The Project Gutenberg eBook of Sämtliche Werke 15

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Title: Sämtliche Werke 15

Helle Nächte : Vier Novellen

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: March 23, 2025 [eBook #75698]

Language: German

Original publication: Muenchen: Piper, 1920

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 15 ***

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
herausgegeben von Moeller van den Bruck

Übertragen von E. K. Rahsin

Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band

F. M. Dostojewski

Helle Nächte

Vier Novellen

R. Piper & Co. Verlag, München, 1920

R. Piper & Co. Verlag, München, 1920
Siebentes bis zwölftes Tausend

Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
Verlag in München

Inhalt

Einleitung VII
Vorbemerkung XV
Helle Nächte 1
Das junge Weib 99
Ein schwaches Herz 243
Ein Roman in neun Briefen 317

Dostojewski, Petersburg und die Schönheit der Stadt

Die hellen Nächte sind die Lyrik des Nordens. In ihrem Lichte, in der geisternden Unwirklichkeit des finnischen Sumpfes, dort, wo Norden und Osten sich treffen, hat Peter seine Stadt gegründet. Und in dem Od dieser Stadt hat Dostojewski seine Menschen gesehen, Petersburger Menschen, die in dem Widerspruche leben müssen, daß sie als Russen wirkliche und als Europäer unwirkliche Menschen sind. Es ist nicht das Licht des reinen Nordens, das vom Pol kommt und in der Arktis seine harten elektrischen Phänomene empfängt. Es ist nicht das mythische Licht der Edda, in dem die Gestirne wie Runen am Himmel stehen und unter dem von einem großen Magus das Buch von der Welt aufgeschlagen wurde. Es ist auch nicht das Licht jener klaren dualistischen Nacht, in der Kant den bestirnten Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm in Ehrfurcht bewundern lernte. Es ist vielmehr die Macht der finnischen Zauberer, die Kalews Söhne durchbrachen und in der Wanemuine sang: das Licht einer weicheren Helle, in der die Fläche der unendlichen Steppe zwischen Kaukasus und Skandinavien gen Norden zurückgeschlagen wurde. Es ist das Stadtlicht einer Halbhelle, in der die Menschen unsicher gehen, wie Schatten auftauchen, wie Schatten verschwinden, ohne Willen, wie ihn nur einmal Peter an dieser Stelle hatte, aber dafür mit einer äußersten Verinnerlichung, die Dostojewski hier in einer schrecklichen alltäglichen strindbergischen Wirklichkeit aufdeckte.

Der erste Eindruck von Petersburg ist die Häßlichkeit seiner Menschen. Die finnische Urbevölkerung scheint in grauen und unscheinbaren Verkümmerungen fortzuleben. Die Verbindung zu einer neuen Stadtrasse mißlang und in zweihundertjähriger Großstadtinzucht wurde ein Bastardgeschlecht erzeugt, das in der Luft feuchter Stuben in naturlosem Nebelleben vollends verdarb. Dieser Eindruck wird noch gesteigert durch den Gegensatz, daß so viel fade und verdächtige Hübschheit sich hineinmischt, Schönheit, die aus polnischer, grusinischer und wer weiß welcher orientalischen Rasse stammt und hier auf ihren verweichlichten Rest zurückgeführt wurde: Schönheit ganz kleiner spitzer glatter Züge, die doppelt widerlich am Manne ist und über die auch der selbstgefällige Bart eines Würdenträgers nicht hinwegzutäuschen vermag. Wohl sieht man auch Erscheinungen: sieht Rasse zwischen Entrassung. Im Wagen oder Schlitten fährt eine glücklichere Gesellschaft vorüber, die in russischer Ungebundenheit gepflegteste Westlichkeit nachahmt. Doch die Menge ist ohne Bodenständigkeit, haltlos in sich, und auf den Straßen sieht man allenthalben diese leidenden Menschen mit dem Ausdruck von Krankheit, Verlebtheit, Verbrechen: Menschen, denen man alle Laster zutraut, worunter Spitzeltum und Bestechlichkeit, als die amoralischen Grundlagen der russischen Gesellschaft wie des russischen Staates im Volke, noch die gewöhnlichsten und von beinahe bürgerlicher Selbstverständlichkeit sind. Nirgendwo sonst gibt es diese mageren rachitischen Gestalten, diese fahlen hektischen Gesichter, verkümmert durch Not oder durch Ausschweifung, diese zweideutigen Mienen von Winkel- oder Kellermenschen, diesen Zug eines schlechten und doch gleichgültigen Gewissens auf einem gestempelten Gesicht. Abgearbeitetes und schlechtentlohntes Beamtentum mischt sich mit einer mißverstandenen und übertriebenen Halbwelteleganz. Verkommene sind da, von denen man nicht weiß, ob es Schwärmer sind, Ideologen in Entsagung, oder Zuchthäusler in Scheuheit und Frechheit zugleich. Es ist ein Fluch über dieser Stadt: Erbe einer großen Bestimmung auf unsicherem Grunde zu sein, in Entwurzelung und Ziellosigkeit, Erbe des petrinischen Irrtums und Verhängnisses, daß es in Rußland nie eine petrinische Nachfolge in Ebenbürtigkeit geben sollte. Doch immer wieder warf das Land seine Menschen in diese Stadt, Bauern, die hier zu Industriearbeitern wurden, Popensöhne, die als Nihilisten anfingen, um als Kanzlisten zu enden. Man glaubt sie noch herauszukennen, diese Generation der zuletzt Angekommenen. Und an einem Soldaten, an einem Dwornik, oder an diesen herrlichen Kutschern mit den prallen Pelzröcken, diesen steifen ausgestopften breitbärtigen Riesenpuppen, die mit der Würde von Königen die Gesellschaft über den Newskij fahren, erkennt man plötzlich, was Rasse auch hier ist, großrussische Rasse, tatarische Rasse, volklich, eigentümlich, ursprünglich, dort hinten, um Moskau, weit in Rußland.

In dieser belasteten und verdorbenen, dieser unfertigen und doch schon frühalten Stadtbevölkerung, die Peter aufeinander angewiesen hatte und die seitdem von dem Staate in einer fahrlässigen und doch wieder großzügigen Ordnung zusammengehalten wurde, während sie selbst vorwiegend durch Betrug mit sich und dem Staate auskam – in ihr entdeckte Dostojewski den Menschen. Puschkin und Lermontoff hatten den romantischen Helden entdeckt, den byronischen Jüngling mit skeptischen und ironischen, aber auch mit heroischen und enthusiastischen Zügen, der freilich der Gesellschaft, nicht dem Volke angehörte, und hatten ihn mit Gestalten der Nation, der Sphären der Armee und Beamtenschaft, der Kleinbürger und Bauern nur umgeben. Dostojewski dagegen entdeckte den seelischen Menschen, die Tragödie der Unscheinbarkeit, die im Unbemerkten, in einem Mensch-für-sich-sein dahinlebte, und entdeckte, daß er voll von rührenden oder erschütternden inneren Werten war. Er tat es moralisch, mit einer leisen Beinote des Sozialen, in seinen Jugendwerken, von den „Armen Leuten“ bis zu den „Erniedrigten und Beleidigten“, und schließlich religiös, nachdem ihn seine sibirische Zeit mit den Ausgestoßenen dieser Gesellschaft und dieses Staates zusammengebracht und er selbst im Dulden die Erlösung von allen russischen und petersburgischen Leiden erlebt hatte, in den Heilandgestalten seiner großen Romane. Er tat es wohl auch humoristisch, indem er zu der Allmenschlichkeit, mit der er diesen Leiden in Güte begegnete, die behäbige oder verdrehte Allzumenschlichkeit fügte, die versöhnend in den Menschen selbst lag, oder die er hineinlegte. Und er tat es schließlich lyrisch, mit einer Behutsamkeit der tiefen Empfindung, aber auch der schwebenden Form, indem er die beseligte und beseligende Schönheit offenbar machte, die ihr Leben in der Armut seiner Geschicke und in der Häßlichkeit seiner Umgebung von innen erleuchtete. Die Menschen selbst wurden schön. Mädchen wurden reizend. Jünglinge erhielten, obwohl sie Petersburger blieben, frische Knabenhaftigkeit zurück. Und ein paar Alte bekamen die würdige Schönheit von Philemon und Baucis. Es war nicht klassische, nicht romantische Schönheit, sondern russische und seelische Schönheit, die sich von dem Nerv der Gefühle unmittelbar auf die Linie des Körpers übertrug, auf die Farbe des Ausdrucks, auf die Liebenswürdigkeit der Gestalt. Es war nicht moralische Schönheit im Sinne Kants, der aus der Schönheit eine Tugend gemacht hatte, jenes immer etwas umständliche Symbol des Sittlich-Guten, das man erst mit dem Verstande erfassen muß, ehe man es am Menschen entdecken kann. Es war eine ganz persönliche Schönheit, ohne Umwege, ohne Symbolik, in sich selber kniend, eingeboren in Worten und Handlungen.

Zugleich entdeckte Dostojewski die Schönheit von Petersburg. Puschkin hatte ihr Pathos besungen, die Stadt des ehernen Reiters, die Nadel der Admiralität, den Granit der Newakais, die schreckende Nähe der Peterpaulsfeste, in deren Kirche die Romanoffs ruhen, der kriegerischen Stätte, deren Kanonen alle Ereignisse in der Dynastie und die Taten des Heeres donnernd über den Fluß verkündeten. Petersburg war immer schön, solange es petrinisch blieb. Aber zwischen Puschkin und Dostojewski lag die Entwicklung von der Residenz, die auch in ihren Furchtbarkeiten und Geheimnissen noch vornehm war, zu der grauen und grausamen Großstadt, in der die Menge die weiten Straßenzüge und hohen Mietshäuser zu füllen begann. Nun mußte die weiße Magie der Natur, atmosphärisches Licht und vibrierende Stimmung, die Schönheit des Alltags ersetzen, die Dostojewski, je länger er in ihr lebte, um so stärker empfand. Er hat Petersburg wohl auch mit harten, mit verfluchenden Worten bedacht. Aber er hat die Stadt doch immer wieder geliebt, ja die Liebe zu ihr, die Tatsache, daß er sie lieben konnte, teilte sich ihr selbst mit, wurde durch ihn zur Schönheit an ihr. Es war nicht ihr Stil, den er an ihr so liebte. Er scheint ihn gar nicht gekannt, gar nicht bemerkt zu haben. Dostojewskis Liebe zu Petersburg war unarchitektonisch, rein sensibel. Die majestäthaften Baulichkeiten, die immer der Ruhm der Zaren in dieser Stadt bleiben, werden niemals erwähnt, und nichts deutet darauf hin, daß er überhaupt wußte, daß Petersburg die Stadt eines großartigen Klassizismus und großer Klassizisten, der Sacharoff und Woronichin ist. Aber Dostojewski hat dafür jedes einzelne Haus geliebt und geliebkost. Er scheint mit allen vertraut und befreundet gewesen zu sein, und mit den unscheinbarsten am innigsten. An einer besonders schönen Stelle der „Hellen Nächte“ schildert er einmal, ganz in der treuherzigen Weise bunter russischer Märchen, wie in einer Straße, durch die ihn sein Weg des öfteren führt, jedes einzelne Haus vortritt und ihm sein neuestes Schicksal erzählt. Es war mit den Häusern von Petersburg wie mit den Menschen bei Dostojewski. Er belebte die Häuser menschlich, gab ihnen eine seelische Schönheit, wie es seelische Leidenschaften waren, in denen er seine Menschen leben ließ. Man empfindet diese Geistigkeit doppelt, wenn einmal, wie es in der Erzählung von dem „jungen Weibe“ geschah, südliche und sinnliche Schönheit, südliche und sinnliche Leidenschaft, wenn Menschen von Südrußland, von der Wolga, vom Schwarzen Meere sich in dieses Nebelland und in diese Nebelstadt verirren. Dann verbindet sich der Mythe die Kabbala, und der Dithyrambos einer dunkleren Romantik klingt in die helle Lyrik dieser nordisch-phantastischen Überwirklichkeit. Dann wird Petersburg zu Rußland, und auf den Straßen, die zu seiner Hauptstadt führen, ziehen seine Völker heran, um sich in dieser einsamen grausamen frierenden Schönheit von Petersburg zu verlieren, die sie mit ihrem kalten Lichte aufnimmt und die doch eine so innige Schönheit ist, daß ihr Dichter die Häuser und die Herzen mit der gleichen Liebe umfangen kann.

M. v. d. B.

Vorbemerkung

Der Band enthält die drei kürzeren Petersburger Novellen, die Dostojewski nach dem großen Erfolge der „Armen Leute“ zu Ende der vierziger Jahre geschrieben hat und die in der literarischen Zeitschrift „Vaterländische Annalen“ erschienen.

Dem Bande ist eine kleine Halbhumoreske „Ein Roman in neun Briefen“ hinzugefügt, die in der Zeit der „Hellen Nächte“ mit entstand: als das erste Stück Prosa mit komischem Unterton, in dem sich Dostojewski versuchte, und das so hinüberleiten mag zu seiner nächsten größeren Arbeit, dem Humoreskenroman „Das Gut Stepantschikowo“, den der folgende Band der Ausgabe bringt.

E. K. R.

Helle Nächte

Ein empfindsamer Roman aus den Erinnerungen eines Träumers

„... Oder ward er nur erschaffen, um eine kleine Weile lang Deinem Herzen nah zu sein? ...“

Iwan Turgenjeff.

Die erste Nacht.

Es war eine wundervolle Nacht – eine Nacht, wie wir sie vielleicht nur sehen, wenn wir jung sind, mein lieber Leser. Der Himmel war so tief und nachthell, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte, ob denn wirklich unter einem solchen Himmel böse und launische Menschen leben können? Das ist nun freilich eine Frage, auf die man nur in jungen Jahren verfallen kann, nur in sehr jungen sogar, mein lieber Leser! Doch möge der Herr sie öfter in Ihrer Seele erwecken! ... Während ich noch in dieser Weise an die verschiedensten Menschen dachte, mußte ich mich unwillkürlich auch meiner eigenen löblichen Aufführung an diesem Tage erinnern. Schon vom Morgen an hatte mich eine wunderliche Stimmung bedrückt. Ich hatte die Empfindung, daß ich, der ohnehin Einsame, von allen verlassen wurde, daß alle sich von mir zurückzogen. Natürlich hat jetzt ein jeder das Recht, mich zu fragen: ja, wer sind denn diese „alle“? Lebe ich doch bereits das achte Jahr in Petersburg und habe trotzdem noch so gut wie keine einzige Bekanntschaft zu machen verstanden. Wozu brauchte ich auch Bekannte? Ich bin sowieso schon mit ganz Petersburg bekannt. Eben deshalb schien es mir aber, als ob alle mich verließen, als ob sich jetzt ganz Petersburg aufmachte, um in die Sommerfrische zu gehen. Mir wurde es fast unheimlich, allein zu bleiben, und drei Tage lang strich ich tief bekümmert in der Stadt umher, entschieden unfähig zu begreifen, was in mir vorging. Auf dem Newskij, im Sommergarten, an den Kais war kein einziges von den Gesichtern zu sehen, denen ich tagtäglich zu bestimmter Stunde an derselben Stelle zu begegnen pflegte. Die Betreffenden kennen mich natürlich nicht, aber ich – ich kenne sie. Ich kenne sie sogar ganz genau: ich habe ihre Physiognomien studiert und freue mich, wenn sie froh sind, und fühle mich verstimmt, wenn sie betrübt sind. Ja ich kann sogar sagen, daß ich einmal fast eine Freundschaft geschlossen hätte: das war mit einem alten kleinen Herrn, dem ich jeden Tag, den Gott werden ließ, zur selben Stunde an der Fontanka begegnete. Er hatte eine so wichtige, nachdenkliche Miene und sein Unterkiefer bewegte sich immer, ganz so als kaue er etwas, der linke Arm schlenkerte ein wenig und in der rechten Hand hatte er einen langen Knotenstock mit einem goldenen Knopf. Auch er hatte mich bemerkt und nahm seitdem innigen Anteil an mir. So bin ich überzeugt, daß er, wenn er mich einmal nicht zur gewohnten Stunde an der gewohnten Stelle der Fontanka treffen sollte, sich gleichfalls entschieden verstimmt fühlen würde. Deshalb fehlte denn auch nicht viel, daß wir uns grüßten, namentlich wenn wir beide bei guter Laune waren. Vor kurzem noch, als wir uns ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und dann einander am dritten Tage begegneten, hätten wir schon beinahe an die Hüte gegriffen, besannen uns aber zum Glück noch rechtzeitig, ließen die Hände sinken und gingen mit sichtlich anteilnehmender Zuvorkommenheit aneinander vorüber.

Ich bin auch mit den Häusern bekannt. Wenn ich so gehe, dann ist es, als laufe jedes, sobald es mich erblickt, ein paar Schritte aus der Front und sehe mich aus allen Fenstern an und sage gewissermaßen: „Guten Tag, hier bin ich! und wie geht es Ihnen? Auch ich bin, Gott sei Dank, ganz frisch und munter, aber im Mai wird man mir noch ein Stockwerk aufsetzen.“ Oder: „Guten Tag! Wie geht’s? Denken Sie sich, ich werde morgen neu angestrichen!“ Oder: „Bei mir gab’s Feuer und ich wäre um ein Haar niedergebrannt – ich habe mich dabei so erschreckt!“ Und so weiter: in dieser Art. Unter ihnen habe ich natürlich meine Lieblinge, sogar gute Freunde. Eines von ihnen will sich in diesem Sommer von einem Architekten operieren lassen – umbauen, und ähnliches. Werde da unbedingt täglich hingehen, damit man mir den Freund nicht etwa vollkommen umbringt! Gott behüte ihn davor! ... Doch niemals werde ich die Geschichte mit dem einen kleinen allerliebsten hellrosa Häuschen vergessen! Es war das solch ein reizendes Häuschen, so freundlich sah es mich immer an und so stolz war es auf seine Reize unter den plumpen Nachbarn, daß mein Herz jedesmal lachte, wenn ich an ihm vorüberging. Plötzlich, in der vorigen Woche, wie ich in die Straße einbiege und nach meinem kleinen Liebling hinsehe – höre ich ein jammervolles Wehklagen: „Man tüncht mich gelb!“ Diese Barbaren! Diese Bösewichter! Nichts hatten sie verschont. Weder die Pfeiler noch die Karniese! Mein kleiner Freund war in der Tat gelb wie ein Kanarienvogel. Ich war nahe daran, vor Ärger selbst die Gelbsucht zu kriegen, so gallig machte mich der Fall, und bis jetzt bin ich noch nicht imstande gewesen, ihn wiederzusehen, meinen entstellten armen Kleinen, den die Unbarmherzigen in der Farbe des Reichs der Mitte angestrichen haben.

Also folglich – jetzt begreifen Sie wohl, mein verehrter Leser, auf welche Weise ich mit ganz Petersburg bekannt bin.

Ich sagte bereits, daß mich volle drei Tage eine seltsame Unruhe quälte, bis ich endlich ihre Ursache erriet. Auf der Straße fühlte ich mich nicht wohl (der eine war nicht zu sehen, der andere nicht, der dritte und vierte auch nicht – „wo mag wohl jener geblieben sein?“) – und auch zu Hause fühlte ich mich so anders, daß ich mich selbst kaum wiedererkannte. Zwei Abende versuchte ich vergeblich, zu ergründen, was mir nun eigentlich in meinen vier Wänden fehlen mochte. Warum fühlte ich mich mit einem Male so unbehaglich im Zimmer? Prüfend schaute ich mir meine grünen, verräucherten Wände an, musterte die Decke, an der Matrjona mit großem Erfolge das Spinngewebe behütete, besah mir meine Einrichtung, insbesondere jeden Stuhl, und fragte mich in Gedanken, ob nicht hier der Grund liege (denn wenn bei mir auch nur ein Stuhl nicht so steht, wie er gestern stand, dann bin ich nicht mehr ich selbst). Ich blickte nach dem Fenster – doch alles war umsonst ... mir ward deshalb nicht leichter zumute! Ja ich kam sogar auf den Gedanken, Matrjona zu rufen und ihr in väterlichem Tone einen gelinden Vorwurf wegen des Spinngewebes und der allgemeinen Vernachlässigung zu machen; aber sie sah mich nur verwundert an und ging fort, ohne ein Wort zu erwidern, so daß das Spinngewebe auch jetzt noch wohlbehalten an der Decke hängt. Erst heute morgen erriet ich endlich, um was es sich handelte. Also: sie zogen ja alle in die Sommerfrische und ließen mich im Stich! – das war’s: sie kniffen aus! Verzeihen Sie das triviale Wort, aber es war mir in dem Augenblick nicht um einen klassischen Ausdruck zu tun ... Es hatte doch wirklich alles, was in Petersburg lebte, die Stadt bereits verlassen, oder verließ sie noch täglich und stündlich. Wenigstens verwandelte sich in meinen Augen jeder ältere Herr von solidem Äußeren, der sich in eine Droschke setzte, in einen ehrwürdigen Familienvater, der nach den alltäglichen Geschäften in der Stadt hinausfuhr, um den Rest des Tages im Schoße seiner Familie zu verbringen. Jeder Mensch auf der Straße hatte jetzt ein völlig anderes Aussehen, eines, das jedem etwa sagen zu wollen schien: „Wir sind ja nur so, sind nur noch kurze Zeit hier, in zwei Stunden bereits fahren wir hinaus ins Grüne!“ Oder öffnete sich ein Fenster, an dessen Scheiben zuerst schlanke, weiße Fingerchen getrommelt, und beugte sich das hübsche Köpfchen eines jungen Mädchens hinaus, um den Blumenhändler herbeizurufen, – da stellte ich mir vor, daß diese Blumen auch „nur so“ von ihr gekauft wurden und durchaus nicht deshalb, um sich an diesem Blumentopf mit den paar Knospen und Blüten wie an einem Stück Frühling in der dumpfen Stube zu erfreuen, und daß sehr bald alle die Stadt verlassen und auch die Blumen mitnehmen würden. Doch damit noch nicht genug, ich machte vielmehr in meinem neuen Entdeckerberuf solche Fortschritte, daß ich bald schon allein nach dem Äußeren unfehlbar festzustellen vermochte, welchen Villenort ein jeder gewählt hatte. Die Bewohner der fashionablen Inseln[1] oder der Villen an der Peterhofstraße zeichneten sich durch auserlesene Eleganz sowohl im Gang und in jeder Geste, wie in den Sommerkostümen und Hüten aus und besaßen prachtvolle Equipagen, in denen sie zur Stadt gefahren kamen. Die Einwohner von Pargolowo und dort weiter hinaus „imponierten“ einem auf den ersten Blick durch ihre vernünftige Gediegenheit, und die von der Krestowskij-Insel durch ihre unverwüstlich heitere Gemütsverfassung. Traf es sich, daß ich einer langen Prozession von Frachtfuhrleuten begegnete, die, die Leine in der Hand, gemächlich einhertrotteten ... neben ihren hochbeladenen Lastwagen, auf denen ganze Berge von Tischen, Betten, Stühlen, türkischen und nichttürkischen Diwans schaukelten und auf deren Gipfel oft noch eine Küchenfee mit etwas verzagten Mienen thronte, oder auch, wenn sie sich sicherer fühlte, das herrschaftliche Gut mit Argusaugen bewachte, damit nur ja nichts unterwegs verloren ginge, – oder sah ich auf der Newa oder der Fontanka ein paar mit Hausgerät beladene Boote nach den Inseln oder stromaufwärts nach der Tschornaja-rjetschka ziehen, – die Boote wie die Fuhren verzehn-, verhundertfachten sich in meinen Augen –: so schien es mir, als mache alle Welt sich auf und ziehe in Karawanen hinaus, und als verwandle Petersburg sich in eine Wüste, so daß ich mich zu guter Letzt entschieden beschämt und gekränkt fühlte, und natürlich auch betrübt, denn nur ich allein hatte keine Möglichkeit und wohl auch keinen Grund, in die Sommerfrische hinauszuziehen. Und doch war ich bereit, auf jeden Lastwagen zu springen, mit jedem Herrn, der sich in eine Droschke setzte, mitzufahren; aber nicht einer von ihnen, kein einziger forderte mich dazu auf. Es war, als hätten sie mich plötzlich alle vergessen, als wäre ich ihnen allen im Grunde doch vollkommen fremd.

Ich spazierte oft und lange umher, so daß ich meiner Gewohnheit gemäß wieder einmal vergessen hatte, wo ich eigentlich ging, bis ich mich schließlich an der Stadtgrenze fand. Da ward mir im Augenblick fröhlich zumute und ich trat hinter den Schlagbaum und ging weiter zwischen den besäten Feldern und Wiesen, ohne Müdigkeit zu verspüren, fühlte aber, daß mir eine Last von der Seele genommen wurde. Alle, die an mir vorüberfuhren, sahen mich so freundlich an, daß es fast wie ein Gruß war; alle schienen sie über irgend etwas froh zu sein. Und auch ich wurde so froh, wie ich noch nie in meinem Leben gewesen ...

Ganz als befände ich mich plötzlich in Italien – so mächtig wirkte die Natur auf mich, den halbkranken Städter, der zwischen den Häusermauern fast schon erstickt war.

Es liegt etwas unsagbar Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie im Frühling erwacht und plötzlich ihre ganze Macht offenbar und alle ihre vom Himmel verliehenen Kräfte entfaltet: wenn sie sich mit jungem weichem Laub umhüllt und mit bunten Blumen und zarten Blüten schmückt ... Dann erinnert sie mich unwillkürlich an ein sieches Mädchen, auf das man zuweilen mit Bedauern, zuweilen mit einer seltsam mitleidigen Liebe blickt oder das man zuweilen auch überhaupt nicht bemerkt, das dann aber plötzlich, auf einen Augenblick und ganz unverhofft, nahezu märchenhaft schön wird, so schön, daß man bestürzt und berauscht vor ihr steht und sich verwundert fragt: welche Macht hat in ihren traurigen, verträumten Augen dieses Leuchten erweckt? Was hat das Blut in ihre bleichen abgezehrten Wangen getrieben und läßt nun diese zarten Züge tiefe Leidenschaft widerspiegeln? Weshalb hebt sich ihre Brust? Was hat so plötzlich Kraft, Leben und Schönheit in das Antlitz des armen Mädchens gebracht, daß es in süßem Lächeln erglänzt und zu sprühendem Lachen fähig wird? Und man sieht sich im Kreise um, man sucht jemand, man beginnt zu ahnen, zu erraten ... Doch der Augenblick ist vergänglich und vielleicht morgen schon werden wir wieder dem zerstreuten, verträumten Blick begegnen, wie früher, und werden wieder das blasse Gesicht wahrnehmen und dieselbe Ergebung und Schüchternheit in den Bewegungen und sogar so etwas wie Reue, sogar Spuren eines lähmenden Kummers und Ärgers über dieses kurze Aufleben ... Und es tut einem leid, daß die Schönheit so schnell und unwiderruflich verwelkt ist, daß sie so trügerisch und vergeblich vor einem geleuchtet hat – leid, weil man nicht einmal Zeit gehabt, sie liebzugewinnen ...

Und doch war meine Nacht noch schöner als der Tag.

Ich kehrte erst spät in die Stadt zurück und es schlug bereits zehn, als ich mich meiner Wohnung näherte. Mein Weg führte am Kanal entlang, wo zu dieser Stunde gewöhnlich keine lebende Seele zu sehen ist. Freilich lebe ich auch in einem sehr stillen entlegenen Stadtteil. Ich ging und sang, denn wenn ich glücklich bin, muß ich unbedingt irgend etwas vor mich hinsummen, wie eben jeder glückliche Mensch, der weder Freunde noch gute Bekannte hat, noch einen Menschen, mit dem er seine frohen Augenblicke teilen kann. Da nun, in dieser Nacht, hatte ich plötzlich ein überraschendes Abenteuer.

Nicht weit vor mir erblickte ich eine Gestalt in Frauenkleidern: sie stand und stützte die Ellbogen auf das Geländer des Kais und sah, wie es schien, aufmerksam in das trübe Wasser des Kanals. Sie trug ein entzückendes gelbes Hütchen und eine kokette kleine schwarze Mantille. „Das ist ein junges Mädchen und sicherlich ist sie brünett,“ dachte ich. Sie schien meine Schritte nicht zu hören, denn sie rührte sich nicht, als ich langsam mit angehaltenem Atem und laut pochendem Herzen an ihr vorüberging. „Sonderbar!“ dachte ich, „jedenfalls muß sie ganz in Gedanken versunken sein“ – und plötzlich zuckte ich zusammen und blieb wie gebannt stehen: ich hörte dumpfes Schluchzen ... Ja! ich täuschte mich nicht: das junge Mädchen weinte – nach einer Weile klang es wieder wie ein Aufschluchzen, und dann wieder. Mein Gott! Das Herz krampfte sich mir zusammen. Wie befangen ich auch sonst Frauen gegenüber bin, diesmal – es waren aber auch so seltsame Umstände! ... Kurz, ich entschloß mich im Augenblick, trat auf sie zu und – würde unbedingt „Meine Gnädigste!“ gesagt haben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß diese Anrede in allen russischen Romanen, die die höheren Gesellschaftskreise schildern, mindestens tausendmal vorkommt. Das allein hielt mich davon ab. Doch während ich noch nach einer passenden Anrede suchte, kam das junge Mädchen wieder zu sich, sah sich um, erblickte mich, schlug die Augen nieder und huschte an mir vorüber. Ich folgte ihr sogleich, was sie jedoch zu fühlen schien, denn sie verließ den Kai, überschritt die Straße und ging auf dem anderen Trottoir weiter. Ich wagte nicht, ihr dorthin zu folgen. Mein Herz zitterte wie einem gefangenen Vogel. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe.

Auf jenem Trottoir tauchte plötzlich in der Nähe meiner Unbekannten ein Herr auf – ein Herr in zweifellos soliden Jahren, jedoch mit einer Gangart, die sich nicht gerade als solid bezeichnen ließ. Er ging wankend und stützte sich mitunter an die Häuser. Das junge Mädchen schritt indes gesenkten Blicks weiter, ohne sich umzusehen, und so schnell, wie es alle jungen Mädchen tun, die nicht wünschen, daß jemand sich ihnen nähere und sich erbiete, sie in der Nacht nach Hause zu begleiten. Der wankende Herr hätte sie auch niemals eingeholt, wenn er nicht mit einer gewissen Schlauheit auf etwas Nichtvorherzusehendes verfallen wäre: ohne ein Wort oder einen Anruf, raffte er sich nämlich plötzlich auf und lief ihr möglichst leise nach. Sie ging wie der Wind, doch der Herr kam ihr schnell näher und holte sie ein – das Mädchen schrie auf, und ... ich dankte dem Schicksal für den Rohrstock, den ich in meiner Rechten hielt! Im Augenblick war ich auf der anderen Seite, im Augenblick begriff auch der Herr, um was es sich handelte, und die Vernunft siegte in ihm: er schwieg, trat zurück, und erst als wir fast schon außer Hörweite waren, protestierte er in ziemlich energischen Ausdrücken gegen meine Handlungsweise. Doch wir hörten ihn kaum.

„Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte ich zu der Unbekannten, „dann wird er es nicht mehr wagen, Sie zu belästigen.“

Schweigend legte sie ihr Händchen, das von der Aufregung und dem Schreck noch zitterte, auf meinen Arm. Oh, du ungerufener Herr! Wie segnete ich dich in diesem Augenblick! Ich warf einen schnellen Blick auf meine Begleiterin: sie sah reizend aus und war brünett, wie ich es mir gleich gedacht hatte. An ihren dunkeln Wimpern glänzten noch Tränen – ob vom Schreck oder von dem Kummers, über den sie am Kai geweint, das lasse ich dahingestellt. Aber ihre Lippen versuchten schon, zu lächeln. Auch sie sah mich heimlich an, errötete, als ich es bemerkte, und senkte den Blick.

„Sehen Sie, nun, warum liefen Sie vorhin von mir fort? Wäre ich bei Ihnen gewesen, so wäre nichts geschehen ...“

„Aber ich kannte Sie doch nicht! Ich dachte, daß Sie ebenso ...“

„Ja, kennen Sie mich denn jetzt?“

„Ein wenig. Aber – weshalb zittern Sie?“

„Oh, da haben Sie gleich alles erraten!“ versetzte ich entzückt, denn ich glaubte aus ihrer Bemerkung entnehmen zu dürfen, daß sie, die so schön war, auch klug war. „Wie Sie gleich auf den ersten Blick erkennen, mit wem Sie es zu tun haben! Es ist wahr, ich bin Frauen gegenüber befangen, und ich leugne auch nicht, daß ich mich im Augenblick erregt fühle, ebenso wie Sie vor ein paar Minuten, als jener Herr Sie erschreckte ... Auch ich fühle jetzt so etwas wie einen Schreck: die ganze Nacht erscheint mir wie ein Traum, mir, der ich es mir niemals habe träumen lassen, daß ich jemals in die Lage kommen könnte, mit einem jungen Mädchen in dieser Weise zu sprechen.“

„Was? Wirklich?“

„Mein Wort darauf; und wenn mein Arm jetzt bebt, so kommt das nur daher, daß er noch nie von einer so reizenden kleinen Hand, wie die Ihrige, berührt worden ist. Ich bin jetzt des Umgangs mit Frauen vollständig ungewohnt; das heißt, ich will damit nicht etwa sagen, daß ich früher einmal einen solchen Umgang gewohnt gewesen bin. Nein, ich lebe von jeher allein und für mich ... Ich weiß nicht einmal, wie man mit ihnen spricht. Auch jetzt zum Beispiel weiß ich nicht, ob ich Ihnen nicht irgendeine Dummheit gesagt habe. Ist das der Fall, so sagen Sie es mir, bitte, ganz offen. Ich werde es Ihnen nicht übelnehmen ...“

„Nein, nein, gar nicht, im Gegenteil. Und wenn Sie schon einmal verlangen, daß ich aufrichtig sein soll, dann will ich Ihnen sagen, daß solche Befangenheit den Frauen sogar sehr gefällt. Und wenn Sie noch mehr wissen wollen, dann will ich gleich gestehen, daß sie auch mir gefällt, und ich werde Sie nicht früher fortschicken, als bis ich bei unserem Hause angelangt bin.“

„Sie sind ja so reizend, daß ich gleich meine ganze Befangenheit verliere,“ rief ich entzückt, „und dann – lebt wohl alle meine Chancen! ...“

„Chancen? Was für Chancen, und wozu? Nein, das gefällt mir nun wieder gar nicht!“

„Verzeihung, es war mir auch nur so ... entschlüpft, ganz gegen meinen Willen! Aber wie können Sie auch verlangen, daß in einem solchen Augenblick nicht der Wunsch erwachen soll ...?“

„Zu gefallen etwa?“

„Nun ja, versteht sich. Aber seien Sie – oh, um Gottes willen, seien Sie großmütig! Bedenken Sie, wer ich bin! Ich bin schon sechsundzwanzig Jahre alt – und noch habe ich mit keinem Menschen Verkehr gehabt. Wie sollte ich da plötzlich nach allen Regeln der Kunst eine Unterhaltung anzuknüpfen verstehen? Aber Sie werden mich um so besser begreifen, wenn alles offen vor Ihnen liegt ... Ich verstehe nicht zu schweigen, wenn das Herz in mir spricht. Nun, gleichviel ... Glauben Sie mir, ich kenne keine einzige Frau, keine einzige! Ich habe überhaupt keine Bekanntschaft. Ich träume nur jeden Tag, daß ich endlich irgend einmal irgendwo doch irgend jemand treffen und kennen lernen werde. Ach, wenn Sie wüßten, wie oft ich schon auf diese Weise verliebt gewesen bin ...“

„Aber wie denn das, in wen denn?“

„Ja, in niemand, einfach in ein Ideal, das ich im Traum vor mir sehe. Ich ersinne in meinen Träumen gewöhnlich ganze Romane. Oh, Sie kennen mich noch nicht! Doch was sage ich! – natürlich habe ich mit zwei oder drei Frauen gesprochen, aber was waren denn das für Frauen? Das waren ja nur solche Wirtinnen, daß ... Aber ich will Sie lieber fröhlich machen und Ihnen etwas erzählen: Ich habe schon mehrmals die Absicht gehabt, so ganz ohne weiteres irgendeine Aristokratin auf der Straße anzureden. Selbstverständlich, wenn sie allein ist, und ebenso selbstverständlich mit aller Ehrerbietung, aber doch mit Bangen, und um ihr dann voll Leidenschaft zu sagen, daß ich so allein umkomme, und um sie zu bitten, daß sie mich nicht fortjage und daß ich sonst keine Möglichkeit habe, auch nur je irgendeine Frau kennen zu lernen. Ich würde ihr sagen, daß es sogar die Pflicht jeder Frau sei, die bescheidene Bitte eines so unglücklichen Menschen, wie ich einer bin, nicht abzuschlagen. Daß schließlich alles, um was ich sie bitte, nichts weiter sei, als daß sie mir erlaube, ihr brüderlich zwei Worte sagen zu dürfen, daß sie mir nur etwas Teilnahme zeigen und mich nicht gleich im ersten Augenblick davonjagen solle, daß sie mir vielmehr aufs Wort glauben und daß sie anhören möge, was ich ihr zu sagen wünsche, und sollte sie mich auch auslachen, gleichviel! – aber daß sie mir wenigstens etwas Hoffnung geben und mir zwei Worte sagen müsse, nur zwei Worte, damit würde ich mich zufrieden geben, und sollten wir uns auch nie wiedersehen! ... Aber Sie lachen ... Übrigens rede ich ja auch nur deshalb ...“

„Seien Sie mir nicht böse. Ich lache, weil Sie ja Ihr eigener Feind sind ... wenn Sie es versuchten, so würde es Ihnen schon gelingen, und wäre es auch auf der Straße: je einfacher, desto besser. Kein einziges Mädchen, wenn sie nur nicht schlecht oder dumm ist oder in dem Augenblick gerade sehr geärgert über irgend etwas, würde es übers Herz bringen, Sie fortzuschicken, ohne Ihre zwei Worte anzuhören – wenn Sie so bescheiden darum bitten ... Doch nein, was sage ich! Natürlich würde sie Sie für einen Verrückten halten! Im übrigen habe ich da nach meinem Empfinden geurteilt. Ich weiß doch auch ein wenig, wie die Menschen sind.“

„Oh, ich danke Ihnen,“ rief ich, „Sie wissen nicht, was Sie mir mit Ihrer Antwort gegeben haben!“

„Gut, gut! Aber sagen Sie mir, woran haben Sie es erkannt, daß ich ein Mädchen bin, mit dem man ... nun, das Sie für würdig halten ... Ihrer Aufmerksamkeit und Freundschaft ... Mit einem Wort, keine Hauswirtin, wie Sie sagten ... Warum entschlossen Sie sich, sich gerade mir zu nähern?“

„Warum? Warum! Sie waren allein, jener Herr benahm sich so dreist und jetzt ist es Nacht: da werden Sie doch zugeben, daß es meine Pflicht war ...“

„Nein, nein, vorher, dort, auf der anderen Seite, am Kai. Da wollten Sie sich mir doch schon nähern?“

„Dort, auf jener Seite? Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten soll ... Ich fürchte ... Ja sehen Sie, ich war heute so glücklich: ich ging und sang, ich war draußen vor der Stadt ... ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt. Sie dagegen ... aber vielleicht schien es mir nur so ... verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere – es schien mir, daß Sie weinten, und ich ... ich vermochte das nicht mitanzuhören ... es preßte mir das Herz zusammen ... Mein Gott, konnte ich Ihnen denn nicht helfen? Durfte ich nicht Ihren Kummer teilen? War es denn Sünde, daß ich brüderliches Mitleid mit Ihnen empfand? ... Verzeihen Sie, ich sagte Mitleid ... Nun gleichviel, mit einem Wort – konnte es Sie denn beleidigen, wenn ich da unwillkürlich das Verlangen empfand, mich Ihnen zu nähern? ...“

„Schon gut, hören Sie auf, sprechen Sie nicht weiter ...“ unterbrach mich das Mädchen. Sie sah verwirrt zu Boden und ich fühlte, wie ihre Hand zuckte. „Es ist meine Schuld, daß ich überhaupt davon anfing. Aber es freut mich, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe ... So, jetzt bin ich gleich zu Hause, ich muß hierher in die Querstraße, nur noch zwei Schritte ... Leben Sie wohl, und ich danke Ihnen ...“

„Ja, sollen wir uns denn wirklich niemals wiedersehen? ... Soll das denn schon das Ende sein?“

„Sehen Sie, wie Sie sind!“ sagte sie lachend, „anfangs wollten Sie nur zwei Worte reden, und jetzt! ... Übrigens will ich nichts verschwören ... Vielleicht werden wir einander noch begegnen ...“

„Ich werde morgen wieder hier sein,“ sagte ich schnell. „Verzeihen Sie, ich fordere bereits ...“

„Ja, Sie sind recht ungeduldig ... fast fordern Sie bereits ...“

„Hören Sie, hören Sie!“ unterbrach ich sie, „verzeihen Sie, wenn ich Ihnen wieder irgend so etwas sage ... Aber sehen Sie: ich kann nicht anders, ich muß morgen hierherkommen. Ich bin ein Träumer, ich kenne so wenig wirkliches Leben, und einen solchen Augenblick, wie diesen, erlebe ich so selten, daß es mir ganz unmöglich wäre, ihn mir in meinen Träumen nicht immer wieder zu vergegenwärtigen. Von Ihnen werde ich jetzt die ganze Nacht träumen, die ganze Woche, das ganze Jahr! Ich werde unbedingt morgen hierherkommen, gerade hierher, wo wir jetzt stehen, und um dieselbe Zeit, und ich werde glücklich sein in der Erinnerung an die heutige Begegnung. Schon jetzt ist mir diese Stelle hier lieb. So habe ich noch zwei oder drei andere Stellen in Petersburg, die mir lieb sind. Ich habe einmal sogar geweint, ganz wie Sie vorhin, als plötzlich eine Erinnerung in mir erwachte ... Vielleicht haben Sie heute dort am Kai gleichfalls nur deshalb geweint, weil eine Erinnerung über Sie kam ... Verzeihen Sie, ich habe wieder davon gesprochen! Sie waren dort vielleicht einmal ganz besonders glücklich ...“

„Nun gut,“ sagte das Mädchen plötzlich, „also hören Sie: ich werde morgen auch hierherkommen, um zehn Uhr. Ich sehe, daß ich es Ihnen doch nicht verwehren kann ... Aber Sie wissen noch nicht, um was es sich handelt – ich muß nämlich sowieso unbedingt hierherkommen. Denken Sie deshalb nicht, daß ich Ihnen ein Stelldichein gebe. Ich muß vielmehr aus einem ganz besonderen Grunde und in meinem eigenen Interesse hierherkommen, damit Sie’s wissen. Aber ... nun gut, ich will ganz aufrichtig sein: es tut nichts, wenn auch Sie kommen. Erstens könnte es wieder eine Unannehmlichkeit geben, wenn ich allein bin, wie heute, aber das ist nicht so wichtig ... Nein, kurz, ich würde Sie gern wiedersehen, um ... um ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen. Nur, sehen Sie, Sie werden mich doch jetzt nicht verurteilen? Denken Sie deshalb nicht, daß ich so leicht ein Stelldichein gebe ... Ich würde es auch nicht tun, wenn nicht ... Nein, das mag noch mein Geheimnis bleiben! Aber zuvor eine Bedingung ...“

„Eine Bedingung?! Sagen Sie, sprechen Sie es aus – ich bin mit allem einverstanden, bin zu allem bereit!“ rief ich förmlich begeistert. „Ich stehe für mich ein – ich werde gehorsam, werde ehrerbietig sein ... Sie kennen mich –“

„Gerade deshalb, weil ich Sie kenne, fordere ich Sie auch für morgen auf,“ sagte das Mädchen lachend. „Ich kenne Sie bereits ganz genau. Aber wie gesagt, kommen Sie nur unter einer Bedingung: seien Sie so gut und erfüllen Sie meine Bitte, ja? Sie sehen, ich rede ganz offen: Also: daß Sie sich nicht in mich verlieben ... Das darf nicht geschehen, auf keinen Fall. Zur Freundschaft bin ich herzlich gern bereit, hier, meine Hand darauf ... Aber verlieben, nein, nur das nicht, ich bitte Sie!“

„Ich schwöre Ihnen,“ rief ich und ergriff ihre Hand.

„Schon gut, schwören Sie nicht, ich weiß ja doch, daß Sie fähig sind, sich wie Pulver zu entzünden. Verübeln Sie es mir nicht, wenn ich Ihnen so etwas sage. Aber wenn Sie wüßten ... Ich habe auch keinen Menschen, mit dem ich ein Wort sprechen oder den ich um Rat fragen könnte. Natürlich sucht man im allgemeinen seine Ratgeber nicht auf der Straße, aber Sie sind eine Ausnahme. Ich kenne Sie schon so gut, als wären wir zwanzig Jahre Freunde. Nicht wahr, Sie sind doch kein Ungetreuer, Sie werden Ihr Versprechen doch halten? ...“

„Sie werden sehen, Sie werden sehen ... nur freilich, wie ich die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben soll, das weiß ich nicht!“

„Schlafen Sie so fest wie möglich. Und nun, gute Nacht – und vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen schon mein Vertrauen geschenkt habe. Aber es war so hübsch, was Sie vorhin sagten, und Sie haben recht, man kann einander doch wirklich nicht über jedes Gefühl Rechenschaft geben, und wenn es auch nur brüderliches Mitgefühl ist! Wissen Sie, das sagten Sie so lieb, daß mir sogleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen ...“

„Ja, aber worin denn?“

„Morgen sag’ ich’s Ihnen. Bis dahin mag es noch mein Geheimnis bleiben. Um so besser für Sie: das Ganze wird so wenigstens wirklich wie ein Roman aussehen. Vielleicht werde ich es Ihnen schon morgen sagen, vielleicht aber auch morgen noch nicht ... Ich werde mit Ihnen vorher noch von anderem sprechen: wir müssen uns erst näher kennen lernen ...“

„Oh, was mich betrifft, so erzähle ich Ihnen morgen meinetwegen alles von mir! Aber was ist das nur? Mir kommt es vor, als geschehe ein Wunder mit mir ... Wo bin ich, mein Gott?! So sagen Sie doch, sind Sie nun wirklich nicht ungehalten darüber, daß Sie mich nicht gleich zu Anfang fortgeschickt haben? Es waren nur zwei Minuten: und Sie haben mich für immer glücklich gemacht. Ja, glücklich! Wer weiß, vielleicht haben Sie mich sogar mit mir selbst versöhnt und alle meine Zweifel aufgehoben ... Vielleicht habe ich Augenblicke ... Ach nein, morgen erzähle ich Ihnen alles, dann werden Sie alles erfahren, alles ...“

„Gut, abgemacht! Und Sie erzählen zuerst.“

„Einverstanden.“

„Dann also auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!“

Wir trennten uns. Ich lief noch die ganze Nacht umher: ich konnte mich nicht entschließen, nach Haus zurückzukehren. Ich war so glücklich ... ich dachte nur an dieses Wiedersehen!

Die zweite Nacht.

„Da hätten wir’s also glücklich überlebt!“ sagte sie zum Gruß und drückte mir lachend beide Hände.

„Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen nicht, wie ich den Tag verbracht habe.“

„Ich weiß, ich weiß ... Doch zur Sache! Was meinen Sie wohl, weshalb ich hergekommen bin? Doch nicht, um solchen Unsinn zu reden, wie gestern! Nein, hören Sie mich an: wir müssen hinfort klüger sein. Ich habe mir das reiflich überlegt.“

„Warum denn, warum denn klüger? Ich meinerseits bin ja gern dazu bereit: nur ist mir sowieso schon in meinem Leben nichts Klügeres geschehen, als gestern ...“

„Wirklich? Aber hören Sie – erstens bitte ich Sie, meine Hände nicht so zu drücken; und zweitens teile ich Ihnen mit, daß ich heute lange über Sie nachgedacht habe.“

„Nun, und? Was war das Ergebnis?“

„Das Ergebnis? Ich kam zu der Einsicht, daß wir von neuem anfangen müssen, denn zum Schluß sagte ich mir doch, daß ich Sie ja noch gar nicht kenne und daß ich mich gestern recht wie ein Kind, wie ein ganz kleines Mädchen benommen habe. Dabei stellte es sich aber heraus, daß an allem natürlich nur mein gutes Herz schuld war, das heißt, ich habe zum Schluß vor mir selbst ordentlich groß getan, wie das ja zu guter Letzt immer geschieht, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft geben. Und deshalb, um den Fehler wieder gutzumachen, habe ich mir vorgenommen, zunächst alles über Sie ganz genau in Erfahrung zu bringen. Da ich nun aber niemand kenne, bei dem ich mich nach Ihnen erkundigen könnte, so müssen Sie selbst mir alles erzählen, aber auch alles und ganz ausführlich. Nun also: was für ein Mensch sind Sie? Schnell – so fangen Sie doch an, erzählen Sie Ihre Geschichte!“

„Geschichte?“ rief ich erschrocken, „meine Geschichte? Aber wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich eine Geschichte habe? Ich habe keine Geschichte ...“

„Ja – Wie haben Sie denn überhaupt gelebt, wenn Sie keine Geschichte haben?“ fragte sie lachend.

