er die Wohnung Katerina Iwanownas verließ und ausrief: – „Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja Ssemenowna?“ – da befand er sich offenbar noch in einem äußerlich erregten Zustande der Rüstigkeit und Kampflust, der Freude über den eben errungenen Sieg. Aber das hielt nicht vor. Als er die Wohnung von Kapernaumoff erreicht hatte, empfand er eine plötzliche Erschlaffung und Furcht. Er blieb in Gedanken vor der Türe stehen und legte sich die sonderbare Frage vor, – „muß ich denn sagen, wer Lisaweta ermordet hat?“ Die Frage war sonderbar, denn er fühlte doch zugleich, daß es gesagt werden müsse, und jetzt gleich ohne den geringsten Aufschub. Er wußte selber nicht, warum; aber er fühlte es, und dieses qualvolle Bewußtsein seiner Schwäche der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn fast. Um nicht mehr zu überlegen und sich nicht mehr zu quälen, öffnete er schnell die Türe und schaute Ssonja von der Schwelle aus an. Sie saß auf den Tisch gestützt und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt; als sie Raskolnikoff erblickte, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen, als hätte sie ihn erwartet.
„Was wäre aus mir geworden ohne Sie!“ – sagte sie hastig, als sie in der Mitte des Zimmers mit ihm zusammentraf.
Offenbar hatte sie ihn erwartet, um ihm dies zu sagen.
Raskolnikoff ging zu dem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, von dem sie soeben aufgestanden war. Sie blieb zwei Schritte vor ihm stehen, genau wie gestern.
„Nicht wahr, Ssonja?“ – sagte er und fühlte plötzlich, daß seine Stimme zittere, – „die ganze Sache beruhte doch auf ‚der gesellschaftlichen Lage und auf den damit zusammenhängenden Gewohnheiten‘. Haben Sie es vorhin verstanden?“
Tiefes Leid zeigte sich auf ihrem Gesichte.
„Sprechen Sie nicht mit mir, wie gestern!“ – unterbrach sie ihn. – „Bitte, fangen Sie nicht an. Es ist schon genug Qual ...“
Sie lächelte schnell, aus Angst, daß ihm vielleicht der Vorwurf mißfallen könnte.
„Es war dumm von mir, von dort wegzugehen. Was mag jetzt dort geschehen? Ich wollte soeben wieder hingehen, aber ich dachte, daß Sie vielleicht ... kommen werden.“
Er erzählte ihr, daß Amalie Iwanowna sie aus der Wohnung jage, und daß Katerina Iwanowna fortgelaufen sei, „Gerechtigkeit zu suchen“.
„Ach, mein Gott!“ – erschrak Ssonja, – „gehen wir schnell hin ...“
Und sie ergriff ihre Mantille.
„Ewig ein und dasselbe!“ – rief Raskolnikoff gereizt, – „Sie denken bloß immer an die! Bleiben Sie bei mir.“
„Und ... Katerina Iwanowna?“
„Katerina Iwanowna wird Ihnen sicher nicht entgehen, sie wird selbst zu Ihnen kommen, wenn sie schon einmal das Haus verlassen hat,“ – fügte er mürrisch hinzu. – „Wenn sie Sie nicht zu Hause antrifft, werden Sie doch wieder daran schuld sein ...“
Ssonja setzte sich in qualvoller Unentschlossenheit auf einen Stuhl. Raskolnikoff schwieg, blickte zu Boden und überlegte.
„Angenommen, Luschin habe es jetzt nicht gewollt,“ – begann er, ohne Ssonja anzublicken. – „Wie, wenn er es gewollt hätte oder wenn es irgendwie in seinen Absichten gelegen wäre, – so hätte er Sie ins Gefängnis gebracht, wenn nicht ich und Lebesjätnikoff zufällig dagewesen wären! Nicht?“
„Ja,“ – antwortete sie mit schwacher Stimme, – „ja!“ – wiederholte sie zerstreut und voll Unruhe.
„Ich konnte doch wirklich verhindert sein! Und Lebesjätnikoff kam ganz zufällig hinzu.“
Ssonja schwieg.
„Nun, und wenn Sie ins Gefängnis gekommen wären, was dann? Erinnern Sie sich, was ich gestern sagte?“
Sie antwortete wieder nicht. Raskolnikoff wartete eine Weile.
„Ich dachte, Sie würden wieder schreien, – ‚ach, sprechen Sie nicht, hören Sie auf!‘“ – lachte Raskolnikoff, scheinbar gezwungen. – „Was, Sie schweigen wieder?“ – fragte er nach einem Augenblick. – „Man muß doch über etwas reden! Mir wäre es interessant zu erfahren, wie Sie jetzt eine ‚Frage‘, wie Lebesjätnikoff sagt, lösen würden.“ – Er schien den Faden zu verlieren. – „Nein, ich spreche in allem Ernst. Stellen Sie sich vor, Ssonja, daß Sie alle Absichten Luschins im voraus gewußt hätten, Sie hätten gewußt, daß dadurch Katerina Iwanowna und auch die Kinder völlig zugrunde gehen würden, auch Sie, als Dreingabe, – Sie selber rechnen sich ja nicht, drum sage ich als Dreingabe zu jenen. Poletschka ebenfalls ... denn ihr steht derselbe Weg bevor. Nun, also, – wenn man Ihnen plötzlich dies alles zur Entscheidung übergeben hätte, – soll er oder sollen jene am Leben bleiben, das heißt, soll Luschin am Leben bleiben und Scheußlichkeiten vollziehen oder soll Katerina Iwanowna sterben? Wie würden Sie entscheiden, wer von den beiden sollte sterben? Ich frage Sie!“
Ssonja blickte ihn unruhig an, – sie ahnte etwas besonderes in dieser unsicheren, weit ausgeholten Rede.
„Ich hatte ein Vorgefühl, daß Sie so etwas fragen werden,“ – sagte sie und sah ihn forschend an.
„Gut; mag sein, aber, wie soll es entschieden werden?“
„Warum fragen Sie, was unmöglich zu beantworten ist?“ – sagte Ssonja mit Widerwillen.
„Also, es ist besser, daß Luschin weiterlebt und Scheußlichkeiten verübt! Auch dieses haben Sie nicht gewagt zu entscheiden?“
„Ja, ich kenne doch die Vorsehung Gottes nicht ... Und warum fragen Sie, was man nicht fragen darf? Wozu solche leere Fragen? Wie kann es vorkommen, daß dieses von meiner Entscheidung abhängen soll? Und wer hat mich hier zum Richter bestellt, wer leben soll und wer nicht leben soll?“
„Wenn Gottes Vorsehung schon mitredet, da ist freilich nichts zu machen,“ – brummte Raskolnikoff finster.
„Sagen Sie besser offen, was Sie wollen!“ – rief Ssonja gramvoll aus. – „Sie haben wieder etwas im Sinn ... Sind Sie etwa nur gekommen, um mich zu quälen?“
Sie hielt es nicht aus und weinte plötzlich bitter. Er sah sie mit düsterer Schwermut an. Es verging eine geraume Weile.
„Du hast recht, Ssonja,“ – sagte er endlich leise.
Er war plötzlich verändert; der gemachte dreiste und kraftlos herausfordernde Ton war verschwunden. Selbst seine Stimme war schwächer geworden. „Ich habe dir selbst gestern gesagt, daß ich kommen werde, nicht um Verzeihung zu bitten, habe aber beinahe schon damit begonnen ... Von Luschin und Gottes Vorsehung habe ich meinetwegen gesprochen ... Ich habe damit um Verzeihung bitten wollen, Ssonja ...“
Er wollte lächeln, aber er brachte es nur zu einem kraftlosen und wehen Versuch. Er ließ den Kopf sinken und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Da zog in sein Herz ein eigentümliches Gefühl, wie das eines brennenden Hasses gegen Ssonja. Selber betroffen und erschrocken über dieses Gefühl, erhob er plötzlich den Kopf und blickte sie aufmerksam an, aber er begegnete ihrem unruhigen und qualvoll besorgten Blicke; und vor der Liebe in diesem Blick verschwand sein Haß wie ein Gespenst. Es war nicht also das; er hatte das eine Gefühl für das andere gehalten. Das bedeutete bloß, daß der Augenblick gekommen war.
Wieder bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und senkte den Kopf. Plötzlich erbleichte er, stand vom Stuhle auf, sah Ssonja an und setzte sich, ohne ein Wort gesagt zu haben, mechanisch auf ihr Bett hin.
Dieser Moment war in seiner Empfindung jenem schrecklich ähnlich, als er hinter der Alten stand, das Beil aus der Schlinge schon hervorgezogen hatte und fühlte, daß „kein Augenblick mehr zu verlieren sei“.
„Was ist Ihnen?“ – fragte Ssonja erschreckt.
Er brachte kein Wort hervor. So hatte er sich das Geständnis nicht vorgestellt und begriff selbst nicht, was mit ihm jetzt vorging. Sie ging leise zu ihm hin, setzte sich neben ihn auf das Bett hin und wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz klopfte und stockte. Es wurde unerträglich; er wandte sein totenblasses Gesicht zu ihr; seine Lippen verzogen sich kraftlos in der Bemühung, etwas auszusprechen. Und Entsetzen drang in Ssonjas Herz.
„Was ist Ihnen?“ – sagte sie und wich ein wenig von ihm zurück.
„Nichts, Ssonja. Ängstige dich nicht ... Unsinn! Wirklich, wenn man es sich überlegt, – ist es Unsinn,“ – murmelte er mit dem Aussehen eines besinnungslosen Fieberkranken. – „Warum bin ich bloß gekommen, um dich zu quälen?“ – fügte er plötzlich hinzu, sie anblickend. – „Wirklich. Wozu? Ich lege mir immer diese Frage vor, Ssonja ...“
Er hatte sich vielleicht diese Frage vor einer Viertelstunde vorgelegt, jetzt aber sagte er es in völliger Kraftlosigkeit, kaum sich selber bewußt, und fühlte ein ständiges Frösteln im ganzen Körper.
„Ach, wie Sie sich quälen!“ – sagte sie mit ihm leidend und betrachtete ihn.
„Alles ist Unsinn! ... Höre, Ssonja,“ – er lächelte plötzlich, aber bleich und schwach, einen kurzen Moment – „erinnerst du dich, was ich dir gestern sagen wollte?“
Ssonja wartete voll Unruhe. –
„Ich sagte, als ich fortging, daß ich vielleicht für immer von dir Abschied nehme, aber wenn ich heute käme, so wollte ich dir sagen ... wer Lisaweta ermordet hat.“
Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper.
„Nun, ich bin jetzt gekommen, es dir zu sagen.“
„Haben Sie gestern tatsächlich es ...,“ – flüsterte Ssonja mit Mühe, – „woher wissen Sie es denn?“ – fragte sie ihn schnell, als wäre sie plötzlich zur Besinnung gekommen.
Ssonja begann schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer bleicher und bleicher.
„Ich weiß es.“
Sie schwieg einen Augenblick.
„Hat man ihn gefunden?“ – fragte sie zaghaft.
„Nein, man hat ihn nicht gefunden.“
„Wie wissen Sie es denn?“ – fragte sie wieder kaum hörbar und nach einem fast minutenlangen Schweigen.
Er wandte sich zu ihr um und blickte sie scharf und unverwandt an.
„Errate es,“ – sagte er mit dem früheren wehen und kraftlosen Lächeln.
Ihren ganzen Körper schienen Krämpfe zu durchziehen. „Ja, Sie ... mich ... warum ... ängstigen Sie mich so?“ – fragte sie, lächelnd, wie ein Kind.
„Ich war doch wohl mit ihm sehr gut bekannt ... wenn ich es weiß,“ – fuhr Raskolnikoff fort und blickte ihr in einem fort ins Gesicht, als wäre er nicht imstande, die Augen abzuwenden, – „er wollte diese Lisaweta ... nicht ermorden ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er wollte die Alte ermorden ... wenn sie allein war ... und kam hin ... Da trat aber Lisaweta ein ... Er hat sie dann ... auch ermordet.“
Wieder eine furchtbare Pause. Beide blickten die ganze Zeit einander an.
„Also, du kannst es nicht erraten?“ – sagte er plötzlich mit einem Gefühle, als stürze er sich von einem Turme hinab.
„N–nein,“ flüsterte Ssonja kaum hörbar.
„Sieh mal ordentlich her.“
Und kaum hatte er es gesagt, als eine schon einmal gehabte Empfindung seine Seele erstarren ließ, – er sah sie an und ihm war plötzlich, als erblickte er in ihrem Gesichte Lisawetas Ausdruck. So hatte sie ausgesehen, als er sich damals ihr mit dem Beile näherte und sie vor ihm mit vorgestreckter Hand, eine völlig kindliche Angst im Gesichte, zurückwich, genau, wie wenn kleine Kinder vor irgend etwas Angst bekommen, und unbeweglich und unruhig den sie ängstigenden Gegenstand anblicken, zurückweichen, die Händchen nach vorne strecken und sich anschicken, zu weinen. Fast dasselbe geschah jetzt auch mit Ssonja, – ebenso kraftlos, mit derselben Angst sah sie eine Weile ihn an, plötzlich streckte sie die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den Fingern an die Brust, begann langsam vom Bette aufzustehen, wich immer mehr und mehr vor ihm zurück und ihr auf ihn gerichteter Blick wurde immer unbeweglicher. Ihr Entsetzen teilte sich plötzlich auch ihm mit, – dieselbe Angst erschien auch in seinem Gesichte, – er begann sie ebenso anzusehen und sogar fast mit demselben Lächeln eines geängsteten Kindes.
„Hast du es erraten?“ – flüsterte er endlich.
„Oh, Gott!“ – entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust.
Sie fiel kraftlos auf das Bett mit dem Gesichte auf das Kopfkissen hin. Aber nach einem Augenblicke erhob sie sich schnell, rückte zu ihm hin, erfaßte seine beiden Hände, drückte sie stark mit ihren dünnen Fingern und begann von neuem ihm unbeweglich, wie fest gebannt, ins Gesicht zu blicken. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die winzigste letzte Hoffnung für sich herauslesen und erspähen. Aber es war keine Hoffnung; kein Zweifel blieb nach, alles war so! Nachher sogar, wenn sie sich an diesen Augenblick entsann, war es ihr seltsam und merkwürdig, – woraus hatte sie damals sofort gesehen, daß es keinen Zweifel mehr gab? Es war doch keine Rede davon, daß sie z. B. ein Vorgefühl von etwas derartigem gehabt hatte? Nun aber schien es ihr, nachdem er es ihr kaum gesagt hatte, als habe sie wirklich das alles geahnt.
„Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!“ – bat er mit einem Ausdrucke schweren Leidens.
Er hatte gar nicht, ganz und gar nicht gedacht, ihr in dieser Weise es zu sagen, aber es war so gekommen.
Sie sprang, wie außer sich, auf, rang die Hände und ging bis zur Mitte des Zimmers, aber sie wandte sich schnell um, setzte sich wieder neben ihn hin, so daß ihre Schultern sich fast berührten. Plötzlich fuhr sie, wie durchbohrt, zusammen, schrie auf und stürzte, ohne zu wissen, was sie tat, vor ihm auf die Knie hin.
„Was haben Sie, was haben Sie sich angetan!“ – sagte sie voll Verzweiflung, sprang von den Knien auf, warf sich ihm um den Hals, umarmte ihn und preßte ihn stark an sich.
Raskolnikoff wich zurück und blickte sie mit einem traurigen Lächeln an.
„Wie du sonderbar bist, Ssonja, – du umarmst und küßt mich, nachdem ich dir dieses gesagt habe. Du bist deiner selbst nicht bewußt.“
„Nein, es gibt jetzt niemand in der ganzen Welt, der unglücklicher ist, als du!“ – rief sie, wie in Verzückung, ohne seine Bemerkung gehört zu haben, und dann weinte sie laut und krankhaft.
Ein ihm seit langem unbekanntes Gefühl überflutete seine Seele und machte sie erweichen. Er sträubte sich nicht dagegen, – zwei Tränen rollten aus seinen Augen und blieben an den Wimpern hängen.
„Du wirst mich also nicht verlassen, Ssonja?“ – sagte er und blickte sie fast mit Hoffnung an.
„Nein, nein. Nie und nimmer!“ – rief Ssonja aus, – „ich werde dir folgen, ich werde dir überall hin folgen! Oh, Gott! ... Ach, ich Unglückliche! ... Und warum, warum habe ich dich nicht früher gekannt! Warum bist du nicht früher gekommen? Oh, Gott!“
„Ich bin doch gekommen.“
„Jetzt! Oh, was ist jetzt zu tun! ... Zusammen, zusammen!“ – wiederholte sie, wie bewußtlos, und umarmte ihn von neuem, – „ich werde mit dir in die Zwangsarbeit nach Sibirien gehen!“
Er zuckte zusammen, das frühere haßerfüllte und fast hochmütige Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
„Ich will vielleicht nicht einmal in die Zwangsarbeit gehen, Ssonja,“ – sagte er.
Ssonja blickte ihn schnell an.
Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruche des Mitgefühles für den Unglücklichen erschütterte sie wieder der schreckliche Gedanke an den Mord. In dem veränderten Tone seiner Worte spürte sie den Mörder. Sie blickte ihn erstaunt an. Sie wußte noch gar nichts, weder warum, noch wie, noch zu welchem Zwecke es geschehen war. Jetzt tauchten alle diese Fragen mit einem Male in ihrem Bewußtsein auf. Und wieder glaubte sie nicht, – „er, er ein Mörder! Ja, ist es denn möglich?“
„Was ist denn? Wo stehe ich denn?“ – sagte sie in tiefem Zweifel, als wäre sie noch nicht zu sich gekommen, – „wie konnten, wie konnten Sie, solch ein Mensch ... sich dazu entschließen ... Was war es denn!“
„Doch wohl, um zu rauben. Höre auf, Ssonja!“ – antwortete er müde und fast ärgerlich.
Ssonja stand wie betäubt, plötzlich aber rief sie aus: „Du warst hungrig! Du ... um der Mutter zu helfen? Ja?“
„Nein, Ssonja, nein,“ – murmelte er, sich abwendend und ließ den Kopf sinken, – „ich war nicht so hungrig ... ich wollte wohl der Mutter helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäl mich nicht, Ssonja!“
Ssonja schlug die Hände zusammen.
„Ist es wirklich, ist es wirklich wahr! Oh, Gott, was ist das für eine Wahrheit? Wer kann denn daran glauben? ... Und wie, gaben Sie nicht selbst das Letzte fort, und haben ermordet, um zu rauben! Ah! ...“ – rief sie plötzlich, – „das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben haben ... dieses Geld ... oh, Gott, ist auch dieses Geld ...“
„Nein, Ssonja,“ – unterbrach er sie hastig, – „dieses Geld war nicht von dort, beruhige dich! Dieses Geld hat mir meine Mutter durch einen Kaufmann geschickt, und ich habe es erhalten, als ich krank war, am selben Tage, als ich es fortgegeben habe ... Rasumichin hat es gesehen ... er hat es für mich empfangen ... dieses Geld war mein eigenes, gehörte wirklich mir.“
Ssonja hörte ihm unentschlossen zu und versuchte mit allen Kräften etwas zu begreifen.
„Und jenes Geld ... ich weiß übrigens nicht mal, ob auch Geld da war,“ – fügte er leise und wie sinnend hinzu, – „ich habe ihr damals einen Beutel aus Sämischleder vom Halse genommen ... einen dicken, vollgestopften Beutel ... ich habe aber nicht hineingeblickt; wahrscheinlich hatte ich keine Zeit ... Nun, und die Sachen, allerhand Manschettenknöpfe und Ketten, – alle diese Sachen und den Beutel habe ich auf einem fremden Hofe, am W–schen Prospekt, unter einem Steine versteckt ... am andern Morgen noch ... Alles liegt jetzt noch dort ...“
Ssonja hörte angestrengt zu.
„Warum denn ... wenn Sie selbst sagten, um zu rauben, haben Sie doch nichts genommen?“ – fragte sie ihn schnell, nach einem letzten Strohhalme greifend.
„Ich weiß es nicht ... ich habe mich noch nicht entschlossen, – ob ich dieses Geld nehmen soll oder nicht,“ – sagte er wieder, wie sinnend, und plötzlich lächelte er schnell und kurz, – „ach, welch eine Dummheit habe ich soeben gesagt!“
Ssonja durchfuhr ein Gedanke, – „ist er etwa verrückt?“ Aber sie ließ ihn sofort fallen, – „nein, hier ist etwas anderes“. Aber sie begriff gar nichts, rein gar nichts!
„Weißt du, Ssonja,“ – sagte er plötzlich, wie in einer Eingebung, – „weißt du, was ich dir sagen will, – wenn ich bloß darum ermordet hätte, weil ich hungrig war,“ – fuhr er fort, betonte jedes Wort und blickte sie rätselhaft, aber aufrichtig an, – „so würde ich jetzt ... glücklich sein! Das sollst du wissen!“
„Und was läge, was läge dir daran,“ – rief er nach einem Augenblicke verzweifelt, – „nun, was läge dir daran, wenn ich sofort zugeben würde, daß ich schlecht gehandelt habe! Nun, was liegt dir an diesem dummen Triumphe über mich? Ach, Ssonja, bin ich etwa deswegen jetzt zu dir gekommen?“
Ssonja wollte etwas sagen, aber schwieg.
„Darum bat ich dich auch gestern mit mir zu gehen, weil ich jetzt dich nur allein habe.“
„Wohin gehen?“ – fragte Ssonja schüchtern.
„Nicht um zu stehlen und um zu morden, gewiß, nicht dazu,“ – lächelte er mit Spott, – „wir sind zu verschieden ... Und weißt du, Ssonja, ich habe erst jetzt, erst soeben begriffen, – wohin ich dich gestern rief mitzugehen! Gestern aber, als ich dich bat, wußte ich selbst nicht, wohin. Nur deshalb habe ich dich gebeten, nur deshalb bin ich gekommen, – daß du mich nicht verlassest. Wirst du mich verlassen, Ssonja?“
Sie drückte ihm fest die Hand.
„Und warum, warum habe ich es ihr gesagt, warum habe ich es ihr mitgeteilt,“ – rief er nach einem Augenblick voll Verzweiflung aus und sah sie mit grenzenloser Qual an, – „nun, erwartest du Erklärungen von mir, Ssonja, du sitzest und wartest, ich sehe es, – und was soll ich dir sagen? Du wirst doch nichts davon verstehen und bloß ganz vor Leid vergehen ... meinetwegen! Nun weinst du und umarmst mich wieder, – warum umarmst du mich? Weil ich es selbst nicht ertrug und gekommen bin, es auf einen andern abzuwälzen, – ‚leide auch du, mir wird es leichter sein!‘ Und kannst du solch einen Schuft lieben?“
„Quälst du dich nicht auch?“ – rief Ssonja aus.
Wieder überkam seine Seele das Gefühl von vorhin und machte sie auf einen Augenblick weich.
„Ssonja, ich habe ein böses Herz, merk es dir, – dadurch kann man vieles erklären. Ich bin auch darum hergekommen, weil ich böse bin. Es gibt solche, die nicht hergekommen wären. Ich aber bin ein Feigling und ... ein Schuft! Aber ... mag sein! Dies alles ist nicht das ... Jetzt gilt es zu reden, ich weiß aber nicht, wo anfangen ...“
Er hielt inne und sann nach.
„Ach, wir sind beide zu verschiedene Leute!“ – rief er wieder aus, – „passen nicht zueinander. Und warum, warum bin ich hergekommen! Ich werde es mir nie verzeihen.“
„Nein, nein, es ist gut, daß du gekommen bist!“ – rief Ssonja, – „es ist besser, daß ich es weiß! Viel besser!“
Er sah sie voll Schmerz an.
„So war es tatsächlich!“ – sagte er, als hätte er überlegt. – „Es war doch so! Siehst du, – ich wollte ein Napoleon werden, und darum habe ich ermordet ... begreifst du es jetzt?“
„N–nein,“ – flüsterte Ssonja naiv und schüchtern, – „sprich nur ... sprich! Ich werde es verstehen, ich werde für mich alles verstehen!“ – bat sie ihn.
„Du wirst verstehen? Nun, gut, wir wollen sehen!“
Er schwieg und überlegte lange.
„Siehst du, – ich habe mir einmal folgende Frage vorgelegt, – wenn zum Beispiel an meiner Stelle Napoleon gewesen wäre, und wenn er, um seine Karriere zu beginnen, weder Toulon, noch Ägypten, noch den Übergang über den Montblanc gehabt hätte, wenn aber statt aller schönen und monumentalen Dinge eine lächerliche Alte, die Witwe eines kleinen Beamten gewesen wäre, die man zudem noch ermorden mußte, um aus ihrem Koffer Geld zu stehlen – der Karriere wegen, verstehst du? – hätte er sich dazu entschlossen, wenn es keinen anderen Ausweg gegeben hätte? Wäre er nicht schokiert gewesen, weil es zu wenig monumental und ... weil es sündhaft war? Ich sage dir, daß ich mich über diese ‚Frage‘ schrecklich lange abgequält habe, so daß ich mich furchtbar schämte, als ich endlich auf den Gedanken kam – ganz plötzlich kam ich darauf –, daß es ihn nicht bloß nicht schokiert hätte, sondern ihm nicht einmal in den Sinn gekommen wäre, daß dies nicht monumental sei ... er hätte gar nicht begriffen, warum man dabei schokiert sein sollte? Und wenn er keinen anderen Ausweg gehabt hätte, so würde er, aber ohne daß sie gemuckst hätte, gemordet haben, ohne langes Nachdenken! Nun, und da ließ ich ... das Beil fallen ... mordete ... nach diesem Beispiel ... Genau so ist es vor sich gegangen! Dir erscheint es lächerlich? Ja, Ssonja, das Lächerlichste ist dabei, daß es vielleicht genau so vorgefallen war ...“
Ssonja war es nicht lächerlich.
„Sagen Sie es mir lieber ... ohne Beispiele,“ – bat sie noch schüchterner und leiser.
Er wandte sich zu ihr um, blickte sie traurig an und ergriff ihre Hände.
„Du hast wieder recht, Ssonja. Das ist alles Unsinn, ist leeres Geschwätz! Siehst du, – du weißt doch, daß meine Mutter fast nichts hat. Meine Schwester hat zufällig eine Erziehung erhalten und ist verurteilt, sich als Gouvernante ihr Leben lang durchzuschlagen. All ihre Hoffnung war ich allein. Ich studierte, fand aber nicht genügenden Unterhalt und war gezwungen, zeitweilig die Universität zu verlassen. Und selbst wenn es sich weiter hingezogen hätte, konnte ich etwa in zehn oder zwölf Jahren – und vorausgesetzt, daß meine Verhältnisse sich verbesserten, – hoffen, Lehrer oder Beamter mit tausend Rubel Gehalt zu werden ...“ – Er sprach, als hätte er es auswendig gelernt. – „Bis dahin wäre meine Mutter vor Sorgen und Kummer verkommen, und mir wäre es nicht gelungen, ihr ein ruhiges Leben zu schaffen, und meine Schwester ... nun, mit der Schwester konnte noch Schlimmeres passiert sein! ... Ja, und was für ein Vergnügen ist es, das ganze Leben an allem vorbeigehen und von allem sich abwenden zu müssen, die Mutter zu vergessen und die Beleidigung der Schwester zum Beispiel, demütig zu ertragen? Wozu? Um sich andere anzuschaffen, nachdem man sie beerdigt hat, – Frau und Kinder, um auch sie nachher ohne einen Groschen und ohne ein Stück Brot zu hinterlassen? So ... nun, da beschloß ich, mich des Geldes der Alten zu bemächtigen, es zu meinem Unterhalte an der Universität, ohne die Mutter mehr quälen zu müssen, und zu meinen ersten Schritten nach Beendigung des Studiums zu benutzen, – und dies alles gleich groß und radikal auszuführen, um eine vollkommen neue Laufbahn beginnen und einen neuen unabhängigen Weg betreten zu können ... das ist alles ... selbstverständlich, schlecht war, daß ich die Alte ermordet habe ... und jetzt genug davon!“
Völlig erschöpft schloß er seinen Bericht und ließ den Kopf sinken.
„Ach, es war nicht das, nicht das,“ – rief Ssonja gramvoll aus, – „kann man denn so ... nein, es ist nicht richtig, es ist nicht so!“
„Jetzt siehst du selbst, daß es nicht so war! ... Und ich habe doch aufrichtig berichtet, habe die Wahrheit gesagt!“
„Was ist denn das für eine Wahrheit! Oh, Gott!“
„Ich habe doch, Ssonja, bloß eine unnütze, häßliche, bösartige Laus ermordet.“
„Wie, ein Mensch ist eine Laus?“
„Ich weiß es auch selbst, daß es keine Laus ist,“ – antwortete er und blickte sie eigentümlich an. – „Aber ich lüge, Ssonja,“ – fügte er hinzu, „es ist alles gelogen ... Es war nicht das; du sagst die Wahrheit. Es waren ganz andere, vollkommen andere Gründe! ... Ich habe seit langem mit niemand gesprochen, Ssonja ... Der Kopf tut mir jetzt so weh.“
Seine Augen brannten in fieberhaftem Glanze. Er begann fast zu phantasieren; ein unruhiges Lächeln irrte um seine Lippen. Die ungeheure Erregung verbarg kaum die äußerste Schwäche. Ssonja begriff seine Selbstqual. Auch ihr begann der Kopf zu schwindeln. Und wie sonderbar er sprach, als sei alles selbstverständlich ... „aber wie denn ... Wie war es nur möglich? Oh, Gott!“ Und sie rang in Verzweiflung die Hände.
„Nein, Ssonja, es war nicht das!“ – begann er wieder, erhob plötzlich den Kopf, als hätte ihn eine andere Wendung der Gedanken überrascht und von neuem angeregt, – „es war nicht das! Besser ... du stellst dir vor ... ja! es ist wirklich besser! ... stell dir vor, daß ich ehrgeizig, neidisch, böse, niederträchtig, rachsüchtig bin ... nun ... und meinetwegen zum Irrsinn neige ... Mag alles gleich mitgerechnet werden! Davon, daß ich verrückt sei, sprach man schon früher, ich habe es wohl gemerkt! Ich habe dir vorhin gesagt, daß ich auf der Universität selber meinen Unterhalt nicht finden konnte. Weißt du aber, daß ich es vielleicht doch hätte ermöglichen können? Meine Mutter hätte mir das Nötige fürs Studium geschickt, und Stiefel, Kleider und Essen hätte ich selbst verdient, sicher sogar! Es fanden sich Unterrichtsstunden für mich; man bot fünfzig Kopeken. Rasumichin arbeitet doch auch! Aber ich wurde böse und wollte es nicht. Ich wurde böse – das ist ein guter Ausdruck! Ich verkroch mich dann, wie eine Spinne, in meine Ecke. Du warst doch in meinem elenden Loche, hast es gesehen ... Aber weißt du auch, Ssonja, daß niedrige Decken und enge Zimmer die Seele und den Verstand bedrücken? Oh, wie ich dieses elende Loch haßte! Dennoch wollte ich nicht heraus! Ich wollte es absichtlich nicht! Tagelang ging ich nicht aus und wollte nicht arbeiten, wollte nicht mal essen und lag die ganze Zeit. Wenn mir Nastasja etwas brachte, – aß ich, wenn sie nichts brachte, – verging auch so der Tag; absichtlich, aus Bosheit, bat ich um nichts! Wenn ich nachts kein Licht hatte, lag ich im Dunkel, wollte aber nicht arbeiten, um ein Licht kaufen zu können. Ich mußte studieren, – habe aber die Bücher verkauft; auf dem Tische bei mir, auf den Kollegheften und Notizen liegt jetzt fingerdick der Staub. Ich zog es vor, zu liegen und zu grübeln. Und ich dachte die ganze Zeit ... immer hatte ich solche Träume, allerhand seltsame Träume, es lohnt sich nicht, von ihnen zu sprechen! Dann aber begann es mir vorzuschweben, daß ... Nein, es ist nicht richtig! Ich erzähle wieder nicht in der richtigen Weise! Siehst du, – ich fragte mich damals immer, warum bin ich so dumm, daß, wenn andere dumm sind, und wenn ich es sicher weiß, daß sie dumm sind, ich selbst nicht klüger sein will? Ich erkannte später, Ssonja, daß es zu lange dauern wird, wollte man warten, bis alle klug werden ... Ich erkannte auch, daß es niemals der Fall sein wird, daß die Menschen sich nicht verändern, daß niemand sie ändern kann, und daß es sich der Mühe nicht lohnt! Ja, es ist so! Das ist ihr Gesetz ... Das Gesetz, Ssonja! Es ist so! ... Und ich weiß jetzt, Ssonja, daß wer an Verstand und Geist stark und kräftig ist, der auch der Herrscher über sie ist! Wer viel wagt, der ist bei ihnen im Rechte! Wer auf das größere pfeifen kann, der ist bei ihnen auch Gesetzgeber, wer aber am meisten von allen wagen kann, der ist mehr im Rechte, als alle! In dieser Weise ist es bis jetzt vor sich gegangen und so wird es immer bleiben! Nur ein Blinder merkt es nicht!“
Während Raskolnikoff dies sagte, sah er wohl Ssonja an, aber er kümmerte sich nicht mehr darum, ob sie ihn verstehen würde oder nicht. Das Fieber hatte ihn völlig gepackt. Er war in einem finstern Enthusiasmus. Er hatte in der Tat zu lange mit niemand gesprochen. Und Ssonja verstand, daß dieser finstere Katechismus sein Glaube und sein Gesetz geworden war.
„Ich kam damals darauf, Ssonja,“ – fuhr er immer noch enthusiastisch fort, – „daß die Macht bloß demjenigen gegeben wird, der es wagt, sich zu bücken und sie zu nehmen. Das ist das einzige, nur das allein, – man muß wagen! Mir kam damals ein Gedanke, zum erstenmal im Leben, den niemand je vor mir gedacht hat. Niemand! Klar wie die Sonne erschien mir plötzlich der Gedanke: Warum hat bis jetzt kein einziger gewagt und wagt es nicht, wenn er an diesem ganzen Unsinn vorbeigeht, alles einfach am Schwanze zu packen und es zum Teufel zu werfen! Ich ... ich wollte es wagen und tötete ... ich wollte bloß wagen, Ssonja, das ist der ganze Grund!“
„Oh, schweigen Sie, schweigen Sie!“ – rief Ssonja und schlug die Hände zusammen. – „Sie haben Gott verlassen und Gott hat Sie gestraft, hat Sie dem Teufel überliefert! ...“
„Ja, Ssonja, – als ich damals in der Dunkelheit lag und mir all das vorschwebte, da hat mich der Teufel versucht? Nicht wahr?“
„Schweigen Sie! Spotten Sie nicht, Sie Gotteslästerer; nichts, nichts begreifen Sie! Oh, Gott! Er wird nichts, nichts verstehen!“
„Schweig, Ssonja, ich lache gar nicht, ich weiß es auch selbst, daß mich der Teufel zog. Schweig, Ssonja, schweig!“ – wiederholte er düster und beharrlich. – „Ich weiß alles. Ich habe mir dies alles überlegt und zugeflüstert, als ich damals im Dunkeln lag ... Ich habe über dies alles mit mir selbst bis zum kleinsten Punkt gestritten und weiß alles, alles! Und mir war dies ganze Geschwätz damals so zum Überdruß, so zum Überdruß! Ich wollte alles vergessen und von neuem anfangen, Ssonja, und aufhören zu schwatzen! Und denkst du etwa, daß ich, wie ein Dummkopf, blindlings hingegangen bin? Ich bin, wie ein Kluger, hingegangen, und das hat mich auch zugrunde gerichtet! Und meinst du etwa, ich hätte zum Beispiel nicht gewußt, daß, wenn ich überhaupt damit anfing, mich zu fragen und auszuhorchen, – ob ich ein Recht auf Macht habe, – ich schon deswegen dies Recht auf Macht nicht hatte. Oder wenn ich mir die Frage vorlegte, – ist der Mensch eine Laus? – da war schon der Mensch für mich keine Laus mehr, sondern war es eben für denjenigen, dem diese Frage nicht in den Sinn kam, und der ohne Fragen auf sein Ziel losgeht ... Als ich mich soviel Tage abquälte, ob Napoleon es getan hätte oder nicht, – da fühlte ich es doch deutlich, daß ich kein Napoleon war ... Ich habe die ganze Qual dieses ganzen Geschwätzes ertragen, Ssonja, und wollte sie ganz und gar von mir abschütteln, – ich wollte, Ssonja, ohne Kasuistik töten, meinetwegen, für mich allein töten! Ich wollte es nicht mal mir selbst vorlügen! Ich habe nicht darum getötet, um meiner Mutter zu helfen, – das ist Unsinn! Ich habe nicht darum getötet, um Mittel und Macht zu erhalten, und dann ein Wohltäter der Menschheit zu werden. Unsinn! Ich habe einfach getötet; für mich, für mich ganz allein habe ich getötet; ob ich aber irgend wessen Wohltäter geworden wäre, oder ob ich mein ganzes Leben, wie eine Spinne, alle in mein Gewebe eingefangen und aus allen die Lebenssäfte ausgesaugt hätte, – mußte mir in jenem Augenblicke vollkommen gleichgültig sein! ... Und nicht um das Geld war es mir in erster Linie zu tun, Ssonja, als ich tötete; nicht das Geld war mir so wichtig, es war etwas ganz anderes ... Ich weiß jetzt alles ... Verstehe mich, – wenn ich vielleicht denselben Weg weitergegangen wäre, würde ich niemals mehr einen Mord begangen haben. Ich mußte etwas anderes erfahren, etwas anderes trieb mich dazu, – ich mußte damals und schleunigst erfahren, ob ich eine Laus bin, wie alle, oder ein Mann? Bin ich imstande, hinwegzuschreiten oder nicht? Werde ich es wagen, mich zu bücken und die Macht aufzuheben oder nicht? Bin ich eine zitternde Kreatur oder habe ich ein Recht ...“
„Zu töten? Ein Recht zu töten?“ – schlug Ssonja die Hände zusammen.
„Ach, Ssonja!“ – rief er gereizt aus, wollte ihr etwas erwidern, schwieg aber verächtlich. – „Unterbrich mich nicht, Ssonja! Ich wollte mir bloß beweisen, – daß der Teufel mich damals hinschleppte, mir aber nachher erklärte, daß ich kein Recht hatte, dort hinzugehen, weil ich eben so eine Laus bin, wie alle! Er hat seinen Spott mit mir getrieben, nun bin ich zu dir gekommen! Nimm den Gast auf! Wenn ich nicht eine Laus wäre, würde ich dann zu dir gekommen sein? Höre, – als ich damals zu der Alten hinging, ging ich bloß, es zu versuchen ... Nun weißt du es!“
„Und haben getötet! Haben getötet!“
„Wie habe ich getötet? Ermordet man denn in dieser Weise? Geht man denn so hin zu töten, wie ich damals ging! Ich will dir einmal erzählen, wie ich hinging ... Habe ich denn die Alte getötet? Ich habe mich getötet, und nicht die Alte! Da habe ich mich mit einem Schlage auf ewig getroffen! ... Und diese Alte hat der Teufel getötet, aber nicht ich ... Genug, genug, Ssonja, genug! Laß mich,“ – rief er plötzlich in krankhaftem Grame, – „laß mich!“
Er stützte sich auf seine Knie und umklammerte mit beiden Händen den Kopf.
„Wie Sie leiden!“ – entrang sich Ssonja ein qualvoller Schrei.
„Was soll ich jetzt tun, sprich!“ – fragte er, erhob plötzlich den Kopf und blickte sie mit einem vor Verzweiflung schrecklich verzerrten Gesichte an.
„Was tun!“ – rief sie aus, sprang von ihrem Platze auf, und ihre Augen, die bis jetzt voll Tränen waren, funkelten plötzlich. – „Steh auf!“ – Sie packte ihn an den Schultern; er erhob sich und sah sie fast verwundert an. – „Geh sofort, gleich, stell dich auf einen Kreuzweg hin, beuge dich, küß zuerst die Erde, die du besudelt hast, dann beuge dich vor der ganzen Welt, in allen vier Richtungen und sage allen laut: – ‚ich habe getötet!‘ Dann wird dir Gott wieder Leben senden. Willst du gehen? Willst du gehen?“ – fragte sie ihn, am ganzen Körper zitternd, wie in einem Anfall, und faßte dabei seine beiden Hände und drückte sie stark und sah ihn mit feurigen Blicken an.
Er war erstaunt, ja, durch ihre plötzliche Begeisterung bestürzt.
„Du meinst die Zwangsarbeit, Sibirien, Ssonja? Daß ich mich selbst anzeigen soll?“ – fragte er finster.
„Das Leiden auf sich nehmen und dadurch Erlösung finden, das sollst du.“
„Nein! Ich gehe nicht zu ihnen, Ssonja.“
„Wie wirst du aber leben, leben? Wie wirst du weiterleben?“ – rief Ssonja. – „Ist es denn jetzt möglich? Und wie wirst du mit deiner Mutter sprechen? Oh, was wird, was wird jetzt mit ihnen geschehen! Ja, was sage ich! Du hast ja schon deine Mutter und Schwester verlassen. Du hast sie doch verlassen, sie verlassen. Oh, Gott!“ – rief sie, – „er weiß ja alles selbst! Nun, wie kann man denn ohne einen Menschen weiterleben! Was wird jetzt mit dir werden!“
„Sei kein Kind, Ssonja,“ – sagte er leise. – „Welche Schuld habe ich vor ihnen? Wozu soll ich hingehen? Was soll ich ihnen sagen? Das sind alles bloß Gespenster ... Sie vertilgen selbst Millionen von Menschen und halten es noch für eine Tugend. Sie sind Gauner und Schufte, Ssonja! ... Ich gehe nicht. Und was soll ich sagen, – daß ich getötet und nicht gewagt habe, das Geld zu nehmen, daß ich es unter einem Stein versteckt habe?“ – fügte er mit bitterem Lächeln hinzu. – „Sie werden doch selbst über mich lachen, werden sagen, – er ist ein Dummkopf, daß er es nicht genommen hat. Ein Feigling und ein Dummkopf! Sie werden nichts, gar nichts verstehen, Ssonja, und sie sind nicht wert, es zu verstehen. Wozu soll ich hingehen? Ich gehe nicht hin. Sei kein Kind, Ssonja ...“
„Du wirst dich zu Tode quälen, zu Tode quälen,“ – wiederholte sie und streckte ihm in verzweifeltem Flehen die Hände entgegen.
„Ich habe mich vielleicht bloß verleumdet,“ – bemerkte er finster, wie sinnend, – „vielleicht bin ich doch ein Mensch und keine Laus, vielleicht habe ich mich übereilt verurteilt ... Ich will noch kämpfen.“
Ein hochmütiges Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
„Solche Qual zu tragen! Und das ganze, ganze Leben hindurch! ...“
„Ich werde mich gewöhnen ...,“ – sagte er düster und nachdenklich. – „Höre,“ – begann er nach einer Weile, – „es ist genug geweint, jetzt ist Zeit, die Sache zu bedenken, – ich bin gekommen, dir zu sagen, daß man mich jetzt sucht, mir nachstellt ...“
„Ach!“ – rief Ssonja erschrocken aus.
„Nun, warum schreist du? Du willst doch selbst, daß ich nach Sibirien gehe, jetzt aber erschrakst du? Eins aber will ich sagen, – ich ergebe mich ihnen nicht. Ich will mit ihnen noch kämpfen, und sie werden mir nichts tun können. Sie haben keine wirklichen Beweise. Gestern war ich in großer Gefahr und dachte, daß ich schon verloren sei; heute hat es sich verbessert. Alle ihre Beweise haben zwei Seiten, das will sagen, – ich kann ihre Beschuldigungen zu meinen Gunsten verwenden, verstehst du? Und ich werde sie zu meinen Gunsten verwenden, denn ich habe es jetzt gelernt ... Ins Gefängnis aber wird man mich sicher sperren. Wenn nicht ein Zufall hinzugekommen wäre, hätte man mich vielleicht schon heute geholt; vielleicht geschieht es heute noch ... Aber das tut nichts, Ssonja, – ich werde eine Zeitlang sitzen und man wird mich freilassen ... denn sie haben keinen einzigen wirklichen Beweis und werden ihn auch nicht bekommen, ich gebe mein Wort darauf. Mit dem aber, was sie besitzen, kann man einen Menschen nicht verurteilen. Nun, genug ... Ich sagte es bloß, damit du es weißt ... Mit meiner Mutter und Schwester will ich es so einzurichten versuchen, daß sie nicht daran glauben, damit sie nicht erschrecken ... Meine Schwester ist jetzt übrigens, wie es scheint, versorgt ... also auch meine Mutter ... Nun, das ist alles. Sei übrigens vorsichtig. Willst du zu mir ins Gefängnis kommen, wenn ich dort sein werde?“
„Oh, ich werde, werde kommen!“
Sie saßen nebeneinander, traurig und niedergeschlagen, als wären sie nach einem Sturme allein an einen einsamen Strand geschleudert worden. Er sah Ssonja an und fühlte ihre große Liebe, und seltsam, es fiel ihm plötzlich schwer und schmerzlich aufs Herz, daß er so geliebt wurde. Es war ein seltsames und furchtbares Gefühl! Als er zu Ssonja ging, empfand er, daß in ihr seine ganze Hoffnung und sein letzter Ausweg liege; er glaubte wenigstens einen Teil seiner Qualen abzuwälzen und jetzt, wo ihr ganzes Herz sich ihm zugewandt hatte, fühlte und erkannte er, daß er um vieles unglücklicher geworden war.
„Ssonja,“ – sagte er, – „komm lieber nicht zu mir, wenn ich im Gefängnis sein werde.“
Ssonja antwortete nicht, sie weinte. Es vergingen ein paar Minuten.
„Hast du ein Kreuz?“ – fragte sie plötzlich unerwartet, als sei es ihr eben eingefallen.
Er verstand zuerst die Frage nicht.
„Nein, du hast keins? – Hier, nimm dieses Kreuz aus Zypressenholz. Ich habe ein anderes, kupfernes von Lisaweta. Ich habe mit Lisaweta getauscht, – sie hat mir ihr Kreuz gegeben und ich ihr mein Heiligenbildchen. Ich will jetzt das Kreuz von Lisaweta tragen, dieses aber gebe ich dir. Nimm ... es gehört doch mir! Es ist doch mein Kreuz!“ – bat sie ihn, – „wir werden doch zusammen gehen und leiden, also wollen wir auch zusammen das Kreuz tragen! ...“
„Gib her!“ sagte Raskolnikoff.
Er wollte sie nicht betrüben, zog aber gleich wieder die Hand zurück, die er nach dem Kreuze ausgestreckt hatte.
„Nicht jetzt, Ssonja. Lieber später,“ – fügte er hinzu, um sie zu beruhigen.
„Ja, ja, es ist besser, es ist besser,“ – pflichtete sie ihm mit Begeisterung bei, – „wenn du gehst, um das Leiden auf dich zu nehmen, dann legst du es um. Du kommst dann zu mir, ich werde es dir umhängen, wir wollen dann beten und beide gehen.“
In diesem Augenblicke klopfte jemand dreimal an die Türe.
„Ssofja Ssemenowna, kann ich hereinkommen?“ – ertönte eine sehr bekannte höfliche Stimme.
Ssonja stürzte erschrocken zur Türe. Herr Lebesjätnikoff blickte in das Zimmer hinein.
Lebesjätnikoff sah aufgeregt aus.
„Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemenowna. Entschuldigen Sie ... Ich dachte mir, daß ich auch Sie treffen werde,“ – wandte er sich schnell an Raskolnikoff, – „das heißt, ich dachte nichts ... in dieser Hinsicht ... aber ich dachte ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt geworden,“ – schloß er plötzlich, zu Ssonja gewandt.
Ssonja schrie auf.
„Das heißt, es scheint wenigstens so ... Wir wissen nicht, was wir tun sollen, das ist es! Sie kam zurück ... man scheint sie irgendwo hinausgejagt, vielleicht auch geschlagen zu haben ... es scheint wenigstens so ... Sie war zu dem Vorgesetzten des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch gelaufen, hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei einem anderen General zu Mittag geladen ... Und stellen Sie sich vor, sie lief dann dorthin, ... zu diesem anderen General, stellen Sie sich vor, – sie bestand auf ihrem Verlangen, den Vorgesetzten von Ssemjon Sacharytsch zu sehen, und sie hat, wie es scheint, ihn von der Tafel rufen lassen. Sie können sich denken, was passiert ist. Man jagte sie selbstverständlich hinaus; sie erzählte, daß sie den General beschimpft und ihm sogar etwas ins Gesicht geschleudert habe. Das kann man ihr schon glauben ..., daß man sie nicht zur Polizei gebracht hat, – verstehe ich nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch Amalie Iwanowna, doch es ist schwer zu verstehen, was sie meint, denn sie schreit und wirft sich dabei mit dem Kopfe an die Wand ... Ach ja – sie sagt und schreit, da sie jetzt von allen verlassen sei, jetzt wolle sie mit den Kindern auf die Straße gehen, die einen Leierkasten tragen sollen, die Kinder müßten singen und tanzen, auch sie würde singen und Geld einsammeln, und Tag für Tag wolle sie vor den Fenstern des Generals stehen ... ‚Mögen alle sehen,‘ sagt sie, ‚wie die edlen Kinder eines angesehenen Beamten als Bettler in den Straßen herumgehen müssen!‘ Sie schlägt die weinenden Kinder, Lene lehrt sie ein Lied singen, den Knaben tanzen und Poletschka ebenfalls; reißt alle Kleider entzwei; macht ihnen Mützen, wie die Gaukler sie haben; sie selbst will ein Becken tragen, darauf schlagen, an Stelle der Musik ... Uns will sie gar nicht anhören ... Stellen Sie sich vor, wie soll das werden? Das geht doch nicht an!“
Lebesjätnikoff hätte noch weiter gesprochen, aber Ssonja, die ihm mit angehaltenem Atem zugehört hatte, griff rasch nach ihrer Mantille und ihrem Hut, lief aus dem Zimmer und kleidete sich im Gehen an. Raskolnikoff ging ihr nach und Lebesjätnikoff folgte ihm.
„Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!“ – sagte er zu Raskolnikoff und trat mit ihm auf die Straße, – „ich wollte nur Ssofja Ssemenowna nicht so erschrecken und sagte deshalb – ‚es scheint‘, aber es kann keinen Zweifel darüber geben. Man hört oft, daß bei Schwindsucht im Gehirn solche Knollen entstehen; schade, daß ich nicht Medizin studiert habe. Ich versuchte übrigens, sie zu überzeugen, aber sie will nichts hören.“
„Haben Sie ihr von diesen Knollen gesprochen?“
„Das heißt, eigentlich nicht von den Knollen. Sie würde es doch nicht verstanden haben. Ich sage aber, – wenn man einen Menschen logisch überzeugen kann, daß er eigentlich keinen Grund hat, zu weinen, so hört er auch auf zu weinen. Das ist klar. Oder meinen Sie, daß er nicht aufhören wird?“
„Dann wäre das Leben leicht,“ – antwortete Raskolnikoff.