„Oh, ganz ohne jede Geschichte! Also, ich habe eben gelebt, für mich allein, wie man bei uns zu sagen pflegt, eben ganz allein, immer allein, vollkommen allein – wissen Sie, was das heißt, ‚allein‘?“

„Aber wie denn: allein? So, daß Sie niemals jemand gesehen haben?“

„O nein, gesehen – das schon. Aber trotzdem war ich immer allein.“

„Ja wie, ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie denn mit keinem Menschen?“

„Strenggenommen – mit keinem einzigen.“

„Aber was sind Sie denn für ein Mensch, erklären Sie mir das doch. Nein! Warten Sie, ich errate es schon von selbst: Sie haben ganz sicher auch eine Großmutter, genau wie ich. Die meinige ist blind, wissen Sie, und nun läßt sie mich ihr Lebtag nicht von sich fort, so daß ich fast schon zu sprechen verlernt habe. Als ich ihr nämlich vor zwei Jahren einen kleinen Streich spielte und sie einsehen mußte, daß sie kein Mittel hatte, solchen Streichen vorzubeugen, da rief sie mich zu sich und steckte mein Kleid mit einer Stecknadel an das ihrige – und so sitzen wir denn seitdem tagaus tagein nebeneinander. Sie strickt ihren Strumpf, obschon sie blind ist; ich muß neben ihr sitzen, nähen oder ihr aus einem Buch vorlesen – ... oh, oft kommt es mir selbst ganz sonderbar vor, daß ich nun schon zwei Jahre lang in dieser Weise angesteckt bin ...“

„Mein Gott, das muß allerdings furchtbar sein! Aber ich, ich habe keine solche Großmutter.“

„Dann begreife ich nicht, wie Sie immer zu Hause sitzen können?“

„Hören Sie, Sie wollten ja wissen, wer ich bin?“

„Allerdings!“

„Im Ernst?“

„Natürlich!“

„Gut. Ich bin also: ein – Typ.“

„Was? Ein Typ? Was für ein Typ?“ fragte das Mädchen verwundert und lachte dann so herzlich, als habe sie ein ganzes Jahr lang nicht gelacht. „Aber ich sehe schon, es ist riesig lustig, sich mit Ihnen zu unterhalten! Warten Sie: dort ist eine Bank, setzen wir uns! Hier geht kein Mensch vorüber, niemand kann uns hören. So, nun fangen Sie an mit Ihrer Geschichte! Denn, daß Sie keine haben, glaube ich Ihnen nicht. Sie haben eine, Sie wollen sie nur nicht erzählen. Aber zuerst sagen Sie mir, was ist ein Typ?“

„Ein Typ? Ein Typ ist ein – Original. Das ist so ein komischer Kauz,“ erklärte ich, und mußte gleichfalls lachen. „Es gibt nun einmal solche – wie soll ich sagen – Charaktere. Sie wissen doch, was ein Träumer ist?“

„Ein Träumer? Natürlich! Ich bin selbst eine Träumerin! Manchmal, wenn man so neben Großmutter sitzt – was kommt einem da nicht alles in den Sinn! Fängt man erst einmal an, zu träumen, so spinnen sich die Träume bald von selbst weiter und da kommt es denn vor, daß ich in der Phantasie einfach einen chinesischen Prinzen heirate ... Mitunter ist es auch ganz gut – zu träumen. Nein, übrigens, weiß Gott! Namentlich wenn man auch noch sein anderes hat, woran man denken kann ...“ schloß das Mädchen unvermittelt und diesmal ziemlich ernst.

„Vortrefflich! Wenn Sie einmal einen chinesischen Prinzen geheiratet haben, dann werden Sie mich vollkommen verstehen! Also hören Sie ... Doch erlauben Sie: ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.“

„Endlich! Es fällt Ihnen wirklich früh ein, danach zu fragen!“

„Mein Gott, ja ... Ich dachte gar nicht daran, ich war auch so schon glücklich ...“

„Ich heiße – Nasstenka.“

„Nasstenka! Nur Nasstenka?“

„Nur! Ist Ihnen denn das noch zu wenig, Sie Unersättlicher?“

„Zu wenig? Oh, im Gegenteil, es ist viel, sehr viel, Nasstenka, Sie gutes kleines Mädchen, Sie, die für mich gleich am ersten Abend zur Nasstenka geworden sind!“

„Das meine ich auch. Nun?“

„Nun ja, also, Nasstenka, dann hören Sie mal zu, was für eine komische Geschichte das ist.“

Ich setzte mich neben sie, machte eine pedantisch ernste Miene und begann, als wäre es eine Vorlesung:

„Es gibt, Nasstenka, wenn Sie das noch nicht wissen, es gibt hier in Petersburg recht merkwürdige Winkel. Es ist, als schiene dorthin niemals die Sonne, die für alle Petersburger leuchtet, sondern eine andere, neue, die gleichsam nur für diese Winkel geschaffen ist, und es ist auch ganz so, als schiene sie auf alles andere in der Welt mit einem ganz anderen, einem besonderen Licht. In diesen Winkeln, liebe Nasstenka, ist es, als rege sich ein ganz anderes Leben, eines, das gar nicht dem gleicht, das uns sonst umgibt, sondern eines, das es nur, wie man meinen sollte, in einem tausend Meilen fernen Reich geben könnte, nicht aber hier bei uns in unserer ernsten, überernsten Zeit. Doch gerade dieses Leben ist nur eine Mischung von etwas rein Phantastischem, glühend Idealem, und zugleich doch – leider, Nasstenka! – trübe Alltäglichem und glatt Gewöhnlichem um nicht zu sagen: bis zur Verzweiflung Gemeinem.“

„Pfui! Großer Gott! Das ist mir mal eine Einleitung! Was werde ich da wohl noch zu hören bekommen?“

„Sie werden zu hören bekommen, Nasstenka – mir scheint, ich werde niemals müde werden, Sie Nasstenka zu nennen – Sie werden hören, daß in diesen Winkeln seltsame Menschen leben – Wesen, die man Träumer nennt. Ein Träumer ist – wenn man es genauer erklären soll – kein Mensch, sondern, wissen Sie, eher so ein gewisses Geschöpf sächlichen Geschlechts. Gewöhnlich lebt der Betreffende irgendwo in einem von aller Welt abgeschlossenen Winkel, als wolle er sich sogar vor dem Tageslicht verbergen, und wenn er sich einmal in seine Behausung zurückgezogen hat, dann wächst er mit ihr zusammen, ungefähr wie eine Schnecke mit ihrem Haus, oder er gleicht wenigstens in der Beziehung jenem merkwürdigen Tiere, das beides zugleich, nämlich sowohl Tier als auch das Haus des Tieres ist und das wir Schildkröte zu nennen pflegen. Was meinen Sie aber, weshalb liebt er so seine vier Wände, die unfehlbar hellgrün angestrichen, öde, trübselig und in einem nahezu unstatthaften Maße verräuchert sind? Weshalb ist dieser komische Mensch, wenn ihn jemand von seinen wenigen Bekannten besucht – übrigens endet es immer damit, daß auch diese wenigen ihn bald vergessen – weshalb ist er dann immer so betreten und verwirrt? Weshalb hat er ein Gesicht, als habe er in seinem einsamen Winkel geradezu ein Verbrechen begangen, als habe er Papiere gefälscht oder Gedichte fabriziert, um sie an eine Zeitschrift zu senden, natürlich mit einem Begleitbrief, in dem er mitteilt, daß der Verfasser gestorben sei und daß er es als Freund für seine heilige Pflicht halte, des Verstorbenen Werke zu veröffentlichen? Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb will das Gespräch zwischen den beiden nie so recht vorwärts kommen und weshalb fällt von den Lippen des plötzlich hereingeschneiten Freundes, der doch sonst stets zu Scherz und Lachen und Gesprächen über das schöne Geschlecht oder über andere angenehme Themata aufgelegt ist, kein einziges Scherzwort? Weshalb fühlt sich dieser neue Freund bei seinem ersten Besuch – denn ein zweiter pflegt in diesem Fall nicht zu folgen – weshalb fühlt auch er sich befangen und weshalb wird er trotz seiner Fähigkeit, geistreich zu sein – das heißt, vorausgesetzt, daß er sie wirklich besitzt – immer einsilbiger beim Anblick der verzweifelten Miene des andern, der sich übermenschlich, doch leider vergeblich anstrengt, das Gespräch zu beleben und zu zeigen, daß auch er eine Unterhaltung zu führen imstande sei und über das schöne Geschlecht zu plaudern? um so wenigstens durch seine Bereitwilligkeit zu allem und jedem die Enttäuschung des Gastes zu mildern, der nun einmal das Pech hat, dorthin geraten zu sein, wohin er nicht gehört! Weshalb greift schließlich der Gast nach seinem Hut und empfiehlt sich schnell mit der Entschuldigung, das ihm plötzlich etwas überaus Wichtiges eingefallen sei, das nicht den geringsten Aufschub dulde? und weshalb befreit er seine Hand so schnell aus der heißen des anderen, der mit tiefster Reue im Herzen noch gutzumachen sucht, was sich nicht mehr gutmachen läßt? Weshalb lacht dann der fortgehende Freund, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat, und weshalb schwört er sich, nie wieder diesen Sonderling aufzusuchen, obschon der im Grunde gar kein so übler Bursche ist? und weshalb kann er seiner Phantasie nicht das kleine Vergnügen versagen: den Gesichtsausdruck des Sonderlings während der Zeit seines Besuches wenigstens entfernt mit demjenigen eines Kätzchens zu vergleichen, das, von unartigen Kindern unter heimtückischen Lockungen eingefangen, tüchtig gepeinigt worden und das endlich unter den Stuhl in einen dunkeln Winkel geflüchtet ist, um sich dort erst einmal das Fell durchzulecken, sein mißhandeltes Schwänzchen mit beiden Vorderpfoten zu waschen und zu putzen und dann noch lange feindselig auf die Natur der Dinge und das Leben überhaupt und ebenso auch auf den Brocken zu blicken, den ihm eine mitleidige Küchenseele von den Leckerbissen der herrschaftlichen Tafel zuwirft?“

„Hören Sie,“ unterbrach mich Nasstenka, die die ganze Zeit verwundert mit großen Augen und halboffenem Mündchen zugehört hatte, „hören Sie: ich begreife ganz und gar nicht, was das alles soll und weshalb Sie gerade mich so sonderbare Dinge fragen? Alles, was ich verstehe, ist nur, daß Sie diese Geschichte zweifellos selbst erlebt haben.“

„Ganz zweifellos,“ versetzte ich mit ernster Miene.

„Nun, wenn es wahr ist, dann fahren Sie fort,“ sagte Nasstenka, „denn jetzt möchte ich sehr gern wissen, wie das endet.“

„Sie wollen wissen, Nasstenka, was er in seinem Winkel denn eigentlich tat, unser Held, oder richtiger, ich, denn der Held des Ganzen bin doch ich, ich selbst mit meiner eigenen bescheidenen Person. Sie wollen wissen, weshalb ich mich durch den unerwarteten Besuch des Bekannten so aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte und wie ein ertappter Sünder errötete, als die Tür sich auftat und weshalb ich den Gast nicht zu empfangen verstand und eine so unglückliche Rolle als Hausherr spielte?“

„Nun ja, selbstverständlich will ich das! Aber hören Sie: Sie erzählen ja sehr schön, doch ließe sich das alles nicht irgendwie weniger „schön“ erzählen? Denn sonst reden Sie ja, als hätten Sie ein Buch vor sich, aus dem Sie ablesen!“

„Nasstenka!“ versetzte ich mit wichtiger und strenger Stimme, während ich mir nur mit Mühe das Lachen verbiß, „liebe Nasstenka, ich weiß, daß ich schön erzähle, aber verzeihen Sie, anders verstehe ich nun einmal nicht zu erzählen. Jetzt, liebe Nasstenka, jetzt gleiche ich dem Geiste des Königs Salomo, der tausend Jahre in einer Truhe unter sieben Siegeln gefangen war und nun von allen sieben Siegeln befreit worden ist. Jetzt, liebe Nasstenka, wo wir uns nach so langer Trennung wiedergefunden haben – denn ich kenne Sie ja schon lange, lange, Nasstenka, weil ich nämlich schon lange jemand suche ... worin zugleich der Beweis dafür liegt, daß ich gerade Sie gesucht habe und daß es uns vom Schicksal vorbestimmt gewesen ist, gerade hier zusammenzutreffen – jetzt haben sich tausend Klappen in meinem Kopf geöffnet und ich muß mein Herz in einen Strom von Worten ausgießen – oder ich ersticke an ihnen. Deshalb bitte ich Sie, mich nicht zu unterbrechen, Nasstenka, und geduldig und ergeben zuzuhören: wenn nicht – dann verstumme ich ...“

„Nein, nein, nein! Das sollen Sie nicht! Erzählen Sie! Ich werde kein Wort mehr sagen!“

„Ich fahre also fort: es gibt, liebe Freundin Nasstenka, es gibt für mich an jedem Tage eine Stunde, die ich ungemein liebe. Das ist die Stunde, in der die Geschäfte, Büros und Kanzleien schließen und die Menschen alle nach Hause eilen, um zu Mittag zu speisen,[2] sich hinzulegen und etwas auszuruhen, und in der die Menschen unterwegs Pläne schmieden für den Abend, die Nacht und die ganze übrige freie Zeit, die ihnen noch verblieben ist. In dieser Stunde pflegt auch unser Held – Sie müssen mir schon erlauben, Nasstenka, von mir in der dritten Person zu erzählen, denn in der ersten würde das alles viel zu unbescheiden klingen – also, in dieser Stunde pflegt auch unser Held, der gleichfalls seine regelmäßige Tagesarbeit hat, mit den anderen Menschen eines Weges zu gehen. Ein seltsames Gefühl des Vergnügens spricht aus seinem blassen, ein wenig erschlafften Gesicht. Nicht teilnahmlos sieht er auf die Abendröte, die am kalten Petersburger Himmel langsam erlischt. Nein, ich lüge, wenn ich sage, daß er sie sieht: er sieht überhaupt nicht, sondern er schaut, und er schaut gleichsam unbewußt, als wäre er müde oder als wären seine Gedanken gleichzeitig mit irgendeinem fernen, anderen, eigenartigen Gegenstande beschäftigt, so daß er schon sehr bald für seine Umgebung kaum noch einen flüchtigen Blick hat, und auch diesen nur bei irgendeinem Zufall, der ihn ablenkt. Er ist beinahe zufrieden, denn er hat bis morgen die lästige Arbeit getan, er ist froh wie ein Schüler, der von der Schulbank kommt und sich nun wieder seinen Lieblingsspielen und Streichen widmen kann. Wenn Sie ihn von der Seite beobachten, Nasstenka, werden Sie sogleich bemerken, daß das frohe Gefühl auf seine angegriffenen Nerven und auf seine krankhaft überreizte Phantasie bereits günstig eingewirkt hat. Seine Gedanken hüllen ihn gleichsam ein. Sie glauben, er denke an sein Mittagessen? An den Abend, der ihm bevorsteht? Was ist es wohl, was er so scharf ins Auge faßt? Ist es etwa jener Herr, der so höflich und doch so pittoresk die Dame grüßt, die in prächtiger Kalesche an ihm vorüberfährt? Nein, Nasstenka, was gehen ihn alle diese kleinlichen Nebensachen an! Er ist jetzt reich in seinem eigenen, seinem ureigensten, besonderen Leben: ganz plötzlich ist er reich geworden und der letzte Strahl der erlöschenden Sonne hat nicht vergeblich so lebenswarm vor ihm geglüht und in seinem erwärmten Herzen eine Fülle von Eindrücken wachgerufen. Jetzt bemerkt er kaum mehr den Weg, auf dem ihm noch kurz vorher jede geringste Kleinigkeit auffallen konnte. Die Göttin Phantasie hat bereits ihr goldenes Netz um ihn gewebt und füllt es nun aus mit den bunten Mustern eines unwillkürlichen und wunderlichen Lebens: und vielleicht – wer kann es wissen? – vielleicht hat sie ihn von dem massiven Granittrottoir, auf dem er nach Hause geht, mit launischer Hand bereits in den siebenten weltfernsten Himmel entführt? Wenn Sie jetzt versuchen wollten, ihn plötzlich anzureden und ihn zu fragen, wo er sich im Augenblick befinde, durch welche Straßen er gegangen – dann würde er ganz entschieden weder das eine noch das andere anzugeben vermögen und wahrscheinlich vor Ärger errötend irgend etwas, das ihm gerade einfällt, verlegen antworten. Deshalb fährt er auch plötzlich so zusammen und blickt sich erschrocken um – nur weil eine alte Frau ihn mitten auf dem Trottoir anhält und ihn nach einer Straße fragt, die sie nicht zu finden weiß. Mit ärgerlich gerunzelter Stirn schreitet er weiter, ohne es zu bemerken, daß von den Vorübergehenden mehr als einer bei seinem Anblick lächelt und mancher ihm sogar nachschaut, und daß ein kleines Mädchen, das ihm ängstlich ausweicht, plötzlich nach Kinderart laut auflacht, da ihren verwundert aufgerissenen Augen sein breites traumverlorenes Lächeln und die halben Gesten seiner Hände so komisch erscheinen. Doch schon hat dieselbe Phantasie in ihrem spielenden Fluge die alte Dame und die neugierig Vorübergehenden und das lachende kleine Mädchen und die Bauernkerle, die auf ihren Booten Abendrast halten, unten auf der Fontanka – nehmen wir an, daß unser Held sich in dem Augenblick an dem Kanalkai befindet – schon hat sie alles mutwillig in ihr Netz eingewebt, wie die Spinne die Fliegen, und mit der neuen Beute betritt der Sonderling seine Behausung, er setzt sich an den Tisch und ißt und beendet die Mahlzeit und kommt nicht früher zu sich, als bis Matrjona, seine ewig trübselige wortkarge Wirtin, nachdem sie alles vom Tisch abgeräumt, ihm seine Pfeife reicht: da erst, wie gesagt, kommt er zu sich und gewahrt mit Verwunderung, daß er bereits gegessen hat, ohne daß es ihm zu Bewußtsein gekommen wäre. Es dunkelt im Zimmer; in seiner Seele ist es leer und traurig. Ein ganzes Reich von Träumen ist rings um ihn eingestürzt – geräuschlos, lautlos, spurlos wie eben nur ein Traum vergehen kann, er wüßte nicht einmal mehr zu sagen, was er gesehen hat. Aber ein dunkles Empfinden, das in seiner Brust sich zu regen beginnt, erweckt allmählich einen neuen Wunsch, umschmeichelt verführerisch seine Einbildungskraft und ruft unmerklich wieder eine ganze Schar neuer Phantome heran. Stille herrscht in seinem kleinen Zimmer: die Einsamkeit und das Nichtstun liebkosen die Phantasie, sie glüht leise auf, eine leise Bewegung hebt in ihr an, wie ein leises Wallen, ähnlich dem Wasser in der Kaffeemaschine der alten Matrjona, die nebenan in der Küche ruhig wirtschaftet und sich ihren Köchinnenkaffee braut: wie lange noch und es beginnt zu brodeln ... Da fällt auch schon das Buch, das mein Träumer zwecklos und unbesehen aus der Reihe herausgegriffen hat, aus seiner Hand, noch bevor er bis zur dritten Seite gelesen. Die Einbildungskraft ist wieder erwacht: und plötzlich ist eine neue Welt, ein neues bezauberndes Leben um ihn herum entstanden. Ein neuer Traum – neues Glück! neues, verfeinertes, süßes Gift! Oh, was liegt ihm an unserem wirklichen Leben! Nach seiner allerdings sehr einseitigen Auffassung leben wir anderen, Nasstenka, ein Leben, das langsam ist, träge und schlaff. In seinen Augen sind wir alle so unzufrieden mit unserem Schicksal und quälen uns so sehr mit unserem Dasein! Und es ist ja auch wahr, sehen Sie nur, wie auf den ersten Blick alles zwischen uns aussieht, wie kalt, düster, unfreundlich, als wäre alles böse, feindselig ... Die Armen! denkt mein Träumer. Und es ist kein Wunder, daß er so denkt! Sie sehen nicht diese Zauberbilder, die so berückend, so verschwenderisch, so uferlos breit aus dem Nichts vor ihm erstehen, Bilder, auf deren Vordergrunde die erste Person, versteht sich, er selbst ist, er, unser Träumer mit seinem teuren Ich. Sie sehen nicht, was für Abenteuer, was für eine unabsehbare Reihe von Geschehnissen er erlebt! Sie fragen: Wovon er denn träumt? Wozu das Fragen? – doch einfach von allem, von allem ... vom Schicksal eines Dichters, der anfangs nicht anerkannt wird, dann aber überall Begeisterung erweckt; von seiner Freundschaft mit E. Th. A. Hoffmann, der Bartholomäusnacht, Diana Vernon, einer heroischen Rolle bei der Einnahme der Stadt Kasan durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch, von einer Bühnengröße, einer Sängerin, von Johannes Huß vor dem Konzil, von der Auferstehung der Toten in „Robert der Teufel“ – kennen Sie die Musik? sie duftet nach dem Friedhof – von Minna und Anderem, von der Schlacht an der Beresina, vom Vortrag eines Gedichts bei der Gräfin W. D., von Danton, Kleopatra ei suoi amanti, einem Häuschen in Kolomna, vom eigenen Winkel in Petersburg, in dem neben ihm ein liebes Geschöpf sitzt, das mit offenem Mündchen und großen Augen an einem Winterabend ihm zuhört – genau so, wie Sie mir jetzt zuhören, mein junges Täubchen ... Nein, Nasstenka, was ist ihm, dem leidenschaftlichen Nichtstuer, was ist ihm jenes irdische Leben, das wir, Nasstenka, so gern einmal leben möchten? Er hält es für ein armes, ein armseliges Leben, das Mitleid verdient, und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht einmal die Stunde schlagen wird, wo er für einen Tag dieses wirklichen Lebens gerne alle seine phantastischen Jahre hingeben würde, und nicht für einen frohen Tag, nicht für einen Tag des Glücks hingeben, nein, er wird nicht einmal wählen dürfen in dieser Stunde der Trauer und Reue und des unabwendbaren Wehs. Doch vorläufig ist diese furchtbare Zeit noch nicht angebrochen – er wünscht nichts, weil er über allen Wünschen steht, weil er ja alles hat, weil er schon übersättigt und selbst der Künstler seines Lebens ist, das er sich zu jeder Zeit nach eigenem Wunsch gestalten kann. Und so leicht, so natürlich ersteht diese phantastische Märchenwelt! als wären das alles gar nicht bloße Hirngespinste! Wirklich, man ist oft zu glauben versucht, daß dieses ganze Leben nicht eine Schöpfung des Gefühls, nicht eine wesenlose Luftspiegelung und trügerische Einbildung, sondern wahrhaftig Wirklichkeit, etwas wirklich Seiendes, ein greifbar Vorhandenes sei! Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb hält man in solchen Augenblicken des unwirklichen Erlebens oft den Atem an? Weshalb – woher kommt es, daß, wie durch eine unerforschliche Zaubermacht, der Puls schneller schlägt, daß Tränen den Augen entströmen, daß die bleichen Wangen des Träumers zu glühen anfangen und sein ganzes Sein von überwältigender Lust erfüllt wird? Weshalb vergehen ganze Nächte, die er in unerschöpflicher Freude und beseligendem Glück schlaflos verbringt, wie ein einziger kurzer Augenblick? Und wenn die Morgenröte rosig durch die Fensterscheiben schimmert und die erste Dämmerung mit ihrem ungewissen phantastischen Licht in das trübselige Zimmer schleicht, und unser Träumer sich ermüdet und erschöpft auf das Bett wirft, und einschlummert – weshalb hat er dann ein Gefühl, als vergehe er vor Entzücken mit seinem ganzen krankhaft erschütterten Geiste, und das mit einem so peinvoll süßen Schmerz im Herzen? Ja, Nasstenka, so täuscht man sich und glaubt als Fremder unwillkürlich, daß eine wirkliche, eine körperliche Leidenschaft unsere Seele errege! Unwillkürlich glaubt man, daß in unseren körperlosen Träumen etwas Lebendiges, Greifbares sei! Und was ist das doch für ein Betrug! Da ist zum Beispiel die Liebe mit ihrer ganzen unerschöpfbaren Freude und ihrer nimmermüden Pein in des Träumers Brust erwacht ... Ein Blick auf ihn genügt, um einen jeden von der Echtheit des Gefühls zu überzeugen. Werden Sie es da glauben, liebe Nasstenka, wenn Sie ihn so sehen, daß er diejenige, die er in seinen verzückten Träumen so rasend liebt, in Wirklichkeit niemals gekannt hat? Aber hat er sie denn nun auch wirklich nur, nur in berückenden Phantasiebildern gesehen? Und hat er diese Leidenschaft wirklich nur – geträumt? Sind sie denn wirklich nicht durch Jahre ihres Lebens Hand in Hand gegangen – zu zweien, ohne sich um die Welt zu kümmern, das eigene Leben mit dem des anderen vereint? War sie denn wirklich nicht zu später Stunde, als er Abschied von ihr nahm, weinend an seine Brust gesunken, ohne auf den Sturm zu achten, der unter dem rauhen Himmel tobte, ohne den Wind zu spüren, der die Tränen an ihren schwarzen Wimpern trocknete? War das denn wirklich alles nur ein Traum im Wachen gewesen – auch der verwilderte einsame Garten mit den grasbedeckten moosigen Wegen, auf denen sie so oft zu zweien wandelten und Hoffnungen aufbauten und sich sehnten und einander liebten, einander so liebten, ‚so bang und süß‘, wie es im alten Liede heißt? Und dieses alte, verwitterte Herrenhaus, in dem sie so lange einsam und traurig leben mußte, mit dem alten finsteren Mann, der, ewig schweigsam und verdrossen, die Liebenden wie ein Schreckgespenst ängstete, sie, die ohnehin schon wie scheue Kinder ihre Liebe voreinander verbargen? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie sich, wie schuldlos und rein war ihre Liebe und wie – das versteht sich von selbst, Nasstenka – wie böse waren die Menschen! Und, mein Gott, hat er sie denn später wirklich nicht, fern von der Heimat, unter einem fremden südlichen Himmel, in einem Palazzo – unbedingt in einem Palazzo – in einer wundervollen ewigen Stadt bei rauschender Musik im Ballsaal wiedergesehen? Sind sie dann nicht auf den Balkon hinausgetreten, den Myrten und Rosen umrankten, und hat sie dort nicht ihre Maske abgenommen und ihm zugeflüstert: ‚Ich bin frei!‘ – und hat er sie da nicht in seine Arme geschlossen, wie toll vor Entzücken, und haben sie sich nicht wirklich aneinander geschmiegt und im Augenblick alles Leid vergessen und die Trennung und alle Qualen und das düstere Haus und den alten Grafen, den verwilderten Garten in der fernen Heimat und die Bank, auf der sie ihm den letzten leidenschaftlichen Kuß gegeben, um sich dann aus seinen Armen zu reißen ... Oh, Sie werden doch zugeben, Nasstenka, daß es da nur natürlich ist, wenn man zusammenfährt und wie ein ertappter Schüler verwirrt errötet, als hätte man soeben einen aus dem Nachbargarten gestohlenen Apfel in die Tasche gesteckt, wenn plötzlich die Zimmertür aufgestoßen wird und irgendein langer, gesunder Bursche, so ein guter, immer fröhlicher Junge, über die Schwelle tritt und mit lachendem Gruß ausruft, als wäre nichts geschehen: ‚Freund, ich komme soeben aus Pawlowsk!‘ Mein Gott! Der alte Graf war gestorben und sie war frei! Unfaßbares Glück brach für uns an. Das sagte und brachte man uns aus Pawlowsk!“

Ich hielt inne, da meine leidenschaftliche Rede zu Ende war. Ich weiß noch, daß ich schreckliche Lust hatte, laut, schallend aufzulachen, gleichsam irgend etwas aus mir herauszulachen, denn ich fühlte, daß in der Tat so ein feindliches Teufelchen sich bereits in mir zu regen begann und mir schon im Halse saß, und daß es mir im Kinn und in den Augenlidern zuckte ...

Natürlich erwartete ich nichts anderes, als daß Nasstenka, die mich mit ihren klugen Augen groß ansah, nun in unbändig lustiges Kinderlachen ausbrechen würde, und ich bereute schon, daß ich so weit gegangen war und etwas erzählt hatte, das ich lange mit mir herumgetragen und deshalb wie aus einem Buch ablesend erzählen konnte. Ich hatte mich seit Jahr und Tag darauf vorbereitet, einmal vor mich selbst wie vor einen Richter zu treten und über mich ein Urteil zu fällen: und da hatte ich mich nun wirklich einmal nicht zu bezwingen vermocht und dieses Urteil gesprochen, jedoch, offen gestanden, ohne zu erwarten, daß ich Verständnis finden würde. Aber zu meiner Verwunderung schwieg sie eine Weile, dann drückte sie mir leise die Hand und fragte mit einer seltsam zartfühlenden Teilnahme:

„Haben Sie wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht?“

„Mein ganzes Leben, Nasstenka,“ antwortete ich, „solange ich auf der Welt bin, und ich glaube, so werde ich es auch beenden.“

„Nein, das geht nicht, das darf nicht geschehen,“ protestierte sie, sichtlich beunruhigt, „und das geschieht auch nicht! Dann wäre es ja ebensogut möglich, daß auch ich mein ganzes Leben bei meiner Großmutter verbringen muß! Hören Sie, wissen Sie auch, daß es gar nicht gut ist, so zu leben?“

„Ich weiß es, Nasstenka, gewiß weiß ich es!“ rief ich, ohne meine Gefühle noch länger zu unterdrücken.

„Und jetzt weiß ich auch besser als je zuvor, daß ich alle meine besten Jahre verloren habe! Ich weiß es, und diese Erkenntnis schmerzt mich mehr als je, denn Gott selbst hat Sie, mein guter Engel, mir geschickt, um mir das zu sagen und zu beweisen. Jetzt, wo ich neben Ihnen sitze und mit Ihnen rede, mutet es mich schon wunderbar an, an meine Zukunft zu denken, denn in dem Leben, das noch vor, mir liegt – sehe ich wieder Einsamkeit, wieder nur dieses muffige, modernde, nutzlose Leben. Und was werde ich dann noch träumen können, das schöner ist als das Leben, nachdem ich doch in der Wirklichkeit hier neben Ihnen so glücklich gewesen bin! Oh, seien Sie dafür gesegnet, Sie liebes Mädchen, daß Sie mich nicht gleich nach dem ersten Wort zurückgestoßen haben und ich jetzt doch schon sagen kann, daß ich wenigstens zwei Abende in meinem Leben gelebt habe!“

„Ach nein, nein!“ rief Nasstenka und Tränen glänzten in ihren Augen. „Nein, so soll es nicht kommen! Wir werden nicht so auseinandergehen! Was sind zwei Abende!“

„Ach, Nasstenka, Nasstenka! Wissen Sie denn überhaupt, daß Sie mich für lange Zeit mit mir selbst versöhnt haben? Wissen Sie, daß ich jetzt nicht mehr so Schlechtes denken werde, wie in manchen früheren Stunden? Wissen Sie, daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber grämen werde, Verbrechen und Sünde in meinem Leben begangen zu haben, denn ein solches Leben ist Verbrechen und Sünde! Und denken Sie nicht, daß ich irgendwie übertrieben habe, um Gottes willen glauben Sie das nicht, Nasstenka! Es kommen Augenblicke, in denen ich solch eine Seelenangst empfinde, solch einen Gram ... In diesen Augenblicken will es mir scheinen – und ich fange schon an, daran zu glauben –, daß ich niemals mehr fähig sein werde, ein wirkliches Leben zu beginnen, denn ich habe schon oft die Empfindung gehabt, als hätte ich jedes Gefühl verloren, und jede Aufnahmefähigkeit der Sinne in allem, was Wirklichkeit, was wirkliches Leben ist! weil ich mich schließlich selbst verflucht habe! weil meinen phantastischen Nächten schon Augenblicke der Ernüchterung folgen, die so furchtbar sind! Und währenddessen hört man, wie rings um einen die Menschenmassen lärmend im Lebensstrudel sich drehen, man hört und sieht, wie Menschen leben – wirklich leben, in der Wirklichkeit und im Wachen leben, und man sieht, daß ihr Leben nicht nach ihrer Willkür entsteht, daß ihr Leben nicht wie ein Traum verflattert, daß ihr Leben sich ewig erneut und ewig jung ist und keine Stunde der anderen gleicht, während die schreckhafte Phantasie, diese unsere Einbildungskraft, so trostlos und verzagt und bis zur Gemeinheit einförmig ist, eine Sklavin des Schattens, der bloßen Idee, eine Sklavin der ersten besten Wolke, die plötzlich die Sonne verdeckt und in wehem Leid das Herz zusammenpreßt, das echte Petersburger Herz, dem seine Sonne so teuer ist! Und erst im Leiden, was für eine Einbildung! Man fühlt, daß sie endlich doch müde wird und sich in der ewigen Anspannung erschöpft, diese scheinbar unerschöpfliche Phantasie, denn man wird reifer und männlicher und wächst über seine früheren Ideale hinaus: sie stürzen ein und es bleibt nur Staub und Schutt von ihnen übrig. Und wenn es dann kein anderes Leben gibt, muß man aus demselben Schutt die Bruchstücke zusammenlesen und aus ihnen sich das neue Leben aufbauen. Und dabei verlangt und sehnt sich die Seele doch nach etwas ganz anderem! Und vergeblich wühlt der Träumer wie in einem Aschenhaufen in seinen alten Träumen und sucht in der Asche nach einem, wenn auch noch so kleinen Fünkchen, um es anzublasen und um mit dem von neuem angefachten Feuer das kaltgewordene Herz zu erwärmen und alles in ihm wieder zu erwecken, was ihm einst so lieb war, was die Seele rührte und das Blut in Wallung brachte, was den Augen Tränen entströmen ließ und eine so herrliche Täuschung war! Wissen Sie auch, Nasstenka, wie weit ich damit schon gekommen bin? Wissen Sie, daß ich bereits das Jubiläum meiner Empfindungen zu feiern gezwungen bin, Gedenktage dessen, was früher so schön war und dabei in Wirklichkeit doch nie gewesen ist – denn diese Jahres- und Gedenktage gelten alle denselben wesenlosen törichten Träumereien – und daß ich das tun muß, weil selbst diesen törichten Träumen nicht mehr neue folgen, die sie verdrängen würden: denn auch Träume müssen verdrängt werden! Von selbst hören sie nicht auf und so überleben sie sich nur. Wissen Sie, ich suche jetzt mit Vorliebe zu bestimmten Stunden jene Stellen auf, an denen ich einmal glücklich gewesen bin, in meiner Art glücklich, und dort versuche ich dann, das Gegenwärtige in der Phantasie nach dem unwiederbringlich Vergangenen zu gestalten oder das Vergangene mir zu vergegenwärtigen: und so irre ich oft wie ein Schatten ziellos und zwecklos in den Petersburger Winkelgassen umher. Und was für Erinnerungen das dann sind! Da erinnere ich mich zum Beispiel, daß ich hier genau vor einem Jahr gerade in derselben Stunde auf demselben Trottoir gegangen bin, ebenso einsam und mutlos traurig umherirrend, wie jetzt! Und man erinnert sich, daß auch die Gedanken damals ebenso traurig waren, und wenn es früher auch nicht besser war, so ist es einem doch, als sei es irgendwie besser gewesen, als habe man ruhiger gelebt, und man meint, daß es nicht dieses dunkle Grübeln gegeben habe, daß einen jetzt verfolgt ... daß ich nicht diese Gewissensbisse gekannt, die so peinvoll und unermüdlich quälen und mir weder am Tage noch in der Nacht Ruhe und Frieden gönnen! Und man fragt sich: wo sind denn deine Träume geblieben? Und schüttelt den Kopf und murmelt: wie schnell die Jahre vergehen! Und wieder fragt man sich: was hast du mit deinen Jahren angefangen? Wo hast du deine beste Zeit begraben? Hast du überhaupt gelebt? oder nicht? Sieh, sagt man zu sich selbst, sieh, wie kalt es in der Welt wird. Es werden noch einige Jahre vergehen und dann kommt die grämliche Einsamkeit, kommt mit der Krücke das zitterige Alter und bringt dir Kummer und Leid. Verbleichen wird deine phantastische Welt, verwelken und sterben werden deine Träume und wie das gelbe Laub von den Bäumen, so werden sie von dir abfallen ... O Nasstenka! Wie wird es dann so öde sein, allein zu bleiben, ganz allein, und nicht einmal etwas zu haben, worum man trauern könnte – nichts, gar nichts ... Denn alles, was man verloren hat, alles das war doch nichts, war eine Null, eine reine Null, war ja nichts als ein Träumen!“

„Nun aber hören Sie auf, rühren Sie mich nicht noch mehr!“ rief Nasstenka und wischte das dumme Tränchen fort, das ihr über die Wange rollte. „Jetzt hat das ein Ende! Wir werden nun nicht mehr allein sein, denn was mit mir auch geschehen sollte, wir werden doch immer Freunde bleiben. Hören Sie. Ich bin ein einfaches Mädchen, ich habe wenig gelernt, obschon die Großmutter mir von einem Lehrer Unterricht erteilen ließ, aber glauben Sie mir, ich verstehe Sie sehr gut, denn alles, was Sie mir da erzählt haben, habe ich selbst erlebt, wenn ich neben Großmutter angesteckt saß. Natürlich hätte ich das nicht so gut zu erzählen verstanden, wie Sie, ich habe das nicht gelernt,“ fügte sie etwas kleinlaut hinzu, da meine pathetische Rede ihr offenbar einen gewissen Respekt eingeflößt hatte, „aber ich bin sehr froh, daß Sie mir alles mitgeteilt haben. Jetzt kenne ich Sie, kenne Sie durch und durch. Und wissen Sie was? Ich will Ihnen nun auch meine Geschichte erzählen, alles, bis aufs Letzte, Sie aber müssen mir dann einen Rat geben. Sie sind ein sehr kluger Mann, ich weiß es, aber werden Sie mir nun versprechen, daß Sie mir nachher auch wirklich Ihren Rat geben?“

„Ach, Nasstenka,“ antwortete ich, „ich bin zwar noch nie ein Ratgeber gewesen, und nun gar ein kluger, wie Sie es von mir verlangen, aber ich sehe jetzt, daß es, wenn wir immer so leben würden, sogar sehr klug wäre und daß der eine dem anderen unzählige kluge Ratschläge erteilen könnte. Nun also, meine reizende Nasstenka, was für einen Rat brauchen Sie? Sagen Sie es mir ohne Umschweife. Ich bin jetzt so heiter, so glücklich, so mutvoll, daß ich wahrscheinlich nicht auf den Mund gefallen sein werde, wie man zu sagen pflegt.“

„Nein, nein!“ fiel mir Nasstenka schnell ins Wort. „Ich brauche keinen klugen Rat, sondern einen von Herzen kommenden, einen aufrichtig brüderlichen, einen, der so ist, wissen Sie, als hätten Sie mich schon ein Leben lang lieb!“

„Gut, Nasstenka, abgemacht!“ rief ich. „Aber wenn ich Sie auch schon ganze zwanzig Jahre geliebt hätte, ich könnte Sie deshalb doch nicht inniger lieben, als ich es jetzt tue!“

„Geben Sie mir Ihre Hand!“ sagte Nasstenka.

„Hier haben Sie sie!“

„Also schön, dann lassen Sie uns jetzt meine Geschichte beginnen.“

Nasstenkas Geschichte.

„Die eine Hälfte meiner Geschichte kennen Sie bereits, das heißt, Sie wissen, daß ich eine alte Großmutter habe ...“

„Wenn die zweite Hälfte nicht länger ist als diese ...“ wandte ich lachend ein.

„Schweigen Sie und hören Sie mir zu. Ganz zuerst eine Abmachung: Sie dürfen mich nicht unterbrechen, sonst machen Sie mich schließlich noch verwirrt. Also, hören Sie jetzt artig zu.

„Ich habe eine alte Großmutter. Zu der kam ich schon als ganz kleines Mädchen, denn meine Eltern starben früh. Ich nehme an, daß Großmutter einmal reicher war, denn sie spricht immer von den früheren besseren Tagen. Sie selbst hat mich denn auch Französisch gelehrt. Später nahm sie einen Lehrer. Als ich fünfzehn Jahre alt war – jetzt bin ich siebzehn – hörte der Unterricht auf. Damals war es also, daß ich ihr meinen Streich spielte. Was ich nun eigentlich verbrach, das werde ich Ihnen nicht sagen; genug, daß es durchaus kein schlimmer Streich war. Immerhin hatte er zur Folge, daß Großmutter mich eines Morgens zu sich rief und sagte, sie könne mich, da sie blind sei, nicht beaufsichtigen, und damit nahm sie dann eine Stecknadel und steckte mein Kleid an das ihrige und erklärte mir, daß wir so unser Leben verbringen würden, wenn ich mich nicht besserte. In der ersten Zeit war mir jede Möglichkeit genommen, mich freizumachem: was ich auch tat, arbeiten und lesen und lernen – alles mußte ich an Großmutters Seite tun. Einmal versuchte ich es mit einer List und beredete Fjokla, sich auf meinen Platz zu setzen. Fjokla ist unsere Magd, und die ist taub. Sie setzte sich also auf meinen Platz, als Großmutter in ihrem Stuhl eingeschlummert war, und ich lief schnell in die Nachbarschaft zu einer Freundin. Das ging aber schlecht aus. Großmutter wachte auf, bevor ich zurück war, und fragte irgend etwas, natürlich im Glauben, daß ich neben ihr säße, denn sie ist ja blind. Fjokla aber, die Großmutter wohl sprechen sah, konnte sie nicht verstehen, da sie doch nichts hört; also denkt und denkt sie, was sie wohl tun soll, steckt dann schnell die Stecknadel ab und kommt mir nachgelaufen ...“

Nasstenka begann zu lachen. Natürlich lachte ich auch. Doch wurde sie gleich wieder ernst.

„Hören Sie, nein, lachen Sie nicht über Großmutter. Ich lache nur deshalb, weil es so komisch war ... Was soll man denn machen, wenn Großmutter wirklich so ist. Trotz allem habe ich sie doch lieb. Nun ja, mich erwartete aber doch eine schöne Strafpredigt: ich mußte mich sofort wieder hinsetzen und wurde von neuem angesteckt und dann: o Gott – nicht rühren durfte ich mich!

„Nun also – ja, da habe ich noch zu sagen vergessen, daß wir, oder vielmehr, daß Großmutter ein kleines Haus besitzt. Es ist ein Holzhäuschen mit nur drei Fenstern in der Front, ein ganz kleines und ebenso alt wie Großmama. Oben aber ist noch ein Zimmer; und in dieses Zimmer zog ein neuer Mieter ein ...“

„Dann hatten Sie also auch früher schon einen Mieter?“ fragte ich beiläufig.

„Nun, natürlich doch,“ versetzte Nasstenka, „und zwar verstand der besser zu schweigen, als Sie. Allerdings konnte er kaum noch die Zunge bewegen. Es war das nämlich ein altes Männlein, harthörig, hager, stumm, blind, lahm, so daß er selbst es schließlich nicht länger aushielt in der Welt und starb. Da ward das Zimmer frei und wir mußten uns nach einem neuen Mieter umsehen, denn die Miete für das Zimmer und Großmutters Pension sind fast unser ganzes Einkommen. Der neue Mieter war aber ein junger Mensch und kein Petersburger. Da er von der Miete nichts abzuhandeln versuchte, nahm ihn Großmutter, als er aber gegangen war, fragte sie mich: ‚Nasstenka, ist der Mieter jung oder alt?‘ Lügen wollte ich nicht und so sagte ich: ‚Ganz jung ist er gerade nicht, Großmama, aber er ist auch kein alter Mann.‘

„‚Und wie sieht er aus? Hat er ein angenehmes Äußere?‘ fragte sie weiter.

„Ich wollte wieder nicht lügen. ‚Ja, Großmutter,‘ sagte ich, ‚er hat ein angenehmes Äußere.‘ Großmutter aber seufzte: ‚Ach, du meine Güte! Das wird dann wohl eine von Gott gesandte Prüfung sein! Ich sage dir das deshalb, mein Enkelkind, damit du ihn dir nicht zu oft ansiehst. Das ist mir jetzt mal eine Zeit! Solch ein armer Zimmermieter und dabei ein angenehmes Äußere! Das war in der alten Zeit ganz anders!‘

„Großmutter spricht nämlich immer von der alten Zeit. Jünger war sie in der alten Zeit und die Sonne schien wärmer in der alten Zeit und die Sahne wurde nicht so schnell sauer in der alten Zeit – alles war in der alten Zeit besser! Da saß ich denn und schwieg, dachte aber bei mir: weshalb bringt denn Großmutter mich selbst darauf, indem sie fragt, ob er gut aussieht und jung ist? Aber das war nur so ein flüchtiger Gedanke, ich begann wieder die Maschen zu zählen und strickte weiter, und darüber vergaß ich dann alles.

„Eines Morgens aber – tritt plötzlich der Mieter bei uns ein: er wolle sich erkundigen, wo die neue Tapete bliebe, die man ihm für das Zimmer versprochen habe. Ein Wort gab das andere. Großmutter ist doch geschwätzig, und da sagt sie denn zu mir: ‚Geh, Nasstenka, in mein Schlafzimmer und hole das Rechenbrett.‘ Ich sprang sogleich auf, das Blut schoß mir ins Gesicht, ich weiß nicht, weshalb – dabei aber vergaß ich ganz, daß ich angesteckt war; statt nun die Nadel heimlich abzustecken, damit der Mieter sie nicht sähe, riß ich so, daß Großmutters ganzer Sessel in die Höhe ruckte. Als ich aber sah, daß der Mieter jetzt alles begriff, wurde ich noch viel röter und blieb wie gelähmt stehen: und plötzlich brach ich in Tränen aus – so schämte ich mich und so bitter war es, daß ich in die Erde hätte versinken mögen! Großmutter aber ruft mir zu: ‚Was stehst du denn, geh doch!‘ Ich aber weinte nur noch mehr ... Da erriet der Mieter, daß ich mich vor ihm schämte, und verabschiedete sich und ging schnell fort!

„Seit jenem Vormittag stand mir, sobald ich nur ein Geräusch im Flur hörte, gleich das Herz still. ‚Vielleicht ist es der Mieter, der zu uns kommt,‘ dachte ich und steckte schnell auf alle Fälle die Nadel ab, heimlich, damit Großmutter es nicht merkte. Nur war es niemals er, – er kam nicht. So vergingen zwei Wochen. Da ließ er uns eines Tages durch Fjokla sagen, daß er viele Bücher habe; und gute Bücher, und ob da nicht Großmutter sich von mir vorlesen lassen wolle, um eine kleine Zerstreuung zu haben? Großmutter nahm das Anerbieten mit Dank an, nur fragte sie mich immer wieder, ob es auch wirklich anständige Bücher wären, ‚denn wenn sie unmoralisch sind,‘ sagte sie, ‚dann darfst du sie unter keinen Umständen lesen, Nasstenka, du würdest nur Schlechtes aus ihnen lernen.‘

„‚Was würde ich denn lernen, Großmama?‘ fragte ich, ‚was steht denn in schlechten Büchern geschrieben?‘

„‚Ja, mein Kind, da wird erzählt, wie junge Männer sittsame Mädchen verführen, wie sie sie unter dem Vorwand, sie heiraten zu wollen, aus dem Elternhause entführen und dann ihrem Schicksal überlassen, und wie die unglücklichen Mädchen zuletzt elend umkommen und zugrunde gehen. Ich,‘ sagte Großmutter, ‚ich habe viele solcher Bücher gelesen und alles,‘ sagte sie, ‚ist so herrlich geschildert, daß man die ganze Nacht heimlich in ihnen liest. Und deshalb, Nasstenka,‘ sagte sie, ‚sieh zu, daß du solche Bücher nicht liest. Was für Bücher sind es denn, die er uns geschickt hat?‘

„‚Es sind Romane von Walter Scott, Großmutter,‘ sagte ich.

„‚Ah, Romane von Walter Scott! Aber sieh vorsichtshalber nach, ob nicht irgendwelche Spitzbübereien darin stecken. Vielleicht hat er einen Liebesbrief oder ein Zettelchen hineingelegt.‘

„‚Nein,‘ sagte ich, ‚es ist kein Zettelchen drin, Großmutter.‘

„‚Sieh mal ordentlich nach, auch unter dem Umschlagrücken; zuweilen stecken sie es dorthin, die Spitzbuben!‘

„‚Nein, Großmutter,‘ sagte ich, ‚auch unter dem Umschlagrücken ist nichts.‘

„‚Nun, Vorsicht kann nie schaden!‘ war ihre Antwort.

„Und so fingen wir denn an, Walter Scott zu lesen, und in etwa einem Monat waren wir fast schon mit der Hälfte der Bücher fertig. Dann schickte er uns wieder neue Bücher, auch Puschkin war darunter, so daß ich ohne Bücher bald gar nicht mehr sein konnte und darüber ganz vergaß, wie früher darüber zu sinnen, wie ich wohl einen chinesischen Prinzen heiraten könnte.

„So standen die Dinge, als der Zufall es einmal fügte, daß ich unserem Mieter auf der Treppe begegnete. Ich mußte für Großmutter etwas holen. Er blieb stehen, ich errötete – und er errötete gleichfalls; aber da lachte er auch schon und begrüßte mich und erkundigte sich nach Großmutters Befinden. Darauf fragte er, ob ich die Bücher schon gelesen hätte. Ich sagte: ‚Ja, ich habe sie gelesen.‘ – ‚Was hat Ihnen denn am besten gefallen?‘ fragte er weiter. Ich sagte: ‚Ivanhoe und Puschkin haben mir am besten gefallen.‘ Und damit war unser Gespräch für diesmal beendet.

„Nach einer Woche begegnete ich ihm wieder auf der Treppe. Nur hatte mich an dem Tage nicht Großmutter geschickt, ich hatte vielmehr selbst etwas nötig. Es war nach zwei Uhr und um diese Zeit kam unser Mieter nach Hause, das wußte ich. ‚Guten Tag!‘ sagte er. ‚Guten Tag!‘ erwiderte ich.

„‚Ist es Ihnen nicht langweilig, den ganzen Tag bei der Großmutter zu sitzen?‘ fragte er.

„Wie er das fragte, da – ich weiß nicht, weshalb – errötete ich wieder und ich schämte mich und seine Worte kränkten mich – wohl deshalb, weil nun schon andere mich nach meiner Lebensweise bei Großmutter zu fragen begannen. Ich wollte fortgehen, ohne ihm zu antworten, aber ich hatte keine Kraft zum Gehen.