„Erlauben Sie, erlauben Sie bitte; gewiß, bei Katerina Iwanowna würde es ziemlich schwer fallen, sie verstände es nicht. Aber ist Ihnen nicht bekannt, daß in Paris schon ernste Versuche gemacht worden sind über die Möglichkeit, durch Anwendung von logischer Überredung Wahnsinnige zu heilen? Ein Professor dort, der vor kurzem gestorben ist, ein großer Gelehrter, hat sich ausgedacht, daß man sie in dieser Weise heilen kann. Sein Grundgedanke ist, daß bei den Wahnsinnigen eine besondere Störung im Organismus nicht vorgeht, und daß der Wahnsinn sozusagen ein logischer Fehler, ein Fehler der Urteilsfähigkeit, eine falsche Ansicht von Dingen ist. Er widerlegte allmählich den Kranken, und denken Sie sich, er soll Erfolge erzielt haben. Da er außerdem auch Duschen anwandte, so wurden die Erfolge dieser Behandlung bezweifelt ... Es scheint wenigstens so ...“
Raskolnikoff hörte ihm längst nicht mehr zu. Als er an seinem Hause ankam, nickte er mit dem Kopfe Lebesjätnikoff zu und bog in den Torweg ein. Lebesjätnikoff kam zu sich, blickte sich um und lief weiter.
Raskolnikoff trat in seine Kammer und blieb mitten darin stehen. Warum war er hierher zurückgekehrt? Er sah diese gelblichen, abgerissenen Tapeten, diesen Staub, sein Sofa an ... Vom Hofe drang ein hartes ununterbrochenes Klopfen; man schien Nägel einzuschlagen ... Er trat an das Fenster, hob sich auf den Zehen und blickte lange mit außerordentlicher Aufmerksamkeit im Hofe umher. Der Hof aber war leer und man sah die Klopfenden nicht. Links, im Seitengebäude war hie und da ein geöffnetes Fenster; auf den Fensterbrettern standen kleine Töpfe mit schwächlichen Geranien. Vor den Fenstern hing Wäsche ... Das ganze Bild kannte er auswendig. Er wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa. Noch nie, nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt!
Ja, er fühlte es noch einmal, daß er vielleicht Ssonja hassen werde, und zwar jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte.
Warum war er zu ihr hingegangen? Um um ihre Tränen zu bitten? Warum mußte er so unbedingt ihr Leben verkümmern? Oh, welche Gemeinheit.
„Ich bleibe allein!“ – sagte er plötzlich entschlossen, – „und sie soll nicht ins Gefängnis zu mir kommen!“
Nach etwa fünf Minuten erhob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Es war ein merkwürdiger Gedanke: – „Vielleicht ist es in Sibirien tatsächlich besser.“
Er erinnerte sich nicht, wie lange er in seinem Zimmer sich mit den einstürmenden unklaren Gedanken abgegeben hatte. Da öffnete sich plötzlich die Türe und Awdotja Romanowna trat herein. Sie blieb zuerst stehen und blickte ihn von der Schwelle an, so wie er gestern Ssonja angeblickt hatte; kam dann herein und setzte sich auf einen Stuhl, auf ihren gestrigen Platz, ihm gegenüber. Er sah sie schweigend und augenscheinlich gedankenlos an.
„Sei mir nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick,“ – sagte Dunja.
Der Ausdruck ihres Gesichtes war nachdenklich, aber nicht streng. Der Blick war klar und still. Er sah, daß auch sie mit Liebe zu ihm gekommen war.
„Bruder, ich weiß jetzt alles, alles. Mir hat Dmitri Prokofjitsch alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich mit einem dummen und schändlichen Verdacht! ... Dmitri Prokofjitsch hat mir gesagt, daß für dich keine Gefahr vorhanden sei, daß du dich unnütz mit solch einem Schrecken befassest. Ich denke nicht, wie er, ich verstehe vollkommen, wie alles in dir empört sein muß, und daß diese Empörung in dir für immer Spuren hinterlassen kann. Davor habe ich Angst. Ich verurteile dich nicht und darf dich nicht verurteilen, daß du uns verlassen hast, verzeih mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich weiß selbst, daß auch ich von allen fortgehen würde, wenn ich solch einen großen Kummer hätte. Ich werde der Mutter davon nichts sagen, will aber mit ihr immer über dich sprechen, und will in deinem Namen sagen, daß du sehr bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen; ich werde sie beruhigen; aber quäle auch sie nicht zu sehr, – komm wenigstens noch einmal zu ihr; erinnere dich, daß sie unsere Mutter ist! Ich bin nur gekommen, um zu sagen,“ – Dunja stand auf, – „daß, falls du irgendwie mich brauchen solltest und wenn es ... mein Leben gälte ... so rufe mich, ich werde kommen. Leb wohl!“
Sie wandte sich schnell um und ging zur Türe.
„Dunja!“ – rief Raskolnikoff, stand auf und ging zu ihr, – „dieser Dmitri Prokofjitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.“
Dunja errötete ein wenig.
„Nun!“ – fragte sie nach einer Weile.
„Er ist ein tüchtiger, fleißiger, ehrlicher Mensch und ist starker Liebe fähig ... Leb wohl, Dunja.“
Dunja errötete, dann wurde sie unruhig.
„Was ist dir, Bruder, trennen wir uns denn wirklich für immer, daß du mir ... solch ein Vermächtnis machst?“
„Wie dem auch sei ... leb wohl ...“
Er kehrte sich um und ging zum Fenster. Sie blieb eine Weile stehen, sah ihn sorgenvoll an und ging mit dem Gefühle der Angst hinaus.
Er war ihr gegenüber nicht kälter! Es hatte einen Augenblick, in letzter Minute, gegeben, wo er die größte Lust verspürte, sie innig zu umarmen, von ihr Abschied zu nehmen und ihr alles zu sagen, aber er wagte ihr nicht einmal die Hand zu reichen.
„Sie würde vielleicht später noch erschauern bei dem Gedanken, daß ich sie umarmt habe, und würde sagen, daß ich ihr einen Kuß gestohlen hätte!“
„Würde sie dies ertragen können oder nicht?“ – fügte er nach einigen Minuten hinzu. – „Nein, sie würde es nicht ertragen können; eine solche Natur nicht ...“
Er dachte an Ssonja.
Vom Fenster kam eine kühle Luft. Draußen war es nicht mehr hell. Er nahm seine Mütze und ging hinaus.
Er konnte und wollte nicht auf seinen krankhaften Zustand achten. Aber diese ununterbrochenen Aufregungen und diese seelischen Erschütterungen konnten nicht ohne Folgen bleiben. Und wenn er noch nicht an einem heftigen Fieber daniederlag, so war es vielleicht darum, weil diese inneren ununterbrochenen Aufregungen ihn vorläufig noch aufrecht und bei Bewußtsein hielten.
Er irrte ziellos herum. Die Sonne ging unter. Eine eigenartige Angst begann in der letzten Zeit seiner Seele sich zu bemächtigen. Es war kein bohrender oder brennender Schmerz; etwas Beständiges oder Bleibendes aber ging von ihm aus; die Ahnung einer Reihe endloser kalter, toter Jahre lag darinnen, einer Ewigkeit auf dem „ellenbreiten Raume“. In den Abendstunden war dieses Gefühl stärker und peinvoller.
„Und mit diesen dummen, rein physischen Schwächen, die vom Sonnenuntergang abhängen konnten, soll man sich vor Dummheiten hüten! Da läuft man dann nicht bloß zu Ssonja hin, auch zu Dunja!“ – murmelte er haßerfüllt vor sich hin. Man rief ihn beim Namen. Er blickte sich um; Lebesjätnikoff eilte auf ihn zu.
„Denken Sie, ich war bei Ihnen, ich suchte Sie. Stellen Sie sich vor, sie hat wirklich ihre Absicht ausgeführt und die Kinder mitgenommen. Ich habe sie mit Ssofja Ssemenowna nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt auf eine Pfanne, und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie bleiben an Straßenecken und vor Läden stehen. Das dumme Volk läuft ihnen nach. Wir wollen hingehen!“
„Und Ssonja?“ – fragte Raskolnikoff unruhig und eilte Lebesjätnikoff nach.
„Sie ist ganz außer sich. Nicht Ssofja Ssemenowna, sondern Katerina Iwanowna ist außer sich; aber auch Ssofja Ssemenowna ist außer sich. Katerina Iwanowna ist aber ganz und gar aufgelöst. Ich sage Ihnen, sie ist vollkommen verrückt. Man wird sie noch zur Polizei bringen. Sie können sich vorstellen, wie das erst auf sie wirken wird ... Jetzt sind sie am Kanal bei der N.schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja Ssemenownas Wohnung.“
Am Kanal, nicht weit von der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung Ssonjas entfernt, hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt. Besonders Knaben und Mädchen liefen hin. Von der Brücke aus konnte man die heisere, überanstrengte Stimme von Katerina Iwanowna hören. Es war ein merkwürdiges Schauspiel, fähig, das Straßenpublikum zu fesseln. Katerina Iwanowna hatte ihr altes, abgetragenes Kleid an, einen Schal umgelegt und einen zerrissenen Strohhut auf; sie war tatsächlich ganz außer sich. Dabei war sie müde und rang nach Atem. Ihr abgehärmtes schwindsüchtiges Gesicht sah noch leidender aus; außerdem sieht ein Schwindsüchtiger draußen im Sonnenlicht stets kränklicher und mehr entstellt aus als zu Hause, – ihr aufgeregter Zustand nahm kein Ende, sie wurde mit jedem Augenblicke gereizter. Bald stürzte sie sich auf die Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte sie auf der Straße in Gegenwart aller, wie sie tanzen und was sie singen sollten, begann ihnen zu erklären, warum dies nötig sei, geriet in Verzweiflung, daß sie nicht begreifen wollten, und schlug sie ... Dann stürzte sie wieder ins Publikum, – wenn sie einen einigermaßen besser gekleideten Menschen entdeckte, der stehen blieb, um sich die Sache anzusehen, beeilte sie sich sofort, ihm zu erklären, daß es so weit, – mit – den Kindern „aus einem feinen, man kann sogar sagen aristokratischen Hause,“ gekommen war. Wenn sie unter den Zuschauern Lachen oder ein freches Wort hörte, wandte sie sich sofort an die Dreisten und begann sie zu schelten. Einige lachten darüber, andere wieder schüttelten die Köpfe; aber allen war es interessant, die Wahnsinnige mit ihren erschrockenen Kindern anzusehen. Die Pfanne, die Lebesjätnikoff erwähnt hatte, war nicht da; Raskolnikoff sah sie wenigstens nicht. Katerina Iwanowna schlug den Takt nicht auf einer Pfanne, sondern mit ihren mageren Händen, wenn sie Poletschka zum singen und Lene und Kolja zum tanzen veranlaßte. Sie fing selbst an mitzusingen, wurde jedoch jedesmal beim zweiten Tone von einem quälenden Husten unterbrochen; dann wurde sie von neuem verzweifelt, fluchte ihrem Husten und weinte sogar. Am meisten brachte sie das Weinen und die Angst Koljas und Lenes auseinander. Sie hatte wirklich den Versuch gemacht, die Kinder aufzuputzen, wie Straßentänzer und Gaukler. Der Knabe hatte einen Turban aus rotem und weißem Stoff, damit er einem Türken ähnle. Für Lene reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte nur ein rotes, gestricktes Käppchen des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch auf dem Kopfe und an dieses Käppchen war eine abgebrochene Straußfeder befestigt worden, die noch der Großmutter von Katerina Iwanowna gehört hatte und die bis jetzt, als ein altes Familienstück, im Koffer aufbewahrt wurde. Poletschka war in ihrem gewöhnlichen Kleidchen. Sie blickte schüchtern und weltvergessen die Mutter an, wich nicht von ihrer Seite, verbarg die Tränen, ahnend, daß die Mutter wahnsinnig geworden sei, und sah unruhig um sich. Die Straße und die Menschenmenge hatten sie äußerst erschreckt. Ssonja wich keinen Schritt von Katerina Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina Iwanowna aber blieb unerbittlich.
„Höre auf, Ssonja, höre auf!“ – schrie sie hastig, außer Atem und hustend. – „Du weißt selbst nicht, was du bittest, du bist wie ein Kind! Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich zu dieser vertrunkenen Deutschen nicht zurückkehren will. Mögen alle, ganz Petersburg sehen, wie die Kinder eines edlen Vaters, der sein ganzes Leben treu und redlich gedient hat, und man kann sagen, im Dienste gestorben ist, betteln gehen müssen.“ – Katerina Iwanowna hing schon an dieser Erfindung eigener Phantasie mit blindem Glauben. – „Mag es nur dieser schändliche Kerl von einem General sehen. Ja, du bist dumm, Ssonja, – was sollen wir denn essen, sage mir? Wir haben dich genug gepeinigt, ich will es nicht mehr! Ach, Rodion Romanowitsch, Sie sind es!“ – rief sie aus, als sie Raskolnikoff erblickte, und stürzte zu ihm hin, – „erklären Sie bitte dieser dummen kleinen Person, daß wir nichts klügeres tun konnten! Sogar Leierkastenmänner verdienen, bei uns aber werden alle bemerken und erfahren, daß wir eine arme feine Familie und Waisen sind, die an den Bettelstab gebracht wurden, und dieser Kerl von einem General wird seine Stelle verlieren. Sie werden es sehen! Wir werden jeden Tag vor seinen Fenstern stehen, und wenn der Kaiser vorbeifahren wird, will ich mich auf die Knie werfen und auf die Kinder will ich zeigen und sagen: – ‚Schütze sie, Vater!‘ Er ist der Vater aller Waisen, er ist barmherzig, er wird sie schützen, Sie werden es sehen, und diesen Kerl von einem General ... Lene! Tenez vous droite![11] Du, Kolja, wirst sofort wieder tanzen. Was heulst du? Er heult wieder! Nun, warum fürchtest du dich, Dummköpfchen! Oh, Gott! Was soll ich mit ihnen tun, Rodion Romanowitsch! Wenn Sie wüßten, wie unvernünftig sie sind! Was soll man mit ihnen tun! ...“
Und sie zeigte, fast weinend, was sie jedoch nicht hinderte, ununterbrochen und unaufhörlich zu reden, – auf die schluchzenden Kinder. Raskolnikoff versuchte sie zu überreden, nach Hause zu gehen und sagte ihr sogar, in der Meinung auf ihre Eigenliebe zu wirken, daß es für sie unpassend sei, wie Leierkastenleute in den Straßen umherzuziehen, weil sie doch beabsichtigte, die Vorsteherin einer Pension für junge Mädchen aus besseren Ständen ...
„Einer Pension für junge Mädchen, ha! ha! ha! Was weit herkommt, hat gut lügen – sagt das Sprichwort!“ – rief Katerina Iwanowna aus; nach dem Lachen überfiel sie ein starker Husten, – „nein, Rodion Romanowitsch, der Traum ist vorüber! Alle haben uns verlassen! ... Und dieser Kerl von einem General ... Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, ich habe ihm ein Tintenfaß an den Kopf geworfen, – es stand gerade eins da, im Vorzimmer, neben dem Buche, wo alle ihre Namen eintragen, auch ich habe mich eingetragen, ich warf ihm das Tintenfaß an den Kopf und lief davon. Oh, gemeine, niederträchtige Menschen! Ich pfeife auf sie alle, ich will selbst die da füttern, will niemanden mehr anbetteln! Wir haben sie genug gequält!“ – und sie wies auf Ssonja. – „Poletschka, wieviel haben wir eingesammelt, zeige mir mal! Wie? Bloß zwei Kopeken? Oh, schändliche Menschen! Sie geben nichts, laufen uns bloß mit ausgestreckter Zunge nach! Nun, was lacht dieser Holzklotz?“ – sie zeigte auf einen in der Menge. – „Das kommt alles daher, weil Kolja so einfältig ist, man hat nur Schererei mit ihm! Was willst du, Poletschka? Sprich mit mir französisch, parlez moi français[12]. Ich habe dich doch gelehrt, du kennst doch einige Sätze! ... Wie kann man denn erkennen, daß ihr aus feiner Familie, wohlerzogene Kinder seid und keine Leierkastenleute. Wir machen doch kein Kasperletheater auf den Straßen, wir wollen eine schöne feine Romanze singen ... Ach ja! Was sollen wir denn singen? Ihr unterbrecht mich in einem fort, wir sind ... sehen Sie, Rodion Romanowitsch, wir sind hier stehen geblieben, um auszusuchen, was wir singen sollen, – etwas, was auch Kolja vortanzen kann ... denn alles machen wir, Sie können es sich vorstellen, ohne Vorbereitungen. Wir wollen uns besprechen, um alles ordentlich durchzunehmen, dann gehen wir auf den Newski Prospekt, wo es bedeutend mehr Menschen aus der höchsten Gesellschaft gibt, die uns sofort bemerken werden. Lene kennt das Lied ‚Die Troika‘ ... Aber das kann man doch nicht immerwährend singen, die ganze Welt singt es ja! Wir müssen etwas viel Besseres singen ... Nun, was meinst du, Poletschka, du könntest doch der Mutter helfen! Ich erinnere mich an nichts mehr, ich habe alles vergessen! Ach, wollen wir doch französisch ‚Cinq sous‘[13] singen! Ich habe es euch doch gelehrt! Und da es französisch ist, werden alle sofort sehen, daß ihr adlige Kinder seid, und das ist bedeutend rührender ... Wir könnten sogar ‚Malbrough s’en va-t-en guerre![14]‘ singen, da es ein ausgesprochenes Kinderlied ist und in allen aristokratischen Häusern gesungen wird, wenn die Kinder zum Schlafen gebracht werden.“
Malbrough s’en va-t-en guerre
Ne sait quand reviendra ...[14]
begann sie zu singen ... „Nein, es ist besser ‚Cinq sous![13]‘ Nun, Kolja, stemme die Händchen in die Seiten, aber schneller, und du Lene, drehe dich in entgegengesetzter Richtung, ich werde mit Poletschka singen und in die Hände klatschen!
Cinq sous, cinq sous
Pour monter notre ménage ...[15]
Kche–kche–kche!“ (Und sie krümmte sich vor Husten.) „Bring dein Kleid in Ordnung, Poletschka, die Schultern sind entblößt,“ bemerkte sie, zwischen dem Husten atemholend. – „Ihr müßt euch jetzt besonders anständig und in feinem Tone benehmen, damit es alle sehen, daß ihr adlige Kinder seid. Ich habe damals gesagt, daß man die Taille länger und in doppelter Breite zuschneiden soll. Du kamst aber mit deinen Ratschlägen, Ssonja, – es kürzer und kürzer zu machen, nun jetzt siehst du, ist das Kind völlig verunstaltet ... Ihr weint wieder! Ja, warum weint ihr Dummen! Kolja, fang schneller an, schneller, – ach, wie dies Kind unerträglich ist! ...
Cinq sous, cinq sous –[13]
Wieder ein Schutzmann! Nun, was willst du?“
Es drängte sich ein Schutzmann durch die Menge. Gleichzeitig näherte sich ihr ein Herr im Dienstrocke und Mantel, ein höherer Beamter, mit einem Orden am Halsbande – dieser Umstand war Katerina Iwanowna sehr erwünscht und hatte selbst Einfluß auf den Schutzmann, – und überreichte ihr schweigend einen grünen Dreirubelschein. Sein Gesicht drückte aufrichtiges Mitleid aus. Katerina Iwanowna nahm das Geld und verbeugte sich höflich, fast förmlich.
„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ begann sie von oben herab, „die Gründe, die uns gezwungen haben ... nimm das Geld, Poletschka. Du siehst, es gibt noch edle und großmütige Menschen, die sofort bereit sind, einer armen adligen Dame im Unglücke zu helfen. Sie sehen adlige Waisen vor sich, mein Herr, man kann sogar sagen, mit aristokratischsten Verbindungen ... Und dieser Kerl von einem General saß am Tische und aß Haselhühner ... stampfte mit den Füßen, weil ich ihn gestört habe ... ‚Eure Exzellenz,‘ sagte ich, ‚schützen Sie die Waisen, da Sie den verstorbenen Ssemjon Sacharytsch gut kannten,‘ sagte ich, ‚und weil der gemeinste aller Schufte seine leibliche Tochter an seinem Todestage verleumdet hat ...‘ Wieder kommt dieser Schutzmann! Schützen Sie mich!“ rief sie dem Beamten zu, – „was will dieser Schutzmann von mir? Wir sind schon vor einem weggelaufen ... Nun, was geht es dich an, Dummkopf!“
„Es ist in den Straßen verboten. Machen Sie keinen Skandal!“
„Du bist selbst ein Skandalmacher! Ich gehe herum, wie jeder Leierkastenmann, was geht es dich an?“
„Zu einem Leierkasten muß man eine Erlaubnis haben. Sie sammeln aber in dieser Weise das Volk an. Wo wohnen Sie?“
„Wie, Erlaubnis,“ schrie Katerina Iwanowna. – „Ich habe heute meinen Mann beerdigt, was ist da für eine Erlaubnis nötig!“
„Bitte, beruhigen Sie sich, Madame,“ begann der vornehme Beamte, „kommen Sie, ich will Sie begleiten ... Hier unter den Leuten ist es unpassend ... Sie sind krank ...“
„Mein Herr, mein Herr, Sie wissen gar nicht!“ schrie Katerina Iwanowna, „wir wollen auf den Newski Prospekt gehen ... Ssonja, Ssonja! Wo ist sie denn? Sie weint auch! Was ist denn mit euch allen! ... Kolja, Lene, wohin geht ihr denn?“ rief sie plötzlich im Schreck, „oh, die dummen Kinder! Kolja, Lene, ja, wohin laufen sie denn? ...“
Als Kolja und Lene, bis aufs äußerste von der Menschenmenge und von der wahnsinnigen Mutter erschreckt, den Schutzmann erblickten, der sie nehmen und irgendwohin führen wollte, faßten sie einander wie auf Verabredung an den Händchen und liefen davon. Mit Geschrei und Weinen stürzte die arme Katerina Iwanowna ihnen nach, um sie einzuholen. Es war widerwärtig und traurig zu sehen, wie sie weinend und keuchend lief. Ssonja und Poletschka eilten ihr nach.
„Bring sie zurück, bring sie zurück, Ssonja! Oh, die dummen, undankbaren Kinder! ... Polja! Fange sie ein ... Ich habe es doch für euch ...“
Sie stolperte im vollen Laufe und fiel hin.
„Sie hat sich blutig geschlagen! Oh, Gott!“ rief Ssonja aus, sich über sie beugend.
Alle liefen hin und drängten sich um sie. Raskolnikoff und Lebesjätnikoff waren als die ersten zur Stelle, der Beamte eilte auch hinzu und ihm folgte der Schutzmann, der etwas wie „Ach ja!“ brummte und den Kopf schüttelte, in der Vorahnung, daß die Sache ihm viel zu schaffen machen würde.
„Geht weiter, geht!“ er jagte die Menschen, die umherstanden, auseinander.
„Sie stirbt!“ rief jemand.
„Sie hat den Verstand verloren!“ sagte ein anderer.
„Gott schütze sie!“ bemerkte eine Frau und schlug ein Kreuz. – „Hat man den Jungen und das Mädel gekriegt? Ja, da bringt man sie, die älteste hat sie eingeholt ... Was ihnen nur einfiel!“
Als man aber Katerina Iwanowna näher betrachtet hatte, sah man, daß sie sich gar nicht an den Steinen blutig geschlagen hatte, wie Ssonja angenommen, sondern daß das Blut, das den Fahrdamm besudelte, aus Brust und Mund kam.
„Das kenne ich aus Erfahrung,“ sagte der Beamte leise zu Raskolnikoff und Lebesjätnikoff, „das ist Schwindsucht; das Blut stürzt hervor und man erstickt. Einer Verwandten von mir ist es jüngst ähnlich gegangen, ich habe es selbst gesehen, ein halbes Glas kam ... und so plötzlich ... Was soll man tun, sie wird gleich sterben.“
„Bringt sie zu mir, hier in der Nähe!“ flehte Ssonja, „ich wohne hier ... in dem Hause, das zweite von hier ... Schnell, schnell! ...“ wandte sie sich aufgeregt an alle. „Holt einen Arzt ... Oh Gott!“
Dank der Bemühungen des Beamten ging die Sache glatt vor sich, sogar der Schutzmann half Katerina Iwanowna hinübertragen. Man brachte sie fast tot in Ssonjas Zimmer und legte sie auf das Bett. Das Blut hörte noch nicht auf zu fließen, aber Katerina Iwanowna kam langsam zu sich. In das Zimmer traten gleichzeitig außer Ssonja, Raskolnikoff und Lebesjätnikoff, der Beamte und der Schutzmann, nachdem er vorher die Menge auseinandergejagt hatte, von der einige bis zur Türe gefolgt waren. Poletschka kam auch mit Kolja und Lene, die zitterten und weinten; sie hielt sie an den Händen. Auch von Kapernaumoff kamen Leute, er selbst, lahm und krumm, von seltsamem Aussehen mit borstigen Haaren und Backenbart; seine Frau, die immer ein erschrockenes Aussehen hatte und einige ihrer Kinder mit offenem Munde und immer erstauntem, hölzernem Gesichtsausdruck. Unter diesem Publikum befand sich auch Sswidrigailoff. Raskolnikoff blickte ihn verwundert an, ohne zu begreifen, wie er hierher gekommen sei, da er sich seiner unter der Menge nicht entsann. Man sprach davon, einen Arzt und einen Priester holen zu lassen. Obwohl der Beamte Raskolnikoff auch zugeflüstert hatte, daß ein Arzt, wie es ihm schien, jetzt wohl überflüssig sei, sandte man doch nach ihm. Kapernaumoff lief selbst fort.
Unterdessen war Katerina Iwanowna zu sich gekommen und das Blut hörte für eine Weile auf zu fließen. Sie sah unverwandt mit einem schmerzlichen und durchdringenden Blick auf die bleiche und bebende Ssonja, die ihr mit einem Taschentuche die Schweißtropfen auf der Stirn abtrocknete; schließlich bat sie, man möge sie aufrichten. Man setzte sie auf und stützte sie von beiden Seiten.
„Wo sind die Kinder?“ fragte sie mit schwacher Stimme. – „Hast du sie gebracht, Polja? Oh, ihr dummen ... Warum lieft ihr fort ... Ach!“
Blut bedeckte noch ihre trockenen Lippen. Sie blickte sich um.
„Also, hier lebst du, Ssonja! Ich war nie bei dir gewesen ... jetzt erst bin ich dazu gekommen ...“
Sie blickte sie unendlich traurig an.
„Wir haben dich ausgesaugt, Ssonja ... Polja, Lene, Kolja, kommt her ... Da sind sie alle, Ssonja, nimm sie ... aus meiner Hand ... ich bin fertig! ... Das Fest ist aus! H–a ... Legt mich nieder und laßt mich wenigstens ruhig sterben ...“
Man legte sie wieder auf die Kissen zurück.
„Was? Einen Priester? ... Ist nicht nötig. Habt ihr einen überflüssigen Rubel? ... Ich habe keine Sünden! ... Gott muß mir auch ohnedem vergeben ... Er weiß, wie ich gelitten habe! ... Und wenn er nicht vergibt, so ist es auch gut! ...“
Ein unruhiges Phantasieren bemächtigte sich ihrer mehr und mehr. Zuweilen fuhr sie auf, blickte um sich, erkannte alle auf einen Augenblick, und das Bewußtsein schwand wieder. Sie atmete schwer und röchelnd.
„Ich sagte ihm: ‚Ew. Exzellenz!‘ ...!“ rief sie und holte nach jedem Worte Atem, „diese Amalie Ludwigowna ... ach! Lene, Kolja! Die Händchen in die Hüften, schneller, schneller, glissez, glissez, pas de basque![16] Stampf mit den Füßchen ... Sei ein graziöses Kind.
Du hast Diamanten und Perlen ...
Wie geht es weiter? Das sollten wir singen ...
Du hast die schönsten Augen
Mädchen, was willst du noch mehr? ...
Das ist nicht ganz richtig! Was willst du noch mehr – was sich dieser Holzklotz dabei gedacht hat? ... – Ach ja, oder ein anderes Lied
In mittäglicher Glut ...
Ach, wie ich es liebte ... Ich habe dieses Lied sehr geliebt, Poletschka! ...
In mittäglicher Glut im Tale Daghestans ...
Weißt du, dein Vater sang es ... als Bräutigam noch ... Oh, die Tage! ... Das sollten wir singen! Nun, wie heißt es denn ... ich habe es vergessen ... helft mir doch dabei ... wie heißt es denn?“ – Sie war in furchtbarer Erregung und versuchte aufzustehen. Mit schrecklicher, heiserer und überschnappender Stimme, bei jedem Worte außer Atem, schreiend und mit einer sich steigernden Angst begann sie zu singen:
„In mittäglicher Glut ... im Tale ... Daghestans ...
Mit Blei in der Brust ...
Ew. Exzellenz!“ schrie sie plötzlich herzzerreißend und in Tränen ausbrechend, „schützen Sie die Waisen! Eingedenk der Gastfreundschaft des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch! ... Man kann sogar sagen, aus einem aristokratischen ... Ha–a!“ fuhr sie auf, zur Besinnung kommend und betrachtete alle mit Entsetzen, erkannte aber sofort Ssonja. – „Ssonja, Ssonja!“ sagte sie sanft und freundlich, als wäre sie erstaunt, sie vor sich zu sehen, „Ssonja, liebe Ssonja, du bist auch hier?“
Man richtete sie wieder auf.
„Genug! ... Es ist Zeit! ... Lebwohl, Armselige! ... Die Stute ist abgehetzt! ... Zu Tode gehetzt!“ rief sie verzweifelt und haßerfüllt aus und fiel mit dem Kopfe auf das Kissen zurück.
Sie verlor von neuem das Bewußtsein, und ohne es wieder erlangt zu haben, fiel ihr blaßgelbes abgemagertes Gesicht nach hinten, der Mund öffnete sich, die Füße streckten sich krampfhaft aus. Sie stöhnte tief auf und starb.
Ssonja warf sich auf die Leiche, faßte sie mit den Händen, lehnte den Kopf an die magere Brust der Verstorbenen und verharrte so lange. Poletschka fiel zu den Füßen der Mutter nieder und küßte sie laut schluchzend. Kolja und Lene, die noch nicht verstanden hatten, was geschehen war, aber etwas Schreckliches ahnten, faßten einander mit beiden Händen an den Schultern, starrten einander in die Augen und begannen zu schreien. Beide waren noch aufgeputzt, – er im Turban, sie in dem Käppchen mit der Straußenfeder.
Und wie kam das Ehrendiplom auf das Bett neben Katerina Iwanowna hin? Es lag neben dem Kissen, Raskolnikoff hatte es gesehen.
Er ging zum Fenster. Lebesjätnikoff kam eilig zu ihm.
„Sie ist gestorben!“ sagte Lebesjätnikoff.
„Rodion Romanowitsch, ich muß Ihnen ein paar wichtige Worte sagen,“ trat Sswidrigailoff heran.
Lebesjätnikoff trat ihm sofort seinen Platz ab und verschwand zartfühlend. Sswidrigailoff führte den erstaunten Raskolnikoff in eine abgelegene Ecke hin.
„Diese ganze Schererei, das heißt die Beerdigung und alles übrige nehme ich auf mich. Wissen Sie, es kommt doch bloß auf das Geld an, und ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich überflüssiges habe. Diese zwei Sprößlinge und diese Poletschka will ich in einer besseren Anstalt für Waisenkinder unterbringen und will für jeden bis zur Volljährigkeit fünfzehnhundert Rubel in eine Bank einzahlen, so daß Ssofja Ssemenowna vollkommen unbesorgt sein kann. Auch sie will ich aus dem Pfuhle herausziehen, denn sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr? Und so teilen Sie Awdotja Romanowna mit, daß ich ihre zehntausend in dieser Weise verbraucht habe.“
„Welche Absichten verfolgen Sie bei diesen übergroßen Guttaten?“ fragte Raskolnikoff.
„Ach! Sie mißtrauischer Mensch!“ lachte Sswidrigailoff. – „Ich habe doch gesagt, daß dieses Geld bei mir überflüssig liegt. Einfach aus Menschlichkeit, das lassen Sie bei mir nicht gelten? Sie war doch keine ‚Laus‘ gewesen – (er zeigte mit dem Finger auf die Ecke, wo die Verstorbene lag) – wie irgendeine alte Wucherin. Gestehen Sie doch selbst, – ‚soll Luschin tatsächlich weiterleben und Scheußlichkeiten verüben, oder sie sterben?‘ Und wenn ich nicht helfe, so muß doch Poletschka den nämlichen Weg gehen ...“
Er sagte es spöttisch mit zugekniffenen Augen und ohne den Blick von Raskolnikoff abzuwenden. Raskolnikoff erbleichte, es durchzog ihn ein Schauer, als er seine eigenen Worte wieder hörte, die er zu Ssonja gesprochen hatte. Er fuhr zurück und blickte Sswidrigailoff fassungslos an.
„Wo–woher ... wissen Sie?“ flüsterte er, kaum atmend.
„Ich wohne ja hier, hinter der Wand bei Madame Rößlich. Hier wohnt Kapernaumoff und dort Madame Rößlich, eine alte und sehr ergebene Bekannte von mir. Ich bin ihr Nachbar.“
„Sie?“
„Ja, ich,“ fuhr Sswidrigailoff fort, sich vor Lachen schüttelnd, „und ich kann Sie auf Ehre versichern, lieber Rodion Romanowitsch, daß Sie mich kolossal interessiert haben. Ich habe doch gesagt, daß wir einander näher kommen werden, ich habe es Ihnen vorausgesagt, – nun sind wir auch einander näher gekommen. Und Sie werden sehen, wie verträglich ich bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir noch leben läßt ...“
Für Raskolnikoff war eine merkwürdige Zeit angebrochen. – Es war, als wäre plötzlich ein schwerer Nebel auf ihn herabgesunken und hätte für ihn eine undurchdringliche und tiefe Einsamkeit beschlossen. Als er später, lange nachher, sich dieser Zeit entsann, dachte er es sich so, daß sein Bewußtsein zeitweise sich verdunkelte und daß dies mit wenigen Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe gedauert hatte. Er war vollkommen überzeugt, daß er sich damals öfters geirrt haben müsse, zum Beispiel in der Zeit und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens, als er sich späterhin auf dies oder jenes besinnen wollte und sich das Erinnerte zu erklären versuchte, erfuhr er vieles über sich selbst, indem er sich nach den Mitteilungen richtete, die er von anderen erhalten. So verwechselte er ein Ereignis z. B. mit einem anderen; ein anderes hielt er für die Folge eines Vorfalls, der nur in seiner Einbildung existierte. Zuweilen erfaßte ihn eine qualvolle Unruhe, die sich zu einem panischen Schrecken steigern konnte. Er entsann sich auch, daß es Minuten, Stunden, vielleicht sogar ganze Tage gab, die er im Gegensatz zu der Angst, in völliger Apathie verbrachte, – eine Apathie, die dem schmerzhaft gleichgültigen Zustand Sterbender ähnlich war. Überhaupt trieb es ihn in diesen letzten Tagen, einem klaren und vollen Verständnis seiner Lage aus dem Wege zu gehen; alltägliche Dinge, die eine unverzügliche Erledigung verlangten, lasteten auf ihm; wie froh wäre er dagegen gewesen, von manchen Sorgen sich befreien und loslösen zu können, die im Falle ihrer Vernachlässigung ihm den völligen, unvermeidlichen Untergang bringen mußten.
Am meisten beunruhigte ihn Sswidrigailoff, – ja, man konnte sagen, daß Sswidrigailoff seine einzige Sorge war. Seit der Zeit, als er von Sswidrigailoff in Ssonjas Zimmer, in Katerina Iwanownas Todesstunde die drohenden und unzweideutigen Worte gehört hatte, schien der gewöhnliche Fluß seiner Gedanken gestört zu sein. Und obgleich ihn diese neue Tatsache äußerst beunruhigte, beeilte sich Raskolnikoff nicht, die Sache aufzuklären. Zuweilen, wenn er sich irgendwo in einem abgelegenen und menschenleeren Stadtteile, in einem kläglichen Restaurant an einem Tische allein in Gedanken versunken vorfand und sich kaum entsann, wie er hierher gekommen war, fiel ihm mit einem Male Sswidrigailoff ein, – er sah nur zu deutlich ein, daß er sich möglichst schnell mit diesem Menschen verständigen und zu einem Ende mit ihm kommen müsse. Einmal, als er vor die Stadt geraten war, bildete er sich sogar ein, daß er hier Sswidrigailoff erwarte, daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet hätten. Ein anderes Mal erwachte er vor Tagesanbruch irgendwo auf der Erde im Gebüsch und begriff nicht, wie er hierhergekommen war. In den zwei, drei auf Katerina Iwanownas Tode folgenden Tagen hatte er ein paarmal Sswidrigailoff getroffen, fast immer in der Wohnung Ssonjas, wohin er ziellos, stets aber nur einen kurzen Augenblick gegangen war. Sie wechselten stets einige kurze Worte und berührten kein einziges Mal den Hauptpunkt, als wäre es zwischen ihnen so verabredet worden, vorläufig darüber zu schweigen. Die Leiche von Katerina Iwanowna lag noch im offenen Sarge. Sswidrigailoff gab die Anordnungen für die Beerdigung und sorgte für alles. Ssonja war auch sehr in Anspruch genommen. Bei der letzten Begegnung hatte Sswidrigailoff ihm mitgeteilt, daß er die Frage bezüglich der Kinder Katerina Iwanownas gelöst habe und sehr glücklich sei, daß dank einiger Verbindungen alle drei Waisen sofort in sehr anständige Anstalten untergebracht werden könnten und daß das für sie deponierte Geld viel dazu beigetragen habe, weil wohlhabende Waisen leichter als arme unterzubringen seien. Er redete auch über Ssonja, versprach Raskolnikoff in den nächsten Tagen selbst aufzusuchen, um sich mit ihm zu beraten, da in dieser Angelegenheit Notwendiges zu besprechen sei.
Das Gespräch fand im Korridor, an der Treppe statt. Sswidrigailoff sah unverwandt Raskolnikoff in die Augen und fragte ihn nach einigem Schweigen mit gesenkter Stimme.
„Was ist mit Ihnen, Rodion Romanowitsch, Sie sind so vollkommen verändert? Wirklich! Sie hören zu und schauen einen dabei an, scheinen aber nichts zu verstehen. Geben Sie acht auf sich. Wir wollen einmal miteinander sprechen; schade nur, daß ich jetzt so viel für andere und für mich selbst zu tun habe ... Ach, Rodion Romanowitsch,“ fügte er unmittelbar hinzu, „alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor allen Dingen!“
Er trat zur Seite, um den eben heraufkommenden Priester und den Küster vorbeizulassen. Sie kamen, die Totenmesse zu halten. Sswidrigailoff hatte angeordnet, daß pünktlich zweimal am Tage Totenmessen abgehalten würden. Sswidrigailoff ging seinen Angelegenheiten nach und Raskolnikoff blieb eine Weile stehen, dachte nach und folgte dann dem Priester in Ssonjas Wohnung.
Er blieb an der Türe stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig, traurig. In dem Bewußtsein, sterben zu müssen und in der Empfindung der Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas Schweres, Drückendes und Mystisches, und er hatte seit langem keiner Totenmesse mehr beigewohnt. Außerdem peinigte ihn noch ein anderes Gefühl. Er sah auf die Kinder, – sie lagen alle vor dem Sarge auf den Knien und Poletschka weinte. Hinter ihnen stand Ssonja, still und schüchtern weinend und betete.
„Sie hat mich in diesen Tagen kein einziges Mal angeblickt und mir noch kein Wort gesagt,“ dachte Raskolnikoff. Die Sonne beleuchtete hell das Zimmer; der Weihrauch stieg in feinen Wolken empor; der Priester las „Gott schenke dir Ruhe ...“ Raskolnikoff blieb während des ganzen Gottesdienstes. Als der Priester den Segen erteilte und sich verabschiedete, blickte er sich eigentümlich um. Nach Beendigung der Messe trat Raskolnikoff an Ssonja heran. Sie nahm plötzlich seine beiden Hände und lehnte den Kopf an seine Schulter. Diese kurze Bewegung überraschte ihn. Wie? war es möglich? – Nicht der geringste Widerwille, nicht der geringste Ekel ihm gegenüber, nicht das leiseste Beben ihrer Hand. War das nicht eine grenzenlose Demütigung seines eigenen Ichs. In dieser Weise faßte er es auf. Ssonja sagte nichts und Raskolnikoff drückte ihr nur die Hand und ging fort. Ihm war schwer zumute. Hätte er in diesem Augenblicke irgendwohin gehen können, um völlig allein zu bleiben, und selbst fürs ganze Leben, er würde sich glücklich gepriesen haben. Trotzdem er in der letzten Zeit fast immer allein war, war er nicht imstande, ein Fürsichsein zu empfinden. Er ging öfters außerhalb der Stadt auf Landwegen herum, einmal sogar war er in einen Wald geraten, aber je einsamer der Ort war, desto stärker empfand er die beunruhigende Nähe von irgend etwas, das wohl nichts furchterweckendes, wohl aber etwas belästigendes war, so daß er jedesmal schneller in die Stadt zurückkehrte, sich unter die Menschen mischte, in Restaurants oder Schenken ging, den Trödelmarkt oder den Heumarkt aufsuchte. Hier ward es ihm leichter und hier fühlte er sich allein. Eines Tages war er in einer Schenke, wo man kurz vor Abend zu singen begann; er blieb eine ganze Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich, daß ihm dies wohlgetan hatte. Zum Schluß aber wurde er wieder unruhig, als ob sein Gewissen wach würde. „Ich sitze hier und höre zu, wie gesungen wird, habe ich denn nichts anderes zu tun!“ dachte er mit einemmale. Es wurde ihm bald klar, daß nicht dieser Umstand ihn allein beunruhige; es gab etwas anderes, das eine unverzügliche Lösung verlangte, was er aber sich weder klar vorstellen, noch durch Worte wiedergeben konnte. Alles verwickelte sich zu einem Knäuel. „Nein, es ist doch besser, einen Kampf zu führen! Mag Porphyri Petrowitsch wieder auftreten ... oder Sswidrigailoff ... Mag nun wieder eine Herausforderung, ein Angriff erfolgen ... Ja! Ja!“ – Er verließ die Schenke und lief fast nach Hause. Der Gedanke an Dunja und die Mutter jagte ihm plötzlich eine panische Angst ein.
Es war in der Nacht, aber der Morgen graute schon, als er auf der Krestowski-Insel im Gebüsch fröstelnd vor Fieber erwachte; er ging nach Hause. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vorüber, er erwachte sehr spät, – es war zwei Uhr nachmittags.
Es kam ihm wieder in Erinnerung, daß Katerina Iwanowna heute beerdigt werden sollte, und er war froh, daß er nicht zugegen sein mußte. Nastasja brachte ihm etwas zu essen; er aß und trank mit großem Appetit, fast mit einem Heißhunger. Sein Kopf wurde frischer, er selbst ruhiger, als in diesen letzten drei Tagen. Er wunderte sich sogar flüchtig über die früheren Anfälle seiner panischen Angst. Da öffnete sich die Türe und Rasumichin trat herein.
„Ah! Du ißt, so bist du auch nicht krank!“ sagte Rasumichin, nahm einen Stuhl und setzte sich an den Tisch, Raskolnikoff gegenüber. Er war aufgeregt und versuchte nicht, es zu verbergen und sprach mit sichtbarem Ärger, aber ohne sich zu überhasten und ohne die Stimme besonders zu erheben. Man konnte denken, daß ihn eine ganz bestimmte Absicht herführe. „Höre,“ begann er entschlossen, „ich kehre mich den Teufel um euch alle und zwar, weil ich jetzt sehe, deutlich sehe, daß ich nichts davon verstehen kann; bitte, glaube nicht, daß ich gekommen bin, dich auszufragen. Ich pfeife darauf! Ich will es gar nicht wissen! Und wenn du mir jetzt selbst alles anvertrauen, alle eure Geheimnisse entdecken wolltest, ich würde sie vielleicht nicht mal anhören, ich pfeife auf alles und gehe fort. Ich bin nur gekommen, um persönlich und endgültig zu erfahren, ob es wahr ist, daß du verrückt bist? Siehst du, es besteht die Meinung über dich, – irgendwo, das ist ja einerlei – daß du möglicherweise verrückt bist, jedenfalls aber starke Anlagen dazu habest. Ich muß dir gestehen, ich selbst war stark geneigt, diese Meinung zu teilen, erstens wegen deiner dummen und zum Teil schmählichen Handlungen, die durch nichts erklärt werden können, und zweitens wegen deines kürzlichen Benehmens deiner Mutter und Schwester gegenüber. Nur ein Scheusal und ein Schuft, oder ein Wahnsinniger konnte sie in dieser Weise behandeln, wie du sie behandelt hast; folglich bist du wahnsinnig ...“
„Hast du sie lange nicht gesehen?“
„Ich war soeben bei ihnen. Und du hast sie seit dieser Zeit nicht mehr gesehen? Sage mir bitte, wo treibst du dich herum, ich bin schon dreimal bei dir gewesen. Deine Mutter ist seit gestern ernstlich erkrankt. Sie wollte zu dir gehen; Awdotja Romanowna hielt sie davon ab; doch sie wollte auf nichts hören. ‚Wenn er krank ist,‘ sagte sie, ‚wenn sein Geist gestört ist, wer soll ihm denn helfen, wenn nicht die eigene Mutter?‘ So kamen wir alle hierher, denn wir konnten sie doch nicht allein gehen lassen. Bis zu deiner Tür haben wir sie gebeten, sich zu beruhigen. Wir traten in dein Zimmer, da warst du nicht da; hier, auf diesem Platz, hat sie gesessen. Sie saß über zehn Minuten da, wir standen schweigend in ihrer Nähe. Sie stand dann auf und sagte, – ‚wenn er ausgeht, ist er gesund und hat die Mutter vergessen; es ist unpassend und eine Schande für eine Mutter, weiter noch an der Schwelle zu stehen und um Liebkosung, wie um ein Almosen zu betteln‘. Sie kehrte nach Hause zurück, mußte sich zu Bett legen und liegt jetzt im Fieber. ‚Ich sehe,‘ sagte sie, ‚für die Seine hat er Zeit.‘ Sie meinte mit der Seinen Ssofja Ssemenowna, deine Braut oder deine Geliebte, ich weiß es nicht. Ich ging sofort zu Ssofja Ssemenowna, denn ich wollte alles erfahren, Bruder; ich komme hin und sehe, – ein Sarg steht dort, die Kinder weinen, Ssofja Ssemenowna probiert ihnen Trauerkleider an, du bist aber nicht da. Ich sah das alles an, entschuldigte mich und ging fort und habe Awdotja Romanowna alles erzählt. Alles ist Unsinn und es gibt gar keine ‚Seine,‘ also ist es ganz Wahnsinn. Doch jetzt sitzest du hier und frißt gekochtes Fleisch, als hättest du drei Tage nichts gegessen. Es ist wahr, Wahnsinnige essen auch und du hast kein Wort mit mir gesprochen, du bist aber ... nicht verrückt. Das kann ich beschwören. Unter keinen Umständen verrückt. Also, hol euch alle der Teufel, es steckt etwas dahinter, es gibt irgendein Geheimnis, und ich habe keine Lust, über eure Geheimnisse mir den Kopf zu zerbrechen. Ich bin bloß gekommen, zu schimpfen,“ schloß er und stand auf, „mir Luft zu machen und nun weiß ich, was ich zu tun habe!“
„Was willst du jetzt tun?“
„Was geht es dich an, was ich jetzt tun will?“
„Gib acht, du fängst zu trinken an!“
„Woher ... woher weißt du das?“
„Das ist leicht zu erraten!“
Rasumichin schwieg eine Weile.
„Du warst immer ein sehr vernünftiger Mensch und nie, niemals warst du verrückt,“ bemerkte er plötzlich voll Eifer. „Das stimmt, – ich werde anfangen zu trinken! Lebwohl!“
Und er schickte sich an zu gehen.
„Vorgestern, glaube ich, habe ich von dir mit der Schwester gesprochen, Rasumichin.“
„Von mir! Ja ... wo konntest du sie denn vorgestern gesehen haben?“ Rasumichin blieb stehen und wurde ein wenig blaß.
Man konnte bemerken, wie sein Herzschlag langsamer und schwerer ging.
„Sie war hierhergekommen, allein, saß hier und sprach mit mir.“
„Sie!“
„Ja, sie!“
„Was hast du denn gesprochen ... ich will sagen, – von mir?“
„Ich sagte ihr, daß du ein sehr guter, ehrlicher und arbeitsamer Mensch seist. Daß du sie liebst, habe ich ihr nicht gesagt, denn das weiß sie selbst.“
„Sie weiß es selbst?“
„Nun, und ob! Wohin ich auch reisen mag, was mit mir auch geschehen mag, – du würdest bei ihnen, als ihre Vorsehung, bleiben. Ich übergab sie beide deiner Obhut, Rasumichin. Ich sage es, weil ich sehr gut weiß, wie du sie liebst und weil ich von der Reinheit deines Herzens überzeugt bin. Ich weiß auch, daß auch sie dich lieben kann und vielleicht sogar schon liebt. Jetzt beschließe selbst, wie es dir am besten erscheint, – ob du trinken willst oder nicht?“
„Rodja ... Siehst du ... Nun ... Ach, Teufel! Wohin willst du aber gehen? Siehst du, wenn es ein Geheimnis ist, laß es! Aber ich ... ich werde das Geheimnis erfahren ... Und bin überzeugt, daß es sicher irgendein Unsinn und eine lächerliche Kleinigkeit ist, und daß du allein dir alles andere eingebrockt hast. Im übrigen aber bist du ein ausgezeichneter Mensch! Ein ausgezeichneter Mensch! ...“
„Und ich wollte gerade hinzufügen, da hast du mich aber unterbrochen, daß du vorhin sehr gut und richtig geäußert hast, diese Geheimnisse nicht erfahren zu wollen. Laß es vorläufig sein, rege dich nicht auf. Du wirst alles rechtzeitig zu wissen bekommen und dann, wenn es nötig sein wird. Gestern hat ein Mann zu mir gesagt, daß die Menschen Luft brauchen, Luft, Luft! Ich will gleich zu ihm hingehen und erfahren, was er darunter versteht.“
Rasumichin stand in Gedanken versunken, aufgeregt schien er über etwas nachzudenken.
„Er ist ein politischer Verschwörer! Sicher! Und er steht vor einem entscheidenden Schritt, – das ist auch sicher! Anders kann es nicht sein und ... Dunja weiß es ...“ dachte er.
„Also zu dir kommt Awdotja Romanowna,“ sagte er und betonte jedes Wort, „und du selbst willst einen Menschen treffen, der da sagt, daß mehr Luft nötig sei, mehr Luft und ... und, also hängt auch dieser Brief ... irgendwie damit zusammen.“
„Was für ein Brief?“
„Sie hat einen Brief erhalten, heute; der hat sie sehr aufgeregt. Sehr. Fast zu sehr ... Als ich von dir zu sprechen anfing, – bat sie mich zu schweigen. Dann ... dann sagte sie, daß wir uns vielleicht sehr bald trennen müßten, und begann mir für etwas heiß zu danken; ging darauf in ihr Zimmer und schloß sich ein.“
„Sie hat einen Brief erhalten?“ wiederholte Raskolnikoff nachdenklich.
„Ja, einen Brief, und du weißt nichts davon? Hm!“ Beide schwiegen eine Weile.