„‚Sie sind ein gutes Mädchen,‘ sagte er darauf. ‚Entschuldigen Sie, bitte, daß ich so zu Ihnen spreche, aber, ich versichere Ihnen, ich wünsche Ihnen vielleicht mehr Gutes, als Ihre Großmutter es zu tun scheint. Haben Sie keine Freundinnen, die Sie besuchen könnten?‘

„Ich sagte, ich hätte jetzt keine, denn Maschenka, meine einzige Freundin, wäre nach Pskow gereist.

„‚Wollen Sie nicht einmal mit mir ins Theater fahren?‘ fragte er mich darauf.

„‚Ins Theater?‘ fragte ich, ‚aber was soll denn Großmutter –?‘

„‚Nun,‘ meinte er, ‚Sie brauchen es ihr ja nicht zu sagen, – kommen Sie heimlich ...‘

„‚Nein,‘ sagte ich, ‚ich will Großmutter nicht betrügen. Guten Tag!‘

„Er grüßte nur, sagte aber nichts. Am Nachmittag, wir hatten gerade erst gespeist, kam er plötzlich zu uns. Er setzte sich, unterhielt sich mit Großmutter, erkundigte sich, ob sie nicht zuweilen auch ausfahre, ob sie Bekannte habe – plötzlich aber sagte er: ‚Ich habe für heute eine Loge genommen, im Opernhaus; der Barbier von Sevilla wird gegeben, aber meine Bekannten, mit denen ich die Vorstellung besuchen wollte, sind plötzlich verhindert, und da sitze ich nun mit meinem Billett.‘

„‚Der Barbier von Sevilla!‘ rief Großmutter, ‚ist das etwa derselbe Barbier, den man in der alten Zeit gab?‘

„‚Ja,‘ sagte er, ‚es ist derselbe Barbier,‘ und dabei sah er mich an. Ich aber hatte schon alles begriffen und errötete und mein Herz hüpfte in Erwartung!

„‚Aber den kenne ich ja!‘ rief Großmutter, ‚wie sollte ich den nicht kennen! Ich habe doch in meiner Jugend auf der Hausbühne die Rosine gespielt!‘

„‚Würden Sie dann nicht heute abend die Oper einmal wieder hören wollen?‘ fragte er. ‚So fände auch mein Billett noch eine Verwendung, sonst hätte ich es unnütz gekauft.‘

„‚Nun, meinetwegen, fahren wir,‘ sagte Großmutter, ‚weshalb sollten wir nicht?! Meine Nasstenka ist ja auch noch niemals im Theater gewesen.‘

„Mein Gott, war das eine Freude! Wir kleideten uns an und dann fuhren wir. Großmutter ist zwar blind, aber sie wollte doch wenigstens die Musik hören: und dann, wissen Sie, sie ist eine gute alte Frau: sie wollte hauptsächlich mir das Vergnügen gönnen, denn ohne seine Aufforderung wären wir wohl niemals in die Oper gekommen. Wie der Eindruck war, den der Barbier von Sevilla auf mich machte – nun, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, das können Sie sich schon ohnehin denken. Den ganzen Abend sah er mich mit so guten Augen an und sprach so freundlich zu mir: und ich erriet gleich, daß er mich auf der Treppe nur hatte prüfen wollen, als er mich aufforderte, allein mit ihm ins Theater zu fahren. Da freute ich mich denn, daß ich ihm so geantwortet hatte! Und als ich zu Bett ging, war ich so stolz, so froh und mein Herz schlug so stark, daß ich sogar ein wenig fieberte, und die ganze Nacht träumte mir vom Barbier von Sevilla.

„Ich dachte natürlich, unser Mieter werde jetzt öfter zu uns kommen – aber da täuschte ich mich. Er kam fast gar nicht mehr. Nur so, etwa einmal im Monat sprach er vor, und auch das nur, um uns aufzufordern, mit ihm ins Theater zu fahren. Zweimal fuhren wir auch noch – nur wollte mir diese Art gar nicht gefallen. Ich sah ein, daß ich ihm einfach nur leid tat, weil ich bei Großmutter tagaus tagein angesteckt sitzen mußte: weiter war es nichts. Und je länger sich das so fortsetzte, um so mehr kam es über mich: ich saß und versuchte zu lesen und zu arbeiten, aber ich konnte weder sitzen, noch lesen, noch arbeiten. Zuweilen lachte ich und stellte irgend etwas an, worüber Großmutter sich ärgern mußte. Dann wieder war ich den Tränen nahe oder weinte auch wohl wirklich. Zu guter Letzt wurde ich fast krank. Die Opernsaison war zu Ende und unser Mieter hörte nun ganz auf, zu uns zu kommen. Wenn wir einander aber begegneten – immer auf der Treppe, natürlich – da grüßte er nur so ernst und schweigend und ging an mir vorüber, als wolle er überhaupt nicht mit mir sprechen. Und wenn er schon längst oben war, stand ich immer noch auf der Treppe, rot wie eine Kirsche, denn das Blut stieg mir sofort ins Gesicht, sobald ich ihn nur erblickte.

„Meine Geschichte ist gleich zu Ende. Gerade vor einem Jahr, im Mai, kam unser Mieter nach langer Zeit wieder einmal zu uns und sagte der Großmutter, daß er seine Geschäfte hier erledigt habe und wieder auf ein Jahr nach Moskau fahren müsse. Wie ich das hörte, erbleichte ich und sank auf einen Stuhl – ich glaubte, vergehen zu müssen. Großmutter merkte nichts davon, er aber verabschiedete sich kurz und ging.

„Was sollte ich tun? Ich dachte und dachte und marterte mein Gehirn und grämte mich, bis ich endlich doch einen Entschluß faßte. Morgen fährt er, dachte ich, und so beschloß ich, noch an demselben Abend, sobald Großmutter eingeschlafen wäre, meinen Vorsatz auszuführen. So geschah es auch. Ich band, was ich an Kleidern und Wäsche nötig hatte, in ein Bündel, und mit dem Bündel in der Hand, mehr tot als lebendig, ging ich nach oben zu unserem Mieter. Ich glaube, ich brauchte eine volle Stunde, um die Treppe hinaufzusteigen. Als ich aber die Tür zu seinem Zimmer öffnete, da sprang er auf und sah mich an, als hielte er mich für ein Gespenst. Doch das dauerte nur einen Augenblick. Dann griff er nach dem Wasserglase und stand auch schon neben mir und gab mir zu trinken, denn ich hielt mich kaum auf den Füßen. Mein Herz schlug so, daß es mir im Kopf weh tat und meine Sinne sich verwirrten. Als ich aber wieder zu mir kam, tat ich nichts weiter, als daß ich mein Bündel auf sein Bett legte, mich daneben setzte, das Gesicht mit den Händen bedeckte und in eine Flut von Tränen ausbrach. Ich glaube, da begriff er im Augenblick alles, denn er stand vor mir und war bleich und sah mich so traurig an, daß es mir das Herz zerriß.

„‚Hören Sie,‘ begann er, ‚hören Sie, Nasstenka, ich kann nicht! Ich bin ganz arm, ich habe vorläufig noch nichts, nicht einmal eine Stellung: wie sollten wir denn leben, wenn ich Sie heiratete?‘

„Wir sprachen lange. Schließlich war ich ganz fassungslos und sagte, ich könne nicht länger bei Großmutter bleiben, ich würde von ihr fortlaufen und ich wolle nicht, daß man mich mit einer Stecknadel anstecke: sobald er nur einwillige, wollte ich mit ihm nach Moskau gehen, da ich ohne ihn nicht mehr leben könne. Scham und Liebe und Stolz – alles brach da zugleich aus mir hervor: und fast wie in einem Weinkrampf sank ich aufs Bett. Ich fürchtete mich so vor einer Zurückweisung!

„Er schwieg eine Weile, dann stand er auf, trat zu mir und ergriff meine Hand.

„‚Hören Sie, meine gute, meine liebe Nasstenka!‘ begann er, und seine Stimme bebte vor Tränen, ‚hören Sie mich an. Ich schwöre Ihnen, wenn ich jemals in der Lage sein werde, zu heiraten, so sollen Sie mein Glück ausmachen. Ich versichere Ihnen, nur Sie allein könnten es. Doch hören Sie weiter: ich fahre jetzt nach Moskau und werde dort ein Jahr bleiben. Ich hoffe, mir in dieser Zeit ein Auskommen zu schaffen. Wenn ich dann, nach einem Jahr, zurückkehre und Sie mich noch liebhaben, so werden wir glücklich sein, das schwöre ich Ihnen. Jetzt jedoch ist es unmöglich, ich besitze nichts und ich habe kein Recht, auch nur irgend etwas zu versprechen. Sollte ich aber in einem Jahr noch nicht so weit sein, so werden wir noch etwas länger warten müssen, einmal aber werden wir unser Ziel erreichen – natürlich nur dann, wenn Sie nicht einem andern den Vorzug geben, denn binden will ich Sie mit keinem Wort, das kann ich nicht und darf ich nicht.‘

„So sprach er damals zu mir und am nächsten Tage fuhr er fort. Vorher aber sprachen wir uns noch aus und beschlossen, der Großmutter nichts zu sagen. Er wollte es so. Nun, und ... meine Geschichte ist fast zu Ende. Es ist jetzt genau ein Jahr vergangen. Er ist zurückgekehrt, er ist schon ganze drei Tage hier und ... und ...“

„Und – was?“ fragte ich gespannt.

„... Und ist bis jetzt noch nicht gekommen!“ schloß Nasstenka, indem sie sich mit aller Gewalt zusammennahm, „kein Wort von ihm, kein Brief ...“

Sie stockte, schwieg ein wenig, senkte den Kopf und plötzlich brach sie, die Hände vor das Gesicht schlagend, in Tränen aus und weinte so verzweifelt, daß es mir das Herz zerriß.

Eine solche Lösung hatte ich nicht erwartet.

„Nasstenka!“ sagte ich mit aller Güte und Teilnahme in der Stimme. „Nasstenka, um Gottes willen, so weinen Sie doch nicht so! Woher wissen Sie es denn? Vielleicht ist er noch gar nicht hier ...“

„Doch, doch, er ist hier!“ bestätigte sie eifrig, „ich weiß es. Wir trafen damals noch eine Verabredung, an jenem Abend vor seiner Abreise – als wir uns ausgesprochen und uns alles gesagt hatten, was ich Ihnen soeben erzählt habe, da kamen wir hierher und spazierten hier auf und ab. Es war zehn Uhr und wir saßen auf dieser Bank. Ich weinte nicht mehr, es war mir so süß, zu hören, was er zu mir sprach ... Er sagte, er werde sogleich nach seiner Ankunft zu uns kommen, und wenn ich mich dann nicht von ihm lossagte, würden wir alles der Großmutter mitteilen. Jetzt aber ist er zurückgekehrt, ich weiß es, und zu uns ist er nicht gekommen, nicht gekommen!“

Und wieder brach sie in Tränen aus.

„Mein Gott! Kann man Ihnen denn nicht irgendwie helfen?“ rief ich und sprang in meiner Ratlosigkeit von der Bank auf. „Sagen Sie, Nasstenka, könnte ich nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen?“

„Ginge denn das?“ fragte sie, plötzlich aufschauend.

„Nein, eigentlich nicht, natürlich nicht! ... Aber hören Sie: schreiben Sie ihm einen Brief.“

„Nein, das ist unmöglich, das geht erst recht nicht!“ versetzte sie schnell, senkte jedoch das Köpfchen und sah mich nicht an.

„Weshalb denn nicht? Weshalb sollte es unmöglich sein?“ fuhr ich fort, denn mein Plan begann mir zu gefallen. „Die Frage ist nur: was für einen Brief! Zwischen Brief und Brief ist ein Unterschied und ... Ach, Nasstenka, vertrauen Sie mir doch! Ich will Ihnen keinen schlechten Rat geben. Es läßt sich das wirklich machen, glauben Sie mir! Sie haben doch den ersten Schritt getan – weshalb wollen Sie denn jetzt nicht ...“

„Nein, nein, es geht nicht, es geht wirklich nicht! Damals habe ich mich schon fast – aufgedrängt ...“

„Ach, Sie Kind!“ unterbrach ich sie, ohne mein Lächeln zu verbergen, „nein, da irren Sie sich. Und schließlich haben Sie dazu das volle Recht, da er Ihnen sein Wort gegeben hat. Übrigens scheint er auch, wie ich aus allem ersehe, ein durch und durch anständiger Mensch zu sein,“ fuhr ich fort und ließ mich von der Logik meiner Folgerungen und Schlüsse mehr und mehr gefangennehmen. „Wie hat er denn an Ihnen gehandelt? Er hat sich durch sein Versprechen gebunden. Er hat gesagt, daß er nur Sie heiraten werde, sobald er erst einmal so weit sein würde; Ihnen dagegen hat er volle Freiheit gelassen, so daß Sie, wenn Sie wollen, jeden Augenblick sich von ihm lossagen können ... Folglich dürfen Sie jetzt ruhig den ersten Schritt tun, denn er hat Ihnen in allem das Vorrecht überlassen – ganz gleich, ob es sich nun um die Rückgabe des bindenden Wortes handelt, oder um etwas anderes ...“

„Sagen Sie – wie würden Sie an meiner Stelle schreiben?“

„Was?“

„Nun, diesen Brief an ihn.“

„Ich? – Oh, ganz einfach: ‚Sehr geehrter Herr ...‘“

„Muß man unbedingt so anfangen?“

„Unbedingt. Übrigens, haben Sie etwas dagegen einzuwenden? Ich denke ...“

„Nein, nein, schon gut! Weiter!“

„Also: ‚Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie, daß ich ...‘ Übrigens nein, Entschuldigungen sind überflüssig. Hier erklärt ja schon die Tatsache alles. Also einfach: ‚Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine Ungeduld, aber ich war ein ganzes Jahr lang so glücklich, da ich immer in meiner Hoffnung lebte – woher sollte ich jetzt wohl die Geduld nehmen, auch nur einen Tag der Ungewißheit zu ertragen? Jetzt, wo Sie schon zurückgekehrt sind und mich doch noch nicht aufgesucht haben, muß ich annehmen, daß Sie Ihre Absicht inzwischen aufgegeben haben. In dem Fall soll dieser Brief Ihnen nur sagen, daß ich nicht klage und Ihnen keinen Vorwurf mache. Wie sollte ich auch, denn es ist doch nicht Ihre Schuld, wenn ich Ihr Herz nur für eine kurze Zeit zu fesseln vermocht habe. Dann ist es eben mein Schicksal ... Sie sind ein vornehm denkender Mensch und Sie werden über meine ungeschickten Zeilen weder lächeln noch sich ärgern. Aber trotzdem – vergessen Sie nicht, daß ein armes Mädchen an Sie schreibt, daß sie ganz allein ist und keinen Menschen hat, dem sie sich anvertrauen und der ihr Rat erteilen könnte, und daß sie auch nie verstanden hat, ihr Herz zu bezwingen. Doch seien Sie mir nicht böse, wenn es unrecht von mir gewesen sein sollte, auch nur für einen Augenblick in meiner Seele Zweifel gehegt zu haben. Ich weiß, daß Sie nicht einmal in Gedanken diejenige zu kränken vermögen, die Sie so geliebt hat und noch liebt.‘“

„Ja, ja! So habe ich es mir auch schon gedacht!“ rief Nasstenka und ihre Augen glänzten vor Freude. „Oh, Sie haben mich von allen meinen Ungewißheiten erlöst! Gott selbst hat Sie mir gesandt! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!“

„Wofür? Dafür, daß Gott mich zu Ihnen gesandt hat?“ fragte ich und betrachtete entzückt ihr freudestrahlendes Gesichtchen.

„Ja, meinetwegen dafür!“

„Ach, Nasstenka! Wir sind doch wirklich manchen Menschen nur dafür dankbar, daß sie mit uns leben oder überhaupt nur leben. Ich zum Beispiel bin Ihnen ganz unendlich dankbar dafür, daß Sie mir begegnet sind und daß ich nun mein Leben lang an Sie werde denken können.“

„Nun, schon gut, genug! Aber jetzt – Sie wissen ja noch gar nicht alles – also hören Sie: Damals verabredeten wir, daß er sogleich nach seiner Rückkehr mir eine Nachricht zukommen lassen solle, und zwar durch meine Bekannten: gute, einfache Leute, die von all dem nichts wissen; falls er aber nicht schreiben könne, da sich in einem Brief doch oft nicht alles sagen läßt, so sollte er gleich am ersten Tage um Punkt zehn Uhr abends hierher kommen, wo wir uns dann treffen wollten. Daß er in Petersburg bereits angekommen ist, das weiß ich; aber jetzt ist er bereits seit drei Tagen hier und bis jetzt habe ich weder einen Brief von ihm erhalten, noch ist er selbst gekommen. Am Tage ist es mir nicht möglich, unbemerkt von Großmutter fortzugehen. Deshalb – oh, seien Sie so gut und geben Sie jenen Leuten, von denen ich sprach, meinen Brief – sie werden ihn weiterbefördern. Wenn aber eine Antwort von ihm eintrifft, so bringen Sie sie mir um zehn Uhr abends hierher – ja?“

„Aber der Brief, der Brief! Zuerst muß doch der Brief noch geschrieben werden! Sonst kann ich das allenfalls erst übermorgen besorgen.“

„Der Brief ...“ Nasstenka sah etwas verwirrt zu Boden, „der Brief ... ja aber ...“

Sie stockte und sprach nicht zu Ende, wandte das Gesichtchen, das wie eine Rose erglühte, von mir fort, und plötzlich fühlte ich in meiner Hand einen Brief – einen geschlossenen und natürlich nicht erst ganz vor kurzem geschriebenen Brief. Und zugleich – der Schalk rief eine Erinnerung in mir wach – klang mir plötzlich eine reizende graziöse Melodie im Ohr und –

„Ro–osi–ina!“ sang ich.

„Oh! ‚Ro–o–osi–i–ina!‘“ sangen wir beide, und ich war nahe daran, sie vor lauter Wonne in meine Arme zu schließen, während sie noch heftiger errötete und durch Tränen lachte, die wie Tautropfen silbern an ihren Wimpern glänzten.

„Nun, genug, genug! Jetzt leben Sie wohl!“ sagte sie schnell. „Den Brief haben Sie, und auf dem Umschlag steht die Adresse, dort geben Sie ihn ab. Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen: morgen!“

Sie drückte mir fest beide Hände, nickte mir noch einmal zu und huschte wie ein Schatten in ihre kleine Querstraße. Ich stand noch lange auf demselben Fleck und sah ihr nach.

„Auf Wiedersehen: morgen! Morgen!“ fuhr es mir durch den Sinn, als sie meinen Blicken entschwunden war.

Die dritte Nacht.

Heute war ein trauriger regnerischer Tag, so grau und trüb und lichtlos – ganz wie das Alter, das mir bevorstand. Und jetzt bedrücken mich so seltsame Gedanken, so dunkle Empfindungen, und Probleme, die mir selbst noch völlig unklar sind, drängen sich in meine Gedanken – und dabei habe ich doch weder die Kraft noch den Wunsch, sie zu lösen. Nun, das ist auch eigentlich nicht meine Sache!

Heute haben wir uns nicht gesehen. Als wir gestern Abschied nahmen, zogen schon dunkle Wolken auf und Nebel erhob sich. Ich sagte noch: „Morgen werden wir einen trüben Tag haben“. Sie antwortete darauf nichts – was hätte sie auch antworten sollen? Für sie war dieser Tag hell und klar und kein Wölkchen würde auf ihr Glück einen Schatten werfen.

„Wenn es regnet, werden wir uns nicht sehen,“ sagte sie endlich, „dann komme ich nicht.“

Ich dachte, sie werde den Regen heute gar nicht bemerkt haben, aber sie kam doch nicht.

Gestern sahen wir uns zum drittenmal – es war unsere dritte helle Nacht ...

Indessen – wie doch Freude und Glück einen Menschen schön machen! Wie atmet im Herzen die Liebe! Es ist, als wolle man sein ganzes Herz in ein anderes Herz überströmen lassen, man will, daß alles froh sei! daß alles lache! Und wie ansteckend ist diese Freude! Gestern war in ihren Worten soviel Zärtlichkeit und in ihrem Herzen soviel Güte zu mir ... Wie aufmerksam sie war, wie nett, wie freundlich und lieb! wie sie mich ermunterte und mein Herz erquickte! Oh, wieviel süße Schelmerei vor lauter Glück! Und ich ... Ich nahm alles für bare Münze und dachte, daß sie ...

Mein Gott, wie konnte ich nur so etwas denken? Wie konnte ich so blind sein, wo ich doch wußte, daß alles schon einem anderen gehörte und wo ich mir doch hätte sagen müssen, daß all ihre Zärtlichkeit und Liebe ... ja, ihre Liebe zu mir – nichts anderes war, als ein Ausdruck ihrer Freude über das bevorstehende Wiedersehen mit ihm und ihr Wunsch, an diesem Glücke auch mich teilnehmen zu lassen, oder es einfach auf mich zu übertragen? ... Als er aber nicht kam und wir vergeblich warteten, da ward sie doch traurig und bekümmert und verzagt. Ihre Bewegungen und ihre Worte waren nicht mehr so leicht und gleichsam beflügelt, nicht mehr so ausgelassen lustig. Doch sonderbarerweise verdoppelte sie dann ihre Aufmerksamkeit und Freundlichkeit gegen mich, und es war mir, als wolle sie alles, was sie für sich wünschte und worum sie bangte, weil es vielleicht für sie nie in Erfüllung gehen würde, unwillkürlich wenigstens mir schenken. Und zitternd für ihr eigenes Glück, voll Angst und Sehnsucht begriff sie endlich, daß auch ich liebte, daß ich sie liebte, und etwas wie Mitleid mit meiner armen Liebe ergriff sie. Denn wenn wir selbst unglücklich sind, dann können wir das Unglück anderer besser nachfühlen, und das Gefühl zerstreut sich nicht so, sondern sammelt sich ...

Ich kam zu ihr mit vollem Herzen, nachdem ich die Stunde des Wiedersehens kaum hatte erwarten können. Ich ahnte aber noch nicht, was ich in dieser Stunde empfinden würde, und ebensowenig sah ich voraus, wie anders alles enden sollte. Sie strahlte vor Freude, denn sie erwartete die Antwort. Und die Antwort, die sollte er selbst bringen ... daß er auf ihren Ruf unverzüglich zu ihr eilen würde – davon war sie fest überzeugt. Sie war schon eine ganze Stunde vor mir zur Stelle. Anfangs lachte sie über alles, fast über jedes Wort, das ich sprach. Ich wollte weitersprechen, doch plötzlich – schwieg ich.

„Wissen Sie, weshalb ich so froh bin?“ fragte sie, „– und mich so freue, Sie zu sehen? – weshalb ich Sie heute so liebe?“

„Nun?“ fragte ich und mein Herz bebte.

„Ich liebe Sie, weil Sie sich nicht in mich verliebt haben. Ein anderer zum Beispiel hätte doch an Ihrer Stelle angefangen, mich zu beunruhigen und zu belästigen und hätte geseufzt und den Kranken gespielt, Sie aber sind so nett und lieb!“

Und sie drückte meine Hand so fest, daß ich fast aufgeschrien hätte. Und dann lachte sie wieder.

„Mein Gott! was sind Sie doch für ein Freund!“ fuhr sie nach einer Weile sehr ernst fort. „Ich glaube wirklich, daß Gott selbst Sie mir gesandt hat. Was würde wohl aus mir werden, wenn Sie jetzt nicht bei mir wären? Wie uneigennützig Sie sind! und mit wieviel Güte Sie mich lieben! Wenn ich verheiratet bin, werden wir gute Freunde sein – wie Brüder. Ich werde Sie fast ebenso lieben, wie ihn ...“

Das tat mir weh und im Augenblick empfand ich schmerzvolle Trauer, doch zugleich regte sich auch so etwas wie ein Lachen in meiner Seele.

„Sie sind unruhig,“ sagte ich, „die Angst sitzt Ihnen im Herzen, denn Sie fürchten innerlich doch, daß er nicht kommen wird.“

„Gott mit Ihnen! – wäre ich weniger glücklich, so würden Ihr Unglaube und Ihre Vorwürfe mich wahrscheinlich zum Weinen bringen. Übrigens haben Sie mich auf einen Gedanken gebracht, über den ich noch lange grübeln kann. Doch das werde ich nachher tun; jetzt aber will ich Ihnen gestehen, daß Sie die Wahrheit erraten haben. Ja! Ich bin irgendwie nicht – ich selbst. Ich bin in der Tat eigentlich nichts als Erwartung und fühle und höre und nehme alles nur so von ungefähr ... Doch genug davon, reden wir nicht mehr von Gefühlen ...“

Da plötzlich hörten wir Schritte und aus der Dunkelheit kam uns ein Fußgänger entgegen. Wir zuckten beide zusammen, sie hatte fast aufgeschrien. Ich zog meinen Arm zurück, auf dem ihre Hand lag, und machte eine Wendung, um unauffällig fortzugehen. Doch wir täuschten uns: es war ein Fremder, der ruhig vorüberging.

„Was fürchten Sie? Weshalb zogen Sie Ihren Arm zurück?“ fragte sie, indem sie wieder meinen Arm nahm. „Was ist denn dabei? Wir werden ihm Arm in Arm entgegengehen. Ich will, daß er sieht, wie wir einander lieben.“

„Wie wir einander lieben!“ rief ich.

– „Oh, Nasstenka, Nasstenka!“ dachte ich im stillen, „wie viel du mit diesem Wort gesagt hast! Bei solcher Liebe, Nasstenka, kann das Herz wohl erfrieren ... und die Seele ist dann tottraurig ... Deine Hand ist kühl, Nasstenka, meine aber ist heiß wie Feuer. Wie blind du bist, Nasstenka! ... Oh! wie unerträglich kann doch ein glücklicher Mensch zuweilen sein! Aber dir böse sein: das könnte ich doch nicht! ...“

Schließlich war mein Herz so voll von alledem, daß ich sprechen mußte, ob ich wollte oder nicht.

„Hören Sie, Nasstenka!“ rief ich, „wissen Sie, was heute den ganzen Tag mit mir gewesen ist?“

„Nun, was, was denn? Erzählen Sie schnell! Warum haben Sie denn bis jetzt geschwiegen!“

„Erstens, Nasstenka, als ich alle Ihre Aufträge erfüllt, den Brief bei Ihren guten Leuten abgegeben hatte, da ... da ging ich nach Hause und legte mich schlafen ...“

„Und das war alles?“ unterbrach sie mich lachend.

„Ja, fast alles,“ versetzte ich, mich schnell zusammennehmend, denn die dummen Tränen wollten mir mit Gewalt in die Augen treten. „Ich erwachte erst eine Stunde vor dem von uns verabredeten Wiedersehen, aber es war mir, als hätte ich gar nicht geschlafen. Ich weiß nicht, was mit mir war. Und als ich herkam, da war es, als käme ich nur, um Ihnen das alles zu erzählen. Es war, als sei die Zeit für mich stehengeblieben, als müßte eine Empfindung, ein einziges Gefühl von nun an ewig mich beherrschen, als müßte ein Augenblick eine ganze Ewigkeit währen und als sei das ganze Leben in mir stehen geblieben ... Als ich erwachte, da war es mir, als erinnerte ich mich eines musikalischen Motivs, das ich einmal vor langer Zeit gehört und inzwischen vergessen haben mochte. Und es schien mir, als habe es sich schon mein Leben lang aus meiner Seele hervordrängen wollen, und jetzt erst ...“

„Ach, mein Gott!“ unterbrach mich Nasstenka, „wie kommt denn das? Ich begreife kein Wort.“

„Ach, Nasstenka! Ich wollte Ihnen diesen seltsamen Eindruck irgendwie wiedergeben ...“ begann ich mit trauriger Stimme, in der sich aber doch noch Hoffnung verbarg, wenn auch nur eine ganz entfernte.

„Schon gut, hören Sie auf, schon gut, schon gut!“ sagte sie schnell – in einem Augenblick hatte sie alles erraten, die Schelmin!

Sie ward sehr gesprächig und lustig und sogar unartig. Sie nahm meinen Arm, lachte, erzählte, wollte unbedingt, daß auch ich zu lachen anfinge, und jedes verwirrte Wort von mir rief bei ihr ein helles und übermütiges Lachen hervor ... Ich fing an, mich zu ärgern, und plötzlich begann sie zu kokettieren.

„Hören Sie mal,“ hub sie an, „ein wenig ärgert es mich doch, daß Sie sich gar nicht in mich verliebt haben. Da werde einer jetzt klug aus den Menschen! Immerhin, mein unbezwingbarer Herr, müssen Sie doch wenigstens das anerkennen, daß ich so harmlos und offenherzig bin. Ich sage Ihnen alles, alles, gleichviel was für eine Dummheit mir gerade durch den Kopf fährt.“

„Da! Hören Sie? Es schlägt elf,“ sagte ich, als fernher der erste gemessene Schlag der Turmuhr erklang.

Sie blieb stehen, ihr Lachen war verstummt, sie zählte jeden Schlag.

„Ja, elf,“ sagte sie endlich etwas zaghaft und unschlüssig.

Ich bereute sogleich, daß ich sie unterbrochen und die Schläge hatte zählen lassen. Und ich verwünschte mich ob der Bosheit, die mich angewandelt. Es tat mir leid um sie, und ich wußte nicht, wie ich mein Vergehen gutmachen sollte. Ich versuchte, sie zu trösten und Gründe für sein Fernbleiben zu suchen. Ich führte verschiedene Beispiele an, bewies und folgerte: und wirklich ließ sich niemand leichter überzeugen, als sie in diesem Augenblick, wie ja wohl ein jeder unter solchen Umständen mit Freuden jeden Trost anhören und selbst noch für den Schatten einer Rechtfertigung dem anderen dankbar sein würde.

„Ja, und überhaupt,“ fuhr ich fort, indem ich mich immer mehr für ihn einsetzte, und dabei selbst sehr eingenommen von der Klarheit meiner Beweise war, „er konnte ja heute noch gar nicht kommen. Sie haben Ihre Erwartung und Unruhe auch auf mich übertragen, Nasstenka, so daß auch ich die Zeitschätzung ganz vergaß ... Bedenken Sie doch nur: er hat ja kaum erst den Brief erhalten können! Nehmen wir jetzt an, daß er verhindert ist, persönlich zu erscheinen, und daß er schreiben wird – dann können Sie den Brief doch gar nicht früher bekommen, als morgen. Ich werde in aller Frühe hingehen und Sie dann sogleich benachrichtigen. Und überdies können wir ja noch tausend andere Wahrscheinlichkeiten annehmen – sagen wir zum Beispiel: er ist nicht zu Hause gewesen, als der Brief kam, und er hat ihn vielleicht bis jetzt noch nicht gelesen. Es ist doch alles möglich.“

„Ja, ja!“ pflichtete mir Nasstenka schnell bei, „ich habe daran gar nicht gedacht, natürlich ist alles möglich,“ bestätigte sie mit bereitwillig nachgiebiger Stimme, aus der aber doch, wie eine ärgerliche kleine Dissonanz, ein anderer ferner Gedanke herauszuhören war.

„Dann bleibt es dabei und wir machen es so: Sie gehen morgen möglichst früh zu jenen guten Leuten, und wenn Sie dort etwas erhalten, so benachrichtigen Sie mich unverzüglich. Sie wissen doch, wo ich wohne?“ Und sie nannte mir ihre Adresse.

Dann wurde sie mit einemmale so zärtlich zu mir, und dabei schien sie doch eine gewisse Schüchternheit anzuwandeln ... Scheinbar hörte sie mir auch aufmerksam zu ... als ich mich aber mit einer Frage an sie wandte, da schwieg sie und kehrte verwirrt das Köpfchen von mir fort. Ich beugte mich ein wenig vor, um ihr ins Gesicht zu sehen – und wahrhaftig: so war’s: sie weinte.

„Nun, nun! Ist’s möglich? Ach, was für ein Kind Sie sind! Was für ein kleines unvernünftiges Kind! ... Hören Sie doch auf! ... Worüber weinen Sie denn?“

Sie versuchte, zu lächeln und sich zu beherrschen, aber ihr Gesicht zuckte und ihre Brust wogte immer noch.

„Ich habe nur über Sie nachgedacht,“ sagte sie nach längerem Schweigen. „Sie sind so gut, daß ich von Stein sein müßte, wenn ich das nicht herausfühlte. Wissen Sie, was mir soeben in den Sinn kam? Ich verglich Sie beide. Warum ist er – nicht Sie? Warum ist er nicht so wie Sie? Er ist schlechter, als Sie und doch liebe ich ihn mehr, als ich Sie liebe.“

Ich antwortete nichts. Sie aber wartete, wie es schien, auf eine Bemerkung von mir.

„Selbstverständlich ist es möglich, daß ich ihn vielleicht nicht ganz verstehe, und ich kenne ihn ja auch noch gar nicht so gut. Aber wissen Sie, es ist mir, als hätte ich ihn immer ein wenig gefürchtet. Er war immer so ernst und so ... wie stolz. Natürlich, ich weiß ja, das war nur der äußere Schein. In seinem Herzen ist sogar noch mehr Zärtlichkeit, als in meinem ... Ich weiß noch, wie er mich damals ansah – wissen Sie, als ich mit meinem Bündel zu ihm kam ... Aber doch ist es so, als stellte ich ihn irgendwie gar zu hoch, und das ist dann doch wieder so, als wären wir einander nicht gleich, nicht ebenbürtig?“

„Nein, Nasstenka,“ sagte ich, „das bedeutet nur, daß Sie ihn mehr als alles andere in der Welt lieben, und sogar viel mehr als sich selbst.“

„Ja, nun gut, mag das so sein,“ entgegnete Nasstenka naiv, „aber wissen Sie, was mir jetzt wieder in den Sinn gekommen ist? Nur werde ich jetzt nicht mehr von ihm sprechen, sondern im allgemeinen – ich habe darüber eigentlich schon lange nachgedacht. Hören Sie also und sagen Sie mir: warum sind wir nicht alle wie Brüder zueinander? Warum kommt es einem selbst beim besten Menschen immer vor, als verberge er etwas vor dem anderen und verschweige es ihm? Warum sagt nicht ein jeder ganz offen, was er gerade auf dem Herzen hat, wenn man weiß, daß man seine Worte nicht in den Wind spricht? Jetzt schaut ein jeder drein, als sei er viel kälter und schroffer, als er es in Wirklichkeit ist, und es ist fast, als fürchteten die Menschen, sich etwas zu vergeben, wenn sie ihre Gefühle ohne weiteres voreinander äußerten ...“

„Ach, Nasstenka! Sie haben gewiß recht, aber das geschieht doch aus sehr verschiedenen Gründen,“ versetzte ich, während ich mich gerade in diesem Augenblick mehr denn je zusammennahm und meine innersten Gefühle verbarg.

„Nein, nein!“ widersprach sie mir mit tiefer Überzeugung. „Sie zum Beispiel sind nicht so wie die anderen! Ich ... verzeihen Sie, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, was ich empfinde, aber es scheint mir, daß Sie ... zum Beispiel jetzt, gerade jetzt ... ja, es scheint mir, daß Sie mir ein Opfer bringen,“ sagte sie fast zaghaft und ihr Blick streifte mich dabei flüchtig. „Verzeihen Sie mir, daß ich so zu Ihnen spreche. Ich bin ein einfaches Mädchen und habe noch wenig gesehen im Leben, und wirklich: ich verstehe mich oft gar nicht richtig auszudrücken,“ fügte sie mit einer Stimme hinzu, die von einem verborgenen Gefühl zitterte, während sie sich zu einem Lächeln zwang, „aber ich wollte Ihnen doch sagen, daß ich Ihnen dankbar bin und daß ich dies selbst weiß und empfinde ... Oh, möge Gott Sie dafür glücklich machen! Das aber, was Sie mir damals von Ihrem Träumer erzählten, das ist ja gar nicht wahr! – ich meine: das hat doch nichts mit Ihnen zu tun! Sie werden gesund werden, und überhaupt – Sie sind doch ein ganz anderer Mensch, als wie Sie sich selbst geschildert haben. Sollten Sie aber einmal lieben, dann gebe Gott Ihnen alles Glück! Derjenigen aber, die Sie lieben, brauche ich nichts mehr zu wünschen, denn mit Ihnen wird sie ohnehin glücklich sein! Ich weiß es, ich bin selbst ein Weib, und darum können Sie mir glauben, wenn ich es Ihnen sage ...“

Sie verstummte und wir tauschten einen herzlichen Händedruck. Auch ich war zu erregt, um noch sprechen zu können. Wir schwiegen beide.

„Ja, heute wird er nicht mehr kommen,“ sagte sie endlich und hob den Kopf. „Es ist zu spät ...“

„Er wird morgen kommen,“ sagte ich in festem, überzeugtem Tone.

„Ja,“ sagte sie munter, „ich sehe es jetzt selbst ein, daß es heute noch zu früh war, und daß er erst morgen kommen wird. Nun, dann also auf Wiedersehen: morgen! Wenn es regnet, werde ich vielleicht nicht kommen. Aber übermorgen – übermorgen werde ich bestimmt kommen, und Sie – kommen Sie gleichfalls unbedingt. Ich will Sie sehen, ich werde Ihnen dann alles erzählen.“

Und als wir uns verabschiedeten, reichte sie mir die Hand und sagte, indem sie mir mit klarem Blick in die Augen sah:

„Von nun an werden wir doch immer beisammen bleiben, nicht wahr?“

Oh! Nasstenka, Nasstenka! Wenn du wüßtest, wie einsam ich jetzt bin!

Als es aber am anderen Abend neun schlug, da hielt ich es in meinem Zimmer nicht mehr aus: ich kleidete mich an und ging trotz des Regenwetters. Ich war dort und saß auf der Bank. Nach einer Weile stand ich auf und ging in ihre Gasse, dann aber schämte ich mich und zwei Schritte vor ihrem Hause kehrte ich wieder um, ohne nach ihren Fenstern hinaufgesehen zu haben. Ich kam in einer Stimmung nach Hause, wie ich sie bisher noch nie erlebt hatte. Wie feucht, wie öde, wie langweilig! Wäre das Wetter schön, sagte ich mir, dann würde ich die ganze Nacht lang dort umhergehen ...

Doch bis morgen, bis morgen! Morgen wird sie mir alles erzählen.

Immerhin mußte ich mir sagen, daß er auf ihren Brief nicht geantwortet hatte: wenigstens heute nicht. Doch übrigens, so ist es ja auch ganz in der Ordnung. Was sollte er auch schreiben? – Er wird ja selbst kommen ...

Die vierte Nacht.

Mein Gott, daß es so enden würde, so!

Ich kam um neun Uhr. Sie war bereits da. Ich erblickte sie schon von weitem: sie stand wie damals, als ich sie zum ersten Male sah, damals, am Kai, und stützte sich auf das Geländer und hörte nicht, wie ich mich ihr näherte.

„Nasstenka!“ rief ich sie an, kaum fähig, meine Erregung zu bezwingen.

Sie fuhr zusammen und wandte sich schnell nach mir um.

„Nun,“ sagte sie, „nun? Schneller!“

Ich sah sie verständnislos an.

„Geben Sie mir den Brief! Sie haben doch den Brief gebracht?!“ Ihre Hand griff nach dem Geländer.

„Nein, ich habe keinen Brief,“ sagte ich langsam. „Ist er denn noch nicht hier gewesen?“

Sie ward unheimlich blaß und sah mich lange starr an. Ich hatte ihre letzte Hoffnung vernichtet.

„Gott mit ihm!“ sagte sie endlich mit stockender Stimme und zuckenden Lippen. „Gott mit ihm, wenn er mich so verläßt ...“

Sie schlug die Augen nieder – wollte dann zu mir aufsehen, vermochte es aber nicht. Eine Weile stand sie noch und meisterte ihre Erregung, dann wandte sie sich plötzlich fort, stützte die Ellenbogen auf das Geländer und brach in Tränen aus.

„Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich!“ suchte ich sie zu trösten, doch hatte ich beim Anblick ihres Kummers nicht mehr die Kraft, fortzufahren – und was sollte ich ihr denn auch sagen?

„Suchen Sie nicht mich zu trösten,“ sagte sie weinend, „reden Sie nicht von ihm, sagen Sie nicht, daß er noch kommen wird, und es nicht wahr sei, daß er mich so grausam verlassen habe, so unmenschlich grausam, wie er es getan! Und warum, warum? Sollte denn wirklich etwas Schlechtes in meinem Brief gewesen sein, in diesem unseligen Brief? ...“

Erneutes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Ich glaubte, mein Herz müsse brechen vor Mitleid.

„Oh, wie unmenschlich grausam das ist!“ begann sie wieder.

„Und keine Zeile, kein Wort! Wenn er doch wenigstens geantwortet hätte, geschrieben, daß er mich nicht brauche, daß er mich nicht wolle! Aber so – nicht eine Zeile, nicht ein Wort in den ganzen drei Tagen! Wie leicht es ihm fällt, mich zu kränken, ein armes schutzloses Mädchen zu verletzen, dessen einzige Schuld nur darin besteht, ihn zu lieben! Oh, was ich in diesen drei Tagen durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott! Wenn ich denke, daß ich das erstemal ungerufen, ungebeten zu ihm gegangen bin, daß ich mich vor ihm erniedrigt habe, geweint, daß ich ihn um ein wenig, nur ein wenig Liebe gebeten ... Und jetzt das! ... Nein, wissen Sie,“ – sie wandte sich mir wieder zu und ihre dunklen Augen sprühten – „es ist ja nicht möglich! Es kann doch nicht so sein! Das ist doch unmenschlich! Entweder habe ich mich getäuscht – oder Sie! Vielleicht hat er den Brief gar nicht erhalten? Vielleicht weiß er bis jetzt noch nichts von ihm? Anders ist es doch nicht möglich, urteilen Sie doch selbst, sagen Sie mir, um Gottes willen, erklären Sie mir – ich kann es nicht begreifen – wie kann man einen Menschen so barbarisch roh behandeln, wie er mich behandelt hat! Kein einziges Wort auf meinen Brief! Selbst mit dem unwürdigsten Menschen geht man doch mitleidiger um! Oder – oder sollte ihm jemand etwas über mich erzählt haben?“ wandte sie sich plötzlich an mich. „Wie? was meinen Sie?“

„Wissen Sie was, Nasstenka: ich werde morgen zu ihm gehen, in Ihrem Namen.“

„Und?“

„Und ich werde ihn einfach fragen und ihm alles erzählen.“

„Und dann?“

„Und Sie schreiben ihm einen Brief. Sagen Sie nicht nein, Nasstenka, sagen Sie nicht nein! Ich werde ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu achten, er soll alles erfahren, und wenn er ...“

„Nein, mein Freund, nein!“ fiel sie mir ins Wort. „Lassen Sie es gut sein. Von mir wird er weiter kein Wort hören, kein Wort. Ich kenne ihn nicht mehr, ich liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ... ver ... ges ... sen ...“

Sie sprach nicht weiter.

„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich hier auf die Bank, Nasstenka,“ redete ich ihr zu und führte sie ein paar Schritte weiter, auf die Bank zu ...

„Ich bin ja ruhig. Schon gut. Das ist nun einmal so. Diese Tränen – die werden schon versiegen! Was glauben Sie denn – daß ich mich umbringen werde, mich etwa ertränken werde? ...“

Mein Herz war zum Zerspringen voll. Ich wollte sprechen, aber ich konnte nicht.

„Hören Sie!“ fuhr sie fort und sie ergriff meine Hand. „Sagen Sie: Sie würden doch nicht so gehandelt haben? Sie würden doch nicht dem Mädchen, das selbst zu Ihnen gekommen ist, weil es sein schwaches dummes Herz nicht zu meistern verstand – mit einem Hohnlachen antworten? Sie würden sie doch sicherlich geschont haben? Sie würden sich doch sagen, daß sie allein stand? daß sie vom Leben noch nichts wußte und daß sie sich nicht in acht zu nehmen und vor der Liebe zu Ihnen zu bewahren verstand, und daß das Ganze nicht ihre Schuld ist ... daß sie nichts getan hat ... O mein Gott! mein Gott!“

„Nasstenka!“ rief ich, unfähig, meine Erregung noch langer zurückzuhalten, „Nasstenka, Sie martern mich! Sie zerreißen mein Herz, Sie töten mich, Nasstenka! Ich kann nicht länger schweigen! Ich muß endlich sprechen, muß es aussprechen, was hier aus meinem Herzen heraus muß.“

Während ich das sagte, erhob ich mich von der Bank. Sie nahm meine Hand und sah mich verwundert an.

„Was ist mit Ihnen?“ fragte sie schließlich.

„Lassen Sie mich alles sagen, Nasstenka!“ bat ich entschlossen. „Erschrecken Sie nicht, Nasstenka, was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist alles Unsinn, ist unmöglich und dumm! Ich weiß, daß es sich niemals verwirklichen wird, aber ich kann nicht länger schweigen – bei allem, was Sie jetzt leiden, beschwöre ich Sie und bitte ich Sie, mir im voraus zu verzeihen! ...“

„Aber was, was ist es denn?“ Sie hatte schon aufgehört, zu weinen, und sah mich unverwandt an. In ihren erstaunten Augen lag eine seltsame Neugier. „Was haben Sie nur?!“

„Es ist ja unmöglich, Nasstenka, ich weiß es, aber ich – ich liebe Sie, Nasstenka! Das ist es! So, jetzt ist alles gesagt! ... Jetzt wissen Sie, ob Sie so zu mir sprechen dürfen, wie Sie es soeben taten, und auch, ob Sie das anhören dürfen, was ich Ihnen noch sagen will ...“

„Ja was ... was denn? ... Was ist denn dabei? Ich weiß es doch schon lange, daß Sie mich lieben, es schien mir nur immer, daß Sie mich bloß – so ... einfach irgendwie – liebhätten ... Ach Gott!“

„Anfangs war es auch einfach so, Nasstenka, jetzt aber, jetzt! ... mit mir ist es ebenso wie mit Ihnen, als Sie damals mit Ihrem Bündelchen zu ihm gingen. Nein, ich bin noch schlimmer daran, als Sie, Nasstenka, denn er liebte damals niemand. Sie aber lieben ...“

„Was sagen Sie mir da! Ich ... ich verstehe Sie nicht. Aber, hören Sie, warum denn das ... oder, nein, wozu denn das alles, und so plötzlich ... Gott! Was für Dummheiten ich rede! Aber Sie ...“

Nasstenka geriet vollends in Verwirrung, ihre Wangen färbten sich purpurn und sie sah zu Boden.

„Was soll ich denn tun, Nasstenka, was soll ich denn? Ich bin schuld, ich habe da irgend etwas mißbraucht ... Oder nein! nein, Nasstenka, ich habe keine Schuld, Nasstenka. Ich fühle das, ich spüre es, denn mein Herz sagt mir, daß ich kein Unrecht tue, ich kann Sie doch damit nicht kränken oder gar beleidigen! Ich war Ihr Freund; nun, und auch jetzt bin ich Ihr Freund – ich habe nichts verraten und habe keine Treulosigkeit begangen. Da sehen Sie, da rollen mir die Tränen über die Wangen, Nasstenka. Mögen sie rollen, mögen sie – sie stören niemanden. Von selbst werden sie wieder versiegen, Nasstenka ...“

„Aber so setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“ Und sie wollte mich förmlich zwingen, mich hinzusetzen. „Ach, mein Gott!“

„Nein, Nasstenka, ich will nicht sitzen. Ich kann jetzt nicht mehr lange bleiben und Sie werden mich auch nicht wiedersehen: ich werde Ihnen alles sagen – und dann gehe ich. Sie hätten es nie erfahren, daß ich Sie liebe. Ich hätte mein Geheimnis zu bewahren gewußt und hätte nicht angefangen, Sie jetzt in dieser Stunde mit mir und meinem Eigennutz zu quälen. Nein! Aber ich – ich habe es doch nicht ausgehalten! Sie fingen an, davon zu sprechen, Sie sind schuld, Sie sind an allem schuld, ich aber bin unschuldig. Sie können mich nicht so von sich stoßen ...“

„Aber nein, nein, ich schicke Sie ja gar nicht fort, nein!“ beteuerte Nasstenka, und sie gab sich die größte Mühe, ihre Verwirrung zu verbergen.

„Nicht? wirklich nicht? Und ich wollte schon von Ihnen fortlaufen. Ich werde auch fortgehen, nur muß ich vorher alles sagen, denn als Sie hier sprachen, als Sie hier weinten und vor mir standen mit Ihrer Qual, und das, weil ... nun, weil – ich werde es aussprechen, Nasstenka –, weil man Sie verschmäht, da fühlte ich, daß in meinem Herzen soviel Liebe für Sie ist, Nasstenka, soviel Liebe! ... Und es tat mir so bitter weh, daß ich Ihnen mit dieser Liebe nicht helfen konnte, daß mir das Herz darüber schier brechen wollte, und ich, ich ... konnte nicht mehr schweigen, ich mußte sprechen, Nasstenka, ich mußte sprechen! ...“

„Ja, ja! schon gut! Sprechen Sie nur, sprechen Sie ruhig so zu mir!“ sagte Nasstenka plötzlich mit einer unerklärbaren Bewegung. „Es wird Sie vielleicht in Erstaunen setzen, daß ich Ihnen das sage, aber ... sprechen Sie nur! Ich werde es Ihnen nachher erklären. Ich werde Ihnen alles erzählen!“

„Ich tue Ihnen leid, Nasstenka, Sie haben einfach nur Mitleid mit mir, Kind! Nun! Was verloren ist, ist verloren. Was man gesagt hat, läßt sich nicht zurücknehmen. Nicht wahr? Nun also, Sie wissen jetzt alles. Dies wäre unser Ausgangspunkt. Nun gut: so weit wäre alles erledigt, jetzt hören Sie weiter. Als Sie hier saßen und weinten, da dachte ich bei mir, – ach, bitte, Nasstenka, lassen Sie mich sagen, was ich dachte! – ich dachte, daß Sie ... daß Sie da irgendwie ... nun, mit einem Wort: daß Sie auf irgendeine Weise aufgehört hätten, ihn zu lieben. Dann – das habe ich auch gestern schon gedacht, Nasstenka, und auch vorgestern schon – dann würde ich es unbedingt so gemacht haben, daß Sie mich liebgewonnen hätten. Sie sagten doch, Sie selbst haben es doch gesagt, daß Sie mich fast schon liebhätten. Nun, und – was nun weiter? Ja, das ist nun fast alles, was ich sagen wollte. Zu sagen bliebe nur noch, was dann wäre, wenn Sie mich nun wirklich liebgewönnen: nur das! Also hören Sie, meine Freundin – denn meine Freundin sind Sie deshalb doch nach wie vor –: ich bin natürlich nur ein einfacher Mensch, bin arm und gering, doch handelt es sich ja nicht darum – ich weiß nicht, ich rede immer von ganz anderen Dingen, aber das kommt nur von der Verwirrung, Nasstenka –, nur würde ich Sie so lieben, Nasstenka, so lieben, daß Sie, auch wenn Sie ihn, den ich nicht kenne, immer noch weiter lieben sollten, doch nie merken würden, daß meine Liebe Ihnen irgendwie lästig wäre. Sie würden bloß spüren, würden bloß in jeder Minute fühlen, daß neben Ihnen ein dankbares, oh, so dankbares Herz schlägt, ein heißes Herz, das für Sie ... Ach, Nasstenka, Nasstenka! Was haben Sie aus mir gemacht!!!“

„Aber so weinen Sie doch nicht, ich will nicht, daß Sie weinen!“ sagte Nasstenka und stand schnell von der Bank auf. „Gehen wir, kommen Sie, weinen Sie nicht, so weinen Sie doch nicht!“ Und sie wischte mit ihrem Tüchlein über meine Wangen. „So, gehen wir jetzt. Ich werde Ihnen vielleicht etwas sagen ... Wenn er mich schon verlassen und vergessen hat, so ... obschon ich ihn noch liebe – ich kann Ihnen das nicht verheimlichen und will Sie nicht täuschen – aber hören Sie, und dann antworten Sie mir. Wenn ich zum Beispiel Sie liebgewönne, das heißt, wenn ich nur ... Oh, mein Freund, mein guter Freund! wenn ich bedenke, wie ich Sie gekränkt und wie weh ich Ihnen getan haben muß, als ich Sie dafür lobte, daß Sie sich nicht in mich verliebt hätten! O Gott! Ja wie konnte ich nur das nicht voraussehen, wie konnte ich nur so dumm sein, wie ... aber ... Nun ... nun gut, ich habe mich entschlossen, und ich werde Ihnen alles sagen ...“

„Hören Sie, Nasstenka, wissen Sie was? Ich werde jetzt fortgehen von Ihnen, das wird das beste sein. Ich sehe doch, ich quäle Sie nur. Da machen Sie sich jetzt Gewissensbisse, weil Sie sich über mich lustig gemacht haben, ich will aber nicht, daß Sie außer Ihrem Leid ... Ich bin natürlich schuld daran, Nasstenka, also – leben Sie wohl!“

„Nein, bleiben Sie, hören Sie mich zuerst an: können Sie warten?“

„Warten? Worauf warten?“

„Ich liebe ihn; aber das wird vergehen, das muß vergehen, das kann gar nicht – nicht vergehen; es vergeht schon, ich fühle es schon jetzt ... Wer weiß, vielleicht wird es noch heute ganz vergehen, denn ich hasse ihn, weil er sich über mich lustig gemacht hat, während Sie hier mit mir geweint haben ... und Sie, Sie hätten mich auch nicht so verstoßen, wie er es getan, denn Sie lieben wirklich, er aber hat mich überhaupt nicht geliebt, – und dann weil ich Sie ... schließlich selbst liebe ... Ja, liebe! so liebe, wie Sie mich lieben. Ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt, Sie haben es schon gehört, – ich liebe Sie, weil Sie besser sind, als er, weil Sie anständiger sind, als er, weil ... weil er ...“

Ihre Stimme versagte vor Erregung, sie legte ihren Kopf an meine Schulter, beugte ihn aber immer mehr, bis er an meiner Brust lag: und dann begann sie bitterlich zu weinen. Ich tröstete, ich streichelte sie, ich redete ihr zu, aber sie vermochte sich nicht zu beherrschen; sie drückte meine Hand und stammelte unter Schluchzen: „Warten Sie, warten Sie noch ein wenig. Es wird gleich vergehen ... ich höre ja schon auf ... Ich will Ihnen nur sagen ... denken Sie nicht, daß diese Tränen ... das ist nur so – von der Schwäche, warten Sie, bis es vergeht ...“

Endlich versiegten die Tränen, sie richtete sich auf, wischte noch die letzten Tränenspuren von den Wangen und wir gingen. Ich wollte sprechen, aber sie bat mich immer wieder, ihr noch ein wenig Zeit zum Nachdenken zu lassen. So schwiegen wir denn ... Endlich nahm sie sich zusammen und begann:

„Also hören Sie,“ sagte sie mit schwacher und unsicherer Stimme, aus der aber plötzlich ein eigenes Gefühl klang und mein Herz so traf, daß es wie in einem süßen Schmerz erzitterte. „Denken Sie nicht, daß ich unbeständig und leichtsinnig sei, oder daß ich so schnell und leicht vergessen könne und untreu werde ... Ich habe ihn ein ganzes Jahr geliebt und ich schwöre bei Gott, daß ich niemals, niemals auch nur mit einem Gedanken ihm untreu gewesen bin. Er aber hat das mißachtet: er hat sich mit mir nur einen Scherz erlaubt – Gott mit ihm! Aber es hat mich doch verletzt und mein Herz gekränkt. Ich ... ich liebe ihn nicht mehr, denn ich kann nur das lieben, was gütig ist, großmütig, was mich versteht und was anständig ist; denn ich selbst bin so, er aber ist meiner unwürdig, – nun, noch einmal, Gott mit ihm! Es ist besser so, als wenn ich später erfahren hätte, wie er eigentlich ist ... Also – jetzt hat das ein Ende! Und wer weiß, mein guter Freund,“ fuhr sie fort, indem sie mir die Hand drückte, „wer weiß, vielleicht war meine ganze Liebe nur eine Gefühlstäuschung oder nur Einbildung, vielleicht begann das alles mit ihm nur aus Unart, weil ich dieses eintönige Leben führte und ewig an Großmutters Kleid angesteckt war? Vielleicht ist es mir bestimmt, einen ganz anderen zu lieben, einen, der mehr Mitleid mit mir hat und ... und ... Nun, lassen wir das, reden wir nicht mehr davon,“ unterbrach sich Nasstenka stockend und atemlos vor Erregung, „ich wollte Ihnen nur sagen ... ich wollte Ihnen sagen, wenn Sie, obwohl ich ihn liebe – nein, geliebt habe, – wenn Sie mir trotzdem sagen ... Ich meine, wenn Sie fühlen und glauben ... Ihre Liebe sei so groß, daß sie die frühere aus meinem Herzen verdrängen könnte ... wenn Sie soviel Mitleid mit mir haben und mich jetzt nicht allein meinem Schicksal überlassen wollen, ohne Trost und Hoffnung, wenn Sie mich vielmehr immer so lieben wollen, wie Sie mich jetzt lieben, so – schwöre ich Ihnen, daß meine Dankbarkeit ... daß meine Liebe Ihrer Liebe wert sein wird ... Wollen Sie daraufhin meine Hand nehmen?“

„Nasstenka!!“ Ich glaube, Jauchzen und Tränen erstickten meine Stimme. „Nasstenka! ... Oh, Nasstenka! ...“

„Schon gut, schon gut! Nun lassen Sie es genug sein!“ sagte sie schnell, in augenscheinlicher Hast, und sich nur mit Mühe beherrschend. „Jetzt ist alles gesagt, nicht wahr? Ja? Nun, und Sie sind jetzt glücklich und ich bin glücklich, also wollen wir weiter kein Wort mehr davon sprechen! Warten Sie ... schnell, erbarmen Sie sich – sprechen Sie von irgend etwas anderem, um Gottes willen! ...“

„Ja, Nasstenka, ja! Genug davon, ich bin jetzt glücklich, ich ... Gut, Nasstenka, gut, sprechen wir von etwas anderem, schnell, schnell! ja! Ich bin bereit.“

Und wir wußten beide nicht, wovon wir sprechen sollten, wir lachten und weinten und sprachen tausend Worte ohne Gedanken und Zusammenhang. Bald gingen wir auf dem Trottoir auf und ab, bald über die Straße hinüber und blieben stehen, bald kehrten wir wieder um und gingen zum Kai: wir waren wie die Kinder ...

„Ich lebe allein, Nasstenka,“ sagte ich einmal, „aber ... Nun, ich bin, versteht sich, Sie wissen es ja, Nasstenka, ich bin arm, ich bekomme jährlich nur tausendzweihundert Rubel, aber das macht ja nichts ...“

„Natürlich nicht, und Großmutter hat ihre Pension, so braucht sie von uns nichts. Wir müssen doch Großmutter zu uns nehmen.“

„Natürlich, die Großmutter müssen wir zu uns nehmen ... Aber meine Matrjona ...“

„Ach ja, und wir haben ja auch noch Fjokla!“

„Matrjona ist eine gute Seele, nur einen Fehler hat sie: sie hat nämlich gar kein Vorstellungsvermögen, Nasstenka, gar keines, Nasstenka, sie begreift nur, was sie aus Erfahrung kennt. Aber auch das schadet nichts ...“

„Natürlich nicht, die können beide zusammen leben. Nur müssen Sie schon morgen zu uns kommen.“

„Wie das? Zu Ihnen? Gut, ich bin bereit ...“

„Sie mieten einfach bei uns. Wir haben doch oben noch ein Zimmer: das steht jetzt leer. Wir hatten eine Mieterin, eine alte Frau, eine Adlige, aber sie ist ausgezogen und abgereist, und Großmama will nun, das weiß ich, einen jungen Mann zum Mieter haben. Ich fragte sie: ‚Warum denn gerade einen jungen Mann?‘ Darauf sagte sie: ‚Es ist doch immer besser, man ist auch sicherer, und ich bin schon alt. Du brauchst deshalb nicht zu glauben, Nasstenka, daß ich dich mit ihm verheiraten will.‘ Da wußte ich denn, daß sie es gerade deshalb will ...“

„Ach, Nasstenka! ...“

Und wir lachten beide.

„Nun, genug, hören Sie auf. Aber wo wohnen Sie denn? Ich habe ganz vergessen, zu fragen.“

„Dort, in der Nähe der ... Brücke, im Hause eines gewissen Barannikoff.“

„Das ist so ein großes Haus, nicht?“

„Ja, ein großes Haus.“

„Ach, das kenne ich, das ist ein schönes Haus. Nur, wissen Sie, ziehen Sie aus und kommen Sie recht bald zu uns ...“

„Morgen, Nasstenka, gleich morgen! Ich schulde dort wohl noch ein wenig für die Wohnung, aber das schadet nichts ... Ich bekomme bald mein Gehalt ...“

„Wissen Sie, ich werde Stunden geben, um auch zu verdienen; ich werde noch dazulernen, was mir fehlt, und dann kann ich Unterricht geben ...“

„Natürlich, das wird vortrefflich gehen ... und ich werde bald Zulage erhalten, Nasstenka ...“

„Dann werden Sie also schon morgen unser Mieter sein!“

„Ja, und dann fahren wir in die Oper und hören den Barbier von Sevilla, denn der wird bald wieder gegeben werden.“

„Ja, fahren wir!“ sagte Nasstenka lachend, „oder nein, lieber nicht zum Barbier von Sevilla, sondern wenn etwas anderes gegeben wird ...“

„Gut, also zu einer anderen Aufführung. Natürlich, das wird auch viel besser sein, ich dachte im Augenblick nicht daran ...“

Und wir sprachen und gingen: alles war wie ein Rausch – als hielte uns ein Nebel umfangen und als wüßten wir selbst nicht, was mit uns geschah. Bald blieben wir stehen und sprachen lange Zeit stehend auf einem Fleck, bald gingen wir wieder und gingen Gott weiß wie weit, ohne es zu bemerken, immer unter Lachen und Weinen ... Bald wollte Nasstenka plötzlich unbedingt nach Haus und ich wagte nicht, sie zurückzuhalten und wir machten uns schon auf den Weg; nach einer Viertelstunde aber bemerkten wir plötzlich, daß wir wieder auf unserer Bank am Kai angelangt waren. Bald seufzte sie tief auf und ein Tränchen rollte über ihre Wange – ich sah sie erschrocken und verzagt an ... Da drückte sie mir schon von neuem die Hand und wir gingen abermals und sprachen weiter ...

„Aber jetzt ist es Zeit, jetzt ist es wirklich Zeit, daß ich nach Hause gehe! Ich glaube, es ist schon sehr spät,“ sagte Nasstenka endlich entschlossen, „wir dürfen nicht gar zu kindisch sein!“

„Ja, Nasstenka, aber schlafen werde ich heute doch nicht mehr. Ich gehe überhaupt nicht nach Hause.“

„Ich werde, glaube ich, auch nicht einschlafen. Aber Sie müssen mich noch begleiten ...“

„Selbstverständlich!“

„Doch diesmal drehen wir nicht mehr um, hören Sie?“

„Nein, diesmal nicht ...“

„Ehrenwort? ... Denn einmal muß man doch wirklich nach Hause gehen!“

„Also: mein Ehrenwort, diesmal wird es ernst,“ sagte ich lachend ...

„Nun, gehen wir!“

„Gehen wir.“

„Sehen Sie den Himmel, Nasstenka, schauen Sie hinauf! Morgen werden wir einen wundervollen Tag haben ... Wie blau der Himmel ist, und sehen Sie nur den Mond! Diese kleine gelbe Wolke wird ihn gleich verdecken ... sehen Sie, sehen Sie! ... Nein, sie gleitet am Rande vorüber ... Sehen Sie doch, sehen Sie! ...“

Doch Nasstenka sah weder die Wolke, noch den Himmel – sie stand wie erstarrt neben mir und dann schmiegte sie sich plötzlich mit einer seltsamen Verzagtheit an mich, immer fester, als suche sie Schutz, und ihre Hand erzitterte in meiner Hand. Ich sah sie an ... noch schwerer stützte sie sich auf mich.

In diesem Augenblick ging ein junger Mann an uns vorüber – er sah uns scharf an, zögerte, blieb stehen und ging ein paar Schritte weiter. Mein Herz erbebte ...

„Nasstenka, wer ist das?“ fragte ich leise.

„Das ist er!“ flüsterte sie und klammerte sich zitternd an meinen Arm. Ich hielt mich kaum auf den Füßen.

„Nasstenka! Nasstenka! Bist du es?“ erscholl es da plötzlich hinter uns und zugleich trat der junge Mann wieder ein paar Schritte näher ...

Mein Gott, was klang aus diesem Ruf! Wie sie zusammenfuhr! Wie sie sich von mir losriß und ihm entgegeneilte! ... Ich stand und sah zu ihm hinüber, stand und sah ... Doch kaum hatte sie ihm die Hand gereicht, kaum hatte er sie in seine Arme geschlossen, da befreite sie sich schon von ihm und ehe ich mich dessen versah, stand sie wieder vor mir, umschlang mit beiden Armen fest meinen Hals und drückte mir einen heißen Kuß auf die Lippen. Dann, ohne mir ein Wort zu sagen, lief sie zu ihm zurück, erfaßte seine Hände und zog ihn fort.

Lange stand ich und sah ihnen nach ... bald waren sie meinen Blicken entschwunden.

Der Morgen.

Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag war unfreundlich: es regnete und die Tropfen schlugen in eintöniger Wehmut an meine Fensterscheiben; im Zimmer war es düster, wie gewöhnlich an Regentagen, und draußen trübe. Mein Kopf schmerzte, mich schwindelte und das Fieber einer Erkältung schlich durch meine Glieder.

„Ein Brief, Herr, durch die Stadtpost, der Postbote hat ihn gebracht,“ sagte Matrjona.

„Ein Brief! Von wem?“

„Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr, sehen Sie nach, vielleicht steht es drin, von wem er ist.“

Ich erbrach das Siegel. Der Brief war von ihr.

„Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!“ schrieb mir Nasstenka. „Auf den Knien bitte ich Sie, mir nicht böse zu sein! Ich habe Sie wie mich selbst getäuscht. Es war ein Traum, eine Täuschung ... Der Gedanke an Sie macht mich jetzt krank vor Qual. Verzeihen Sie, oh, verzeihen Sie mir! ...

Beschuldigen Sie mich nicht, denn was ich für Sie empfand, empfinde ich auch jetzt noch: ich sagte Ihnen, ich würde Sie lieben, und ich liebe Sie auch jetzt, ja ich empfinde für Sie jetzt noch viel mehr, als Liebe. Gott, wenn ich Sie doch beide zugleich lieben könnte! Oh, wenn Sie und er doch ein Mensch wären!

Gott sieht und weiß, was ich alles für Sie tun würde! Ich weiß, daß Sie nun schwer zu tragen haben und daß Sie traurig sind. Ich habe Sie gekränkt und habe Ihnen weh getan, aber Sie wissen doch – wenn man liebt, gedenkt man der Kränkung nicht lange. Sie aber lieben mich!

Ich danke Ihnen! Ja! Ich danke Ihnen für diese Liebe. Denn in meiner Erinnerung wird sie mich durchs ganze Leben begleiten wie ein süßer Traum, den man auch nach dem Erwachen nimmer vergessen kann. Nein, nie werde ich vergessen, wie Sie mir so brüderlich Ihr Herz offenbarten und in Ihrer Güte für Ihr ganzes Herz mein krankes, verwundetes annahmen, um es mit Zartheit und Liebe zu pflegen und wieder gesund zu machen ... Wenn Sie mir verzeihen, wird die Erinnerung an Sie sich verklären durch das Gefühl ewiger Dankbarkeit, die in meiner Seele niemals erlöschen kann. Und diese Erinnerung werde ich heilig halten und nie vergessen, denn mein Herz ist treu. Es ist auch gestern nur zu dem zurückgekehrt, dem es von jeher gehörte.

Wir werden uns wiedersehen, Sie werden zu uns kommen, Sie werden uns nicht verlassen, werden ewig unser Freund sein und mein Bruder ... Und wenn wir uns wiedersehen, dann geben Sie mir Ihre Hand – ja? Sie werden Sie mir entgegenstrecken, wenn Sie mir verziehen haben, nicht wahr? Sie lieben mich doch unverändert?

Ja, lieben Sie mich, verlassen Sie mich nicht, denn jetzt liebe ich Sie so tief, weil ich Ihrer Liebe würdig sein will, weil ich sie verdienen will ... mein lieber Freund! In der nächsten Woche wird unsere Hochzeit sein. Er ist voll Liebe zu mir zurückgekehrt, er hat mich niemals vergessen ... Seien Sie nicht böse, daß ich von ihm geschrieben habe. Aber ich will mit ihm zu Ihnen kommen, und Sie werden ihn auch liebgewinnen, nicht wahr?

So verzeihen Sie mir denn und vergessen Sie mich nicht und behalten Sie lieb Ihre

Nasstenka.“

Lange las ich diesen Brief, las ihn immer wieder, und Tränen traten mir in die Augen; schließlich entfiel er meiner Hand und ich vergrub mein Gesicht in den Händen.

„Nun, Herr, sehen Sie denn gar nichts,“ hörte ich nach einer Weile Matrjonas Stimme.

„Was, Alte?“

„Nu, ich hab’ doch das Spinngewebe von überall runtergeholt, können jetzt heiraten, wenn Sie wollen, können Gäste einladen, wenn’s Ihnen einfällt, mir soll’s recht sein ...“

Ich sah sie an. Sie ist eine rüstige, noch junge Alte, aber ich weiß nicht, weshalb ich sie plötzlich mit erloschenem Blick, mit tiefen Runzeln im Gesicht, alt und schwächlich vor mir zu sehen glaubte ... Ich weiß nicht, weshalb es mir plötzlich schien, daß auch mein Zimmer um ebensoviel Jahre älter geworden sei wie sie. Die Farbe der Wände sah ich verblichen, an der Zimmerdecke sah ich noch mehr Spinngewebe, als sich bisher dort angesammelt hatten. Ich weiß nicht, weshalb es mir, als ich durch das Fenster hinausblickte, schien, als ob das Haus gegenüber gleichfalls gealtert sei, trübseliger und baufälliger geworden, die Stukkatur von den Säulen abgebröckelt, die Karniese rissig und geschwärzt und die hellbraunen Wände fleckig und schmutzig.

Vielleicht war der Sonnenstrahl daran schuld, der plötzlich durch die Wolken brach, um sich gleich wieder hinter einer noch dunkleren Regenwolke zu verstecken, so daß alles noch trüber, düsterer wurde ... Oder hatten meine Augen in meine Zukunft geschaut und etwas Ödes, Trauriges in ihr erblickt, etwa mich selbst, wie ich jetzt bin, nur um fünfzehn Jahre älter, in demselben Zimmer, ebenso einsam, mit derselben Matrjona, die in all den Jahren doch um nichts klüger geworden ist ...?

Aber die Kränkung nicht verzeihen, Nasstenka, dein helles seliges Glück mit dunkeln Wolken trüben, dir Vorwürfe machen, damit dein Herz sich quäle und gräme und kummervoll poche, während es doch nichts soll als jauchzen vor Seligkeit, oder auch nur ein Blatt der zarten Blüten, die du zur Trauung mit ihm in deine braunen Locken flichst, mit rauher Hand berühren ... o nein, Nasstenka, das werde ich nie, nie! Möge dein Leben Glück sein und so hell und lieb, wie dein süßes Lächeln, und sei gesegnet für den Augenblick der Seligkeit und des Glücks, den du einem anderen einsamen, dankbaren Herzen gegeben hast!

Mein Gott! Einen ganzen Augenblick der Seligkeit! Ja, ist dann das nicht genug für ein ganzes Menschenleben? ...

Das junge Weib

I.

Ordynoff mußte sich eine neue Wohnung suchen, so ungern er es auch tat. Die Frau, bei der er bis dahin als Zimmermieter gelebt, eine arme bejahrte Beamtenwitwe, hatte sich durch unvorhergesehene Verhältnisse gezwungen gesehen, Petersburg zu verlassen, um in eine öde Provinz zu ihren Verwandten zu reisen, und zwar ganz plötzlich, noch vor Ablauf ihres Mietskontraktes. Der junge Mann, der das Recht hatte, bis zum Ersten des nächsten Monats in der Wohnung zu bleiben, dachte mit Bedauern an sein stilles Leben in den gewohnten vier Wänden und empfand ein ausgesprochenes Unbehagen bei dem Gedanken, dieses ihm lieb gewordene Zimmer nun verlassen zu müssen. Er war arm, die Wohnung übrigens für seine Verhältnisse ziemlich teuer: so nahm er denn schon am Tage nach der Abreise der Witwe kurz entschlossen seine Mütze und ging, um die Petersburger Straßen zu durchwandern, und dabei Ausschau zu halten nach Mietszetteln, die an den Haustüren angeschlagen waren, namentlich nach solchen an älteren und schlechteren Häusern und Mietskasernen, in denen er am ehesten Aussicht hatte, bei irgendwelchen armen Leuten ein Zimmer für sich zu finden.

Er suchte schon lange und war mit seinen Gedanken anfangs auch gewissenhaft bei der Sache, doch nach und nach wurde seine Aufmerksamkeit von ganz anderen, ihm bis dahin völlig unbekannten Empfindungen abgelenkt. Er begann um sich zu blicken – zunächst nur flüchtig, wie aus Zerstreutheit, ohne sich etwas Bestimmtes dabei zu denken, bald jedoch aufmerksamer und schließlich mit ausgesprochener Neugier. Die vielen Menschen um ihn her, das ganze bewegte, rastlose, lärmende Straßenleben, all das Neue, das ihm dort begegnete, die ungewohnte Umgebung – dieses ganze kleinliche Leben und alltägliche Hasten nach Erwerb, das dem im tätigen Leben stehenden, stets beschäftigten Petersburger schon so zuwider ist, daß er bis an sein Lebensende stets nach Mitteln und Wegen sucht, um sich einmal irgendwo in ein warmes Nest zurückzuziehen, sich mit sich abzufinden und zufrieden geben zu können – diese ganze schale Prosa und Langeweile erweckte jetzt im Gegenteil in Ordynoff eine seltsam still-frohe, helle Empfindung. Seine bleichen Wangen röteten sich leicht, in seine Augen trat der Glanz einer neuen Hoffnung, und fast gierig begann er, die kalte, frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm so wundervoll leicht zumute.

Er hatte von jeher ein stilles, vollkommen einsames Leben geführt. Vor etwa drei Jahren, nachdem er sein Examen bestanden und in gewissem Sinne ein freier Mensch geworden war, hatte er eines Tages einen alten kleinen Herrn aufgesucht, den er bis dahin nur vom Hörensagen gekannt, und hatte lange gewartet, bis der galonierte Kammerdiener ihm die Ehre antat, ihn zum zweitenmal bei seinem Herrn zu melden. Dann trat Ordynoff in einen hohen, dämmerigen, öden Saal, einen jener langweiligen großen Räume, wie sie sich noch in einzelnen herrschaftlichen Häusern aus früherer Zeit erhalten haben, und erblickte in ihm einen silberhaarigen, mit Orden über und über behängten Greis, der seines Vaters ehemaliger Freund und Kollege im Staatsdienst gewesen war und der für ihn, den Sohn, die Vormundschaft übernommen hatte. Der Alte händigte ihm ein, was ihm noch zukam. Die Summe war nicht groß: der Rest einer einst wegen Schulden unter den Hammer gekommenen und noch von den Ureltern stammenden Erbschaft. Ordynoff nahm das Päckchen gleichgültig in Empfang, verabschiedete sich für immer und trat wieder auf die Straße. Es war ein Herbstabend, kalt und düster; der junge Mann war nachdenklich und eine seltsame, eigentlich ihm selbst unbewußte Traurigkeit überkam ihn. Seine Augen brannten; er fühlte, daß ihn fieberte und daß er sich erkältet hatte. Unterwegs rechnete er nach, daß er mit seinen Mitteln etwa zwei bis drei Jahre auskommen konnte, und wenn er hungerte, vielleicht sogar vier. Es dunkelte bereits, ein feiner Regen sprühte nieder und erfüllte die Luft mit einer Feuchtigkeit, die bis ins Mark drang. Er mietete im ersten besten Hause ein kleines Zimmer – eben bei jener armen Beamtenwitwe, die ihn jetzt im Stich gelassen hatte – und in einer Stunde war er auch schon eingezogen. Dort lebte er dann wie ein Einsiedler, ganz, als hätte er sich von aller Welt losgesagt. So kam es, daß er in zwei Jahren vollkommen weltfremd geworden war.

Er wurde es, ohne es selbst zu merken; und vorläufig kam es ihm auch gar nicht zu Bewußtsein, daß es noch ein anderes Leben gab – ein rauschendes, lautes, wogendes, ewig wechselndes, ewig rufendes Leben, eines, das früher oder später doch nicht zu umgehen war. Natürlich wußte er, daß es ein solches Leben gab – wie hätte er das schließlich nicht wissen sollen! – aber er kannte es nicht und suchte es niemals auf. Schon von Kindheit an hatte er einsam gelebt; doch jetzt, nachdem er herangewachsen, hatte diese Einsamkeit ihre eigene, besondere Gestalt angenommen. Ihn verzehrte eine Leidenschaft, eine von jenen tiefen, unersättlichen Leidenschaften, die das ganze Leben eines Menschen erschöpfen, und die solchen Wesen, wie Ordynoff war, keinen auch noch so geringen Platz in der Sphäre des anderen Lebens gewähren. Diese seine Leidenschaft war – die Wissenschaft. Zunächst verzehrte sie seine Jugend, nahm ihm langsam mit ihrem berauschenden Gift den Schlaf und seine Seelenruhe, nahm ihm die gesunde Nahrung und die frische Luft, die niemals Gelegenheit hatte, in seine dumpfe Stube einzudringen: doch Ordynoff gewahrte alles das gar nicht in seinem Rausche, und wollte es auch nicht gewahren. Er war jung und vorläufig verlangte er nach nichts anderem. Die Leidenschaft machte ihn der äußeren Welt gegenüber völlig zum Kinde und für immer unfähig, gewisse gute Leute zum Platzmachen zu veranlassen, wenn das einmal erforderlich sein sollte, um für sich selbst ein Unterkommen zwischen ihnen zu verschaffen. Die Wissenschaft ist für manch einen ein Kapital, das er fest in Händen hat; die Leidenschaft Ordynoffs dagegen war wie eine gegen ihn selbst gerichtete Waffe.

Es lebte in ihm mehr ein unbewußter Trieb, zu lernen, zu ergründen und Wissen in sich aufzunehmen, als daß es ganz bestimmte Gründe und Schlußfolgerungen waren, die ihn dazu veranlaßten, – und so war es bei ihm mit allem, gleichviel womit er sich nun beschäftigte, selbst mit den kleinsten Dingen. Schon als Kind hielt man ihn für einen Sonderling, da er seinen Kameraden so durchaus unähnlich war. Seine Eltern hatte er früh verloren, er erinnerte sich ihrer überhaupt nicht mehr; von den Kameraden aber mußte er wegen seines seltsamen menschenscheuen Wesens gar manche kindlichen Angriffe und Roheiten ertragen, was ihn dann erst recht menschenscheu und verschlossen machte. Doch seinen einsamen Beschäftigungen lag niemals, auch jetzt nicht, ein Plan oder gar ein System zugrunde: statt dessen leitete ihn einzig und allein die Begeisterung für die Idee, der Drang, das Fieber des Künstlers. Er schuf sich eine eigene Anschauung der Dinge; sie entwickelte und formte sich in ihm im Laufe von Jahren und in seiner Seele erstand allmählich, vorläufig noch dunkel und unklar, aber dabei doch schon wundervoll beseligend, seine neue Idee, die in einer ebenso neuen, gleichsam erleuchtenden Form Gestalt gewinnen sollte; und indem sie in dieser Gestalt aus ihm hervordrängte, peinigte, quälte, zerriß sie seine Seele. Noch fühlte er bloß schüchtern ihre Originalität, ihre Selbständigkeit und Richtigkeit, die ihm wie eine Offenbarung der Wahrheit erschien: mit allen seinen Kräften spürte er, daß es ihn zu der Schöpfung hindrängte, die sich vorerst freilich noch in ihm bildete, denn der Zeitpunkt der Gestaltung selbst war ja noch weit, vielleicht sehr weit entfernt, und vielleicht war diese Gestaltung überhaupt ganz unmöglich!

Jetzt ging er also durch die Straßen wie ein weltfremder Einsiedler, der plötzlich aus seiner stummen Einöde in eine laut lärmende Stadt geraten ist. Alles erschien ihm neu und seltsam. Er war aber dieser Welt, die hier rings um ihn wogte und rauschte, so fremd geworden, daß er nicht einmal daran dachte, sich über seine sonderbaren Empfindungen zu wundern. Es war vielmehr, als bemerke er seine Weltfremdheit selbst gar nicht; im Gegenteil, es bemächtigte sich seiner sogar eine ganz eigenartig berauschende Empfindung der Freude, ähnlich dem Gefühl, wie es ein Hungriger empfindet, wenn man ihm nach langem Fasten wieder zu essen und zu trinken gibt – obschon es natürlich seltsam erscheinen muß, daß eine so geringfügige Änderung in der äußeren Lebenslage, wie ein Wohnungswechsel, einen Petersburger, und wäre er selbst ein Ordynoff, noch derart aus dem Geleise bringen konnte. Freilich ist zu berücksichtigen, daß er all diese Jahre hindurch fast nur in seinem Zimmer verbracht hatte, und jedenfalls niemals aus einem solchen oder ähnlichen Grunde wie heute, der unbedingte Aufmerksamkeit für die Umgebung erheischte, durch die Straßen der Stadt gegangen war.

Er fand aber mehr und mehr Gefallen daran, in dieser Weise durch die Straßen zu schlendern. Alles sah er an, auf alles horchte er hin.

Doch auch jetzt las er, seiner Art getreu, zwischen den Bildern, die sein Auge sah, wie in einem Buch zwischen den Zeilen. Alles machte seinen besonderen Eindruck auf ihn und kein Eindruck entging ihm; mit denkendem Blick sah er sich die Menschengesichter an, schaute er sich hinein in die Physiognomie der ganzen Umgebung, horchte er auf das Gesumm und Gerede und den Volkston, der bisweilen an sein Ohr schlug, – ganz als hätte er die Schlüsse, zu denen er in der Stille einsamer Nächte gekommen war, jetzt an allem, worauf er stieß, auf ihre Richtigkeit hin prüfen wollen. Und manche Kleinigkeit, die andere sonst wohl übersehen, fiel ihm auf und erweckte in ihm einen neuen Gedanken, und zum erstenmal im Leben ärgerte er sich darüber, daß er sich so lange in seiner Zelle lebendig begraben hatte. Hier geschah alles viel schneller: sein Pulsschlag war voll und belebt, sein Verstand, der bedrückenden Einsamkeit entrückt, in der seine Tätigkeit fast schon mehr ein bloßes Reagieren auf den angespannten und begeisterten Willen zur Arbeit geworden war, arbeitete jetzt ganz von selbst, schnell, und doch ruhig, sicher und kühn. Und überdies empfand er fast unbewußt das Verlangen, auch sich selbst hineinzuzwängen in dieses für ihn fremde Leben, das er bisher nicht gekannt, oder das er doch nur, richtiger gesagt, mit dem Instinkt des Künstlers geahnt hatte. Unwillkürlich begann sein Herz schneller zu schlagen, fast wie in einer Art Liebessehnsucht und glühenden Mitempfindens. Immer forschender sah er die Menschen an, die an ihm vorübergingen: sie waren ihm aber alle fremd und alle mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken beschäftigt ... Da schwand allmählich auch Ordynoffs Sorglosigkeit: die Wirklichkeit trat näher an ihn heran, schon empfand er sie als lastenden Druck, und dann kam es über ihn wie das seltsam unwillkürliche Grauen einer großen Ehrfurcht.

Er wurde müde unter der auf ihn eindringenden Flut der neuen Eindrücke, wie ein Kranker, der freudig zum erstenmal aufgestanden ist, doch bald erschöpft vom Licht und Glanz, betäubt und schwindlig von den lauten bunten Bildern des rastlosen Lebens und den wechselnden Eindrücken die Augen schließt und niedersinkt. Bang und traurig ward ihm zumute. Er fing an, für sich zu fürchten, für seine ganze Tätigkeit und sogar für die Zukunft.

Ein neuer Gedanke raubte ihm die Ruhe: es kam ihm plötzlich in den Sinn, daß er ja doch sein ganzes Leben lang allein gewesen war, daß es keinen einzigen Menschen gab, der ihn liebhatte, und daß auch er niemals Gelegenheit gehabt, jemanden zu lieben. Einige der Vorübergehenden, mit denen er unter irgendeinen Vorwande ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, sahen ihn verwundert und recht sonderbar an. Es schien ihm, daß sie ihn für einen Verrückten oder zum mindesten für irgendeinen Sonderling hielten – was er ja übrigens auch war. Er erinnerte sich, daß ihm eigentlich schon von Kindheit an alle ausgewichen waren und in seiner Gesellschaft sich unbehaglich gefühlt hatten, hauptsächlich wohl seines nachdenklichen und eigensinnigen Charakters wegen. Er wußte, daß das tiefe Mitempfinden, zu dem er wohl fähig war, doch niemals ein Gefühl der seelischen Gleichheit zwischen ihm und den anderen, oder auch dem einzelnen, dem sein Mitempfinden galt, aufkommen ließ, weshalb es von allen, eben von ihrem Gefühl aus, abgelehnt wurde: und das hatte ihn denn schon als Kind unter seinen Spielgefährten gequält. Jetzt fiel es ihm wieder ein und er sagte sich, daß ihn ja tatsächlich schon von jeher und zu jeder Zeit alle Menschen gemieden, und daß man sich niemals um seine Einsamkeit gekümmert hatte.

In Gedanken versunken war er weitergegangen, ohne auf den Weg zu achten, bis er schließlich merkte, daß er sich in einem vom Zentrum weit entfernten Stadtteil befand. In einem billigen und menschenleeren Speisehaus ließ er sich etwas zu essen geben und machte sich dann wieder auf den Weg. Von neuem streifte er umher, ging durch viele Straßen, über Plätze, an grauen und gelben Zäunen entlang. Dann kamen graue windschiefe Häuschen, dann wieder riesenhafte Gebäude großer Fabriken, rot, rauchgeschwärzt, unförmig mit ragenden Schloten. Dabei war die Umgebung rings doch wie ausgestorben, so verlassen, öde, düster und feindselig – wenigstens machte sie auf Ordynoff diesen Eindruck. Es wurde Abend. Aus einer langen Gasse kam er auf einen freien Platz, an dem eine Pfarrkirche lag.

In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst war beendet und die Kirche schon ganz leer; nur zwei alte Weiber knieten noch nahe beim Eingang. Der Kirchendiener, ein altes Männlein mit silbergrauem Haar, löschte die Lichter. Die Strahlen der Abendsonne ergossen sich von oben durch ein schmales Fenster der Kuppel in einem Lichtstrom durch das Innere der Kirche bis zu einem der Nebenaltäre, den sie mit flimmerndem Glanz umwoben. Die Sonne sank und das Licht wurde immer schwächer, doch je mehr die tiefe Dämmerung unter den Gewölben dunkelte, um so leuchtender erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten Heiligenbilder, vor denen die kleinen Flammen der Wachskerzen und Öllämpchen zuckend brannten. Ordynoff hatte sich in einer Anwandlung tiefer Schwermut, die wie ein bis dahin unterdrücktes Gefühl plötzlich aus der Vergessenheit hervorbrach und ihn nun überflutete, in der dunkelsten Ecke an die Mauer gelehnt und vergaß dort für einen Augenblick sich und alles um ihn her. Da vernahm er den dumpfen Schall von Schritten, die sich gemessen vom Eingang her näherten. Er sah auf und wandte den Kopf, kaum aber hatte er die beiden Eingetretenen erblickt, da bemächtigte sich seiner eine ganz unerklärliche Neugier. Es waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der Alte war hoch von Wuchs, noch stramm und rüstig, aber hager und krankhaft bleich. Seinem Äußeren nach konnte man ihn für einen aus weiter Ferne angereisten Kaufmann halten. Er trug einen langen, schwarzen, mit Pelz gefütterten Mantel lose über die Schultern geworfen – offenbar ein Sonntagskleidungsstück – darunter einen gleichfalls langen, von oben bis unten zugeknöpften russischen Leibrock, wie er in alten Zeiten mit zur Nationaltracht gehörte. Um den Hals war nachlässig ein grellrotes Tuch geschlungen. In der Hand hatte er eine Pelzmütze. Ein langer schmaler, halb schon ergrauter Bart fiel auf seine Brust und unter den überhängenden buschigen Brauen glühte ein feuriger, fieberhaft erregter, dabei hochmütiger und scharfer Blick. Das junge Weib, das etwa zwanzig Jahre alt sein mochte, war bezaubernd schön. Sie trug einen hellblauen, mit kostbarem Fell verbrämten kleinen Pelz und um den Kopf ein weißes Atlastuch, das unter dem Kinn zu einem Knoten geschlungen war. Sie ging mit gesenktem Blick, und eine sinnende Hoheit, die seltsam ergreifend aus ihrer ganzen Erscheinung sprach, spiegelte sich in den zarten Linien ihrer kindlich reinen und frommen Züge wie in trauriger Verklärung wieder. Es war etwas Sonderbares an diesem unerwarteten Paar.

Unter der mittleren Kuppel blieb der Alte stehen und verneigte sich nach allen vier Seiten, obschon die Kirche ganz leer war; dasselbe tat auch seine Begleiterin. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zum großen Heiligenbilde der Mutter Gottes, der die Kirche geweiht war, und dessen mit Edelsteinen besetzte goldene Bekleidung und reiche Einfassung durch den Flammenschein der vielen Wachskerzen in blendendem Glanz erstrahlte. Der Kirchendiener, der sich noch hier und da etwas zu schaffen machte, grüßte den Alten mit Ehrerbietung; dieser erwiderte den Gruß jedoch nur mit einem kurzen Kopfnicken. Vor dem Heiligenbilde warf sich das junge Weib auf die Knie nieder und berührte mit der Stirn den Fußboden. Der Alte nahm das Ende des Schleiers, der am Fußgestell des Bildes hing, und breitete ihn über ihren Kopf. Dann vernahm man dumpfes Schluchzen in der Kirche.

Ordynoff war betroffen durch die Feierlichkeit der Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, und erwartete mit Ungeduld die Beendigung ihres Gebets. Nach einer Weile erhob sie den Kopf und wieder fiel heller Lichtschein auf ihr entzückendes Gesicht. Ordynoff zuckte zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt vor. Sie hatte ihre Hand bereits dem Alten gereicht und beide verließen langsam die Kirche. Tränen standen in ihren dunkelblauen Augen und als sie die Lider mit den langen dunklen Wimpern senkte, rollten diese Tränen über ihre zarten, bleichen Wangen. Auf ihren Lippen erschien flüchtig ein Lächeln, aber es verwischte in ihrem Antlitz doch nicht die Spuren einer fast kindlichen Angst und eines gleichsam mystischen Grauens. Zaghaft schmiegte sie sich an den Alten, und man sah, daß sie vor Erregung zitterte.

Betroffen und im Grunde doch von einem ungeahnt süßen Gefühl, das wie ein Wille war, dazu getrieben, ging Ordynoff den beiden nach – und unter dem Rundbogen vor dem Portal überholte er sie. Der Alte sah ihn feindselig und streng an; auch sie sah nach ihm hin, jedoch so teilnahmslos und zerstreut, daß man ihr anmerkte, wie ein einziger und ganz anderer, fernliegender Gedanke sie beschäftigte. Ordynoff folgte ihnen in einiger Entfernung, ohne eigentlich selbst zu wissen, weshalb er es tat. Es war schon dunkel geworden.

Der Alte und das junge Weib gingen in eine lange, breite, schmutzige Straße, die geradeaus zur Stadtgrenze führte – eine Straße der Buden, billigen Herbergen und Einkehrhöfe, in der die verschiedensten Kleinhändler ihre Läden hatten; dann bogen sie in eine schmale lange Sackgasse ein, die zwischen langen Zäunen zu einer großen vierstöckigen Mietskaserne führte, durch deren Höfe man aber wieder auf eine andere, gleichfalls große und belebte Straße gelangen konnte. Sie näherten sich bereits dem Hause. Plötzlich wandte sich der Alte zurück und sein Blick maß unwillig den jungen Mann, der ihnen so beharrlich folgte. Ordynoff blieb wie gebannt stehen; sein Tun erschien ihm selbst plötzlich sehr sonderbar. Da sah sich der Alte noch einmal nach ihm um, als wolle er sich überzeugen, ob sein drohender Blick die Wirkung nicht verfehlt habe; dann traten sie beide, er und das junge Weib, durch die schmale Fußpforte in den Hof des Hauses. Ordynoff kehrte um.

Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung und ärgerte sich über sich selbst: ganz umsonst hatte er einen Tag verloren, umsonst hatte er sich ermüdet und überdies noch diesen sowieso schon mißlungenen Tag mit einer großen Dummheit gekrönt, indem er eine ganz gewöhnliche Begegnung für eine Gott weiß wie besondere Begebenheit gehalten!

Am Vormittage hatte er sich noch darüber geärgert, daß er so weltfremd und menschenscheu geworden war. Und doch war es nur sein Instinkt gewesen, der ihn veranlaßt hatte, alles zu fliehen, was ihn in seinem äußeren und dadurch vielleicht auch in seinem inneren Leben, das nun einmal ganz seiner Idee gehörte, hätte zerstreuen, beeinflussen und erschüttern können. Jetzt wenigstens gedachte er mit Wehmut und einer gewissen Reue seines ungestörten Winkels; dann erfaßte ihn eine seltsame Traurigkeit und Sorge befiel ihn beim Gedanken an seinen künftigen Verbleib: wo er ein neues Unterkommen finden könne und wie lange er wohl noch ein solches werde suchen müssen. Dabei aber verstimmte es ihn wieder am meisten, daß ihn solche Nichtigkeiten überhaupt so beschäftigen konnten. Ermüdet und unfähig, zwei Gedanken aneinanderzureihen, langte er endlich – es war mittlerweile schon ziemlich spät geworden – wieder bei seiner alten Wohnung an, und erst als er ins Haus trat, kam es ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er fast daran vorübergegangen wäre, ohne es zu bemerken, noch zu erkennen. Verwundert über seine Zerstreutheit schüttelte er den Kopf, schrieb sie aber doch nur seiner Müdigkeit zu und trat, im letzten Stockwerk unter dem Dach angelangt, in sein kleines Zimmer. Er zündete ein Licht an, setzte sich und brütete gedankenverloren vor sich hin. Da stand plötzlich wieder das Bild des weinenden jungen Weibes greifbar deutlich vor seiner Seele. Und so glühend heiß, so tief und stark war der Eindruck, so voll Liebe hatte sein Geist diese sanften und frommen Züge in sich aufgenommen und gab seine Phantasie sie ihm jetzt wieder, diese Züge, aus denen mystische Rührung und Grauen, kindliche Demut und hingebender Glaube sprachen, daß seine Augen sich verdunkelten und gleichsam Feuer seine Glieder durchströmte. Doch die Erscheinung zerrann. Dem Rausch folgte dumpfes Grübeln, dann Ärger und schließlich eine gewisse ohnmächtige Wut. Ohne sich auszukleiden, wickelte er sich in die Decke und warf sich auf sein hartes Lager ...

Ordynoff erwachte am anderen Morgen ziemlich spät und in unruhiger und niedergedrückter Stimmung. Er mußte sich nahezu Gewalt antun, um nur an seine nächstliegenden Sorgen zu denken. Als er sich dann wieder auf den Weg machte, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, um nur ja nicht den Weg zu gehen, den er tags zuvor gegangen war. Endlich fand er bei einem armen Deutschen, Spieß mit Namen, der mit seiner Tochter Tinchen eine Giebelstube bewohnte, ein Stübchen für seine Ansprüche. Spieß entfernte sogleich, nachdem er das Handgeld erhalten, den Mietszettel, fand Ordynoffs Liebe zur Wissenschaft, um derentwillen er ganz ungestört zu leben wünschte, sehr, sehr lobenswert und versprach zum Schluß, sich seiner recht annehmen zu wollen. Ordynoff erklärte, daß er gegen Abend einziehen werde. Als das erledigt war, wollte er sich wieder nach Haus begeben, änderte aber unterwegs seine Absicht und schlug einen anderen Weg ein: im Augenblick wurde auch seine Stimmung besser, obschon er innerlich selbst über sich lächeln mußte. Der Weg erschien ihm diesmal in seiner Ungeduld ungeheuer weit, wenigstens bedeutend weiter, als er gedacht. Endlich erreichte er die Kirche, in der er am vergangenen Abend gewesen war. Es wurde gerade die Messe gelesen. Er suchte sich einen Platz, von dem aus er fast alle Betenden sehen konnte: doch die, die er suchte, waren nicht darunter. Mit gerötetem Antlitz verließ er nach langem vergeblichem Warten die Kirche. Hartnäckig bemühte er sich, ein gewisses ungewolltes Gefühl in sich zu ersticken und zwang sich mit aller Gewalt, seine Gedanken nach seinem Willen zu lenken. Er wollte an ganz gewöhnliche Dinge denken, und da fiel ihm denn ein, daß es ja Zeit zum Mittagessen sei – und da er Hunger verspürte, ging er in dasselbe Speisehaus, in dem er tags zuvor eine Kleinigkeit genossen hatte. Dann streifte er wieder umher, ging durch unbekannte, aber belebte Straßen und dann wieder durch menschenleere Gassen, bis er sich schließlich in einer Gegend jenseits der Stadtgrenze fand, wo sich weit das herbstlich fahl gewordene Feld hinzog. Er wäre unversehens noch weiter gegangen, wenn ihn nicht die Stelle ringsum mit einem neuen, lange nicht mehr empfundenen Eindruck aus seiner Gedankenversunkenheit geweckt hätte. Es war ein trockener kalter Tag, wie sie nicht selten sind im Petersburger Oktober. Nicht allzu fern war eine Hütte zu sehen, und neben ihr zwei Heuschober. Ein kleines verhungertes Bauernpferd, dessen Rippen man fast zählen konnte, stand mit gesenktem Kopf und hängenden Lefzen, als dachte es über irgend etwas nach, abgeschirrt neben einer zweiräderigen Tarataika. Ein gewöhnlicher Hofhund, der in der Nähe eines zerbrochenen Wagenrades einen Knochen benagte, begann zu knurren, und ein etwa dreijähriger Bengel, der mit nichts weiter als einem Hemdchen bekleidet war, kratzte sich seinen weißblonden Lockenkopf und starrte verwundert den einsamen Städter an. Hinter der Hütte dehnten sich Gemüseplätze und Felder aus. Am Horizont zogen sich Streifen dunkler Wälder hin und drüber war der Himmel klar und blau. Von der anderen Seite aber zogen langsam trübe Schneewolken auf, die vereinzelte Wölkchen vor sich herschoben, als trieben sie eine Schar schwebender Zugvögel lautlos, ohne einen Schrei, ohne einen Flügelschlag, hoch oben am Himmel vorüber. Es war so ruhig und gleichsam feierlich schwermütig, alles erfüllt von einer verborgenen, atembeklemmenden Erwartung ... Ordynoff ging weiter und weiter, doch die Öde bedrückte ihn nur noch mehr. Er kehrte wieder um und ging zurück nach der Stadt, von wo jetzt fernes Kirchengeläut, das zum Abendgottesdienst rief, zu ihm drang. Er beschleunigte seine Schritte, und nach kurzer Zeit betrat er wieder die Kirche, die ihm seit dem gestrigen Tage so vertraut war.

Die junge Unbekannte war schon da.