„Lebwohl, Rodion. Ich, Bruder ... es gab eine Zeit ... übrigens aber, lebwohl; siehst du, es gab eine Zeit ... Nun, lebwohl! Ich muß auch gehen. Ich werde nicht trinken. Jetzt ist es nicht mehr nötig ... wird nicht gemacht!“
Er hatte Eile, aber als er schon draußen war und die Türe fast geschlossen hatte, öffnete er sie plötzlich wieder und sagte, indem er zur Seite blickte:
„Apropos! Erinnerst du dich dieses Mordes, der Sache, die Porphyri Petrowitsch führt, – der Ermordung der Alten? Nun, du sollst wissen, daß der Mörder gefunden ist, er hat alles eingestanden und alle Beweise geliefert. Stell dir vor, es ist einer von denselben Arbeitern, den Anstreichern, die ich – erinnerst du dich – noch bei dir im Zimmer verteidigte. Kannst du es glauben, er hat diese ganze Szene mit der Schlägerei und dem Lachanfall auf der Treppe mit seinem Kameraden, als der Hausknecht und die zwei Zeugen hinaufgingen, – absichtlich vorgeführt und zwar um jeden Verdacht von sich abzulenken. Welch eine Schlauheit, welch eine Geistesgegenwart in so einem jungen Hunde steckt! Es ist schwer zu glauben; er hat aber selbst die Sache aufgeklärt, alles selbst eingestanden! Und wie ich hereingefallen bin! Nun, meiner Ansicht nach ist er bloß ein Genie der Verstellung und Geschicklichkeit, ein Genie gegenüber juristischer Verhörskunst, – folglich ist hier nichts staunenswertes! Kann es denn nicht auch solche Genies geben? Und weil er es nicht bis zu Ende durchgeführt, sondern eingestanden hat, aus dem Grunde glaube ich ihm noch mehr. Es ist überzeugender! ... Aber wie ich damals hereingefallen bin! Ich kletterte ja um ihretwillen an die Wände hinauf!“
„Sage mir bitte, woher hast du es erfahren, und warum interessiert es dich so sehr?“ fragte ihn Raskolnikoff sichtbar erregt.
„Nun, was frägst du bloß! Warum sollte es mich nicht interessieren! Das ist auch eine Frage! ... Ich habe es unter anderem von Porphyri Petrowitsch erfahren. Übrigens, ich habe fast alles durch ihn erfahren.“
„Von Porphyri Petrowitsch?“
„Ja, von Porphyri Petrowitsch.“
„Was ... was meint er?“ fragte Raskolnikoff angstvoll.
„Er hat es mir ausgezeichnet erklärt. Psychologisch erklärt, auf seine Weise.“
„Er hat es dir erklärt? Er hat es dir selbst erklärt?“
„Ja, selbst, selbst; lebwohl! Ich will dir später noch mehr erzählen, jetzt aber habe ich zu tun. Ja ... es gab eine Zeit, wo ich glaubte ... Nun, was ist da zu reden ... später davon ... Warum soll ich jetzt anfangen zu trinken. Du hast mich auch ohne Wein betrunken gemacht. Ich bin ja betrunken, Rodja! Ohne Wein bin ich betrunken; nun, aber lebwohl! Ich komme zu dir. Sehr bald.“
Er ging hinaus.
„Er ist, er ist ein politischer Verschwörer, das ist sicher, das steht fest!“ sagte sich Rasumichin endgültig, indem er langsam die Treppe hinabstieg. „Und die Schwester hat er auch hineingezogen; das ist sehr, sehr begreiflich bei dem Charakter von Awdotja Romanowna. Sie haben Zusammenkünfte ... Und sie hat es mir auch angedeutet. Aus vielen ihrer Worte ... und Andeutungen ... und Anspielungen ergibt sich dies alles! Ja, wie kann man denn sonst diesen ganzen Wirrwarr erklären? Hm! Und ich dachte ... Oh, Gott, was ich gemeint habe. Ja, das war eine Verblendung und ich habe gefehlt vor ihm! Damals bei der Lampe im Korridor hat er mich verwirrt und verblendet! Pfui! Welch ein häßlicher, roher, gemeiner Gedanke von mir! Nikolai ist ein braver Bursche, daß er es eingestanden hat ... Und wie sich jetzt alles Vorhergegangene leicht erklären läßt! Seine Krankheit damals, alle seine sonderbaren Handlungen, auch früher schon, in der Universität noch, als er immer so düster und verschlossen war ... Aber was bedeutet jetzt dieser Brief? Hier steckt vielleicht auch etwas dahinter. Von wem ist dieser Brief? Ich habe einen Verdacht ... Hm! Nein, ich will alles erfahren.“
Da erinnerte er sich an Dunetschka, und sein Herz blieb ihm fast stillstehen. Er riß sich von seinen Gedanken los und lief weiter.
Kaum war Rasumichin fortgegangen, so stand Raskolnikoff auf, wandte sich zum Fenster, ging von einer Ecke in die andere, als hätte er die Enge seiner Kammer vergessen, und ... setzte sich wieder auf das Sofa hin. Er schien ganz wie ausgewechselt zu sein; wieder – hatte sich ein Ausweg gefunden!
Ja, es hat sich ein Ausweg gefunden! sagte er sich. Alles war schon zu vollgestopft, es hatte angefangen, ihn qualvoll zu drücken, ein förmlicher Taumel hatte ihn überfallen. Seit dem Auftritte mit Nikolai bei Porphyri Petrowitsch vermeinte er, ohne einen Ausweg ersticken zu müssen. Nach Nikolai folgte am selben Tage der Auftritt bei Ssonja; er hatte ihn nicht so, wie er’s sich vorgenommen, begonnen und durchgeführt ... also hatte ihn die Schwäche plötzlich und vollständig übermannt! Mit einemmale! Er war ja doch damals mit Ssonja einverstanden, aus vollem Herzen einverstanden, daß er mit solch einer Sache auf der Seele allein nicht leben könne! Und Sswidrigailoff? Sswidrigailoff ist ein Rätsel ... Sswidrigailoff beunruhigt ihn, das ist wahr, aber nicht nach dieser Richtung hin. Mit Sswidrigailoff steht vielleicht auch ein Kampf bevor. Mit Sswidrigailoff gibt es vielleicht auch einen Ausweg, mit Porphyri Petrowitsch – das ist freilich eine andere Sache.
Aber Porphyri Petrowitsch hat selbst Rasumichin alles erklärt, psychologisch ihm erklärt! Wieder fängt er mit seiner verfluchten Psychologie an! Porphyri Petrowitsch? Was, Porphyri Petrowitsch soll auch nur einen Augenblick geglaubt haben, daß Nikolai schuldig sei, – nach allem, was zwischen ihnen beiden vorgefallen war, vor Nikolais Erscheinen, nach jenem Auftritt, Auge in Auge, für den man keine andere Erklärung finden konnte, außer einer einzigen? – (Raskolnikoff war einigemal in diesen Tagen dieser Auftritt mit Porphyri Petrowitsch in der Erinnerung stückweise vorgeschwebt; sich des Auftritts in seiner ganzen Bedeutung zu erinnern, hätte er nicht ertragen können.) – Während dieser Szene hatten sie beide Worte gewechselt, waren Bewegungen und Gesten vorgekommen, Blicke getauscht, war einiges in einem Tone gesagt worden, und die ganze Szene hatte einen Charakter angenommen, daß auf keinen Fall ein Nikolai, – den Porphyri Petrowitsch doch sofort beim ersten Worte und bei der ersten Bewegung richtig erkannt hatte, – die Grundlage seiner Überzeugung erschüttern konnte.
Wie weit war es aber auch schon gekommen! Sogar Rasumichin hatte begonnen, Verdacht zu schöpfen! Die Szene im Korridor bei der Lampe ist an ihm nicht spurlos vorübergeglitten. Er ist doch zu Porphyri Petrowitsch hingelaufen ... Aber aus welchem Grunde will jener ihn irreführen? Was hat er für einen Zweck, Rasumichin auf Nikolai zu bringen? Er hat unbedingt etwas vor; er verfolgt damit bestimmte Zwecke, aber welcher Art sind sie? Es ist wahr, seit diesem Morgen ist viel Zeit vergangen, – viel zu viel Zeit und von Porphyri Petrowitsch habe ich weder etwas gehört, noch gesehen. Das ist sicher kein gutes Zeichen ...
Raskolnikoff nahm seine Mütze, versank in Gedanken und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. Es war der erste Tag, während dieser ganzen Zeit, daß er sich wenigstens bei gesundem Bewußtsein fühlte. „Ich muß dieser Sache mit Sswidrigailoff ein Ende machen,“ – dachte er, – „um jeden Preis und möglichst schnell; er scheint zu erwarten, daß ich selbst zu ihm komme.“ – In diesem Augenblicke entstand in seinem bedrückten Herzen ein wilder Haß, daß er einen von beiden, – Sswidrigailoff oder Porphyri Petrowitsch hätte ermorden können. Er fühlte wenigstens, daß er, wenn nicht jetzt, so später, imstande sei, es zu tun. – „Wir wollen sehen, wir wollen sehen,“ wiederholte er vor sich. –
Als er aber gerade die Türe zur Treppe öffnete, stieß er mit Porphyri Petrowitsch zusammen. Der kam zu ihm. Raskolnikoff war im ersten Augenblick erstarrt. Aber sonderbar, sein Staunen über Porphyris Erscheinen und sein Schrecken waren gering. Er zuckte bloß zusammen, sammelte sich aber sofort augenblicklich. „Vielleicht ist es die Lösung! Aber wie leise er gekommen war, wie eine Katze, ich habe ihn nicht gehört! Hat er etwa gelauscht?“
„Sie haben diesen Besuch nicht erwartet, Rodion Romanowitsch,“ rief Porphyri Petrowitsch lachend. „Wollte schon lange Sie aufsuchen; ging nun vorbei und dachte mir, – warum soll ich nicht auf fünf Minuten hinaufgehen. Sie wollen ausgehen? Ich will Sie nicht aufhalten. Bloß auf eine Zigarette, wenn Sie gestatten.“
„Ja, nehmen Sie Platz, Porphyri Petrowitsch, nehmen Sie bitte Platz,“ Raskolnikoff bot seinem Besuche mit solch einer sichtlich zufriedenen und freundschaftlichen Miene einen Platz an, daß er über sich selbst verwundert gewesen wäre, wenn er sich hätte sehen können.
Es war auch der letzte Rest seiner Kraft. So hegt ein Mensch eine halbe Stunde lang tödliche Angst vor dem Räuber, wenn aber das Messer ihm endgiltig an die Kehle gesetzt wird, schwindet die Angst. Er setzte sich Porphyri Petrowitsch gegenüber und blickte ihn, ohne die Augen für einen Moment abzuwenden, an. Porphyri Petrowitsch kniff die Augen zusammen und steckte sich eine Zigarette an.
„Nun, sprich, sprich doch,“ schien es aus dem Herzen Raskolnikoffs herauszurufen. – „Nun, warum redest, warum redest du nicht?“
„Nehmen wir einmal die Zigaretten!“ sagte endlich Porphyri Petrowitsch, nachdem er die Zigarette angesteckt und Atem geholt hatte, „sie sind schädlich, ganz und gar schädlich, ich kann sie aber nicht lassen! Ich huste, im Halse beginnt es zu kratzen und ich leide an Atemnot. Wissen Sie, ich bin ängstlich, war vor ein paar Tagen bei B. gewesen, – er untersucht jeden Kranken, minimum, eine halbe Stunde; er lachte, als er mich sah, – dann hat er mich beklopft und ausgehorcht und sagte unter anderem, daß Tabak für mich nicht gut sei, meine Lungen seien erweitert. Und, wie kann ich das Rauchen lassen? Wodurch soll ich es ersetzen? Ich trinke nicht, das ist das ganze Unglück, he–he–he, es ist ein Unglück, daß ich nicht trinke! Alles ist doch wie man’s nimmt, Rodion Romanowitsch, wie man’s nimmt!“
„Was fängt er wieder mit seinem alten Kram an?“ dachte Raskolnikoff voll Widerwillen. Die ganze letzte Szene stieg vor ihm auf und dasselbe Gefühl wie damals überflutete wie eine Welle sein Herz.
„Ich war schon einmal bei Ihnen, vorgestern abend. Sie wissen es nicht?“ fuhr Porphyri Petrowitsch fort und blickte sich im Zimmer um, „ich war in demselben Zimmer gewesen. Ich ging ebenso, wie heute, vorbei und dachte, – ich will ihm mal eine Gegenvisite machen. Komme hierher, das Zimmer steht weit offen; ich sah mich um, wartete eine Weile, habe mich nicht mal Ihrem Dienstmädchen gemeldet – und ging wieder fort. Sie schließen das Zimmer nicht ab?“
Raskolnikoffs Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Porphyri Petrowitsch schien seine Gedanken zu erraten. „Ich bin gekommen, lieber Rodion Romanowitsch, Ihnen eine Erklärung zu geben. Ich bin Ihnen eine solche schuldig,“ fuhr er mit einem Lächeln fort und schlug ihm mit der Hand leicht auf das Knie, aber zu gleicher Zeit nahm sein Gesicht einen ernsten und besorgten Ausdruck an, es schien, zu Raskolnikoffs Erstaunen, wie mit Trauer umflort. Er hatte noch nie bei Porphyri Petrowitsch solch einen Ausdruck gesehen und ihn auch nicht bei ihm vermutet. – „Eine merkwürdige Szene hat sich das letzte Mal zwischen uns abgespielt, Rodion Romanowitsch. Ich gestehe, daß es vielleicht auch bei unserer ersten Zusammenkunft sonderbar hergegangen ist, aber damals ... Nun, jetzt kommt es auf dasselbe hinaus! Hören Sie, ich habe eine große Schuld Ihnen gegenüber, ich fühle es. Erinnern Sie sich, wie wir uns trennten, – bei Ihnen vibrierten die Nerven und zitterten die Knie, auch bei mir vibrierten die Nerven und zitterten die Knie. Und wissen Sie, es war auch zwischen uns damals nicht ganz anständig, nicht gentlemanlike zugegangen. Wir sind aber doch Gentlemen, das heißt in jedem Falle und vor allen Dingen Gentlemen; das ist im Auge zu behalten. Sie erinnern sich doch, wie weit es kam ... geradezu unanständig.“
„Was ist mit ihm, für wen hält er mich denn?“ fragte sich Raskolnikoff verwundert, indem er den Kopf erhob und Porphyri Petrowitsch aufmerksam anblickte.
„Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß es besser für uns ist, jetzt in aller Offenheit zu verhandeln,“ fuhr Porphyri Petrowitsch fort, seinen Kopf ein wenig zurückwerfend und die Augen senkend, als wünsche er nicht mehr durch seinen Blick sein früheres Opfer zu verwirren, und als verschmähe er seine frühere Methode und seine Kniffe; – „ja, solche Verdächtigungen und solche Szenen dürfen nicht andauern. Uns hat damals Nikolai erlöst, sonst wüßte ich nicht, was alles zwischen uns passiert wäre. Dieser verfluchte Kleinbürger saß damals die ganze Zeit bei mir hinter der Scheidewand, – können Sie es sich vorstellen? Sie wissen es sicher schon; es ist mir bekannt, daß er später bei Ihnen gewesen ist; das aber, was Sie damals annahmen, war nicht der Fall, – ich hatte nach keinem Menschen geschickt und hatte damals auch keine Anordnungen getroffen! Sie werden mich fragen, warum ich keine Anordnungen getroffen hatte? Ja, wie soll ich es sagen, – mich selbst hat dieses alles damals überfallen. Ich hatte kaum Zeit gefunden, die Hausknechte holen zu lassen, – Sie haben die Hausknechte wahrscheinlich bemerkt, als Sie durch das Vorzimmer gingen. – Ein Gedanke durchfuhr mich damals, wie ein Blitz, – ich war, sehen Sie, Rodion Romanowitsch, damals so gut wie überzeugt. Warte, dachte ich mir, – wenn ich auch vorläufig das eine versäume, so packe ich dafür das andere am Schwanz, – will jedenfalls das meinige nicht versäumen. Sie sind von Natur aus sehr reizbar, Rodion Romanowitsch, sogar übermäßig reizbar bei allen anderen Grundzügen Ihres Charakters und Herzens, die ich mir schmeichle teilweise erkannt zu haben. Selbstverständlich konnte ich mir auch damals schon sagen, daß es nicht oft der Fall sei, daß ein Mensch plötzlich aufsteht und sein ganzes Geheimnis ausplaudert. Das kommt wohl vor, besonders, wenn einem Menschen die letzte Geduld reißt, aber jedenfalls immerhin selten. Ja, das konnte ich mir sagen. Ich dachte, wenn ich bloß ein Zipfelchen erwische! Meinetwegen ein ganz winziges Endchen, nur ein einziges, aber ein derartiges, daß man es fassen kann, daß es ein Ding ist und nicht immer bloß diese Psychologie. Dann dachte ich mir, wenn ein Mensch schuldig ist, so kann man jedenfalls etwas wesentliches von ihm erwarten; es ist selbst statthaft, auch auf ein ganz unerwartetes Resultat zu rechnen. Ich habe damals mit Ihrem Charakter gerechnet, Rodion Romanowitsch, am meisten mit Ihrem Charakter! Ich hoffte damals zu stark auf Sie selbst.“
„Aber ... aber warum sprechen Sie jetzt in dieser Weise,“ murmelte Raskolnikoff endlich, ohne seine eigene Frage sich zu überlegen. – „Worüber spricht er,“ verlor er sich in Mutmaßungen, „hält er mich tatsächlich für unschuldig?“
„Warum ich in dieser Weise spreche? Ich bin gekommen, Ihnen Erklärungen zu geben, halte es für meine heilige Pflicht. Ich will Ihnen alles bis aufs haarkleinste erzählen, wie alles war, diese ganze Geschichte der damaligen Verblendung. Ich habe Ihnen viel Leid zugefügt, habe Sie stark leiden lassen, Rodion Romanowitsch. Ich bin kein so großes Scheusal. Ich begreife auch, was es für einen niedergedrückten, aber stolzen, eigenartigen und ungeduldigen, besonders ungeduldigen Menschen heißt, dies alles ertragen zu müssen. Ich halte Sie in jedem Falle für einen edlen Menschen, mit großmütiger Veranlagung, obgleich ich nicht mit allen Ihren Überzeugungen einverstanden bin und ich halte es für meine Pflicht im voraus, offen und aufrichtig Ihnen das zu sagen, ich will Sie nicht betrügen. Nachdem ich Sie erkannt hatte, fühlte ich eine Neigung zu Ihnen. Sie werden wohl über meine Worte lachen? Und Sie haben ein Recht dazu. Ich weiß, daß Sie mich auf den ersten Blick schon nicht leiden konnten, und im Grunde genommen ist auch nichts an mir, warum man mich gern haben könnte. Fassen Sie es jedoch auf, wie Sie wollen, ich wünsche meinerseits mit allen Mitteln, diesen Eindruck von mir zu verwischen und Ihnen zu beweisen, daß auch ich ein Mensch mit einem Herzen und einem Gewissen bin. Und dies sage ich aufrichtig.“
Porphyri Petrowitsch hielt würdevoll inne. Raskolnikoff fühlte den Andrang eines neuen Schreckens. Der Gedanke, daß Porphyri Petrowitsch ihn für unschuldig hielt, begann ihn zu peinigen.
„Ich denke, es ist unnötig und überflüssig, alles der Reihenfolge nach zu erzählen, wie es damals begonnen hatte,“ fuhr Porphyri Petrowitsch fort. „Ja, und es ist fraglich, ob ich imstande bin, es zu tun. Denn, wie soll man es genau erklären? Im Anfange tauchten Gerüchte auf. Darüber, was es für Gerüchte waren, und von wem sie stammten, und wann ... und aus welchem Anlaß eigentlich Sie hineingezogen wurden, – ist auch, denke ich, überflüssig zu erwähnen. Bei mir persönlich fing es mit einer Zufälligkeit, mit einer völlig unvorgesehenen Zufälligkeit an, die ebenso gut sein wie nicht sein konnte, – was es aber war? Hm, ich denke, dies ist auch nicht zu erwähnen. Dies alles, wie die Gerüchte, so auch die Zufälligkeiten, schmolzen sich bei mir zu einem Gedanken zusammen. Ich muß offen gestehen, denn, wenn man schon einmal eingesteht, soll es auch alles sein, – ich war der erste, der auf Sie damals kam. Die Vermerke der Alten auf den versetzten Sachen und dergleichen mehr sind, ich gebe es zu, alles Unsinn. In dieser Weise kann man hundert solche Dinge aufzählen. Ich hatte auch damals die Gelegenheit, die Szene auf dem Polizeibureau in allen ihren Einzelheiten zu erfahren, ebenfalls zufällig und nicht sozusagen im Vorbeigehen, sondern von einem besonders zuverlässigen Erzähler, der ohne es selbst zu ahnen, diese Szene vortrefflich aufgefaßt hatte. So reihte sich alles eins ans andere, gesellte sich eins zu dem andern, lieber Rodion Romanowitsch! Und wie sollte man da sich nicht nach einer bestimmten Richtung wenden? Aus hundert Kaninchen wird nie ein Pferd, aus hundert Verdachtsgründen kommt nie ein Beweis heraus, – so lautet ein englisches Sprichwort, aber da rechnet man bloß mit dem Intellekte, man soll jedoch auch mit den Leidenschaften rechnen, denn ein Untersuchungsrichter ist doch auch nur ein Mensch. Ich erinnerte mich auch Ihrer Abhandlung in der Zeitschrift, über die ich mit Ihnen – erinnern Sie sich – bei Ihrem ersten Besuch eingehend sprach. Ich habe damals gespottet, aber nur um von Ihnen mehr herauszulocken. Ich wiederhole, Sie sind ungeduldig und sehr krank, Rodion Romanowitsch. Daß Sie kühn, herausfordernd, ernst sind und ... vieles durchgedacht, vieles durchgedacht haben, das alles wußte ich längst. Alle diese Empfindungen kenne ich, und Ihre kleine Abhandlung habe ich wie etwas Wohlvertrautes gelesen. In schlaflosen Nächten und in Aufregungen mit wogendem und klopfendem Herzen, mit unterdrücktem Enthusiasmus ist diese Arbeit entstanden. Aber dieser unterdrückte, stolze Enthusiasmus in jungen Jahren ist gefährlich! Ich habe damals gespottet, will Ihnen aber jetzt sagen, daß ich überhaupt solche ersten, jugendlichen, hitzigen Versuche mit der Feder über alles das gewissermaßen als Amateur liebe. Ein Rauch, ein Nebel ist es, und im Nebel klingt eine Saite. Ihr Artikel ist unsinnig und phantastisch, aber darin schimmert solch eine Aufrichtigkeit, darin steckt ein jugendlicher und unbestechlicher Stolz, eine Kühnheit der Verzweiflung; es ist ein finsterer Artikel, und das ist seine Stärke. Ich las Ihren Artikel und legte ihn beiseite, und ... als ich ihn beiseite gelegt hatte, dachte ich schon damals, ‚nun, mit diesem Menschen geht es nicht so weiter!‘ Nun, sagen Sie mir jetzt, wie sollte man sich da nach all dem Vorangegangenen von dem Darauffolgenden nicht hinreißen lassen! Ach, mein Gott! Was sage ich denn jetzt? Behaupte ich denn jetzt etwas? Ich habe es mir damals bloß gemerkt. Was ist denn alles dabei, – dachte ich? Es ist ja nichts, rein gar nichts, und vielleicht im höchsten Grade ein Nichts. Ja, und es ziemt sich ganz und garnicht für mich, den Untersuchungsrichter, mich so hinreißen zu lassen, – ich habe doch Nikolai in den Händen, und mit Beweisen, – es ist gleichgiltig, wie man darüber denkt, Beweise sind es in jedem Fall. Und er hat auch seine Psychologie; ich muß mich mit ihm beschäftigen, denn es handelt sich hier um Tod und Leben. Wozu erkläre ich Ihnen jetzt dies alles? Damit Sie es wissen und mich mit Ihrem Verstande und Herzen wegen meines damaligen bösen Benehmens nicht anklagen sollen. Es war nicht böse gemeint, ich sage es aufrichtig, he–he–he! Meinen Sie etwa, daß ich keine Haussuchung bei Ihnen vorgenommen hätte? Ich habe es getan, habe es getan, he–he–he, habe sie vorgenommen, als Sie krank im Bett lagen. Es war nicht offiziell und nicht von mir persönlich, aber in jedem Fall, sie wurde vorgenommen. Bis aufs letzte Haar wurde bei Ihnen in der Wohnung alles, sogar nach frischen Spuren, besehen, – aber umsonst. Da dachte ich, – jetzt kommt dieser Mensch zu mir, kommt selbst und sehr bald zu mir; wenn er schuldig ist, wird er unbedingt kommen. Ein anderer würde nicht kommen, dieser aber unbedingt. Und erinnern Sie sich, wie Herr Rasumichin sich Ihnen gegenüber zu versprechen begann? Das haben wir arrangiert, um Sie aufzuregen, darum haben wir absichtlich auch das Gerücht verbreitet, damit er sich Ihnen gegenüber verspreche, Herr Rasumichin aber ist so ein Mensch, der keine Entrüstung bei sich behalten kann. Herrn Sametoff fiel zuerst Ihr Zorn und Ihre offene Kühnheit auf; wie kann einer in einem Restaurant plötzlich herausplatzen, – ‚ich habe ermordet!‘ Es ist zu kühn, es ist zu frech und wenn er schuldig ist, – dachte ich, – so ist er ein furchtbarer Gegner! In dieser Weise habe ich damals gedacht. Ich wartete auf Sie! Wartete mit größter Ungeduld, Sametoff haben Sie damals einfach niedergeschmettert und ... das ist ja das Fatale, daß diese ganze Psychologie zwei Seiten hat! Nun, ich erwarte also Sie und siehe, Gott schickt Sie selbst, – Sie kommen! Mein Herz klopfte stark! Ach! Nun, warum mußten Sie damals kommen? Ihr Lachen, Ihr Lachen damals, als Sie hereinkamen, – erinnern Sie sich – ich erriet sofort alles, als sähe ich durch ein Glas; hätte ich aber auf Sie in dieser besonderen Art nicht gewartet, würde ich auch in Ihrem Lachen nichts gemerkt haben. Sehen Sie, was es heißt, in Stimmung zu sein. Und Herr Rasumichin damals, – ach! und der Stein, der Stein, – erinnern Sie sich – der Stein, unter dem noch die Sachen versteckt sind? Mir war es, als sähe ich ihn irgendwo in einem Gemüsegarten. – Sie hatten doch Sametoff schon davon erzählt und erwähnten ihn dann bei mir zum zweiten Male! Als Sie aber damals begannen, Ihren Artikel bis aufs einzelne durchzunehmen, als Sie sich näher darüber ausließen, – da faßte ich jedes Ihrer Worte doppelt auf, als stecke noch ein anderes darunter! Nun, sehen Sie, Rodion Romanowitsch, in dieser Weise kam ich auch bis zu den letzten Schranken, und erst als ich mit der Stirn dagegen rannte, kam ich zur Besinnung. Nein, – sagte ich mir – was ist mit dir? Wenn man will, – sagte ich mir – kann man dies alles bis zum letzten Punkte auf andere Weise erklären, und es wird immer noch natürlicher erscheinen. Es war eine Qual! Nein, – dachte ich, – wenn ich doch nur ein Zipfelchen erwischen könnte! ... Und als ich gar von diesem Klingelzeichen hörte, erstarrte ich, ein Frösteln packte mich. – Jetzt ist das Zipfelchen da! dachte ich. Ich habe es! Da überlegte ich nicht mehr, wollte es einfach nicht mehr tun. Tausend Rubel hätte ich in diesem Augenblicke aus meiner eigenen Tasche hingegeben, um nur Sie mit meinen eigenen Augen gesehen zu haben, – wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbürger hingingen, nachdem er Ihnen ins Gesicht ‚Mörder!‘ gesagt hatte, und Sie nicht gewagt hatten, ihn irgend etwas, ganze hundert Schritte lang, zu fragen! ... Nun, und dieses Gefühl von Kälte im Rückenmark? War dieses Klingelzeichen auch im kranken Zustande, im halbbewußten Fieberwahne? Und da müssen Sie sich, Rodion Romanowitsch, nach alldem auch nicht wundern, daß ich damals mit Ihnen solche Scherze getrieben habe. Und warum kamen Sie selbst im selben Augenblicke? Es war, als hätte Sie jemand gestoßen, zu kommen, bei Gott, und wenn uns Nikolai nicht auseinander gebracht hätte, so ... erinnern Sie sich an Nikolai damals? Erinnern Sie sich seiner gut? Er kam, wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Nun, und wie empfing ich ihn? Dem Blitze glaubte ich nicht das geringste, Sie geruhten es selbst zu sehen! Und noch mehr! Als Sie schon fortgegangen waren, und als er begann, sehr, sehr vernünftig manche Punkte zu beantworten, so daß ich selbst verwundert war, auch dann glaubte ich ihm noch nicht das geringste! Sehen Sie, was es heißt, felsenfest überzeugt zu sein. Nein – dachte ich – daran ist nichts zu machen! Nikolai ändert daran garnichts!“
„Mir erzählte soeben Rasumichin, daß Sie auch jetzt Nikolai beschuldigen, und daß Sie Rasumichin selbst davon überzeugt hätten ...“
Der Atem stockte ihm, und er beendete den Satz nicht. Er hörte mit unbeschreiblicher Erregung zu, wie ein Mensch, der ihn vollkommen durchschaut hatte, sich vor sich selbst verleugnete. – Er fürchtete daran zu glauben und glaubte nicht. In den zweideutigen Worten suchte er gierig und haschte nach etwas Bestimmterem und Genauerem.
„Herr Rasumichin!“ rief Porphyri Petrowitsch wie erfreut über die Frage Raskolnikoffs, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. – „He–he–he! Ja, Herrn Rasumichin mußte man auch abschieben, – zu zweit ist es ein Vergnügen, der dritte soll wegbleiben. Herr Rasumichin soll aus dem Spiele bleiben, und ist außerdem ein fremder Mensch; er kam zu mir ganz blaß gelaufen ... Nun, Gott sei mit ihm, wozu sollen wir ihn in die Sache hereinbringen! ... Und was Nikolai betrifft, – so sollen Sie wissen, was das für ein Subjekt ist, das heißt, wie ich ihn auffasse. Vor allen Dingen ist er noch das reine Kind, und nicht etwa eine ängstliche Natur, sondern er ist eine Art Künstler. Sie sollen sich nicht darüber lustig machen, daß ich ihn so darstelle. Er ist ein unschuldiger, reiner und für alles empfänglicher Mensch. Hat ein Herz, ist ein Phantast. Man sagt, daß er singen und tanzen kann und Märchen so zu erzählen versteht, daß Leute aus anderen Orten sich versammeln, um ihn zu hören. Auch zur Schule, zu den Abendkursen geht er, kann sich krank lachen, wenn man ihm den Finger zeigt, kann sich bewußtlos betrinken, nicht etwa aus Verdorbenheit, sondern gelegentlich, wenn man ihm zu trinken gibt, alles in kindlicher Weise. Er hat damals gestohlen, weiß es aber selbst nicht, denn nach seiner Ansicht – ‚ist es doch kein Diebstahl, wenn er etwas auf der Erde gefunden hat?‘ Wissen Sie aber, daß er zu den Altgläubigen gehört, nein, eigentlich ist er kein Altgläubiger, sondern ein Sektierer; aus seiner Familie gehörten einige der Sekte ‚Bewegung‘ an, auch er selbst hat vor kurzem noch zwei Jahre auf dem Lande bei einem gottesfürchtigen Greis gelebt, um sich in den Grundsätzen der Religion zu festigen. Das alles habe ich von Nikolai und seinen Nachbarn aus dem Dorfe erfahren. Noch mehr! Er wollte Einsiedler werden! Er hatte die feste Absicht, betete nächtelang zu Gott, las in den alten ‚echten, wahren‘[12] Büchern und hat vor lauter Lesen den Verstand verloren. Petersburg hat auf ihn einen starken Eindruck gemacht, besonders das weibliche Geschlecht, nun, und auch der Wein. Er ist empfänglich, hat den gottesfürchtigen Greis und alles vergessen. Ich habe erfahren, daß ihn hier ein Künstler lieb gewonnen hat, er ging zu ihm zu Besuch, da kam aber diese Geschichte dazwischen. Nun, er bekam Angst, – und wollte sich erhängen! Wollte davonlaufen! Was soll man da tun bei dem Begriffe, den das Volk nun einmal von unserer Rechtspflege besitzt! Manchen erschrickt schon das Wort ‚vors Gericht gestellt zu werden‘. Wer ist daran schuld! Wir wollen sehen, wie die Gerichtsreform wirken wird. Ach, möge es Gott bald geben! Nun, also, – im Gefängnisse erinnerte er sich offenbar wieder des gottesfürchtigen Greises; auch die Bibel erschien wieder. Wissen Sie, Rodion Romanowitsch, was es bei manchen von diesen Leuten bedeutet, ‚das Leiden auf sich zu nehmen‘? Das bedeutet nicht etwa, für jemand anderen zu leiden, sondern einfach man soll ‚Leiden auf sich nehmen‘ und besonders gilt das, wenn die Behörden im Spiele sind. Zu meiner Dienstzeit noch saß im Gefängnisse ein ganzes Jahr ein äußerst stiller, ruhiger Arrestant, er las nächtelang auf dem Ofen liegend die Bibel, und verlor vor lauter Lesen den Verstand, wissen Sie, verlor ihn ganz und gar, so daß er eines schönen Tages ohne jede Veranlassung, ohne jeden Grund einen Ziegelstein packte und ihn auf den Vorgesetzten schleuderte. Ja, und wie tat er es, – absichtlich schleuderte er den Stein eine Elle vorbei, um dem Vorgesetzten bloß keinen Schaden anzufügen! Nun, es ist ja bekannt, was mit einem Arrestanten geschieht, der bewaffneten Widerstand gegen seinen Vorgesetzten leistet, – und da hatte er also ‚das Leiden auf sich genommen‘! Ich habe nun den Verdacht, daß Nikolai auch ‚das Leiden auf sich nehmen‘ oder etwas derartiges tun will. Das weiß ich sicher, aus Tatsachen. Er weiß bloß selbst nicht, daß ich es weiß. Was – geben Sie es etwa nicht zu, daß aus solch einem Volke phantastische Menschen hervortreten? Aber sicher auf Schritt und Tritt. Der gottesfürchtige Greis hat jetzt wieder bei ihm zu wirken begonnen, ist ihm besonders nach dem Selbstmordversuch in Erinnerung gekommen. Übrigens aber, er wird mir selbst alles erzählen, er wird zu mir kommen. Sie glauben, er wird es bis zu Ende aushalten können? Warten Sie nur, er wird seine Aussage noch zurücknehmen! Ich warte stündlich, daß er kommen wird, um seine Aussage zurückzunehmen. Ich habe diesen Nikolai liebgewonnen und will ihn genau ergründen. Und können Sie sich denken! He–he–he! Manche Punkte hat er mir ziemlich vernünftig beantwortet, hat offenbar die nötigen Mitteilungen erhalten und sich gut vorbereitet; nun, und bei anderen Punkten blamierte er sich mordsmäßig, wußte rein gar nichts, hatte keine Ahnung, und weiß selbst nicht mal, daß er nichts ahnt! Nein, Väterchen, Rodion Romanowitsch, mit dieser Sache hat Nikolai nichts zu tun! Es ist eine phantastische, finstere Sache, eine moderne Sache, ein Fall unserer Zeit, wo das menschliche Herz sich getrübt hat – wo die Phrase zitiert wird, daß Blutvergießen ‚erfrischt‘, wo von einem Leben in Komfort gepredigt wird. Hier – sind Ideen aus Büchern, hier spricht ein durch Theorien gereiztes Herz, hier sieht man eine Entschlossenheit zum ersten Schritt, aber eine Entschlossenheit besonderer Art, – er hat sich dazu entschlossen, wie man sich entschließt, von einem Felsen oder von einem Turme sich herabzustürzen, und ist zu dem Verbrechen nicht wie auf eigenen Füßen geschritten. Er hatte vergessen, die Türe hinter sich zu schließen und hat getötet, zwei Menschen getötet, nach der Theorie. Er hat getötet, aber nicht verstanden, das Geld zu nehmen, was er aber zusammengerafft hat, steckte er unter einen Stein. Es genügte ihm nicht, daß er eine Qual durchgemacht hatte, als er hinter der Tür stand und an der Tür gerüttelt und an der Klingel gerissen wurde, – nein, er geht noch einmal nachher in die leere Wohnung in halbbewußtem Zustande, um sich dieses Läuten in Erinnerung zu bringen, es verlangt ihn wieder, diese Kälte im Rücken zu spüren ... Nun ja, dies ist im kranken Zustande geschehen, aber noch eins, – er hat ermordet, hält sich aber für einen ehrlichen Menschen, verachtet alle Leute, wandert als bleicher Engel herum, – nein, was hat Nikolai damit zu tun, lieber Rodion Romanowitsch, nein, Nikolai ist es nicht!“
Diese letzten Worte waren nach allem vorher Gesagten, das einem Aufgeben des früher Angenommenen so ähnlich war, zu unerwartet gekommen. Raskolnikoff erzitterte am ganzen Körper, wie vom Blitze getroffen.
„Wer hat sie denn ... getötet ...“ fragte er mit erstickender Stimme, ohne doch die Frage zurückhalten zu können. Porphyri Petrowitsch warf sich gegen die Stuhllehne zurück, wie aufs äußerste überrascht und erstaunt über diese Frage.
„Wie, wer sie getötet hat? ...“ wiederholte er, als traue er seinen Ohren nicht. – „Ja, Sie haben getötet, Rodion Romanowitsch! Sie haben getötet ...“ fügte er fast im Flüstertone, aber bestimmt hinzu.
Raskolnikoff sprang vom Sofa auf, stand einige Sekunden und setzte sich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Über sein Gesicht ging ein krampfhaftes Zucken.
„Die Lippe bebt wieder bei Ihnen, wie damals,“ murmelte scheinbar voll Teilnahme Porphyri Petrowitsch. – „Sie haben, Rodion Romanowitsch, mich nicht richtig verstanden,“ fügte er nach einigem Schweigen hinzu, „darum sind Sie auch so überrascht. Ich bin gerade darum gekommen, um Ihnen alles zu sagen und die Sache offen mit Ihnen zu behandeln.“
„Ich habe nicht getötet,“ flüsterte Raskolnikoff, genau wie ein Kind im Schreck, wenn es auf frischer Tat ertappt wurde.
„Nein, Sie haben es getan, Rodion Romanowitsch, Sie und niemand anders,“ flüsterte Porphyri Petrowitsch streng und fest.
Sie schwiegen beide und das Schweigen dauerte merkwürdig lange, etwa zehn Minuten. Raskolnikoff hatte sich auf den Tisch gestützt und fuhr schweigend mit den Fingern durch die Haare. Porphyri Petrowitsch saß still und wartete. Plötzlich blickte Raskolnikoff Porphyri Petrowitsch verächtlich an.
„Sie kommen wieder mit der alten Weise, Porphyri Petrowitsch! Immer Ihre alte Taktik, – wird es Ihnen in der Tat nicht langweilig?“
„Ach, lassen Sie doch, was soll es denn für eine Taktik sein! Ja, wenn Zeugen zur Stelle wären; wir sprechen aber doch Auge in Auge. Sie sehen selbst, ich bin nicht dazu hergekommen, um Sie zu hetzen und zu umgarnen, wie ein flüchtiges Wild. Ob Sie gestehen oder nicht, – in diesem Augenblicke ist es mir einerlei. Für meine Person bin ich auch ohne das überzeugt.“
„Wenn die Sache so steht, warum sind Sie denn gekommen?“ fragte Raskolnikoff gereizt. – „Ich stelle Ihnen die frühere Frage, – wenn Sie mich für den Schuldigen halten, warum sperren Sie mich nicht ins Gefängnis?“
„Das ist doch einmal ein Wort! Darum will ich Ihnen diese Frage genau beantworten, – erstens, Sie einfach ins Gefängnis zu sperren, ist für mich unvorteilhaft.“
„Wieso unvorteilhaft? Wenn Sie überzeugt sind, so müssen Sie sogar ...“
„Ach, was hat es denn zu sagen, daß ich überzeugt bin? Alles ist doch vorläufig ein Gedanke von mir, eine Einbildung. Ja und warum soll ich Sie dort zur Ruhe setzen? Sie wissen das selbst, wenn Sie darauf drängen. Ich bringe zum Beispiel den Kleinbürger hin, um Sie zu überführen, Sie werden ihm aber sagen, – bist du betrunken oder nicht? Wer hat dich mit mir zusammen gesehen? Ich habe dich einfach für einen Betrunkenen gehalten, und du warst es auch, – was soll ich Ihnen darauf erwidern, umsomehr, als Ihre Worte überzeugender sind als seine, denn in seiner Aussage steckt nur eine psychologische Mutmaßung, – das paßt aber zu seiner Fratze nicht mal, – Sie aber treffen den Kernpunkt, denn der gemeine Kerl trinkt sehr stark und ist dafür bekannt. Und ich habe selbst Ihnen offen schon einigemal gesagt, daß diese Psychologie zwei Seiten hat, und daß die zweite Seite die größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, und habe hinzugefügt, daß ich außer diesem vorläufig gar nichts gegen Sie in den Händen habe. Und obwohl ich Sie einsperren werde, und sogar selbst gekommen bin – (was doch sicher nicht gang und gäbe ist) – Ihnen im voraus alles mitzuteilen, trotzdem sage ich Ihnen offen – (was wieder nicht gang und gäbe ist) – daß dies für mich unvorteilhaft sein wird. Und zweitens, bin ich darum zu Ihnen gekommen ...“
„Und zweitens?“ Raskolnikoff rang immer noch nach Atem.
„Weil ich mich, wie ich Ihnen schon vorhin erklärte, für verpflichtet halte, Ihnen eine Erklärung abzugeben. Ich will nicht, daß Sie mich für ein Scheusal ansehen sollen, umsomehr, als ich zu Ihnen eine aufrichtige Neigung gefaßt habe, ob Sie mir glauben oder nicht. Und deswegen bin ich, drittens, gekommen, Ihnen den offenen und direkten Vorschlag zu machen – sich selbst anzuzeigen und ein Geständnis abzulegen. Das ist für Sie das Gescheiteste, und auch für mich am vorteilhaftesten, – dann bin ich die Sache los. Nun, war ich meinerseits offen oder nicht?“
Raskolnikoff dachte einen Augenblick nach.
„Hören Sie, Porphyri Petrowitsch, Sie sagen doch selbst, – es ist nur auf Psychologie begründet, indessen aber ziehen Sie die Mathematik herein. Nun wie, wenn Sie sich selbst irren?“
„Nein, Rodion Romanowitsch, ich irre mich nicht. Ich habe ein Endchen in der Hand. Das Endchen hatte ich auch damals erwischt; Gott hat es mir geschenkt!“
„Was für ein Endchen?“
„Das sage ich nicht, Rodion Romanowitsch. In jedem Falle aber habe ich jetzt nicht mehr das Recht, es hinauszuschieben; ich werde Sie verhaften. Also ziehen Sie dies in Betracht, – für mich ist es jetzt gleichgültig, folglich tue ich es bloß um Ihretwillen. Bei Gott, es wird für Sie besser sein, Rodion Romanowitsch!“
Raskolnikoff lächelte boshaft.
„Es ist doch nicht bloß lächerlich, es ist unverschämt. Und mag ich schuldig sein, – was ich noch gar nicht sage, – nun, warum soll ich denn zu Ihnen mit einem freiwilligen Geständnis kommen, wenn Sie schon selbst sagen, daß ich dort bei Ihnen mich zur Ruhe setzen werde?“
„Ach, Rodion Romanowitsch, trauen Sie nicht ganz den Worten; vielleicht wird es auch nicht ganz ‚zur Ruhe‘ sein! Es ist doch bloß eine Theorie und zudem noch meine eigene, was für eine Autorität aber bin ich für Sie? Vielleicht verheimliche ich auch jetzt noch irgend etwas vor Ihnen. Ich kann Ihnen doch nicht alles offenbaren und zeigen. He–he! Außerdem, Sie fragen, welchen Vorteil Sie haben werden? Ja, wissen Sie auch, welch eine Strafermäßigung Sie erhalten werden? Wann werden Sie kommen, in welchem Augenblick? Überlegen Sie es sich doch bloß! In dem Momente, wo schon ein anderer das Verbrechen auf sich genommen und die ganze Angelegenheit verwirrt hat! Und ich will, – so wahr ein Gott ist – alles ‚dort‘ so einrichten und arrangieren, daß Ihr Geständnis wie vollkommen unerwartet erscheinen wird. Diese ganze Psychologie wollen wir ganz vernichten, allen Verdacht will ich in nichts verwandeln, so daß Ihr Verbrechen, wie eine Art Verblendung erscheinen wird, denn – offen gestanden, – es war auch eine Verblendung. Ich bin ein ehrlicher Mensch, Rodion Romanowitsch, und werde mein Wort halten.“
Raskolnikoff schwieg traurig und ließ den Kopf sinken; er dachte lange nach, plötzlich lächelte er wieder, aber sein Lächeln war diesmal schon sanft und traurig.
„Ach, es ist nicht nötig!“ sagte er, als ob er sich gar nicht mehr vor Porphyri Petrowitsch verberge. – „Es lohnt sich nicht! Ich brauche gar nicht Ihre Strafermäßigung!“
„Das fürchtete ich gerade!“ rief Porphyri Petrowitsch innig und unwillkürlich, – „das fürchtete ich gerade, daß Sie unsere Ermäßigung nicht brauchen.“
Raskolnikoff blickte ihn traurig und eindringlich an.
„Hören Sie, verschmähen Sie das Leben nicht!“ fuhr Porphyri Petrowitsch fort. – „Sie haben noch viel von ihm zu erwarten. Warum ist eine Strafermäßigung nicht nötig, warum nicht? Sie ungeduldiger Mensch!“
„Was habe ich denn noch viel vor?“
„Zu leben! Was sind Sie für ein Prophet, wissen Sie denn wie viel? Suchet und ihr werdet finden. Vielleicht hat Sie Gott hier geprüft. Ja, und nicht ewig wird doch die Kette angelegt ...“
„Eine Ermäßigung wird sein ...“ lachte Raskolnikoff.
„Haben Sie etwa Furcht vor der Bourgeoisschande? Das ist wohl möglich, daß Sie dieses schreckt, und Sie wissen es vielleicht selbst nicht, – denn Sie sind noch jung! Aber Sie sollten sich wenigstens doch nicht fürchten oder etwa schämen, ein Geständnis abzulegen.“
„Ach, ich pfeife darauf!“ flüsterte Raskolnikoff verächtlich und mit Widerwillen, als ob er darüber auch nicht mehr reden wolle. Er war wieder aufgestanden, als ob er irgendwohin gehen wollte, setzte sich aber von neuem in sichtlicher Verzweiflung.
„Da haben wir es – ich pfeife darauf! Sie haben den Glauben verloren, und meinen auch, daß ich Ihnen grob schmeichle; haben Sie denn so lange gelebt? Verstehen Sie denn so viel davon? Haben sich eine Theorie ausgedacht, und schämen sich nun, daß nichts daraus wurde, und daß es zu wenig originell herauskam. Es nahm ein gemeines Ende, das ist wahr, aber Sie sind doch kein hoffnungsloser Schuft! Sie haben sich wenigstens nicht lange Sand in die Augen gestreut, Sie sind mit einem bis zu den äußersten Grenzen gegangen. Für wen halte ich Sie denn? Ich halte Sie für einen von der Sorte Menschen, denen man den Leib aufschlitzen kann, die aber ruhig dastehen und mit einem Lächeln auf ihre Peiniger blicken, – wenn sie nur einen Glauben oder einen Gott gefunden haben. Nun, gehen Sie und finden Sie es und Sie werden leben. Außerdem müssen Sie schon längst eine Luftveränderung haben. Was, das Leiden ist auch eine gute Sache. Leiden Sie eine Zeit. Nikolai hat vielleicht auch recht, daß er Leiden sucht. Ich weiß, daß Sie noch nicht glauben können, – grübeln Sie aber nicht zu viel; geben Sie sich einfach, ohne viel zu überlegen, dem Leben hin; seien Sie sicher, – es bringt Sie an das Ufer und stellt Sie auf die Beine. An was für ein Ufer weiß ich nicht. Woher soll ich es auch wissen? Ich glaube nur daran, daß Sie noch viel zu leben haben. Ich weiß auch, daß Sie meine Worte jetzt wie eine auswendig gelernte Predigt auffassen; aber vielleicht werden Sie sich ihrer einmal später erinnern und sie werden Ihnen von Nutzen sein können. Aus diesem Grunde spreche ich auch. Es ist gut, daß Sie nur diese Alte ermordet haben. Wenn Sie aber sich eine andere Theorie ausgedacht hätten, so würden Sie vielleicht eine um hundert Millionen schlimmere Sache vollbracht haben! Man muß vielleicht noch Gott danken; woher wissen Sie es? Vielleicht behütet Sie Gott aus irgend einem Grunde. Sie sollten aber ein großes Herz haben und sich weniger fürchten. Ihnen ist bange vor der Größe dessen, was jetzt zu geschehen hat? Nein, in diesem Falle muß man sich schämen, bange zu sein. Wenn Sie einen solchen Schritt getan haben, so nehmen Sie sich auch jetzt zusammen. Darin liegt die ausgleichende Gerechtigkeit. Erfüllen Sie nun mal, was die Gerechtigkeit verlangt. Ich weiß, daß Sie nicht glauben, aber – bei Gott – das Leben wird Ihnen zu weiterem verhelfen. Nachher werden Sie es selbst gern haben. Sie brauchen jetzt bloß Luft, Luft und Luft!“
Raskolnikoff zuckte zusammen.
„Ja, wer sind Sie denn?“ rief er aus. – „Sind Sie etwa ein Prophet? Woher haben Sie diese hohe majestätische Ruhe, um mir superkluge Prophezeiungen vorzuorakeln?“
„Wer ich bin? Ich bin ein abgetaner Mensch, mehr nicht. Ein Mensch, der vielleicht empfindet und Mitgefühl besitzt, vielleicht auch etwas weiß, aber schon vollkommen abgetan ist. Sie aber – mit Ihnen steht es anders; Ihnen hat Gott das Leben vorbehalten; wer weiß, vielleicht geht bei Ihnen alles wie ein Dunst vorüber, nichts wird zurückbleiben. Nun, was ist denn dabei, daß Sie in eine andere Gattung von Menschen übergehen werden? Sie mit Ihrem Herzen sollten doch nicht den Komfort bedauern? Was ist denn dabei, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr sehen wird? Hier handelt es sich nicht um die Zeit, sondern um Sie selbst. Werden Sie eine Sonne, und alle werden Sie sehen. Eine Sonne muß vor allen Dingen eine Sonne sein. Warum lächeln Sie wieder, – daß ich solch ein Schiller bin? Und ich gehe eine Wette ein, Sie meinen, daß ich mich an Sie heranschmeichle! Nun, vielleicht schmeichle ich mich auch tatsächlich heran, he–he–he! Sie brauchen mir, Rodion Romanowitsch, meinetwegen kein Wort zu glauben, meinetwegen, glauben Sie auch niemals, – ich habe schon so eine Art, gebe es zu; aber eins füge ich hinzu, – ob ich ein gemeiner und wie weit ich ein ehrlicher Mensch bin, können Sie, glaube ich, selbst beurteilen!“
„Wann denken Sie mich zu verhaften?“
„Nun, anderthalb oder zwei Tage kann ich Sie noch frei herumgehen lassen. Denken Sie nach, mein Lieber, beten Sie zu Gott. Ja, es ist vorteilhafter, – bei Gott – vorteilhafter.“
„Wenn ich aber fliehen werde?“ fragte Raskolnikoff mit einem sonderbaren Lächeln.