Sie kniete nicht weit vom Eingang unter vielen anderen Betenden. Ordynoff drängte sich durch das eng beieinander stehende Volk, durch die Schar von Bettlern, alten zerlumpten Weibern, Kranken und Krüppeln, die alle bei der Kirchentür auf Almosen warteten, und kniete dicht neben ihr nieder. Seine Kleider berührten die ihrigen, er hörte ihr erregtes Atmen und das inbrünstig betende Flüstern ihrer Lippen. Wieder war ihr Antlitz von einem Gefühl hingebenden Glaubens durchgeistigt und wieder rannen Tränen aus ihren Augen und versiegten auf ihren glühenden Wangen, als hätten sie ein furchtbares Verbrechen von ihrer Seele abzuwaschen. An der Stelle, wo sie beide knieten, war es so gut wie ganz dunkel, nur hin und wieder, wenn die Flamme im Lämpchen vor dem nächsten Heiligenbilde im Winde aufflackerte, der durch eine geöffnete Zugklappe des schmalen Fensters strich, huschte zitternder Lichtschein über ihr Gesicht und jeder Zug desselben schnitt sich in das Gedächtnis des jungen Mannes ein, umflorte seinen Blick und bohrte sich unter unerträglicher Pein in sein Herz. Nur lag in der Qual zugleich auch eine trunkene Wonne, eine rasende Lust. Doch zuletzt ging dieser Zustand über seine Kraft. Er vermochte es nicht länger auszuhalten. Seine Brust erbebte vor Schmerz, und es war ihm, als verginge etwas in ihm vor unsagbar süßem Sehnsuchtsweh – ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn plötzlich und er beugte seine heiße Stirn auf die kalten Fliesen der Kirche. Er fühlte nichts als den Schmerz in seinem Herzen, das in süßer Qual vergehen zu wollen schien.

Es wäre schwer zu sagen, was diese seine aufs äußerste gesteigerte Eindrucksfähigkeit bewirkt hatte: ob sie unaufhaltsam, wie sie durchbrach, auf das qualvoll bedrückende, erlösungslose Schweigen der langen schlaflosen Nächte zurückzuführen war, als eine Folge des oft durchlebten Zustandes, in dem ein unbewußter Drang, eine unklare Sehnsucht und das herrisch ungeduldige, ringende Streben seines Geistes ihm das Herz mit einer unausgesprochenen Qual so überfüllt hatten, daß es nun an einem Punkt angelangt war, an dem es ihn unfehlbar zerrissen hätte, wenn es nicht eine Erlösung in ebendiesem Ausbruch gefunden. Oder war einfach nur die Zeit des Ausbruches gekommen, wie alles einmal kommt, was im natürlichen Verlauf der Dinge kommen muß – wie an einem drückend schwülen Sommertage der Himmel plötzlich dunkel wird und ein Gewitterregen unter Donner und Blitz zur Erde niederrauscht, um alles, was in der Sonnenglut zu vergehen droht, von Hitze und Durst zu erlösen, um in klaren Regentropfen an smaragdenen Zweigen hängen zu bleiben, das Gras niederzudrücken und die zarten Blumenkelche zur Erde zu biegen, auf daß dann bei den ersten Sonnenstrahlen alles sich wieder erhebe, um wie befreit von neuem zur Sonne zu streben und sieghaft seinen köstlichen frischen Duft zum Himmel emporzusenden in der Freude über das erneute Leben. Dieselbe berauschende Lebenswonne, die nach dem Gewitter die ganze Natur zu empfinden scheint, jedes Blatt, das noch feucht vom Regen glänzt, jeder Blütenkelch, der unter der Last der Tropfen sich geneigt hat und nun sich wieder zur Sonne aufrichtet – dasselbe Gefühl hatte auch Ordynoff ... Nur hätte er selbst nicht zu sagen vermocht, was mit ihm geschah: so wenig, so gar nicht war er sich seiner selbst bewußt.

Deshalb bemerkte er auch nicht, wie der Gottesdienst zu Ende ging, und kam erst zu sich, als er, seiner Unbekannten folgend, sich abermals durch die Volksmenge drängte. Sie wurden immer wieder durch das hinausströmende Volk aufgehalten: dabei aber hatte sie ihn dann, beim Stehenbleiben und Warten, zum erstenmal bemerkt, hatte sich mit merklich wachsender Verwunderung wieder und wieder nach ihm umgesehen, und plötzlich, als seine Augen ihrem erstaunten hellen Blick begegneten, war sie errötet – ganz plötzlich wie in einem jähen Begreifen, das ihr die Glut ins Gesicht trieb. In demselben Augenblick aber tauchte auch schon die hohe Gestalt des Alten im Gedränge vor ihnen auf: und er nahm sie wortlos bei der Hand. Und wieder traf der Blick des Alten Ordynoff mit einem so gehässigen, boshaft spöttischen Ausdruck, daß Ordynoffs Herz plötzlich von einer ganz seltsamen rasenden Wut erfaßt wurde. In der Dunkelheit verlor er sie bald aus den Augen: er drängte sich erschrocken weiter durch die Menge, machte sich rücksichtslos Platz und trat aus der Kirche. Die Abendluft berührte ihn kalt, aber sie erfrischte ihn nicht: sie benahm ihm den Atem, beengte seine Brust und sein Herz begann langsam und stark zu schlagen, mit einer Wucht, als wolle es seine Brust zersprengen. Er suchte sie lange, mußte es aber dann doch aufgeben, da er sie nirgends mehr finden konnte: sie waren weder auf der Straße noch in der Sackgasse zu sehen. Doch zugleich entstand in ihm bereits ein Gedanke, der sich alsbald zu einem jener Pläne entwickelte, die zwar in der Regel mehr oder weniger wahnwitzig zu sein pflegen, deren Ausführung aber in solchen Fällen fast immer glänzend gelingt – ganz abgesehen davon, daß gerade diese unsinnigen Pläne am ehesten in die Tat umgesetzt werden, vernünftigere dagegen sehr oft nur Pläne bleiben.

Ordynoff begab sich am nächsten Morgen gegen acht Uhr zu jenem Hause, trat von der Gasse aus durch das Tor und befand sich auf einem schmalen, schmutzigen Hinterhof. Der Hausknecht, der dort mit einem Spaten hantierte, sah von seiner Arbeit auf, stützte sich auf den Spatenstiel, musterte Ordynoff vom Kopf bis zu den Füßen und fragte schließlich, was er hier wünsche.

Dieser Hausknecht war ein noch junger Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, dabei von eigentümlich altväterischem Aussehen, klein, mit runzligem Gesicht und von offenbar tatarischer Abstammung.

„Ich suche ein Zimmer,“ sagte Ordynoff ungeduldig.

„Was für eins denn?“ fragte der Kerl spöttisch und sah ihn mit einer Miene an, als wisse er bereits um sein ganzes Vorhaben.

„Ich will hier ein Zimmer mieten.“

„Im Vorderhaus gibt’s keins,“ versetzte der Tatar etwas rätselhaft.

„Aber hier?“

„Hier auch nicht.“ Und damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

„Vielleicht gibt es doch einen Mieter, der mir eins abtreten würde?“ fragte Ordynoff und drückte dem Hausknecht ein Trinkgeld in die Hand.

Der Tatar sah ihn an, steckte das Geld in die Tasche und machte sich dann wieder etwas mit seinem Spaten zu schaffen – erst nach einigem Schweigen erklärte er nochmals: „Nein, hier gibt’s keins.“ Der junge Mann hörte ihn aber nicht mehr: er ging bereits auf den halbverfaulten schwankenden Brettern, die über eine Pfütze führten, zum einzigen Eingang des Hinterhauses, zu einer Treppe, die ebenso schmutzig war, wie das ganze Haus schmutzig aussah, und deren unterste Stufe in einer zweiten Pfütze halbwegs versank. Unten, neben dem Eingang, wohnte ein armer Sargmacher, an dessen Werkstätte Ordynoff ohne zu fragen vorüberging, um auf der halbzerbrochenen gewundenen Treppe hinaufzusteigen. Im oberen Stockwerk angelangt, fand er, mehr tastend als sehend, eine schwere Tür, die einst mit Bastmatten beschlagen gewesen war, von denen jetzt jedoch nur noch wenig mehr als einzelne Stücke an ihr hafteten. Er drückte auf die Klinke und öffnete die Tür. Er hatte sich nicht geirrt. Vor ihm stand der Alte, den er in der Kirche gesehen, und blickte ihn mit äußerster Verwunderung starr an.

„Was willst du?“ stieß er halblaut mit rauher Stimme hervor.

„Haben Sie ein Zimmer zu vermieten?“ fragte Ordynoff, ohne eigentlich selbst zu wissen, was er sagte oder sagen wollte. Hinter dem Alten hatte er seine Unbekannte erblickt.

Der Alte sagte nichts, er bemühte sich nur, die Tür zu schließen, um Ordynoff auf diese Weise hinauszudrängen.

„Ja doch! – wir haben ein Zimmer!“ sagte da plötzlich das junge Weib mit freundlicher Stimme.

Der Alte wandte sich nach ihr um.

„Ich brauche nicht viel mehr als einen Winkel,“ sagte Ordynoff, indem er schnell eintrat und sich an das junge Weib wandte.

Doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen: etwas Seltsames spielte sich plötzlich vor seinen Augen ab, eine stumme und doch beredte Szene. Der Alte war so leichenblaß geworden, als würde er im Augenblick ohnmächtig zusammenbrechen, und sah mit einem bleischweren, unbeweglichen, durchdringenden Blick das junge Weib an. Auch sie erblaßte zunächst, dann aber stieg ihr mit einem Male jäh das Blut ins Gesicht und in ihren Augen blitzte etwas Seltsames auf. Ohne ein weiteres Wort führte sie Ordynoff in das Nebenzimmer.

Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen, allerdings recht großen Zimmer, das durch zwei Scheidewände in drei Räume geteilt war. Aus dem ziemlich dunklen und schmalen Vorzimmer, in das man vom Flur aus trat, führte geradeaus eine Tür offenbar in das Schlafzimmer. Rechts von dieser führte eine andere Tür nach dem Zimmer, das vermietet werden sollte. Es war das ein schmaler, enger Raum, der durch die Scheidewand gewissermaßen an die zwei niedrigen Fenster angedrückt erschien. Überdies war er noch vollgepackt mit den verschiedensten Sachen, die nun einmal zu einem Haushalt gehören. Es war ärmlich und eng, aber doch nach Möglichkeit sauber. Die Einrichtung bestand aus einem einfachen ungestrichenen Tisch, zwei ebenso einfachen Stühlen und zwei Bettladen, die eine an der Scheidewand, die andere an der der Tür gegenüberliegenden Wand. Ein großes altertümliches Heiligenbild mit einer vergoldeten Strahlenkrone stand in der Ecke auf einem Winkelbrett und vor ihm brannte das Öllämpchen. Ein mächtiger russischer Ofen, an den sich die Scheidewand anschloß, stand zur Hälfte in diesem Zimmer, zur Hälfte im Vorzimmer. Eigentlich bedurfte es keiner Versicherung, daß diese Wohnung für drei erwachsene Menschen zu eng war.

Sie begannen, das Notwendige zu besprechen, sprachen aber so verwirrt und zusammenhanglos, daß sie einander kaum verstanden. Ordynoff, der zwei Schritte von ihr entfernt stand, glaubte ihr Herz pochen zu hören: er sah, daß sie vor Erregung und anscheinend auch vor Angst zitterte. Schließlich verständigten sie sich doch irgendwie und die Sache ward abgeschlossen. Der junge Mann erklärte, daß er sogleich einziehen wolle, und blickte sich unwillkürlich nach dem Alten um. Der war zwar immer noch bleich, aber auf seinen Lippen lag bereits ein stilles, sogar nachdenkliches Lächeln, das jedoch schnell verschwand, als er Ordynoffs Blick begegnete: sofort runzelte er wieder finster die Stirn.

„Hast du einen Paß?“ fragte er plötzlich mit lauter, rascher Stimme, indem er gleichzeitig schon die Tür zum Flur öffnete.

Ordynoff bejahte die Frage, die ihn etwas stutzig machte.

„Wer bist du?“

„Wassilij Ordynoff. Habe keine Anstellung. Lebe ganz für mich,“ antwortete er, ebenso kurz angebunden, wie der Alte in seiner rauhen Art.

„Ich gleichfalls,“ versetzte der Alte. „Ich bin Ilja Murin, Kleinbürger. Genügt dir das? – Gut, dann geh!“ ...

Innerhalb zweier Stunden war Ordynoff eingezogen, eigentlich selbst nicht weniger darüber verwundert, als es Herr Spieß und seine Tochter Tinchen waren, die nach vergeblichem Warten zu der Überzeugung kamen, daß der verschwundene Mieter sie nur habe betrügen wollen. Ordynoff freilich begriff selbst nicht, wie das alles so gekommen war, aber im Grunde wollte er es auch gar nicht begreifen.

II.

Sein Herz pochte so stark, daß er vor den Augen grüne Punkte tanzen sah, und hin und wieder erfaßte ihn ein Schwindel. Der Kopf tat ihm weh. Mechanisch machte er sich daran, sein geringes Hab und Gut auszupacken, entnahm einem Bündel, das seine Wäsche enthielt, das Notwendigste, schloß den Bücherkasten auf und begann die Bände und Schriften auf dem Tische zu ordnen. Bald aber entfiel auch diese Arbeit seinen Händen. Was er tun mochte – immer wieder erschien vor ihm das Bild des jungen Weibes, das vom ersten Augenblick an sein Herz mit so unlösbaren Banden gleichsam umkrampft hatte, – und so viel Glück war plötzlich in sein armes Leben geflutet, daß seine Gedanken wie in einem Rausch untergingen und sein Geist ganz wirr ward und er selbst nicht mehr wußte, was er wollte. Er nahm seinen Paß, um ihn dem Alten, dessen Mieter er nun geworden war, einzuhändigen – natürlich in der Hoffnung, bei der Gelegenheit sie zu sehen. Murin öffnete aber die Tür nur ein wenig, nahm den Paß in Empfang, nickte bloß und sagte „Gott mit dir!“, worauf er die Tür wieder schloß. Ein unangenehmes Gefühl überkam Ordynoff. Es wurde ihm, ohne daß er wußte warum, so schwer, diesen Alten anzusehen. In seinem Blick lag stets so etwas wie Verachtung und Bosheit. Doch der unangenehme Eindruck verwischte sich bald. Er lebte ja schon den dritten Tag wie in einem Wirbel, im Vergleich zu seinem früheren stillen Leben. Nur denken konnte er jetzt nicht, ja, er fürchtete sich förmlich davor. Alles hatte sich für ihn plötzlich verändert: er hatte die dunkle Empfindung, als sei sein Leben in zwei Hälften gebrochen und von seinen Gedanken galt kein einziger mehr der ersten Hälfte. Er empfand nur den einen Trieb, nur die eine Erwartung ...

Ohne zu wissen, wie er das Benehmen des Alten deuten sollte, kehrte er in sein Zimmer zurück. Beim Ofen, in dem das Essen kochte, machte sich ein kleines, vor Alter krummes Weib zu schaffen. Sie war so schmutzig und zerlumpt gekleidet, daß man sie nur mit Widerwillen ansehen mochte. Dabei schien sie eine unglaublich böse Person zu sein. Das war die Dienstmagd. Ordynoff, der sie etwas vor sich hinbrummen hörte und ihren zahnlosen Unterkiefer sich bewegen sah, redete sie an, erhielt aber keine Antwort: es war, als schwiege sie vor lauter Bosheit. Endlich kam die Mittagsstunde. Die Alte nahm das Essen aus dem Ofen – Kohlsuppe, Pasteten und Rindfleisch – und brachte es in das andere Zimmer. Dasselbe Essen brachte sie auch Ordynoff. Nach dem Mittagessen trat in der Wohnung Totenstille ein.

Ordynoff nahm ein Buch zur Hand, las Satz für Satz und ganze Seiten, wobei er sich bemühte, den Sinn des Gelesenen zu erfassen, der ihm aber selbst dann unklar blieb, wenn er das Gelesene nochmals las. Bald schon warf er das Buch beiseite und schickte sich an, seine Habseligkeiten noch weiter zu ordnen. Nur dauerte auch das nicht lange. Ungeduldig nahm er schließlich seine Mütze, seinen Mantel und ging auf die Straße. Ohne auf den Weg zu achten, ging er weiter und gab sich die größte Mühe, seine Gedanken zu sammeln und wenigstens etwas über seine neue Lage nachzudenken. Doch diese Willensanspannung wurde ihm förmlich zu einer Qual – als müsse er sich selbst foltern. Offenbar hatte er sich erkältet: bald erfaßte ihn ein Schüttelfrost, bald glühte er im Fieber und zuweilen begann sein Herz so stürmisch zu schlagen, daß er sich an eine Wand lehnen mußte. „Nein, lieber tot ... lieber tot sein,“ murmelten seine fieberheißen Lippen, ohne daß er es selbst recht wußte. So irrte er noch lange in den Straßen umher – bis er schließlich durch eine starke Empfindung von Kälte und Feuchtigkeit zum erstenmal bemerkte, daß es ja in Strömen regnete. Da besann er sich und kehrte zurück. Kurz bevor er das Haus erreichte, erblickte er den Hausknecht, der ihn, wie ihm schien, schon eine Weile stillstehend mit Neugier beobachtet hatte, seinen Weg nach Hause aber sogleich wieder fortsetzte, als er sich bemerkt sah.

Ordynoff erreichte ihn mit ein paar Schritten.

„Guten Tag. Übrigens, wie heißt du?“

„Hausknecht heiß’ ich,“ antwortete der Tatar grinsend.

„Bist du schon lange hier Hausknecht?“

„Das will ich meinen.“

„Mein Wirt, der Murin, bei dem ich zur Miete wohne, ist doch Kleinbürger?“

„Das wird er wohl sein, wenn er’s gesagt hat.“

„Was treibt er denn eigentlich?“

„Treibt? – Er lebt. Ist krank, betet. Weiter nichts.“

„Ist das seine Frau?“

„Welche Frau?“

„Die bei ihm lebt?“

„Das wird sie wohl sein, wenn er’s gesagt hat. Leb wohl, Herr.“

Der Tatar berührte den Mützenschirm und trat in seinen Schlupfwinkel unter dem Torbogen.

Ordynoff stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Die Alte öffnete ihm zaudernd die Tür, wobei sie wieder etwas vor sich hinbrummte, klinkte die Tür hinter ihm ein und kroch langsam zurück auf den Ofen, auf dem sie den größten Teil ihres Lebens zuzubringen schien. Es dunkelte bereits. Ordynoff wollte sich von seinen Wirtsleuten Streichhölzer holen, doch die Tür zu ihrem Zimmer war verschlossen. Er rief die Alte an, die sich etwas aufgerichtet hatte und, auf den Ellbogen gestützt, vom Ofen herab ihn anglotzte, als dächte sie darüber nach, was er wohl dort an der verschlossenen Tür zu suchen habe. Schweigend warf sie ihm eine Streichholzschachtel zu. In sein Zimmer zurückgekehrt, nahm er wieder seine Bücher vor. Allmählich wurde ihm immer sonderbarer zumut und obschon er selbst nicht begriff, was in ihm vorging, setzte er sich auf die Bettlade, zu der er sich eigentümlich hingezogen fühlte. Und dann war ihm, als schliefe er ein. Mehrmals kam er wieder zu sich und erriet – es war ein Erraten und sich Merken in einem Zustande des Halbbewußtseins –, daß es gar kein Schlaf war, sondern nur eine krankhafte, qualvolle Benommenheit. Einmal hörte er, wie an die Tür gepocht und wie die Tür geöffnet wurde, und er sagte sich, daß es wohl die Wirtsleute waren, die von der Abendmesse zurückkehrten. Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, daß er zu ihnen gehen mußte, um etwas zu holen. Er erhob sich denn auch und ging zu ihnen – d. h. es schien ihm, daß er sich erhob und ging – doch plötzlich stolperte er und fiel auf einen Haufen Holz, den die Alte mitten im Zimmer hingeworfen hatte. Von da an wußte er nichts mehr, und als er die Augen, wie ihm deuchte, nach langer, langer Zeit öffnete, gewahrte er mit Verwunderung, daß er noch auf derselben Lade lag, in den Kleidern, so wie er war, und daß ein berückend schönes junges Weib in zärtlicher Sorge sich über ihn beugte, mit einem stillen und mütterlichen Ausdruck im Blick. Er fühlte, wie ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben wurde und wie man ihn mit etwas Warmem zudeckte, und wie eine zarte Hand sich auf seine heiße Stirn legte. Er wollte danken, wollte diese Hand fassen, sie an seine heißen trockenen Lippen führen, mit Tränen benetzen und küssen, eine ganze Ewigkeit lang küssen. Er wollte so vieles sagen, aber was – das wußte er selbst nicht! Oh, sterben hätte er mögen, vergehen in diesem Augenblick! Doch seine Arme waren schwer wie Blei und ließen sich nicht bewegen. Es war ihm, als sei er stumm geworden und könne deshalb nicht sprechen, und daher fühlte er nur, wie sein Blut so durch alle Adern jagte, daß er glaubte, emporgehoben zu werden. Jemand gab ihm Wasser zu trinken ... Dann sank er wieder in tiefe Bewußtlosigkeit.

Am anderen Morgen erwachte er gegen acht Uhr. Die Sonne schien in goldenen Strahlenbündeln durch das grünliche billige Glas der Fensterscheiben. Ein wundervolles Gefühl durchströmte alle Glieder des Kranken. Er war ruhig und still – war unsagbar glücklich. Er hatte die Empfindung, als sei jemand soeben an seinem Bette gewesen, ganz nah an seinem Kopfkissen. Und während er vollends zu sich kam, dachte er daran, sich nach diesem Menschen im Zimmer umzusehen, um seinen neuen Freund zu entdecken und zum erstenmal im Leben zu ihm zu sagen: „Guten Morgen, habe Dank, mein Guter!“

„Wie lange du schläfst?“ sagte da zärtlich eine Frauenstimme. Ordynoff sah sich um, jemand trat an sein Bett, und über ihn neigte sich mit einem freundlichen hellen Lächeln das Gesicht seiner schönen jungen Wirtin.

„Wie krank du warst,“ fuhr sie fort, „aber nun laß es genug sein; wozu beraubst du dich der Freiheit! Die ist süßer als Brot, schöner als die liebe Sonne. Steh auf, mein Täubchen, steh auf!“

Ordynoff ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft. Er glaubte, noch zu träumen.

„Warte, ich habe dir Tee gemacht. Willst du Tee? Trink ihn, es wird dir davon besser werden. Ich bin selbst krank gewesen und weiß, wie das ist.“

„Ja, gib mir zu trinken,“ sagte Ordynoff mit noch matter Stimme und versuchte, aufzustehen, was ihm auch gelang. Er fühlte sich zwar noch recht schwach, wie zerschlagen, und ein Kältegefühl im Rücken ließ ihn erschauern. In seinem Herzen aber hatte er ein Gefühl, als werde er von den Sonnenstrahlen erwärmt und mit einer hellen, feiertäglichen Freude erfüllt. Er fühlte das Unsichtbare: daß für ihn ein neues, starkes Leben anbrach. Einen Augenblick war ihm, als erfasse ihn ein leichter Schwindel.

„Du heißt doch Wassilij?“ fragte sie. „Oder habe ich mich verhört? Hat dich mein Herr nicht gestern so genannt?“

„Ja, Wassilij. Und wie heißt du?“ fragte Ordynoff, indem er sich ihr näherte, obschon er sich kaum auf den Füßen hielt. Plötzlich wankte er. Sie ergriff seine Hände und lachte.

„Ich? – Katherina!“ Und sie sah ihn mit ihren strahlenden, blauen Augen an. Beide hielten sie sich an den Händen.

„Du willst mir etwas sagen?“ fragte sie endlich.

„Ich weiß nicht ...“ Ihm war, als trübe sich sein Blick.

„Wie sonderbar du bist! Laß gut sein, du, mein Lieber, gräme dich nicht, sei nicht traurig – komm, setze dich hierher, hier scheint die Sonne, die wird dich erwärmen. So, nun sei ganz ruhig! Komme mir nicht nach,“ fügte sie hinzu, als sie sah, daß der junge Mann eine Bewegung machte, als wolle er sie zurückhalten – „ich werde gleich wieder bei dir sein, da wirst du mich sehen können, soviel du nur willst!“

Sie kam denn auch sogleich wieder, brachte ihm den Tee, den sie auf den Tisch stellte, und setzte sich ihm gegenüber.

„Da, nun trinke! – Wie, schmerzt dir der Kopf noch?“

„Nein, jetzt schmerzt er nicht mehr,“ sagte Ordynoff, „oder ich weiß nicht, vielleicht schmerzt er auch ... ich will nicht ... schon gut, schon gut! ... Ich weiß nicht, was mit mir ist ...“ stieß er unter Herzklopfen hervor, und er suchte ihre Hand. „Bleibe hier, geh nicht fort von mir, gib ... gib mir wieder deine Hand ... Vor meinen Augen dunkelt es ... In dir sehe ich meine Sonne,“ sagte er, als risse er jedes Wort aus seinem Herzen, und es war doch, als empfinde er schon Seligkeit, wenn er zu ihr nur sprechen konnte. Heiß stieg es in ihm auf und schnürte ihm die Kehle zusammen – bis die Spannung sich plötzlich in einem dumpfen, erschütternden Schluchzen entlud.

„Du Armer! Du hast wohl noch nie mit guten Menschen gelebt? Bist ganz allein und einsam in der Welt? Hast du gar keine Verwandten?“

„Niemand, ich bin ganz allein ... laß, was tut das! Mir ist jetzt besser ... so ... wohl!“ Es war, als phantasiere er. Das Zimmer schien sich um ihn zu drehen.

„Auch ich habe jahrelang keine Menschen gesehn ... Du siehst mich so an ...“ sagte sie plötzlich nach minutenlangem Schweigen und stockte ...

„Was ... wie denn?“

„So, als wärmten dich meine Augen! Weißt du, wenn man jemand so liebt ... Ich habe dich doch schon bei deinen ersten Worten in mein Herz geschlossen. Wenn du krank werden solltest, werde ich dich pflegen. Aber du darfst nicht wieder krank werden, nein! Wenn du aber wieder ganz gesund bist, dann wollen wir wie Bruder und Schwester leben, ja? Willst du? Es ist doch schwer, eine Schwester zu finden, wenn Gott einem keine Geschwister gegeben hat.“

„Wer bist du? Woher kommst du?“ stammelte Ordynoff mit matter Stimme.

„Oh, nicht hier ist meine Heimat ... aber was geht dich das an? Weißt du, die Leute erzählen, wie zwölf Brüder in einem dunklen Walde lebten und wie in dem Walde ein schönes Mädchen sich verirrte. Und sie kam zu den zwölf Brüdern und machte Ordnung im Hause, und säuberte alles, und was sie tat, tat sie mit Liebe. Als nun die Brüder zurückkehrten, sahen sie, daß ein Schwesterchen den Tag über bei ihnen gewesen war, und sie riefen sie und baten sie, doch bei ihnen zu bleiben. Und da kam sie denn auch und blieb bei ihnen. Und die Brüder nannten sie ihr Schwesterchen und ließen ihr alle Freiheit und allen gehörte sie gleich an. Kennst du das Märchen?“

„Ich kenne es,“ sagte Ordynoff leise.

„Schön ist es doch zu leben. Sag, bist du froh, daß du lebst?“

„Ja – ja! eine Ewigkeit leben ... lange leben!“ phantasierte Ordynoff.

„Ich weiß nicht,“ meinte Katherina nachdenklich, „ich würde doch auch den Tod nicht missen wollen. Ob es gut ist, zu leben? – ja, zu lieben, und gute Menschen liebzuhaben, ja ... Sieh, da bist du aber wieder bleich geworden ...“

„Ja, mich schwindelt ...“

„Wart, ich bringe dir meine Kissen und Decken, und werde dir das Bett schön aufmachen. Dann wird dir von mir träumen und das Übel wird von dir weichen. Unsere Alte ist auch krank ...“

Und schon während sie sprach, machte sie das Bett zurecht, wobei sie ab und zu über die Schulter nach Ordynoff hinüberblickte.

„Wie viele Bücher du hast!“ sagte sie, als sie nach beendeter Arbeit den Koffer ein wenig abrückte.

Dann brachte sie die Decken und trat zu ihm, stützte ihn mit dem rechten Arm und führte ihn zum Bett, auf dem sie ihm die Kissen zurechtrückte, um ihn dann zuzudecken.

„Man sagt, Bücher verdürben die Menschen,“ fuhr sie fort und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Liest du gern in Büchern?“

„Ja,“ antwortete Ordynoff, selbst im Zweifel darüber, ob er schlief oder wachte. Und wie um sich zu versichern, daß es kein Traum war, suchte er Katherinas Hand und preßte sie in der seinen.

„Mein Herr hat viele Bücher: solche!“ – sie beschrieb mit der Linken ein großes Format – „er sagt, es seien heilige Bücher. Und er liest mir aus ihnen immer vor. Ich werde sie dir später zeigen. Soll ich dir erzählen, was er mir aus ihnen vorliest?“

„Erzähle,“ flüsterte Ordynoff, ohne den Blick von ihr losreißen zu können.

„Betest du gern?“ fragte sie wieder nach kurzem Schweigen. „Weißt du was? – ich fürchte, ich fürchte immer ...“

Sie sprach es nicht aus, und wie es schien, dachte sie über irgend etwas nach.

Ordynoff führte ihre Hand an seine Lippen.

„Was küßt du meine Hand?“ Ihre Wangen erröteten leicht. Und dann lachte sie: „Ach nun, da! – küsse sie nur!“ und sie hielt ihm beide Hände hin. Dann befreite sie die eine Hand und legte sie auf seine heiße Stirn, und plötzlich – streichelte sie ihn und dann glättete sie sein Haar, und dabei errötete sie immer mehr. Endlich kniete sie neben seinem Bett nieder und lehnte ihre Wange an seine Wange: er spürte den feuchtwarmen Hauch ihres Atems ... Plötzlich fühlte Ordynoff, daß heiße Tränen über seine Wange rollten – sie weinte. Er wollte etwas sagen, denken, wurde aber immer schwächer, immer schwächer ... er konnte kein Glied mehr rühren. Da stieß jemand an die Tür und die Klinke klapperte. Ordynoff hörte nur noch, wie der Alte, sein Wirt, eintrat. Und darauf fühlte er, wie Katherina sich erhob, übrigens ganz langsam, ohne jeden Schreck, fühlte, wie sie beim Weggehen das Zeichen des Kreuzes über ihm machte. Er lag mit geschlossenen Augen. Plötzlich brannte ein heißer langer Kuß auf seinen Lippen: der fuhr ihm wie ein Dolchstoß ins Herz. Er wollte aufschreien, verlor aber die Besinnung ...

Damit begann für ihn ein sonderbarer Zustand, ein Traumleben, wie es nur Krankheit und Fieber verursachen können. Es kamen Augenblicke, in denen es ihm in einer Art unklaren Bewußtseins schien, daß er verurteilt sei, in einem langen, endlosen Traum voll seltsamer Aufregungen, Kämpfe und Leiden zu leben. Empört und entsetzt suchte er sich aufzulehnen gegen dieses Fatum, das ihn knechten wollte, doch im Augenblick des heißesten, verzweiflungsvollsten Kampfes fühlte er, wie ihn plötzlich eine andere feindliche Kraft überfiel und niederrang, und dabei empfand er mit jeder Fiber, wie er von neuem die Besinnung verlor und wie wieder undurchdringliches, bodenloses Dunkel sich vor ihm auftat, und er glaubte sogar selbst den Schrei der Qual und Verzweiflung zu hören, mit dem er in diesen offenen Schlund versank. Dann aber kamen wieder andere Augenblicke eines kaum zu ertragenden, überwältigenden Glücks, wie man es nur selten empfindet: Augenblicke, in denen die Lebenskraft im ganzen Menschen sich krankhaft steigert und der Mensch sich wie in einer höheren Sphäre befindet, wo alles Vergangene sich klärt und in allem Zusammenhang offenbart, wo die kurze Gegenwart mit ihrem Licht ein klingendes, tönendes Triumph- und Freudengefühl auslöst und die unbekannte Zukunft wie ein Traum im Wachen vor einem liegt, und man nicht weiß, woher sich unsagbare Hoffnung wie erquickender Tau auf die Seele legt, und aufschreien möchte vor lauter Seligkeit, während man doch fühlt, wie schwach und hilflos das Fleisch vor dieser Wucht der Eindrücke ist, und der Lebensfaden, der ins Vergangene zurückreicht, zerreißt und das neue Leben wie ein Leben nach einer Auferstehung vor uns erscheint ... Dann schwand ihm wieder das Bewußtsein und eine Art Halbschlaf umfing ihn, in dem er alles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, nochmals durchlebte und das Gesehene, verschwommenen Nebelbildern gleich, in wirrer, hastend drängender Folge an seinem geistigen Auge vorüberzog. Es erschien ihm dabei in diesen Visionen alles ganz anders, seltsam und rätselhaft. Dann wieder vergaß er alles jüngst Geschehene und wunderte sich, daß er nicht mehr in seiner früheren Wohnung bei seiner alten Wirtin war. Er konnte es sich nicht erklären, warum die alte gute Frau zu seinem Ofen kam, in dem noch die letzten Kohlen glühten – er glaubte noch den schwachen, zitternden Widerschein der verlöschenden Glut an der Wand zu sehen – und warum sie nicht, bevor sie die Ofentür schloß, ihre hageren alten Hände am Feuerschein wärmte, wie sie es sonst immer getan, stets nach alter Leute Art vor sich hinmurmelnd, ab und zu mit einem Blick nach ihrem sonderbaren Pensionär, den sie für mindestens „nicht ganz richtig“ hielt: von diesem ewigen Sitzen „hinter den Büchern“, wie sie meinte. Dann wieder fiel es ihm ein, daß er ja umgezogen war, aus welchem Grunde konnte er sich freilich nicht mehr entsinnen, obschon sein ganzer Geist ausströmen wollte in einen ewigen, ununterbrochen empfundenen, unbezähmbaren Drang ... Doch wohin, wozu es ihn drängte, was die Ursache solcher Qual war, und wer diesen unerträglichen Feuerbrand, der sein Blut zu verzehren schien, in seine Adern geschleudert – das wußte er wieder nicht und konnte sich auch nicht darauf besinnen. Oft griff er gierig nach einem Schatten, oft glaubte er, leichte Schritte in seinem Zimmer zu vernehmen, Schritte, die sich seinem Lager näherten, und eine süße, weiche Stimme zärtliche Worte flüstern zu hören; ihm war, als spüre er feuchtwarmen Atem wie einen Hauch über sein Gesicht gleiten, und ein herrliches Gefühl der Liebe erschütterte ihn tief im Innersten, daß seine Seele erbebte. Und heiße Tränen fielen auf seine glühenden Wangen und plötzlich drückte sich weich und verlangend ein Kuß auf seine Lippen: da war es, als verginge sein Leben vor brennender unauslöschlicher Pein: es schien ihm, als stehe das ganze Sein, die ganze Welt still, als stürbe sie für Jahrhunderte rings um ihn, und über alles sinke lange, tausendjährige Nacht ...

Dann war es ihm wieder, als erlebe er nochmals die sorglosen Jahre seiner ersten Kindheit, ja er glaubte sogar, das Landhaus zu sehen, in dem er geboren war, und die saftigen Wiesen und Auen, auf denen er als kleiner Junge umhergelaufen und vielleicht Blumen gepflückt hatte. Wenigstens glaubte er, alles dies zu sehen, – bis er plötzlich eine Gestalt auftauchen sah, deren Anblick ihn mit einem mehr als kindlichen Entsetzen erfüllte und das erste schleichende Gift von Leid und Qual und Tränen in sein Leben brachte. Es war ihm, als habe der fremde Alte sein ganzes zukünftiges Leben in seiner Macht, doch vermochte er trotz seines Entsetzens nicht, den Blick von ihm abzuwenden, und der Alte folgte ihm überall hin: er lauerte hinter jedem Baum und Strauch hervor, nickte ihm grinsend zu und spottete seiner und neckte ihn und verwandelte sich in jedes Spielzeug und saß plötzlich wie ein Gnomenkopf auf dem Halse seines Steckenpferdchens und wandte sich grinsend und Gesichter schneidend immer wieder nach ihm um. Und in der Schule saß er zwischen den Schülern, oder versteckte sich unter der Bank. Oder der Deckel eines seiner Bücher hob sich um Fingerbreite und aus dem Dunkel unter dem Deckel sahen ihn die boshaften Augen heimtückisch an. Schlief er, so setzte sich der scheußliche Geist an sein Bett und verscheuchte die süßen Kinderträume und erzählte flüsternd nächtelang ein wundersames Märchen, von dem er zwar nichts verstand, so angestrengt er auch lauschen mochte, das aber nichtsdestoweniger sein Kinderherz mit Grauen und einer nicht mehr kindlichen Leidenschaft peinigte. Und der böse Alte erzählte flüsternd weiter, bis eine dumpfe Betäubung seine Sinne lähmte und er schließlich wieder ohnmächtig wurde. Und dann, mit einem Male, war es ihm, als erwache er, und wieder begann ein seltsames Zusammenspiel von halbem Bewußtsein und halbem Traum: er erwachte als erwachsener Mensch, und Bilder des jüngst Erlebten umgaukelten ihn. Er wußte, wo er sich im Augenblick befand, wußte, daß er einsam und weltfremd war, einsam unter fremden, verdächtigen Leuten, die – hier begann wieder ein Traum – in sein Zimmer schlichen und in den dunklen Winkeln flüsterten und der alten Frau zunickten, die wieder am Ofen hockte und ihre hageren alten Hände am Feuer wärmte und ihnen gleichfalls zunickend auf das Bett wies, in dem er lag. Er fühlte sich verwirrt, erregt: er wollte wissen, wer diese Leute waren, was sie hier wollten und warum er sich selbst in diesem Zimmer befand, und da kam es denn wie ein Begreifen über ihn, daß er in so etwas wie eine Räuberhöhle geraten sei, verlockt durch irgendeine ihm bis dahin unbekannte, zwingende Macht, ohne sich vorher die Hausbewohner und namentlich seine Wirtsleute näher anzusehen. Die Ungewißheit peinigte ihn und sein Argwohn wuchs – und da begann wieder in der nächtlichen Dunkelheit das flüsternd erzählte Märchen, doch nicht der heimtückische Alte erzählte es jetzt, sondern eine kleine fremde Greisin, die es, vor dem Ofen hockend, im zitternden Feuerschein der erlöschenden Glut leise, leise vor sich hinflüsterte, während ihr alter Kopf mit dem Silberhaar dazu nickte. Aber schon stiegen neue Schreckbilder vor ihm auf: das geflüsterte Märchen, das er kaum hörte und noch weniger verstand, wurde zu Gestalten und Gesichtern, und er gewahrte mit Schrecken, daß alles, was er je in seinem Leben erlebt hatte, selbst alle seine Gedanken und Träume und was er in Büchern gelesen und vieles, was er schon längst vergessen hatte – daß alles wieder lebendig wurde, in riesenhaften Gebilden sich vor ihm erhob, durcheinanderschob, ihn umringte, umtanzte: vor seinen Augen taten sich Zaubergärten auf, er sah ganze Städte erstehen und wieder einstürzen, er sah unübersehbare Friedhöfe, deren Gräber sich auftaten und ihre Leichen zu ihm entsandten, und die Leichen lebten – er sah ganze Rassen und Völker kommen, wachsen und vor seinen Augen aussterben, und er sah schließlich jeden seiner Gedanken, kaum daß er ihn zu denken begann, schon in leibhaftig greifbarer Form vor seinen Augen sich verwirklichen – sein Denken war nicht mehr rein geistige Vorstellung und Verbindung von Begriffen, sondern Schöpfung, Schöpfung ganzer Welten, Schöpfung ganzer Scharen von Wesen – und er sah sich selbst gleich einem Stäubchen getragen in diesem unendlichen unbegrenzten Weltall, aus dem es kein Entrinnen gab, keine Flucht an irgendeiner Grenze. Und er überschaute alles und sah, wie dieses ganze Leben durch seine empörende Tyrannei ihn bedrückte und knechtete und mit ewiger, unendlicher Ironie verfolgte. Er fühlte, wie er starb und in Staub und Asche zerfiel, ohne Auferstehung, auf ewig starb; er wollte fliehen – aber es gab keinen Winkel im ganzen All, wo er sich hätte verbergen können. Da packte ihn die Wut der Verzweiflung, er riß alle seine Kräfte zusammen, mit einem wahnsinnigen Schrei, wie ihm schien, und – erwachte.

Sein ganzer Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. Im Zimmer herrschte Totenstille: es war tiefe Nacht. Und doch war ihm, als vernehme er immer noch irgendwoher die Erzählung des ihm unverständlichen wundersamen Märchens, als erzähle eine heisere Stimme etwas ihm scheinbar Bekanntes: von dunklen Wäldern und tollkühnen Räubern, von dem verwegenen Häuptling einer Bande, ganz als wäre von Stenka Rasin selbst, dem Kosakenhelden, die Rede, und dann von heiteren Kumpanen und sorglosen Vagabunden, und von einer jungen Schönheit und von dem Mütterchen Wolga. War das nicht ein Märchen? Hörte er es nicht im Wachen? Wohl eine ganze Stunde lag er mit offenen Augen in peinvoller Erstarrung, ohne ein Glied zu rühren. Endlich versuchte er, sich vorsichtig aufzurichten, und mit Freude merkte er, daß die grausame Folter seine Kraft nicht ganz gebrochen hatte. Das Fieber mit seinen Visionen war gewichen, jetzt begann für ihn wieder die Wirklichkeit. Er gewahrte, daß er noch so angekleidet war, wie während seines Gesprächs mit Katherina: es konnte folglich noch nicht gar so lange her sein, daß sie ihn verlassen hatte. Eine jähe Entschlossenheit durchströmte ihn und stählte seine Kraft. Wie er die dünne Scheidewand betastete, stieß seine Hand an einen großen Nagel, den man dort zu irgendeinem Zweck eingeschlagen hatte. Er erfaßte ihn und richtete sich auf, wobei er eine feine Spalte zwischen den dünnen Brettern der Scheidewand entdeckte, durch die ein kaum bemerkbarer Lichtschein in sein Zimmer drang. Er legte das Auge an die Öffnung und hielt den Atem an.

In der einen Ecke des anderen Zimmers stand ein Bett, davor ein Tisch, über den ein bucharischer Teppich gebreitet lag und der mit großen alten Büchern in Einbänden, die an alte Kirchenbücher oder sonst welche heiligen Schriften erinnerten, beladen war. In der Ecke hing ein ebenso altertümliches Heiligenbild wie dasjenige in Ordynoffs Zimmer, und vor dem Bilde brannte gleichfalls ein Lämpchen. Auf dem Bett lag Murin, mit einer Pelzdecke bedeckt, sichtlich entkräftet und krank und bleich wie ein Leintuch. Auf seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Buch. Dicht am Bett saß auf einer kleinen Bank Katherina; mit den Armen umschlang sie den Alten und schmiegte sich an seine Brust. Sie sah ihn mit aufmerksamen, kindlich verwunderten Augen an und schien mit unersättlicher Neugier fast bebend vor Erwartung seiner Erzählung zu lauschen. Hin und wieder hob sich die Stimme des Erzählers und dann trat Leben in sein blasses Gesicht: in seinen Augen blitzte es auf, er zog die Brauen zusammen, sein Mund zuckte und Katherina schien zu erbleichen vor Angst und Aufregung. Dann wieder glitt es wie ein Lächeln über das Antlitz des Alten, und Katherina begann leise zu lachen. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen: und da streichelte der Alte zärtlich über ihr Köpfchen, wie man ein kleines Kind streichelt, und sie umschlang ihn fester mit ihren weißen Armen und schmiegte sich noch liebender an seine Brust.

Anfangs dachte Ordynoff, es sei noch ein Traum, ja, er war sogar überzeugt davon. Dennoch stieg ihm das Blut zu Kopf und in den Schläfen hämmerte es schmerzhaft, als wolle es die Adern sprengen. Er ließ den Nagel los, erhob sich vom Bett und ging leise, wankend und tastend, wie ein Schlafwandelnder durch sein Zimmer, ohne selbst zu wissen, was er tat, getrieben von dem Feuerbrand in seinem Blut – und so näherte er sich der Tür zu dem Zimmer der anderen und stieß sie mit aller Kraft auf: der verrostete Riegel brach, die Tür flog auf und unter Lärm und Gepolter trat er einen Schritt über die Schwelle in das Schlafzimmer seiner Wirtsleute. Er sah, wie Katherina entsetzt emporschnellte und wie die Augen des Alten unter den zornig zusammengezogenen Brauen funkelten und wie furchtbarer Jähzorn sein ganzes Gesicht entstellte. Er sah, wie der Alte, ohne die Augen von ihm abzuwenden, mit irrender Hand nach der Flinte tastete, die an der Wand hing, wie es in der Mündung aufblitzte, die die unsichere Hand des Ergrimmten gerade auf seine Brust richtete – ein Schuß tönte, und gleich darauf ein wilder, fast unmenschlicher Schrei ...

Als der Rauch sich verflüchtigt hatte, bot sich Ordynoff ein entsetzlicher Anblick. Zitternd beugte er sich über den Alten. Murin lag in Krämpfen auf der Diele, Schaum vor dem Munde, das zuckende Gesicht, in dem von den Augen nur das Weiße zu sehen war, völlig entstellt. Ordynoff erriet, daß den Unglücklichen ein schwerer Anfall betroffen hatte. Zusammen mit Katherina kniete er bei ihm nieder, um ihm zu helfen ...

III.

Die ganze Nacht verbrachten sie in Aufregung bei dem Kranken. Am anderen Tage ging Ordynoff trotz der eigenen noch nicht überstandenen Krankheit schon frühmorgens hinaus. Auf dem Hofe traf er wieder den Hausknecht. Diesmal grüßte der Tatar schon von weitem und blickte ihn neugierig an, schien sich aber plötzlich zu besinnen und machte sich an seinem Besen etwas zu schaffen – schielte aber doch heimlich nach Ordynoff hinüber, der sich langsam näherte.

„Nun, hast du in der Nacht nichts gehört?“ fragte ihn Ordynoff.

„Hab’ wohl gehört.“

„Was ist das für ein Mensch? Wer ist er überhaupt?“

„Hast selber gemietet, mußt selber wissen. Nicht meine Sache.“

„Zum Teufel, Bursche, sprich, wenn ich dich frage!“ rief Ordynoff wütend in einer krankhaften Gereiztheit, die ihm an sich selbst ganz neu war.

„Was denn? Ist doch nicht meine Schuld. Deine eigene Schuld – hast Menschen erschreckt. Unten wohnt der Sargmacher, der hört sonstig nichts, aber heut hat er doch gehört, und seine Alte ist sonstig taub auf beiden Ohren, hat’s aber auch gehört, und auf dem anderen Hof, was schon weit genug ist, hat man’s auch gehört – da siehst du! Ich werde auf die Polizei gehen.“

„Nicht nötig, ich gehe bereits,“ sagte Ordynoff und wandte sich zur Pforte.

„Meinetwegen – hast selber gemietet ... Herr, Herr, wart!“ Ordynoff sah sich um; der Hausknecht berührte höflich die Mütze.

„Nun?“

„Wenn du gehst, geh ich zum Hauswirt.“

„Und?“

„Zieh lieber aus.“

„Du bist dumm,“ versetzte Ordynoff und wandte sich von neuem zum Gehen.

„Herr, Herr, wart doch!“ Der Hausknecht berührte wieder die Mütze und grinste halb verlegen: „Herr, ich möchte was raten: halt lieber dein Herz fest. Wozu armen Mensch verfolgen? Weißt doch – das ist Sünde. Gott sagt auch, das soll man nicht – weißt doch selber!“

„Nun höre mal – hier, nimm dies. Und nun sage mir: wer ist er?“

„Wer er ist?“

„Ja.“

„Ich sag’ auch ohne Geld.“

Hier griff er wieder nach dem Besen, fegte ein-, zweimal, sah dann wieder auf und blickte Ordynoff mit wichtiger Miene musternd an.

„Du bist ein guter Herr. Willst du nicht mit guten Menschen leben, dann nicht, ganz nach deinem Belieben. Da hast du gehört, was ich meine.“

Hieran blickte ihn der Tatar noch ausdrucksvoller an, schien aber, als er Ordynoffs Gleichgültigkeit bemerkte, gekränkt zu sein und machte sich wieder mit seinem Besen zu schaffen. Endlich tat er, als habe er die Arbeit beendet, näherte sich mit geheimnisvoller Miene Ordynoff, machte eine eigentümliche Geste, deren Bedeutung Ordynoff jedoch gleichfalls unverständlich blieb, und flüsterte:

„Er ist – verstehst du!“

„Was?“

„Verstand ist fort.“

„Wieso?“

„Wenn ich dir sage! Ich weiß, was ich weiß!“ fuhr er in noch geheimnisvollerem Tone fort. „Er ist krank. Er hatte eine Barke, solche große, weißt du, und noch eine und noch eine dritte und vierte, die fuhren alle auf der Wolga, ich bin selber von der Wolga, und dann hatte er noch eine Fabrik und die brannte nieder und so kam denn das!“

„Er ist also verrückt?“

„Nein doch, nein! Gar nichts von verrückt! Er ist ein kluger Kopf. Alles weiß er, viele Bücher hat er gelesen und dann anderen die Wahrheit gesagt! So – kam jemand: zwei Rubel, drei Rubel, vierzig Rubel, wie gerade ein jeder gibt – er schlägt das Buch auf und sagt dir alles, so und so, die ganze Wahrheit! Aber zuerst Geld auf den Tisch, ohne Geld – kein Wort!“

Und der Tatar lachte vor lauter Gefallen an der Taktik Murins.

„Er hat geweissagt, die Zukunft prophezeit?“

„M–hm!“ Der Hausknecht nickte zur Bestätigung wichtig mit dem Kopf. „Immer was wahr ist! Er betet zu Gott, betet viel. Aber das – versteh! – kommt so zuweilen über ihn,“ fügte der Tatar wieder mit seiner rätselhaften Geste hinzu.

In dem Augenblick rief jemand vom anderen Hof nach dem Hausknecht und gleich darauf erschien ein kleiner gebeugter alter Mann in einem Pelz. Er ging hüstelnd und, wie es schien, irgend etwas in seinen grauen spärlichen Bart murmelnd, mit schleppenden Schritten vorsichtig und langsam über den Hof, als fürchte er, jeden Augenblick auszugleiten. Man konnte glauben, es sei ein vor Altersschwäche kindisch gewordener Greis.

„Der Hauswirt! Der Hauswirt!“ flüsterte hastig der Tatar, nickte Ordynoff flüchtig zu und lief, die Mütze vom Kopf reißend, diensteifrig zu dem Alten, dessen Gesicht Ordynoff bekannt schien, wenigstens mußte er ihm unlängst irgendwo schon begegnet sein. Er überlegte noch, daß das schließlich nicht weiter erstaunlich war, und verließ den Hof. Der Hausknecht aber schien ihm jetzt ein geriebener Betrüger zu sein.

„Der Kerl hat mich ja einfach dumm machen wollen!“ dachte er. „Gott weiß, was noch dahintersteckt.“

Damit trat er auf die Straße. Doch neue Eindrücke lenkten ihn bald von den unangenehmen Gedanken ab. Übrigens waren diese Eindrücke auch nicht angenehmer Art: Der Tag war grau und kalt und es schneite ein wenig. Er fühlte, wie ihn wieder Kälteschauer durchrieselten. Es war ihm, als beginne die Erde unter ihm zu schaukeln. Da vernahm er plötzlich eine bekannte Stimme, die ihm in übertrieben freundlichem Tone einen guten Morgen wünschte.

„Jaroslaw Iljitsch!“ sagte Ordynoff.

Vor ihm stand ein gesund aussehender rotwangiger Herr von etwa – dem Aussehen nach – dreißig Jahren, nicht groß, mit grauen, blanken Äuglein, das ganze Gesicht ein einziges Lächeln, und gekleidet – nun, wie ein Jaroslaw Iljitsch immer gekleidet ist. Und mit diesem Lächeln streckte er ihm verbindlich die Hand entgegen. Ordynoff hatte vor genau einem Jahre seine Bekanntschaft gemacht, und zwar ganz zufällig, fast auf der Straße. Was zu dieser Bekanntschaft, abgesehen vom Zufall, in erster Linie beigetragen, war die besondere Vorliebe Jaroslaw Iljitschs, mit berühmten und angesehenen Leuten, namentlich mit literarisch gebildeten, mit bekannten Schriftstellern oder doch wenigstens vielversprechenden Talenten bekannt zu sein. Obschon dieser Jaroslaw Iljitsch nur eine sehr süßliche Stimme besaß, so wußte er ihr doch in der Unterhaltung, selbst mit den aufrichtigsten Freunden, einen ungewöhnlich selbstsicheren, jovialen und sonoren Ton zu verleihen, der etwas förmlich Imponierendes hatte – ganz als sei er nun einmal auf Grund einer gewissen Überlegenheit von vornherein zu disponieren gewohnt, und zwar gleich in einer Weise, als dulde er überhaupt keinen Widerspruch.

„Wie kommen Sie denn hierher? in diese Gegend?“ rief Jaroslaw Iljitsch mit dem lebhaftesten Ausdruck herzlicher Freude über das unverhoffte Wiedersehen.

„Ich wohne hier.“

„Seit wann denn?“ Die Stimme Jaroslaw Iljitschs klang sogleich um einen Ton oder ein paar Töne höher, denn er war wirklich überrascht und vergaß daher sozusagen seinen anderen Ton. „Und ich hab’s nicht mal gewußt! Dann bin ich ja so gut wie Ihr Nachbar! Ich wohne nämlich auch hier, sogar in nächster Nähe. Schon über einen Monat bin ich aus dem Rjäsanschen Gouvernement zurückgekehrt. Na, es freut mich, daß ich Sie doch mal eingefangen habe, bester Freund!“ Und Jaroslaw Iljitsch lachte sein gutmütiges Lachen. „Ssergejeff!“ rief er, plötzlich sich zurückwendend, in aufgeräumtester Stimmung. „Erwarte mich bei Tarassoff, aber daß sie dort ohne mich keinen Sack anrühren! Und dem Olssufjeffschen Hausknecht gib einen Rüffel und sag ihm, daß er sich sofort nach dem Geschäft begeben soll. In einer Stunde bin ich da ...“

Und nachdem er diesen Auftrag einem anderen zugerufen, faßte er gut gelaunt Ordynoff unter den Arm und führte ihn zum nächsten Gasthaus.

„So, das wäre erledigt. Aber jetzt lassen Sie uns nach der langen Trennung gemütlich ein paar Worte miteinander reden. Nun, sagen Sie zunächst, wie steht es mit Ihrer Arbeit?“ erkundigte er sich fast ehrfürchtig und mit gesenkter Stimme, wie eben ein teilnehmender eingeweihter Freund es tut.

„Ja ... was soll ich Ihnen sagen ... nicht anders, als früher,“ antwortete Ordynoff etwas zerstreut, da er gerade einem ganz anderen Gedanken nachhing.

„Das ist edel von Ihnen, Wassilij Michailowitsch, sehen Sie, so etwas erkenne ich an! Das nenne ich, sein Leben einer höheren Idee weihen!“ Hier drückte Jaroslaw Iljitsch Ordynoff kräftig die Hand. „Gott gebe Ihnen Erfolg auf Ihrem Gebiet ... Himmel! bin ich froh, daß ich Sie getroffen habe! Doch mal ein andrer Mensch, als so der tagtägliche Durchschnitt! Wie oft hab’ ich dort an Sie gedacht und mich im stillen gefragt, wo er wohl jetzt sein mag, unser genialer, geistreicher Wassilij Michailowitsch!“

Jaroslaw Iljitsch verlangte ein besonderes Zimmer für sich und seinen Gast, bestellte einen Imbiß, Schnäpse, und was so dazu gehört.

„Ich habe inzwischen recht viel gelesen,“ fuhr er mit einschmeichelndem Blick und in bescheidenem Tone fort. „Zunächst einmal den ganzen Puschkin ...“

Ordynoff sah ihn zerstreut an.

„Ja, in der Tat, das muß man ihm lassen: die Schilderung der menschlichen Leidenschaft ist allerdings ganz bewundernswert bei ihm. Doch zunächst erlauben Sie mir, Ihnen meinen Dank auszudrücken. Sie haben so viel für mich getan, eben durch die Klarlegung einer richtigen Denkart, Ihrer eigenen Weltanschauung, sozusagen ...“

„Aber ich bitte Sie! ...“

„Nein! – erlauben Sie: keine Widerrede! Ich liebe es nun einmal, jedem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und ich bin stolz darauf, daß wenigstens dieses Gefühl – eben das für die Gerechtigkeit – in mir nicht eingeschlummert ist.“

„Ich bitte Sie, dann sind Sie gegen sich selbst ungerecht, und ich wüßte wirklich nicht ...“

„Nein, im Gegenteil, durchaus gerecht,“ widersprach Jaroslaw Iljitsch mit ungewöhnlichem Eifer. „Was bin ich denn im Vergleich mit Ihnen? Nicht wahr?“

„Ach, Gott ...“

„O ja ...“

Kurzes Schweigen folgte.

„Als ich aber Ihrem Rat nachkam, habe ich zugleich eine Menge schlechter Beziehungen aufgegeben, und damit auch, versteht sich, viele schlechte Gewohnheiten,“ hub nach einem Weilchen Jaroslaw Iljitsch wieder in demselben Tone an. „In meiner freien Zeit nach dem Dienst sitze ich jetzt größtenteils zu Hause, lese abends irgendein nützliches Buch und ... ich habe wirklich nur den einen Wunsch, Wassilij Michailowitsch, meinem Vaterlande zu dienen, d. h. soviel eben in meinen Kräften steht ...“

„Das würde bei Ihren Möglichkeiten nicht wenig sein.“

„Meinen Sie? ... Weiß Gott, Sie legen einem immer Balsam auf die Wunden, mein edler junger Freund!“

Jaroslaw Iljitsch reichte Ordynoff ungestüm die Hand und dankte mit einem kräftigen Druck.

„Sie trinken nicht?“ fragte er dann, nachdem sich seine Erregung etwas gelegt.

„Ich kann nicht, ich bin krank.“

„Krank? Was Sie sagen? Nein, wirklich – in der Tat? Schon lange? – und wie, wo haben Sie sich denn das zugezogen? Wollen Sie, ich werde sofort – – welcher Arzt behandelt Sie? Ich werde sogleich meinen Arzt benachrichtigen, ich eile selbst zu ihm hin. Er ist überaus geschickt, glauben Sie mir!“

Und Jaroslaw Iljitsch wollte bereits nach seinem Hut greifen.

„Nein, danke, nicht nötig! Ich lasse mich überhaupt nicht behandeln und liebe Ärzte nicht ...“

„Was Sie sagen? Aber das geht doch nicht so! Wirklich: er ist überaus geschickt!“ beteuerte Jaroslaw Iljitsch überzeugt. „Vor kurzem noch – nein, das muß ich Ihnen doch erzählen! – Vor kurzem, ich war gerade bei ihm, kam ein armer Schlosser zu ihm. ‚Ich habe mir hier,‘ sagt er, ‚die Hand mit meinem Werkzeug beschädigt. Bitte, Herr Doktor, machen Sie mir meine Hand wieder gesund ...‘ Nun, Ssemjon Pafnutjitsch sah, daß dem Armen der Brand drohte und traf sofort seine Vorbereitungen zur Amputation. Er amputierte in meiner Gegenwart. Aber das tat er so, sage ich Ihnen, mit solch einer Eleg... das heißt in einer so entzückenden Weise, daß es, ich muß gestehen – wenn nicht das Mitleid mit dem leidenden Menschen es verhindert hätte – einfach ein Vergnügen gewesen wäre, zuzusehen! – ich meine so der Wissenschaft halber. Aber, wie gesagt, wann und wo haben Sie sich denn Ihre Krankheit geholt?“

„Beim Umzug in meine neue Wohnung ... Ich bin soeben erst aufgestanden.“

„Ja, Sie sehen auch noch recht angegriffen aus. Sie hätten eigentlich nicht gleich so hinausgehen sollen. Also dann leben Sie nicht mehr dort, wo Sie früher wohnten? Aber was hat Sie denn zum Umziehen veranlaßt?“

„Meine alte Wirtin verließ Petersburg.“

„Domna Ssawischna? Ist’s möglich? ... Solch eine gute alte Frau! Sie wissen doch? – ich empfand für sie wirklich fast so etwas wie – Sohnesgefühle. Es war so etwas ... etwas wie aus Urgroßväterzeiten in ihrem halb schon begrabenen Leben. Und wenn man sie so ansah, schien es einem fast, als habe man die guten alten Zeiten selber noch leibhaftig vor sich ... Das heißt, ich meine so jene gewisse ... eben so eine gewisse Poesie – Sie verstehen schon, was ich sagen will! ...“ schloß Jaroslaw Iljitsch etwas konfus und errötete vor Verlegenheit allmählich bis über die Ohren.

„Ja, sie war eine gute alte Frau.“

„Aber erlauben Sie, zu fragen, wo haben Sie sich denn jetzt eingemietet?“

„Nicht weit von hier, im Hause eines Koschmaroff.“

„Ah! den kenne ich. Ein prächtiger Alter! Wir sind sogar sehr gut miteinander bekannt, kann ich sagen, – wirklich, ein netter alter Mann!“

Jaroslaw Iljitsch war es sichtlich sehr angenehm, von diesem netten alten Mann reden und von sich sagen zu können, daß er mit ihm gut bekannt sei. Er bestellte noch ein Schnäpschen und begann zu rauchen.

„Haben Sie Ihre eigene Wohnung?“

„Nein, ich lebe wieder bei einem Vermieter.“

„Bei wem denn? Vielleicht kenne ich ihn gleichfalls.“

„Bei Murin, einem Kleinbürger. Ein alter Mann, groß von Wuchs ...“

„Murin ... Murin ... warten Sie mal: auf dem hinteren Hof, über dem Sargmacher?“

„Ja.“

„Hm ... und haben Sie es dort ruhig?“

„Ich bin erst vor kurzem eingezogen.“

„Hm ... ich meinte nur, hm ... übrigens, ist Ihnen noch nichts Besonderes aufgefallen?“

„In welchem Sinne? Wie meinen Sie das?“

„Ich will ja nichts gesagt haben ... ich bin ja überzeugt, daß Sie es bei ihm gut haben werden, wenn Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden sind ... Ich meinte es durchaus nicht in diesem Sinne. Das will ich vorausgeschickt haben. Aber – da ich eben Ihren Charakter kenne ... Ja, wie finden Sie denn eigentlich den Alten?“

„Er ist, glaube ich, ein sehr kranker Mensch.“

„Ja, er ist sehr leidend ... Aber haben Sie sonst nichts ...? so was, hm ... Besonderes an ihm bemerkt? Haben Sie mit ihm gesprochen?“

„Nur sehr wenig. Er scheint menschenscheu und wohl auch boshaft zu sein.“

„Hm ...“ Jaroslaw Iljitsch sann nach.

„Ein unglücklicher Mensch!“ sagte er schließlich nach längerem Schweigen.

„Er?“

„Ja ... Ein unglücklicher und dabei unglaublich seltsamer und ungewöhnlicher Mensch. Übrigens, wenn er Sie sonst nicht belästigt ... Verzeihen Sie, daß ich überhaupt Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt habe, aber es interessiert mich gewissermaßen selbst ...“

„Ja, da haben Sie nun auch mein Interesse erweckt ... Ich würde jetzt sehr gern Näheres über ihn erfahren, da ich nun einmal bei ihm wohne –“

„Tja, sehen Sie mal, ich weiß nur so ... dies und das. Man sagt, der Mensch sei früher sehr reich gewesen. Er war Kaufmann, wie Sie wahrscheinlich bereits gehört haben. Dann aber traf ihn mancherlei Unglück und er verarmte. Bei einem Sturm waren mehrere seiner großen Wolgabarken zerschellt und mit der ganzen Fracht untergegangen. Ferner hat er eine große Fabrik besessen, deren Leitung, wenn ich nicht irre, einem Verwandten anvertraut war, und diese Fabrik brannte nieder, wobei der Verwandte in den Flammen umgekommen sein soll. Das war natürlich ein schrecklicher Verlust, wie Sie sich denken können. So soll denn auch Murin, wie man erzählt, nach der Katastrophe in einer solchen Stimmung gewesen sein, daß man schon für seinen Verstand zu fürchten begann. Und in der Tat hat er sich auch im Streit mit einem anderen Kaufmann, einem gleichfalls reichen Barkenbesitzer, so sonderbar benommen, daß man sich den Vorfall schließlich nicht anders hat erklären können, als eben mit einer gewissen Geistesstörung, was ich denn auch gelten lassen will. Ich habe noch manches andere gehört, was für diese Auffassung gleichfalls sprechen könnte. Dann ist da noch etwas vorgefallen, – etwas, wofür es eigentlich keine Erklärung mehr gibt, es sei denn, daß man es einfach als Schicksal auffaßt.“

„Und das war?“ forschte Ordynoff.

„Man sagt, daß er, vermutlich in einem Augenblick des Wahnsinns, einen jungen Kaufmann, den er bis dahin sogar liebgehabt, umgebracht habe. Nach begangener Tat aber, als er wieder zur Besinnung gekommen, sei er darüber so verzweifelt gewesen, daß er sich das Leben habe nehmen wollen. Wenigstens erzählt man so. Wie dann die Sache verlaufen ist, das weiß ich nicht genau, eines aber steht fest: daß er nämlich während der ganzen folgenden Jahre Buße getan hat ... Aber was ist mit Ihnen, Wassilij Michailowitsch? – strengt meine Erzählung Sie an?“

„Oh, nein, bitte, fahren Sie nur fort ... Sie sagen, er habe Buße getan, aber vielleicht nicht er allein?“

„Das weiß ich nicht. Wenigstens ist außer ihm niemand in diese Angelegenheit verwickelt gewesen. Übrigens habe ich nichts Näheres darüber gehört. Ich weiß nur ...“

„Nun?“

„Ich weiß nur – das heißt, ich habe eigentlich nichts Besonderes hinzuzufügen ... ich will nur sagen, wenn Ihnen mal etwas Außergewöhnliches auffallen sollte, dann müssen Sie sich eben sagen, daß das einfach die Folgen der verschiedenen Schicksalsschläge sind, die ihn einer nach dem anderen betroffen haben.“

„Er scheint recht gottesfürchtig zu sein. Vielleicht ist er nur scheinheilig?“

„Das glaube ich nicht, Wassilij Michailowitsch. Er hat so viel gelitten. Mir scheint er vielmehr ein Mensch mit reinem Herzen zu sein.“

„Aber jetzt ist er doch nicht mehr wahnsinnig? Den Eindruck macht er wenigstens nicht.“

„O nein, nein! Dessen kann ich Sie versichern. Er ist jetzt zweifellos wieder im vollen Besitz aller seiner Verstandeskräfte. Nur daß er, wie Sie ganz richtig bemerkten, sehr gottesfürchtig und wohl auch ziemlich wortkarg ist. Aber im allgemeinen, wie gesagt, ist er sogar ein sehr kluger Mensch. Spricht gewandt, sicher ... und ist, wissen Sie, überhaupt ein findiger Kopf. Seinem Gesicht sieht man übrigens auch jetzt noch sein stürmisches Leben an. Das pflegt ja gewöhnlich seine Spuren zu hinterlassen. Wie gesagt, ein seltsamer Mensch, und ungeheuer belesen!“

„Er liest aber, wie mir scheint, nur religiöse Bücher?“

„Ja, er ist Mystiker.“

„Was?“

„Ein Mystiker. Aber das ganz unter uns gesagt. Ich will Ihnen auch noch verraten – aber als Geheimnis, das zwischen uns bleiben muß –, daß er eine Zeitlang unter strengster Aufsicht stand. Dieser Mensch hatte nämlich einen großen Einfluß auf alle, die zu ihm kamen.“

„Inwiefern das?“

„Es klingt zwar kaum glaublich, aber ... Sehen Sie, damals lebte er noch nicht in diesem Stadtviertel. Er hatte schon einen gewissen Ruf, und eines Tages fuhr Alexander Ignatjewitsch – erblicher Ehrenbürger, ein angesehener, allgemein geachteter Mann – fuhr also eines Tages mit einem Leutnant zu ihm, natürlich nur aus Neugier. Sie kommen zu ihm, werden empfangen, und der sonderbare Mensch sieht sie an. Er begann wie gewöhnlich damit, daß er sich die Gesichter der Leute genau und prüfend ansah, ehe er dareinwilligte, sich mit den Betreffenden überhaupt einzulassen. Gefielen sie ihm nicht, so schickte er sie hinaus, und zwar, wie man sagt, oft in einer sehr unhöflichen Weise. Er fragte also auch diese, was sie wünschten? Alexander Ignatjewitsch antwortete ihm darauf, das könne ihm ja seine Gabe und Menschenkenntnis von selbst sagen. ‚Dann bitte, ins andere Zimmer,‘ antwortete er, indem er sich an denjenigen wandte, der von beiden allein ein Anliegen an ihn hatte. Alexander Ignatjewitsch erzählt nun zwar nicht, was er dort im anderen Zimmer gehört oder erlebt hat – als er aber wieder herausgekommen ist, da soll er weiß wie Kreide gewesen sein. Dasselbe weiß man auch von einer Dame der Petersburger Gesellschaft zu berichten: auch sie soll ihn kreideweiß und in Tränen aufgelöst verlassen haben.“

„Sonderbar. Aber jetzt beschäftigt er sich doch nicht mehr damit?“

„Es ist ihm strengstens untersagt. Übrigens gibt es noch andere Vorfälle. Ein junger Fähnrich zum Beispiel, der Sproß und die Hoffnung einer vornehmen Familie, hat es sich einmal erlaubt, über ihn zu lächeln. ‚Was lachst du?‘ – Mit diesen Worten soll sich der Alte geärgert zu ihm gewandt haben. ‚In drei Tagen wirst du das sein!‘ Und dabei kreuzte er seine Arme so über der Brust, wie man sie den Leichen im Sarge über der Brust zu kreuzen pflegt.“

„Nun, und?“

„Tja, ich wage nicht, daran zu glauben, aber man sagt, die Prophezeiung sei tatsächlich eingetroffen. Er hat die Gabe, Wassilij Michailowitsch ... Sie beliebten zu lächeln während meiner treuherzigen Erzählung. Ich weiß, Sie sind mir, was Aufklärung betrifft, weit voraus. Aber ich glaube nun einmal an ihn. Er ist kein Scharlatan. Übrigens erwähnt auch Puschkin etwas Ähnliches in seinen Werken.“

„Hm! Ich will Ihnen nicht widersprechen. Aber, Sie sagten, glaube ich, daß er nicht allein lebe?“

„Das weiß ich nicht ... Ach so, ja, ich glaube, seine Tochter lebt bei ihm.“

„Seine Tochter?“

„Ja, – oder nein: seine Frau, glaube ich. Ich weiß nur, daß es irgendein Frauenzimmer ist. Hab’ sie nur flüchtig vom Rücken gesehen und nicht weiter beachtet.“

„Hm! Sonderbar ...“

Der junge Mann verfiel in Nachdenken. Jaroslaw Iljitsch dagegen in angenehme Beschaulichkeit. Das Wiedersehen mit Ordynoff hatte ihn erfreut und fast gerührt, überdies war er sehr mit sich selbst zufrieden, da er eine so anregende Geschichte hatte erzählen können. Er saß, betrachtete Ordynoff und rauchte dazu. Plötzlich sprang er erschrocken auf.

„Mein Gott, da ist schon eine ganze Stunde vergangen und ich denke nicht mal daran! Bester, teuerster Wassilij Michailowitsch, ich danke dem Schicksal, daß es uns zusammengeführt hat, aber jetzt – jetzt muß ich eilen! Ist es erlaubt, Sie einmal in Ihrem Gelehrtenheim aufzusuchen?“

„Warum nicht, bitte, es wird mich sehr freuen. Vielleicht spreche ich auch einmal bei Ihnen vor, wenn ich Zeit finde ... ich weiß noch nicht ...“

„Was Sie sagen? – Wollen Sie wirklich? Damit würden Sie mich unendlich erfreuen! Sie glauben nicht, wie sehr es mich ehren würde!“

Sie verließen das Gasthaus. Als sie auf die Straße hinaustraten, stürzte ihnen Ssergejeff entgegen und meldete, daß William Jemeljanowitsch sogleich vorüberfahren werde – und sie erblickten auch tatsächlich ein Paar hellgelber Pferde und ein elegantes Wägelchen im Hintergrunde der Straße. Jaroslaw Iljitsch drückte die Hand seines „besten“ Freundes, ganz als gelte es, sie zu zerdrücken, griff an den Hut und eilte dem Gefährt des Würdenträgers entgegen, wobei er sich unterwegs noch zweimal nach Ordynoff umsah und ihm zum Abschied wiederholt zunickte.

Ordynoff empfand eine solche Müdigkeit in allen Gliedern, daß er kaum die Füße zu bewegen vermochte. Mit Mühe schleppte er sich nach Hause. An der Pforte traf er wieder den Hausknecht, der aus der Ferne aufmerksam seinen Abschied von Jaroslaw Iljitsch beobachtet hatte und nun sehr zuvorkommend tat. Doch Ordynoff ging ohne ein Wort an ihm vorüber. In der Tür stieß er mit einer kleinen grauen Gestalt zusammen, die gesenkten Blickes gerade aus Murins Wohnung trat.

„Herrgott, vergib mir meine Sünden!“ flüsterte das Kerlchen, indem es entsetzt zur Seite sprang.

„Verzeihen Sie, habe ich Sie verletzt?“

„N–nein, danke untertänigst für die Aufmerksamkeit ... O Herrgott, Herrgott!“

Und das kleine Männlein stieg murmelnd, sich räuspernd und fromme Sprüche flüsternd, mit äußerster Vorsicht die Treppe hinunter. Es war das der Hauswirt: derselbe, dem gegenüber der Tatar sich so überaus dienstfertig gezeigt hatte. Und jetzt erinnerte sich Ordynoff, daß er dieses gebrechliche Männlein bei Murin bereits an dem Tage gesehen hatte, als er einzog.

Er fühlte, daß die letzten Erlebnisse seine Nerven erschüttert und überreizt hatten; wußte auch, daß seine Phantasie und Empfindsamkeit aufs äußerste erregt waren, und er nahm sich daher vor, sich vor allem selbst nicht zu trauen. Allmählich verfiel er wieder in einen Zustand völliger Regungslosigkeit, der ihn wie ein Gefühl bleierner Schwere gefangen hielt und seine Brust wie mit einer Zentnerlast bedrückte, unter der sich sein Herz in dumpfer Sehnsucht quälte. Seine ganze Seele war voll von lautlosen, unversiegbaren Tränen ...

Er sank wieder auf das Bett, das sie für ihn zurechtgemacht hatte, und begann von neuem zu lauschen. Deutlich unterschied er das Atmen zweier Menschen im Nebenzimmer, das eine war schwer, krankhaft, ungleichmäßig, das andere sanft, oft gar nicht vernehmbar, auch unregelmäßig, doch wie von innerer Erregung beherrscht: als schlage dort ein Herz in dem gleichen Verlangen, in der gleichen Leidenschaft. Hin und wieder hörte er ihre leisen, weichen Schritte und das Geräusch ihrer Kleider, und jede Bewegung ihrer Füße erweckte in seiner Brust einen dumpfen, qualvollen und doch süßen Schmerz. Endlich schien es ihm, als höre er ein leises Schluchzen und dann ein inbrünstiges Gebet. Da wußte er, daß sie vor dem Heiligenbilde auf den Knien lag und in Verzweiflung die Hände rang ... Wer war sie? Für wen betete sie? Welch eine verzweiflungsvolle Leidenschaft marterte ihr Herz? Weshalb quälte es sich und grämte es sich und ergoß es sich in so heißen und hoffnungslosen Tränen?

Er begann, alles, was sie zu ihm gesprochen, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, jedes Wort, das noch wie Musik in seinen Ohren klang, und auf jede Erinnerung, auf jeden Ausdruck, den er in Gedanken andächtig wiederholte, antwortete sein Herz mit einem dumpfen schweren Schlage ... Einen Augenblick schien es ihm, als sehe er das alles nur im Traum. Doch in demselben Augenblick erbebte auch schon sein ganzes Wesen bis ins Mark, daß er zu vergehen glaubte vor Schmerz und Sehnsucht, als er in der Erinnerung nun wieder ihren heißen Atem, ihre weiche Wange und ihren glühenden Kuß zu spüren meinte. Er schloß die Augen und verlor sich in seligen Gefühlen. Irgendwo schlug eine Uhr. Es wurde spät. Die Dämmerung sank.

Plötzlich war ihm, als neige sie sich wieder über ihn und sehe ihn an mit ihren wundersamen, klaren Augen, die feucht schimmerten von glänzenden Tränen und einem hellen Glück, so still und rein, wie der hohe unendliche Himmel an einem heißen Sommertage. Und aus ihrem Antlitz sprach eine so feierliche Stille und ihr Lächeln war eine solche Verheißung von unendlicher Seligkeit, war so voll Mitleid und Barmherzigkeit, und so voll kindlicher, vertrauensseliger Hingebung schmiegte sie sich an seine Schulter, daß ein Stöhnen sich seiner entkräfteten Brust entrang vor lauter Glück. Es war, als wolle sie ihm etwas sagen, etwas ihm anvertrauen. Wieder glaubte er, den Klang einer Stimme zu vernehmen, der sein Herz durchbohrte. Gierig atmete er die Luft ein, die ihr naher Atem erwärmte und gleichsam mit einer elektrischen Spannung für ihn erfüllte. In Sehnsucht streckte er die Arme aus, schöpfte tief Atem und schlug die Augen auf ... Sie stand vor ihm, über ihn gebeugt, bleich wie nach einem großen Schreck, am ganzen Körper vor Aufregung zitternd. Sie sprach etwas zu ihm, sie flehte und rang die Hände. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie sank zitternd an seine Brust ...

IV.

„Was hast du? Was ist dir geschehen?“ fragte Ordynoff, plötzlich erwacht, sie immer noch in starker und heißer Umarmung an sich pressend. „Was fehlt dir, Katherina? Was ist dir zugestoßen, mein Lieb?“

Sie weinte leise und verbarg ihr glühendes Gesicht an seiner Brust. Lange Zeit vermochte sie nichts zu sprechen. Ihr ganzer Körper zitterte, wie nach einem großen Schreck.

„Ich weiß nicht, ich weiß es nicht,“ brachte sie endlich kaum vernehmbar hervor, als stehe ihr das Herz still vor Angst, „ich weiß auch nicht, wie ich zu dir gekommen bin ...“ Und sie schmiegte sich noch fester an ihn, und in einem unbezwingbaren, krankhaften Gefühl küßte sie seine Schulter, seinen Arm, seine Brust. Endlich, wie in Verzweiflung, preßte sie die Hände vor das Gesicht und sank in die Kniee. Als aber Ordynoff sie in einem unsagbaren Gefühl von Beklemmung emporhob und sie neben sich niedersetzen ließ, da errötete sie heiß vor Scham und ihre Augen baten wie um Gnade, und das Lächeln, das sie auf ihre Lippen zwang, verriet, daß sie kaum zu versuchen wagte, die unbezwingbare Macht der neuen Empfindung zu brechen, denn der Versuch wäre ja doch fruchtlos gewesen. Plötzlich schien wieder etwas sie zu erschrecken: mißtrauisch schob sie ihn mit der Hand zurück, sah ihn kaum mehr an und antwortete gesenkten Blickes nur angstvoll und leise auf seine sich überstürzenden Fragen. –

„Hat dich vielleicht ein böser Traum geängstigt? Oder ist dir sonst etwas Böses zugestoßen? Sag doch! Oder hat er dich erschreckt? ... Er fiebert und phantasiert ... Vielleicht hat er im Fieber etwas gesprochen, was du nicht hättest hören sollen? ... Du hast etwas Furchtbares gehört? Ja? Oder war es nur ein Traum?“

„Nein ... ich schlief ja gar nicht,“ antwortete Katherina, mit Mühe ihre Aufregung niederringend. „Ich fand keinen Schlaf. Er aber schwieg, nur einmal rief er mich. Ich trat an sein Bett, sprach zu ihm, rief ihn – ich ängstigte mich so! – aber er hörte mich nicht und wachte nicht auf. Er ist sehr schwer krank, möge der liebe Gott ihm helfen! Da senkte sich wieder der Gram in mein Herz, bitterer Gram, und ich betete, betete! Und da, sieh, da kam das über mich ...“

„Beruhige dich, Katherina, sei ruhig, mein Lieb, sei ruhig! Wir haben dich gestern erschreckt ...“

„Nein, ich erschrak ja gar nicht!“ ...

„Was ist es denn? Ist dir denn das auch früher schon geschehen?“

„Ja, auch früher schon!“ Und sie erbebte und schmiegte sich wieder wie ein geängstigtes Kind an ihn. „Sieh, ich bin doch nicht umsonst zu dir gekommen,“ sagte sie, ihr Weinen unterbrechend, und dankbar drückte sie ihm die Hände, „und nicht umsonst wurde es mir so schwer, allein zu sein! Also nicht mehr weinen, weine auch du nicht, wozu solltest du um fremdes Leid Tränen vergießen! Spare sie für trübe Tage, wenn es dir in der Einsamkeit schwer wird und du keinen Menschen bei dir hast! ... Höre, hattest du eine Geliebte?“

„Nein ... vor dir – keine ...“

„Vor mir? ... Du nennst mich deine Geliebte?“

Sie sah ihn plötzlich mit Verwunderung an, wollte etwas sagen, schwieg aber und senkte den Blick. Leise stieg ihr die Röte ins Gesicht, das plötzlich wie in Flammenglut getaucht stand. Leuchtender, durch die vergossenen Tränen glänzten ihre Augen und eine Frage schien auf ihren Lippen zu schweben. Mit verschämter Schelmerei blickte sie ein-, zweimal zu ihm auf, dann senkte sie plötzlich wieder den Kopf.

„Nein, ich kann nicht deine erste Liebe sein,“ sagte sie, und „nein, nein,“ wiederholte sie nachdenklich mit leisem Kopfschütteln, und allmählich erschien wieder ein stilles Lächeln auf ihren Lippen, „nein, mein Lieber,“ fuhr sie fort, „ich werde nicht deine Geliebte sein!“

Und sie sah ihn an, aber da sprach plötzlich so viel Weh aus ihrem Gesicht, eine so hoffnungslose Trauer, und so überraschend brach aus ihrem Innersten Verzweiflung hervor, daß Ordynoff ein unbegreifliches krankhaftes Gefühl des Mitleids mit ihrem ihm unbekannten Leid erfaßte: und er sah sie an, wie einer, dessen Mitleid ihm selbst zur noch größeren Qual wird.

„Höre, was ich dir sagen werde,“ sagte sie mit einer Stimme, die ihm ins Herz schnitt, und sie nahm seine Hände und drückte sie, wie um aufsteigende Tränen zu ersticken. „Höre mich an, Lieber, und vergiß es nicht, was ich dir sage: bezähme du dein Herz und liebe mich nicht so, wie du mich jetzt liebst. Es wird dir dann leichter sein, du wirst dich vor einem argen Feinde bewahren und eine liebe Schwester gewinnen. Ich werde zu dir kommen, wenn du willst, werde dich liebkosen und es mir doch nicht zur Schande werden lassen, daß ich dich kennen gelernt habe. War ich doch auch Tag und Nacht bei dir, als du das böse Fieber hattest! Nimm mich als Schwester! Wir sind doch nicht umsonst einander gut und nicht umsonst hab’ ich unter Tränen für dich zur Gottesmutter gebetet! Eine andere wirst du nicht finden. Suche auf dem ganzen Erdenrund, durchsuche den Himmel – nein, glaube mir, du wirst keine zweite finden, die dir eine solche Geliebte sein wird, wie ich, wenn es Liebe ist, um was dein Herz bittet. Oh, glühend werde ich dich lieben, werde dich ewig so lieben wie jetzt, und werde dich deshalb lieben, weil deine Seele so rein ist, so hell, so ... so durchsichtig! – ich werde dich lieben, weil ich, als ich dich zum ersten Male sah, sogleich fühlte, daß du meines Hauses Gast bist, ein erwünschter, ein ersehnter Gast, und uns nicht ohne Grund um Aufnahme batest. Ich werde dich lieben, weil deine Augen lieben, wenn du einen ansiehst, und von deinem Herzen künden. Und wenn sie etwas sagen, dann weiß ich gleich alles, was in dir ist, und dafür möchte man dann das Leben hingeben, um dieser deiner Liebe willen, möchte alle Freiheit dem eigenen Willen nehmen, denn es ist süß, desjenigen Sklavin zu sein, dessen Herz man gefunden hat ... Aber mein Leben, das gehört ja nicht mir, das ist schon fremdes Eigentum, und der Wille ist gebunden! Doch die Schwester nimm und sei mir ein Bruder und hilf mir mit deinem Herzen, wenn wieder das Schlimme mich anficht. Nur sorge du selbst, daß ich mich nicht zu schämen brauche, zu dir zu kommen und die lange Nacht wie jetzt bei dir zu bleiben. Hörst du mich? Hat auch dein Herz es gehört? Hast du auch alles verstanden, was ich dir sagte? ...“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, sah zu ihm auf und legte die Hand auf seine Schulter, doch da war es, als verließe sie alle Kraft, aufschluchzend sank sie an seine Brust und in einem Weinkrampf tobte ihre Leidenschaft sich aus. Ihre Brust wogte, ihr Gesicht brannte wie in Glut.

„Mein Leben!“ stammelte Ordynoff, dem die Erregung die Augen umflorte und den Atem benahm. „Meine Wonne ... du!“ flüsterte er, ohne zu wissen, was er sagte, ohne die Worte, ohne sich selbst zu begreifen, zitternd vor Furcht, mit einem Hauch den ganzen Zauber zu zerstören, den ganzen Sinnenrausch, und damit alles, was mit ihm geschah und um ihn war und was er eher für Unwirklichkeit als für Wirklichkeit hielt: so entrückt fühlte er sich! „Ich weiß nicht, ich verstehe dich nicht, ich habe vergessen, was du mir sagtest, alle Vernunft ist in mir erloschen – nur das Herz fühle ich ... meine Königin du!“ ...

Seine Stimme versagte vor Aufregung. Sie schmiegte sich immer fester, immer wärmer, glühender an ihn. Da erhob er sich taumelnd und, unfähig, sich noch länger zu bezwingen, wie entkräftet vor Seligkeit, sank er in die Knie vor ihr. Eine Erschütterung wie ein Schluchzen brach endlich schmerzhaft aus seiner Brust hervor und durchrieselte seinen ganzen Körper – und von der Fülle der noch nie empfundenen Verzückung bebte seine Stimme, die tief aus seinem Innersten hervordrang, wie der Ton einer Saite, die man in Schwingung gebracht.

„Wer bist du, wer warst du? Woher kommst du? Aus welchem Himmel bist du zu mir herabgestiegen? Es ist ja alles wie ein Traum, ich kann noch nicht glauben, daß du wirklich bist! Schilt mich nicht ... laß mich sprechen, laß mich alles dir sagen, alles! ... Ich habe schon lange einmal sprechen wollen ... wer bist du, meine Freude, sag? Wie hast du mein Herz gefunden? Erzähle mir, bist du schon lange meine Schwester? ... Wo warst du bisher, erzähl mir von dir, – erzähl mir, wo hast du früher gelebt, was hast du dort geliebt? Erzähle mir alles, ich will alles von dir wissen! Wo ist deine Heimat? Ist der Himmel dort wie bei uns? Wer war dir dort nahe, wer hat dich vor mir geliebt? Zu wem hat dich zuerst dein Herz gedrängt? ... Hast du deine Mutter gekannt und hat sie dich als Kind geliebkost und gepflegt oder bist du wie ich unter Fremden aufgewachsen? Sage mir, bist du immer so gewesen? Erzähl mir von deinen Träumen und Wünschen und was von ihnen in Erfüllung gegangen ist und was nicht – erzähle mir alles! ... Wer war der erste, den dein Mädchenherz liebgewann und wofür hast du es ihm hingegeben? Sage mir, was soll ich dafür geben, was muß ich dir geben ... für – dich?! ... Sag mir, mein Lieb, meine Sonne, mein Schwesterchen, sag mir, womit kann ich mir dein Herz verdienen?“

Seine Stimme versagte und er preßte den Kopf in ihren Schoß. Als er aber aufblickte, überlief es ihn vor Schreck: Katherina saß totenblaß und regungslos auf dem Bett, ihre Augen starrten mit leerem Blick über ihn hinweg in die Luft, nur ihre Lippen zitterten in stummem, unsagbarem Schmerz. Langsam erhob sie sich, wankte zwei Schritte vom Bett und fiel vor dem alten Heiligenbilde nieder ... sinnlose, unverständliche Worte entrangen sich stoßweise ihrer Brust. Sie schien ohnmächtig zu werden. Ordynoff hob sie auf, trug sie auf sein Bett und stand in atemloser Angst über sie gebeugt. Nach einer Weile schlug sie die Augen auf, bewegte sich, wie um sich auf den Ellbogen zu stützen, sah sich mit irrem Blick im Zimmer um, sah zu ihm auf und tastete nach seiner Hand. Sie zog ihn näher zu sich, ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen, aber sie konnte nichts hervorbringen. Endlich brach sie in einen Strom von Tränen aus.

Sie stammelte ein paar Worte, aber das Schluchzen zerriß dieselben und erstickte ihre Stimme. Als sie dann wieder den Kopf hob, sah sie mit solch einer Verzweiflung Ordynoff an, daß er, der sie nicht verstand, sich näher über sie beugte, um keinen Laut aus ihrem Munde zu verlieren. Endlich hörte er sie deutlich flüstern:

„Ich bin verdorben, man hat mich verdorben, ich bin verloren!“

Ordynoff erhob jäh den Kopf und sah sie voll Bestürzung an. Ein gemeiner, scheußlicher Gedanke durchzuckte ihn. Und Katherina sah dieses plötzliche schmerzliche Zusammenzucken seines Gesichtes.

„Ja! Verdorben!“ stieß sie hervor, „ein böser Mensch hat mich verführt, – er, er ist mein Verderber! ... Ich habe ihm meine Seele verkauft ... Warum, oh, warum hast du von der Mutter gesprochen! Wozu brauchtest du mich daran zu erinnern: Gott möge dir ... möge dir verzeihen! ...“

Und sie weinte still vor sich hin. Ordynoffs Herz schlug so todesweh, daß er vor Schmerz hätte aufschreien mögen.

„Er sagt,“ flüsterte sie geheimnisvoll, mit zurückgehaltenem Atem, „er sagt, wenn er stirbt, wird er kommen und meine sündige Seele holen ... Ich gehöre ihm, ich hab’ ihm meine sündige Seele verkauft ... Und jetzt quält er mich und liest mir aus seinen Büchern vor ... Dort, sieh, das ist sein Buch! Dort! Er sagt, ich habe eine Todsünde begangen ... Sieh, da liegt sein Buch, sieh ...“

Und sie wies mit Grauen auf einen großen Band. Ordynoff hatte nicht bemerkt, wie der in sein Zimmer geraten war. Er nahm ihn mechanisch – es war eines von jenen mit reichem Bilderschmuck ausgestatteten Büchern der Altgläubigen, wie er sie früher einmal gelegentlich gesehen hatte. Doch war er unfähig, seine Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu lenken.

Sacht umfing er sie und redete ihr beruhigend zu.

„Denk nicht daran, laß das jetzt ... Man hat dich geängstigt und erschreckt ... ich bin ja bei dir ... Ruhe dich bei mir aus, mein Lieb, mein Licht!“

„Du weißt noch nichts! nichts!“ Sie umklammerte wieder seine Hände. „Ich bin ja immer so! ... Immer fürchte ich mich ... Aber du, nein, du quäle mich nicht, quäle mich nicht! ...“

„Ich gehe dann zu ihm,“ fuhr sie nach einer Weile fort. „Manchmal bespricht er mich einfach mit seinen eigenen Worten, ein anderes Mal nimmt er sein Buch, das größte, und liest mir vor – liest so drohende und strenge Worte! – ich weiß nicht, was es ist, und ich verstehe auch nicht jedes Wort, aber mich überkommt dann solch eine Angst, und wenn ich auf seine Stimme horche, ist es mir, als spräche das gar nicht er, sondern ein anderer, kein guter, sondern einer, den nichts erweicht und der so unerbittlich ist, daß es mir das Herz zermalmt und die Qual noch größer wird, als zu Anfang mein Gram war!“

„Geh nicht mehr zu ihm! Warum gehst du zu ihm?“ sagte Ordynoff, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, was er sprach.

„Warum bin ich zu dir gekommen? Frag mich – ich weiß es nicht ... Er aber sagt mir immer: bete, bete, bete! Zuweilen stehe ich in dunkler Nacht auf und bete lange –, stundenlang. Oft übermannt mich der Schlaf, aber die Angst weckt mich wieder, immer wieder, und dann kommt es mir vor, daß ringsum ein dunkles Gewitter aufsteigt, daß mir Schlimmes droht, daß die Bösen mich zu Tode quälen und zerreißen werden, daß ich keines Menschen Hilfe zu erflehen vermag und mich niemand vor dem Furchtbaren retten kann. Meine Seele will sich selbst verzehren, und es ist, als wolle sich mein ganzer Körper in Tränen auflösen ... Dann fange ich wieder an, zu beten, und bete und bete, bis die Gottesmutter liebevoller auf mich herabschaut. Dann erst stehe ich auf und gehe halbtot wieder zu Bett, manchmal aber schlafe ich auch so vor dem Heiligenbilde kniend ein. Da kommt es denn vor, daß er erwacht und mich ruft ... und dann liebkost und tröstet und beruhigt er mich ... und dann wird mir wohl viel leichter. Ja, gleichviel was für ein Unglück auch noch käme, bei ihm fürchte ich mich nicht mehr. Er ist mächtig! Groß ist sein Wort!“

„Aber was, was ist denn dein Unglück?!“ ... fragte Ordynoff zitternd, mit Verzweiflung im Herzen.

Katherina erbleichte. Sie sah ihn wie eine zum Tode Verurteilte an, der man die letzte Hoffnung auf Gnade nimmt.

„Ich ... ich bin verflucht, ich bin eine Seelenmörderin, meine Mutter hat mich verflucht! Ich habe meine eigene Mutter umgebracht!“ ...

Ordynoff umschlang sie wortlos. Bebend schmiegte sie sich an ihn. Er fühlte, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, als wolle sich ihre Seele diesem Körper entringen.

„Ich habe sie unter die feuchte Erde gebracht,“ sagte sie, ganz beherrscht von der Erinnerung und ihrer Aufregung – und sie schien das unwiderruflich Geschehene, unwiederbringlich Vergangene in diesen Augenblicken noch einmal zu erleben. „Ich wollte es schon lange sagen, aber er verbot es mir immer, bald mit Bitten, bald mit Vorwürfen und zornigen Worten. Zuweilen freilich beginnt er selbst, mich daran zu erinnern, als wäre er mein Feind und Widersacher. Mir aber kommt alles das – so auch heute nacht – wie stets und immer gegenwärtig vor ... Höre, höre mich! Das ist schon lange, sehr lange her, ich weiß nicht einmal mehr, wann es war, und doch steht es vor mir, als wäre es gestern gewesen, wie ein Traum der letzten Nacht, der bis zum Morgen mein Herz bedrückt hat. Der Gram macht die Zeit noch einmal so lang. Setze dich, setze dich hierher, ich werde dir mein ganzes Leid erzählen – verfluche mich, die ich schon verflucht bin ... Ich will dir mein ganzes Leben anvertrauen ...“

Ordynoff wollte sie aufhalten, wollte sie am Sprechen verhindern, doch sie faltete die Hände, wie um ihn bei seiner Liebe anzuflehen, ihr doch Gehör zu schenken, und dann fuhr sie in noch größerer Erregung fort. Ihre Erzählung war wirr und sprunghaft, ihre Stimme verriet den Sturm, der in ihrer Seele tobte, aber trotzdem verstand Ordynoff alles, denn ihr Leben war für ihn zu seinem eigenen Leben geworden, ihr Leid auch sein Leid. Er glaubte wieder seinen Feind vor sich zu sehen. Der Feind wuchs vor ihm auf mit jedem ihrer Worte und ward immer greifbarer, und es war ihm, als presse er mit ungeheurer Kraft sein Herz zusammen und spotte obendrein mit höhnischen Schimpfworten seiner Wut. Sein Blut begann zu sieden, drängte sich heiß in seine Gedanken und brachte sie in Verwirrung. Da war es ihm denn, als stehe der boshafte Alte aus seinem Traum plötzlich auf (Ordynoff war davon überzeugt) und stände leibhaftig vor ihm.

„Es war eine Nacht wie heute,“ begann Katherina, „nur viel dunkler und grausiger, und der Wind heulte durch unseren Wald, wie ich es noch nie gehört hatte ... begann schon in jener Nacht mein Verderben? ... Die Eiche vor unseren Fenstern brach. Ich weiß noch, der alte Bettler, der immer zu uns kam – er war schon ein ganz, ganz alter Mann – erzählte, daß er sich dieser Eiche noch aus seiner Kindheit erinnere: damals sei sie schon ebenso groß gewesen, wie dann, als der Sturm sie brach. In derselben Nacht – wie heute entsinne ich mich dessen noch! – wurden Vaters Barken auf dem Fluß von diesem Sturm zertrümmert, und als die Fischer zu uns gelaufen kamen – wir wohnten bei der Fabrik – da fuhr der Vater gleich selbst zum Fluß, obschon er krank war. Wir blieben allein, Mutter und ich. Wir saßen beide im Zimmer, ich schlummerte, Mutter aber war so traurig und weinte still ... und ich wußte, warum sie weinte. Sie war erst vor kurzem vom Krankenbett aufgestanden, war noch ganz blaß und sagte mir immer, ich solle ihr das Totenhemd nähen ... Plötzlich, um Mitternacht, höre ich: jemand klopft draußen an die Pforte. Ich sprang auf, alles Blut strömte mir zum Herzen – die Mutter schrie auf vor Schreck ... Ich sah nicht nach ihr hin, ich fürchtete mich, aber ich nahm die Laterne und ging selbst hinaus, um zu öffnen ... Das war er! Mir wurde bange, denn ich bangte mich immer, wenn er kam, und das schon von Kindheit an, soweit meine Erinnerung zurückreicht, seitdem ich überhaupt denken kann! Damals hatte er noch kein graues Haar: sein Bart war dunkel und sein Blick brannte wie Feuer. Bis dahin hatte er mich noch kein einziges Mal freundlich angesehen. Er fragte: ‚Ist die Mutter zu Hause?‘ Ich schloß die Pforte und sagte, daß der Vater nicht zu Hause sei. Er sagte darauf nur: ‚Ich weiß,‘ und plötzlich sah er mich an, so an ... zum ersten Male sah er so auf mich. Ich wandte mich zum Gehen, er aber stand immer noch. ‚Warum kommst du nicht herein?‘ – ‚Ich überlege,‘ sagte er. Langsam folgte er mir – als wir aber eintraten, fragte er plötzlich leise: ‚Warum sagtest du mir, daß der Vater nicht zu Hause sei, als ich nach deiner Mutter fragte?‘ Ich schwieg ... Die Mutter erstarrte, als sie ihn sah – und wollte dann zu ihm stürzen ... Er aber schenkte ihr kaum einen Blick – ich sah alles. Er war ganz naß und durchfroren – woher er kam und wo er sich aufhielt, das haben Mutter und ich nie gewußt. Damals hatten wir ihn schon ganze neun Wochen nicht gesehen ... Die Mütze warf er nun auf den Tisch, die Fausthandschuhe streifte er ab – neigte sich aber nicht vor den Heiligenbildern, bot keinen Gruß der Hausfrau – sondern setzte sich ans Feuer ...“

Katherina stützte den Kopf in die Hand, als bedrücke und quäle sie etwas, doch schon bald erhob sie ihn wieder und fuhr fort:

„Er fing an, mit der Mutter tatarisch zu sprechen. Ich verstand kein Wort. Früher hatte man mich immer fortgeschickt, wenn er kam; damals aber wagte die Mutter nicht, ihrem eigenen Kinde ein Wort zu sagen. Der Böse kaufte meine Seele, ich aber sah die Mutter an, als wäre ich stolz darauf. Ich merkte, daß sie von mir sprachen. Mutter begann zu weinen. Ich sah, wie seine Hand wieder an seinen Dolch fuhr – in der letzten Zeit hatte ich schon mehrmals seine Hand nach dem Dolch, den er vorn im Gürtel trug, greifen sehen, wenn er mit der Mutter sprach. Ich stand auf und griff nach seinem Gürtel, um ihm den Dolch zu entreißen. Er aber knirschte vor Wut und wollte mich fortstoßen – stieß mich auch vor die Brust, doch ich ließ nicht los. Ich dachte, jetzt sterbe ich auf der Stelle; es wurde mir dunkel vor den Augen und ich brach lautlos zusammen, aber ich schrie nicht auf. Und da sah ich, obschon mir fast die Sinne schwanden, – wie er seinen Gürtel abnahm und den Ärmel an der Hand aufstreifte, mit der er mich gestoßen, und den kaukasischen Dolch aus der Scheide zog und ihn mir reichte: ‚Da, schneide sie ab, die Hand, räche an ihr, was sie dir tat; ich aber, du Stolze, werde mich dafür tief bis zur Erde vor dir verneigen.‘ Ich legte den Dolch beiseite. Mein Herz begann dumpf zu schlagen, aber ich sah nicht nach ihm hin. Ich weiß noch, ich lächelte, sagte aber kein Wort und sah nur der Mutter in die traurigen Augen, und sah sie zornig an, während zugleich ein schlechtes Lächeln auf meinen Lippen blieb. Und die Mutter saß ganz bleich und totenstill ...“

Ordynoff lauschte mit unendlicher Spannung jedem Wort ihrer Erzählung. Doch allmählich legte sich ihre Erregung und ihre Rede wurde ruhiger. Die Erinnerung überwältigte das arme junge Weib und löste ihren Gram in ein Gefühl auf, das weit hinaus über das ganze uferlose Meer ihrer Sinne reichte.