„Nein, Sie werden nicht fliehen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein moderner Sektierer wird fliehen – ein Lakai, der von fremden Gedanken zehrt, dem man bloß eine Fingerspitze zu zeigen braucht und der an alles, was Sie wollen, sein Lebelang glauben wird. Sie aber glauben doch nicht mehr an Ihre Theorie, – warum wollen Sie fliehen? Ja, und was wollen Sie in einem freiwilligen Exil? Im Exil ist es häßlich und schwer, Sie aber brauchen vor allen Dingen Leben und eine bestimmte Lage, eine entsprechende Luft, und gibt es für Sie im Exil die nötige Luft? Wenn Sie fliehen werden, kehren Sie selbst zurück. Ohne uns können Sie nicht auskommen. Und wenn ich Sie ins Gefängnis setze, – nun, Sie werden einen Monat sitzen, meinetwegen auch zwei oder drei, und dann werden Sie plötzlich, – denken Sie an meine Worte, – selbst zu mir kommen und gestehen, und möglicherweise für Sie selbst unerwartet. Sie werden selbst noch eine Stunde vorher nicht wissen, daß Sie ein Geständnis ablegen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie auf den Gedanken kommen werden, das Leiden auf sich zu nehmen. Sie glauben mir jetzt nicht auf mein bloßes Wort hin, Sie werden selbst aber darauf verfallen. Denn das Leiden, Rodion Romanowitsch, ist ein großes Ding; lassen Sie außer acht, daß ich fett und dick geworden bin, das tut nichts, ich weiß es dennoch; lachen Sie nicht darüber, – im Leiden liegt eine tiefe Idee. Nikolai hat recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.“
Raskolnikoff stand von seinem Platz auf und nahm seine Mütze. Porphyri Petrowitsch erhob sich auch.
„Sie wollen spazieren gehen? Der Abend wird schön werden, es möge nur kein Gewitter kommen. Es wäre zwar besser, wenn es frischer würde ...“
Er nahm auch seine Mütze.
„Porphyri Petrowitsch,“ sagte Raskolnikoff mit strenger Eindringlichkeit, „bitte, setzen Sie sich nicht in den Kopf, daß ich Ihnen heute gestanden habe. Sie sind ein sonderbarer Mensch und ich habe Ihnen aus bloßer Neugier zugehört. Ich habe Ihnen aber nichts eingestanden ... Vergessen Sie es nicht.“
„Nun gut, ich werde es nicht vergessen, – sehen Sie nur, wie Sie zittern. Seien Sie ruhig, mein Lieber; Ihren Willen sollen Sie haben. Gehen Sie ein wenig spazieren; zu viel aber sollen Sie nicht gehen. Ich habe an Sie für jeden Fall noch eine kleine Bitte,“ fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, – „eine peinliche, aber wichtige Bitte, – wenn Sie, das heißt, für jeden Fall ... woran ich übrigens nicht glaube und Sie zu ähnlichem für ganz und gar nicht fähig halte, ... falls – ich sage es bloß für jeden Fall – Sie in diesen vierzig oder fünfzig Stunden Lust verspüren sollten, die Sache irgendwie anders, in einer phantastischen Weise aus der Welt zu schaffen, – sagen wir, Hand an sich legen zu wollen ... es ist ja eine unsinnige Annahme, entschuldigen Sie bitte, – hinterlassen Sie dann eine kurze aber genaue Mitteilung. Es brauchen bloß zwei Zeilen, zwei kurze Zeilen zu sein und erwähnen Sie auch den Stein; das wird anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich wünsche Ihnen gute Gedanken und die rechten Vorsätze!“
Porphyri Petrowitsch ging gebückt hinaus, und vermied es, Raskolnikoff anzublicken. – Raskolnikoff trat an das Fenster und wartete gereizt und ungeduldig, bis jener auf der Straße sein konnte und weitergegangen war. Dann verließ auch er selbst schnell das Zimmer.
Er eilte zu Sswidrigailoff. Was er von diesem Menschen erwartete, – wußte er selbst nicht. Er wußte nur das eine, daß der eine Macht über ihn hatte. Nachdem er dies einmal eingesehen hatte, konnte er sich nicht länger mehr beunruhigen und außerdem war jetzt die richtige Zeit gekommen. – Auf dem Wege quälte ihn besonders die eine Frage, – war Sswidrigailoff bei Porphyri Petrowitsch gewesen?
Soweit er beurteilen konnte, und er hätte darauf schwören mögen, – war er nicht dort gewesen! Er dachte wiederholt nach, rief den ganzen Besuch Porphyri Petrowitschs in seine Erinnerung zurück und überlegte: – nein, er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht!
Aber wenn er noch nicht dort gewesen war, würde er oder würde er nicht zu Porphyri Petrowitsch hingehen?
Vorläufig schien es Raskolnikoff, als ob er nicht hingehen würde. Warum? Er konnte sich selber dies nicht erklären, aber wenn er es auch gekonnt hätte, so wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies alles quälte ihn, und doch hatte er zugleich für etwas anderes Interesse. Es war erstaunlich und niemand würde es vielleicht geglaubt haben, – um sein jetziges unumgängliches Schicksal war er wenig besorgt, er dachte nur zerstreut daran. Ihn quälte etwas anderes, anscheinend Wichtigeres, etwas Außergewöhnliches, – das nur ihn selbst und niemand anderen betraf. Außerdem empfand er eine grenzenlose seelische Erschlaffung, obgleich sein Verstand an diesem Morgen besser arbeitete, als in allen diesen letzten Tagen.
Und war es der Mühe wert, nach alledem, was vorgefallen war, diese neuen winzigen Bedrängnisse zu überwinden? War es der Mühe wert, zum Beispiel, zu intrigieren, damit Sswidrigailoff nicht zu Porphyri Petrowitsch hingehe; ihn zu studieren, auszukundschaften und Zeit zu verlieren für einen Sswidrigailoff?
Oh, wie ihm dies alles langweilig war!
Indessen eilte er aber doch zu Sswidrigailoff; erwartete er etwa von ihm etwas neues, oder Fingerzeige oder einen Ausweg? Man greift in der Not auch nach einem Strohhalm! Führte sie etwa jetzt das Schicksal oder ein Instinkt zusammen? Vielleicht war es bloß Müdigkeit, Verzweiflung, vielleicht brauchte er gar nicht Sswidrigailoff, sondern jemand anderen, und Sswidrigailoff war ihm nur in den Weg gelaufen. Ssonja? Ja, wozu sollte er jetzt zu Ssonja gehen? Wieder um ihre Tränen betteln? Ssonja war ihm jetzt schrecklich. In Ssonja stellte er sich ein unerbittliches Urteil, einen unwandelbaren Entschluß vor. Hier aber handelte es sich darum, entweder ihr oder sein Weg. Besonders im gegenwärtigen Augenblicke war er außerstande, sie zu sehen. Nein, es wäre besser, Sswidrigailoff auszuforschen, – was wäre dabei? Er konnte sich nicht innerlich eingestehen, daß er tatsächlich jenen schon längst zu irgend etwas gebrauchte.
Aber was konnte es zwischen ihnen beiden gemeinsames geben? Selbst eine Freveltat konnte sie beide nicht auf gleiche Stufe bringen. Dieser Mensch war ihm sehr unangenehm, offenbar äußerst verdorben, sicher aber schlau und unzuverlässig, und vielleicht auch bösartig. Von ihm wurde allerhand erzählt. Es war ja richtig, er hat sich der Kinder Katerina Iwanownas angenommen; aber wer weiß, zu welchem Zwecke und was es noch auf sich hatte? Dieser Mensch hatte stets seine Absichten und Pläne.
In all diesen Tagen schwebte ständig Raskolnikoff noch ein Gedanke vor und beunruhigte ihn sehr, obwohl er ihn stets von sich zu weisen suchte; so schwer lastete dieser Gedanke auf ihm! Er dachte – Sswidrigailoff hat die ganze Zeit sich mit ihm beschäftigt; Sswidrigailoff hat sein Geheimnis erfahren und hatte schon böse Absichten gegenüber Dunja. Man könnte doch fast mit Bestimmtheit sagen, daß er sie noch haben werde. Und wenn er jetzt, nachdem er sein Geheimnis erfahren und so über ihn eine Macht erhalten hätte, sie als eine Waffe gegen Dunja benutzen wollte?
Dieser Gedanke quälte ihn sogar im Traume, aber noch nie war er ihm so deutlich gekommen, wie jetzt. Und dieser Gedanke allein versetzte ihn in die äußerste Wut. Dann würde sich alles verändern, sogar seine eigene Lage, – er muß dann sofort sein Geheimnis Dunetschka mitteilen. Er mußte sich vielleicht selbst verraten, um Dunetschka von einem unvorsichtigen Schritt abzuhalten. Und der Brief? Heute früh hatte Dunetschka einen Brief erhalten! Von wem in Petersburg kann sie Briefe empfangen? Etwa von Luschin? Es ist ja wahr, dort paßt Rasumichin auf, aber Rasumichin weiß doch nichts von alldem. Vielleicht muß er sich auch Rasumichin anvertrauen. Raskolnikoff dachte mit Widerwillen an diese Möglichkeit.
Er beschloß endgültig, Sswidrigailoff in jedem Falle möglichst bald aufzusuchen. Gott sei Dank, hier handelt es sich nicht so sehr um die Einzelheiten, als um den Kernpunkt der Sache, – aber wenn er, wenn er schon fähig war ... wenn Sswidrigailoff irgend etwas gegen Dunja vorhatte, – so ...
Raskolnikoff war während dieser ganzen Zeit, während dieses ganzen Monats so abgespannt geworden, daß er jetzt ähnliche Fragen nicht anders mehr lösen konnte, als bloß durch das eine, – „dann töte ich ihn!“ Das dachte er auch in diesem Augenblicke mit kalter Verzweiflung. Schwer bedrückte es sein Herz; er blieb mitten auf der Straße stehen und begann sich umzusehen, – welchen Weg er ging und wohin er gekommen war? Er befand sich auf dem N.schen Prospekt, dreißig oder vierzig Schritte vom Heumarkt entfernt, den er passiert hatte. Der ganze zweite Stock eines Hauses linker Hand war von einem Restaurant eingenommen. Alle Fenster waren weit geöffnet; das Restaurant war, nach den vielen an den Fenstern sich bewegenden Gestalten zu urteilen, stark besetzt. Im Saale sang ein Chor, Lieder, Klarinetten und Geigen tönten und eine türkische Trommel lärmte. Man hörte auch das Gekreische einiger Weiber. Er wollte umkehren und begriff gar nicht, wie er auf den N.schen Prospekt gekommen war, als er plötzlich in einem der letzten offenen Fenster des Restaurants Sswidrigailoff erblickte, der dort hinter einem Teetisch mit einer Pfeife im Munde saß. Er erschrak, und sein Schrecken ward zum Entsetzen. Sswidrigailoff blickte ihn an und beobachtete ihn schweigend und wollte – was Raskolnikoff ebenfalls betroffen machte, wie es schien, aufstehen, um leise und unbemerkt fortzugehen. Raskolnikoff gab sich sofort den Anschein, als hätte auch er ihn nicht bemerkt, und blickte in Gedanken versunken zur Seite, ohne aber ihn ganz aus dem Auge zu lassen. Sein Herz klopfte unruhig. Es war richtig, – Sswidrigailoff wollte offenbar nicht gesehen werden. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und wollte sich verbergen; als er aber aufstand und den Stuhl zur Seite schob, hatte er wahrscheinlich gemerkt, daß Raskolnikoff auch ihn gesehen und beobachtet hatte. Es war etwas, was der Szene ihres ersten Zusammentreffens bei Raskolnikoff, während seines Schlafes, glich. Ein spöttisches Lächeln zeigte sich auf dem Gesichte Sswidrigailoffs. Beide wußten, daß sie einander gesehen und beobachtet hatten. Zuletzt lachte Sswidrigailoff laut auf.
„Nun! Kommen Sie doch herauf, wenn Sie wollen; ich bin hier!“ rief er ihm aus dem Fenster zu.
Raskolnikoff ging in das Restaurant hinauf. Er fand ihn in einem sehr kleinen Hinterzimmer mit einem Fenster, das an den großen Saal anstieß, in dem an etwa zwanzig kleinen Tischen beim greulichen Gebrüll eines Sängerchores Kaufleute, Beamte und andere Leute Tee tranken. Aus einer anderen Ecke vernahm man das Anprallen von Billardkugeln. Auf dem Tische vor Sswidrigailoff stand eine angebrochene Flasche Champagner und ein Glas, zur Hälfte mit Wein gefüllt. In dem kleinen Zimmer befanden sich außerdem ein Knabe, der eine kleine Drehorgel hatte, und ein kräftiges rotwangiges Mädchen, in einem gestreiften aufgebauschten Rocke und einem Tiroler Hütchen mit Bändern. Es war eine Sängerin, etwa achtzehn Jahre alt, die, trotz des Chorgesanges in dem anderen Zimmer, unter Begleitung der Drehorgel einen Gassenhauer mit ziemlich heiserer Kontrealtstimme sang ...
„Nun, genug!“ unterbrach Sswidrigailoff sie beim Eintritt Raskolnikoffs.
Das Mädchen brach sofort ab und blieb in ehrerbietiger Erwartung stehen. Auch ihren Gassenhauer hatte sie mit einem ehrerbietigen und ernsten Ausdrucke im Gesichte gesungen.
„He, Philipp, ein Glas!“ rief Sswidrigailoff.
„Ich werde keinen Wein trinken,“ sagte Raskolnikoff.
„Wie Sie wollen, aber ich habe das Glas nicht Ihretwegen bestellt. Trink, Katja! Heute brauche ich euch nicht mehr, geht!“ – Er goß ihr ein volles Glas Wein ein und legte einen Rubelschein für sie auf den Tisch.
Katja leerte das Glas mit einem Male, wie die Frauen Wein trinken, das heißt, ohne das Glas abzusetzen und zwanzigmal schluckend, sie nahm dann den Schein, küßte Sswidrigailoff die Hand, was er sehr ernst zuließ und verließ das Zimmer, ihr folgte der Knabe mit der Drehorgel. Man hatte beide von der Straße heraufgeholt. Sswidrigailoff wohnte noch nicht einmal eine Woche in Petersburg und alles verkehrte schon mit ihm auf recht patriarchalischem Fuße. Auch der Kellner Philipp kannte ihn schon und bediente ihn unterwürfigst. Die Tür zum Saale wurde geschlossen, Sswidrigailoff war in diesem Zimmer wie bei sich zu Hause und verbrachte hier jedenfalls ganze Tage. Das Restaurant war schmutzig, schlecht und nicht einmal von mittlerer Sorte.
„Ich wollte zu Ihnen gehen und suchte Sie,“ begann Raskolnikoff, „bog aber unversehens vom Heumarkte zu dem N.schen Prospekt ab! Ich gehe nie diesen Weg und komme nie hierher. Ich nehme vom Heumarkte immer den Weg zur rechten Hand. Auch der Weg zu Ihnen führt hier nicht vorbei. Doch kaum als ich einbog, erblickte ich Sie sofort. Das ist seltsam!“
„Warum sagen Sie nicht offen heraus, – das ist ein Wunder!“
„Weil es vielleicht nur ein Zufall ist.“
„Wie sonderbar all diese Leute beschaffen sind!“ lachte Sswidrigailoff, „Sie wollen es nicht eingestehen, wenn Sie auch innerlich selbst an Wunder glauben! Sie sagen doch selbst, daß es – ‚vielleicht‘ – bloß ein Zufall ist. Und wie sie alle hier feig sind, eine eigene Meinung zu haben, können Sie sich gar nicht vorstellen, Rodion Romanowitsch. Ich meine nicht Sie. Sie haben eine eigene Meinung und fürchten sich nicht, sie zu haben. Darum haben Sie auch mein Interesse gefesselt.“
„Aber das genügt doch.“
Sswidrigailoff war offenbar in erregtem Zustande, doch nur ein klein wenig; von dem Wein hatte er nur ein halbes Glas getrunken.
„Mir scheint es, Sie kamen schon zu mir, ehe Sie erfuhren, daß ich fähig bin, das zu haben, was Sie eine eigene Meinung nennen,“ bemerkte Raskolnikoff.
„Nun, damals war es eine andere Sache. Jeder hat seine eigenen Wege. Was aber das Wunder anbetrifft, muß ich Ihnen sagen, daß Sie anscheinend diese letzten zwei oder drei Tage verschlafen haben. Ich habe Ihnen selbst dieses Restaurant angegeben, und es war gar kein Wunder, daß Sie hierher kamen; ich habe Ihnen selbst den ganzen Weg beschrieben und Ihnen den Ort und die Stunden gesagt, wann man mich hier treffen kann. Erinnern Sie sich?“
„Ich habe es vergessen,“ antwortete Raskolnikoff verwundert.
„Es scheint so. Zweimal habe ich es Ihnen gesagt. Die Adresse hat sich Ihrem Gedächtnisse mechanisch eingeprägt. Sie schlugen auch diesen Weg mechanisch ein, indessen streng der Adresse folgend, ohne es selbst zu wissen. Als ich es Ihnen damals sagte, glaubte ich nicht, daß Sie mich verstanden hatten. Sie verraten sich zu sehr, Rodion Romanowitsch. Noch eins: – ich bin überzeugt, daß es in Petersburg viele Leute gibt, die im Gehen mit sich selbst sprechen. Es ist eine Stadt von Halbverrückten. Wenn wir die Wissenschaften mehr pflegten, so könnten Mediziner, Juristen und Philosophen, jeder auf seinem Spezialgebiete die wertvollsten Untersuchungen über Petersburg anstellen. Selten findet man so viel finstere, tiefeinschneidende und eigentümliche Einflüsse auf die Seele eines Menschen vor, wie in Petersburg. Was allein sind die klimatischen Einflüsse wert! Indessen ist es das administrative Zentrum von ganz Rußland, und sein Charakter muß sich in allem geltend machen. Aber es handelt sich jetzt nicht darum, sondern, daß ich Sie ein paarmal schon heimlich beobachtet habe. Sie verlassen Ihre Wohnung – halten den Kopf nach oben. Nach zwanzig Schritten lassen Sie ihn schon sinken und die Hände legen Sie auf den Rücken. Sie blicken vor sich und sehen offenbar weder vor sich etwas, noch neben sich. Schließlich beginnen Sie die Lippen zu bewegen und mit sich selbst zu sprechen, wobei Sie zuweilen die eine Hand frei machen und deklamieren, endlich bleiben Sie mitten auf dem Wege lange stehen. Das ist nicht gut. Vielleicht beobachtet jemand Sie außer mir, und das ist nicht vorteilhaft. Mir ist es im Grunde genommen gleichgültig, und ich werde Sie nicht heilen, aber Sie verstehen mich sicher.“
„Wissen Sie es, daß man mich beobachtet?“ fragte Raskolnikoff und blickte ihn forschend an.
„Nein, ich weiß nichts davon,“ antwortete Sswidrigailoff, wie verwundert.
„Nun, lassen wir meine Person aus dem Spiel,“ murmelte Raskolnikoff mit verdüstertem Gesichte.
„Gut, lassen wir Sie aus dem Spiel.“
„Sagen Sie mir lieber, – wenn Sie hierher gehen zu trinken und mir selbst diesen Ort zweimal genannt haben, damit ich hierher zu Ihnen kommen soll, warum versteckten Sie sich denn und wollten weggehen, als ich Sie von der Straße aus am Fenster sah? Ich habe es sehr gut gemerkt.“
„He–he! Warum lagen Sie auf Ihrem Sofa mit geschlossenen Augen und stellten sich schlafend, während Sie doch gar nicht schliefen, als ich damals bei Ihnen auf der Schwelle stand? Ich habe es sehr gut bemerkt.“
„Ich konnte ... Gründe haben ... Sie wissen es selbst.“
„Auch ich konnte meine Gründe haben, obwohl Sie sie nicht erfahren werden.“
Raskolnikoff setzte den rechten Ellenbogen auf den Tisch, stützte mit den Fingern der rechten Hand sein Kinn und starrte unverwandt Sswidrigailoff an. Er betrachtete eine Weile sein Gesicht, das auch früher ihn stets in Staunen gesetzt hatte. Es war ein auffallendes Gesicht, das einer Maske zu gleichen schien, – weiß, rotwangig, mit roten, purpurroten Lippen, mit einem hellblonden Barte und noch ziemlich dichten hellblonden Haaren. Die Augen waren zu blau und ihr Blick zu schwer und unbeweglich. Es lag etwas äußerst Unangenehmes in diesem hübschen und für sein Alter viel zu jugendlichen Gesichte. Sswidrigailoffs Kleidung war elegant, leicht, sommerlich; besonders elegant war seine Wäsche. An einem Finger hatte er einen großen Ring mit einem kostbaren Stein.
„Ja, soll ich mich denn auch mit Ihnen abgeben,“ sagte Raskolnikoff plötzlich, indem er mit krampfhafter Ungeduld auf sein Ziel losging, „obgleich Sie vielleicht der gefährlichste Mensch sind, wenn Sie Lust bekommen sollten, mir zu schaden, aber ich will mich nicht mehr verstellen und Komödie spielen. Ich will Ihnen gleich zeigen, daß ich gar keinen großen Wert auf meine Person lege, wie Sie wahrscheinlich annehmen. Wissen Sie, ich bin gekommen, Ihnen offen zu erklären, wenn Sie noch Ihre frühere Absicht gegenüber meiner Schwester hegen, und wenn Sie zu diesem Zwecke irgend etwas von dem, was Ihnen in der letzten Zeit bekannt geworden ist, zu benutzen gedenken, – ich Sie eher töten werde, bevor Sie mich ins Gefängnis bringen. Mein Wort ist sicher, – Sie wissen, daß ich es zu halten imstande bin. Zweitens, wenn Sie mir irgend etwas zu sagen haben, – denn es schien mir die ganze Zeit, als wollten Sie mir etwas mitteilen, – tun Sie es schnell, denn die Zeit ist kostbar, und vielleicht ist es sehr bald zu spät.“
„Was haben Sie denn für eine Eile?“ fragte Sswidrigailoff und blickte ihn neugierig an.
„Jeder hat seine eigenen Wege,“ sagte Raskolnikoff finster und ungeduldig.
„Sie haben mich selbst soeben gebeten, offen zu sein, und die erste Frage lehnen Sie schon ab, zu beantworten,“ bemerkte Sswidrigailoff mit einem Lächeln.
„Ihnen scheint es immer, daß ich irgend welche Zwecke verfolgen muß und darum betrachten Sie mich argwöhnisch. Nun, das ist in Ihrer Lage vollkommen begreiflich. Aber wie sehr ich auch wünsche, mit Ihnen in nähere Beziehungen zu kommen, werde ich mir doch nicht die Mühe machen, Sie vom Gegenteile zu überzeugen. Bei Gott, es ist nicht der Mühe wert, und ich hatte gar nicht die Absicht, mit Ihnen über irgend etwas besonderes zu sprechen.“
„Wozu brauchten Sie mich dann? Sie scharwenzelten doch um mich herum?“
„Ganz einfach, als ein interessantes Beobachtungsobjekt. Mir gefielen Sie durch das Phantastische Ihrer Lage, – das ist der Grund. Außerdem sind Sie der Bruder einer Persönlichkeit, die mich sehr interessierte, und schließlich habe ich seinerzeit von derselben Persönlichkeit sehr viel und oft über Sie gehört, woraus ich schloß, daß Sie einen großen Einfluß auf die Dame haben; ist denn das nicht genügend Grund? He–he–he! Ich muß übrigens gestehen, Ihre Frage ist für mich sehr kompliziert, und es fällt mir etwas schwer, Ihnen darauf zu antworten. Nun, zum Beispiel jetzt, – Sie sind zu mir nicht bloß wegen der einen Angelegenheit gekommen, sondern auch wegen etwas ganz neuem? Es stimmt doch? Nicht wahr?“ sagte Sswidrigailoff mit einem spöttischen Lächeln. – „Nun, stellen Sie sich vor, daß ich selbst, noch auf der Reise hierher im Eisenbahnwagen, auf Sie rechnete, daß Sie mir auch etwas neues sagen würden, und daß es mir gelingen würde, etwas von Ihnen zu entlehnen! Sehen Sie, wie reich wir sind!“
„Was denn entlehnen?“
„Ja, was soll ich Ihnen sagen? Weiß ich etwa, – was es ist? Sehen Sie, in was für einem Restaurant ich die ganze Zeit hocke, und das ist mir höchst unangenehm, das heißt, eigentlich nicht, aber ich muß mich doch irgendwo hinhocken. Nun, und diese arme Katja – haben Sie sie gesehen? ... Wäre ich wenigstens ein Vielfresser oder ein Feinschmecker, Sie sehen aber selbst, was ich esse. – (Er zeigte mit dem Finger in eine Ecke, wo auf einem Tischchen das Überbleibsel von einem entsetzlichen Beefsteak mit Kartoffeln stand.) – Apropos, haben Sie zu Mittag gegessen? Ich habe etwas zu mir genommen und möchte nichts mehr. Wein, z. B., trinke ich gar nicht. Außer Champagner gar keinen Wein, und davon trinke ich auch den ganzen Abend ein einziges Glas, davon tut mir schon der Kopf weh. Ich habe ihn bloß bestellt, um mir auf die Beine zu helfen, denn ich will irgendwohin gehen, Sie sehen mich in einer besonderen Stimmung. Ich habe mich darum auch vorhin wie ein Schulbube versteckt, weil ich meinte, daß Sie mich stören werden; aber ich glaube – (er zog seine Uhr hervor) – ich kann mit Ihnen noch eine Stunde zusammen sein; es ist jetzt halb fünf. Glauben Sie mir, wenn ich wenigstens etwas wäre, sagen wir, Gutsbesitzer, Landwirt, oder Vater, ein Ulan, Photograph oder Journalist ... Aber nichts, ich habe gar keine Spezialität! Zuweilen ist mir das langweilig. Wirklich, ich glaubte, von Ihnen etwas neues zu hören.“
„Ja, wer sind Sie denn eigentlich und warum sind Sie hierher gereist?“
„Wer ich bin? Sie wissen doch, – bin vom Adel, habe zwei Jahre in der Kavallerie gedient, mich dann hier in Petersburg herumgetrieben, habe Marfa Petrowna geheiratet und auf dem Lande gelebt. Da haben Sie meine Lebensbeschreibung!“
„Sie sind wohl ein Spieler?“
„Nein, ich bin kein Spieler. Ein Falschspieler ist kein Spieler.“
„Waren Sie denn Falschspieler?“
„Ja, ich war Falschspieler.“
„Hat man Sie auch gefaßt?“
„Es ist auch vorgekommen. Was ist dabei?“
„Nun, Sie konnten doch gefordert werden ... Das bringt doch auch mehr Leben ins Dasein.“
„Ich widerspreche Ihnen nicht und bin außerdem kein Meister im Philosophieren. Ich will Ihnen gestehen, daß ich mehr der Weiber wegen hierher gekommen bin.“
„Nachdem Sie kaum Marfa Petrowna beerdigt hatten?“
„Nun ja,“ lächelte Sswidrigailoff mit einer frappanten Offenheit. – „Was ist dabei? Mir scheint, Sie finden etwas schlechtes darin, daß ich über die Weiber so rede.“
„Das will wohl sagen, ob ich etwas schlechtes in der Unsittlichkeit finde oder nicht?“
„In der Unsittlichkeit! Nun, Sie gehen zu weit! Übrigens aber will ich Ihnen zuerst im allgemeinen über die Frauen antworten. Wissen Sie, ich liebe gerade jetzt zu plaudern. Sagen Sie mir, wozu soll ich mich enthalten? Warum soll ich die Frauen lassen, wenn ich ein großer Freund davon bin? Sie sind doch wenigstens eine Beschäftigung.“
„Also Sie rechnen hier bloß auf die Unsittlichkeit?“
„Was ist dabei, ja, meinetwegen auf Unsittlichkeit. Wie Sie sich darauf versessen haben. Ich liebe aber wenigstens eine offene Frage. In dieser Unsittlichkeit ist etwas beständiges, in der Natur begründetes und der Phantasie nicht unterworfenes, etwas, das stets wie eine feurige Glut im Blute steckt, ewig anfeuert und das man lange nicht, auch mit den Jahren vielleicht nicht, so schnell auslöschen kann. Geben Sie doch selbst zu, ist das nicht eine Art von Beschäftigung?“
„Wie soll man sich dabei freuen? Es ist eine Krankheit, und eine gefährliche.“
„Ah, Sie kommen damit! Ich gebe zu, daß es eine Krankheit ist, wie auch alles, was über das Maß hinausgeht, – und hier wird man unbedingt das Maß überschreiten, – aber das ist doch, erstens, bei dem einen so, bei dem anderen anders, und zweitens, muß man eben wie in allem Maß einhalten; es ist Berechnung und eine gemeine dazu, aber was soll man tun? Wenn es dies nicht gäbe, müßte man sich möglicherweise erschießen. Ich gebe zu, daß ein anständiger Mensch verpflichtet ist, sich lieber zu langweilen, aber dennoch ...“
„Könnten Sie sich erschießen?“
„Aber, hören Sie!“ erwiderte Sswidrigailoff mit Widerwillen. „Tun Sie mir den Gefallen und sprechen Sie nicht davon,“ fügte er hastig hinzu und ohne jegliche Großtuerei, die sich in allen seinen früheren Worten ausprägte. Sogar sein Gesicht schien sich verändert zu haben. – „Ich gestehe diese unverzeihliche Schwäche ein, aber was soll ich tun, – ich fürchte den Tod und liebe nicht, daß man darüber spricht. Wissen Sie, ich bin teilweise Mystiker?“
„Ah! Die Erscheinungen von Marfa Petrowna! Wie, kommt sie noch immer?“
„Ach, erinnern Sie mich nicht daran; in Petersburg ist es noch nicht vorgekommen; und hol der Teufel die Erscheinungen!“ rief er mit gereizter Miene aus. – „Nein, wir wollen lieber über ... ja übrigens ... Hm! Ach, ich habe zu wenig Zeit, kann nicht lange bei Ihnen bleiben, es ist schade! Ich hätte Ihnen etwas mitzuteilen.“
„Was, ist es eine Frau, die Sie erwartet?“
„Ja, eine Frau, ein ganz unerwarteter Zufall ... nein, ich meine nicht das.“
„Nun, und die Schändlichkeit dieser ganzen Umgebung wirkt schon nicht mehr auf Sie? Sie haben schon die Kraft verloren, zu stoppen?“
„Sie machen auch Ansprüche an Kraft? He–he! Sie haben mich soeben überrascht, Rodion Romanowitsch, obwohl ich im voraus wußte, daß es so kommen werde. Sie reden mit mir über Unsittlichkeit und über Ästhetik! Sie – ein Schiller, Sie – ein Idealist! Dies alles muß natürlich so sein, und man müßte erstaunt sein, wenn es anders wäre, aber trotzdem ist etwas merkwürdiges vor der Wirklichkeit ... Ach, schade, daß ich so wenig Zeit habe, Sie sind ein äußerst interessantes Subjekt! Ja, nebenbei gefragt, lieben Sie Schiller? Ich liebe ihn außerordentlich.“
„Was Sie aber für ein Großtuer sind!“ sagte Raskolnikoff mit einem gewissen Abscheu.
„Ich bin es nicht, bei Gott!“ antwortete Sswidrigailoff mit lautem Lachen, „aber ich will es nicht bestreiten, mag ich ein Großtuer sein; doch warum soll man auch nicht wichtigtun, wenn es harmlos ist. Ich habe sieben Jahre auf dem Lande bei Marfa Petrowna gelebt, schon darum freue ich mich zu plaudern, nachdem ich jetzt auf einen klugen Menschen wie Sie, – auf einen klugen und im höchsten Grade interessanten Menschen gestoßen bin, und außerdem habe ich dieses halbe Glas Wein getrunken und es ist mir ein bißchen zu Kopfe gestiegen. Die Hauptsache aber ist, daß es einen Umstand gibt, der mich sehr aufgerüttelt hat, den ich aber ... verschweigen werde. Wohin gehen Sie denn?“ fragte Sswidrigailoff plötzlich erschrocken.
Raskolnikoff machte Miene, sich zu erheben. Ihm wurde es schwer, beengend und peinlich, daß er hierher gekommen war. Von Sswidrigailoff hatte er die feste Meinung gewonnen, daß er der unbedeutendste und inhaltloseste Bösewicht der Welt sei.
„Ach! Setzen Sie sich, bleiben Sie noch,“ bat Sswidrigailoff, „und bestellen Sie sich doch wenigstens Tee. Bleiben Sie sitzen, ich will keinen Unsinn mehr, das heißt, über mich schwatzen. Ich will Ihnen etwas erzählen. Wollen Sie? Ich werde Ihnen erzählen, wie mich eine Frau, um in Ihrem Stile zu reden, ‚retten wollte‘? Das wird sogar eine Antwort auf Ihre erste Frage sein, weil diese Dame – Ihre Schwester ist. Darf ich erzählen? Wir schlagen auch die Zeit damit tot.“
„Erzählen Sie, aber ich hoffe, Sie ...“
„Oh, seien Sie ruhig! Außerdem kann Awdotja Romanowna sogar bei solch einem schlimmen und oberflächlichen Menschen, wie ich, bloß die höchste Achtung hervorrufen.“
„Sie wissen vielleicht, – ich habe es Ihnen übrigens selbst erzählt,“ begann Sswidrigailoff, „daß ich hier im Schuldgefängnis wegen ungeheurer Schulden saß, ohne die geringste Aussicht, sie zu tilgen. Es lohnt sich nicht, die Einzelheiten zu erwähnen, wie mich damals Marfa Petrowna loskaufte; wissen Sie, bis zu welcher Bewußtlosigkeit eine Frau sich zuweilen verlieben kann? Sie war eine ehrliche, ziemlich kluge, obwohl vollkommen ungebildete Frau. Stellen Sie sich vor, daß diese eifersüchtige und ehrliche Frau nach vielen schrecklichen Wutausbrüchen und Vorwürfen sich entschlossen hatte, mit mir sozusagen einen Vertrag abzumachen, den sie während unserer Verheiratung erfüllte. Die Sache war die, daß sie bedeutend älter war als ich, und außerdem ständig eine Gewürznelke im Munde hatte. Ich hatte in meiner Seele trotz aller Gemeinheit so viel Ehrlichkeit, ihr offen zu erklären, daß ich ihr vollkommene Treue nicht halten könne. Dieses Geständnis versetzte sie in Wut, aber meine grobe Offenheit schien ihr in gewisser Weise gefallen zu haben. ‚Er will also selbst nicht betrügen,‘ dachte sie, ‚wenn er im voraus es in dieser Weise erklärt,‘ – nun, und für eine eifersüchtige Frau ist es das wichtigste. Nach vielen Tränen kam zwischen uns folgender mündlicher Vertrag zustande, – erster Punkt, ich werde Marfa Petrowna nie verlassen und stets ihr Mann bleiben; zweitens, ohne ihre Erlaubnis werde ich nirgendwohin verreisen; drittens, eine ständige Geliebte werde ich mir nie anschaffen; viertens, dagegen gestattet mir Marfa Petrowna, mir zuweilen eine von den Stubenmädchen auszusuchen, jedoch nicht anders, als mit ihrem geheimen Wissen; fünftens, Gott soll mich behüten, daß ich mich in eine Frau aus unserem Stande verliebe; sechstens, falls aber, was Gott verhüte, mich irgend eine große und ernste Leidenschaft heimsuchen sollte, muß ich mich Marfa Petrowna anvertrauen. In Bezug auf den letzten Punkt war Marfa Petrowna übrigens die ganze Zeit ziemlich ruhig; sie war eine kluge Frau, und folglich konnte sie mich nicht anders, als für einen liederlichen und lasterhaften Menschen, betrachten, der nicht imstande ist, sich ernstlich zu verlieben. Aber eine kluge Frau und eine eifersüchtige Frau sind zwei verschiedene Dinge, und das ist ein Unglück. Übrigens, um unparteiisch über einige Menschen urteilen zu können, muß man sich vorher von manchen voreingenommenen Ansichten und von der alltäglichen Gewöhnung an die uns umgebenden Menschen und Gegenstände lossagen. Ich habe ein Recht, auf Ihr Urteil mehr, als von jemanden anderen, zu hoffen. Vielleicht haben Sie schon sehr viel lächerliches und unsinniges über Marfa Petrowna gehört. In der Tat, sie hatte manche lächerliche Angewohnheit, aber ich will Ihnen offen sagen, daß ich die zahllosen Bekümmernisse, die ich ihr verursacht habe, aufrichtig bedauere. Das scheint für einen sehr anständigen Oraison funèbre[17] der zärtlichsten Frau von dem zärtlichsten Manne zu genügen. Bei unseren Streitigkeiten schwieg ich meistenteils und war nicht gereizt, und dieses gentlemanlike Benehmen erreichte fast stets das Ziel; es wirkte auf sie und gefiel ihr sogar; es gab auch Fälle, wo sie sogar auf mich stolz war. Aber Ihr Fräulein Schwester hat sie trotzdem nicht ertragen. Und wie war es möglich, daß sie riskiert hatte, solch eine Schönheit in ihr Haus als Gouvernante zu nehmen! Ich erkläre es mir dadurch, daß Marfa Petrowna eine feurige und empfängliche Frau war, und daß sie sich ganz einfach selbst in Ihre Schwester verliebt, – buchstäblich verliebt hatte. Nun, und Awdotja Romanowna hat selbst den ersten Schritt getan, – ob Sie mir glauben oder nicht? Können Sie sich denken, daß Marfa Petrowna sogar zuerst auf mich wegen meines ständigen Schweigens über Ihre Schwester böse wurde, weil ich mich gegen ihre ewigen und verliebten Lobsprüche auf Awdotja Romanowna gleichgültig verhielt? Ich begreife selbst nicht, was sie eigentlich wollte! Und selbstverständlich erzählte Marfa Petrowna alles, meine ganze Vergangenheit Awdotja Romanowna. Sie hatte die unglückliche Eigenschaft, allen unsere ganzen Familiengeheimnisse zu erzählen und vor allen ständig über mich zu klagen; wie sollte sie da solch eine neue und schöne Freundin damit verschonen? Ich nehme selbst an, daß zwischen ihnen kein anderes Gespräch geführt wurde, als über mich, und zweifellos bekam Awdotja Romanowna alle diese finsteren geheimnisvollen Märchen zu hören, die über mich im Umlauf sind ... Ich wette, daß Sie auch irgend etwas derartiges schon gehört haben.“
„Ich habe etwas gehört. Luschin beschuldigte Sie, daß Sie sogar die Ursache des Todes eines Kindes waren. Ist es wahr?“
„Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich mit allen diesen Abgeschmacktheiten in Ruhe,“ sagte Sswidrigailoff mit Abscheu und Ekel, „wenn Sie unbedingt wünschen, über diesen ganzen Unsinn näheres zu erfahren, will ich es Ihnen einmal erzählen, jetzt aber ...“
„Man sprach auch von einem Diener auf Ihrem Gute und daß Sie angeblich auch die Ursache ...“
„Tun Sie mir den Gefallen, genug davon!“ unterbrach ihn Sswidrigailoff von neuem mit sichtbarer Ungeduld.
„Ist das nicht derselbe Diener, der Ihnen nach seinem Tode die Pfeife stopfen wollte ... Sie haben mir noch selbst davon erzählt?“ fuhr Raskolnikoff immer gereizter fort.
Sswidrigailoff blickte Raskolnikoff aufmerksam an, und jenem schien es, daß in diesem Blicke, gleich einem Blitze, ein boshaftes Lächeln aufzuckte, Sswidrigailoff aber bemeisterte sich und antwortete sehr höflich:
„Es ist derselbe. Ich sehe, daß auch dies alles Sie außerordentlich interessiert, und werde es für meine Pflicht halten, bei der ersten besten Gelegenheit Ihre Neugier in allen Punkten zu befriedigen. Zum Teufel! Ich sehe, daß ich tatsächlich jemand als eine romantische Person erscheinen kann. Beurteilen Sie selbst, wie dankbar ich der verstorbenen Marfa Petrowna sein muß, daß sie Ihrem Fräulein Schwester so viel Geheimnisvolles und Interessantes über mich erzählt hatte. Ich nehme mir nicht die Freiheit, über den Eindruck zu urteilen, aber in jedem Falle war es für mich vorteilhaft. Bei dem ganzen natürlichen Widerwillen Awdotja Romanownas gegen mich und trotz meines ständigen finsteren und abstoßenden Aussehens – tat ich ihr endlich leid, tat ihr der verlorene Mensch leid. Wenn aber dem Herzen eines jungen Mädchens etwas leid tut, ist dies selbstverständlich für sie am gefährlichsten. Da bekommt man unbedingt Lust ‚zu retten‘, aufzurütteln, zu überzeugen, zu edleren Zielen zu rufen und zu neuem Leben und neuer Tätigkeit zu erwecken, – nun, es ist bekannt, was man in dieser Art zusammenträumen kann. Ich habe sofort gemerkt, daß das Vögelchen selbst ins Netz fliegt, und habe mich meinerseits vorbereitet. Sie scheinen mir das Gesicht zu verziehen, Rodion Romanowitsch? Hat nichts auf sich, die Sache hat, wie Sie wissen, mit Kleinigkeiten geendet. – Zum Teufel, wie viel Wein ich heute trinke! – Wissen Sie, ich bedauerte immer von Anfang an, daß es Ihrer Schwester nicht vergönnt war, im zweiten oder dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung irgendwo als Tochter eines kleinen regierenden Fürsten oder eines Regenten oder eines Prokonsuls in Kleinasien zur Welt zu kommen. Sie würde zweifellos eine von jenen gewesen sein, die das Martyrium erduldet haben, und sie hätte sicher gelächelt, wenn man ihr die Brust mit glühenden Zangen gebrannt hätte. Sie hätte dies absichtlich auf sich genommen, im vierten oder fünften Jahrhundert aber würde sie in eine Wüste von Ägypten gegangen sein, hätte dort dreißig Jahre gelebt und sich von Wurzeln, Verzückung und Erscheinungen genährt. Sie dürstet bloß und verlangt darnach, irgend eine Marter für jemand auf sich zu nehmen, wenn man ihr aber diese Marter nicht geben wird, so springt sie möglicherweise zum Fenster hinaus. Ich habe etwas von einem Herrn Rasumichin gehört. Man sagt, er sei ein vernünftiger Bursche, worauf auch sein Familienname deutet, wahrscheinlich aus dem geistlichen Stande, nun mag er Ihre Schwester hüten. Mit einem Worte, mir scheint es, ich habe sie verstanden, was ich auch mir als eine Ehre anrechne. Damals aber, das heißt am Anfang der Bekanntschaft, wie Sie selbst wissen, ist man immer leichtsinniger und dümmer, sieht vieles im falschen Lichte, sieht nicht das richtige. Zum Teufel, warum ist sie auch so schön? Ich habe keine Schuld! Mit einem Worte, es begann bei mir mit einer sehr starken wollüstigen Neigung. Awdotja Romanowna ist unbeschreiblich und unerhört keusch. Merken Sie sich, ich teile Ihnen dieses als eine Tatsache über Ihre Schwester mit. Sie ist vielleicht bis zur Krankhaftigkeit keusch, trotz ihres ganzen großen Verstandes, und das wird ihr schaden. Bei uns tauchte ein Mädchen Parascha, die schwarzäugige Parascha auf, die man soeben von einem anderen Gute zu uns gebracht hatte, als Stubenmädchen, und die ich vorher nie gesehen hatte, – sie war sehr hübsch, aber unglaublich dumm, – sie weinte, erhob über den ganzen Hof ein Geheul und es passierte ein Skandal. Eines Tages suchte Awdotja Romanowna nach dem Essen mich absichtlich allein in einer Allee im Garten auf und verlangte von mir mit blitzenden Augen, daß ich die arme Parascha in Ruhe lassen sollte. Das war beinahe unser erstes Gespräch zu zweien. Ich hielt es selbstverständlich für eine Ehre, ihrem Wunsche nachzukommen, versuchte mich überrascht, beschämt zu stellen, nun, mit einem Worte, ich spielte meine Rolle nicht übel. Es begannen Beziehungen, geheimnisvolle Gespräche, Moralpredigten, Bitten, Flehen, sogar Tränen, – können Sie es glauben, sogar Tränen! Sehen Sie, wie stark und weit bei manchen jungen Mädchen die Leidenschaft Propaganda machen geht! Ich schob selbstverständlich alles auf mein Schicksal, stellte mich hin als einen nach Erleuchtung Hungernden und Dürstenden, und schließlich machte ich von dem größten und unerschütterlichen Mittel, Frauenherzen zu erobern, Gebrauch, von dem Mittel, das nie und nimmer trügt und das entschieden auf alle, ohne jede Ausnahme, wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel – die Schmeichelei. Es gibt nichts schwereres in der Welt, als offener Freimut, und nichts leichteres, als Schmeichelei. Wenn im Freimut bloß ein hundertster Teil des Tones falsch ist, so tritt sofort eine Dissonanz und nach ihr – ein Skandal ein. Wenn aber in der Schmeichelei alles, bis zum geringsten Tone falsch ist, auch dann ist sie angenehm und wird mit Vergnügen angehört, und wenn auch mit grobem Vergnügen, so doch mit Vergnügen. Und mag die Schmeichelei noch so derb sein, so wird doch unbedingt wenigstens die Hälfte als Wahrheit geglaubt. Und das gilt für alle Entwicklungsstufen und Schichten der Gesellschaft. Sogar eine Vestalin kann man durch Schmeichelei verführen. Von gewöhnlichen Menschen lohnt sich nicht mal zu reden. Ich kann mich nicht ohne Lachen daran erinnern, wie ich einmal eine Dame, die ihrem Manne, ihren Kindern und ihren Tugenden ergeben war, verführt habe. Wie amüsant es war und wie wenig Arbeit es mir machte! Die Dame war tatsächlich tugendhaft, wenigstens in ihrer Art. Meine ganze Taktik bestand darin, daß ich jeden Augenblick von ihrer Keuschheit einfach erdrückt war und mich davor in den Staub warf. Ich schmeichelte ihr gottlos und kaum, wenn ich von ihr einen Händedruck, selbst einen Blick erhaschte, machte ich mir Vorwürfe, daß ich dies ihr mit Gewalt abgenötigt habe, daß sie sich dem widersetzt, sich dem so widersetzt habe, daß ich sicher nie etwas von ihr erlangt hätte, wenn ich selbst nicht so verdorben wäre, daß sie in ihrer Unschuld meine Arglist nicht vorgesehen habe und unabsichtlich, ohne es selbst zu wissen und zu ahnen, mir entgegengekommen wäre, und dergleichen mehr. Mit einem Worte, ich erreichte alles, meine Dame aber blieb im höchsten Grade davon überzeugt, daß sie unschuldig und keusch wäre und alle Pflichten und Schuldigkeiten erfüllt habe, daß sie aber zufällig gefallen war. Und wie böse wurde sie auf mich, als ich ihr zu guter Letzt erklärte, daß meiner aufrichtigen Überzeugung nach, sie ebenso, wie ich, einen Genuß gesucht habe. Die arme Marfa Petrowna war auch schrecklich empfänglich für Schmeichelei, wenn ich nur gewollt hätte, so hätte sie sicher ihr ganzes Vermögen auf meinen Namen noch bei ihren Lebzeiten umgeschrieben. – Jedoch, ich trinke viel Wein und schwatze. – Ich hoffe, Sie werden nicht böse werden, wenn ich jetzt erwähne, daß sich auch bei Awdotja Romanowna dasselbe Resultat zu zeigen begann. Ich war aber selbst dumm und ungeduldig und habe die ganze Sache verdorben. Awdotja Romanowna mißfiel furchtbar der Ausdruck meiner Augen, schon einige Male vorher, – das eine Mal aber ganz besonders, – glauben Sie es? Mit einem Worte, in meinen Augen leuchtete immer stärker und unvorsichtiger ein gewisses Feuer, das sie bange machte und ihr schließlich verhaßt wurde. Die Einzelheiten lohnen sich nicht zu erzählen, aber wir kamen auseinander. Da machte ich wieder eine Dummheit. Ich begann in der gröbsten Weise alle diese Propaganda und Bekehrungen zu verhöhnen; Parascha erschien wieder auf der Bildfläche, und nicht allein sie, – mit einem Worte, es begann ein Sodom. Ach, Rodion Romanowitsch, wenn Sie nur ein einziges Mal im Leben die Augen Ihrer Schwester gesehen hätten, wie sie zuweilen zu blitzen verstehen! Es tut nichts, daß ich jetzt betrunken bin und schon ein ganzes Glas Wein getrunken habe, ich sage die Wahrheit; ich versichere Sie, daß ich von diesem Blicke träumte; ich konnte schließlich nicht mehr das Rauschen ihres Kleides ertragen. Ich dachte in der Tat, daß ich die Fallsucht bekomme, nie habe ich es mir träumen lassen, daß ich so außer mir geraten könne. Mit einem Worte, es war notwendig Frieden zu schließen, aber es war schon unmöglich. Und stellen Sie sich vor, was ich dann tat? Bis zu welchem Stumpfsinn die rasende Wut einen Menschen bringen kann! Unternehmen Sie niemals etwas in rasender Wut, Rodion Romanowitsch. In der Annahme, daß Awdotja Romanowna im Grunde genommen bettelarm ist – (ach, entschuldigen Sie, ich wollte nicht das sagen ... ist es aber nicht einerlei, wenn es nur einen Begriff wiedergibt?) – mit einem Worte, daß sie von ihrer Hände Arbeit lebt, – daß sie ihre Mutter und Sie unterhalten muß – (ach, zum Teufel, Sie verziehen wieder Ihr Gesicht ...) – beschloß ich ihr mein ganzes Geld anzubieten, – ich konnte damals etwa dreißigtausend realisieren, – damit sie mit mir – nun, meinetwegen, – hierher nach Petersburg fliehen solle. Es versteht sich, daß ich ihr dabei ewige Liebe, Seligkeit und dergleichen mehr geschworen habe. Können Sie mir glauben, daß ich damals so von ihr benommen war, daß, hätte sie zu mir gesagt, – ermorde oder vergifte Marfa Petrowna und heirate mich, – ich es sofort getan hätte! Alles aber endete mit der Ihnen schon bekannten Katastrophe, und Sie können sich selbst ausmalen, in was für eine Wut ich geriet, als ich erfuhr, daß Marfa Petrowna damals diese gemeine Schreiberseele Luschin aufgegabelt und beinahe die Heirat zustande gebracht hatte, – was im Grunde genommen dasselbe gewesen wäre, was auch ich anbot. Ist es etwa nicht so? Ist es nicht dasselbe? Nicht wahr, es ist dasselbe? Ich merke, daß Sie mir zu aufmerksam zuhören ... interessierter junger Mann ...“
Sswidrigailoff schlug voll Ungeduld mit der Faust auf den Tisch. Er war rot geworden. Raskolnikoff sah deutlich, daß das eine oder die anderthalb Glas Champagner, den er unmerklich in kleinen Schlucken getrunken hatte, krankhaft auf ihn gewirkt hatten, – und beschloß diese Gelegenheit wahrzunehmen. Sswidrigailoff erschien ihm sehr verdächtig.