„Er nahm die Mütze, ohne zu grüßen. Und ich nahm wieder die Laterne, um ihn hinauszugeleiten, indem ich der Mutter zuvorkam, die, obwohl sie noch krank war, doch aufstehen und ihm das Geleit geben wollte. Wir kamen zur Pforte, ich öffnete sie ihm, verscheuchte die Hunde, schwieg aber. Er blieb stehen und plötzlich nimmt er die Mütze ab und grüßt mich mit einem Gruß bis zur Erde. Zugleich sehe ich, wie er die Hand in den Mantel schiebt und aus der Brusttasche ein kleines, mit rotem Saffianleder überzogenes Kästchen hervorholt und es öffnet. Ich sehe hin: es sind echte Perlen. Sie sollten für mich sein. ‚Ich habe,‘ sagte er, ‚im Städtchen eine Schöne, der wollte ich zum Gruß diese Perlen bringen, doch nun habe ich sie nicht ihr gebracht: nimm sie, schönes Mädchen, schmücke mit ihnen deine Schönheit oder zertritt sie mit dem Fuß, wie du willst, aber nimm sie.‘ Ich nahm sie, aber zertreten wollte ich sie nicht – das wäre zuviel Ehre gewesen. So nahm ich sie tückisch und sagte kein Wort. Ich kehrte zurück in das Zimmer und legte sie vor der Mutter auf den Tisch – dazu hatte ich sie genommen! Sie schwieg lange Zeit und war wie ein Handtuch so bleich, und, es war, als hatte sie Furcht, mit mir zu sprechen. ‚Was bedeutet das, Katjä?‘ fragte sie endlich. Ich aber sagte: ‚Dir, Mutter, hat es der Kaufmann gebracht, mehr weiß ich davon nicht.‘ Und ich sah, wie ihr die Tränen über die Wangen herabrollten und wie das Atmen ihr schwer wurde. ‚Nicht mir, böses Töchterchen, nicht mir!‘ Ich weiß noch, so weh sprach sie die Worte, so weh, als sei ihre ganze Seele voll Tränen. Und ich sah auf – ich wollte mich zu ihren Füßen niederwerfen, aber statt dessen sagte ich, was mir der böse Geist plötzlich eingab: ‚Nun, wenn nicht dir, dann wohl dem Vater. Wenn er zurückkehrt, werde ich sie ihm geben und ihm sagen, daß Kaufleute hier waren und ihre Ware vergessen haben ...‘ Da brach sie in Tränen aus und weinte bitterlich ... ‚Das werde ich selbst tun, werde dem Vater sagen, was für Kaufleute hier waren und nach was für einer Ware sie fragten ... Ich werde es ihm schon sagen, wessen Tochter du bist, du Gottlose! Du bist nicht mehr meine Tochter, du bist eine arglistige Schlange! Als mein Kind verfluche ich dich!‘ Ich schwieg und keine Träne trat mir ins Auge ... Ach! es war alles wie erstorben in mir ... Ich ging hinauf in mein Mädchenzimmer und die ganze Nacht horchte ich auf den Sturm und zusammen mit dem Sturm, das fühlte ich, immer lauschend, entstanden in mir meine Gedanken.

„Fünf Tage vergingen. Dann kehrte gegen Abend der Vater heim, düster und böse, denn unterwegs hatte ihn die Krankheit noch mehr mitgenommen. Ich sah, den einen Arm trug er in der Binde – da erriet ich, daß der Feind seinen Weg gekreuzt hatte. Und der Feind hatte ihn krank gemacht. Und ich wußte auch, wer sein Feind war: Ich wußte alles! ... Mit der Mutter sprach er kein Wort, nach mir fragte er nicht, die Leute ließ er alle zusammenrufen und befahl, die Fabrik stillstehen zu lassen und das Haus vor Fremden zu hüten. Da ahnte mein Herz, daß in unserem Hause etwas nicht gut war. So wachten wir denn. Die Nacht verging langsam, wieder stürmte es draußen im Dunkeln und meine Seele wurde von Erregung geschüttelt. Ich öffnete das Fenster – mein Gesicht glühte, meine Augen weinten und mein Herz konnte keine Ruhe finden. Wie Feuer brannte es in mir! So – hinaus hätte ich mögen, hinaus aus dem drückenden Zimmer, und weit weg, bis ans Ende der Welt, wo die Blitze und Stürme entstehen, wo das Unwetter geboren wird! Meine Mädchenbrust bebte und zitterte ... plötzlich, es war schon spät – ich erwachte wie aus leichtem Schlummer ... oder hatte sich ein Nebel auf meine Seele gesenkt und mich verwirrt? – plötzlich höre ich, wie ans Fenster gepocht wird: ‚Mach auf!‘ – und ich sehe, ein Mensch ist an einem Strick heraufgeklettert. Ich ahnte sogleich, wer der späte Gast war, öffnete das Fenster und ließ ihn in mein einsames Zimmer. Das war er! Die Mütze nahm er nicht ab, setzte sich auf die Truhe, und sein Atem ging keuchend, als sei eine Meute von Verfolgern hinter ihm her gewesen. Ich stand und wußte, daß ich bleich war. ‚Ist der Vater zu Hause?‘ fragte er. – ‚Ja.‘ – ‚Und die Mutter auch?‘ – ‚Auch die Mutter,‘ sagte ich. ‚Dann sei jetzt ein Weilchen still ... Hörst du nichts?‘ – ‚Ich höre.‘ – ‚Was?‘ – ‚Ein Pfeifen unter dem Fenster!‘ – ‚Nun, willst du jetzt, schönes Mädchen, den Feind um seinen Kopf bringen? Willst du den Vater rufen und mich dem Verderben preisgeben? Deinem Mädchenwillen füge ich mich: was du willst, das geschehe! Hier hast du einen Strick, binde mich, wenn dein Herz dir befiehlt, für deine Mädchenehre einzustehen.‘ – Ich schwieg. – ‚Nun? Sprich doch, meine Schöne!‘ – ‚Was willst du?‘ fragte ich. – ‚Was ich will? Von meiner alten Liebe Abschied nehmen und einer neuen, einer jungen Liebe – dir, mein schönes Mädchen, meine Seele verpfänden ...‘ Ich lachte auf. Ich weiß selbst nicht, wie seine freche Rede mein Herz berühren konnte. ‚So laß mich jetzt, schönes Mädchen, nach unten gehen, mein Herz prüfen und dem Vater und der Mutter meinen Gruß entbieten,‘ sagte er und stand auf. Ich zitterte so, daß mir die Zähne aufeinanderschlugen, und ich mein Herz wie glühendes Eisen in der Brust fühlte. Und ich ging, öffnete ihm die Tür. Doch wie er schon über die Schwelle trat, nahm ich alle meine Kraft zusammen und stieß noch hervor: ‚Da hast du dein Geschmeide, und wage es nicht wieder, mir Geschenke zu bringen!‘ – und ich warf ihm das rote Kästchen mit den Perlen nach.“

Katherina hielt inne, um Atem zu schöpfen. Sie wechselte, wie schon oft während ihrer Erzählung, wieder die Farbe: ihre blauen Augen waren dunkel und glänzten seltsam. Plötzlich aber erblaßte sie von neuem und ihre Stimme senkte sich und bebte wie in verhaltener Trauer.

„Ich blieb allein,“ fuhr sie fort, „und es war mir, als habe mich ein Wirbelsturm erfaßt. Plötzlich höre ich rufen, schreien, höre wie über den Hof die Leute laufen, höre: ‚Die Fabrik brennt!‘ Ich rührte mich nicht, ich hörte nur, wie alle aus dem Hause liefen; ich selbst blieb allein mit der Mutter. Ich wußte, daß sie mit dem Tode rang, seit drei Tagen lag sie schon im Sterben, ich, ihre verfluchte Tochter, ich wußte es! ... Plötzlich tönte ein Schrei unter meinem Zimmer, nur ein ganz schwacher, leiser Schrei, der so klang, wie ein Kind aufschreit, wenn es im Traum erschrickt, und dann war wieder alles still ... Ich löschte das Licht aus – es überlief mich kalt in der Dunkelheit, ich bedeckte das Gesicht mit den Händen, ich fürchtete mich, mich umzusehen. Dann drang plötzlich wieder Stimmengewirr zu mir, lauter und lauter – von der Fabrik her kamen Menschen gelaufen. Ich beugte mich weit zum Fenster hinaus – und ich sah: da brachten sie den Vater, tot, und ich hörte noch, wie man sagte: ‚Von der Treppe fiel er, von der Treppe ... gerade in den siedenden Kessel – der Teufel muß ihn hinuntergestoßen haben!‘ Ich sank auf mein Bett; kein Glied rührte sich, aber ich wartete, doch wußte ich selbst nicht, auf was und auf wen ich wartete. Furchtbar war diese Stunde. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß. Ich weiß nur, daß ich schließlich ein Gefühl hatte, als drehe sich alles rund um mich. Im Kopf empfand ich einen dumpfen Druck und der Rauch biß mir in die Augen. Und es freute mich, daß mir das Ende nahte. Da berührte plötzlich jemand meine Schultern und hob mich auf. Ich schlug die Augen auf und sah, so gut ich sehen konnte: er war es – und ganz versengt waren seine Kleider und heiß, ich glaube, sie schwelten noch und rochen nach Rauch.

„‚Ich bin gekommen, um dich zu holen, schönes Mädchen,‘ sagte er. ‚Führe du mich aus dem Verderben, wie du mich ins Verderben hineingeführt hast. Meine Seele habe ich heut für dich geopfert. Allein aber kann ich für die Sünde dieser verwünschten Nacht nicht Vergebung erflehen – es sei denn, daß wir zwei gemeinsam beten und bitten!‘ Und er lachte dann, der Böse! ‚Nun weise den Weg,‘ sagte er, ‚wie man von hier fortkommt, ohne gesehen zu werden!‘ Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn. Wir stiegen die Treppe hinunter, gingen leise durch den Korridor, ich schloß die Tür der Vorratskammer auf – die Schlüssel trug ich bei mir – und wies auf das Fenster. Dort lag der Garten. Da ergriff er mich, hob mich auf seinen starken Arm und schwang sich mit mir aus dem Fenster. Hand in Hand liefen wir weiter, lange liefen wir. Dann stand endlich der dichte dunkle Wald vor uns. Er blieb stehen und horchte. ‚Sie verfolgen uns, Katjä! Die Verfolger sind uns auf den Fersen, schönes Mädchen, aber nicht in dieser Stunde ist es uns bestimmt, unser Leben zu lassen! Küsse mich, schönes Mädchen, verheiße mir Liebe und ewiges Glück!‘ – ‚Wovon sind deine Hände blutig?‘ fragte ich. – ‚Sind meine Hände blutig, mein Lieb? Ich habe eure Hunde gemetzelt. Sie bellten zu laut für den späten Gast. Komm!‘ Und wir liefen weiter. Da sahen wir auf dem Waldweg meines Vaters Reitpferd, das hatte die Zügel zerrissen und war aus dem Stall gelaufen: es hatte nicht mit verbrennen wollen! ‚Das schickt uns Gottes Hilfe!‘ sagte er, ‚ich hebe dich, Katjä, aufs Pferd!‘ Ich schwieg. ‚Oder willst du nicht? Ich bin doch kein Unchrist, kein böser Geist, da sieh, ich bekreuzige mich, wenn du willst,‘ und er schlug auch wirklich das Kreuz. Dann schwang er sich aufs Pferd, hob mich zu sich hinauf und ich drückte mich an ihn und vergaß an seiner Brust alles um mich her, und es war ganz so, als hielte mich nur ein Traum umfangen. Als ich aber aus diesem Traum erwachte, da sah ich, daß wir an einem breiten, breiten Fluß waren. Er stieg ab, hob mich vom Pferde und ging zum Schilf: dort hatte er seinen Nachen versteckt. Zum Abschied klopfte er dem Tier noch den Hals: ‚Nun leb wohl, alter Freund!‘ sagte er, ‚geh, such dir einen neuen Herrn, die alten haben dich alle verlassen.‘ Das ging mir so nah! Ich schlang meine Arme um den Hals des Tieres und preßte das Gesicht an sein glattes Fell und küßte es. Dann stiegen wir in den Nachen, er nahm die Ruder und bald lag das Ufer weit hinter uns. Und sobald das Ufer nicht mehr zu sehen war, zog er die Ruder ein und schaute sich rings um auf dem Wasser. Und während er noch so schaute, murmelte er:

„‚Grüße dich, Mütterchen, du freier Strom, bist manches Gottesmenschen Ernährerin und mir meine Beschützerin! Hast du mein Gut auch bewahrt, meine Waren sanft getragen?‘ Ich schwieg und hatte den Blick gesenkt, denn mein Antlitz brannte vor Scham. ‚Hättest du doch lieber alles genommen, du stürmische, unersättliche,‘ murmelte er weiter, ‚und würdest mir nun dafür versprechen, meine schönste, vielkostbare Perle zu hüten und zu wiegen! Sag mir doch nur ein Wort, Mädchen, was bist du so stumm? – strahle Wärme, sei Sonne und verscheuche das Dunkel der Nacht!‘ Und er sagte es und lachte selbst dazu! Sein Herz brannte nach mir, ich fühlte es, aber doch wollte ich, in meiner Scham, das nicht dulden. Ich wollte etwas sagen, aber ich wußte nicht, wie ich es sagen sollte, und so sagte ich nichts. ‚Nun, wohlan, wie du willst!‘ sagte dafür er zu meinem scheuen Schweigen, sagte es wie mit Trauer, und war sehr niedergeschlagen. ‚Mit Gewalt läßt sich Liebe doch nicht erzwingen. Gott mit dir, du Hochmütige! Da sieht man, daß dein Haß gegen mich groß ist! Bin ich deinen blauen Augen so wenig liebwert erschienen, meine Taube?‘ Ich hörte es und Haß kam über mich, Haß aus Liebe; doch bezwang ich mein Herz und sagte: ‚Liebwert oder nicht liebwert, wie kann ich das wissen, wohl aber eine andere Törichte, Schamlose, die ihr reines Mädchenstübchen in dunkler Nacht entweiht, die ihre Seele für eine Todsünde verkauft und die ihr unkluges Herz nicht bezwungen hat. Das wissen vielleicht nur meine heißen Tränen und das sollte auch der noch wissen, der wie ein Verbrecher auf das Leid, das er verursacht, obendrein stolz ist und über ein Mädchenherz sich lustig macht!‘ Ich sagte es, vermochte dann aber nicht länger an mich zu halten und brach in Tränen aus ... Er schwieg, und sah mich nur an, daß ich wie ein Blatt erzitterte. ‚So höre denn, Mädchen,‘ sagte er dann, und seine Augen brannten auf mir, ‚es sind keine leeren Worte, die ich dir sage, sondern es ist ein großes Wort, das ich dir jetzt gebe: solange du mir Glück schenken wirst, so lange werde ich dir ein milder Herr sein, wenn du mich aber einmal nicht mehr liebhast, – so mache keine unnützen Worte, sage nichts, bemühe dich nicht: nur ein Zucken deiner Zobelbrauen, ein Blick aus deinem dunklen Auge, eine Bewegung deines kleinen Fingers laß genug sein und ich gebe deine Liebe frei und schenke dir deine goldene Freiheit zurück. Nur wird das zu derselben Stunde, du wunderbar Stolze, mein Leben enden und mir den Tod bringen.‘ Da lächelten alle meine Sinne zu seinen Worten ...“

In tiefer Erregung hielt Katherina in ihrer Erzählung inne. Sie holte schwer Atem, lächelte sinnend vor sich hin und wollte fortfahren, doch da begegneten ihre glänzenden Augen Ordynoffs fieberglühendem Blick, der wie gebannt an ihrem Antlitz hing. Sie zuckte zusammen, wollte etwas sagen, aber nur das Blut stieg ihr wieder ins Gesicht ... Und nun – wie fassungslos hob sie die Hände, umklammerte ihren Kopf und warf sich mit dem Gesicht auf das Kissen. – Alles erbebte in Ordynoff! Ein qualvolles Gefühl, eine Erregung, über die er sich keine Rechenschaft zu geben vermochte und die unerträglich war, ergoß sich wie ein Gift durch alle seine Adern und wuchs, und wuchs: ein wilder und doch gefesselter Trieb, eine gierig verlangende, nicht zu ertragende Leidenschaft verschlang sein ganzes Denken und tobte durch alle seine Gefühle. Gleichzeitig aber begann eine unendliche, uferlose Trauer immer lastender sein Herz zu bedrücken. Mehr als einmal hatte er, während Katherina erzählte, aufschreien und ihr zurufen wollen, daß sie doch schweigen solle. Er wollte sich ihr schon zu Füßen werfen und sie unter Tränen anflehen, ihm seine früheren Liebesqualen, sein erstes, ihm selbst noch unverständliches reines Verlangen wiederzugeben, und er sehnte sich förmlich zurück nach den Tränen, die nun schon lange versiegt waren. Sein Herz verging vor Sehnsucht und es war ihm, als sei es blutüberströmt und schließe alle Tränen in sich ein, die seine Seele nicht mehr erlösen wollten. Er begriff kaum, was Katherina ihm erzählte, und das Gefühl, das das arme junge Weib in ihm erregte, machte seine Liebe irre und scheu. In diesem Augenblick verfluchte er seine Leidenschaft: sie drohte, ihn zu ersticken, sie marterte ihn und es war ihm, als fließe nicht Blut, sondern siedendes Blei durch seine Glieder.

„Ach, nicht das ist mein Elend, was ich dir bis jetzt erzählt habe!“ sagte Katherina, sich wie nach einem plötzlichen Entschluß aufrichtend, „nicht das, nicht das!“ stieß sie mit einer Stimme hervor, in der ein neues, sie überwältigendes Gefühl zitterte und in der die ganze Qual ihrer Seele lag, die sich zu zerreißen schien. „Mein Leid und mein Jammer ist etwas ganz anderes! Was ist mir die Mutter, wenn ich auch auf der ganzen Welt keine zweite leibliche Mutter mehr finden kann! Was liegt mir daran, daß sie mich in einer bitteren Stunde verflucht hat! Was liegt mir an meinem früheren sonnigen Leben, an meinem warmen Stübchen und meiner Mädchenfreiheit! und was liegt daran, daß ich mich dem Bösen verkauft und meine Seele dem Verderben hingegeben habe, daß ich für das kurze Glück ewige Schuld trage! Ach, nein, das ist es nicht, obschon darin mein Verderben liegt! Aber bitter ist mir dies und es zerreißt mein Herz, daß ich seine Sklavin geworden bin, daß meine Entehrung und Schande mir Schamlosen lieb sind, daß das gierige Herz sich daran freut, seiner Schmach zu gedenken, als wäre sie eine Lust und ein Glück – das, nur das ist mein Elend, daß keine Kraft zur Empörung in ihm ist und kein Zorn über die ihm angetane Schmach! ...“

Der Herzschlag stockte in der Brust des armen Weibes und ein krampfhaftes Aufschluchzen erstickte ihre Worte. Ihr Atem strich heiß über ihre brennenden Lippen, ihre Brust hob und senkte sich und ihre Augen blitzten in wildem Zorn. Ihr ganzes Gesicht war dabei in diesem Augenblick so bezaubernd, es sprach solch eine Flut von Gefühl und Leidenschaft aus ihm und jeder Zug, jede Linie ihres Antlitzes bebte in einer so berauschenden Schönheit, daß alles feindliche Empfinden, das in Ordynoffs Brust aufstieg, sofort wieder verschwand. Sein Herz drängte zu ihr hin, wollte sich an ihr zitterndes Herz drücken und voll Leidenschaft in sinnlosem Rausch gemeinsam mit ihr in den Wellen desselben Sturmes untertauchen, in demselben Ausbruch unbeschreiblicher Raserei, gemeinsam mit ihr vergehen und, wenn es sein mußte, mit ihr sterben. Katherina begegnete dem flimmernden Blick Ordynoffs und lächelte, daß eine doppelte Flammenglut sein Herz durchloderte. Er wußte nicht mehr, was mit ihm geschah.

„Hab Erbarmen mit mir, hab Gnade!“ flüsterte er ihr mit verhaltener Stimme zu und beugte sich zu ihr nieder, so nah, so nah, daß sein Atem mit dem ihren zusammenströmte, während er ihr zugleich in die Augen sah. „Du richtest mich zugrunde! Ich weiß von deinem Leid nichts, meine Seele ist verwirrt ... Was geht es mich an, worüber dein Herz weint! Sage, was du verlangst ... ich werde es tun. So komm, laß, töte mich nicht, bring mich nicht um! ...“

Regungslos sah ihn Katherina an. Die Tränen waren versiegt auf ihren heißen Wangen. Sie wollte ihn unterbrechen, wollte seine Hand erfassen, wollte selbst etwas sagen und fand doch kein Wort. Ein seltsames Lächeln erschien langsam auf ihren Lippen, ja fast war es, als wolle ein Lachen hervorbrechen ...

„So habe ich dir wohl noch nicht alles erzählt,“ sagte sie endlich mit stockender Stimme. „Höre weiter ... wirst du auch mir zuhören, du heißes Herz? Höre, was deine Schwester dir erzählt. Du hast noch wenig von ihrem Leid erfahren! Ich wollte dir erzählen, wie ich mit ihm ein Jahr verlebte, doch wozu ... Als aber dies Jahr vergangen war, da zog er mit seinen Freunden stromabwärts und ich blieb bei seiner Pflegemutter am Landungsort. Ich wollte dort bis zu seiner Rückkehr verweilen. Ich wartete einen Monat, wartete noch einen – da begegnete mir im Städtchen ein junger Kaufmann, und wie ich ihn erblickte, erinnerte ich mich meiner früheren goldenen Jahre. ‚Schwesterchen, liebes Schwesterchen!‘ sagte er, als er mich erkannte, ‚ich bin Aljoscha, dein Spielkamerad: die Alten verlobten uns als Kinder – weißt du noch? Hast du mich vergessen? Erinnere dich, ich bin aus demselben Ort wie du ...‘ – ‚Was sagt man dort von mir?‘ fragte ich. ‚Man sagt, du seist fortgegangen, habest deine Mädchenehre vergessen und dich einem Räuber, einem Seelenverderber hingegeben,‘ antwortete mir Aljoscha lachend. ‚Und was sagtest du von mir, Aljoscha?‘ ‚Vieles wollte ich dir sagen, als ich hierherkam,‘ – und sein Herz verwirrte sich – ‚vieles wollte ich dir sagen, aber jetzt, wo ich dich sehe, habe ich alles vergessen ... verdorben hast du mich!‘ sagte er leise. ‚So sei es denn, nimm auch meine Seele, und solltest du mein Herz auch verspotten und über meine Liebe lachen, du Schöne! ... Ich bin allein, habe mein Erbe und bin mein eigener Herr, und meine Seele ist mein, habe sie keinem verkauft, wie eine andere es getan, die ihr Gewissen begraben hat, und nicht zu kaufen brauchst du sie, umsonst gebe ich sie dir, denn verdienen läßt sie sich ja nicht, wie man sieht!‘ Ich lachte, und nicht ein- oder nur zweimal hat er mir das gesagt – einen ganzen Monat lebte er dort, ließ alles andere liegen, vergaß die Waren, entließ seine Leute, lebte dort ganz allein. Da tat er mir schließlich leid und ich sagte eines Morgens zu ihm: ‚Erwarte mich, Aljoscha, wenn die Nacht dunkelt, unten am Landungsplatz; laß uns dann zu dir fahren! Ich bin meines schalen Lebens hier überdrüssig!‘ Die Nacht kam, ich schnürte mein Bündelchen, und meine Seele begann sich zu sehnen und sie spielte mit meinen Gedanken. Da sehe ich – mein Herr tritt ein, ganz unerwartet, unverhofft! – ‚Sei gegrüßt,‘ sagte er. ‚Komm. Auf dem Fluß wird es heute Sturm geben, die Zeit drängt.‘ Ich folgte ihm; wir kamen an den Fluß, aber bis zu den Unsrigen war es weit. Da sehen wir – ein Boot hat angelegt und in ihm sitzt ein bekannter Ruderer, der jemand zu erwarten scheint. ‚Guten Abend, Aljoscha, Gott helfe dir!‘ sagt mein Herr. ‚Was, – hast dich verspätet oder willst du noch zu deinen Schiffen? Nimm uns mit, sei so gut und bringe uns zu den Unsrigen. Mein Boot ist nicht hier und ich kann nicht schwimmen.‘ – ‚Steige ein,‘ sagte Aljoscha, und mein ganzes Herz erbebte, als ich seine Stimme vernahm. ‚Setzt euch, der Wind ist für alle und in meinem Boot ist auch für euch noch ein Platz.‘ Wir stiegen ins Boot. Die Nacht war dunkel, die Sterne hatten sich versteckt, der Wind heulte und die Wellen wuchsen, vom Ufer aber waren wir bald schon über eine Werst weit entfernt. Wir schwiegen alle.

„‚Sturm!‘ sagte endlich mein Herr. ‚Der bringt diesmal nichts Gutes! Einen solchen wie heut nacht habe ich auf dem Fluß noch niemals erlebt. Wir sind zu schwer für das Boot! Drei Menschen kann es bei diesem Sturm nicht tragen!‘ – ‚Ja, du hast recht, drei kann es nicht tragen, da ist einer von uns zu viel,‘ sagte Aljoscha, und in seiner Stimme klang ein verhaltenes Beben. ‚Nun was, Aljoscha?‘ sagte er, ‚ich kannte dich schon als kleines Kind, hab mit deinem seligen Vater Bruderschaft getrunken, haben uns Salz und Brot gegenseitig gebracht – nun sage mir, Aljoscha, könntest du ohne Boot von hier aus ans Ufer gelangen ... würdest du untergehen und dein Leben verlieren? – oder würdest du zur Not das Ufer erreichen?‘ – ‚Nein,‘ sagte Aljoscha, ‚ich würde es nicht erreichen.‘ – ‚Aber wer weiß, vielleicht ist die Stunde dir hold und du könntest es doch?‘ – ‚Nein, bei dem stürmischen Fluß kann ich es nicht wagen, ich fände meinen Tod in den Wellen.‘ – ‚So höre jetzt, Katherinuschka, meine schönste vielkostbare Perle!‘ wandte er sich da an mich. ‚Ich erinnere mich einer ähnlichen Nacht, doch wogte da nicht die Welle, die Sterne glänzten hell und der Mond schien ... Ich will dich nur so, ganz harmlos, fragen, ob du sie nicht vergessen hast?‘ – ‚Nein,‘ sagte ich. ‚Und wenn du sie nicht vergessen hast, dann wirst du dich wohl auch noch erinnern, wie ein Verwegener ein schönes Mädchen lehrte, ihre Freiheit zurückzugewinnen, wenn ihr jemand nicht mehr liebwert erscheint – was?‘ – ‚Auch das habe ich nicht vergessen,‘ sage ich, mehr tot als lebendig. – ‚Ah! hast also nichts vergessen! Nun sieh – für das Boot sind drei zu schwer. Sollte da nicht jemandes Stunde gekommen sein? Sag, meine Liebe, sprich es aus, dein Wort, meine Taube, du Süße ...‘

„Ich habe damals das Wort nicht gesagt!“ flüsterte Katherina erbleichend ... Sie beendigte die Erzählung nicht.

„Katherina!“ ertönte eine heisere dumpfe Stimme, Ordynoff fuhr zusammen. In der Tür stand Murin. Er stand regungslos, in die Pelzdecke gehüllt, stand totenbleich und sah sie mit starrem, fast irrsinnigem Blick an. Katherina erblaßte und auch ihr Blick hing starr, wie gebannt an ihm.

„Komm zu mir, Katherina!“ flüsterte der Kranke kaum vernehmbar und verließ das Zimmer. Katherina sah aber immer noch starr auf die Tür, als stehe er noch dort. Plötzlich jedoch stieg das Blut heiß in ihre bleichen Wangen und sie erhob sich langsam vom Bett. Ordynoff entsann sich der ersten Begegnung.

„Also auf morgen denn, mein Herz!“ sagte sie, und es klang wie ein seltsames leises Auflachen. „Also auf morgen. Vergiß aber nicht, wo ich stehen geblieben bin: ‚Wähle einen von beiden: wer ist dir lieb und wer nicht lieb von ihnen, du Schöne!‘ Wirst’s nicht vergessen? wirst eine Nacht dich gedulden?“ fragte sie, indem sie die Hände auf seine Schultern legte und zärtlich auf ihn herabsah.

„Katherina, geh nicht zu ihm, tu’s nicht! Er ist wahnsinnig, siehst du’s denn nicht!“ flüsterte Ordynoff, zitternd für sie.

„Katherina!“ rief Murins Stimme hinter der Wand.

„Warum nicht? Er wird mich ermorden, meinst du?“ fragte Katherina lachend. „Gute Nacht, mein Geliebter, mein lieber Bruder!“ sagte sie, zärtlich seinen Kopf an ihre Brust drückend, während plötzlich Tränen aus ihren Augen brachen. „Das sind die letzten Tränen. Verschlafe dein Leid, mein Geliebter, sollst morgen zur Freude erwachen!“ Und sie küßte ihn leidenschaftlich.

„Katherina, Katherina!“ flehte Ordynoff, und wollte vor ihr niederknien, um sie zurückzuhalten, „Katherina!“

Sie wandte sich noch einmal nach ihm um, nickte ihm lächelnd zu und verließ das Zimmer. Ordynoff hörte, wie sie bei Murin eintrat. Er hielt den Atem an und lauschte, doch kein Laut war zu vernehmen. Der Alte schwieg oder war vielleicht wieder bewußtlos ... Er wollte zu ihr gehen, doch seine Füße versagten ... Er verlor alle Kraft und sank erschöpft auf das Bett zurück ...

V.

Als er wieder zu sich kam, vermochte er zunächst gar nicht festzustellen: War es erste Morgen- oder späte Abenddämmerung? Das Zimmer lag fast vollständig im Dunkel. Das Lämpchen vor dem Heiligenbilde mußte erloschen sein. Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, er fühlte nur, daß sein Schlaf krankhaft gewesen war. Als er zu sich kam, strich er sich unwillkürlich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er einen Traum und nächtliche Visionen verscheuchen. Doch als er aufzustehen versuchte, fühlte er sich am ganzen Körper wie zerschlagen und seine erschöpften Glieder versagten den Dienst. Sein Kopf schmerzte, ihm schwindelte, und Frostschauer überliefen seinen Körper, denen dann wieder glühende Fieberwellen folgten. Mit dem Bewußtsein kehrte auch die Erinnerung zurück und sein Herz krampfte sich zusammen und erzitterte, als er in einer Sekunde die ganze letzte Nacht wiedererlebte. Sein Herz schlug bei der Erinnerung so stark, und seine Empfindungen waren so heiß und unmittelbar, als wären nicht eine Nacht, nicht lange Stunden vergangen, seit Katherina ihn verlassen, sondern kaum eine Minute. Er fühlte, daß seine Augen noch von den Tränen brannten – oder waren es neue Tränen seiner heißen Seele? Und doch – wie ein Wunder schien ihm alles – in seinen Qualen lag für ihn eine Süße und Lust, obschon er gleichzeitig mit jedem Nerv seines Körpers fühlte, daß er eine solche Vergewaltigung ein zweites Mal nicht mehr ertragen würde. Es kam ein Augenblick, wo er fast den Tod fühlte und bereit war, ihn wie einen lichten Gast zu empfangen, der in weiblicher Gestalt ihm nahte: bis zu einer solchen Spannung war seine Empfindungsfähigkeit gesteigert, mit solch einer stürmischen und machtvollen Allgewalt wogte jetzt, nach dem Erwachen, seine Leidenschaft von neuem auf, und solch ein Entzücken, solch eine Begeisterung erfüllte seine Seele, daß sein Leben, bis in schwindelnde Höhen gesteigert, gleichsam im Begriff war, zusammenzubrechen und niederzustürzen, sofort zu verwesen und auf ewig zu vergehen ... Fast in demselben Augenblick, als wär’s eine Antwort auf seinen Schmerz, auf das Zittern seines Herzens, erklang eine Stimme, die ihm so bekannt schien, wie das innere Klingen und Tönen, das die Menschenseele in Stunden der Freude, in Stunden großen Glückes über ihr Dasein empfindet – es war die weiche, volltönende Stimme Katherinas. Ganz nah, fast wie am Kopfende seines Bettes begann ein Lied, zu Anfang leise und schwermütig. Dann hob sich die Stimme und senkte sich wieder, wie in leisem Verhallen, als vergehe sie und wiege dabei doch noch zärtlich die unruhvolle Qual des eigenen unterdrückten Verlangens, das in ihrem sich sehnenden Herzen für ewig gefangen war. Bald wieder schwang sie sich hoch empor und ergoß sich zitternd und glühend von einer Leidenschaft, die sich nicht länger zurückhalten ließ, in ein ganzes Meer von Entzücken, in ein Meer von zaubermächtigen, uferlosen Tönen, so selig, wie der erste selige Augenblick der Liebe. Ordynoff vernahm auch Worte: sie waren der rührend schlichte, zu Herzen gehende Ausdruck eines reinen, ruhigen, weil selbstverständlichen und klaren Gefühls – der Form nach alte, schon längst verklungene Worte, wie der Volksmund sie in früheren Zeiten gedichtet. Doch Ordynoff dachte nicht an ihren Sinn, er vergaß sie, er hörte nur die Töne, und aus den treuherzigen naiven Strophen des alten Liedes sprachen zu ihm ganz, ganz andere Worte – Worte, in denen dieselbe Sehnsucht zitterte, die seine eigene Brust erfüllte, Worte, die wie ein Widerhall der geheimsten und tiefsten, ihm selbst noch halb unverständlichen Regungen seiner Leidenschaft waren und die nun, da sie im Liede zu ihm drangen, ihm verrieten, wie sehr auch sie um dieselben wußte. Er glaubte, den letzten bangen Laut eines vor Liebe vergehenden Lebens zu hören, dann wieder die aufjauchzende Freude eines Willens, der seine Ketten gesprengt und licht und frei ins unermeßliche Meer unversehrbarer Seligkeit strebte; dann wieder war es ihm, als hörte er das erste zitternde Liebesgeständnis, unter Erröten und Tränen in heimlichem zagen Flüstern von Mädchenlippen, noch mit dem ganzen Duft süßer Scham; dann wieder stieg gleichsam der Wunsch einer Bacchantin auf, die stolz und froh ob ihrer Macht, unverhüllt, des Geheimnisses bar, mit sprühendem Lachen und trunken schweifendem Blick im Kreise sich umschaut ...

Ordynoff hielt es nicht aus bis zum Ende des Liedes und erhob sich vom Bett. Das Lied verstummte sogleich.

„Der gute Morgen und der gute Tag sind vorbei, mein Ersehnter!“ sagte Katherinas Stimme hinter der Wand, „also sage ich jetzt guten Abend zu dir! Steh auf, komm zu uns, erwache zu heller Freude: wir erwarten dich, ich und mein Herr, beides gute Leute und dir ergeben. Lösche mit Liebe den Haß, wenn das Herz uns die Kränkung noch nachträgt. Sage ein freundliches Wort! ...“

Ordynoff verließ bereits sein Zimmer, wußte aber eigentlich selbst kaum, daß er zu ihnen ging. Vor ihm öffnete sich die Tür und er sah und schaute und war wie geblendet von dem goldenen Lächeln der Wundersamen, die vor ihm stand. Er hörte und sah nichts und niemanden außer ihr. Im Augenblick war ihre Lichtgestalt der Inbegriff seines ganzen Lebens, seiner ganzen Freude.

„Zwei Sonnenröten sind schon vergangen, seit wir Abschied nahmen,“ sagte sie, und sie streckte ihm die Hände entgegen, „da sieh durch das Fenster, auch die zweite ist schon erloschen. Sie waren ähnlich dem Erröten eines schönen Mädchens,“ fuhr sie lachend fort, „die erste Morgenröte war wie die Glut, mit der das Mädchen zum erstenmal das Herz in der Brust schlagen fühlt; und die zweite wie wenn die Schöne ihre Scheu vergißt und das Blut feurig ins Antlitz steigen spürt. ... Tritt ein, tritt ein in unser Haus, du Junger! Was stehst du noch auf der Schwelle? Ehre werde dir zuteil und Liebe und als erstes ein Gruß vom Hausherrn!“

Und mit hellem Lachen erfaßte sie Ordynoffs Hand und führte ihn ins Zimmer. Befangenheit überkam sein Herz. Das ganze Feuer, das in seinem Inneren flammte, war wie im Augenblick erloschen, doch nur für einen Augenblick. Verwirrt senkte er das Auge, um sie nicht anzusehen. Er fühlte, sie war von so bezaubernder Schönheit, daß er ihren heißen Blick nicht würde ertragen können. Nein, so hatte er sie noch nie gesehen! Zum erstenmal sah er Freude und den Zauber des Lachens in ihrem Gesicht, und ihre dunklen Wimpern glänzten nun nicht mehr von vergossenen Tränen. Seine Hand lag bebend in ihren Händen. Hätte er den Blick erhoben, so würde er gesehen haben, daß Katherinas strahlende Augen mit triumphierendem Lächeln an seinen Mienen hingen, in denen sich deutlich Verwirrung und Leidenschaft widerspiegelten.

„Stehe auf, Alter!“ sagte sie endlich, als käme sie selbst erst und mit einem Male zur Besinnung, „sage dem Gast ein freundliches Wort zum Gruß. Er ist unser Gast und mir so gut wie ein leiblicher Bruder! Stehe auf, stolzer Alter, sei nicht hochmütig, steh auf, entbiete ihm einen Gruß, fasse seine weiße Hand, bitte ihn an den Tisch!“

Ordynoff sah auf, und es war ihm, als käme er jetzt erst zu sich: er hatte Murin ganz vergessen, an seine Anwesenheit gar nicht gedacht. Die Augen des Alten, die wie in Todesahnen erloschen schienen, sahen ihn unbeweglich an, und mit einem stechenden Schmerzgefühl erinnerte sich Ordynoff jenes Blickes, der ihn das letztemal unter den buschigen überhängenden Brauen hervor getroffen hatte, und diese Brauen waren auch jetzt wieder wie in Qual und Grimm zusammengezogen. Ein leichtes Schwindelgefühl erfaßte ihn. Er sah sich um: und da erst kam ihm klar zum Bewußtsein, wo er sich eigentlich befand. Murin lag noch immer auf dem Bett, war jedoch fast vollständig angekleidet und es machte den Eindruck, als sei er bereits am Morgen aufgestanden und tagsüber ausgegangen. Um den Hals trug er wieder ein rotes Tuch, die Füße staken in Hausschuhen. Die Krankheit war offenbar überstanden, nur sein Gesicht war noch auffallend blaß und fast gelb. Katherina stand neben dem Bett, stützte sich mit der Hand auf den Tisch und sah aufmerksam von dem einen zum anderen: doch das freundliche Lächeln schwand nicht aus ihrem Gesicht. Es schien beinahe, als geschehe alles auf einen Wink von ihr.

„Ja! Das bist du,“ sagte Murin, indem er sich langsam erhob und auf das Bett setzte. „Du bist mein Mieter. Ich bin schuldig vor dir, Herr, habe gesündigt und dich, ohne es zu wollen, erschreckt – gestern, mit der Flinte. Wer konnt’s denn wissen, daß dich auch mitunter Krankheit heimsucht! Bei mir aber kommt das vor,“ fügte er mit rauher, von der Krankheit noch heiserer Stimme hinzu. Seine Stirn runzelte sich und unwillkürlich wandte er den Blick von Ordynoff ab. „Unglück pflegt sich nicht vorher anzumelden, wenn es kommt, schleicht es sich wie ein Dieb heran und ist da! Auch ihr hab’ ich vor kurzem beinahe das Messer in die Brust gestoßen ...“ brummte er, mit dem Kopf nach Katherina weisend. „Ich bin ein kranker Mensch, habe zuweilen meine Anfälle – nun, was ist da noch viel zu erklären, das mag dir genügen! Setz dich – wirst mein Gast sein.“

Ordynoff sah ihn immer noch unverwandt an.

„Setz dich, so setz dich doch!“ rief der Alte ungeduldig, „wenn’s ihr nun mal Freude macht! ... Hm! Da seid ihr nun also sozusagen Geschwister, seht doch mal an! Habt euch ja lieb, recht wie ein Liebespaar!“

Ordynoff setzte sich.

„Sieh doch, was du da für eine Schwester hast,“ fuhr der Alte lustig fort, und er lachte, daß man alle seine ausnahmslos noch weißen, schönen Zähne sehen konnte. „So tut doch zärtlich, meine Lieben! Hast du nicht eine schöne Schwester, Herr? Sprich doch, antworte! Da, sieh sie doch an, sieh, wie ihre Wangen glühen. So sage doch, daß sie eine Schönheit ist, rühme doch vor der ganzen Welt ihre Schönheit! Zeige, wie sehr dein Herz nach ihr verlangt!“

Ordynoff runzelte die Stirn und sah den Alten an. Der zuckte zusammen unter seinem Blick. In Ordynoffs Brust stieg eine blinde Wut auf. Mit geradezu tierischem Instinkt fühlte er, daß er seinen Todfeind vor sich hatte. Er begriff selbst nicht, was mit ihm geschah. Er vermochte nicht mehr zu denken –

„Sieh mich nicht an!“ erklang da Katherinas Stimme hinter ihm. Ordynoff blickte sich um.

„Sieh mich nicht an, sage ich dir, wenn der Böse dich zu Bösem verleitet – hab Mitleid mit deiner Liebsten,“ sagte Katherina lachend, und plötzlich legte sie ihm hinterrücks die Hände auf die Augen, – zog sie aber sogleich wieder zurück und bedeckte mit ihnen ihr eigenes Gesicht. Doch die flammende Röte leuchtete gleichsam durch ihre Finger: sie ließ die Hände sinken und mühte sich, offen und furchtlos den Blicken der beiden Männer standzuhalten. Die aber sahen sie beide nur schweigend an – Ordynoff mit einer gewissen verwunderten Liebe, die sein Herz zum erstenmal zu der Schönheit eines Weibes empfand, der Alte dagegen aufmerksam, forschend und kalt. Sein bleiches Gesicht verriet nicht das geringste, nur seine Lippen waren blaß und bebten leise.

Katherina war gleichfalls ernst geworden, trat an den Tisch und begann, die Bücher, Papiere, das Tintenfaß und alles übrige abzuräumen. Sie atmete schnell und ungleichmäßig. Von Zeit zu Zeit holte sie tief Atem, als sei’s ihr im unruhig schlagenden Herz eng und schwer. Schwer, wie die Woge am Ufer, senkte sich und hob sich von neuem ihre Brust. Sie sah nicht auf, und die dunkeln langen Wimpern glänzten seidig über ihren zarten Wangen ...

„Meine Königin!“ flüsterte Ordynoff. Er besann sich aber sofort, denn er fühlte den Blick des Alten auf sich ruhen. Wie ein Blitz, in einem Nu war dieser Blick aufgeflammt, gierig, bohrend, gehässig, feindlich, mit kalter Verachtung. Ordynoff erhob sich, aber eine unsichtbare Macht schien seine Füße gefesselt zu haben. Er setzte sich wieder. Und er drückte seine eigene Hand, als traue er nicht der Wirklichkeit, die ja vielleicht nur ein Traum sein konnte. Es war ihm, als ob ein Alb ihn bedrücke und als ob seine Augen in peinvollem und krankhaftem Dämmer geschlossen lagen. Doch sonderbar! Er wollte nicht erwachen!

Katherina nahm den Teppich vom Tisch, öffnete eine Truhe, der sie ein kostbares Tischtuch entnahm, das reich mit Stickereien in Seide und Goldfäden verziert war, und breitete es über den Tisch; dann holte sie aus dem Schrank eine altertümliche, aus schwerem Silber gearbeitete Kanne, an der nach alter Art die silbernen Becher hingen – stellte sie mitten auf den Tisch und nahm drei Becher von den Häkchen: einen für den Hausherrn, einen für den Gast und einen für sich selbst. Mit ernstem, fast nachdenklichem Blick sah sie auf den Alten, dann auf den Gast.

„Wer ist nun von uns einem anderen lieb oder nicht lieb?“ fragte sie. „Wer niemandem lieb ist, der soll mir lieb sein und wird mit mir aus einem Becher trinken. Mir aber ist jeder von euch lieb, lieb, wie ein Nahestehender: deshalb laßt uns auf die Liebe und die Eintracht trinken!“

„Trinken und die schwarzen Gedanken im Wein ertränken!“ sagte der Alte mit veränderter Stimme. „Schenke ein, Katherina!“

„Und dir auch?“ fragte Katherina, indem sie Ordynoff ansah.

Der schob schweigend seinen Becher hin.

„Wartet!“ rief plötzlich der Alte und erhob sein Glas. „Hat jemand von uns etwas Besonderes auf dem Herzen, so möge es nach seinem Wunsch in Erfüllung gehen!“

Sie stießen an und tranken.

„Nun laß uns beide trinken,“ sagte Katherina, sich an den Alten wendend, „trinken wir, wenn dein Herz mir gut ist! Trinken wir auf das erlebte Glück, laß uns die vergangenen Jahre grüßen! Aus dem Herzen, dem Glück in Liebe ein Gruß! So laß dir doch einschenken, Alter, wenn dein Herz noch immer für mich glüht!“

„Dein Wein ist stark, mein Täubchen, du selbst aber hast nur die Lippen benetzt!“ sagte der Alte lachend und hielt seinen Becher hin.

„Ich werde dir jetzt einschenken, du aber trinke den Wein bis zur Neige! ... Wozu leben, Alterchen, und ewig schwere Gedanken mit sich herumtragen! Das bedrückt nur das Herz. Gedanken kommen vom Kummer und Gedanken schaffen Kummer, im Glück da lebt man ohne Gedanken! Trink, Alter! Ertränke deine Gedanken!“

„Da muß ja in dir viel Kummer sich angesammelt haben, wenn du dich plötzlich so gegen ihn wappnen willst! Möchtest wohl mit einemmal allem ein Ende machen, meine weiße Taube? Ich trinke auf dein Wohl, Katjä! Aber du, hast auch du einen Kummer, Herr, wenn du erlaubst, zu fragen?“

„Was ich habe, das habe ich für mich,“ murmelte Ordynoff, ohne seine Augen von Katherina abzuwenden.

„Hast du gehört, Alterchen? Ich habe mich selbst lange nicht gekannt und an nichts zurückgedacht, da kam aber eine Stunde und ich erkannte alles und erinnerte mich an alles: da hab’ ich alles Vergangene mit unersättlicher Gier in der Seele nochmals erlebt.“

„Ja, es ist bitter, wenn man durch Vergangenes sich wieder durchzuarbeiten anfängt,“ bemerkte der Alte nachdenklich. „Was vergangen ist, ist wie getrunkener Wein! Was ist vergangenes Glück? Hat man einen Rock abgetragen, dann fort mit ihm ...“

„Dann ist ein neuer nötig!“ fiel ihm Katherina ins Wort, mit etwas erzwungenem Lachen, während zwei große Tränen an ihren Wimpern erglänzten. „Da sieht man, ein Menschenalter kann nicht in einem Augenblick vergehen, und ein Mädchenherz hat ein zähes Leben: das ist nicht so leicht erschöpft! Hast du’s erfahren, Alter? Sieh, da habe ich eine Träne in deinem Becher begraben!“

„War es denn viel Glück, für das du dein Leid verkauftest?“ fragte Ordynoff und seine Stimme zitterte vor Erregung.

„Du hast wohl, Herr, viel eigenes zu verkaufen,“ versetzte der Alte, „daß du dich ungebeten vordrängst.“ Und er lachte lautlos und boshaft und sah dabei Ordynoff frech an.