„Nach all dem Gesagten bin ich völlig überzeugt, daß Sie auch hierher gereist sind, weil Sie meine Schwester im Auge haben,“ sagte er zu Sswidrigailoff offen und ohne sich zu verstellen, um ihn nur noch mehr zu reizen.
„Ach, lassen Sie es,“ Sswidrigailoff schien sich plötzlich zusammenzunehmen, „ich habe Ihnen schon gesagt ... und außerdem kann Ihre Schwester mich gar nicht leiden.“
„Ja, davon bin ich auch überzeugt, daß sie es nicht kann, aber es handelt sich jetzt nicht darum.“
„Sind Sie wirklich überzeugt, daß sie mich nicht leiden kann?“ Sswidrigailoff kniff die Augen zusammen und lächelte spöttisch. – „Sie haben recht, sie liebt mich nicht, aber übernehmen Sie nie eine Gewährleistung in Dingen, die zwischen einem Manne und einer Frau oder zwischen einem Liebhaber und seiner Geliebten vorgefallen sind. Es gibt hier stets einen Winkel, der immer der ganzen Welt verborgen bleibt, und der nur den beiden bekannt ist. Übernehmen Sie die Gewährleistung, daß Awdotja Romanowna mich stets mit Widerwillen angeschaut hat?“
„Ich merke aus einigen Ihrer Worte und Andeutungen während Ihrer Erzählung, daß Sie auch jetzt noch unbedingt Absichten gegen Dunja haben, und selbstverständlich gemeiner Natur.“
„Wie! Mir sollten solche Worte und Andeutungen entschlüpft sein?“ sagte erschreckt Sswidrigailoff und in der naivsten Weise, ohne dem Epitheton, der seinen Absichten beigelegt worden war, die geringste Beachtung zu schenken.
„Auch jetzt entschlüpften sie Ihnen. Warum fürchten Sie sich so? Worüber erschraken Sie jetzt plötzlich?“
„Ich soll mich fürchten und erschrocken sein? Soll ich etwa vor Ihnen erschrocken sein? Eher haben Sie Grund, mich zu fürchten, cher ami[18]. Ach, was für Unsinn ... Ich bin berauscht, ich sehe es; beinahe hätte ich mich wieder versprochen. Der Teufel soll den Wein holen! Heda, Wasser!“
Er packte die Flasche und schleuderte sie ohne viel Federlesens zum Fenster hinaus. Philipp brachte ihm Wasser.
„Dies alles ist Unsinn,“ sagte Sswidrigailoff, indem er ein Handtuch anfeuchtete und es an den Kopf hielt, – „ich kann Sie aber mit einem einzigen Worte zurückweisen und Ihren ganzen Verdacht zunichte machen. Wissen Sie zum Beispiel, daß ich heirate?“
„Sie haben es mir schon erzählt!“
„Habe ich es? Das hatte ich vergessen. Damals aber konnte ich es noch nicht mit Bestimmtheit sagen, denn ich hatte die Braut gar nicht gesehen; ich hatte bloß die Absicht. Jetzt aber habe ich schon eine Braut und die Sache ist beschlossen, und wenn ich bloß nicht etwas Unaufschiebbares zu tun hätte, würde ich Sie unbedingt und sofort zu einem Besuche dort mitnehmen, – denn ich möchte Sie um Rat fragen. Ach, zum Teufel! Ich habe bloß zehn Minuten übrig. Sie sehen selbst nach der Uhr; ich will es Ihnen übrigens erzählen, denn meine Heirat ist auch eine interessante Sache, in ihrer Art, versteht sich, – wohin wollen Sie? Wollen Sie wieder fortgehen?“
„Nein, jetzt gehe ich schon nicht mehr fort.“
„Sie wollen gar nicht fortgehen? Nun, wir wollen es sehen! Ich werde Sie mitnehmen und Ihnen die Braut zeigen, das ist wahr, aber bloß nicht jetzt; es ist bald Zeit für Sie zu gehen. Sie gehen nach rechts und ich nach links. Kennen Sie diese Rößlich? Ich meine, dieselbe Rößlich, bei der ich jetzt wohne, – ah? Hören Sie? Nein, denken Sie sich, ich meine dieselbe, von der man erzählt, daß das kleine Mädchen damals im Winter ... Nun, hören Sie! Hören Sie? Sie ist es auch, die mir diese Geschichte arrangiert hat; du langweilst dich, – sagte sie, – zerstreue dich ein wenig. Ich bin aber ein finsterer, langweiliger Mensch. Sie meinen, ich sei fröhlich? Nein, ich bin finster, – ich füge niemandem Schaden zu, sitze in der Ecke, und zuweilen kann man mich drei Tage nicht zum Reden bringen. Die Rößlich ist eine Spitzbübin, sage ich Ihnen; sie hat dabei folgendes im Sinn, – mir wird es überdrüssig werden, ich werde meine Frau verlassen und fortreisen, meine Frau wird dann ihr zufallen, und sie wird sie in unseren Kreisen und höher hinauf in Umsatz bringen. Sie sagte mir, – es gibt solch einen gelähmten Vater, einen verabschiedeten Beamten, der im Sessel sitzt und das dritte Jahr die Beine nicht rühren kann; auch eine Mutter ist da, eine sehr vernünftige Dame; der Sohn dient irgendwo in der Provinz, hilft ihr aber nicht; die eine Tochter ist verheiratet, sucht aber die Eltern nicht mehr auf; die Eltern haben für zwei kleine Neffen zu sorgen – da sie an ihren eigenen Sorgen nicht genug hatten, – und haben ihre letzte Tochter, ohne daß sie den Kursus absolviert hat, aus der Schule genommen; sie werde nach einem Monat erst sechzehn Jahre alt, also könnte man sie auch nach einem Monat verheiraten. Ich sollte sie also heiraten. Wir fuhren hin; wie bei ihnen alles lächerlich zuging; ich stellte mich vor, – Gutsbesitzer, Witwer, aus bekannter Familie, mit den und den Verbindungen, vermögend, – nun, was ist dabei, daß ich fünfzig Jahre alt bin und jene nicht mal sechzehn? Wer achtet darauf? Nun, es ist doch verlockend, ah? Nicht wahr, es ist verlockend, ha! ha! ha! Sie sollten mich gesehen haben, wie ich mich mit dem Papa und der Mama unterhalten habe! Man müßte etwas dafür bezahlen, um mich nur damals gesehen zu haben. Sie kommt endlich, macht einen Knicks, nun, können Sie sich vorstellen, sie war noch in kurzem Kleidchen, eine noch unaufgebrochene Knospe, sie errötete, flammte wie die Morgenröte auf – man hat ihr selbstverständlich alles mitgeteilt. Ich weiß nicht, wie Sie sich zu Frauengesichtern stellen, aber meiner Ansicht nach sind diese sechzehn Jahre, diese noch kindlichen Augen, diese Verlegenheit und Tränen der Beschämtheit – besser als jede Schönheit, und sie ist außerdem wie ein Bild. Hellblonde Haare, in kleinen Locken gekräuselt, volle, rote kleine Lippen, Füßchen – mit einem Worte reizend! ... Nun, ich wurde also dort bekannt, erklärte, daß ich es infolge häuslicher Angelegenheiten eilig habe, und am anderen Tage, also vorgestern, erhielten wir den Segen. Seit dem Tage, wenn ich bloß hinkomme, nehme ich sie sofort auf meinen Schoß und lasse sie nicht herunter ... Nun, sie errötet, ich aber küsse sie alle Augenblicke; die Mama sagt ihr selbstverständlich, daß ich ihr Mann sei und daß es sich so gehöre, mit einem Worte, ich habe es dort ausgezeichnet. Und meine jetzige Lage als Bräutigam ist vielleicht auch besser, als die eines verheirateten Mannes. Hier ist, was man la nature et la vérité[19] nennt! Ha! Ha! Ich habe mich mit ihr ein paarmal unterhalten, – das Mädel ist gar nicht dumm; zuweilen blickt sie mich so verstohlen an, – daß es mich einfach durchschauert. Wissen Sie, sie hat ein Gesicht wie die Madonna von Raphael. Die Sixtinische Madonna hat doch ein phantastisches Gesicht, das Gesicht einer leidenden, im heiligen Wahne befangenen, ist Ihnen das nicht aufgefallen? Nun, sie hat ein Gesicht von dieser Art. Kaum hatte man uns den Segen erteilt, als ich am anderen Tage ihr für anderthalb Tausend Geschenke mitbrachte, – einen Brillantenschmuck, ein Perlenhalsband und einen silbernen Toilettenkasten für Damen – von dieser Größe, mit allerhand Dingen darin, so daß ihr Gesichtchen, das Madonnengesichtchen, errötete. Ich setzte sie gestern auf meinen Schoß hin, habe es aber wahrscheinlich zu ungeniert getan, – sie errötete ganz und gar und Tränen kamen zum Vorschein, sie wollte sich aber nicht verraten und brannte wie im Fieber. Alle gingen auf einen Augenblick, ich blieb mit ihr ganz allein zurück, plötzlich fiel sie mir – zum ersten Male von selbst – um den Hals, umarmte mich mit ihren Händchen, küßte mich und schwur, daß sie mir eine folgsame, treue und gute Frau sein werde, daß sie mich glücklich machen wolle, daß sie ihr ganzes Leben, jeden Augenblick ihres Lebens dazu verwenden und alles, alles opfern werde, dafür wünscht sie bloß meine Achtung allein zu besitzen und weiter, – sagte sie ‚brauche ich nichts, gar nichts, keine Geschenke.‘ Geben Sie selbst zu, daß ein derartiges Geständnis unter vier Augen von solch einem sechzehnjährigen Engel mit jungfräulicher Schamröte und enthusiastischen Tränen in den Augen anzuhören, – ziemlich verlockend ist? Nicht wahr, es ist verlockend? Es ist doch etwas wert, ah? Nicht wahr? Nun ... nun hören Sie ... fahren wir zu meiner Braut hin ... aber nicht sofort!“
„Mit einem Worte, dieser unerhörte Unterschied im Alter und in der Entwicklung erregt gerade in Ihnen die Wollust! Und Sie wollen sie tatsächlich heiraten?“
„Wieso? Ich heirate sie unbedingt. Jeder sorgt für sich selbst, und am lustigsten von allen lebt der, welcher es am besten von allen versteht, sich selbst zu betrügen. Ha! ha! Haben Sie sich in die Tugend denn ganz vernarrt? Erbarmen Sie sich meiner, Väterchen, ich bin ein sündhafter Mensch. He! he! he!“
„Sie haben doch die Kinder von Katerina Iwanowna untergebracht und versorgt. Übrigens ... übrigens Sie hatten dazu Ihre Gründe ... ich begreife jetzt alles.“
„Kinder habe ich überhaupt gern, ich liebe Kinder sehr,“ lachte Sswidrigailoff. – „In dieser Hinsicht kann ich Ihnen sogar ein sehr interessantes Erlebnis erzählen, das auch jetzt noch nicht zu Ende ist. Am ersten Tage nach meiner Ankunft ging ich in all diesen Kloaken herum, nun – nach sieben Jahren stürzte ich mich hinein. Sie haben wahrscheinlich gemerkt, daß ich keine Eile habe, den Verkehr mit den früheren Freunden und Bekannten aufzunehmen. Und ich will noch möglichst lange ohne sie auskommen. Wissen Sie, – bei Marfa Petrowna auf dem Lande haben mich die Erinnerungen an alle diese geheimnisvollen Orte und Winkel, in denen einer vieles finden kann, der es kennt, bis zu Tode gequält. Hol der Teufel! Das Volk säuft, die gebildete Jugend geht vor Nichtstun in unmöglichen Träumen und Phantasien auf, wird vor lauter Theorien zum Krüppel; irgendwoher sind Juden herbeigeströmt und sammeln Geld, alles übrige aber ergibt sich der Unzucht. Von den ersten Stunden an wehte mich auch von dieser Stadt ein bekannter Geruch an. Ich geriet zu einem sogenannten Tanzabend, – in einer entsetzlichen Kloake – ich liebe aber gerade die Kloaken mit etwas Schmutz, – und selbstverständlich wurde kankaniert, wie man eigentlich nirgends kankaniert, und wie man es zu meiner Zeit noch nicht tat. Ja, darin ist Fortschritt. Plötzlich sehe ich ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, sehr nett angezogen, wie sie mit einem Subjekt tanzt; ein anderer, als ihr vis-a-vis. An der Wand auf einem Stuhle sitzt ihre Mutter. Sie können sich vorstellen, wie kankaniert wurde! Das Mädchen wurde beschämt, verlegen, errötete, schließlich faßte sie es als Kränkung auf und begann zu weinen. Das Subjekt erfaßt sie, fängt an sie herumzuschwenken und vor ihr zu tanzen, ringsum lachen alle und – ich habe das Publikum in solchen Augenblicken gern, mag es auch ein kankanierendes Publikum sein, – schreien, – ‚Geschieht mit Recht! Man soll keine Kinder hierherbringen!‘ Nun, ich pfiff darauf und mich ging es auch nichts an, ob sie sich logisch oder unlogisch, diese Menschen da, trösteten! Ich hatte mir meinen Plan sofort zurechtgelegt, setzte mich neben die Mutter hin und begann damit, daß ich auch fremd wäre, daß hier alle so unerzogen wären, daß sie nicht verstünden, wahre Vorzüge zu unterscheiden und die gebührende Achtung zu bewahren. Ich gab zu verstehen, daß ich viel Geld hätte, schlug vor, in meinem Wagen sie nach Hause zu bringen. Ich geleitete sie nach Hause und wurde mit ihnen bekannt, sie sind soeben angekommen und leben in einem kleinen möblierten Zimmer. Man teilte mir mit, daß sie meine Bekanntschaft, wie sie, so auch die Tochter bloß als eine große Ehre auffassen könnten; ich erfuhr, daß sie weder Haus noch Hof haben, und daß sie gekommen sind, um in irgend einer Behörde eine Sache durchzuführen; ich bot ihnen meine Dienste und Geld an; ich erfuhr auch, daß sie irrtümlicherweise zu diesem Tanzabend hingefahren sind, in der Annahme, daß man dort tatsächlich tanzen lehre. Ich bot meinerseits an, zu der Erziehung des jungen Mädchens beizutragen, sie französischen Unterricht und Tanzstunden nehmen zu lassen. Man nimmt es mit Begeisterung auf, hält es für eine Ehre, und ich verkehre bei ihnen noch immer. – Wollen Sie mit mir zu ihnen hinfahren? – Aber nicht gleich.“
„Lassen Sie, lassen Sie Ihre niederträchtigen, gemeinen Anekdoten, Sie verdorbener, gemeiner, wollüstiger Mensch!“
„Sehen Sie mal den Schiller, unsern Schiller! Où va-t-elle la vertu se nicher?[20] Wissen Sie, ich will Ihnen absichtlich solche Dinge erzählen, um Sie aufschreien zu hören. Es ist ein Genuß!“
„Und ob, bin ich mir denn jetzt nicht selbst lächerlich?“ murmelte Raskolnikoff voll Wut.
Sswidrigailoff lachte aus vollem Halse; schließlich rief er Philipp, bezahlte seine Rechnung und begann sich fertig zu machen.
„Ich bin jetzt betrunken, assez causé!“ sagte er, „es ist ein Genuß!“
„Das glaube ich,“ rief Raskolnikoff aus, sich auch erhebend, „ist es denn für einen abgebrühten Wüstling kein Genuß, von solchen Erlebnissen zu erzählen, – wobei er sich schon wieder mit unerhörten Absichten von derselben Art trägt, – außerdem unter diesen Umständen und vor solch einem Menschen, wie ich es bin, ... das muß ein Genuß sein ... Es muß ihn förmlich heiß machen.“
„Und wenn die Sache so ist,“ antwortete Sswidrigailoff ein wenig verwundert und betrachtete Raskolnikoff, „wenn dem so ist, so sind Sie auch selbst ein großer Zyniker. Sie enthalten wenigstens in sich ein ungeheures Material dazu. Sie können vieles verstehen, vieles ... und, Sie können auch vieles tun. Jedoch, genug darüber. Ich bedauere aufrichtig, daß ich mich nicht länger mit Ihnen unterhalten kann, aber Sie entgehen mir nicht ... Warten Sie nur ...“
Sswidrigailoff verließ das Restaurant. Raskolnikoff folgte ihm. Sswidrigailoff war nicht sehr stark berauscht; der Wein war ihm bloß auf einen Augenblick zu Kopf gestiegen und der Rausch verschwand mit jedem Augenblick mehr. Er hatte etwas äußerst wichtiges vor und sein Gesicht verfinsterte sich. Eine Erwartung regte ihn augenscheinlich auf und beunruhigte ihn. In den letzten Minuten ihres Zusammenseins wurde er plötzlich gegen Raskolnikoff gröber und spöttischer. Raskolnikoff hatte alles gemerkt und war auch in Unruhe geraten. Sswidrigailoff schien ihm sehr verdächtig; er beschloß ihm nachzugehen.
Sie gelangten auf das Trottoir.
„Sie müssen nach rechts, ich aber nach links, oder vielleicht auch umgekehrt, also – adieu bon plaisir[21], auf freudiges Wiedersehen!“
Und er ging nach rechts dem Heumarkte zu.
Raskolnikoff folgte ihm.
„Was ist das!“ rief Sswidrigailoff, „ich habe Ihnen doch gesagt ...“
„Das bedeutet, daß ich Ihnen jetzt folgen werde.“
„Wa–as?“
Beide blieben stehen und blickten einander eine Minute lang an, als ob sie sich messen wollten.
„Aus allen Ihren halbbetrunkenen Erzählungen,“ sagte Raskolnikoff scharf, „habe ich eins positiv entnommen, daß Sie nicht bloß Ihre niederträchtigen Pläne gegen meine Schwester nicht aufgegeben haben, sondern daß Sie sich mehr als je damit abgeben. Ich weiß, daß meine Schwester heute früh einen Brief empfangen hat. Sie konnten die ganze Zeit nicht ruhig sitzen ... Sie konnten gewiß irgend eine Frau auf der Straße aufgegabelt haben, aber das hat nichts zu sagen. Ich will mich persönlich überzeugen ...“
Raskolnikoff hätte schwerlich sagen können, was er jetzt wünschte, und wovon er sich persönlich überzeugen wollte.
„So! Wollen Sie, ich werde sofort die Polizei rufen?“
„Rufen Sie die Polizei!“
Wieder standen sie eine Minute lang einander gegenüber. Schließlich veränderte sich das Gesicht Sswidrigailoffs. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß Raskolnikoff seine Drohung nicht fürchtete, nahm er plötzlich eine sehr lustige und freundliche Miene an.
„Wie sonderbar Sie sind! Ich habe absichtlich mit Ihnen kein Wort über Ihre Sache gesprochen, obwohl mich selbstverständlich die Neugier plagt. Es ist eine phantastische Geschichte. Ich hätte es bis auf ein andermal verschoben, aber wirklich, Sie sind fähig, einen Toten zu reizen ... Nun, gehen wir, ich sage Ihnen aber im voraus, – ich gehe jetzt bloß auf einen Augenblick nach Hause, um Geld zu holen; dann schließe ich die Wohnung ab, nehme eine Droschke und fahre für den ganzen Abend auf die Insel. Wollen Sie mir da folgen?“
„Ich gehe vorläufig in die Wohnung mit, und auch nicht zu Ihnen, sondern zu Ssofja Ssemenowna, um mich zu entschuldigen, daß ich nicht beim Begräbnis war.“
„Tun Sie, wie Sie wünschen, aber Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause. Sie ist mit allen Kindern zu einer Dame gegangen, zu einer sehr vornehmen alten Dame, zu einer alten Bekannten von mir aus früheren Zeiten, die Vorstandsmitglied von einigen Waisenanstalten ist. Ich habe diese Dame bezaubert, indem ich für alle drei Sprößlinge von Katerina Iwanowna Geld deponierte und außerdem den Anstalten eine Schenkung machte; schließlich erzählte ich ihr die Geschichte von Ssofja Ssemenowna, mit all ihren Einzelheiten, ohne etwas zu verheimlichen. Das machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Darum wurde auch Ssofja Ssemenowna für heute noch in das –sche Hotel bestellt, wo, aus der Sommerfrische kommend, meine Dame einstweilen abgestiegen ist.“
„Tut nichts, ich werde doch zu ihr gehen.“
„Wie Sie wollen, ich bin Ihnen bloß kein Weggenosse; mir ist’s einerlei. Wir sind gleich da. Sagen Sie mir, ich bin überzeugt, daß Sie mich aus dem Grunde so argwöhnisch betrachten, weil ich selbst so zartfühlend war und Sie bis jetzt mit Fragen nicht belästigt habe ... Sie verstehen mich? Ihnen erschien dies ungewöhnlich; ich gehe eine Wette ein, daß es so ist! Nun, da soll man noch zartfühlend sein.“
„Und an der Türe horchen!“
„Ah, Sie meinen damals!“ lachte Sswidrigailoff, „ja, ich würde erstaunt sein, wenn Sie nach all dem vorher Gesagten dieses nicht erwähnt hätten. Ha! ha! Ich habe wohl einiges davon verstanden, was Sie damals ... dort ... losgelassen und Ssofja Ssemenowna selbst erzählt haben, aber was ist es denn eigentlich? Ich bin vielleicht ein vollkommen zurückgebliebener Mensch und kann schon nichts mehr begreifen. Erklären Sie es mir um Gotteswillen, mein Lieber! Erleuchten Sie mich mit den allerneuesten Ideen!“
„Sie konnten nichts gehört haben, Sie lügen!“
„Ja, ich meine gar nicht dies, – obwohl ich übrigens einiges auch gehört habe, – nein, ich meine, daß Sie immer ächzen und stöhnen! Der Schiller in Ihnen wird alle Augenblicke rebellisch. Jetzt sagen Sie auch, man soll nicht an fremden Türen lauschen. Wenn das Ihre Meinung ist, so gehen Sie doch und sagen den Behörden, daß mit Ihnen solch ein Kasus geschehen ist, – in der Theorie nur ist ein kleiner Irrtum unterlaufen. Wenn Sie aber überzeugt sind, daß man bei fremden Türen nicht lauschen darf, aber alte Weiber zu seinem Vergnügen umbringen kann, so fahren Sie schnell irgendwohin nach Amerika! Fliehen Sie, junger Mann! Vielleicht ist noch Zeit dazu. Ich sage es Ihnen aufrichtig. Haben Sie etwa kein Geld? Ich will Ihnen zur Reise geben.“
„Ich denke gar nicht daran,“ unterbrach ihn Raskolnikoff mit Widerwillen.
„Ich verstehe Sie; Sie brauchen sich übrigens keine Mühe zu geben, – wenn Sie nicht wollen, sprechen Sie doch nicht. Ich verstehe, was für Fragen in Ihnen auftauchen, – etwa moralische? Die Bedenken eines Staatsbürgers und Menschen? Lassen Sie sie lieber fallen; wozu brauchen Sie jetzt diese Fragen und Bedenken? He–he–he! Darum, weil Sie immer noch Staatsbürger und Mensch sind? Wenn das der Fall ist, so sollten Sie sich auch nicht hineingemischt haben; Sie sollten dann auch so etwas nicht unternommen haben. Nun, erschießen Sie sich; was, oder Sie haben keine Lust dazu?“
„Sie wollen mich, wie es mir scheint, absichtlich reizen, damit Sie mich jetzt loswerden ...“
„Sie sind ein komischer Kauz, wir sind ja schon da, bitte steigen Sie die Treppe hinauf. Sehen Sie, hier ist der Eingang zu Ssofja Ssemenowna, Sie sehen, es ist niemand da! Sie glauben nicht? Fragen Sie Kapernaumoff, sie gibt ihnen den Schlüssel ab. Da ist auch Madame de Kapernaumoff selbst. Was? Sie ist ein wenig taub. Ist fortgegangen? Wohin? Nun, Sie haben es jetzt gehört! Sie wird erst vielleicht spät am Abend zurückkehren. Nun, kommen Sie jetzt zu mir. Sie wollen doch auch zu mir kommen? Wir sind da. Madame Rößlich ist nicht zu Hause. Diese Frau hat ewig etwas vor, aber sie ist eine gute Frau, ich versichere Sie ... sie würde Ihnen vielleicht von Nutzen sein, wenn Sie ein wenig vernünftig sein würden. Nun, Sie sehen, – ich nehme aus dem Schreibtisch dieses fünfprozentige Staatspapier, – sehen Sie, wie viel ich noch übrig habe! – und dieses wandert heute noch zu einem Bankier. Haben Sie gesehen? Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren. Der Schreibtisch wird abgeschlossen, die Wohnung ebenfalls, und wir sind wieder auf der Treppe. Wollen wir eine Droschke nehmen? Ich fahre doch hinaus auf die Insel. Wollen Sie nicht ein Stück spazieren fahren? Ich nehme diese Droschke zur Jelagin-Insel, was? Sie wollen nicht? Haben doch nicht bis zu Ende ausgehalten? Fahren Sie mit, tut nichts. Es scheint, ein Regen zieht auf, tut nichts, wir lassen das Verdeck herab ...“
Sswidrigailoff saß schon im Wagen. Raskolnikoff kam zu der Überzeugung, daß sein Verdacht wenigstens in diesem Augenblicke ungerecht sei. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging in der Richtung zum Heumarkte zurück. Hätte er sich wenigstens ein einziges Mal umgedreht, so würde er gesehen haben, wie Sswidrigailoff nach etwa hundert Schritten die Droschke fortschickte und sich auf dem Trottoir befand. Aber er konnte schon nichts mehr sehen und war um die Ecke eingebogen. Ein tiefer Abscheu zog ihn von Sswidrigailoff fort. „Und ich konnte nur einen Augenblick irgend etwas von diesem rohen Bösewicht, von diesem ekelhaften Wüstling und Schurken erwarten!“ rief er unwillkürlich aus. Freilich, Raskolnikoffs Urteil war übereilt und leichtsinnig. Es war etwas in der ganzen Art Sswidrigailoffs, was ihm wenigstens eine gewisse Originalität, wenn nicht etwas Geheimnisvolles verlieh. Was aber seine Schwester betraf, war Raskolnikoff dennoch fest überzeugt, daß Sswidrigailoff sie nicht in Ruhe lassen würde. Aber es wurde ihm jetzt zu schwer und unerträglich, an dies alles zu denken und es sich zu überlegen!
Nach seiner Gewohnheit war er, als er allein geblieben war, schon nach den ersten zwanzig Schritten in tiefes Nachdenken versunken. Als er die Brücke betrat, blieb er plötzlich an dem Geländer stehen und begann in das Wasser zu blicken. Plötzlich stand Awdotja Romanowna hinter ihm.
Er war ihr am Brückeneingange begegnet, war aber vorbeigegangen, ohne sie zu sehen. Dunetschka hatte ihn noch nie in dieser Weise auf der Straße gesehen und war sehr überrascht. Sie blieb stehen und wußte nicht, ob sie ihn anrufen solle oder nicht? Da bemerkte sie Sswidrigailoff, der eilig aus der Richtung des Heumarktes kam.
Er schien sich ihr geheimnisvoll und vorsichtig zu nähern. Er betrat nicht die Brücke, sondern blieb seitwärts auf dem Fußsteig stehen und gab sich alle Mühe, daß Raskolnikoff ihn nicht bemerke. Dunja hatte er schon lange bemerkt und begann ihr Zeichen zu geben. Ihr schien es, als bäte er sie mit seinen Zeichen, den Bruder nicht anzurufen und ihn in Ruhe zu lassen.
Dunja tat auch so. Sie ging still um den Bruder herum und näherte sich Sswidrigailoff.
„Gehen wir schneller,“ flüsterte ihr Sswidrigailoff zu. „Ich möchte nicht, daß Rodion Romanowitsch von unserer Zusammenkunft wisse. Ich sage Ihnen im voraus, daß ich mit ihm unweit von hier in einem Restaurant gesessen habe, wo er mich selbst aufgesucht hatte, und ich wurde ihn mit Mühe los. Er weiß aus irgend einem Grunde von meinem Briefe an Sie und argwöhnt etwas. Sie haben ihm sicher nichts gesagt? Wenn Sie es aber nicht gesagt haben, wer dann?“
„Jetzt sind wir schon um die Ecke,“ unterbrach ihn Dunja, „jetzt kann mein Bruder uns nicht sehen. Ich erkläre Ihnen, daß ich mit Ihnen nicht weiter gehen werde. Sagen Sie mir alles gleich hier; man kann das alles auch auf der Straße sagen.“
„Erstens kann man dies auf keinen Fall auf der Straße sagen; zweitens, müssen Sie auch Ssofja Ssemenowna anhören; drittens, will ich Ihnen einige Dokumente zeigen ... Nun und schließlich, wenn Sie nicht einverstanden sind, zu mir zu kommen, so weigere ich mich, irgend welche Erklärungen zu geben und gehe sofort weg. Dabei bitte ich Sie, nicht zu vergessen, daß das sehr interessante Geheimnis Ihres geliebten Bruders sich vollkommen in meinen Händen befindet.“
Dunja blieb unentschlossen stehen und sah Sswidrigailoff mit einem durchbohrenden Blicke an.
„Was fürchten Sie,“ bemerkte er ruhig, „eine Stadt ist kein Dorf. Und im Dorfe schon haben Sie mir mehr Schaden, als ich Ihnen, zugefügt, hier aber ...“
„Ist Ssofja Ssemenowna benachrichtigt?“
„Nein, ich habe ihr kein Wort darüber gesagt und bin auch nicht ganz sicher, ob sie jetzt zu Hause ist. Sie ist aber wahrscheinlich zu Hause. Sie hat heute ihre Stiefmutter beerdigt, – das ist kein Tag, an dem man Besuche macht. Vorläufig will ich mit niemanden über diese Sache reden und bereue sogar teilweise, daß ich Ihnen davon mitgeteilt habe. Die geringste Unvorsichtigkeit ist in diesem Falle einer Denunzierung gleich. Ich wohne hier in diesem Hause da, wir nähern uns schon meiner Wohnung. Das ist der Hausknecht von unserem Hause; der Hausknecht kennt mich sehr gut; da grüßt er auch; er sieht, daß ich mit einer Dame komme und hat sicher sich schon Ihr Gesicht gemerkt, das aber kann Ihnen von Nutzen sein, falls Sie sich sehr fürchten und mir mißtrauen. Entschuldigen Sie, daß ich so derb rede. Ich habe mir ein paar möblierte Zimmer gemietet. Ssofja Ssemenowna wohnt Wand an Wand neben mir, auch in einem möblierten Zimmer. Der ganze Stock ist bewohnt. Warum sollen Sie sich denn fürchten, wie ein Kind? Oder bin ich so furchterregend?“
Sswidrigailoffs Gesicht verzog sich zu einem herablassenden Lächeln, aber es war ihm nicht lächerlich zumute. Sein Herz klopfte und der Atem stockte ihm in der Brust. Er sprach absichtlich lauter, um seine steigende Erregung zu verbergen, Dunja hatte gar nicht diese besondere Erregung bemerkt; sie war zu sehr durch seine Bemerkung gereizt, daß sie ihn fürchte wie ein Kind und daß er ihr so furchtbar sei.
„Obwohl ich weiß, daß Sie ein Mensch ... ohne Ehre sind, fürchte ich mich doch gar nicht vor Ihnen. Gehen Sie voran,“ sagte sie scheinbar ruhig, aber mit bleichem Gesichte.
Sswidrigailoff blieb an Ssonjas Wohnung stehen.
„Erlauben Sie mir, mich zu erkundigen, ob sie zu Hause ist ... Sie ist nicht da. Das ist ein Mißgeschick. Aber ich weiß, daß sie sehr bald zurückkehren wird. Wenn sie ausgegangen ist, so ist sie höchstens zu einer Dame wegen der Waisen. Ihre Mutter ist gestorben. Ich habe mich hier hineingemischt und Anordnungen getroffen. Wenn Ssofja Ssemenowna nach zehn Minuten nicht zurückkehren sollte, so schicke ich sie selbst zu Ihnen hin, wenn Sie wünschen, noch heute; und nun, das ist meine Wohnung. Das sind meine zwei Zimmer. Hinter der Türe wohnt meine Wirtin, Frau Rößlich. Jetzt blicken Sie bitte hierher, ich will Ihnen meine Hauptdokumente zeigen, – aus meinem Schlafzimmer führt diese Tür in zwei vollkommen leere Zimmer, die zu vermieten sind. Das sind sie ... dieses müssen Sie etwas aufmerksam betrachten ...“
Sswidrigailoff bewohnte zwei möblierte ziemlich geräumige Zimmer. Dunetschka sah mißtrauisch um sich, aber bemerkte nichts besonderes, weder in der Ausstattung noch in der Lage der Zimmer, obgleich man schon etwas bemerken konnte, zum Beispiel, daß Sswidrigailoffs Wohnung zwischen zwei anderen fast unbewohnten Wohnungen lag. Der Eingang zu ihm war nicht direkt vom Korridor aus, sondern durch zwei fast leere Zimmer der Wirtin. Vom Schlafzimmer aus zeigte Sswidrigailoff Dunetschka, nachdem er eine verschlossene Türe geöffnet hatte, eine andere leere Wohnung, die zu vermieten war. Dunetschka blieb auf der Schwelle stehen, ohne zu verstehen, warum man sie aufforderte, das anzusehen, aber Sswidrigailoff beeilte sich, eine Erklärung abzugeben.
„Sehen Sie dieses zweite große Zimmer. Merken Sie sich diese Türe, sie ist verschlossen. Neben der Türe steht ein Stuhl, der einzige Stuhl in beiden Zimmern. Ich habe ihn aus meiner Wohnung hierher gebracht, um bequemer zuzuhören. Gleich hinter dieser Tür steht der Tisch von Ssofja Ssemenowna; dort saß sie und sprach mit Rodion Romanowitsch. Ich aber lauschte hier, auf dem Stuhl sitzend, zwei Abende nacheinander und beide Male gegen zwei Stunden, – und selbstverständlich konnte ich einiges erfahren, was meinen Sie?“
„Sie haben gelauscht?“
„Ja, ich habe gelauscht, jetzt wollen wir zu mir gehen; hier kann ich Ihnen keinen Platz anbieten.“
Er führte Awdotja Romanowna in das erste Zimmer zurück, das ihm als Salon diente, und bat sie, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ans andere Ende des Tisches hin, wenigstens zwei Meter von ihr entfernt, doch in seinen Augen leuchtete schon dasselbe Feuer, das einst Dunetschka so erschreckt hatte. Sie zuckte zusammen und blickte sich noch einmal mißtrauisch um. Ihre Bewegung war unwillkürlich; sie wollte offenbar ihr Mißtrauen nicht zeigen. Aber die Lage von Sswidrigailoffs Wohnung hatte sie schließlich überrascht. Sie wollte ihn fragen, ob wenigstens seine Wirtin zu Hause sei, aber sie frug ... aus Stolz nicht. Außerdem war in ihrem Herzen ein anderer unermeßlich größerer Kummer, als die Angst für sich. Sie litt unerträglich.
„Hier haben Sie Ihren Brief,“ begann sie und legte den Brief auf den Tisch. – „Ist es denn möglich, was Sie schreiben? Sie deuten ein Verbrechen an, das angeblich mein Bruder verübt hat. Sie deuten es zu klar an, Sie dürfen jetzt keine Ausreden gebrauchen. Sie sollen auch wissen, daß ich vor Ihnen schon von diesem dummen Märchen gehört habe, und keinem einzigen Worte davon glaube. Es ist ein niederträchtiger und lächerlicher Verdacht. Ich kenne die Geschichte, und wie und warum sie entstanden ist. Sie können keine Beweise haben. Sie haben versprochen, es mir zu beweisen, – reden Sie doch! Aber Sie sollen im voraus wissen, daß ich Ihnen nicht glaube! Ich glaube nicht!“
Dunetschka sagte dies sehr schnell, und auf einen Augenblick stieg ihr das Blut ins Gesicht.
„Wenn Sie nicht glauben würden, könnte es denn passiert sein, daß Sie es riskiert hätten, allein zu mir herzukommen? Warum sind Sie denn gekommen? Aus bloßer Neugier?“
„Quälen Sie mich nicht, sprechen Sie, sprechen Sie!“
„Es ist nicht zu leugnen, daß Sie ein tapferes Mädchen sind. Bei Gott, ich dachte, daß Sie Herrn Rasumichin bitten werden, Sie hierher zu begleiten. Aber er war weder mit Ihnen noch in Ihrer Nähe, ich habe mich umgesehen, – das ist kühn; Sie wollten also Rodion Romanowitsch schonen. Ach, alles ist an Ihnen göttlich ... Was Ihren Bruder anbetrifft, was soll ich Ihnen da sagen? Sie haben ihn soeben selbst gesehen. Wie er aussieht?“
„Ihre Gründe ruhen doch nicht darauf allein?“
„Nein, nicht darauf, sondern auf seinen eigenen Worten. Er war zweimal nacheinander hierher zu Ssofja Ssemenowna gekommen. Ich habe Ihnen gezeigt, wo sie gesessen haben. Er hat ihr eine volle Beichte abgelegt. Er ist ein Mörder. Er hat eine alte Beamtenwitwe, eine Wucherin ermordet, bei der er auch selbst Sachen versetzt hatte; er hat auch ihre Schwester, eine Händlerin, dem Namen nach Lisaweta, ermordet, die zufällig während der Ermordung der Schwester eingetreten war. Er hat sie beide mit einem Beile, das er mitgebracht hatte, erschlagen. Er hatte sie getötet, um sie zu berauben, und hat auch geraubt, – er hat Geld und einige Sachen genommen ... Er hat das alles selbst Wort für Wort Ssofja Ssemenowna mitgeteilt, die allein auch sein Geheimnis kennt, die aber an dem Morde weder durch Tat noch Wort teilgenommen hat und die im Gegenteil ebenso sich entsetzte, wie auch Sie jetzt. Seien Sie ruhig, sie wird ihn nicht verraten.“
„Das kann nicht sein!“ murmelte Dunetschka mit blassen trockenen Lippen; sie rang nach Atem, „es kann nicht sein, es gibt keinen, nicht den geringsten Grund, keinen Anlaß ... Das ist Lüge! Eine Lüge!“
„Er hat geraubt, das ist der ganze Grund. Er hat Geld und Sachen genommen. Es ist wahr, er hat nach seinem eigenen Geständnis weder vom Gelde, noch von den Sachen einen Gebrauch gemacht, sondern sie irgendwo unter einem Stein versteckt, wo sie auch jetzt noch liegen. Aber deshalb, weil er nicht wagte, davon Gebrauch zu machen.“
„Ja, ist es denn zu glauben, daß er stehlen, rauben konnte. Daß er bloß daran denken konnte?“ rief Dunja und sprang von ihrem Stuhle auf. – „Sie kennen ihn doch, haben ihn gesehen? Kann er denn ein Dieb sein?“
Es war, als flehe sie Sswidrigailoff an; sie hatte ihre ganze Furcht vergessen.
„Hier gibt es, Awdotja Romanowna, tausende und Millionen von Kombinationen und Arten. Ein Dieb stiehlt, er weiß dafür auch selbst, daß er ein Schuft ist; ich hörte aber zum Beispiel von einem sehr anständigen Herrn, der die Post beraubt hatte; wer weiß, vielleicht glaubte er auch tatsächlich, daß er eine anständige Sache getan hat. Selbstverständlich hätte ich es auch selbst nicht geglaubt, ebenso wenig wie Sie, wenn es mir andere gesagt hätten. Meinen eigenen Ohren aber habe ich geglaubt. Er hat Ssofja Ssemenowna auch alle Gründe erklärt; aber auch sie hatte zuerst ihren Ohren nicht getraut, jedoch den Augen, ihren eigenen Augen hatte sie schließlich glauben müssen. Er hat ihr es doch persönlich mitgeteilt.“
„Was waren es für ... Gründe?“
„Es ist eine lange Geschichte, Awdotja Romanowna. Es spielt hierbei, wie soll ich es Ihnen erklären, eine Art Theorie mit, es ist dasselbe, warum ich zum Beispiel finde, daß eine einzelne Freveltat erlaubt ist, wenn der Hauptzweck gut ist. Ein einziges böses und hundert gute Werke! Es ist auch sicher für einen jungen Mann mit Vorzügen und unermeßlichem Ehrgeiz kränkend, zu wissen, daß seine ganze Karriere, die ganze Zukunft, seine Lebensziele sich anders gestalten würden, wenn er bloß dreitausend hätte; aber er hat sie eben nicht. Fügen Sie dazu, was ihn reizen mußte: der Hunger, die enge Wohnung, seine Lumpen, das starke Bewußtsein seiner großen sozialen Not und gleichzeitig die Lage seiner Schwester und Mutter. Am meisten aber Eitelkeit und Stolz, übrigens aber Gott weiß, vielleicht auch gute Eigenschaften ... Ich klage ihn nicht an, glauben Sie; ja und mich geht es auch nichts an. Er hatte auch hierbei eine eigene Theorie, – eine annehmbare Theorie, – nach der die Menschen in Material und besondere Menschen eingeteilt werden, d. h. solche Menschen, für die das Gesetz, dank ihrer hohen Veranlagung, nicht geschrieben ist, die vielmehr selbst Gesetze für die übrigen Menschen, für das Material, für den Kehricht geben. Es ist nicht übel, eine passable Theorie, – une théorie comme une autre[22]. Vor allem hat ihn Napoleon begeistert, d. h., eigentlich noch mehr der Umstand, daß es genialen Menschen auf eine einzelne böse Tat nicht ankam, sondern daß sie ohne groß nachzudenken, darüber hinwegkamen. Es scheint mir, er hat sich eingebildet, auch ein genialer Mensch zu sein, – das will sagen, er war davon eine Zeitlang überzeugt. Er hat sehr viel gelitten und leidet jetzt unter dem Gedanken, daß er verstanden hatte, sich eine Theorie auszudenken, aber nicht imstande war, ohne Nachdenken darüber hinwegzukommen und somit kein genialer Mensch sei. Und das ist für einen jungen Mann voll Ehrgeiz erniedrigend genug, in unserem Zeitalter besonders ...“
„Und Gewissensbisse? Sie sprechen ihm also jedes sittliche Gefühl ab? Ja, ist es denn so?“
„Ach, Awdotja Romanowna, jetzt hat sich bei ihm alles getrübt, d. h., er war übrigens wohl nie in völliger Ordnung. Die Russen sind überhaupt großangelegte Naturen, Awdotja Romanowna, sie sind ebenso großangelegt, wie ihr Land und haben eine äußerst starke Neigung zum Phantastischen, Extravaganten; es ist aber ein Unglück, großangelegt zu sein, ohne wirklich genial zu sein. Erinnern Sie sich, wie viel wir in dieser Art und über dieses Thema gesprochen haben, wenn wir Abends auf der Terrasse im Garten jedesmal nach dem Essen saßen. Sie haben mir auch dieses Großangelegtsein vorgeworfen. Wer weiß, vielleicht sprachen wir gerade in der Zeit darüber, als er hier lag und über dasselbe grübelte. Bei uns in der gebildeten Gesellschaft gibt es doch keine besonders heiligen Überlieferungen, Awdotja Romanowna, – kommt wohl vor, daß sich jemand irgendwie es aus den Büchern zusammenstellt ... oder etwas aus alten Chroniken hervorholt. Aber das sind doch meistenteils Gelehrte und, wissen Sie, in ihrer Art alle Schlafmützen, so daß es sogar für einen Mann aus der Gesellschaft unpassend ist. Übrigens, meine Ansichten kennen Sie im allgemeinen, ich klage entschieden niemand an. Ich bin selbst Nichtstuer und halte mich daran. Wir haben ja mehr als einmal darüber gesprochen. Ich hatte sogar das Glück, Sie für meine Meinungen zu interessieren ... Sie sind sehr blaß, Awdotja Romanowna!“
„Ich kenne seine Theorie. Ich habe seinen Artikel in der Zeitschrift über Menschen, denen alles erlaubt ist, gelesen ... Rasumichin hat ihn mir gebracht ...“
„Herr Rasumichin? Den Artikel Ihres Bruders? In einer Zeitschrift? Gibt es solch einen Artikel? Ich wußte es nicht. Das ist interessant! Aber wohin wollen Sie denn, Awdotja Romanowna!“
„Ich will Ssofja Ssemenowna sehen,“ sagte Dunetschka mit schwacher Stimme. – „Wie kann ich zu ihr kommen? Sie ist vielleicht zurückgekommen; ich will sie unbedingt sofort sehen. Mag sie ...“
Awdotja Romanowna konnte nicht zu Ende sprechen; der Atem verging ihr buchstäblich.
„Ssofja Ssemenowna wird vor Anbruch der Nacht nicht zurückkehren. Ich nehme es an. Sie mußte gleich zurückkommen, sonst kommt sie sehr spät ...“
„Ah, also du lügst! Ich sehe ... du hast gelogen ... du hast alles gelogen! ... Ich glaube dir nicht! Ich glaube nicht! Ich glaube nicht!“ schrie Dunetschka in wahrer Wut und verlor vollkommen den Kopf.
Sie fiel fast ohnmächtig auf einen Stuhl hin, den Sswidrigailoff sich beeilte, ihr unterzuschieben.
„Awdotja Romanowna, was ist mit Ihnen, kommen Sie zu sich! Hier ist Wasser! Trinken Sie einen Schluck ...“
Er bespritzte sie mit Wasser. Dunetschka fuhr zusammen und kam zu sich.
„Es hat stark gewirkt!“ murmelte Sswidrigailoff vor sich hin und sein Gesicht verdüsterte sich. – „Awdotja Romanowna, beruhigen Sie sich! Vergessen Sie nicht, daß er Freunde hat. Wir werden ihn retten, herausreißen. Wenn Sie es wollen, bringe ich ihn ins Ausland? Ich habe Geld; in drei Tagen verschaffe ich einen Reisepaß. Und was das anbetrifft, daß er getötet hat, so wird er noch so viel Gutes tun, so daß dies alles sich ausgleichen wird; beruhigen Sie sich. Er kann noch ein großer Mann werden. Wie geht’s mit Ihnen? Wie fühlen Sie sich?“
„Sie böser Mensch! Er verspottet es noch. Lassen Sie mich ...“
„Zu ihm. Wo ist er? Sie wissen es? Warum ist diese Tür verschlossen? Wir sind durch diese Tür hereingekommen und jetzt ist sie verschlossen. Wann haben Sie sie abschließen können?“
„Man konnte doch nicht durch alle Zimmer schreien, was wir hier sprachen. Ich spotte gar nicht; ich bin bloß überdrüssig, diese Sprache zu führen. Nun, wohin wollen Sie in diesem Zustande gehen? Oder wollen Sie ihn verraten? Sie bringen ihn in Wut und er wird sich selbst anzeigen. Sie sollen wissen, daß man ihn schon verfolgt, daß man auf seine Spur gekommen ist. Sie werden ihn bloß verraten. Warten Sie, – ich habe ihn gesehen und mit ihm soeben gesprochen; man kann ihn noch retten. Warten Sie, setzen Sie sich, überlegen wir es zusammen. Ich habe Sie auch darum gerufen, um mit Ihnen allein darüber zu sprechen und alles gut zu überlegen. Ja, setzen Sie sich doch!“
„Wie können Sie ihn retten? Kann man ihn denn retten?“
Dunja setzte sich. Sswidrigailoff setzte sich neben sie.
„Das alles hängt von Ihnen ab, von Ihnen, von Ihnen allein,“ begann er mit funkelnden Augen, fast im Flüstertone, verwirrt und manche Worte vor Erregung nicht aussprechend.
Dunja wich erschrocken vor ihm zurück. Er zitterte auch am ganzen Körper.
„Sie ... ein einziges Wort von Ihnen, und er ist gerettet! Ich ... ich werde ihn retten. Ich habe Geld und Freunde. Ich werde ihn sofort ins Ausland senden, ich selbst nehme den Reisepaß, zwei Reisepässe. Den einen für ihn, den anderen für mich. Ich habe Freunde; ich habe Geschäftsleute an der Hand ... Wollen Sie? Ich will auch für Sie einen Reisepaß nehmen ... für Ihre Mutter ... wozu brauchen Sie Rasumichin? Ich liebe Sie auch ... Ich liebe Sie grenzenlos. Lassen Sie mich den Saum Ihres Kleides küssen, lassen Sie mich! Lassen Sie mich! Ich kann nicht hören, wie es rauscht. Sagen Sie zu mir, – tue das, und ich will es tun! Ich will alles tun! Ich will das Unmöglichste tun! Woran Sie glauben, will ich auch glauben! Ich will alles, alles tun! Sehen Sie mich, sehen Sie mich nicht so an! Wissen Sie es auch, daß Sie mich töten ...“
Er fing selbst an zu phantasieren. Mit ihm war plötzlich etwas geschehen, als wäre es ihm zu Kopfe gestiegen. Dunja sprang auf und stürzte zur Türe.
„Öffnen Sie! Öffnen Sie!“ schrie sie durch die Türe, als riefe sie jemand zu Hilfe und rüttelte an der Türe. – „Öffnen Sie doch! Ist denn niemand da!“
Sswidrigailoff war aufgestanden und zur Besinnung gekommen. Ein boshaftes und spöttisches Lächeln zeigte sich langsam auf seinen noch bebenden Lippen.
„Niemand ist dort zu Hause,“ sagte er leise und mit Nachdruck, „die Wirtin ist fortgegangen, und es ist unnütze Mühe, so zu schreien, – Sie regen sich bloß unnütz auf.“
„Wo ist der Schlüssel? Öffne sofort die Türe, sofort, du gemeiner Mensch!“
„Ich habe den Schlüssel verloren und kann ihn nicht finden.“
„Ah! Also das ist Gewalt!“ rief Dunja aus, erblaßte wie der Tod und stürzte in eine Ecke, wo sie sich schleunigst mit einem Tischchen schützte, das ihr in die Hand fiel. Sie schrie nicht, aber sie bohrte sich mit den Blicken an ihren Peiniger fest und verfolgte scharf jede seiner Bewegungen. Sswidrigailoff rührte sich auch nicht vom Fleck und stand ihr gegenüber am anderen Ende des Zimmers. Er hatte sich gefaßt, wenigstens äußerlich. Aber sein Gesicht war, wie früher, bleich. Ein spöttisches Lächeln verließ es nicht.
„Sie sagten soeben ‚Gewalt‘, Awdotja Romanowna. Wenn es Gewalt ist, so können Sie selbst begreifen, daß ich die nötigen Maßregeln getroffen habe. Ssofja Ssemenowna ist nicht zu Hause; bis zu Kapernaumoffs ist es sehr weit, fünf leere Zimmer liegen dazwischen. Schließlich bin ich wenigstens doppelt so stark, als Sie, und außerdem brauche ich nichts zu befürchten, denn Sie können auch nachher sich nicht beklagen, – Sie werden doch nicht Ihren Bruder verraten wollen? Ja, und Ihnen wird auch niemand glauben, – warum ist denn ein junges Mädchen allein zu einem alleinstehenden Herrn gegangen? Wenn Sie also auch Ihren Bruder opfern, so beweisen Sie noch lange nichts, – eine Gewalttat ist schwer zu beweisen, Awdotja Romanowna.“
„Schuft!“ flüsterte Dunja empört.
„Wie Sie wünschen, merken Sie sich, ich habe es bloß als eine Mutmaßung ausgesprochen. Meiner persönlichen Überzeugung nach aber haben Sie vollkommen recht, – eine Gewalttat ist eine Schändlichkeit. Ich sagte es bloß, um zu beweisen, daß Ihr Gewissen nichts verliert, wenn Sie ... wenn Sie sich sogar entschließen sollten, Ihren Bruder freiwillig zu retten, wie ich es Ihnen angeboten habe. Sie haben sich bloß den Umständen gefügt, meinetwegen auch der Gewalt nachgegeben, wenn es sich ohne dieses Wort nicht auskommen läßt. Denken Sie darüber nach; das Schicksal Ihres Bruders und Ihrer Mutter liegt in Ihren Händen. Ich will aber Ihr Sklave sein ... mein ganzes Leben ... ich will hier Ihre Entscheidung erwarten ...“
Sswidrigailoff setzte sich auf das Sofa hin, etwa acht Schritte von Dunja entfernt. Für sie gab es nicht den geringsten Zweifel an seinem unerschütterlichen Entschlusse. Außerdem kannte sie ihn ...
Plötzlich holte sie aus ihrer Tasche einen Revolver hervor, spannte den Hahn und ließ die Hand mit dem Revolver auf den Tisch sinken. Sswidrigailoff sprang von seinem Platz auf.
„Aha! So ist die Geschichte!“ rief er verwundert aus und lächelte hämisch. „Nun, das ändert vollkommen die Sache! Sie erleichtern mir wesentlich die Sache, Awdotja Romanowna! Ja, woher haben Sie sich diesen Revolver verschafft? Etwa von Herrn Rasumichin? Bah! Der Revolver gehört ja mir! Ein alter Bekannter von mir! Und ich habe ihn damals so gesucht! ... Unser Schießunterricht auf dem Lande, den ich die Ehre hatte, zu erteilen, ist nicht unnütz gewesen.“
„Es ist nicht dein Revolver, sondern Marfa Petrownas, die du ermordet hast, du Bösewicht! Du hattest nichts eigenes in ihrem Hause. Ich nahm ihn, als ich zu ahnen begann, wozu du fähig bist. Wage bloß einen Schritt zu machen und ich schwöre dir, – ich erschieße dich!“
Dunja war außer sich. Den Revolver hielt sie bereit.
„Nun, und Ihr Bruder? Ich frage aus Neugier?“ sagte Sswidrigailoff und stand immer noch auf derselben Stelle.
„Zeige ihn an, wenn du willst! Nicht vom Platze! Rühr dich nicht! Ich werde schießen! Du hast deine Frau vergiftet, ich weiß es, du bist selbst ein Mörder!“
„Sind Sie fest davon überzeugt, daß ich Marfa Petrowna vergiftet habe?“
„Du hast! Du hast mir es selbst angedeutet; du hast mir von Gift gesprochen ... ich weiß, du hast dir Gift verschafft ... Du hattest alles vorbereitet ... Du hast es unbedingt getan ... Schuft!“
„Wenn es auch wahr wäre, so habe ich es doch deinetwegen ... du warst doch die Ursache!“
„Du lügst! Ich habe dich stets, stets gehaßt ...“
„Na, Awdotja Romanowna! Sie scheinen vergessen zu haben, wie Sie in der Hitze der Propaganda geneigter wurden und dahinschmolzen ... Ich habe es an den Augen gemerkt, erinnern Sie sich eines Abends, der Mond schien und eine Nachtigall trillerte?“
„Du lügst!“ in Dunjas Augen funkelte Wut, „du lügst, Verleumder!“
„Ich lüge? Nun, meinetwegen, ich lüge. Ich habe gelogen. Frauen soll man an diese Dinge nicht erinnern.“ – Er lächelte halb. – „Ich weiß, daß du schießen wirst, du schönes, wildes Tier! Nun, schieße doch!“
Dunja erhob den Revolver und sah ihn totenblaß, mit kreidebleichen bebenden Lippen, mit großen schwarzen, feurig funkelnden Augen entschlossen an und wartete die erste Bewegung von ihm ab. Noch niemals hatte er sie so schön gesehen. Das Feuer, das in ihren Augen in dem Augenblick aufleuchtete, als sie den Revolver erhob, schien ihn verbrannt zu haben, und sein Herz zog sich schmerzlicher zusammen. Er tat einen Schritt und ein Schuß knallte. Die Kugel streifte seine Haare und traf die Wand hinter ihm. Er blieb stehen und lachte leise.
„Eine Wespe hat gestochen! Sie zielt auf den Kopf ... Was ist das? Blut!“ – Er zog ein Taschentuch hervor, um das Blut abzuwischen, das ganz fein an seiner rechten Schläfe herunterrann; wahrscheinlich hatte die Kugel die Haut seines Schädels geritzt. Dunja ließ den Revolver sinken und sah Sswidrigailoff nicht etwa erschreckt, sondern stutzig an. Es war, als begreife sie selbst nicht, was sie getan hatte und was vorgegangen war!
„Nun, das ging vorbei! Schießen Sie noch einmal, ich warte,“ sagte Sswidrigailoff leise, finster lächelnd. „So kann ich Sie packen, ehe Sie den Hahn noch einmal aufspannen!“
Dunetschka fuhr zusammen, spannte schnell den Hahn und erhob wieder den Revolver.
„Lassen Sie mich!“ sagte sie voll Verzweiflung. „Ich schwöre es Ihnen, ich werde von neuem schießen ... Ich ... werde Sie erschießen! ...“
„Nun was ... auf drei Schritte muß man auch treffen können. Nun, wenn Sie aber mich nicht erschießen ... dann ...“ – Seine Augen funkelten und er trat noch zwei Schritte näher.
Dunetschka drückte ab, – die Waffe versagte!
„Sie haben nicht gut geladen. Tut nichts! Sie haben noch eine Patrone drin. Bringen Sie es in Ordnung, ich will warten.“
Er stand zwei Schritte vor ihr, wartete und sah sie voll wilder Entschlossenheit mit einem leidenschaftlichen und schweren Blicke an. Dunja begriff, daß er eher sterben würde, als daß er sie losließ. „Und sie ... wird ihn jetzt sicher auf zwei Schritte Entfernung töten! ...“
Plötzlich schleuderte sie den Revolver fort.
„Hat ihn fortgeworfen!“ sagte Sswidrigailoff und holte tief Atem. Etwas schien mit einem Male sich von seinem Herzen losgelöst zu haben, und es war vielleicht nicht bloß die Last der Todesangst, – es war auch fraglich, ob er sie in diesem Augenblicke empfunden hatte. Es war eine Erlösung von einem anderen, mehr kummervollen und düsteren Gefühle, das er selbst nicht in seiner ganzen Macht definieren konnte.
Er trat an Dunja heran und legte still seinen Arm um ihre Taille. Sie widersetzte sich ihm nicht, aber sie blickte ihn, am ganzen Körper wie ein Blatt bebend, mit flehenden Augen an. Er wollte etwas sagen, seine Lippen aber verzogen sich bloß und er konnte nichts sprechen.
„Laß mich!“ sagte Dunja flehend.
Sswidrigailoff zuckte zusammen, – dieses du war in einer anderen Weise, als vorhin, gesagt.
„Also du liebst mich nicht?“ fragte er leise.
Dunja schüttelte verneinend den Kopf.
„Und ... kannst auch nicht? ... Niemals?“ flüsterte er verzweifelt.
„Niemals!“ antwortete Dunja im Flüstertone.
Es war der Moment eines schrecklichen stummen Kampfes in Sswidrigailoffs Seele. Mit einem unaussprechlichen Blicke sah er sie an. Plötzlich zog er seine Hand zurück, wandte sich ab, ging schnell zum Fenster und stellte sich dort hin.
Noch ein Augenblick verging.
„Hier ist der Schlüssel zur Türe!“ er nahm ihn aus der linken Tasche seines Mantels hervor und legte ihn auf den Tisch hinter sich, ohne Dunja anzublicken und ohne sich umzudrehen. – „Nehmen Sie ihn; gehen Sie schnell fort! ...“
Er sah starr zum Fenster hinaus.
Dunja trat an den Tisch, um den Schlüssel zu nehmen.
„Schneller! Schneller!“ wiederholte Sswidrigailoff, ohne sich zu rühren und umzudrehen. Aber in diesem „schneller“ klang deutlich ein schrecklicher Ton hindurch.
Dunja begriff, erfaßte den Schlüssel, stürzte zur Türe, schloß sie eilig auf und sprang aus dem Zimmer. Nach einer Minute lief sie schon, wie wahnsinnig, ganz außer sich den Kanal entlang in der Richtung zu der X-schen Brücke.
Sswidrigailoff blieb am Fenster noch etwa drei Minuten stehen, wandte sich endlich langsam um, warf einen Blick ins Zimmer und fuhr sich leise mit der Hand über die Stirn. Ein merkwürdiges Lächeln verzog sein Gesicht; es war ein klägliches, trauriges, schwaches Lächeln, ein Lächeln der Verzweiflung. Das Blut, das schon einzutrocknen begann, hatte seine Hand beschmutzt; er blickte das Blut zornig an; dann machte er ein Handtuch naß und wusch sich die Schläfe ab. Der Revolver, den Dunja von sich geworfen hatte und der zur Türe geflogen war, fiel ihm plötzlich in die Augen. Er hob ihn auf und besah ihn. Es war ein kleiner dreiläufiger Taschenrevolver alten Systems; es steckten noch zwei Patronen darin und eine Kapsel. Einmal konnte man noch daraus schießen. Er sann eine Weile nach, steckte den Revolver in die Tasche, nahm seinen Hut und ging hinaus.
Diesen ganzen Abend bis zehn Uhr zog er in allerhand Wirtshäusern und Spelunken umher. Irgendwo traf er auch Katja, die einen anderen Gassenhauer sang, von einem „Schuft und Tyrannen,“ der
„Fing Katja an zu küssen“.
Sswidrigailoff gab Katja und dem Leiermann, den Chorsängern, den Kellnern und zwei Schreibern zu trinken. Diese Schreiber hatte er eigentlich bloß aufgefordert, weil sie beide schiefe Nasen besaßen, – die Nase des einen stand nach rechts, die des anderen nach links. Das hatte Sswidrigailoffs Aufmerksamkeit erregt. Zuletzt schleppten sie ihn in eine Gartenwirtschaft mit, wo er für sie das Eintrittsgeld bezahlen mußte. Dieser Garten bestand aus einer dünnen dreijährigen Tanne und drei Sträuchern. Das Restaurant war im Grunde genommen nur ein Ausschank, man konnte aber auch Tee erhalten und es standen einige grüne Tische und Stühle dort. Ein Chor minderwertiger Sänger und ein betrunkener Deutscher aus München, eine Art Clown, mit roter Nase, der aber aus irgend einem Grunde sehr niedergeschlagen war, amüsierten das Publikum. Die Schreiber fingen mit einigen anderen Schreibern einen Streit an und schickten sich schon an, handgreiflich zu werden. Sswidrigailoff wurde von ihnen zum Schiedsrichter gewählt. Er waltete über eine Viertelstunde seines Amtes, aber sie schrien derartig, daß es nicht die geringste Möglichkeit gab, irgend etwas zu verstehen. Am wahrscheinlichsten war die Sache so – einer von ihnen hatte etwas gestohlen und hatte Zeit gefunden, es sofort an Ort und Stelle einem Juden zu verkaufen, der sich zufällig eingefunden hatte, aber er wollte das Geld mit seinem Kameraden nicht teilen; es ergab sich schließlich, daß der verkaufte Gegenstand ein Teelöffel war, der dem Restaurant gehörte; man vermißte dort den Löffel und die Sache begann eine unangenehme Wendung zu nehmen. Sswidrigailoff bezahlte den Löffel, erhob sich und verließ den Garten. Es war gegen zehn Uhr. Er selbst hatte während der ganzen Zeit keinen einzigen Tropfen Wein getrunken und hatte in der Gartenwirtschaft sich nur Tee bestellt, und das nur, um überhaupt etwas zu nehmen. Der Abend war schwül und düster. Gegen zehn Uhr hatte sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen; es fing an zu donnern und der Regen strömte nieder. Das Wasser fiel nicht in Tropfen, sondern peitschte in ganzen Strömen die Erde. Es folgte Blitz auf Blitz. Ganz durchnäßt kam Sswidrigailoff nach Hause, schloß sich ein, öffnete seinen Schreibtisch, nahm sein ganzes Geld an sich und zerriß einige Papiere. Er steckte darauf das Geld in die Tasche, wollte seine Kleider wechseln, aber nachdem er zum Fenster hinausgeblickt und dem Gewitter und dem Regen gelauscht hatte, tat er es doch nicht, ergriff seinen Hut und ohne seine Wohnung abzuschließen, ging er hinaus und direkt zu Ssonja. Sie war zu Hause.
Sie war nicht allein; sie hatte die vier Kinder von Kapernaumoff um sich. Ssofja Ssemenowna gab ihnen Tee zu trinken. Sie begrüßte Sswidrigailoff schweigend und ehrerbietig, warf einen erstaunten Blick auf seine durchnäßten Kleider, sagte aber kein Wort. Die Kinder liefen sofort in unbeschreiblicher Furcht davon.
Sswidrigailoff setzte sich an den Tisch und bat Ssonja, neben ihm Platz zu nehmen. Sie schickte sich schüchtern an, ihm zuzuhören.
„Ssofja Ssemenowna, ich reise vielleicht nach Amerika,“ sagte Sswidrigailoff, „und da wir uns wahrscheinlich zum letzten Male sehen, bin ich gekommen, einige Anordnungen zu treffen. Haben Sie heute diese Dame gesehen? Ich weiß, was sie Ihnen gesagt hat, Sie brauchen es mir nicht zu erzählen,“ – (Ssonja machte eine Bewegung und errötete.) – „Diese Leute haben eine bestimmte Manier. Was Ihre Schwestern und Ihren Bruder anbetrifft, so sind sie untergebracht und das ihnen zukommende Geld habe ich für jeden gegen Quittung in sicherer Hand deponiert. Nehmen Sie übrigens diese Quittungen für jeden Fall an sich. Nehmen Sie sie! Das ist also erledigt. Hier sind drei fünfprozentige Obligationen, im ganzen dreitausend Rubel. Nehmen Sie das für sich, für sich ganz allein, und mag es unter uns bleiben, damit niemand etwas davon erfährt. Das Geld wird Ihnen von Nutzen sein, denn, Ssofja Ssemenowna, ein Leben, wie Sie es bisher lebten, ist schlimm und Sie haben es nicht nötig.“
„Sie haben mich mit so vielen Wohltaten überschüttet; auch die Waisen und die Verstorbene,“ stammelte Ssonja, „wenn ich Ihnen bis jetzt so wenig gedankt habe, so ... halten Sie es nicht ...“
„Aber bitte, es ist nicht der Rede wert.“
„Und für dieses Geld danke ich Ihnen sehr, Arkadi Iwanowitsch, aber ich brauche es jetzt wirklich nicht. Ich kann immer für mich allein sorgen, halten Sie es nicht für Undank, – wenn Sie schon gütig sind, so soll dieses Geld ...“
„Ihnen, Ssofja Ssemenowna, Ihnen soll es gehören, und bitte ohne viele Worte, denn ich habe auch keine Zeit dazu. Es wird Ihnen sehr von Nutzen sein. Rodion Romanowitsch hat zwei Auswege, – entweder eine Kugel durch den Kopf oder Sibirien.“ – (Ssonja blickte ihn wild an und erbebte.) – „Seien Sie ruhig, ich weiß alles von ihm selbst und bin kein Schwätzer; werde es niemand sagen. Sie haben gut daran getan, indem Sie ihm vorschlugen, – er möge hingehen und sich selbst anzeigen. Das wird ihm bedeutend nützlicher sein. Nun, wenn der Ausweg Sibirien sein wird, werden Sie ihm doch folgen? Nicht wahr? Nicht wahr? Und dann wird Ihnen auch das Geld von Nutzen sein. Für ihn selbst werden Sie es brauchen, verstehen Sie? Indem ich es Ihnen überreiche, gebe ich es damit doch ihm. Außerdem haben Sie versprochen, auch die frühere Wirtin Amalie Iwanowna zu bezahlen; ich habe es gehört. Warum übernehmen Sie immer, Ssofja Ssemenowna, unüberlegt solche Verpflichtungen? Katerina Iwanowna war es doch dieser Deutschen schuldig geblieben, und nicht Sie, also sollten Sie auf die Deutsche pfeifen. In dieser Weise kann man auf der Welt nicht weiterkommen. Und wenn jemand morgen oder übermorgen nach mir fragen sollte, – und man wird sich an Sie wenden, – so erwähnen Sie nicht, daß ich jetzt bei Ihnen gewesen bin, und zeigen Sie in keinem Falle das Geld und sagen Sie niemandem, daß ich es Ihnen gegeben habe. Und jetzt auf Wiedersehen.“ – Er stand auf. – „Grüßen Sie Rodion Romanowitsch. Nebenbei gesagt, – übergeben Sie vorläufig das Geld meinetwegen Herrn Rasumichin zur Aufbewahrung. Kennen Sie Herrn Rasumichin? Sie kennen ihn sicher. Das ist ein kluger Bursche. Bringen Sie das Geld ihm morgen oder ... wenn Sie Zeit haben, hin. Vorläufig verstecken Sie es gut.“ Er erhob sich.
Ssonja sprang ebenfalls vom Stuhle auf und blickte ihn erschrocken an. Sie wollte etwas sagen, etwas fragen, aber sie wagte es nicht gleich und wußte auch nicht, wie sie es anfangen sollte.
„... Wie, wollen Sie denn jetzt in solchem Regen ausgehen?“
„Nun, ich will nach Amerika reisen und soll mich vor einem Regen fürchten, he! he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemenowna! Leben Sie und leben Sie lange, Sie werden anderen von Nutzen sein. Ja ... sagen Sie bitte Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie ihm, – Arkadi Iwanowitsch Sswidrigailoff läßt Sie grüßen, – mit diesen Worten sagen Sie es ihm. Sagen Sie es unbedingt.“
Er ging fort und hinterließ Ssonja erstaunt und erschrocken in einer unklaren und drückenden Ahnung zurück.
Man erfuhr später, daß er am selben Abend, in der zwölften Stunde, noch einen sehr exzentrischen und unerwarteten Besuch gemacht hatte. Der Regen hatte noch immer nicht aufgehört. Ganz durchnäßt, trat er zwanzig Minuten nach elf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut ein. Mit großer Mühe hatte er sich Einlaß verschafft und zuerst alle in große Aufregung versetzt; aber Arkadi Iwanowitsch konnte, wenn er wollte, ein Mann von bezauberndem Benehmen sein, so daß die ursprüngliche, übrigens sehr naheliegende Annahme der Eltern der Braut, daß Arkadi Iwanowitsch wahrscheinlich sich irgendwo stark berauscht habe und seiner selbst nicht mächtig sei, – von selbst zunichte wurde. Den gelähmten Vater rollte in einem Sessel die mitleidige Mutter der Braut selbst zu Arkadi Iwanowitsch herein und begann nach ihrer Gewohnheit mit weitausholenden Fragen. Diese Frau stellte nie direkte Fragen, sondern lächelte und rieb sich die Hände zuerst, dann aber, wenn sie etwas unbedingt erfahren wollte, wie z. B., – wann Arkadi Iwanowitsch den Wunsch habe, die Hochzeit zu bestimmen, so begann sie mit den neugierigsten Fragen über Paris und das dortige Hofleben, um schließlich langsam bis zu ihrer Wohnung in Petersburg zu gelangen. Zu anderer Stunde wurde dies alles ruhig hingenommen, aber jetzt war Arkadi Iwanowitsch zu ungeduldig und wünschte kategorisch seine Braut zu sehen, obgleich man ihm schon bei seinem Eintritt erklärt hatte, daß sie schon schlafe. Die Braut erschien selbstverständlich, und Arkadi Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit auf eine Zeit lang Petersburg verlassen müsse, und aus diesem Grunde ihr fünfzehntausend Rubel in allerhand Papieren mitgebracht habe; er bat sie, dies als ein Geschenk von ihm anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr diese Kleinigkeit schon vor der Hochzeit zu überreichen. Ein besonderer logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der unverzüglichen Abreise und der Notwendigkeit, deswegen in der Nacht bei Regen herzukommen, zeigte sich in keiner Weise bei seinen Erklärungen, jedoch es verlief alles sehr gut. Sogar die unvermeidlichen Ausrufe von „ach“ und „wie,“ das Fragen und Staunen wurden rasch gemäßigt und zurückgehalten; dafür aber wurde eine überströmende Dankbarkeit an den Tag gelegt und sogar von den Tränen der vernünftigsten aller Mütter unterstützt. Arkadi Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut, streichelte ihre Wangen, wiederholte noch einmal, daß er bald zurückkommen werde, und als er in ihren Augen eine zwar kindliche Neugier, aber zugleich eine sehr ernste stumme Frage bemerkte, sann er eine Weile nach, küßte sie zum zweitenmal und ärgerte sich darüber, daß das Geschenk unverzüglich zur Aufbewahrung der vernünftigsten aller Mütter übergeben werden würde. Er ging fort und hinterließ alle in einer ungewöhnlichen Aufregung. Aber die gutherzige Mama löste sofort im Flüstertone einige sehr wichtige Bedenken, und zwar, daß Arkadi Iwanowitsch ein Mann der großen Welt, ein Mann mit Unternehmungen und großen Verbindungen, ein reicher Mann sei; weiß Gott, was in seinem Kopfe vorgehe, er habe plötzlich den Entschluß gefaßt, abzureisen, habe eben plötzlich den Gedanken bekommen, das Geld gegeben, man soll sich nicht darüber wundern. Gewiß sei es merkwürdig, daß er ganz durchnäßt war, aber die Engländer seien z. B. noch exzentrischer, überhaupt alle Menschen aus der höchsten Gesellschaft achteten nicht darauf, was man von ihnen sagen werde, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er absichtlich in dieser Weise herum, um zu zeigen, daß er nichts fürchte. Die Hauptsache aber sei, niemand ein Wort davon zu sagen, denn Gott weiß, was dabei noch herauskommen könne, das Geld müsse sofort eingeschlossen werden, und sicher sei es das beste, daß das Mädchen in der Küche war und nichts gesehen habe, noch wichtiger sei es aber, nichts, gar nichts dieser Spitzbübin, dieser Rößlich davon zu sagen, und so ging es in gleicher Weise fort. Sie blieben bis zwei Uhr sitzen und flüsterten die ganze Zeit. Nur die Braut ging etwas früher schlafen, über die ganze Sache verwundert und ein wenig traurig.
Sswidrigailoff wanderte indessen punkt zwölf Uhr über die K.sche Brücke in der Richtung nach dem –schen Stadtteil. Es hatte zu regnen aufgehört, jedoch der Wind wehte noch stark. Sswidrigailoff begann zu zittern, und einen Augenblick sah er mit einer auffallenden Neugier und fragend das schwarze Wasser der Kleinen Newa an. Als er so über das Wasser geneigt dastand, fühlte er auf einmal ein unangenehmes Kältegefühl, er drehte sich um und ging den X.schen Prospekt entlang. Er wanderte lange, fast eine halbe Stunde, durch diesen endlosen Prospekt, stolperte ein paarmal in der Dunkelheit auf dem hölzernen Trottoir und hörte nicht auf, etwas auf der rechten Seite der Straße aufmerksam zu suchen. Er hatte hier, fast am Ende des Prospekts kürzlich im Vorbeifahren ein hölzernes, aber geräumiges Gasthaus bemerkt, und sein Name, soweit er sich erinnern konnte, hatte etwas mit „Adrianopel“ zu tun. Er hatte sich nicht getäuscht, – dieses Gasthaus in dieser abgelegenen Gegend war so auffallend, daß es selbst in der Dunkelheit unmöglich übersehen werden konnte. Es war ein langes hölzernes, schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunde noch Lichter brannten und ein gewisses Leben zu bemerken war. Er trat ein und fragte einen im Korridor stehenden, zerlumpten Kerl nach einem Zimmer. Der warf einen Blick auf Sswidrigailoff, nahm sich zusammen und führte ihn in ein dumpfes, enges Zimmer, das am Ende des Korridors an einer Ecke unter der Treppe lag. „Es ist kein anderes da, alle Zimmer sind besetzt.“ Der Kerl blickte ihn fragend an.
„Gibt es Tee?“ fragte Sswidrigailoff.
„Kann besorgt werden.“
„Was gibt es noch?“
„Kalbfleisch, Schnaps, Aufschnitt.“
„Bring mir Kalbfleisch und Tee.“
„Sonst keine Wünsche?“ fragte der Kerl erstaunt.
„Nichts mehr.“
Der Kerl verschwand, ganz verwundert.
„Das muß ein guter Ort sein,“ dachte Sswidrigailoff, „wie kam mir das nicht in den Sinn. Ich habe wahrscheinlich auch das Aussehen eines Menschen, der irgendwo aus einem Café chantant kommt und auf dem Wege schon etwas erlebt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier alles absteigt und übernachtet.“
Er zündete ein Licht an und besah sich das Zimmer genauer. Es war eine ganz kleine Kammer, so niedrig, daß Sswidrigailoff beinahe an die Decke stieß, mit einem Fenster; ein sehr schmutziges Bett, ein einfacher, gestrichener Tisch und ein Stuhl nahmen fast den ganzen Raum ein. Die Wände hatten das Aussehen, als wären sie aus Brettern zusammengeschlagen und mit alten abgerissenen Tapeten beklebt worden, die so staubig und beschmutzt waren, daß man ihre Farbe, ursprünglich gelb, erraten mußte, das Muster aber nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand und der Decke war schräg abgeschnitten, wie man es gewöhnlich in Mansarden sieht, hier aber war es wegen der Treppe. Sswidrigailoff stellte das Licht auf den Tisch, setzte sich auf das Bett und versank in Gedanken. Aber ein eigentümliches und ununterbrochenes Flüstern im Nebenzimmer, das zuweilen fast in ein Schreien überging, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Flüstern hatte seit dem Augenblicke, als er im Zimmer eingetreten war, nicht aufgehört. Er begann zu lauschen, – jemand schimpfte und machte einem anderen fast weinend Vorwürfe, man hörte nur eine Stimme; Sswidrigailoff stand auf, verdeckte mit der einen Hand das Licht und an der Wand zeigte sich sofort eine Ritze; er trat drauf zu und begann hindurchzusehen. In dem Zimmer, das ein wenig größer war, als das seine, befanden sich zwei Menschen. Einer von ihnen ohne Rock, mit einem lockigen Kopfe und rotem erregten Gesichte, stand in Rednerpose; er hatte die Beine auseinandergespreizt, um das Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich vor die Brust und warf dem anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und daß er nicht mal einen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe, und daß er ihn, wenn er wolle, fortjagen könne und dies alles sehe der Finger Gottes allein. Der angeschnauzte Genosse saß auf einem Stuhl und hatte das Aussehen eines Menschen, der sehr gern niesen möchte, aber es absolut nicht fertig brachte. Er sah zuweilen mit einem trüben Schafsblicke den Redenden an, aber augenscheinlich hatte er keinen Begriff davon, worüber jener sprach und höchstwahrscheinlich hörte er es nicht einmal. Auf dem Tische brannte der Rest eines Lichtes, und eine fast leere Karaffe Branntwein mit Gläsern, Brot, Gurken und ein Teegeschirr standen darauf. Nachdem Sswidrigailoff dieses Bild aufmerksam betrachtet hatte, verließ er teilnahmslos die Ritze in der Wand und setzte sich wieder auf das Bett hin.
Der Kerl, der mit Kalbfleisch und Tee gekommen war, konnte sich nicht enthalten, noch einmal zu fragen, ob nichts weiter gewünscht würde, und nachdem er wieder eine verneinende Antwort erhalten hatte, ging er endgültig aus dem Zimmer. Sswidrigailoff stürzte sich über den Tee, um sich zu erwärmen, und leerte ein Glas, essen konnte er nichts, da er den Appetit völlig verloren hatte. Er begann sichtlich zu fiebern. Er nahm seinen Mantel und Jacke ab, hüllte sich in die Decke ein und legte sich auf das Bett. Er ärgerte sich, – „es wäre diesmal doch besser, gesund zu sein,“ dachte er und lächelte bitter. Es war im Zimmer dumpf, das Licht brannte trübe, draußen heulte der Wind, irgendwo in einer Ecke nagte eine Maus, im ganzen Zimmer überhaupt roch es nach Mäusen und nach Leder. Er lag und träumte, – ein Gedanke löste den anderen ab. Es schien, als wolle er seiner Phantasie eine bestimmte Richtung geben. „Hinter dem Fenster muß ein Garten sein,“ – dachte er, – „Bäume rauschen; was ich in der Nacht nicht liebe, im Sturme und in der Dunkelheit bringt das Rauschen der Bäume ein unangenehmes Gefühl hervor!“ Und er erinnerte sich, wie er vorhin im Vorbeigehen mit Widerwillen an den Petrowski-Park gedacht hatte. Dann tauchte in seiner Erinnerung auch die K.sche Brücke und die Kleine Newa auf, und wieder überrieselte es ihn kalt, wie vorhin, als er über das Wasser geneigt stand.
„Ich habe niemals im Leben das Wasser, nicht mal auf Bildern, geliebt,“ dachte er und lächelte über einen sonderbaren Gedanken. „Jetzt müßte mir doch diese ganze Ästhetik und der Komfort gleichgültig sein, aber nein, jetzt gerade werde ich wählerisch, wie ein Tier, das sich seine Stelle ... in ähnlichem Falle aussucht. Ich sollte vorhin in den Petrowski-Park einbiegen! Ist mir aber zu dunkel, zu kalt erschienen, he! he! Als suchte ich angenehme Gefühle dabei! ... Ja, warum lösche ich das Licht nicht aus?“ Und er löschte das Licht. „Meine Nachbarn haben sich auch schlafen gelegt,“ dachte er, als er keinen Schein mehr durch die Ritze sah. – „Nun, Marfa Petrowna, jetzt wäre es Zeit für Sie, zu erscheinen, – es ist dunkel, der Ort sehr passend und ein origineller Augenblick. Jetzt werden Sie sicher nicht kommen ...“
Es kam ihm auch in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde bevor Dunja in seiner Wohnung war, Raskolnikoff empfohlen hatte, sie der Obhut Rasumichins anzuvertrauen. „Ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um mich selbst zu reizen, was Raskolnikoff auch erraten hat. Dieser Raskolnikoff ist ein feiner Kopf. Er hat vieles durchgemacht und kann mit der Zeit etwas Großes werden, wenn der Unsinn in ihm vergangen sein wird, jetzt aber hat er noch ein zu großes Verlangen zu leben. In diesem Punkte sind alle diese Leute – Feiglinge. Nun, mag ihn der Teufel holen, mag er tun, was er will, was geht es mich an.“
Er konnte immer noch nicht einschlafen. Allmählich begann vor ihm das Bild von Dunetschka aufzutauchen, wie sie vorhin aussah, und ein Zittern fuhr durch seinen Körper. – „Nein, das muß man jetzt schon lassen,“ dachte er zu sich kommend, „ich muß an etwas anderes denken. Es ist sonderbar und lächerlich, – ich habe niemals jemand stark gehaßt, habe auch niemals besonders gewünscht, an jemand Rache zu nehmen, das ist doch ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch nicht geliebt, mich herumzustreiten und war nie heftig gewesen, – ist auch ein schlechtes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin versprochen, – pfui, Teufel! Sie hätte aus mir doch etwas machen können! ...“
Er verstummte wieder und preßte die Zähne aufeinander, – wieder erschien ihm Dunetschkas Bild, wie sie nach dem ersten Schuß erschrocken war, den Revolver sinken ließ und leichenblaß ihn ansah, so daß er sie zweimal hätte greifen können, ohne daß sie die Hand zur Gegenwehr hätte erheben können, wenn er selbst sie nicht daran erinnert hätte. Er erinnerte sich, wie sie ihm in diesem Augenblicke so leid tat, und wie sich sein Herz zusammengeschnürt hatte ... „Ah! Zum Teufel! Wieder diese Gedanken, man muß sie alle fallen lassen, ja, fallen lassen!“
Er verfiel wieder in Schlaf, – das fieberhafte Zittern ließ nach; da schien etwas unter der Decke über seine Hand und seinen Fuß zu laufen. Er zuckte zusammen, – „pfui, Teufel, das ist ja eine Maus!“ dachte er, „ich habe das Fleisch auf dem Tische stehen gelassen ...“ Er wollte nicht die Decke abwerfen, aufstehen und frieren, da stach ihn schon wieder etwas am Fuße; er riß die Decke von sich und zündete das Licht an. Zitternd vor fieberhafter Kälte, bückte er sich, um im Bette nachzusuchen, – es war nichts da; er schüttelte die Decke und plötzlich sprang eine Maus auf das Bettlaken. Er wollte sie fangen; die Maus aber sprang vom Bette nicht herunter, sondern lief im Zickzack nach allen Seiten hin, glitt ihm durch die Finger, lief über seine Hand und verschwand plötzlich unter dem Kissen; er warf das Kissen herunter und fühlte sogleich, wie sie ihm unter das Hemd sprang und auf seinem Rücken herumkrabbelte. Er erbebte nervös und erwachte. Im Zimmer war es dunkel, er lag wie vorhin in der Decke eingewickelt auf dem Bette, hinter dem Fenster heulte der Wind. „Wie schaurig!“ dachte er ärgerlich. Er stand auf und setzte sich mit dem Rücken gegen das Fenster auf das Bett. „Lieber schlafe ich gar nicht,“ beschloß er. Vom Fenster kam Kälte und Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen zog er die Decke über sich und hüllte sich ein. Das Licht steckte er nicht an. Er dachte an nichts und wollte auch an nichts denken; doch ein Phantasiegebilde nach dem andern stand vor ihm auf, abgerissene Gedanken ohne Anfang und Ende und ohne Zusammenhang schwebten ihm vor. Er verfiel in einen Halbschlummer. War es die Kälte oder die Dunkelheit, war es die Feuchtigkeit oder der Wind, der hinter dem Fenster heulte und die Bäume rüttelte, – die in ihm eine hartnäckige phantastische Neigung und den Wunsch nach Blumen hervorriefen, – mit Blumen beschäftigte sich seine Phantasie ausschließlich. Ihm schwebte ein reizendes Bild vor, – ein lichter, warmer, beinahe heißer Tag, ein Festtag, ein Pfingsttag; ein reiches prachtvolles Landhaus, im englischen Geschmack, bewachsen mit duftenden Blumen, und umgeben von Blumenbeeten, die um das Haus sich herumzogen, eine Treppe, umrankt von Schlingpflanzen und umringt von Rosenbüschen; eine lichte kühle Treppe, bedeckt mit einem prächtigen Teppich und ringsum geziert mit seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Er hatte auf den Fenstern Sträuße von weißen und zarten Narzissen in Glasvasen, gefüllt mit Wasser, bemerkt, die auf ihren hellgrünen, dicken und langen Stengeln starken aromatischen Duft verbreiteten. Er wollte sich gar nicht mehr von ihnen trennen, endlich stieg er aber doch die Treppe hinauf und trat in einen großen hohen Saal, und wieder standen hier überall auf den Fenstern, an der geöffneten Türe nach der Terrasse, auf der Terrasse selbst, Blumen über Blumen. Die Diele war mit frisch gemähtem, duftendem Heu bestreut, die Fenster waren geöffnet, eine frische leichte kühle Luft drang in das Zimmer, Vögel zwitscherten unter den Fenstern, und mitten im Saale auf einem mit weißem Atlas bezogenen Tische stand ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Taft ausgeschlagen und mit weißen dichten Rüschen benäht. Girlanden aus Blumen umrankten ihn auf allen Seiten. Ganz in Blumen gebettet lag ein kleines Mädchen in weißem Tüllkleide; ihre wie aus Marmor gemeißelten Hände waren gefaltet und an die Brust gepreßt. Ihr aufgelöstes Haar, ein helles Blondhaar, war naß; ein Kranz aus Rosen umgab ihren Kopf. Das strenge und schon erstarrte Profil ihres Gesichts war auch wie aus Marmor gemeißelt, in dem Lächeln auf ihren blassen Lippen lag ein nicht kindliches grenzenloses Weh, eine stille, herzzerreißende Klage. Sswidrigailoff kannte dieses Mädchen; weder ein Gottesbild noch brennende Kerzen standen an diesem Sarge und man vernahm keine Gebete. Das kleine Mädchen war eine Selbstmörderin, – sie hatte sich ertränkt. Sie war erst vierzehn Jahre alt und hatte schon ein gebrochenes Herz, sie war zugrunde gerichtet durch eine schändliche Tat, die dieses junge kindliche Bewußtsein mit Entsetzen erfüllt und überfallen, die ihre engelreine Seele mit unverdienter Schmach bedeckt hatte, und die ihr einen letzten Schrei der Verzweiflung entriß, der nicht erhört, sondern mit kaltem Herzen und harter Hand in einer dunklen Nacht, in tiefer Finsternis, in Kälte, in feuchtem Tauwetter unterdrückt wurde, als der Wind heulte.
Sswidrigailoff kam zu sich, stand auf und trat an das Fenster. Er fand tastend den Riegel und öffnete es. Der Wind stürmte mit aller Kraft in sein enges Zimmer hinein und bedeckte mit einem Frosthauch sein Gesicht und die nur mit dem Hemde bedeckte Brust. Hinter dem Fenster war wirklich ein Garten und zwar ein Vergnügungsetablissement; am Tage traten wohl hier Sänger auf und es wurde an Tischen Tee serviert. Jetzt flogen Regentropfen von den Bäumen und Sträuchern zum Fenster herein, und es war eine Dunkelheit wie in einem Keller, so daß man kaum einige dunkle Flecken, die Gegenstände vorstellten, unterscheiden konnte. Sswidrigailoff hatte die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt und sich hinausgebeugt, und blickte nun schon fünf Minuten, ohne sich losreißen zu können, in diese Finsternis. Da ertönte in die Nacht hinein ein Kanonenschuß, ihm folgte ein zweiter. „Ah, das Signal! Das Wasser steigt!“ dachte er. – „Gegen Morgen wird das Wasser die Straßen überfluten und die Kellerwohnungen und die Gewölbe überschwemmen, die Kellerratten werden aus ihren Schlupfwinkeln hervorschwimmen und die Menschen werden in Wind und Regen, durchnäßt und schimpfend, ihren Kram in die oberen Stockwerke schleppen ... Um welche Zeit ist es nun?“ – Und kaum hatte er so gedacht, als aus der Nähe, tickend und wie sich mächtig beeilend, eine Wanduhr drei Uhr schlug. – „Aha, nach einer Stunde wird es schon hell werden! Warum soll ich länger warten? Ich will lieber sofort hier fort und direkt in den Petrowski-Park gehen; dort will ich mir ein großes Gebüsch aussuchen, mit Regentropfen so benetzt, daß, wenn man nur mit einer Schulter drankommt, Millionen von Tropfen den ganzen Kopf mir überströmen werden ...“ Er trat vom Fenster zurück, schloß es, zündete das Licht an, zog seine Weste und den Mantel an, setzte den Hut auf und ging mit dem Lichte auf den Korridor hinaus, um in einer Kammer zwischen allerhand Kram und Lichtstumpfen den schlafenden Kerl aufzusuchen, ihm das Zimmer zu bezahlen und dann das Gasthaus zu verlassen. – „Es ist der beste Augenblick, man könnte ihn nicht besser wählen!“
Er ging lange in dem schmalen und langen Korridor herum, ohne jemand zu finden und wollte schon laut rufen, als er plötzlich in einer dunklen Ecke, zwischen einem alten Schrank und einer Türe, einen sonderbaren Gegenstand, anscheinend etwas Lebendes, erblickte. Er beugte sich mit dem Lichte darüber und sah ein Kind, – ein kleines Kind, – ein kleines Mädchen, nicht älter als fünf Jahre, in einem völlig durchnäßten Kleidchen, zitternd und weinend, daliegen. Sie schien vor Sswidrigailoff keine Furcht zu haben, blickte ihn mit ihren großen schwarzen Äuglein voll stillen Staunens an und schluchzte ab und zu, wie Kinder, die lange geweint, doch aufhören und sich getröstet haben. Das kleine Gesicht des Mädchens war bleich und abgemagert; sie war vor Kälte fast erstarrt, aber – „wie war sie hierher gekommen? Sie mußte sich hier versteckt und die ganze Nacht nicht geschlafen haben?“ Er begann sie auszufragen. Das Kind wurde plötzlich lebhaft und stammelte etwas sehr schnell in seiner kindlichen Sprache. Es kam darin etwas von „Mamachen“ und das „Mama Ruten geben wird,“ von einer Tasse, die sie zerschlagen habe, vor. Das Mädchen sprach ununterbrochen; einiges konnte man aus ihrer ganzen Erzählung herausfinden, – daß sie nicht geliebt werde, daß ihre Mutter, eine ewig betrunkene Köchin, wahrscheinlich im Gartenhause selbst, sie zumeist prügele und ihr Schrecken eingejagt habe; daß das Mädchen der Mutter eine Tasse zerschlagen habe und so erschrocken wäre, daß sie seit gestern Abend weggelaufen sei; wahrscheinlich hatte sie sich lange auf dem Hofe im Regen versteckt, endlich sich ins Haus hineingeschlichen, sich hinter dem Schrank verkrochen und hatte hier in der Ecke, weinend und in Nässe, Dunkelheit und Angst davor zitternd, daß man sie tüchtig verprügeln würde, die ganze Nacht gesessen. Sswidrigailoff nahm sie auf die Arme, ging in sein Zimmer, setzte sie auf das Bett hin und begann sie auszukleiden. Ihre zerlöcherten Stiefel auf die nackten Füße angezogen, waren so feucht, als hätten sie die ganze Nacht in einer Pfütze gelegen. Nachdem er sie entkleidet hatte, legte er sie ins Bett, bedeckte und hüllte sie ganz bis zum Kopfe in die Decke. Sie schlief sofort ein. Nachdem er damit fertig war, versank er wieder in sein düsteres Nachdenken.
„Was fällt mir auch ein, mich damit abzugeben!“ dachte er plötzlich mit einem schweren und bitteren Gefühl. – „Was für ein Unsinn!“ Voll Ärger nahm er das Licht, um hinauszugehen und um jeden Preis den Kerl zu finden und schneller von hier wegzukommen. – „Ach, so ein Mädel!“ dachte er fluchend und öffnete schon die Türe, als er sich umkehrte, um noch einmal zu sehen, ob das Mädchen schlafe und wie sie schlafe? Er hob vorsichtig die Decke auf. Das Mädchen lag im festen und seligen Schlafe. Sie war unter der Decke warm geworden, und das Blut war wieder in ihre blassen Wangen gestiegen. Aber sonderbar, – diese Röte war greller und auffallender, als sonst bei Kindern. „Das ist eine fieberhafte Röte,“ dachte Sswidrigailoff, „das ist die Röte nach Weingenuß, es ist, als hätte man ihr ein ganzes Glas zu trinken gegeben. Ihre roten Lippen brennen, scheinen zu flammen, aber was ist das?“ Ihm schien es plötzlich, als ob ihre langen schwarzen Wimpern zuckten und blinzelten, als ob sie sich erhöben, als ob unter ihnen ein schelmisches, scharfes, nicht in kindlicher Weise zwinkerndes Auge hervorblickte, als ob das Mädchen nicht schliefe, sich nur so anstelle. Ja, es war auch so, – ihre Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, die Mundwinkel zucken, es ist, als ob sie das Lächeln noch zurückhalten wollte. Nun aber hört sie auf, sich zurückzuhalten, sie lacht schon, sie lacht deutlich; etwas Freches und Herausforderndes leuchtet in diesem gar nicht kindlichen Gesichte; das ist das Laster; das ist das Gesicht einer Kokotte, das freche Gesicht einer verkäuflichen französischen Kokotte. Jetzt öffnen sich, ohne jede Verstellung, die beiden Augen, – sie ruhen auf ihm mit einem feurigen und schamlosen Blick, sie locken ihn, sie lachen ... Etwas unendlich Widerliches und Beleidigendes lag in diesem Lachen, in diesen Augen, in diesem ganzen schamlosen Gesichte des Kindes. „Wie! Eine fünfjährige!“ flüsterte Sswidrigailoff mit wahrem Entsetzen. – „Was ... was ist denn das?“ – Nun wendet sie sich ihm mit dem brennenden Gesichtchen ganz zu, streckt die Arme aus ... „Ah, Verfluchte!“ rief Sswidrigailoff voll Entsetzen und holte seine Hand zum Schlage aus ... Aber im selben Augenblick erwachte er.
Er lag im Bette, eingehüllt in die Decke; das Licht war nicht angezündet und durch das Fenster leuchtete der volle Tag hinein.
„Ein Albdrücken die ganze Nacht!“ Er erhob sich zornig und fühlte, daß er ganz zerschlagen war; seine Knochen schmerzten ihn. Draußen war ein dichter Nebel und man konnte nichts unterscheiden. Die Uhr ging auf fünf; er hatte sich verschlafen! Er stand auf und zog seine Jacke und den Mantel an, die beide noch feucht waren. Er fühlte in der Tasche nach dem Revolver, zog ihn heraus und setzte die Kapsel zurecht; dann setzte er sich hin, nahm aus der Tasche ein Notizbuch hervor und schrieb auf der ersten Seite mit großer Schrift ein paar Zeilen. Er las sie nochmals durch, stützte sich auf den Tisch und sann nach. Der Revolver und das Notizbuch lagen neben seinem Ellbogen. Die erwachten Fliegen krochen auf den Kalbfleischstücken herum, die er nicht angerührt hatte und die auf dem Tische standen. Er schaute den Fliegen lange zu und versuchte mit der freien rechten Hand eine zu fangen. Er bemühte sich lange, konnte sie aber nicht kriegen. Als er sich zuletzt bei dieser interessanten Beschäftigung ertappte, kam er zu sich, fuhr zusammen, stand auf und ging entschlossen aus dem Zimmer. Nach einer Minute war er schon auf der Straße.
Ein weißer dichter Nebel lag über der Stadt. Sswidrigailoff ging die klebrige schmutzige Straße in der Richtung der Kleinen Newa zu. Ihm schwebten das über Nacht stark gestiegene Wasser der Kleinen Newa, der Petrowski-Park, nasse Wege, feuchtes Gras, feuchte Bäume und Sträucher, und schließlich jenes Gebüsch vor ... Voll Ärger begann er die Häuser zu betrachten, um an etwas anderes zu denken. Weder einen Menschen, noch eine Droschke traf er auf dem Wege. Trostlos und schmutzig sahen ihn die grellgelben hölzernen Häuschen mit den geschlossenen Fensterläden an. Kälte und Feuchtigkeit durchzogen seinen ganzen Körper und ihn begann zu frösteln. Zuweilen fiel sein Blick auf die Schilder der Kaufläden und Gemüsekeller, er las jedes aufmerksam. Der hölzerne Fußsteg war schon zu Ende. Er ging an einem großen steinernen Hause vorbei. Ein schmutziger durchfrorener Hund mit eingezogenem Schwanze lief ihm über den Weg. Ein total betrunkener Mann in einem Uniformmantel lag mit dem Gesichte nach unten quer über den Fußweg. Er betrachtete ihn und ging weiter. Ein hoher Feuerwehrturm zeigte sich linker Hand. – „Bah!“ dachte er, „das ist die beste Stelle, wozu der Petrowski-Park? Es geschieht wenigstens in Gegenwart eines offiziellen Zeugen ...“ Er lächelte bei diesem neuen Gedanken und bog in die N.sche Straße ein. Hier stand ein großes Haus mit dem Turm. An dem mächtigen verschlossenen Tore des Hauses stand mit der Schulter daran gelehnt ein kleines Menschenkind in einen grauen Soldatenmantel eingehüllt und mit einem glänzenden Helm. Es schielte mit schlaftrunkenem Blick den herantretenden Sswidrigailoff an. Auf seinem Gesichte sah man den ewigen verdrießlichen Kummer, der sich ausnahmslos auf allen Gesichtern des jüdischen Volkes eingeprägt hat. Beide, Sswidrigailoff und der Soldat, betrachteten einander schweigend eine Weile. Dem Soldaten erschien es schließlich nicht in der Ordnung zu sein, daß ein Mann nicht betrunken drei Schritte vor ihm stehen blieb, ihn unverwandt anblickte und nichts sagte.
„Was wollen Sie denn hier?“ sagte er, ohne sich zu rühren und seine Stellung zu verändern.
„Ja, nichts, Bruder, guten Tag!“ antwortete Sswidrigailoff.
„Hier ist kein Platz, stehen zu bleiben.“
„Ich reise, Bruder, ins Ausland.“
„Ins Ausland?“
„Nach Amerika.“
„Nach Amerika?“
Sswidrigailoff zog den Revolver heraus und spannte den Hahn. Der Soldat zog die Augenbrauen nach oben.
„Was, solche Scherze sind hier nicht am Platze!“
„Warum denn nicht?“
„Nun, Bruder, das ist einerlei. Der Ort ist gut; wenn man dich fragen wird, antworte bloß, daß ich nach Amerika gereist bin.“
Er legte den Revolver an seine rechte Schläfe an.
„Man darf das nicht, hier ist nicht der Ort!“ sagte der Soldat, und seine Augen erweiterten sich immer mehr.
Sswidrigailoff drückte den Hahn ab.
Am selben Tage um sieben Uhr näherte sich Raskolnikoff der Wohnung seiner Mutter und Schwester, – jener Wohnung im Hause von Bakalejeff, wo sie Rasumichin untergebracht hatte. Der Treppeneingang war von der Straße aus. Je näher Raskolnikoff kam, desto mehr verlangsamte er seine Schritte, wie unschlüssig, ob er hineingehen solle oder nicht. Er wäre jedoch um keinen Preis umgekehrt; sein Entschluß war gefaßt. – „Außerdem ist es einerlei, sie wissen ja noch nichts,“ dachte er, „und haben sich schon gewöhnt, mich als einen närrischen Kauz anzusehen ...“ Seine Kleidung war schrecklich, – ganz beschmutzt, zerrissen und zerknittert, weil er die ganze Nacht im Regen verbracht hatte. Sein Gesicht war vor Müdigkeit, durch das schlechte Wetter, aus physischer Ermattung und infolge eines beinahe vierundzwanzigstündigen Kampfes mit sich selbst ganz entstellt. Wo er diese ganze Nacht verbracht hatte, wußte Gott allein; aber sie hatte wenigstens seinen Entschluß herbeigeführt.
Er klopfte an die Türe; die Mutter öffnete ihm. Dunetschka war nicht zu Hause. Auch das Dienstmädchen war um diese Zeit nicht da. Pulcheria Alexandrowna war zuerst ganz stumm vor freudigem Erstaunen, dann ergriff sie seine Hand und zog ihn ins Zimmer.
„Nun, da bist du!“ begann sie, und stockte vor Freude. – „Sei nicht böse auf mich, Rodja, daß ich dich so dumm begrüße, – mit Tränen; ich lache ja und weine nicht. Du denkst, ich weine? Nein, ich freue mich, habe aber bloß so eine dumme Angewohnheit, daß mir dann die Tränen fließen. Das habe ich seit dem Tode deines Vaters, ich weine bei jeder Gelegenheit. Setz dich doch, mein Lieber, du bist wahrscheinlich müde, ich sehe es. Ach, wie du beschmutzt bist.“
„Ich war gestern im Regen fort, Mama ...“ begann Raskolnikoff.
„Aber nein, nein!“ unterbrach ihn Pulcheria Alexandrowna eifrig, „du meinst, ich will dich sofort ausfragen, nach meiner früheren weiberhaften Gepflogenheit, sei darüber beruhigt. Ich begreife doch, ich begreife alles, habe mich jetzt an die hiesigen Gebräuche gewöhnt, und sehe wirklich selbst ein, daß man hier gescheiter ist. Ich habe mir ein für allemal gesagt, wie kann ich deine Entschlüsse verstehen und von dir Rechenschaft verlangen? Du hast vielleicht Gott weiß was für Dinge und Pläne im Kopfe und dir kommen allerhand Gedanken; soll ich dich da immer anstoßen und fragen, worüber denkst du nach? Ich habe ... Ach, mein Gott, Ja, was laufe ich denn herum wie eine Besessene ... Just lese ich deinen Artikel in der Zeitschrift schon zum dritten Male, Rodja; mir hat ihn Dmitri Prokofjitsch gebracht. Ich war sehr überrascht, als ich ihn las; so dumm bin ich, dachte ich, damit gibt er sich also ab, das ist die Lösung der Dinge. Er hat vielleicht neue Gedanken im Kopfe, er überlegt sie sich, ich aber quäle ihn und störe ihn. Ich lese den Artikel, mein Freund, und verstehe selbstverständlich nicht viel; es muß auch übrigens so sein, – wie kann ich es auch verstehen.“
„Zeigen Sie ihn mir, Mama.“
Raskolnikoff nahm den Artikel in die Hand und blickte ihn flüchtig an. Wie sehr es auch seiner Lage und seinem Zustande widersprach, empfand er doch jenes eigentümliche und prickelnde süße Gefühl, das ein Verfasser, der sich zum ersten Male gedruckt sieht, empfindet, dazu sprachen auch seine dreiundzwanzig Jahre mit. Es dauerte einen Augenblick. Nachdem er einige Zeilen gelesen hatte, verdüsterte sich sein Gesicht und ein furchtbarer Gram preßte sein Herz zusammen. Sein ganzer seelischer Kampf in den letzten Monaten kam ihm mit einem Male ins Gedächtnis. Er warf mit Widerwillen und voll Ärger die Zeitung auf den Tisch.
„Aber Rodja, wie dumm ich auch sein mag, ich kann doch verstehen, daß du sehr bald einer von den Ersten, wenn nicht der Erste unter unseren Gelehrten, sein wirst. Und man wagte zu denken, daß du den Verstand verloren hättest. Ha! ha! ha! Du weißt es nicht, aber man meinte es wirklich! Ach, dieses niedrige Gewürm, woher sollen sie auch begreifen, was Verstand haben heißt! Und Dunetschka glaubte auch fast daran – was sagst du dazu! Dein verstorbener Vater hat ein paarmal etliches in Zeitschriften eingeschickt, – zuerst Gedichte (ich habe noch das Heft der Gedichte, ich will es dir einmal zeigen) – und nachher eine ganze Novelle, – (ich hatte ihn gebeten, sie ins Reine schreiben zu dürfen) – und trotzdem wir beide beteten, daß es angenommen würde, – nahmen sie es doch nicht an! Rodja, vor sechs oder sieben Tagen, als ich deine Kleidung sah, wie du wohnst, was du ißt und wie du herumgehst, war ich ganz niedergeschlagen. Jetzt sehe ich, daß ich wieder einmal dumm war, denn wenn du Lust hast, kannst du dir alles auf einmal durch deinen Verstand und dein Talent verschaffen. Du willst es bloß vorläufig nicht und bist mit bedeutend wichtigeren Dingen beschäftigt ...“
„Ist Dunja nicht zu Hause, Mama?“
„Nein, Rodja. Sie ist jetzt sehr oft nicht zu Hause, läßt mich viel allein. Dmitri Prokofjitsch kommt öfters zu mir, um zu plaudern und spricht immer von dir, ich bin ihm sehr dankbar dafür. Er liebt dich sehr und schätzt dich, mein Freund. Ich kann von deiner Schwester nicht gerade sagen, daß sie zu mir unehrerbietig wäre. Ich klage nicht. Sie hat ihren Charakter, wie ich den meinen; sie hat allerhand Geheimnisse vor mir; und ich habe vor euch keine Geheimnisse. Gewiß, ich bin fest überzeugt, daß Dunja klug ist und außerdem auch mich und dich liebt ... aber ich weiß wirklich nicht, wohin dies alles führen wird. Du hast mich glücklich gemacht, Rodja, weil du mich jetzt besucht hast, sie aber hat das versäumt; wenn sie zurückkommt, will ich auch ihr sagen, – dein Bruder war hier, wo hast aber du die Zeit verbracht? Du sollst mich, Rodja, nicht verwöhnen; wenn du kannst, komm zu mir, wenn nicht, – dann läßt sich eben nichts tun als warten. Ich werde trotzdem wissen, daß du mich liebst, und das genügt mir. Ich werde deine Schriften lesen, werde von allen über dich hören, und dann wirst du schon wieder einmal zu mir kommen und was kann ich mir besseres wünschen? Du bist doch jetzt auch gekommen, um die Mutter zu erfreuen, ich sehe es ...“
Hier weinte plötzlich Pulcheria Alexandrowna.
„Schon wieder weine ich! Achte nicht auf mich dumme Person! Ach, mein Gott, was sitze ich hier,“ rief sie aus und fuhr von ihrem Platze auf, „ich habe doch Kaffee und biete dir nichts an! Siehst du, wie groß der Egoismus einer alten Frau ist. Sofort, sofort!“
„Mama, lassen Sie es, ich will gleich wieder fortgehen. Ich bin nicht deswegen gekommen. Bitte, hören Sie mich an.“
Pulcheria Alexandrowna trat schüchtern zu ihm.
„Mama, was auch geschehen sollte, was Sie auch über mich hören sollten, was man Ihnen auch über mich sagen sollte, – werden Sie mich dennoch ebenso lieben, wie jetzt?“ fragte er sie aus vollem Herzen, als bedenke er seine Worte nicht und erwäge sie nicht.
„Rodja, Rodja, was ist mit dir? Ja, wie kannst du nur so etwas fragen? Ja, wer wird mir denn etwas über dich sagen? Ich werde auch niemand glauben, mag kommen, wer da will, ich werde ihn hinausjagen.“
„Ich bin gekommen, Ihnen zu sagen, daß ich Sie geliebt habe, und ich bin jetzt froh, daß wir allein sind, bin sogar froh, daß Dunetschka nicht zu Hause ist,“ fuhr er in derselben Aufwallung fort, – „ich bin gekommen, Ihnen offen zu sagen, daß, wenn Sie auch unglücklich sein werden, Sie doch wissen sollen, daß Ihr Sohn Sie jetzt mehr liebt, als sich selbst, und daß alles, was Sie über mich gedacht haben, daß ich grausam sei und Sie nicht mehr liebe, alles nicht richtig ist. Ich werde nie aufhören, Sie zu lieben ... Nun, und genug; mir schien es, daß ich das sagen und damit beginnen müßte ...“
Pulcheria Alexandrowna umarmte ihn schweigend, preßte ihn an ihre Brust und weinte still.
„Was mit dir ist, Rodja, weiß ich nicht,“ sagte sie schließlich, „ich dachte die ganze Zeit, wir langweilen dich, jetzt aber sehe ich in meiner Weise, daß dir ein großer Kummer bevorsteht, worüber du dich grämst. Ich habe es schon lange gesehen, Rodja. Verzeih mir, daß ich darüber spreche; ich denke immer daran und schlafe des Nachts nicht. Diese Nacht hat auch deine Schwester die ganze Nacht in unruhigem Phantasieren verbracht und immer dich genannt. Ich habe einiges gehört, aber nichts verstanden. Den ganzen Morgen ging sie wie ein zu Tode Verurteilter herum, erwartete immer etwas, hatte Vorahnungen und nun ist es gekommen! Rodja, Rodja, wohin gehst du? Verreisest du etwa und wohin?“
„Ich verreise.“
„Ich dachte es mir! Ich kann doch mit dir reisen, wenn es nötig ist. Auch Dunja, sie liebt dich, sie liebt dich sehr, auch Ssofja Ssemenowna soll meinetwegen mit uns gehen, wenn es nötig ist; ich will sie gern an Tochterstatt aufnehmen, siehst du. Dmitri Prokofjitsch wird uns bei der Abreise helfen ... aber ... wohin ... reisest du?“
„Leben Sie wohl, Mama.“
„Wie! Heute schon!“ rief sie in einem Ton aus, als verliere sie ihn auf ewig.
„Ich kann nicht anders, es ist Zeit für mich, ich muß ...“
„Und ich darf nicht mit dir gehen?“
„Nein, knien Sie aber nieder und beten Sie für mich. Ihr Gebet wird vielleicht erhört.“
„Laß mich dich bekreuzen, dich segnen! So, so! Oh, Gott, was tun wir!“
Ja, er war froh, er war sehr froh, daß niemand da war, daß er mit der Mutter allein war. Es war, als wäre seit dieser ganzen schrecklichen Zeit sein Herz mit einem Male weich geworden. Er sank vor ihr hin, küßte ihre Füße und beide weinten, einander umarmend. Und sie wunderte sich nicht und fragte ihn nichts. Sie hatte schon lange begriffen, daß mit ihrem Sohne etwas Furchtbares vorgehe, und daß jetzt der schreckliche Augenblick für ihn gekommen war.
„Rodja, mein Lieber, mein Erstgeborener,“ sagte sie schluchzend, „du bist jetzt ebenso zu mir gekommen, wie du es als kleiner Junge tatest; hast mich umarmt und geküßt; als wir noch mit Vater lebten und uns kümmerlich durchschlugen, war es schon ein Trost für uns, daß du bei uns warst, als ich aber deinen Vater beerdigt hatte, – wie oft haben wir uns da umarmt, genau so wie jetzt, und haben an seinem Grabe geweint. Daß ich aber lange schon weine, kommt davon, weil das Mutterherz dein Unglück ahnte. Als ich das erste Mal dich damals am Abend sah, – erinnerst du dich, – als wir hier ankamen, habe ich alles an deinem Blicke allein erraten und mein Herz zuckte zusammen, heute aber, als ich dir öffnete und dich anblickte, dachte ich mir sofort, – nun ist die Schicksalsstunde gekommen. Rodja, Rodja, du reisest doch nicht sofort ab?“
„Nein.“
„Du wirst noch einmal herkommen?“
„Ja ... ich werde herkommen.“
„Rodja, sei mir nicht böse, ich darf dich nicht ausfragen. Ich weiß, daß ich es nicht darf, aber sag mir bloß, nur zwei kleine Worte sage mir: Ist es weit, wohin du reist?“
„Sehr weit.“
„Was, hast du eine Anstellung dort oder ist es für deine Karriere wichtig?“
„Was Gott gibt ... beten Sie nur für mich ...“
Raskolnikoff ging zur Türe, aber sie hielt sich an ihm fest und sah ihm mit einem verzweifelten Blick in die Augen. Ihr Gesicht war vor Entsetzen entstellt.
„Genug, Mama,“ sagte Raskolnikoff und bereute tief, daß er auf den Gedanken gekommen war, herzukommen.
„Es ist doch nicht für immer? Nicht für ewig? Du wirst doch noch herkommen, wirst du morgen kommen?“
„Ich werde kommen, werde kommen, leben Sie wohl!“
Er riß sich endlich los.
Der Abend war frisch, warm und klar; das Wetter war seit dem Morgen schön geworden. Raskolnikoff ging eilig nach Hause. Er wollte allem bis zu Sonnenuntergang ein Ende machen. Bis dahin sollte ihn niemand sehen. Als er zu seiner Wohnung hinaufstieg, bemerkte er, daß Nastasja sich vom Samowar abwandte, ihn unverwandt beobachtete und mit den Augen verfolgte. „Sollte etwa jemand bei mir sein?“ dachte er. Voll Widerwillen dachte er an Porphyri Petrowitsch. Als er aber sein Zimmer erreicht und die Türe geöffnet hatte, erblickte er Dunetschka. Sie saß mutterseelenallein in tiefem Nachdenken und schien schon lange auf ihn zu warten. Er blieb auf der Schwelle stehen. Sie erhob sich erschreckt vom Sofa und blieb aufgerichtet vor ihm stehen. Ihr Blick, unverwandt an ihm haftend, drückte Entsetzen und einen untilgbaren Kummer aus. Und an diesem Blicke merkte er sofort, daß sie alles wußte.
„Soll ich zu dir hineinkommen oder fortgehen?“ fragte er mißtrauisch.
„Ich habe den ganzen Tag bei Ssofja Ssemenowna gesessen; wir haben dich beide erwartet. Wir dachten, daß du unbedingt dorthin kommen würdest.“
Raskolnikoff trat in das Zimmer und setzte sich ermattet auf einen Stuhl.
„Ich bin etwas schwach, Dunja; ich bin zu müde; ich möchte aber wenigstens in diesem Augenblicke mich völlig beherrschen.“
Er warf ihr einen schnellen mißtrauischen Blick zu.
„Wo warst du denn die ganze Nacht?“
„Ich erinnere mich dessen nicht gut; siehst du, Schwester, ich wollte zu einem endgültigen Entschluß kommen und bin mehrere Male an der Newa hin- und hergegangen; dessen erinnere ich mich. Ich wollte dort ein Ende machen, aber ... konnte mich nicht entschließen ...“ flüsterte er und blickte Dunja wieder mißtrauisch an.
„Gott sei Dank! Und wie wir das fürchteten, – ich und Ssofja Ssemenowna! Also, du glaubst noch ans Leben, – Gott sei Dank, Gott sei Dank!“
Raskolnikoff lächelte bitter.
„Ich glaubte nicht daran, soeben aber habe ich die Mutter umarmt und mit ihr zusammen geweint; ich glaube nicht daran, aber ich habe sie gebeten, für mich zu Gott zu beten. Gott weiß, wie das alles vor sich geht, Dunetschka und ich begreife nichts.“
„Du warst bei der Mutter? Du hast ihr es selbst gesagt?“ rief Dunja entsetzt aus. – „Hast du es gewagt, ihr zu sagen?“
„Nein, ich habe ihr nichts ... mit Worten gesagt, aber sie hat vieles begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin überzeugt, daß sie die Hälfte schon versteht. Ich habe vielleicht schlecht daran getan, daß ich zu ihr ging. Ich weiß auch nicht mal, warum ich zu ihr hingegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.“
„Du ein gemeiner Mensch und bist doch bereit, das Leiden auf dich zu nehmen! Du gehst doch um zu leiden?“
„Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entgehen, wollte ich mich auch ins Wasser stürzen, Dunja, aber ich dachte, als ich schon über dem Wasser stand, wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so soll ich mich jetzt auch nicht vor der Schande fürchten,“ sagte er. „Das ist der Stolz, Dunja?“
„Ja, das ist der Stolz, Rodja.“
Wie ein Feuer leuchtete es in seinen trüben Augen auf; ihm schien es eine Freude zu sein, daß er noch stolz sein konnte.
„Meinst du aber nicht, Schwester, daß mir einfach vor dem Wasser bange war,“ fragte er mit einem bitteren Lächeln und blickte ihr ins Gesicht.
„Oh, Rodja, höre damit auf!“ rief Dunja bitter aus.
Etwa zwei Minuten dauerte das Schweigen. Er saß mit gesenktem Kopfe und sah zu Boden; Dunetschka stand am anderen Ende des Tisches und blickte ihn voll innerer Qual an.
Plötzlich stand er auf.
„Es ist spät, es ist Zeit. Ich gehe jetzt, mich anzuzeigen. Aber ich weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.“
Große Tränen rollten über ihre Wangen.
„Du weinst, Schwester, kannst du mir noch die Hand reichen?“
„Und du hast daran zweifeln können?“
Sie umarmte ihn innig.
„Büßest du nicht schon zur Hälfte dein Verbrechen mit deinem Leid?“ rief sie aus, drückte ihn fest an sich und küßte ihn.
„Verbrechen? Was für ein Verbrechen?“ rief er plötzlich in einem Anfalle von Wut, „etwa, weil ich eine scheußliche, bösartige Laus, eine alte Wucherin ermordet habe, die niemand braucht, für deren Ermordung einem vierzig Sünden vergeben werden müssen, die den Armen den letzten Blutstropfen aussaugte, – und das soll ein Verbrechen sein? Ich denke gar nicht daran und denke nicht daran, es tilgen zu wollen. Und was kommen sie mir alle mit diesem Wort ‚Verbrechen, Verbrechen!‘ Jetzt erst sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit klar, jetzt erst, wo ich mich schon entschlossen habe, diese unnötige Schande auf mich zu nehmen! Bloß aus Gemeinheit und aus Untauglichkeit habe ich mich dazu entschlossen, ja vielleicht auch aus Berechnung, wie dieser ... Porphyri Petrowitsch mir vorgeschlagen hat! ...“
„Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!“ rief Dunja verzweifelt aus.
„Das alle vergießen,“ fiel er fast rasend ein, „das in der Welt wie ein Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das wie Champagner vergossen wird, und für das man im Kapitol gekrönt und nachher Wohltäter der Menschheit genannt wird. Schau doch bloß näher zu und sieh es! Ich selbst wollte den Menschen Gutes und hätte hunderte, tausende gute Werke vollbracht, anstatt dieser einzigen Dummheit, die sogar keine Dummheit, sondern bloß eine Ungeschicktheit war, weil der gesamte Gedanke gar nicht so dumm war, wie er jetzt nach dem Mißlingen erscheint ... Beim Mißlingen erscheint alles dumm! ... Mit dieser Dummheit wollte ich mich bloß in eine unabhängige Stellung bringen, den ersten Schritt tun, die Mittel erhalten, und nachher würde alles durch einen verhältnismäßig unermeßlichen Nutzen ausgeglichen worden sein ... Aber ich, ich habe auch nicht mal den ersten Schritt ausgehalten, weil ich – ein Schuft bin! Siehst du, so steht die Sache! Und dennoch kann ich eure Ansicht nicht teilen, – wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben, jetzt aber muß ich in die Falle!“
„Aber das ist es doch nicht, ganz und gar nicht! Bruder, was sagst du nur!“
„Ah! Nicht die richtige Form, die Form ist nicht ästhetisch genug! Nun, ich begreife entschieden nicht, – warum es eine angesehenere Form sein soll auf die Menschen Bomben zu werfen, eine regelrechte Belagerung zu führen? Die Furcht vor dem Unästhetischen ist das erste Zeichen von Schwäche! ... Niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt empfunden, und mehr als je begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war ich stärker und überzeugter, als jetzt!“
Das Blut war in sein blasses, abgehärmtes Gesicht gestiegen. Als er die letzten Worte aussprach, begegnete zufällig sein Blick den Augen Dunjas und er sah darin soviel, soviel Qual seinetwegen, daß er unwillkürlich zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er trotz alledem diese zwei armen Frauen unglücklich gemacht hatte. Er war trotz alledem noch die Ursache dazu ...
„Dunja, liebe Dunja! Wenn ich Schuld habe, vergib mir, obwohl man mir nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe. Lebwohl! Wir wollen uns nicht streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe dich an, ich muß noch zu jemandem hingehen ... Gehe sofort zur Mutter und setze dich zu ihr hin. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte größte Bitte an dich. Verlaß sie in dieser Zeit nicht; ich habe sie in Unruhe hinterlassen, die sie kaum überstehen wird, – entweder stirbt sie oder sie verliert den Verstand. Bleib bei ihr! Rasumichin wird euch zur Seite stehen; ich habe es ihm gesagt ... Weine nicht um mich, – ich werde versuchen, mutig und ehrlich das ganze Leben zu sein, obwohl ich ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde euch keine Schande machen, du wirst sehen; ich will noch beweisen ... jetzt, vorläufig auf Wiedersehen,“ beeilte er sich zu sagen, als er in den Augen Dunjas wieder einen sonderbaren Ausdruck bei seinen letzten Worten und Versprechungen bemerkte. – „Warum weinst du denn so? Weine nicht, weine nicht; wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach, ja! Warte, ich habe etwas vergessen! ...“
Er trat an den Tisch, nahm ein dickes verstaubtes Buch, öffnete es und nahm ein kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das in ein Kloster gehen wollte. Eine Weile blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte Gesicht an, küßte das Bild und überreichte es Dunetschka.
„Mit ihr habe ich viel darüber gesprochen, mit ihr allein,“ sagte er sinnend, „ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was nachher sich in so häßlicher Weise erfüllt hatte. Sei ruhig,“ wandte er sich an Dunetschka, „sie war mit mir nicht einverstanden, so wenig wie du, und ich bin froh, daß sie nicht mehr lebt. Die Hauptsache, die Hauptsache ist, daß alles jetzt neu anhebt, daß alles entzwei brechen wird,“ rief er plötzlich aus, wieder in seinen Gram zurückfallend, „alles, alles, bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es auch selbst? Man sagt, es sei nötig zu meiner Prüfung! Wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? Wozu sind sie, werde ich etwa dann erdrückt von Qual und Stumpfheit in greisenhafter Schwäche nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit es besser empfinden, als ich es jetzt tue, und wozu soll ich dann noch leben? Warum gehe ich jetzt darauf ein, so zu leben? Oh, ich wußte, daß ich ein Schuft bin, als ich heute bei Tagesanbruch an der Newa stand!“
Beide gingen schließlich hinaus. Es war Dunja schwül, aber sie liebte ihn! Sie ging von ihm, aber als sie etwa fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich noch einmal um, um ihm nachzuschauen. Man konnte ihn noch sehen. Als er an die Ecke kam, wandte er sich ebenfalls um; zum letzten Male trafen sich ihre Blicke; als er aber bemerkte, daß sie ihm nachblickte, winkte er ihr ungeduldig und ärgerlich mit der Hand, daß sie weitergehen solle, und bog selbst schnell um die Ecke.
„Ich bin böse, ich merke es,“ dachte er und schämte sich seiner ärgerlichen Handbewegung. – „Aber warum lieben sie mich so, wenn ich ihrer Liebe nicht wert bin! Oh, wäre ich allein und hätte mich niemand lieb, und hätte ich selbst niemals jemand geliebt! Alles dieses wäre nicht gewesen! Ich gäbe viel darum, wenn ich wüßte, ob nach diesen kommenden fünfzehn, zwanzig Jahren meine Seele so gedemütigt sein wird, daß ich voll Ehrfurcht vor Menschen ächzen und klagen und mich bei jedem Worte Räuber nennen werde? Ja, es wird so kommen, wird kommen! Darum schicken sie mich auch jetzt nach Sibirien, sie wollen es haben ... Da laufen sie nun alle in den Straßen herum, und jeder unter ihnen ist schon seiner Natur nach ein Schuft und Räuber; schlimmer noch – ein Idiot! Sollte man aber mich mit Sibirien verschonen, so würden sie alle vor edler Empörung überschäumen! Oh, wie ich sie alle hasse!“
Er sann darüber nach, – „auf welche Weise es kommen müsse, damit er zuletzt, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten, demütiger würde! Warum denn auch nicht? Sicher wird es so werden. Werden ihn die zwanzig Jahre ununterbrochener Unterdrückung nicht endgültig brechen? Steter Tropfen höhlt den Stein. Und warum, wozu nach alledem noch leben, wozu gehe ich jetzt hin, wenn ich selbst weiß, daß alles genau so kommen wird, und nicht anders?“
Er legte sich diese Frage vielleicht schon zum hundertsten Male seit gestern Abend vor, aber dennoch ging er hin.
Als er zu Ssonja eintrat, begann es schon zu dämmern. Ssonja hatte den ganzen Tag in schrecklicher Aufregung auf ihn gewartet; schon mit Dunja zusammen. Dunja war am frühen Morgen zu ihr gekommen, als sie sich der Worte von Sswidrigailoff erinnerte, daß Ssonja „darüber alles weiß“. – Wir wollen der Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden Frauen, ihrer Tränen und dessen, wie weit sie einander näher gekommen waren, nicht gedenken. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde – zu ihr, zu Ssonja, war er zuerst mit seiner Beichte gegangen; in ihr hatte er einen Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie würde ihm auch überall folgen, wohin das Schicksal ihn führen sollte. Sie fragte auch nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie begegnete Ssonja sogar mit Ehrfurcht und machte sie zuerst dadurch ganz verwirrt. Ssonja war anfangs nahe daran, zu weinen; sie hielt sich für unwürdig, Dunja nur anzublicken. Das Bild Dunjas, als sie sich so aufmerksam und achtungsvoll bei ihrem ersten Zusammentreffen in Raskolnikoffs Wohnung von ihr verabschiedet, hatte sich seitdem für immer in ihrer Seele eingegraben, als einer der schönsten und höchsten Augenblicke in ihrem Leben.
Dunetschka hatte es schließlich nicht mehr ausgehalten, sie war von Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie glaubte, daß er dorthin schließlich zuerst gehen würde. Als Ssonja allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken, daß er wirklich ein Leid sich antun würde, zu quälen. Dasselbe fürchtete auch Dunja. Aber beide übertrafen sich den ganzen Tag in dem Bestreben, einander zu überzeugen, daß es nicht der Fall sein könne, und waren ruhiger, solange sie beisammen waren. Jetzt aber, wo sie getrennt waren, dachte die eine wie die andere nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Sswidrigailoff ihr gestern gesagt hatte, Raskolnikoff habe nur zwei Wege, – entweder Sibirien, oder ... Sie kannte zudem seinen Ehrgeiz, seinen Stolz, seine Eigenliebe und seinen Unglauben.
„Kann nur der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode ihn zwingen, zu leben?“ dachte sie schließlich in Verzweiflung. Und die Sonne ging schon unter. Sie stand traurig vor dem Fenster und blickte unverwandt hinaus, – aber man sah hier bloß die ungeweißte Grundmauer des Nachbarhauses. Als sie schon von dem Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, – trat er in ihr Zimmer.
Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Aber als sie aufmerksam sein Gesicht ansah, erbleichte sie sofort.
„Nun, ja!“ sagte Raskolnikoff mit bitterem Lächeln, „ich komme, mir dein Kreuz zu holen, Ssonja. Du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg geschickt; was, bist du etwa bange geworden, da es zur Ausführung kommt?“
Ssonja blickte ihn fassungslos an. Dieser Ton erschien ihr merkwürdig, – ein kaltes Frösteln durchzog ihren Körper, nach einer Minute aber erriet sie, daß der Ton, wie auch die Worte nur angenommen waren. Er sprach auch mit ihr so sonderbar, indem er zur Seite blickte und vermied, ihr ins Gesicht zu sehen.
„Ich habe, – siehst du, Ssonja, – eingesehen, daß es in dieser Weise auch vielleicht vorteilhafter sein wird. Es gibt hier einen Umstand ... Es ist lange zu erzählen und lohnt sich auch nicht. Weißt du, was mich bloß ärgert? Mir ist es ärgerlich, daß alle diese dummen tierischen Fratzen mich gleich umringen, mich anglotzen, mir ihre dumme Frage vorlegen werden, die man beantworten muß, – und daß man auf mich mit Fingern zeigen wird ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porphyri Petrowitsch gehen; er langweilt mich. Ich gehe lieber zu meinem Freunde Pulver, der wird erstaunen, da werde ich einen Effekt in seiner Art erringen. Man müßte kaltblütiger sein; ich bin in der letzten Zeit zu erbittert geworden. Glaubst du mir, – ich habe soeben meiner Schwester fast mit der Faust gedroht und bloß aus dem Grunde, weil sie sich umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist das Kreuz?“
Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht mal einen Augenblick auf einem Flecke ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand konzentrieren, seine Gedanken übersprangen einander, er redete wirr; seine Hände zitterten leicht.
Ssonja nahm schweigend aus einem Kasten zwei Kreuze – eins aus Zypressenholz und das andere aus Kupfer; sie bekreuzte sich selbst, bekreuzte ihn und legte um seinen Hals das Kreuzlein aus Zypressenholz.
„Das ist also ein Symbol, daß ich das Kreuz auf mich nehme, he! he! Als hätte ich bis jetzt wenig gelitten! Aus Zypressenholz, also wie das Volk es trägt; das kupferne, das von Lisaweta, nimmst du, zeige mir. Also sie hatte es ... in dem Augenblicke um? Ich kenne auch zwei ähnliche Kreuze, ein silbernes und ein Heiligenbildchen. Ich warf sie damals der Alten auf die Brust. – Die würden jetzt passen, wirklich, die sollte ich auch umlegen ... übrigens, ich lüge die ganze Zeit, vergesse immer die Angelegenheit, die mich herführte, ich bin ein wenig zerstreut ... Siehst du, Ssonja, – ich bin eigentlich gekommen, um dir es vorher zu sagen, damit du es weißt ... Das ist auch alles ... Ich bin bloß deswegen gekommen. Hm! ich dachte übrigens, daß ich dir mehr sagen werde ... Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun, jetzt werde ich im Gefängnis sitzen und dein Wunsch wird erfüllt sein. Warum weinst du denn? Auch du weinst? Höre auf, laß es, ach, wie schwer mir alles ist!“
Eine weichere Empfindung überkam ihn doch; sein Herz schnürte sich bei ihrem Anblicke zusammen. – „Warum weint sie denn?“ dachte er, „was bin ich ihr? Warum weint sie, warum nimmt sie von mir Abschied, wie meine Mutter oder Dunja? Sie wird mein Kindermädchen sein!“
„Bekreuze dich, bete wenigstens einmal,“ bat ihn Ssonja mit zitternder, schüchterner Stimme.
„Oh, bitte, soviel du wünschst! Und ich tue es mit aufrichtigem Herzen, Ssonja, mit aufrichtigem Herzen ...“
Er wollte etwas ganz anderes sagen.
Er bekreuzte sich einige Male. Ssonja nahm ein Tuch und warf es um die Schulter. Es war ein großes grünes Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladoff damals gesprochen hatte. Raskolnikoff kam der Gedanke, aber er fragte nicht danach. Er begann in der Tat selbst zu fühlen, daß er schrecklich zerstreut und eigentümlich beunruhigt war. Er erschrak darüber. Es setzte ihn auch plötzlich in Erstaunen, daß Ssonja mit ihm gehen wolle.
„Was ist? Wohin willst du? Bleibe, bleibe zu Hause! Ich gehe allein,“ rief er in kleinmütigem Ärger und ging beinahe erzürnt zu der Türe. – „Und wozu ein ganzes Gefolge!“ murmelte er hinaustretend.
Ssonja blieb mitten im Zimmer stehen. Er hatte nicht mal Abschied von ihr genommen, er hatte sie schon vergessen; ein brennender und sich empörender Zweifel wogte in seiner Seele.
„Ist es auch das Richtige, ist auch alles richtig?“ dachte er wieder, als er die Treppe hinunterging, „kann man denn nicht stehen bleiben und alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen?“
Er ging aber doch den Weg. Er sagte sich endgültig, daß es sich nicht lohne, weitere Fragen an sich zu stellen. Auf der Straße fiel es ihm ein, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche stehen geblieben war, ohne zu wagen, sich zu rühren, als er sie angeschrien hatte, – und er blieb eine Weile stehen. Im selben Augenblick durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, – als hätte er nur gewartet, um ihn vollständig verwirrt zu machen.
„Wozu, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr, – in einer Angelegenheit; was war es für eine Angelegenheit? Es war absolut nichts! Um ihr mitzuteilen, daß ich hingehe; was ist denn dabei? War es notwendig, das ihr zu sagen? Liebe ich sie etwa? Nein, doch gar nicht? Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich etwa ihre Kreuze? Oh, wie tief ich gesunken bin! Nein, – ich brauchte ihre Tränen, ich mußte ihr Erschrecken sehen, ich mußte sehen, wie ihr das Herz schmerzt und sie sich quält! Ich mußte mich an irgend etwas anklammern, es in die Länge ziehen, einen Menschen sehen! Und ich habe es gewagt, so auf mich zu hoffen, so von mir zu träumen, ich Bettler, ich unbedeutender Schuft, Schuft!“
Er ging am Kanale entlang und hatte nicht mehr weit. Als er aber bis zur Brücke kam, blieb er einen Augenblick stehen, bog dann zur Seite ab und ging über die Brücke zum Heumarkte.
Er blickte neugierig rechts und links um sich, betrachtete aufmerksam jeden Gegenstand und konnte auf nichts die Aufmerksamkeit konzentrieren; alles entglitt ihm. – „Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich in einem Gefängniswagen irgendwohin über diese Brücke führen, wie werde ich dann diesen Kanal ansehen, – ich müßte es mir merken,“ durchfuhr es ihn. „Dieses Aushängeschild dort, – wie werde ich dann diese Buchstaben lesen? Da steht geschrieben – Genossenschaft, – nun, ich sollte mir dieses ‚o‘, diesen Buchstaben o merken, und nach einem Monat dieses o ansehen, – wie werde ich es dann ansehen? Was werde ich dann empfinden und denken? ... Mein Gott, wie dies alles gemein sein muß, alle meine jetzigen ... Sorgen! Gewiß, dies alles muß interessant ... in seiner Art sein ... ha! ha! ha! ... worüber ich bloß denke! Ich werde wie ein Kind, ich spiele mit mir selbst; nun, warum halte ich mir dieses vor? Pfui, wie sie stoßen! Dieser Dicke da, – wahrscheinlich ein Deutscher, – der mich soeben gestoßen hat; nun, weiß er, wen er gestoßen hat? Eine Frau mit einem Kinde bettelt, es ist amüsant, daß sie mich für glücklicher als sich selbst hält. Was, sollte ich der Kuriosität wegen ihr auch ein Almosen geben? Bah, ich habe ja volle fünf Kopeken in der Tasche, woher bloß? Na ... nimm es, Mütterchen!“
„Gott schütze dich!“ ertönte die weinerliche Stimme der Bettlerin.
Er trat auf den Heumarkt. Ihm war es unangenehm, sehr unangenehm sogar, mit Leuten zusammenzukommen, er ging aber gerade dorthin, wo man am meisten Menschen sah. Er hätte alles in der Welt hingegeben, um allein zu bleiben, aber er fühlte selbst, daß er keinen einzigen Augenblick allein sein konnte. In einer Menge trieb ein Betrunkener sein Wesen, er wollte die ganze Zeit tanzen, fiel aber immer hin. Man hatte ihn umringt. Raskolnikoff drängte sich durch die Menge hindurch, blickte einige Augenblicke den Betrunkenen an und lachte plötzlich kurz und abgerissen auf. Nach einer Minute hatte er ihn schon vergessen, bemerkte ihn nicht mehr, obwohl er ihn noch anblickte. Er ging schließlich zurück, ohne sich zu erinnern, wo er sich befand; als er aber bis zur Mitte des Platzes gekommen war, vollzog sich mit ihm plötzlich eine Veränderung, eine Empfindung packte ihn mit einem Male, nahm ihn vollständig körperlich und seelisch – gefangen.
Er erinnerte sich plötzlich der Worte von Ssonja, „geh zu einem Kreuzweg, verneige dich vor den Menschen, küsse die Erde, weil du vor ihr gesündigt hast, und sage laut der ganzen Welt: – Ich bin ein Mörder!“
Er zitterte am ganzen Körper, als er sich daran erinnerte. Und so stark hatte ihn schon der aussichtslose Gram und die Unruhe der ganzen Zeit, besonders aber der letzten Stunden erdrückt, daß er sich dieser neuen Empfindung vollkommen und ungeteilt hingab. Wie ein Anfall war es plötzlich über ihn gekommen; durch einen Funken entzündete es sich in seiner Seele und erfaßte ihn mit einem Male, wie ein Feuer, ganz und gar. Alles wurde in ihm weich und Tränen stürzten hervor. Wie er stand, so fiel er auch zu Boden ...
Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und küßte diese schmutzige Erde voll Genuß und Glück. Er stand auf und verneigte sich zum zweiten Male ...
„Sieh, wie der sich vollgesoffen hat!“ bemerkte ein Bursche in seiner Nähe.
Lachen ertönte.
„Er geht nach Jerusalem, nimmt Abschied von seinen Kindern, seiner Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt Sankt Petersburg und seinen Boden,“ fügte ein betrunkener Kleinbürger hinzu.
„Er ist noch jung, der Bursche!“ bemerkte ein dritter.
„Einer von den Adeligen!“ sagte jemand mit gesetzter Stimme.
„Heutzutage erkennt man nicht mehr, wer von Adel ist, und wer nicht.“
Alle diese Zurufe und Bemerkungen hielten Raskolnikoff zurück, und das Bekenntnis „ich habe getötet!,“ das er abzulegen bereit war, unterblieb. Die Zurufe nahm er in Ruhe hin, ging ohne sich umzusehen, durch eine Gasse zum Polizeibureau. Unterwegs bemerkte er, daß ihm jemand folgte, aber er war darüber nicht erstaunt; er hatte es geahnt. Als er auf dem Heumarkte sich zum zweiten Male bis zur Erde verneigte und sich links wandte, erblickte er fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich vor ihm hinter einer der hölzernen Buden, die auf dem Markte standen, also hatte sie ihn auf seinem ganzen Leidensweg begleitet. Raskolnikoff fühlte und begriff in diesem Augenblicke ein für allemal, daß Ssonja ewig bei ihm sein und ihm bis ans Ende der Welt folgen werde, was ihm das Schicksal auch senden würde. Und sein Herz wandte sich ... aber, – er war schon an der verhängnisvollen Stelle angelangt ...
Ziemlich sicher trat er in den Hof. Er mußte in den dritten Stock. – „Es dauert noch eine Weile, bis ich hinaufkomme,“ dachte er. Überhaupt schien es ihm, als wäre es noch weit bis zu dem entscheidenden Augenblicke, als hätte er noch viel Zeit und könne sich vieles noch überlegen.
Wieder derselbe Schmutz, dieselben Schalen auf der sich windenden Treppe, wieder waren die Türen zu den Wohnungen weit offen, wieder dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank herausdrang. Raskolnikoff war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarben und knickten zusammen, aber sie trugen ihn vorwärts. Er blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu holen, um sich in Ordnung zu bringen, um als Mensch einzutreten.
„Wozu aber? Warum?“ dachte er plötzlich, als er seiner Bewegung gewahr wurde. – „Wenn man schon diesen Kelch leeren muß, ist dann nicht alles gleichgültig? Je häßlicher, um so besser!“
In seiner Erinnerung tauchte in diesem Momente die Gestalt von Ilja Petrowitsch Pulver auf. „Soll ich tatsächlich zu ihm gehen? Kann ich nicht zu einem anderen? Nicht zu Nikodim Fomitsch? Oder sofort umkehren und zum Kommissar selbst in seine Wohnung gehen? Alles wird wenigstens dann in angenehmerer Weise ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver! Wenn ich ihn schon leeren soll, so alles auf einmal ...“
Erstarrt vor Kälte und kaum seiner mächtig, öffnete er die Türe zum Polizeibureau. Diesmal waren sehr wenig Leute da, ein Hausknecht und noch ein Mann. Der Wächter schaute nicht einmal aus seiner Kammer heraus. Raskolnikoff ging in das andere Zimmer. – „Vielleicht läßt es sich noch vermeiden,“ schwirrte es ihm durch den Kopf. In diesem Zimmer begann gerade irgend ein Schreiber in Zivilkleidung etwas auf seinem Pulte zu schreiben. In einer Ecke setzte sich ein anderer Schreiber hin. Sametoff war nicht da. Nikodim Fomitsch selbstverständlich auch nicht.
„Ist niemand da?“ fragte Raskolnikoff, sich an den Schreiber am Pulte wendend.
„Wen wünschen Sie?“
„Ah – ah! Man hört nichts, man sieht nichts, bloß der russische Geist ... wie heißt es doch in jenem Märchen ... habe es vergessen! M–m–mein Kompliment!“ rief plötzlich eine bekannte Stimme.
Raskolnikoff erbebte. Vor ihm stand Pulver; er war unbemerkt aus dem dritten Zimmer eingetreten.
„Das ist das Schicksal,“ dachte Raskolnikoff, „warum ist er hier?“
„Zu uns? In welcher Angelegenheit?“ rief Ilja Petrowitsch aus. (Er war offenbar in ausgezeichneter und sogar ein wenig erregter Stimmung.) „Wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit kommen, so ist es dazu noch zu früh. Ich selbst bin nur zufälligerweise hier ... Übrigens stehe ich zu Ihren Diensten. Ich muß gestehen ... Wie? Wie? Entschuldigen Sie ...“
„Raskolnikoff.“
„Aha, Raskolnikoff? Konnten Sie glauben, daß ich Ihren Namen vergessen habe! Bitte, halten Sie mich nicht für so einen ... Rodion Ro... Ro... Rodionytsch, nicht wahr, es ist doch richtig?“
„Rodion Romanowitsch.“
„Ja, ja, ja! Rodion Romanowitsch, Rodion Romanowitsch! Das wollte ich gerade wissen. Habe mich sogar mehrere Male nach Ihnen erkundigt. Ich muß Ihnen gestehen, seit der Zeit war ich aufrichtig betrübt, als wir damals mit Ihnen so ... man hat mir nachher alles erklärt, ich erfuhr, daß Sie ein junger Literat und sogar Gelehrter ... und sozusagen, die ersten Schritte ... oh, mein Gott! Ja, wer von den Literaten und Gelehrten hat im Anfange nicht originelle Schritte getan! Ich und meine Frau, – wir beide schätzen die Literatur, meine Frau sogar leidenschaftlich! ... Literatur und Kunst! Wenn einer nur anständig ist, alles übrige aber kann er durch Talent, Wissen, Verstand, Genie erwerben! Ein Hut – nun, was bedeutet z. B. ein Hut? Ein Hut ist ein Deckel, ich kann ihn im besten Laden kaufen; was aber unter dem Hute steckt und mit dem Hute verdeckt wird, das kann ich nicht kaufen! ... Ich muß gestehen, wollte sogar zu Ihnen kommen, Ihnen eine Erklärung abgeben, aber ich dachte, daß Sie vielleicht ... Jedoch ich vergesse ganz, Sie zu fragen, – brauchen Sie tatsächlich etwas von uns? Man sagte mir, Sie haben Besuch von Ihren Verwandten?“
„Ja, meine Mutter und Schwester.“
„Ich hatte sogar die Ehre und das Glück, Ihre Schwester zu treffen, – eine gebildete und reizende Dame. Ich muß gestehen, ich bedauerte sehr, daß wir damals beide so hitzig wurden. Ein Zufall! Und daß ich Sie damals infolge Ihrer Ohnmacht, mit einem gewissen Blicke ansah, – das hat sich doch sofort in glänzendster Weise aufgeklärt! Grausamkeit und Fanatismus! Ich begreife Ihre Entrüstung. Sie werden wohl infolge der Ankunft Ihrer Familie in eine andere Wohnung ziehen und wollen uns wohl das anmelden?“
„N–nein, ich bin bloß ... Ich bin gekommen, zu fragen ... ich dachte, daß ich Herrn Sametoff hier antreffen werde.“
„Ach, ja! Sie sind ja Freunde geworden; ich habe davon gehört. Nein, Sametoff ist nicht bei uns, – den haben Sie verfehlt. Wir haben Herrn Sametoff verloren! Seit gestern ist er nicht mehr bei uns; er ist in einen anderen Dienst übergetreten ... und hat sich zum Abschied mit allen gezankt ... er war zuletzt noch sehr unhöflich ... Er war ein leichtsinniger Junge, mehr nichts; er berechtigte wohl zu Hoffnungen; ja, aber so geht es mit unserer glänzenden Jugend! Er will ein Examen ablegen, wir kennen das, – sind bloß Redensarten, Wichtigtuerei und das wird das ganze Examen sein. Es ist doch nicht, wie bei Ihnen z. B. der Fall oder bei Herrn Rasumichin, Ihrem Freunde! Ihre Karriere ist die eines Gelehrten, und Mißerfolge werden Sie nicht verstimmen. Für Sie sind dies alles Reize des Lebens – nihil. Sie sind ein Asket, ein Mönch, ein Einsiedler! ... für Sie hat nur ein Buch Bedeutung, die Feder, die Gelehrten und Untersuchungen, – darin schwelgt Ihr Geist! Ich bin teilweise selbst so ... Haben Sie das Buch von Livingstone gelesen?“
„Nein.“
„Ich habe es gelesen. Heutzutage gibt es übrigens viel zu viel Nihilisten; es ist auch begreiflich; die Zeiten sind auch danach, nicht wahr? Übrigens ich ... Sie sind doch selbstverständlich kein Nihilist! Sagen Sie es mir aufrichtig, ganz offen.“
„N–nein ...“
„Nein, ach, seien Sie doch mir gegenüber ganz offen, genieren Sie sich nicht, tun Sie, als wären Sie allein mit sich! Der Dienst ist ein Ding für sich, ein anderes Ding ... Sie meinten, ich wollte Freundschaft sagen, nein, Sie haben es nicht erraten! Nicht Freundschaft, sondern das Gefühl eines Mitbürgers und Mitmenschen, das Gefühl der Humanität und der Liebe zum Allmächtigen. Ich kann eine offizielle Stellung und ein Amt einnehmen, aber ich bin dennoch verpflichtet, den Bürger und Menschen in mir stets zu fühlen, und muß mir darüber Rechenschaft abgeben ... Sie beliebten Sametoff zu erwähnen. Sametoff ist imstande, auf französische Art, in einem unanständigen Lokale beim Glas Champagner oder moussierendem Wein loszulegen, – sehen Sie, das ist Ihr Sametoff! Ich aber bin sozusagen in Ergebenheit und hohen Gefühlen ganz aufgegangen, habe außerdem einen Rang, eine Position, bekleide ein Amt! Bin verheiratet und habe Kinder. Ich erfülle meine Pflichten als Bürger und Mensch, wer aber ist er, gestatten Sie mir die Frage? Ich wende mich an Sie, als einen durch Bildung geadelten Menschen. Sehen Sie, auch sehr viel gelehrte Hebammen haben wir in letzter Zeit.“
Raskolnikoff zog fragend die Augenbrauen empor. Die Worte von Ilja Petrowitsch, der anscheinend vor kurzem erst vom Mittagstische aufgestanden war, schwirrten an seinem Ohre vorbei! Einen kleinen Teil davon hatte er wohl aufgefangen. Er blickte ihn fragend an und wußte nicht, wo er hinaus wollte.
„Ich spreche von diesen kurzgeschorenen Mädchen,“ fuhr der redselige Ilja Petrowitsch fort, „ich habe sie selbst gelehrte Hebammen benannt und finde, daß diese Benennung sehr treffend ist. He! he! Sie kriechen in die medizinische Akademie, lernen Anatomie; und, sagen Sie mir, glauben Sie, wenn ich krank werde, daß ich mir etwa ein solches Mädchen hole ließe, daß sie mich behandele? He! he!“
Ilja Petrowitsch lachte, sehr zufrieden mit seinen eigenen Witzen.
„Es ist wohl wahr, der Durst nach Bildung ist grenzenlos; aber nachdem einer sich gebildet hat, muß es für ihn genug sein. Warum denn es mißbrauchen? Warum denn ehrenhafte Personen beleidigen, wie es dieser Schurke Sametoff tut? Warum hat er mich beleidigt, frage ich Sie? Und wie die Selbstmorde jetzt zunehmen, – Sie können es sich gar nicht vorstellen. Alle verprassen ihr letztes Geld und töten sich dann. Kleine Mädchen, Jungen, Greise ... Heute früh noch erhielten wir Mitteilung über einen vor kurzem zugereisten Herrn Nil Pawlytsch, ah, Nil Pawlytsch! Wie hieß doch dieser Gentleman, der sich erschossen hat, über den wir die Mitteilung vorhin erhielten?“
„Sswidrigailoff,“ antwortete jemand aus dem anderen Zimmer laut und teilnahmslos.
Raskolnikoff zuckte zusammen.
„Sswidrigailoff! Sswidrigailoff hat sich erschossen?“ rief er aus.
„Wie! Sie kannten Sswidrigailoff?“
„Ja ... ich kannte ihn ... Er war vor kurzem hierher gekommen ...“
„Nun, ja, er ist vor kurzem zugereist, hat seine Frau verloren, führte ein ausschweifendes Leben, und hat sich plötzlich erschossen, und so skandalös, daß man es sich nicht vorstellen kann ... hat in seinem Notizbuche ein paar Worte hingeschrieben, daß er bei vollem Verstande sterbe, und bittet, niemanden wegen seines Todes zu beschuldigen. Er hatte Geld, sagt man. Wie haben Sie ihn denn kennengelernt?“
„Ich ... kannte ihn ... meine Schwester war in seinem Hause als Gouvernante ...“
„Ah ... Sie können uns also über ihn einiges mitteilen. Sie ahnten gar nichts davon?“
„Ich habe ihn gestern gesehen ... er ... trank Wein ... ich ahnte nichts.“
Raskolnikoff fühlte sich so niedergeschmettert, als wäre etwas auf ihn heruntergefallen und drücke ihn zu Boden.
„Sie sind blaß geworden. Bei uns ist die Luft sehr stickig ...“
„Ja, es ist für mich Zeit zu gehen,“ murmelte Raskolnikoff, – „entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe ...“
„Oh, bitte sehr! Es war mir ein Vergnügen und ich bin froh, Ihnen zu sagen ...“
Ilja Petrowitsch reichte ihm die Hand.
„Ich wollte bloß ... zu Sametoff ...“
„Ich begreife, begreife. Es war mir ein Vergnügen.“
„Ich ... freue mich sehr ... auf Wiedersehen ...“ lächelte Raskolnikoff.
Er ging hinaus; schwankend. Der Kopf schwindelte ihm. Er fühlte seine Füße nicht mehr. Langsam begann er die Treppe hinabzusteigen und stützte sich dabei mit der rechten Hand an der Wand. Es schien ihm, daß ein Hausknecht mit einem Buche in der Hand ihn gestoßen habe, daß ein Hund im unteren Stockwerke ununterbrochen belle und daß ein Weib ein Holzscheit nach dem Hunde werfe und ihn anschreie. Er ging die Treppe hinunter und trat in den Hof. Hier auf dem Hofe, unweit vom Ausgange, stand Ssonja, totenbleich, starr, und sah ihn fassungslos an. Er blieb vor ihr stehen. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzlichen, abgequälten, verzweifelten Ausdruck. Sie schlug die Hände zusammen. Ein bitteres, verlorenes Lächeln erschien für einen Moment auf seinen Lippen. Eine Weile blieb er stehen, betrachtete sie und ging dann wieder hinauf in das Polizeibureau.
Ilja Petrowitsch hatte sich gesetzt und wühlte in allerhand Papieren. Vor ihm stand derselbe Mann, der vorhin Raskolnikoff gestoßen hatte.
„Ah! Sie sind es wieder! Haben Sie etwas vergessen? ... Aber was ist mit Ihnen?“
Raskolnikoff näherte sich ihm mit blassen Lippen, mit verglasten Augen, langsam trat er an den Tisch heran, stützte sich mit der Hand darauf, wollte etwas sagen, aber konnte nicht; man hörte bloß unzusammenhängende Töne.
„Ihnen ist schlecht, ein Stuhl! Hier, setzen Sie sich auf den Stuhl, setzen Sie sich! Wasser!“
Raskolnikoff ließ sich auf den Stuhl nieder, wandte aber die Augen von dem Gesichte des äußerst unangenehm überraschten Ilja Petrowitsch nicht ab. Beide blickten eine Minute lang einander an und warteten. Das Wasser wurde gebracht.
„Ich habe ...“ begann Raskolnikoff.
„Trinken Sie Wasser.“
Raskolnikoff wehrte mit der Hand das Wasser ab und sagte leise mit Pausen, aber deutlich:
„Ich habe damals die alte Beamtenwitwe ... und ihre Schwester Lisaweta ... mit dem Beile erschlagen ... und beraubt.“
Ilja Petrowitsch öffnete den Mund vor Staunen. Von allen Seiten kamen die Menschen gelaufen.
Raskolnikoff wiederholte sein Geständnis.
Sibirien. Am Ufer eines breiten, öden Flusses steht eine Stadt, eine von den administrativen Zentren Rußlands; in der Stadt befindet sich eine Festung, in der Festung ein Gefängnis. Im Gefängnisse sitzt schon neun Monate der Zwangsarbeiter der zweiten Kategorie Rodion Raskolnikoff. Seit dem Tage seiner Tat sind fast anderthalb Jahre vergangen.
Das Verfahren gegen ihn verlief ohne besondere Schwierigkeiten. Der Verbrecher hielt sein Geständnis aufrecht, bestimmt und klar, ohne die Sache zu verwirren, ohne etwas zu beschönigen, ohne die Tatsachen zu verzerren und ohne die geringste Einzelheit zu verschweigen. Er hatte bis zum letzten Punkt den ganzen Vorgang der Ermordung erzählt, hatte das Geheimnis des Versatzobjekts (des Stückes Holzes mit einem Streifen aus Metall), das man in den Händen der ermordeten Alten gefunden hatte, erklärt; er hatte umständlich erzählt, wie er die Schlüssel von der Getöteten genommen hatte, beschrieb die Schlüssel, die Truhe und womit sie angefüllt war; er hatte sogar einige von den einzelnen Gegenständen, die darin lagen, aufgezählt; hatte das Rätsel der Ermordung von Lisaweta erklärt; hatte erzählt, wie Koch gekommen war und geklopft hatte, wie der Student nach ihm gekommen war, und hatte alles, was sie untereinander gesprochen hatten, wiedergegeben; hatte auch erzählt, wie er, der Verbrecher, nachher die Treppe hinuntergelaufen war und das Kreischen von Nikolai und Dmitri gehört hatte, wie er sich in der leerstehenden Wohnung versteckt hatte, nach Hause gekommen war, und zum Schluß gab er den Stein auf dem Hofe am Wosnesensky-Prospekt hinter dem Tore an, unter dem man auch die Sachen und den Beutel fand. Mit einem Worte, die Sache war klar. Die Untersuchungsrichter und die Richter waren unter anderem darüber sehr erstaunt, daß er den Beutel und die Sachen, ohne sie zu verwenden, unter einem Steine versteckt hatte, mehr aber darüber, daß er sich aller Gegenstände, die er eigentlich geraubt hatte, nicht im einzelnen erinnerte, sondern sich sogar in ihrer Zahl geirrt hatte. Der Umstand schon, daß er kein einziges Mal den Beutel geöffnet und nicht mal wußte, wie viel an Geld darin lag, erschien unglaublich; im Beutel waren, wie sich herausstellte, dreihundertsiebzehn Rubel und drei Zwanzig-Kopekenstücke; von dem langen Liegen unter dem Steine waren einige größere Scheine, die zu oberst lagen, stark verdorben. Man mühte sich lange ab, zu erforschen, warum der Angeklagte gerade in diesem einzigen Punkte log, wo er doch in allem übrigen ein freiwilliges und aufrichtiges Geständnis ablegte? Schließlich kamen einige, besonders die Psychologen, zu der möglichen Annahme, daß er in der Tat keinen Blick in den Beutel geworfen habe, daher auch nicht gewußt habe, was er enthielt, und ohne es zu wissen, den Beutel einfach unter den Stein gelegt habe; sie zogen aber auch sofort daraus die Folgerung, daß das Verbrechen selbst nicht anders ausgeführt sein könnte, als bei gewisser zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit, unter einer krankhaften Manie, zu morden und zu rauben, ohne weitere Zwecke und Berechnungen. Hierzu gesellte sich noch die neueste moderne Theorie von zeitweiliger Geistesgestörtheit, die man in unserer Zeit so oft versucht, bei manchen Verbrechern anzuwenden. Außerdem wurde der hypochondrische Zustand Raskolnikoffs seit langer Zeit genau von vielen Zeugen, dem Arzte Sossimoff, seinen früheren Kameraden, seiner Wirtin und deren Dienstboten bestätigt. Dies alles half sehr zu der Annahme, daß Raskolnikoff einem gewöhnlichen Mörder, Räuber und Diebe nicht gleichzusetzen sei, daß etwas ganz anderes vorliege. Zum größten Verdruß derer, die diese Ansicht vertraten, versuchte der Verbrecher selbst sich fast gar nicht zu verteidigen; auf die endgültigen Fragen, – was ihn zum Morde bewogen haben konnte, und was ihn den Raub zu vollziehen angetrieben habe, – antwortete er sehr klar, mit der gröbsten Offenheit, daß die ganze Ursache seine schlechte Lage, seine Armut und Hilflosigkeit und der Wunsch gewesen war, – die ersten Schritte seiner Laufbahn mit Hilfe von wenigstens dreitausend Rubel zu sichern, die er bei der Ermordeten zu finden gehofft habe. Er habe sich zum Morde infolge seines leichtsinnigen und kleinmütigen Charakters entschlossen, der außerdem durch Entbehrungen und Mißerfolge gereizt war. Auf die Frage aber, was ihn veranlaßt habe, ein Geständnis abzulegen, antwortete er offen, daß es aufrichtige Reue gewesen sei. – Dies alles war schon fast grob ...
Das Urteil fiel milder aus, als man erwarten konnte, vielleicht auch deshalb, weil man bei der Straffestsetzung auch den Umstand in Betracht zog, daß der Verbrecher nicht bloß auf alle Selbstverteidigung verzichtete, sondern offenbar den Wunsch zeigte, sich selbst noch mehr zu belasten. Alle eigentümlichen und besonderen Umstände der Angelegenheit wurden in Erwägung gezogen. Der krankhafte und notleidende Zustand des Verbrechers vor Ausführung der Tat wurde nicht dem geringsten Zweifel unterzogen. Der Umstand, daß er von dem Geraubten keinen Nutzen gezogen hatte, wurde teilweise der erwachten Reue, teilweise dem nicht ganz gesunden Zustande seiner Geistesfähigkeiten während der Ausführung der Tat zugeschrieben. Die zufällige Ermordung von Lisaweta diente sogar als Umstand, der die letzte Annahme bestätigte, – ein Mensch vollzieht zwei Morde und vergißt gleichzeitig, daß die Türe nicht verschlossen war! Schließlich, das freiwillige Geständnis gerade in dem Momente, wo die Sache ungewöhnlich verwickelt wurde, infolge der falschen Selbstanklage eines niedergeschlagenen Phantasten (Nikolai), und außerdem, wo nicht nur keine klaren Beweise, sondern fast kein Verdacht gegen den tatsächlichen Verbrecher vorgelegen hatte, – (Porphyri Petrowitsch hatte sein Wort vollkommen gehalten) – dies alles zusammen verhalf dem Angeklagten zu einer milderen Bestrafung.
Außerdem erschienen völlig unerwartet auch andere Umstände, die stark zu seinen Gunsten ins Gewicht fielen. Der frühere Student Rasumichin hatte irgendwo Mitteilungen erhalten und sie durch Beweise erhärtet, daß der Verbrecher Raskolnikoff, als er noch auf der Universität war, aus seinen letzten Mitteln einem armen und schwindsüchtigen Kameraden geholfen und ihn ein halbes Jahr hindurch fast gänzlich unterhalten hatte. Als der Kamerad gestorben war, übernahm er die Sorge um dessen alten und gelähmten Vater, den sein Kamerad durch seiner Hände Arbeit fast seit seinem dreizehnten Lebensjahre ernährt und unterstützt hatte, schließlich hatte Raskolnikoff den alten Vater in einem Krankenhaus untergebracht und, als auch er starb, ihn beerdigen lassen. Alle diese Mitteilungen hatten einen gewissen Einfluß auf das Schicksal von Raskolnikoff. Seine frühere Wirtin, die Mutter seiner verstorbenen Braut, die Witwe Sarnitzin, legte auch ein Zeugnis ab, daß Raskolnikoff, als sie noch in einem anderen Hause wohnten, während einer Feuersbrunst in der Nacht aus einer Wohnung, die schon brannte, zwei kleine Kinder gerettet habe und dabei selbst Brandwunden davontrug. Diese Tatsache wurde genau untersucht und auch durch andere Zeugen bestätigt. Mit einem Worte, es endete damit, daß der Verbrecher zur Zwangsarbeit der zweiten Kategorie, im ganzen nur zu acht Jahren verurteilt wurde, infolge seines freiwilligen Geständnisses und mehrerer mildernder Umstände.
Noch beim Beginn des Prozesses wurde Raskolnikoffs Mutter krank. Dunja und Rasumichin fanden es für ratsam, sie während der ganzen Gerichtsverhandlung aus Petersburg fortzuschaffen. Rasumichin wählte eine Stadt an der Eisenbahn und in der Nähe von Petersburg, um die Möglichkeit zu haben, allen Phasen des Prozesses genau zu folgen und gleichzeitig möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Pulcheria Alexandrownas Leiden war eine eigentümliche Nervenerkrankung und wurde durch eine, wenn auch nicht völlige, so doch zeitweilige Geistesstörung kompliziert. Dunja fand ihre Mutter, als sie von ihrer letzten Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, vollständig krank, in Fieber und Wahnvorstellungen. Am selben Abend noch kam sie mit Rasumichin darüber überein, was man der Mutter auf ihre Fragen nach dem Sohne antworten solle, und hatte sogar mit ihm zusammen für die Mutter eine ganze Geschichte erdichtet, daß Raskolnikoff sehr weit an die Grenze Rußlands in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld und Berühmtheit eintragen werde. Sie waren aber überrascht, daß Pulcheria Alexandrowna selbst weder damals, noch späterhin sie irgend etwas frug. Im Gegenteil, es zeigte sich, daß sie selbst eine ganze Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes wußte; sie erzählte mit Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um von ihr Abschied zu nehmen; deutete dabei an, daß nur sie allein viele, sehr wichtige und geheimnisvolle Umstände kenne, und daß Rodja sehr viele einflußreiche Feinde habe, so daß er sich verbergen müsse. Was seine künftige Karriere anbetraf, schien sie ihr auch unzweifelhaft und glänzend zu sein, – wenn gewisse unbequeme Umstände beseitigt wären; sie versicherte Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein bedeutender Staatsmann würde, wofür sein Artikel und sein glänzendes literarisches Talent zeugten. Immer las sie seinen Artikel, las ihn zuweilen laut vor und legte sich fast mit ihm zu Bett, trotzdem aber fragte sie fast nie, wo sich jetzt Rodja befinde, ungeachtet dessen, daß man augenscheinlich vermied, mit ihr darüber zu sprechen, – was doch allein schon Argwohn bei ihr hätte erwecken müssen. Man begann endlich, sich über dieses merkwürdige Schweigen von Pulcheria Alexandrowna in Bezug auf manche Punkte zu ängstigen. Sie klagte z. B. nicht einmal darüber, daß sie von ihm keine Briefe erhalte, wogegen sie früher, als sie noch in ihrem Heimatsstädtchen wohnte, bloß von der Hoffnung und in der Erwartung lebte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu erhalten. Der letzte Umstand war zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam der Gedanke, daß die Mutter möglicherweise etwas Schreckliches im Leben ihres Sohnes ahne und sich fürchtete, zu fragen, um nicht etwas noch entsetzlicheres zu erfahren. In jedem Falle aber sah Dunja klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei gesundem Verstande war.
Ein paarmal war es vorgekommen, daß sie selbst das Gespräch so führte, daß es unmöglich war, bei Beantwortung ihrer Fragen nicht zu erwähnen, wo sich Rodja jetzt aufhielt; als aber die Antworten natürlich ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich traurig, düster und schweigsam, und das dauerte eine ziemlich lange Zeit an. Dunja sah schließlich ein, daß es schwer war, ihr etwas vorzulügen und zu erdichten, und kam zu dem endgültigen Entschlusse, besser über bestimmte Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer deutlicher und klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches ahnte. Dunja entsann sich unter anderem auch der Worte ihres Bruders, daß die Mutter ihre Reden im Traume in der Nacht vor dem letzten schicksalsschweren Tage, nach der Szene mit Sswidrigailoff vernommen habe. – Sollte sie damals etwas gehört und verstanden haben? Oft wurde die Kranke, zuweilen nach Tagen und Wochen eines düsteren, finsteren Schweigens und wortloser Tränen, von aufgeregter Lebhaftigkeit ergriffen und begann plötzlich laut und unaufhörlich von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen, von der Zukunft zu sprechen ... ihre Phantasien waren manchmal sehr sonderbar. Man tröstete sie, man stimmte ihr bei; sie merkte vielleicht selbst, daß man ihr beistimmte, sie bloß tröstete, aber dennoch redete sie ...
Fünf Monate, nachdem sich der Verbrecher selbst gestellt hatte, erfolgte das Urteil. Rasumichin besuchte ihn so oft im Gefängnis, als es nur möglich war. Auch Ssonja kam zu ihm. Schließlich kam die Trennung; Dunja schwur dem Bruder, daß diese Trennung nicht ewig währen würde; Rasumichin tat dasselbe. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe war unerschütterlich der Plan entstanden, – in den nächsten drei, vier Jahren möglichst den Grundstock zu einem Vermögen zu legen, wenigstens etwas Geld zu ersparen und nach Sibirien überzusiedeln, wo der Boden in jeder Hinsicht reich war, aber wenig tatkräftige Menschen mit Kapital existierten; dort in derselben Stadt, wo Rodja sein werde, sich anzusiedeln und ... für alle zusammen ein neues Leben zu beginnen ... Als der Abschied kam, weinten alle. Raskolnikoff war in den allerletzten Tagen sehr nachdenklich, fragte viel nach der Mutter und war ihretwegen in ständiger Unruhe. Er quälte sich sehr um sie, was Dunja wiederum beunruhigte. Als er die Einzelheiten über den krankhaften Zustand der Mutter erfahren hatte, wurde er sehr finster. Zu Ssonja war er in der ganzen Zeit aus irgendeinem Grunde auffallend wortkarg. Ssonja hatte sich schon längst mit Hilfe des Geldes, das ihr Sswidrigailoff gegeben hatte, zur Reise vorbereitet und machte sich bereit, der Abteilung von Sträflingen, mit denen er verschickt werden sollte, zu folgen. Darüber war zwischen ihr und Raskolnikoff niemals ein Wort gewechselt worden, doch beide wußten, daß es so sein werde. Beim letzten Abschiede lächelte er eigen bei den heißen Beteuerungen der Schwester und Rasumichins über ihrer aller glückliche Zukunft, sobald er die Zwangsarbeit abgebüßt habe, und sagte im voraus, daß der krankhafte Zustand der Mutter bald mit einem Unglücke enden würde. Er und Ssonja traten den Weg nach Sibirien an.
Zwei Monate nachher heiratete Dunetschka Rasumichin. Die Hochzeit war traurig und still. Unter den Gästen waren auch Porphyri Petrowitsch und Sossimoff. In der letzten Zeit hatte Rasumichin das Aussehen eines fest entschlossenen Menschen gewonnen. Dunja glaubte bestimmt, daß er alle seine Pläne verwirklichen werde und mußte daran glauben, – in diesem Menschen steckte ein eiserner Wille. Unter anderem begann er wieder die Vorlesungen in der Universität zu besuchen, um sein Studium abzuschließen. Beide bauten immer Pläne für die Zukunft; beide rechneten fest darauf, nach fünf Jahren nach Sibirien übersiedeln zu können. Bis dahin hofften sie auf Ssonja ...
Pulcheria Alexandrowna gab mit Freude der Tochter ihren Segen zur Hochzeit mit Rasumichin; nach der Hochzeit aber wurde sie scheinbar noch trauriger und sorgenvoller. Um ihr eine Freude zu machen, teilte ihr Rasumichin unter anderem auch die Geschichte von dem Studenten und seinem greisen Vater mit und auch, daß Rodja sich verbrannt habe und sogar krank war, als er im vorigen Jahre zwei Kinder vor dem Flammentode gerettet hatte. Beide Mitteilungen versetzten die verstörte Pulcheria Alexandrowna fast in einen verzückten Zustand. Sie redete ununterbrochen darüber, knüpfte Gespräche auf der Straße an, obwohl Dunja sie ständig begleitete. In Omnibussen und in Läden, wenn sie bloß einen Zuhörer fand, brachte sie das Gespräch auf ihren Sohn, auf seinen Artikel und darauf, wie er einem Studenten geholfen habe, wie er bei der Feuersbrunst Brandwunden erhalten habe und dergleichen mehr. Dunetschka wußte nicht mehr, wie sie sie davon abhalten konnte. Abgesehen von der Gefahr solch eines verrückten krankhaften Zustandes, drohte auch das Unglück, daß jemand sich auf den Namen Raskolnikoff aus der Gerichtsverhandlung besinnen und darüber etwas sagen konnte. Pulcheria Alexandrowna hatte sogar die Adresse der Mutter von den zwei bei der Feuersbrunst geretteten Kindern erfahren und wollte sie unbedingt aufsuchen. Schließlich stieg ihre Unruhe bis aufs äußerste. Sie fing zuweilen plötzlich an zu weinen, wurde oft bettlägerig und phantasierte im Fieber. Eines Morgens erklärte sie, daß nach ihrer Berechnung Rodja bald zurückkehren müsse, daß sie sich erinnere, wie er beim Abschiede selbst erwähnt habe, daß man ihn nach neun Monaten erwarten solle. Sie begann alles in der Wohnung in Ordnung zu bringen und Vorbereitungen zu seinem Empfange zu machen, begann das für ihn bestimmte Zimmer, – ihr eigenes, – zu schmücken, die Möbel zu putzen, Vorhänge zu waschen und aufzuhängen und dergleichen mehr. Dunja wurde sehr unruhig, schwieg aber und half ihr sogar, das Zimmer für den Bruder instand zu setzen. Nach einem unruhigen Tage, der in ständigen Phantasien, in freudigen Träumen und Tränen verging, erkrankte sie in der Nacht und lag am anderen Morgen in Fieber und Fieberphantasien. Eine Nervenkrisis war ausgebrochen. Nach zwei Wochen starb sie. In Fieberphantasien entrangen sich ihr Worte, aus denen man annehmen mußte, daß sie bedeutend mehr über das schreckliche Schicksal ihres Sohnes ahnte, als man geglaubt hatte.
Raskolnikoff erfuhr lange nicht den Tod seiner Mutter, obwohl er mit Petersburg schon seit dem Anfang seiner Übersiedlung nach Sibirien in Briefwechsel stand. Ssonja vermittelte die Briefe und empfing auch pünktlich jeden Monat eine Antwort aus Petersburg. Ssonjas Briefe erschienen Dunja und Rasumichin zuerst etwas trocken und unbefriedigend; aber beide fanden bald, daß man nicht besser schreiben konnte, denn aus diesen Briefen empfing man doch zu guter Letzt eine ganz genaue und klare Vorstellung von dem Schicksal ihres unglücklichen Bruders. Ssonjas Briefe waren mit der alltäglichsten Wirklichkeit, mit der einfachsten und klarsten Darstellung der ganzen Umgebung Raskolnikoffs in der Zwangsarbeit angefüllt. Es gab dabei weder eine Darstellung ihrer eigenen Hoffnungen, noch Träume um die Zukunft, noch Beschreibungen ihrer Gefühle. Anstatt zu versuchen, seinen seelischen Zustand und überhaupt sein ganzes Seelenleben zu erklären, beschränkte sie sich auf Tatsachen, d. h. auf seine eigenen Worte, genaue Mitteilungen über seinen Gesundheitszustand, seine Wünsche bei ihren Besuchen, seine Aufträge und dergleichen mehr. Alle diese Nachrichten wurden mit der äußersten Genauigkeit wiedergegeben. Das Bild des unglücklichen Bruders trat schließlich hervor, zeichnete sich deutlich und klar ab; hier konnte es keine Irrtümer geben, denn alles waren sichere Tatsachen.
Aber wenig erfreuliches konnten Dunja und ihr Mann aus diesen Nachrichten, besonders im Anfang, schöpfen. Ssonja teilte immer nur mit, daß er ständig düster, wenig gesprächig sei und sich fast gar nicht für die Nachrichten interessiere, die sie ihm jedesmal aus den von ihr empfangenen Briefen überbrachte; daß er zuweilen nach der Mutter frage, und als sie ihm schließlich ihren Tod mitteilte, nachdem sie gemerkt hatte, daß er die Wahrheit ahne, da schien – zu ihrer Verwunderung – auch die Nachricht von dem Tode der Mutter auf ihn keinen starken Eindruck gemacht zu haben, wenigstens es schien ihr so nach seinem Äußeren. Sie teilte auch unter anderem mit, daß er bei aller Selbstversunkenheit und Verschlossenheit – sich zu seinem neuen Leben offen und schlicht verhalte; er begreife klar seine Lage, erwarte in der nächsten Zeit nichts besseres, habe keine leichtsinnigen Hoffnungen, was doch so verständlich in seiner Lage wäre, und wundere sich fast über nichts in seiner neuen Umgebung, die so wenig Ähnlichkeit mit seinem früheren Leben habe; seine Gesundheit sei befriedigend. Er gehe zur Arbeit, der er nicht ausweiche und um die er nicht bitte. Dem Essen gegenüber sei er fast gleichgültig, aber das Essen sei, außer an Sonn- und Feiertagen, so schlecht, daß er schließlich gern von ihr, Ssonja, etwas Geld genommen habe, um seinen eigenen Tee sich zu halten; wegen des übrigen habe er sie gebeten, sich nicht zu beunruhigen, und sie versicherte, daß alle diese Sorgen um seine Person ihn bloß verdrießlich machten. Weiterhin teilte Ssonja mit, daß er im Gefängnis in einem Raume mit den anderen untergebracht sei; die inneren Räume und Kasernen habe sie nicht gesehen, aber nehme an, daß sie eng, häßlich und ungesund seien; er schlafe auf einer Pritsche, brauche, als Unterlage, Filz und wolle nichts anderes haben. Er lebe aber so schlecht und ärmlich, nicht aus einem bestimmten Plane oder absichtlich, sondern aus Unachtsamkeit und äußerster Gleichgültigkeit gegen sein Schicksal. Ssonja machte kein Hehl daraus, daß er, besonders im Anfang, sich nicht bloß für ihre Besuche nicht interessierte, sondern über sie fast ungehalten war, wenig mit ihr sprach, ja grob zu ihr war, daß aber schließlich diese Zusammenkünfte ihm zur Gewohnheit und fast zum Bedürfnis geworden waren, so daß er sich sogar grämte, wenn sie einige Tage krank war und ihn nicht besuchen konnte. Sie sehe ihn an Sonntagen am Gefängnistore oder im Wachthause, wohin man ihn auf einige Minuten zu ihr rufe; an Werktagen sehe sie ihn bei der Arbeit, entweder in den Werkstätten oder in der Ziegelei oder in den Scheunen am Ufer des Irtysch. Über sich selbst teilte Ssonja mit, daß es ihr gelungen sei, in der Stadt einige Bekanntschaften anzuknüpfen und Protektion zu finden, daß sie sich mit Nähen beschäftige, und da in der Stadt es fast keine Schneiderin gebe, so sei sie in vielen Häusern ganz unentbehrlich geworden; aber sie erwähnte nicht, daß durch sie auch Raskolnikoff Protektion bei seinen Behörden gefunden habe, daß ihm leichtere Arbeiten zugeteilt wurden und dergleichen mehr. Schließlich kam die Nachricht – (Dunja hatte in den letzten Briefen eine besondere Aufregung und Unruhe herausgefühlt) –, daß er alle meide, daß die Sträflinge ihn nicht gern hätten, daß er tagelang schweige und sehr blaß werde. Plötzlich schrieb Ssonja in ihrem letzten Briefe, daß er ernstlich erkrankt sei und im Hospital in der Arrestantenabteilung liege ...
Er war schon lange vorher krank, aber nicht die Schrecken der Zwangsarbeit, nicht die physische Arbeit, nicht die Nahrung, noch der abrasierte Kopf, noch die gezeichnete Kleidung hatten ihn gebrochen, – oh! was gingen ihn alle diese Qualen und Martern an! Im Gegenteil, er war über die Arbeit sogar froh, – wenn er sich körperlich geplagt hatte, erwarb er sich wenigstens dadurch einige Stunden ruhigen Schlafes. Und was bedeutete ihm das Essen, – diese fleischlose Kohlsuppe mit Schwaben? Als er noch Student war, im früheren Leben, hatte er oft auch das nicht mal gehabt. Seine Kleidung war warm und für seine Lebensweise berechnet. Ketten fühlte er fast gar nicht. Sollte er sich etwa seines rasierten Kopfes und der markierten Joppe schämen? Aber vor wem denn? Etwa vor Ssonja? Ssonja fürchtete ihn, und sollte er sich etwa vor ihr schämen? Was denn sonst? Er schämte sich freilich vor Ssonja, die er durch seine verächtliche und grobe Behandlung quälte. Aber er schämte sich nicht des rasierten Kopfes und der Ketten, – sein Stolz war verletzt; und er erkrankte an verwundetem Stolze. Oh, wie glücklich wäre er, wenn er sich selbst anklagen könnte! Er würde dann alles, sogar die Schande und die Schmach ertragen! Er saß aber streng mit sich zu Gerichte, und sein erbittertes Gewissen hatte in seiner Vergangenheit keine besondere Schuld gefunden, außer einem einfachen Irrtum, der jedem passieren kann. Er schämte sich hauptsächlich deswegen, daß er, Raskolnikoff, so blind, hoffnungslos, still und dumm, infolge eines Spruches des blinden Schicksals, zugrunde gegangen war, und daß er sich vor der „Sinnlosigkeit“ eines Urteils beugen und unterwerfen mußte, um einigermaßen zur Ruhe zu kommen.
Eine gegenstandslose und zwecklose Unruhe in der Gegenwart und ein ununterbrochenes Opfer in der Zukunft, durch das man nichts gewann, – das stand ihm in der Welt bevor. Und was lag daran, daß er nach acht Jahren erst zweiunddreißig Jahre alt war und von neuem zu leben beginnen konnte? Wozu soll er leben? Was soll er in Aussicht haben? Wozu streben? Zu leben, um zu existieren? Aber er war auch früher tausendmal bereit, sein Leben für eine Idee, für eine Hoffnung, sogar für eine Phantasie hinzugeben. Das Leben allein war ihm stets wenig gewesen; er wollte immer Größeres haben. Vielleicht hatte er sich auch damals, bloß nach der Kraft seiner Wünsche, für einen Menschen, dem mehr, als einem anderen erlaubt sei, gehalten.
Wenn doch das Schicksal ihm Reue senden würde, – eine brennende Reue, die das Herz bricht, die den Schlaf verjagt, solch eine Reue, bei deren schrecklichen Qualen einem die Schlinge und Wasser, wo es am tiefsten ist, vorschwebt! Oh, er würde sich darüber freuen! Qualen und Tränen – das ist doch Leben. Aber er bereute nicht sein Verbrechen.
Könnte er sich wenigstens über seine Dummheit ärgern, wie er sich früher über die abscheulichen und dummen Handlungen geärgert hatte, die ihn nach Sibirien gebracht hatten. Jetzt aber, im Gefängnisse, in Freiheit, überlegte er und dachte über alle seine früheren Handlungen nach und fand sie gar nicht so dumm und abscheulich, wie sie ihm früher in der verhängnisvollen Zeit vorgekommen waren.
„Wodurch, wodurch,“ dachte er, „ist meine Idee dümmer, als die anderen Ideen und Theorien, die in der Welt, solange diese Welt besteht, herumschwirren und aneinanderprallen? Man braucht bloß die Sache von einem völlig unabhängigen, weiten und von den alltäglichen Einflüssen losgelösten Standpunkte zu betrachten, und da erscheint, sicher, mein Gedanke gar nicht so ... sonderbar. Oh, ihr Verneiner und Weisen, von einem Groschen Werte, warum bleibt ihr auf dem halben Wege stehen!“
„Warum erscheint ihnen meine Handlung so abscheulich?“ sagte er sich. „Weil es eine böse Tat ist? Was bedeutet das Wort ‚böse Tat‘? Mein Gewissen ist ruhig. Gewiß, es ist ein Kriminalverbrechen geschehen; gewiß, der Buchstabe des Gesetzes ist übertreten und Blut ist vergossen, nun, nehmt da, für den Buchstaben des Gesetzes, meinen Kopf ... und genug! Gewiß, in diesem Falle müßten viele Wohltäter der Menschheit, die die Macht nicht geerbt, sondern selbst an sich gerissen haben, bei ihren allerersten Schritten hingerichtet worden sein. Jene Menschen aber ertrugen ihre Schritte und darum sind sie im Rechte, ich aber habe es nicht ertragen, und also hatte ich nicht das Recht, mir diesen Schritt zu gestatten.“
Nur in diesem Punkte erkannte er sein Verbrechen, – nur darin allein, daß er es nicht ertragen und sich freiwillig gestellt hatte.
Er litt auch unter dem Gedanken, daß er sich damals nicht das Leben genommen hatte. Warum hatte er damals am Flusse gestanden und das Geständnis vorgezogen? Steckt denn tatsächlich so eine Macht in diesem Wunsche zu leben, und ist sie so schwer zu überwinden? Sswidrigailoff, der sich vor dem Tode fürchtete, hatte es doch überwunden?
Er stellte sich voller Qual diese Frage und konnte nicht verstehen, daß er vielleicht schon damals, als er am Wasser stand, in sich selbst und seinen Überzeugungen eine tiefe Lüge geahnt hatte. Er verstand nicht, daß diese Vorahnung eine künftige Umwälzung in seinem Leben, seine einstige Auferstehung, eine neue Anschauung vom Leben bedeutete.
Er ließ hierbei bloß den stumpfen Instinkt gelten, den er nicht imstande war, zu brechen, und über den er wiederum nicht imstande war – aus Schwäche und Unbedeutendheit – hinwegzuschreiten. Er betrachtete seine Kameraden im Gefängnis und wunderte sich, – wie auch sie alle das Leben liebten und wie sie daran hingen! Ihm schien es sogar, daß man im Gefängnisse noch mehr das Leben liebte und schätzte und mehr daran hing, als in der Freiheit. Welche schrecklichen Qualen und Martern haben manche von ihnen, wie zum Beispiel die Landstreicher, ertragen! Bedeutet für diese Menschen wirklich soviel ein Sonnenstrahl, ein düsterer Wald, oder eine kühle Quelle irgendwo im unbekannten Dickicht, die einer vor ein paar Jahren gefunden und sich gemerkt hat, nach der er sich wie nach einer Geliebten sehnt, und von der er träumt, die er im Traume, umgeben von grünem Grase, sieht und hört, wie ein Vogel im Gebüsch singt? Indem er seine Mitgefangenen betrachtete, fand er noch mehr unerklärliche Beispiele dafür. – Im Gefängnis, in seiner nächsten Umgebung, bemerkte er selbstverständlich vieles nicht, und wollte auch nichts bemerken. Er lebte wie mit geschlossenen Augen; es war ihm widerlich und unerträglich zu sehen. Aber schließlich machte ihn doch vieles staunen und er begann fast gegen seinen Willen einiges zu bemerken, was er früher nicht mal geahnt hatte. Überhaupt und am meisten begann ihn jener furchtbare, jener unüberbrückbare Abgrund zu verwundern, der zwischen ihm und allen diesen Menschen lag. Es schien, als gehörten er und sie zu verschiedenen Nationen. Er und sie betrachteten einander mißtrauisch und feindselig. Er kannte und verstand die allgemeinen Ursachen solch eines Getrenntseins; aber niemals hätte er früher zugegeben, daß diese Ursachen in der Tat so tief und stark waren. Im Gefängnisse waren auch verbannte Polen, politische Verbrecher. Jene betrachteten alle diese Menschen als Ungebildete und Sklaven, und verachteten sie; Raskolnikoff aber konnte sie in dieser Weise nicht betrachten, – er sah deutlich, daß diese Ungebildeten in vielen Dingen bedeutend klüger als diese Polen waren. Es waren auch Russen da, die diese Leute ebenfalls zu stark verachteten, – da waren ein früherer Offizier und zwei Seminaristen. Raskolnikoff sah auch klar ihren Irrtum. Ihn selbst aber liebten alle nicht und gingen ihm aus dem Wege. Man begann sogar ihn schließlich zu hassen. – Warum? Er wußte es nicht. Man verachtete ihn, lachte über ihn, und über sein Verbrechen machten sich jene lustig, die bedeutend größere Verbrecher als er waren.
„Du bist ein Herr!“ sagte man ihm. „Schickte es sich für dich, mit einem Beile zu gehen; das ist gar keine Arbeit für Herren!“
In der zweiten Woche der großen Fastenzeit war seine Kaserne an der Reihe, sich zum Abendmahle vorzubereiten. Er ging in die Kirche mit den anderen. Eines Tages kam es zu einem Streit, – er wußte selbst nicht, aus welchem Grunde; alle stürzten sich plötzlich wütend über ihn.
„Du bist ein Gottloser! Du glaubst nicht an Gott!“ schrien sie. „Man müßte dich umbringen.“
Er hatte niemals mit ihnen über Gott und über Glauben gesprochen, aber sie wollten ihn, als einen Gottlosen, töten; er schwieg und erwiderte ihnen nichts. Ein Sträfling stürzte sich auf ihn in rasender Wut; Raskolnikoff erwartete ihn ruhig und schweigend; seine Augenbraue zuckte nicht mal, kein Zug seines Gesichtes rührte sich. Der Wachtsoldat stellte sich noch rechtzeitig zwischen ihn und den Angreifer, – sonst wäre Blut geflossen.
Für ihn war noch eins unerklärlich, – warum hatten sie alle Ssonja so lieb? Sie hatte sich bei ihnen nicht eingeschmeichelt; sie trafen sie selten, bloß zuweilen bei den Arbeiten, wenn sie zu ihm auf einen Augenblick kam, um ihn zu sprechen. Indessen aber kannten sie Ssonja alle schon, wußten auch, daß sie ihm gefolgt sei, wußten, wie sie lebte und wo sie wohnte. Geld gab sie ihnen nicht, erwies ihnen auch keine besonderen Dienste. Einmal bloß zu Weihnachten brachte sie für das ganze Gefängnis eingesammelte Geschenke, – Pasteten und Brezeln. Aber allmählich hatte sich zwischen ihnen und Ssonja ein näheres Verhältnis entwickelt, – sie schrieb für sie Briefe an ihre Verwandten und sandte sie mit der Post ab. Ihre Verwandten, die zur Stadt kamen, hinterließen Ssonja auf deren Geheiß Sachen für sie und sogar Geld. Ihre Frauen und Geliebten kannten Ssonja und besuchten sie. Und wenn sie zu Raskolnikoff zur Arbeit kam oder einer Partie Sträflinge, die zur Arbeit gingen, begegnete, – nahmen alle die Mützen ab, alle grüßten sie, – „Mütterchen Ssofja Ssemenowna, du unsere zärtliche, liebe Mutter!“ sagten diese groben gebrandmarkten Zwangsarbeiter zu diesem kleinen und mageren Geschöpfe. Sie lächelte ihnen zu. Sie liebten sogar ihren Gang, sie wandten sich um, um ihr nachzusehen, wie sie ging, und lobten sie; sie lobten sie sogar dafür, daß sie so klein war; sie wußten nicht mehr, wofür sie sie bloß loben sollten. Zu ihr kamen sogar Leute, sich von ihr kurieren zu lassen.
Raskolnikoff verbrachte die Fastenzeit und Ostern im Krankenhause. Während er schon genas, erinnerte er sich seiner Träume, als er noch im Fieber gelegen hatte. Er träumte in der Krankheit, daß die ganze Welt einer schrecklichen, unerhörten und nie dagewesenen Pest, die aus den Tiefen Asiens über Europa kam, zum Opfer fallen sollte. Alle sollten zugrunde gehen, außer einigen sehr wenigen Auserwählten. Es waren neue Trichinen erschienen, mikroskopische Wesen, die sich in die Körper von Menschen einnisteten. Aber diese Wesen waren Geister, ausgerüstet mit Verstand und Willen. Die Menschen, in denen sie sich eingenistet hatten, wurden sofort wie Besessene und wahnsinnig. Aber noch niemals hielten sich die Menschen für so klug und unerschütterlich in ihrer Weisheit, als es die Angesteckten taten. Niemals hielten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und ihren Glauben für unerschütterlicher, als jetzt. Ganze Dörfer, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und gebärdeten sich wie wahnsinnig. Alle waren in Unruhe und verstanden einander nicht, jeder meinte, daß er allein bloß die Weisheit kenne, und verging vor Qual beim Anblick der anderen, schlug sich an die Brust, weinte und rang die Hände. Man wußte nicht, wen und wie man richten sollte, man konnte nicht übereinkommen, was als Böses und was als Gutes anzusehen war. Man wußte nicht, wen man anklagen, wen man freisprechen solle. Die Menschen töteten einander in einer sinnlosen Wut. Ganze Armeen sammelten sie gegeneinander, aber die Armeen begannen schon auf dem Marsche plötzlich sich selbst zu bekriegen, die Reihen zerstörten sich, die Soldaten stürzten sich aufeinander, stachen und töteten, bissen und fraßen einander auf. In den Städten läutete den ganzen Tag die Sturmglocke, – man rief alle zusammen, aber wer und warum er rief, wußte niemand, alle aber waren in größter Unruhe. Man ließ das gewöhnliche Handwerk fallen, denn jeder kam mit seinen Gedanken, mit seinen Verbesserungen, und man konnte sich nicht einigen; der Ackerbau stockte. Hie und da liefen Menschen zusammen, einigten sich über etwas, schwuren einander nicht zu verlassen, – aber sofort begannen sie etwas ganz anderes zu tun als das, was sie soeben beschlossen hatten, fingen an einander zu beschuldigen, prügelten sich und mordeten sich. Feuersbrünste entstanden, Hungersnot trat ein. Alle und alles ging zugrunde. Die Pest schwoll an und verbreitete sich immer weiter und weiter. In der ganzen Welt konnten sich bloß einige Menschen retten; das waren Unschuldige und Auserwählte, die bestimmt waren, ein neues Menschengeschlecht und ein neues Leben zu begründen, die Erde zu erneuern und zu säubern, aber niemand hatte irgendwo diese Menschen gesehen, niemand hatte ihre Worte und Stimme gehört.
Raskolnikoff quälte es, daß dieser sinnlose Traum so traurig und schmerzlich sein Gedächtnis belastete, daß der Eindruck dieses Fiebertraumes so lange nicht verschwinde. Die zweite Woche nach Ostern hatte schon begonnen; es waren warme, klare Frühlingstage; in der Arrestantenabteilung des Hospitals hatte man die vergitterten Fenster, unter denen ein Wachposten auf- und abging, geöffnet. Ssonja konnte ihn während seiner ganzen Krankheit bloß zweimal besuchen; man mußte jedesmal eine Erlaubnis auswirken, und das war sehr schwer. Aber sie war oft auf den Hof des Hospitals, besonders gegen Abend, unter sein Fenster gekommen, zuweilen aber auch bloß, um einen Augenblick auf dem Hofe stehen zu bleiben und wenigstens von weitem die Fenster seiner Abteilung zu sehen. Eines Tages war Raskolnikoff, der fast genesen war, gegen Abend eingeschlafen; als er erwachte, trat er zufällig an das Fenster und erblickte plötzlich fern am Tore Ssonja. Sie stand dort und schien auf etwas zu warten. In diesem Augenblicke war es ihm, als würde sein Herz durchbohrt; er zuckte zusammen und ging schnell vom Fenster weg. Am anderen Tage erschien Ssonja nicht, ebenfalls nicht am nächstfolgenden Tage; er merkte, daß er sie voll Unruhe erwarte. Endlich entließ man ihn aus dem Hospital. Als er ins Gefängnis kam, erfuhr er von den Sträflingen, daß Ssonja Ssemenowna krank sei, zu Hause liege und nicht ausgehe.
Er war sehr beunruhigt und ließ sich nach ihr erkundigen. Er erfuhr bald, daß ihre Krankheit nicht gefährlich sei. Als Ssonja ihrerseits hörte, daß er sich so um sie grämte und sorgte, schickte sie ihm ein mit Bleistift geschriebenes Zettelchen und teilte ihm mit, daß es ihr besser gehe, daß sie eine leichte Erkältung habe und daß sie bald, sehr bald zu ihm kommen werde. Als er diesen Zettel las, schlug sein Herz stark und schmerzhaft.
Es war wieder ein klarer und warmer Tag. Am frühen Morgen, um sechs Uhr, ging er zur Arbeit an den Fluß, wo am Ufer in einer Scheune ein Ofen zum Alabasterbrennen eingerichtet war, und wo der Alabaster gestoßen wurde. Dorthin gingen bloß drei Arbeiter. Der eine Sträfling war mit dem Wachtposten in die Festung nach einem Instrument gegangen; der andere holte Holz und legte es in den Ofen. Raskolnikoff trat aus der Scheune, ging an das Ufer, setzte sich auf aufgestapelte Balken hin und blickte lange auf den breiten und öden Fluß. Von dem hohen Ufer aus zeigte sich die weite Umgebung. Von dem anderen entlegenen Ufer klang kaum hörbar ein Lied herüber. Dort in der unübersehbaren Steppe, übergossen von der Sonne, zeigten sich in kaum merklichen dunklen Punkten die Zelte eines Wandervolkes. Dort lag Freiheit, dort lebten andere Menschen, die den hiesigen gar nicht ähnelten, dort schien die Zeit stehen geblieben zu sein, als wäre das Jahrhundert Abrahams und seiner Herden noch nicht vorüber. Raskolnikoff saß und blickte unverwandt hinüber, ohne sich losreißen zu können; sein Gedanke verwandelte sich in einen Traum; er dachte an nichts, aber eine tiefe Schwermut lag auf ihm und quälte ihn.
Plötzlich trat Ssonja neben ihn. Sie war leise herangekommen und setzte sich zu ihm. Es war noch sehr früh, die Morgenkälte war noch nicht verschwunden. Sie hatte ihren alten ärmlichen kleinen Pelz an und das grüne Tuch. Ihr Gesicht trug noch die Spuren von Krankheit, war magerer, blasser und eingefallen. Sie lächelte ihm freudig und freundlich zu, aber reichte ihm schüchtern, wie immer, ihre Hand.
Sie reichte ihm stets die Hand so schüchtern, zuweilen gar nicht, als fürchte sie, daß er sie von sich stoßen würde. Er nahm auch stets ihre Hand wie mit Widerwillen, begrüßte sie stets wie verdrießlich, zuweilen schwieg er hartnäckig die ganze Zeit während ihres Besuches. Es kam vor, daß sie zitternd und in tiefem Kummer fortging. Jetzt aber lösten sich ihre Hände nicht; er blickte sie schnell und flüchtig an, sagte nichts und schlug seine Augen nieder. Sie waren allein, niemand sah sie. Der Wachtposten hatte sich gerade umgedreht.
Wie es gekommen war, wußte er selbst nicht, aber plötzlich schien ihn etwas zu packen und zu ihren Füßen zu ziehen. Er weinte und umfaßte ihre Knie. Im ersten Augenblicke erschrak sie heftig und ihr Gesicht war totenblaß. Sie sprang zitternd auf und sah ihn an. Aber sie begriff im Nu alles. In ihren Augen leuchtete ein grenzenloses Glück; sie hatte verstanden und es gab für sie keinen Zweifel mehr, daß er sie liebte, grenzenlos liebte, und daß endlich dieser Augenblick gekommen war ...
Sie wollten sprechen, aber konnten nicht. Tränen standen in ihrer beider Augen. Beide waren sie bleich und abgemagert; aber in diesen kranken und bleichen Gesichtern leuchtete schon die Morgenröte einer neuen Zukunft, der völligen Auferstehung zu neuem Leben. Die Liebe hatte sie erweckt, das Herz des einen enthielt eine unerschöpfliche Lebensquelle für das Herz des anderen.
Sie beschlossen zu warten und zu dulden. Sieben Jahre hatten sie noch zu warten; bis dahin soviel unerträgliche Qual und soviel grenzenloses Glück! Aber er war aufgestanden und er wußte es, fühlte es ganz und gar mit seinem neuen Wesen, sie aber – sie lebte ja doch bloß in ihm!
Am Abend desselben Tages, als die Kasernen schon geschlossen waren, lag Raskolnikoff auf seiner Pritsche und dachte an sie. An diesem Tage schien es ihm, als ob alle Sträflinge, seine früheren Feinde, ihn mit anderen Augen ansahen. Er fing selbst mit ihnen zu sprechen an und man antwortete ihm freundlich. Er erinnerte sich an all dies jetzt, aber es mußte doch wohl so kommen, – mußte sich denn nicht jetzt alles ändern?
Er dachte an sie. Er erinnerte sich, wie er sie immer gequält und ihr Herz gepeinigt hatte; erinnerte sich ihres blassen, mageren Gesichtchens, aber sie quälten ihn jetzt nicht, diese Erinnerungen, – er wußte, mit welcher unendlichen Liebe er jetzt alle ihre Leiden sühnen würde.
Und was waren alle diese Qualen der Vergangenheit! Alles, sogar sein Verbrechen, sogar das Urteil und die Verbannung erschienen ihm jetzt in der ersten Aufwallung als etwas äußerliches, fremdes, als etwas, das nicht ihm passiert sei. Er konnte an diesem Abend gar nicht lange und ständig an etwas denken, seine Gedanken auf etwas konzentrieren; er hätte jetzt nichts bewußt beschließen können; er fühlte bloß. An Stelle der Dialektik war das Leben getreten, und in seinem Bewußtsein begann sich etwas ganz anderes herauszuarbeiten.
Unter seinem Kopfkissen lag das Neue Testament. Er nahm es mechanisch hervor. Dieses Buch gehörte ihr, es war dasselbe, aus dem sie ihm über die Erweckung des Lazarus vorgelesen hatte. Im Anfang seiner Verbannung fürchtete er, daß sie mit der Religion ihn zu Tode quälen würde, daß sie über das Evangelium sprechen und ihm Bücher verschaffen würde. Aber zu seinem größten Staunen hatte sie nie darüber gesprochen, ihm nie das Evangelium angeboten. Er hatte sie selbst kurz vor seiner Krankheit darum gebeten, und sie brachte ihm schweigend das Buch. Bis jetzt hatte er es noch nicht aufgeschlagen.
Er schlug es auch jetzt nicht auf, aber ein Gedanke kam ihm, – „müssen denn ihre Überzeugungen jetzt nicht auch meine Überzeugungen sein? Ihre Gefühle, ihr Streben, wenigstens ...“
Sie war auch diesen ganzen Tag in großer Erregung, und in der Nacht wurde sie sogar wieder krank. Aber sie war so glücklich, daß sie fast erschrak vor ihrem Glücke. Sieben Jahre, bloß sieben Jahre! Im Anfange ihres Glückes, in manchen Augenblicken, waren sie beide bereit, diese sieben Jahre als sieben Tage zu betrachten. Er dachte nicht einmal daran, daß ein neues Leben sich ihm nicht umsonst biete, daß er es noch teurer erkaufen müsse, dafür mit einer großen künftigen Tat bezahlen müsse ...
Aber hier fängt schon eine neue Geschichte an, die Geschichte der allmählichen Erneuerung eines Menschen, die Geschichte seiner allmählichen Wiedergeburt, des allmählichen Überganges aus einer Welt in die andere, der Bekanntschaft mit einer neuen, ihm bisher völlig unbekannt gewesenen Wirklichkeit. Das könnte das Thema zu einer neuen Geschichte abgeben, – unsere jetzige aber ist zu Ende.
[1] Die drei ersten Helden Puschkinscher Werke, die zwei letzten Lermontoffscher. E. K. R.
[2] Herrman, der Held in Puschkins „Pique Dame“. E. K. R.
[3] Anspielung auf das Petersburger Denkmal Peters des Großen. E. K. R.
[4] Ein Platz im Kreml zu Moskau, auf dem früher die Hinrichtungen stattfanden. E. K. R.
[5] Die sogen. Raskolniki, von denen es seit der Kirchenspaltung (1666) mehrere Sekten gibt. E. K. R.
[6] Dieser Schein wird von der Polizei den Prostituierten ausgestellt.
[7] Ein Reisgericht, das zur Seelenmesse für die Toten in die Kirche mitgenommen wird, vom Priester geweiht und dann mit Andacht verzehrt wird.
[8] Ein kleines gitarrenähnliches Instrument.
[9] Radischtscheff hat zu Katherinas II. Zeiten ein Buch „Die Reise nach Moskau“ veröffentlicht; er beschrieb den traurigen Zustand des Landes, geißelte die Leibeigenschaft; sein Buch wurde von der Freundin Voltaires verbrannt, war lange Zeit nachher noch verboten; der Verfasser wurde nach Sibirien verbannt.
[10] Dobroljuboff war ein führender Kritiker und Publizist in den sechziger Jahren.
[11] Der größte Kritiker und Publizist der vierziger Jahre.
[12] Echte, wahre Bücher werden bei den Altgläubigen und einigen Sektierern das Alte und Neue Testament, die Lebensbeschreibungen der Heiligen und der Märtyrer, benannt, wenn sie nach den Originalen vor der Zeit des Patriarchen Oikon (1652) gedruckt sind; um diese Zeit wurden die Texte revidiert und seit dieser Zeit existiert die sogenannte „altgläubige Kirche“.
[1] es lebe der ewige Krieg
[2] Genug geredet!
[3] friß oder stirb (wörtlich: Ihr Hunde sollt sterben, wenn es euch nicht paßt)
[4] nur legitim
[5] vom Wein bekomme ich schlechte Laune
[6] Ihnen zuliebe
[7] ganz einfach
[8] das ist unerläßlich
[9] differenziert
[10] wörtlich
[11] Steh gerade!
[12] sprich französisch mit mir
[13] Fünf Sous
[14] Marlborough zog in den Krieg / Keiner wusste wie lang
[15] Fünf Sous, fünf Sous / Zur Gründung unseres Heims
[16] gleiten, gleiten, im Baskenschritt!
[17] Grabrede
[18] lieber Freund
[19] Natur und Wahrheit
[20] Wo hat sie diese Tugenden versteckt?
[21] viel Glück
[22] eine Theorie unter vielen
Anmerkungen zur Transkription
Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Erste Abteilung: Erster Band.
Erste Abteilung: Zweiter Band.
Rodion Raskolnikow (Schuld und Sühne).
R. Piper & Co. Verlag, München, 1922.
23.–35. Tausend.
Für diese ebook-Ausgabe wurden der erste und der zweite Band vereinigt.
Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.
Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
Die Bearbeiter haben diesem Text Übersetzungen der französischen Textstellen in Form von Fußnoten hinzugefügt und der public domain zur Verfügung gestellt.
Diese zusätzlichen Fußnoten sind durch kursiven Textstil gekennzeichnet.
Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder aouh "jä") steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender russischer Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
Afanassi (Afanasi, Afanassji)
Aljona (Aljena, Alena)
Bakalejeff (Bakaljeff)
Lebesjätnikoff (Lebesjatnikoff)
Louisa (Luisa, Louise)
Poletschka (Poljetschka)
Polja (Polje)
Porphyri (Porfirij, Porphiri)
Ssemjon (Ssemen)
Ssofja (Ssofje)
Ssonja (Ssonje)
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):