„Wofür ich es verkaufte, das war auch danach,“ antwortete Katherina mit einer Stimme, aus der eine gewisse Unzufriedenheit und Gekränktheit zu klingen schien. „Dem einen scheint es viel, dem anderen wenig. Der eine will alles hingeben, es wird ihm aber nichts dafür geboten; der andere verheißt nichts, und doch folgt ihm das Herz gehorsam. Du aber, mach deshalb niemandem einen Vorwurf.“ Sie wandte das Gesicht nach ihm hin und sah ihn traurig an. „Der eine ist so ein Mensch, der andere ein anderer – weiß man’s denn selbst, weshalb die Seele gerade zu dem einen drängt! Fülle deinen Becher, Alter! Trinke auf das Glück deiner lieben Tochter, deiner gehorsamen Sklavin, wie einst, als sie dich erst noch lieben lernte. Nun, erhebe den Becher!“

„Wohlan! So schenke auch dir ein!“

„Warte, Alter! Trink noch nicht, laß mich zuvor noch ein Wort sagen! ...“

Katherina stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah regungslos mit glänzendem, leidenschaftlichem Blick dem Alten in die Augen. Eine eigentümliche Entschlossenheit lag plötzlich in diesem Blick. Doch alle ihre Bewegungen waren sicher, ihre Gesten kurz, unerwartet, schnell. Es war, als sei Feuer in ihr und wunderbar nahm sich das aus. Ihre Schönheit schien mit ihrer Erregung, mit ihrer Spannung zu wachsen. Sie lächelte und wie Perlen erglänzten ihre gleichmäßigen Zähne zwischen den Lippen. Ihr Atem war kurz und unterbrochen durch die Erregung. Ihre feinen Nasenflügel bebten. Der eine ihrer schimmernden Zöpfe, die sie zweimal um den Kopf geschlungen trug, hatte sich gelöst und gesenkt und bedeckte das linke Ohr und einen Teil der heißen Wange. Ihre Schläfen glänzten feucht.

„Sage mir wahr, Alter! Sag mir wahr, mein Guter, sag, bevor du deinen Verstand vertrinkst! Hier hast du meine weiße Hand! Nennen dich doch die Leute bei uns nicht umsonst einen Zauberer. Du hast aus Büchern gelernt und kennst jede schwarze Wissenschaft! So sieh dir jetzt die Linien meiner Hand an, Alterchen, und verkünde mir mein ganzes unseliges Los! Nur sieh zu, daß du die Wahrheit sagst! ... Nun, sage mir, wie du es weißt und meinst – wird dein Töchterchen glücklich sein oder verzeihst du ihr nicht und rufst ihr durch deine Zauberstücke herbes Leid auf den Weg? Sage, wird der Winkel warm sein, in dem ich mich einnisten werde, oder soll ich, wie ein Zugvogel, mein Leben lang gleich einer Waise bei guten Leuten Unterkunft suchen? Sage, wer ist mein Feind und hegt Arges gegen mich im Sinn? – und wer ist mein Freund und hat für mich nur Liebe im Herzen? Sage, wird mein junges heißes Herz sein Lebtag einsam bleiben und vor der Zeit verstummen, oder wird es ein anderes Herz finden, das ihm gleich ist, und im gleichen Pulsschlag der Freude mit ihm schlagen ... bis zu neuem Leid! Und sage mir, Alterchen, wenn du schon einmal wahrsagst, wo, unter welchem blauen Himmel, hinter welchen fernen Meeren und Wäldern mein heller Falke denn lebt, sag mir, wo, und ob er auch mit scharfem Auge nach seinem Falkenweibchen Ausschau hält, und ob er auch in Liebe wartet, ob er es auch heiß lieben oder ob er die Liebe bald verlernen und mich betrügen, oder ob er mich nicht betrügen und mir treu bleiben wird? Und dann sprich auch schon das Letzte und Allerletzte aus, Alter: sag, ist es uns beiden bestimmt, lang noch gemeinsam die Zeit zu verbringen, hier im armseligen Winkel zu sitzen, dunkle Bücher zu lesen? Oder wann werde ich von dir Abschied nehmen, mich tief vor dir neigen und dir für deine Gastfreundschaft danken, und dafür daß du mir Speise und Trank gegeben und mir Märchen erzählt hast? ... Aber sieh zu, daß du mir die Wahrheit sagst, lüge nicht! Die Zeit ist gekommen, jetzt steh für dich ein!“

Ihre Erregung war mit jedem weiteren Wunsche gewachsen, bis ihre Stimme bei den letzten Worten die Gewalt über sich verlor, als risse ein Wirbelsturm ihr Herz mit sich fort. Ihre Augen blitzten und ihre Lippen schienen leise zu beben. Und doch hatte aus ihrer Stimme zugleich ein boshafter Spott geklungen – wie eine Schlange wand er sich versteckt durch ihre Worte – und es war, als habe ein Schluchzen in ihrem Spott geklungen, der doch voll Lachen sein sollte. Sie hatte sich über den Tisch zu dem Alten gebeugt und sah ihm mit forschender Neugier in seine umflorten Augen. Ordynoff hörte, als sie verstummte, wie ihr Herz plötzlich heftig zu klopfen begann; er sah sie an und wollte aufjauchzen vor Entzücken, und war schon im Begriff, sich von der Bank zu erheben. Da traf ihn ein flüchtiger, kurzer Blick des Alten und wie gebannt, wie gelähmt blieb er auf seinem Platz: es war eine seltsame Mischung von Verachtung, Spott, ungeduldiger, ärgerlicher Unruhe und zugleich boshafter, arglistiger Neugier, die aus diesem flüchtigen jähen Blick aufblitzte, aus diesem Blick, unter dem Ordynoff jedesmal zusammenfuhr und der sein Herz stets mit Haß und ohnmächtiger Wut erfüllte.

Nachdenklich und mit einer eigentümlichen traurigen Neugier betrachtete der Alte seine Katherina. Sie hatte sein Herz getroffen, durchbohrt, das Wort war jetzt von ihr ausgesprochen – und doch hatte er nicht einmal mit einer Wimper gezuckt. Er lächelte nur, als sie verstummt war.

„Willst viel auf einmal erfahren, mein flügge gewordenes, mein flugbereites Vögelchen! Fülle mir schnell noch den tiefen Becher; und dann laß uns trinken: zuerst auf die Entzweiung und auf den guten Willen; sonst verderbe ich noch durch irgend jemandes bösen unsauberen Blick meinen Wunsch. Der Teufel ist stark! Wie weit ist’s denn bis zur Sünde!“

Er hob seinen Becher und leerte ihn. Je mehr er trank, um so bleicher wurde er. Seine Augen röteten sich und glühten wie Kohlen. Es war augenscheinlich, daß ihr fieberhafter Glanz und die plötzliche Totenblässe die Vorläufer eines baldigen neuen Anfalls waren. Der Wein aber war schwer und feurig. Auch Ordynoff fühlte von dem einen Becher, den er geleert, seinen Blick heiß und unsicher werden: sein durch das Fieber erregtes Blut konnte nicht lange dem Geist des Weines widerstehen und überstürmte sein Herz, quälte und verwirrte seinen Verstand. Seine Unruhe wuchs mit jeder Minute. Und er schenkte sich noch von dem schweren Wein in den Becher und trank einen Schluck, ohne selbst zu wissen, was er tat oder wie er gegen seine wachsende Erregung ankämpfen sollte, und das Blut jagte noch stürmischer durch seine Adern. Er war wie von einem Fiebertraum fortgerissen und vermochte kaum noch, trotz krampfhaftester Anspannung seiner ganzen Aufmerksamkeit, zu verfolgen, was zwischen dem Alten und Katherina vorging.

Der Alte klopfte laut mit dem Becher auf den Tisch.

„Schenk ein, Katherina!“ rief er, „schenk ein, böses Töchterchen, schenk ein, bis ich trunken bin! Beseitige den Alten, es ist auch genug für ihn! So ist’s recht, schenk ein, meine Schöne, ganz voll – so! Nun laß uns beide trinken! Warum hast du denn so wenig getrunken? Oder habe ich es nicht gesehen ...?“

Katherina entgegnete ihm etwas, doch Ordynoff begriff die Worte kaum, und der Alte ließ sie nicht zu Ende sprechen: er ergriff ihre Hand, als habe er nicht mehr die Kraft, all das zurückzuhalten, was seine Brust einschloß. Sein Gesicht war bleich und sein Blick umflorte sich bald, bald flammte er auf und dann brannte in ihm ein unheimliches Feuer. Seine farblosen Lippen zuckten und mit ungleichmäßiger, schwankender Stimme, aus der hin und wieder eine seltsame Begeisterung klang, sagte er zu ihr:

„Gib dein Händchen, du Schöne! Ich werde dir wahrsagen, werde dir die ganze Wahrheit sagen. Ich bin wirklich ein Zauberer, da hast du dich nicht geirrt, Katherina! Dein goldenes Herz hat erraten, daß ich sein einziger Wahrsager bin und ihm die Wahrheit nicht verheimlichen werde, diesem schlichten, diesem unschlauen Herzen! Nur eines hast du nicht erkannt: nicht ich, der Zauberer, kann dich vernünftig machen! Vernunft ist keine Richtschnur für ein Mädchen, und wenn man ihm auch die ganze Wahrheit sagt, so ist es doch, als habe es nichts erfahren und begriffen! Ihr eigner Kopf – ist eine listige Schlange, wenn auch das Herz von Tränen überfließt! Jeden Weg findet sie selbst, zwischen Gefahren versteht sie kriechend sich durchzuschlängeln und ihren schlauen Willen zu erreichen! Manchmal erreicht sie auch wohl mit dem Verstande was sie will, wenn aber nicht – dann berückt sie mit ihrer Schönheit, und verwirrt mit ihrem dunklen Auge! Schönheit bricht die Kraft, und wenn das Herz auch von Eisen ist – sie zerspellt es mit ihrer Macht! Ob auch Leid und Sorge deiner harrt? Schwer ist Menschenleid! Doch nicht schwache Herzen werden von ihm heimgesucht. Das Unglück sucht sich, wenn es kommt, ein starkes Herz zum Wohnsitz aus, aus dem dann im stillen, aller Welt verborgen, manch blutige Träne rinnt, bösen Leuten ein Schaustück. Dein Leid aber, Mädchen, ist wie die Spur im Sande, die der Regen verwischt, die Sonne trocknet und der frische Wind verweht! Laß mich dir noch mehr sagen, dir wahrsagen: wer dich lieben wird, zu dem wirst du als Sklavin gehen, wirst selbst deinen Willen und deine Freiheit binden und ihm hingeben als Pfand und auch nie mehr zurückverlangen; wirst es nicht verstehen, zur rechten Zeit deine Liebe zu vergessen; ein Körnchen legst du hin und dein Verderber läßt es zur vollen Ähre wachsen und behält alles! Mein zärtliches Kind, mein Goldköpfchen, hast in meinem Wein dein Tränenperlchen begraben und dann doch nicht widerstanden und darüber gleich hundert andere vergossen, hast ein schönes Wort gesagt, dich an ihm berauscht und auf dein Leid gepocht. Doch ob deines Tränchens, des himmlischen Tautropfens, wirst du dich nicht zu grämen, wirst nicht zu trauern brauchen! Es wird dir in Überfluß wiedergegeben, und mit Wucherzinsen, dein Tränenperlchen, warte nur, in langer Nacht, in trauriger Nacht, wenn böser Kummer an deinem Herzen nagen wird und ein arger Gedanke – dann wird auf dein heißes Herz, für dies selbe Tränchen, eines anderen Träne fallen, eine blutige, nicht warme oder heiße, sondern eine glühende, wie von flüssigem Erz, und die wird dir deine weiße Brust blutig brennen, und bis zum Morgen, dem trüben, düsteren, wie er an Regentagen graut, wirst du dich auf deiner Lagerstätte wälzen und aus der frischen Wunde wirst du purpurnes Blut vergießen und nimmer wird dir diese Wunde bis zum vollen Morgen verheilen! Schenke mir noch ein, Katherina, schenke mir ein, meine Taube, für den klugen Rat! – weiter aber, denke ich, sind keine Worte mehr vonnöten ...“

Seine Stimme sank und bebte: es war, als wolle ein Schluchzen aus seiner Brust hervorbrechen ... Er schenkte sich selbst den Wein ein und stürzte ihn gierig hinab; dann klopfte er wieder mit dem Becher auf den Tisch. Sein trüber Blick flammte noch einmal auf.

„Ach! Lebe, wie es sich leben läßt!“ rief er, „was vorüber ist, ist vorüber! Schenk mir ein, schenk mir noch einmal ein, noch einmal, und ganz voll, bis zum Rande, damit der Wein den wilden Kopf von den Schultern nimmt und die Seele in ihm ertränkt! Schläfere mich ein für die lange Nacht, der kein Morgen folgt, auf daß das Gedächtnis mir völlig schwinde! Getrunkener Wein ist wie verlebtes Leben! Da muß doch dem Kaufmann die Ware liegen geblieben sein, wenn er sie umsonst aus der Hand gibt! Würde er sie doch sonst nicht aus freiem Willen unter dem Preise hingeben, würde auch der Feinde Blut vergießen, auch unschuldig Blut würde fließen und auf den Kauf würde jener Käufer obendrein noch seine verlorene Seele hergeben müssen! Schenk ein, schenk mir noch ein, Katherina!“

Doch seine Hand, die den silbernen Becher hielt, schien plötzlich wie im Krampf zu erstarren und rührte sich nicht mehr. Er atmete schwer und mühsam, sein Kopf sank unwillkürlich auf die Brust. Noch einmal richtete er den Blick starr auf Ordynoff, als wolle er ihn zum letztenmal durchbohren, aber auch dieser Blick erlosch endlich und seine Lider senkten sich, als wären sie bleischwer. Tödliche Blässe breitete sich über sein Antlitz ... Ein paarmal zuckten noch seine Lippen und bewegten sich, als wollten sie etwas sagen – und plötzlich glänzte eine große heiße Träne an seinen Wimpern, hing, löste sich und rollte langsam über seine bleiche Wange herab ... Ordynoff hatte nicht mehr die Kraft, noch länger dies alles zu ertragen. Er erhob sich, trat schwankend einen Schritt vor, näherte sich Katherina und faßte sie am Arme; sie aber hatte nicht einmal einen Blick für ihn, und tat, als bemerke sie ihn überhaupt nicht ...

Es war, als verließe sie gleichfalls die Besinnung, als hielte ein besonderer Gedanke sie in seinem Bann oder als sei sie von einem einzigen starren Gedanken erfüllt. Sie sank an die Brust des schlafenden Alten, schlang ihren weißen Arm um seinen Hals und sah ihn regungslos an, als könne sie den Blick nicht losreißen von ihm. Sie fühlte es wohl gar nicht, als Ordynoff ihren Arm erfaßte. Erst nach einer Weile hob sie den Kopf und wandte das Gesicht ihm zu und sah ihn mit einem langen durchdringenden Blick an. Und dann rang sich, als begreife sie endlich, ein schweres, verwundertes Lächeln gleichsam mühselig, wie mit Schmerz aus ihrem Innersten hervor und erschien auf ihren Lippen ...

„Geh, geh fort,“ flüsterte sie, „du bist betrunken und böse! Du bist mir ein schlechter Gast!“ Und sie wandte sich wieder dem Alten zu und wieder hing ihr Blick wie gebannt an seinen Zügen.

Sie schien jeden Atemzug des Schlafenden zu bewachen, schien seinen Schlaf mit ihrem Blick liebkosen zu wollen. Ja, sie schien sogar ihren eigenen Atem zurückzuhalten, als wage sie kaum, ihr Herz schlagen zu lassen. In ihrem Gesicht, in ihrem ganzen Wesen lag eine solche Liebesverzückung, daß Ordynoff plötzlich von Verzweiflung, Wut, Zorn und rasendem Haß übermannt wurde ...

„Katherina! Katherina!“ rief er, wie mit Klammern ihren Arm umspannend.

Schmerz sprach aus ihrem Gesicht: sie erhob wieder den Kopf und sah ihn an, doch diesmal mit solch einem Spott und solch schamloser Verachtung, daß er sie anstarrte, ohne fassen zu können, was er sah. Sie wies auf den schlafenden Alten und sah – als wäre der ganze Hohn seines Feindes in ihre Augen übergegangen – sah mit einem Blick zu Ordynoff auf, unter dem in seinem Inneren irgend etwas mit schneidendem Schmerz zerriß und von dem es ihn mit Eiseskälte überlief.

„Was? er wird mich ermorden, meinst du?“ stieß Ordynoff hervor, außer sich vor Wut.

Und als hätte ihm ein Dämon etwas ins Ohr geflüstert – begriff er sie plötzlich ... und sein ganzes Herz lachte gellend dazu.

„So werde ich dich denn kaufen, du Schöne, von deinem Kaufmann, wenn du meine Seele verlangst! Sei ruhig, nicht er wird morden! ...“

Das starre Lachen, das nicht aus ihrem Gesicht wich, wurde ihm fürchterlich. Der grenzenlose Hohn ihres Spottlächelns marterte ihm das Herz. Er wußte nicht mehr, was in ihm vorging, und was er fast mechanisch tat: er stützte sich an die Wand und nahm von einem Nagel einen altertümlichen kostbaren Dolch. Ein Ausdruck wie Verwunderung glitt über Katherinas Züge; zugleich jedoch trat der Ausdruck von Haß und Verachtung mit solcher Stärke in ihre Augen, daß er alles andere darüber vergessen ließ. Ordynoff sah sie an und ihm schwindelte ... Es war ihm, als zerre jemand an seiner Hand, die sich zu einer unsinnigen Tat erheben wollte, und als sei ein fremder Trieb in ihr. Er zog das Messer aus der Scheide ... Katherina folgte regungslos, wie in atemloser Spannung, seiner Bewegung ...

Er sah auf den Alten ...

Da schien es ihm plötzlich, als ob ein Augenlid des Alten sich langsam hebe und als ob durch die Wimpern, lauernd, ein Auge ihn lächelnd ansehe. Ihre Blicke begegneten einander, Auge ruhte in Auge. Minutenlang sah Ordynoff ihn an, ohne zu zucken ... Plötzlich aber schien es ihm, daß das ganze Gesicht des Alten lache und ein teuflisches Gelächter, das ihn eisig überlief und erstarren machte, im Zimmer erschallte. Ein scheußlicher nachtschwarzer Gedanke kroch wie eine Schlange durch sein Gehirn. Er erzitterte: das Messer entfiel seiner Hand und klirrte auf die Diele. Katherina schrie auf, wie aus einem Traume erwachend, wie nach einem furchtbaren Alb, und doch noch im Bann des Schreckbildes ... Der Alte erhob sich langsam, mit bleichem Gesicht, und stieß voll Ingrimm mit dem Fuß das Messer in die Ecke des Zimmers. Katherina stand totenblaß neben dem Bett und rührte sich nicht. Ihre Augen schlossen sich; ein dumpfer, unerträglicher Schmerz drückte sich in ihren Zügen aus; sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und mit einem erschütternden Aufschrei warf sie sich dem Alten zu Füßen ...

„Aljoscha! Aljoscha!“ rang es sich in äußerster Verzweiflung aus ihrer Seele.

Der Alte umfing sie mit seinen mächtigen Armen und erdrückte sie fast an seiner Brust. Als sie aber ihren Kopf so an ihn schmiegte, da lachte jeder Zug, jede Runzel im Gesicht des Alten ein so schamloses, entblößtes nacktes Lachen, daß Ordynoff nur fühlte, wie kaltes Entsetzen ihn ergriff. Betrug, Berechnung, eifersüchtige Tyrannei und Vergewaltigung dieses armen, dieses zerrissenen Herzens – das war es, was er an dem schamlosen Lachen begriff.

„Wahnsinnige!“ flüsterte er erschauernd, von Entsetzen geschüttelt, und stürzte hinaus.

VI.

Als Ordynoff am nächsten Morgen, noch blaß und erregt von dem Erlebnis der Nacht, gegen acht Uhr bei Jaroslaw Iljitsch eintrat – zu dem er übrigens aus einem ihm selbst völlig unklaren Grunde gegangen war – blieb er starr vor Überraschung auf der Schwelle stehen: denn im Zimmer erblickte er – Murin. Der Alte war noch bleicher als Ordynoff und schien sich vor Krankheit kaum auf den Füßen halten zu können, weigerte sich jedoch, trotz aller Aufforderungen Jaroslaw Iljitschs, der über den Besuch offenbar sehr erfreut war, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Als Jaroslaw Iljitsch Ordynoff erblickte, entfuhr ihm ein Ausruf freudiger Überraschung, doch schon im nächsten Augenblick wich seine Freude einer recht merkbaren Verwirrung, die ihn ganz plötzlich überkam, so daß er mitten auf dem Wege zum nächsten Stuhl, den er wohl Ordynoff hatte anbieten wollen, ratlos stehen blieb. Man sah es ihm an, daß er nicht wußte, was er sagen oder tun sollte und daß er es zugleich als unpassend empfand, in dieser schwierigen Lage seine türkische Pfeife weiter zu rauchen. Trotzdem aber – so groß war seine Verwirrung – zog er in vollen Zügen den Rauch aus seinem Pfeifenrohr und zwar noch viel häufiger und heftiger, als es sonst seine Art war. Inzwischen trat Ordynoff ins Zimmer. Er warf einen flüchtigen Blick auf Murin und bemerkte in dessen Gesicht etwas Ähnliches wie das boshafte Lächeln vom letzten Abend, das Ordynoff auch jetzt wieder erbeben machte vor Wut und Empörung. Übrigens verschwand alles Feindliche sofort aus Murins Zügen und sein Gesicht nahm den Ausdruck vollständiger Verschlossenheit und Gelassenheit an. Langsam machte er eine sehr tiefe Verbeugung vor seinem Mieter ... Diese kurze Szene hatte indes das Gute, daß sie Ordynoff vollends zur Besinnung brachte. Er sah Jaroslaw Iljitsch mit scharfem Blick aufmerksam an, wie um aus dessen Antlitz sich Aufschluß über den Sachverhalt zu verschaffen. Jaroslaw Iljitsch freilich schien dieser forschende Blick äußerst peinlich zu sein.

„Aber ich bitte Sie, treten Sie doch näher, teuerster Wassilij Michailowitsch,“ brachte er endlich verwirrt hervor, „ich bitte Sie dringend, beehren Sie mich mit Ihrem Besuch ... Geben Sie diesen meinen einfachen Sachen hier ... die Weihe, indem Sie ihnen, wie gesagt, die Ehre antun ... wie gesagt ...“

Jaroslaw Iljitsch geriet mit seinen Gedanken und Worten in einige Unordnung, verlor den Faden, wurde bis über die Ohren rot vor Verwirrung und auch vor Ärger darüber, daß die schöne Phrase mißlungen war und daß er sie somit umsonst ausgespielt, sie für immer verdorben hatte. Mit Gepolter rückte er deshalb einen Stuhl bis mitten ins Zimmer.

„Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Jaroslaw Iljitsch, ich wollte nur ...“

„Aber ich bitte Sie! Sie und mich aufhalten – Wassilij Michailowitsch! ... Doch – nicht wahr – ein Glas Tee? He! Bedienung! ... Und Sie, versteht sich, werden doch auch nicht ein Glas ablehnen!“

Murin nickte nur mit dem Kopf, wodurch er wohl zu verstehen gab, daß er das Angebot ganz selbstverständlich fand.

Jaroslaw Iljitsch schnauzte zunächst den eingetretenen Diener wegen seiner angeblichen Saumseligkeit an und bestellte dann in strengem Tone noch drei Glas Tee, worauf er sich auf den nächsten Stuhl neben Ordynoff niederließ. Nachdem er sich gesetzt, drehte er den Kopf wie eine Pappkatze bald nach rechts, bald nach links, sah von Murin zu Ordynoff und von Ordynoff zu Murin. Seine Lage war keineswegs angenehm. Offenbar wollte er etwas sagen, etwas vielleicht äußerst Kitzliges, wenigstens für den einen Teil; doch ungeachtet aller seiner Gedankenanstrengungen brachte er nichts über die Lippen ... Ordynoff schien auch nicht recht zu wissen, was er sagen, und noch viel weniger, was er denken sollte. Es gab einen Augenblick, wo sie plötzlich beide zugleich anfangen wollten. ... Währenddessen hatte der schweigsame Murin Zeit, sie aufmerksam zu beobachten und in sein Gesicht wieder den Ausdruck der Ruhe zu bringen ...

„Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen,“ begann plötzlich Ordynoff, „daß ich mich infolge eines unangenehmen Zwischenfalls gezwungen sehe, meine Wohnung zu verlassen, und ...“

„Ja denken Sie sich!“ unterbrach ihn Jaroslaw Iljitsch. „Ich war, offen gestanden, baff, als mir dieser ehrenwerte Mann hier von Ihrem Entschluß Mitteilung machte. Aber ...“

„Wie, er hat es Ihnen bereits mitgeteilt?“ fragte Ordynoff verwundert, und blickte auf Murin.

Dieser strich sich über den Bart und lächelte vor sich hin.

„Ja, was sagen Sie dazu!“ fuhr Jaroslaw Iljitsch fort. „Übrigens – oder habe ich da vielleicht was mißverstanden? Jedenfalls muß ich sagen, daß – ich versichere Sie bei meiner Ehre! – daß in seinen Worten auch nicht der Schatten einer Sie kränkenden Äußerung enthalten gewesen ist ...“

Und Jaroslaw Iljitsch errötete hierbei und vermochte nur mit Mühe seine Erregung niederzuhalten. Murin, der sich an der Verwirrung Jaroslaw Iljitschs und seines Gastes inzwischen genugsam ergötzt zu haben schien, hielt es nun wohl für angemessen, auch mit der Sprache herauszurücken, und trat einen Schritt vor.

„Ich habe dieserhalb, Euer Wohlgeboren,“ begann er langsam, sich nach Bauernart vor Ordynoff verneigend, „Eure Wohlgeboren zu belästigen gewagt. Es ist nun mal so, Herr, es kommt schon so heraus – Sie wissen doch selber: wir – wollte sagen ich und meine Hausfrau – wir wären ja mehr als froh und würden auch kein Wort dawider reden ... Aber – was soll man da viel sagen – was hab’ ich denn für eine Wohnung, das wissen und sehen Sie doch selbst, Herr! Und was haben wir denn überhaupt – grad nur so viel, daß man satt wird, wofür wir denn auch genugsam dem Schöpfer danken und zu ihm beten, und ihn bitten, er möge uns seine Gnade auch fernerhin in diesem Maße zuteil werden lassen. Aber sonst, Herr, Sie sehen doch selbst, wie’s ist, was soll man da viel reden?“ Und Murin wischte sich nach echter Bauernart mit dem Ärmel ruhig den Bart.

Ordynoff fühlte nur, wie ihn Ekel erfaßte.

„Ja, es ist wahr, ich habe Ihnen auch schon von ihm erzählt: er ist krank, tatsächlich, ce malheur ... das heißt, Verzeihung, ich wollte ... ich beherrsche die französische Sprache nicht vollkommen, aber wie gesagt ...“

„Ja, wie ...“

„Ja eben, wie gesagt ... das heißt ...“

Ordynoff und Jaroslaw Iljitsch machten sich gegenseitig so etwas wie eine halbe Verbeugung, natürlich ohne sich deshalb von den Stühlen zu erheben, und Jaroslaw Iljitsch suchte das entstandene kleine Mißverständnis mit einem entschuldigenden Lachen zu verwischen, fuhr jedoch sogleich wieder fort:

„Übrigens habe ich mich soeben ausführlich bei ihm erkundigt, und wie er mir erklärte – und ich glaube ihm, da ich ihn als Ehrenmann kenne, aufs Wort! – daß die Krankheit jenes ... jungen Weibes ...“

Hier sah der gewissenhafte Jaroslaw Iljitsch – vermutlich um einen kleinen Zweifel zu beseitigen, der sich wieder auf Murins Gesicht gezeigt hatte, mit fragendem Blick zu ihm auf.

„Nun ja, unserer Hausfrau ...“

Der zartfühlende Jaroslaw Iljitsch begnügte sich sogleich mit der ihm zuteil gewordenen Erklärung und fuhr schnell fort:

„... Ihrer Hausfrau – das heißt, jetzt ist sie es ja nicht mehr, aber sie war es – also Ihrer ... das heißt, pardon, ich weiß nicht ... nun ja! Sehen Sie, sie ist eben krank und dem müssen Sie Rechnung tragen. Sie sagt, sie störe Sie ... in Ihrer Beschäftigung, und auch er ... Sie haben mir nämlich einen wichtigen Zwischenfall verschwiegen, Wassilij Michailowitsch!“

„Welch einen?“

„Ja – das mit der Flinte,“ sagte in der schonendsten Weise flüsternd Jaroslaw Iljitsch, wobei nur ein verschwindender Bruchteil, höchstens ein Milliontel eines Vorwurfs aus dem zart-freundschaftlichen Tonfall seiner Tenorstimme herauszuhören war.

„Aber,“ fügte er schnell hinzu, „jetzt, wo ich alles weiß – er hat mir nämlich den ganzen Vorgang erzählt – kann ich Ihnen nur sagen, daß es von Ihnen höchst anständig und anerkennenswert war, ihm seine unbedachte Tat zu verzeihen. Ich schwöre Ihnen, ich sah Tränen in seinen Augen, als er davon sprach! ...“

Jaroslaw Iljitsch errötete wieder ein wenig; seine Augen glänzten und er rückte zufrieden seinen Stuhl und sich selbst etwas von der alten Stelle.

„Ich, wollte sagen, wir, Herr, Euer Wohlgeboren, will sagen ich und meine Hausfrau, wie beten wir für Euch zu Gott,“ begann wieder Murin, sich an Ordynoff wendend – während Jaroslaw Iljitsch noch wie gewöhnlich seine Erregung niederkämpfte – und er sah ihn dabei unverwandt an, „aber Ihr wißt doch selbst, Herr, sie ist ein krankes, dummes Weib; und mich wollen die Füße auch nicht so recht mehr tragen ...“

„Aber ich bitte Sie,“ unterbrach ihn Ordynoff ungeduldig, „ich bin ja bereit, meinetwegen sofort! ...“

„Nein, Herr, will sagen, wir wären ja mit Verlaub, mit Euer Wohlgeboren mehr als zufrieden.“ (Murin verbeugte sich wieder äußerst tief.) „Ich, Herr, ich rede nicht davon; ich wollte nur ein Wort noch sagen – sie ist doch, Herr, fast verwandt mit mir, wenn auch nicht nah, sondern nur so wie man beispielsweise zu sagen pflegt, etwa durch sieben Scheffel Erbsen, will sagen, Euer Wohlgeboren mögen uns unsere einfache Ausdrucksweise zugute halten, wir sind niedrige Leute – aber sie ist ja schon von Kindheit an so! Eigenwillig, im Walde aufgewachsen, nur unter den Barkenknechten und Fabrikarbeitern. Und da brannte dann noch das Haus nieder; und ihre Mutter, Herr, verbrannte; und auch der Vater verbrannte – aber sie selbst, Herr, erzählt das doch Gott weiß wie ... Ich will ihr nur nicht widersprechen, aber in Moskau haben die größten Ärzte sie untersucht, ein ganzes Kon... Konsilium, wie sie sagen ... doch nichts war zu machen, Herr, sie ist ganz unheilbar, das ist es! Ich allein bin ihr noch geblieben, und so lebt sie denn bei mir ... will sagen, so leben wir denn beide, beten zu Gott und hoffen auf seine Allmacht; sonst aber – mag sie reden, was sie will, ich widerspreche ihr schon gar nicht mehr ...“

Ordynoff erbleichte. Jaroslaw Iljitsch sah wieder bald den einen, bald den anderen an.

„Aber ich wollte nicht davon reden, Herr ... nein!“ fuhr Murin fort und schüttelte ernst das Haupt. „Sie ist nun einmal so, will sagen, von so heißblütigem Schlage, das Köpfchen stürmisch, liebevoll und liebebedürftig, ist wie’n Wirbelwind, hat alleweil Verlangen nach einem lieben Freunde, will immer – wenn ich mit Verlaub Euer Gnaden so sagen darf –, daß man ihrem Herzen einen Geliebten gebe; das ist eben ihre Verrücktheit. So erzähle ich ihr denn Märchen, um sie abzulenken und zu zerstreuen. Das ist nun mal so. Aber ich hab’ ja doch, Herr, gesehen, wie sie – verzeiht schon, Herr, mein dummes Wort,“ entschuldigte Murin sich mit einer Verbeugung und indem er wieder mit dem Ärmel den Bart vom Munde nach links und rechts wischte, „wie sie beispielsweise mit Euer Gnaden näher bekannt geworden ist, will sagen, um beispielsweise zu reden, daß Sie, halten zu Gnaden, beispielsweise bezüglich der Liebe sich ihr zu nähern wünschten ...“

Jaroslaw Iljitsch wurde feuerrot und blickte vorwurfsvoll auf Murin. Ordynoff bezwang sich so weit, daß er äußerlich ruhig auf seinem Stuhl sitzen blieb.

„Nein ... will sagen, ich, Herr, ich wollte nicht davon reden ... ich bin, halten zu Gnaden, nur ein einfacher Bauer, Herr ... wir sind niedrige Leute, sind unwissend und ungebildet, Herr, sind Eure Diener.“ Er machte wieder eine tiefe Verbeugung. „Und wie werden wir, ich und mein Weib, für Euer Gnaden beten! ... Worüber hätten wir auch zu klagen? – wenn man nur immer satt wird und gesund bleibt, dann ist man schon zufrieden. Aber was soll ich denn, Herr, tun? – soll ich freiwillig den Kopf in die Schlinge stecken! Ihr wißt doch, Herr, das ist eine Lebensfrage, habt Mitleid mit uns, das würde ja sein wie mit einem Liebhaber! ... Halten zu Gnaden, Herr, mein grobes Wort ... bin ein Bauer und Ihr seid ein Herr ... Aber Euer Gnaden sind eben ein junger, stolzer, heißer Mensch, sie aber, Herr, Ihr wißt doch selbst, ist noch ein Kind, jung und unvernünftig – wie weit ist es denn da mit ihr bis zur Sünde! Sie ist ja gewiß ein frisches, rosiges, liebes Weib, und mich Alten plagt immer die Krankheit. Nun was? Wie man sieht, muß der Teufel Euer Gnaden schon arg umgarnt haben! Ich zerstreue sie schon immer mit Märchen und ähnlichen Geschichten, zerstreue sie wirklich! ... Und wie wir für Euer Gnaden beten würden! will sagen, wirklich von Herzensgrunde! ... Und was finden denn Euer Gnaden an ihr? Wenn sie auch schön ist, sie bleibt doch eine Bäuerin, ein einfaches Weib, das zu mir, dem einfachen Bauern paßt! Euch aber, Herr, steht es doch nicht an, sich mit Bäuerinnen abzugeben! Und wie wir doch für Euer Gnaden beten werden, wirklich von Herzensgrunde! ...“

Und Murin neigte sich von neuem tief, tief und blieb lange in dieser untertänigst ergebenen Stellung, während er zugleich unausgesetzt mit dem Ärmel den Bart vom Munde zu den Seiten strich. Jaroslaw Iljitsch wußte kaum noch, wo er sich lassen sollte.

„Ja ... tja, der gute Mann,“ begann er, nur so, um etwas zu sagen, „erzählte mir da auch so einiges ... wie gesagt, es scheint eben doch nicht so weiter zu gehen. Nur, bitte, denken Sie deshalb nicht, bester Wassilij Michailowitsch, daß ich mir da ... vielleicht irgendwelche Gedanken zu machen erlaube! ... Wie gesagt,“ unterbrach er sich schnell, „ich hörte, Sie seien noch immer krank?“ fragte er teilnehmend und sah Ordynoff vor lauter Verlegenheit mit förmlich bittendem Blick an.

„Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“ fragte Ordynoff schnell, sich an Murin wendend.

„Wie denn, Herr! Wir sind doch keine Räuber! Euer Gnaden werden uns doch nicht beleidigen wollen! Nein, Herr, Euer Wohlgeboren sollten sich schämen, – wodurch haben wir denn Euer Gnaden gekränkt? Ich bitte!“

„Aber ... einstweilen – erlauben Sie mal, mein Freund: so geht das doch auch nicht! Er war immerhin Ihr Mieter – ja, fühlen Sie denn nicht, daß umgekehrt Sie ihn durch Ihre Weigerung, eine Entschädigung dafür anzunehmen, empfindlich kränken, ja gewissermaßen sogar beleidigen?“ legte sich Jaroslaw Iljitsch ins Mittel, da er es für seine Pflicht hielt, Murin die peinliche Seite seiner Handlungsweise zu Bewußtsein zu bringen.

„Aber ich bitte, Herr! Wie kommen Euer Wohlgeboren nur darauf? Erbarmen Sie sich! Inwiefern sind wir denn Eurer Ehre zu nahe getreten? Haben uns doch redlich und weidlich bemüht, alles zu tun, was in unseren Kräften steht! Laßt es gut sein, Herr, Gott verzeihe Euch! Sind wir denn Heiden oder Wegelagerer? Wir hätten ja nichts dawider, mag er bei uns leben, unser einfaches Essen mit uns teilen und es zur Gesundheit verzehren, – mag er, mag er – wir würden ja nichts dawider sagen und ... kein Wort reden; aber da hat nun der Teufel seine Hand im Spiel, ich bin ein kranker Mensch und auch sie ist ein krankes Weib – was soll man da tun! Es ist niemand zum Bedienen da, sonst aber wären wir ja von Herzen froh. Und wie wir doch für Euer Gnaden, Herr, beten werden, will sagen, wie inbrünstig beten!“

Murin neigte sich wieder tief vor Ordynoff. Jaroslaw Iljitsch war vor lauter Anteilnahme geradezu gerührt und wandte seinen Blick fast stolz Ordynoff zu.

„Was sagen Sie dazu, ist das nicht ein edler Zug!“ rief er begeistert aus. „Ist es nicht ein heiliges Gefühl der Gastfreundschaft, das in unserem russischen Volke schlummert!“

Ordynoff sah ihn wild an und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen mit einem Blick, in dem fast Entsetzen sich ausdrückte.

„Ja, so ist es wirklich, Herr, Gastfreundschaft ist uns heilig, und wie!“ bestätigte Murin, und wieder wischte der Ärmel den Bart vom Munde nach links und rechts, „und da kommt mir soeben ein Gedanke: der Herr war bei uns eben nur zu Gast, bei Gott, nur zu Gaste,“ fuhr er fort, indem er sich Ordynoff näherte, „und es wäre ja alles gut, Herr, – nun, beispielsweise einen Tag, sagen wir, noch einen – ich würde ja wirklich nichts dawider haben. Aber die Sünde verführt, und meine Hausfrau ist nun einmal nicht ganz gesund. Ja, wenn sie nicht wäre! – will sagen, wenn ich beispielsweise allein leben würde! – oh, wie würde ich da Euer Gnaden dienen und alles zu Gefallen tun! – will sagen, das steht ja ganz außer Frage! Wen sollten wir denn achten, wenn nicht Euer Gnaden? Und ich würde Euch schon gesund machen, Herr, wirklich, ich kenne ein Mittel ... Nur zu Gaste seid Ihr bei uns gewesen, Herr, bei Gott, da habt Ihr mein Wort darauf, wirklich nur zu Gaste! ...“

„Nein in der Tat, gibt es nicht ein solches Mittel?“ bemerkte Jaroslaw Iljitsch ... brach aber kurz ab und wandte sich schleunigst zur Seite.

Ordynoff hatte ihm entschieden unrecht getan, als er ihn mit so wilder Verwunderung maß.

Jaroslaw Iljitsch war natürlich einer der ehrlichsten und anständigsten Menschen, doch jetzt, wo er endlich alles begriffen hatte, war seine Lage allerdings eine äußerst schwierige. Er wollte, wie man so sagt, einfach bersten vor Lachen! Wäre er mit Ordynoff allein gewesen, so hätte er sich selbstverständlich (zwei so gute Freunde unter sich!) nicht bezwungen und sich rückhaltlos dem Ausbruch seiner Heiterkeit hingegeben. Jedenfalls hätte er, eben wie ein im Grunde anständiger Kerl, voll Mitempfinden Ordynoff die Hand gedrückt, hätte ihm aufrichtig und wahrheitsgemäß versichert, daß er ihn nun noch doppelt achte und es unter allen Umständen verzeihlich finde, daß usw. ... Jugend bliebe eben Jugend. Doch in Murins Gegenwart war das natürlich ausgeschlossen: und so befand er sich denn in einer so peinlichen Lage, daß er nicht wußte, wohin er mit sich sollte ...

„Ein Mittel, will sagen, ein Heilmittel,“ versetzte Murin, dessen ganzes Gesicht nach dem ungeschickten Zwischenruf Jaroslaw Iljitschs ins Zucken geriet.

„Ich, Herr, ich würde in meiner Dummheit, das heißt, bei meinem bäuerischen Unverstand, nur das sagen,“ fuhr er fort, wieder einen Schritt näher tretend: „Bücher, Herr, habt Ihr arg viel gelesen; ich sage auch: klug seid Ihr sehr, seid sogar arg klug geworden und Euer Verstand ist arg gewachsen; aber nun, wie man bei uns Bauern zu sagen pflegt, nun ist der Verstand da angelangt, wo er stille steht ...“

„Genug! hören Sie auf!“ unterbrach ihn Jaroslaw Iljitsch in strengem Ton.

„Ich gehe,“ sagte Ordynoff. „Ich danke Ihnen, Jaroslaw Iljitsch. Gewiß, gewiß, ich werde Sie besuchen, nächstens,“ versprach er noch schnell, der Aufforderung zuvorkommend, da sie schon in der Gebärde lag, mit der ihn Jaroslaw Iljitsch zurückzuhalten suchte. „Leben Sie wohl ...“

Ordynoff hörte nichts mehr. Halb wahnsinnig verließ er das Zimmer.

Er war wie zerschlagen und alles Denken war in ihm erstarrt. Er hatte eigentlich nur die dumpfe Empfindung seiner Krankheit, doch zugleich erfaßte ihn eine kalte Verzweiflung, die ihn den einen, kaum bewußt gefühlten Schmerz in der Brust vergessen ließ. Er dachte an den Tod, dachte, daß es das beste wäre, jetzt schnell zu sterben. Seine Füße versagten ihm den Dienst und er setzte sich auf eine Bank an einem Zaun, ohne den Vorübergehenden irgendwelche Beachtung zu schenken: allen den Leuten, die sich nach und nach um ihn zu versammeln begannen, ihn teils neugierig und mitleidig betrachteten, teils Fragen an ihn stellten und sich besorgt ereiferten. Da vernahm er plötzlich durch das Stimmengewirr Murins Stimme, die ihn wie aus einem Traum schreckte, und er sah auf. Der Alte stand neben ihm: sein bleiches Gesicht war ernst und nachdenklich. Das war ein ganz anderer Mensch, als der, der sich bei Jaroslaw Iljitsch in so frecher Weise über ihn lustig gemacht hatte. Ordynoff erhob sich und Murin faßte ihn am Arm und führte ihn aus der Menge.

„Du mußt noch deine Habseligkeiten mitnehmen,“ sagte er, indem er Ordynoff flüchtig von der Seite ansah und seinen Arm wieder freigab. „Sei nicht traurig, Herr!“ versuchte er ihn zu ermuntern. „Du bist jung, wozu da trauern! ...“

Ordynoff schwieg.

„Bist gekränkt, Herr? Ärgerst dich also ... aber worüber denn? Jeder verteidigt sein Gut!“

„Ich kenne Sie nicht,“ stieß Ordynoff hervor, „und Ihre Geheimnisse gehen mich nichts an. Aber sie, sie!“ rief er, und Tränen entströmten seinen Augen und rollten über seine Wangen, doch der Wind trocknete sie schnell ... Ordynoff hob die Hand, wie um sie fortzuwischen. – Aber seine Geste, sein Blick, die unwillkürliche Bewegung seiner bebenden bläulichen Lippen – alles schien darauf hinzudeuten, daß sein Geist nicht lange mehr widerstandsfähig war und er dem Wahnsinn verfallen sein mochte.

„Ich habe dir doch schon erklärt,“ sagte Murin, die Brauen zusammenziehend, „sie ist eine Halbirrsinnige! Wodurch und wie sie irrsinnig wurde ... wozu brauchst du das zu wissen? Mir ist sie auch so – das, was sie mir ist! Ich habe sie liebgewonnen mehr als mein Leben und werde sie niemand abtreten. Begreifst du jetzt!“

In Ordynoffs Augen flammte es auf.

„Aber warum,“ stieß er hervor, „warum ist mir denn nun, als hätte ich mein Leben verloren? Warum schmerzt denn mein Herz? Warum mußte ich Katherina kennen lernen?“

„Warum?“ wiederholte Murin mit kurzem Auflachen, ward aber sogleich ernst und nachdenklich. „Ja, warum – das weiß ich auch nicht,“ murmelte er endlich. „Weibersinn ist schließlich kein Meeresgrund, erforschen kann man ihn schon, aber! ... Was sie wollen, das muß man ihnen geben – ob sie’s mit List, Beharrlichkeit oder Zähheit verlangen – aber geben muß man’s ihnen, als hätte man es nur aus der Tasche zu nehmen und hinzulegen. Da ist es denn wohl wahr, Herr, daß sie mit Ihnen von mir weggehen wollte,“ fuhr er nachdenklich fort. „Sie verschmähte den Alten, nachdem sie mit ihm alles erlebt, was man erleben kann! Da müssen Sie ihr anfangs arg in die Augen gestochen haben! Oder war’s nur so – ob Sie, ob ein anderer ... Ich verbiete ihr ja nichts, lasse ihr in allem ihren Willen. Und sollte sie Vogelmilch verlangen – ich verschaffe ihr auch Vogelmilch, werde selbst den Vogel erschaffen, wenn es einen solchen noch nicht gibt! Eitel ist sie! Nach Freiheit strebt sie und dabei weiß sie selbst nicht, was das Herz will. Und da hat es sich denn jetzt herausgestellt, daß es am besten doch wieder beim alten bleibt! Ach, Herr! Jung bist du, noch arg jung! Dein Herz ist heiß wie das Herz eines jungen Mädchens, das sich noch mit dem Ärmel die Tränen trocknet, wenn es sich vom Liebsten verlassen sieht. Höre, Herr, was ich dir sage: ein schwacher Mensch kann sich allein nicht halten! Gib ihm alles, was du willst – er wird dir freiwillig alles wieder zurückgeben, und wenn du ihm auch das halbe Erdreich schenkst und sagst: ‚Nimm und herrsche!‘ – was meinst du, was er tut? – in den Stiebel kriecht er und versteckt sich, so klein macht er sich! Und so ist es auch mit dem freien Willen: gibst du ihn ihm, dem schwachen Menschen, so wird er ihn selbst binden und ihn dir zurückgeben. Dummen Herzen nützt Freiheit nichts. Sie wissen damit nichts anzufangen. Ich sage dir das nur so – bist noch arg jung! Sonst aber – was gehst du mich an? Gekommen, gegangen – ob du oder ein anderer: bleibt sich gleich. Ich hab’s ja schon von Anfang an gewußt, wie es kommen würde. Sich widersetzen, das hilft da nichts. Kein Wort darf man dawider sprechen, wenn man sein Glück bewahren will. Es ist doch, Herr,“ fuhr Murin fort, in seiner Art zu philosophieren, „gewöhnlich alles nur so ... gesagt: bis zum Ausführen hat’s noch eine gute Weile. Aber schließlich – was kann nicht vorkommen? Im Zorn ist auch das Messer zur Hand, oder wenn nicht, dann geht es auch unbewaffnet mit den Zähnen dem Feinde an die Gurgel! Wird dir aber offen das Messer angeboten und dein Feind entblößt vor dir seine breite Brust – da wirst du wohl zurücktreten!“

Sie traten auf den Hof. Der Tatar, der sie schon von weitem hatte kommen sehen, nahm vor ihnen die Mütze ab und betrachtete Ordynoff mit listiger Neugier.

„Wo ist deine Mutter? Zu Haus?“ wandte sich Murin barsch an ihn.

„Zu Haus.“

„Sag ihr, daß sie seine Sachen herunterschleppen soll. Und auch du, marsch! rühr dich!“

Sie stiegen die Treppe hinauf. Die Alte, die bei Murin diente und die, was Ordynoff noch nicht gewußt hatte, die Mutter des Hausknechtes war, trug seine Habseligkeiten brummend zusammen und band sie in ein großes Bündel.

„Warte; ich bringe dir noch etwas, was dir gehört ...“

Murin ging in sein Zimmer, kam aber sogleich wieder zurück und händigte Ordynoff ein mit Seide und Perlen reich gesticktes Kissen ein, dasselbe, das Katherina ihm unter den Kopf gelegt hatte, als er krank wurde.

„Das schickt sie dir,“ sagte er. „Jetzt gehe mit Gott, aber sieh zu, daß du auf dich acht gibst,“ fügte er halblaut in väterlichem Tone hinzu, „sonst kann es schlimm werden.“

Augenscheinlich wollte er ihm beim Abschied nicht weh tun. Als aber Ordynoff bereits aus der Tür trat und er den letzten Blick auf ihn warf, da war es doch wie ein Aufflammen unendlicher Bosheit, das sich in seinem Blick verriet. Fast wie mit Ekel schloß Murin hinter ihm die Tür.

Zwei Stunden darauf zog Ordynoff zu Spieß, dem Deutschen. Tinchen schlug die Hände zusammen und rief „Mein Gott und Vater!“ als sie ihn erkannte. Das erste war, daß sie sich nach seiner Gesundheit erkundigte, und als sie erfuhr, daß er krank war, schickte sie sich sogleich an, ihn zu kurieren.

Der alte Spieß erzählte ihm darauf mit Selbstzufriedenheit, daß er gerade im Begriff gewesen sei, den Mietszettel wieder unten am Haustor auszuhängen, da dies genau der letzte Tag sei, an dem seine Anzahlung der Miete ablaufe. Natürlich konnte der Alte nicht umhin, bei der Gelegenheit ein Wörtchen über den deutschen Ordnungssinn im allgemeinen wie im besonderen einzuflechten und desgleichen auch die bekannte deutsche Ehrlichkeit rühmend hervorzuheben. Am selben Tage erkrankte Ordynoff ernstlich und erst nach vollen drei Monaten konnte er das Bett verlassen.

Seine Genesung machte nur sehr langsame Fortschritte. Das Leben bei den Deutschen verging einförmig, ruhig, still. Der Alte schien im Grunde ein Gemütsmensch zu sein, ohne besondere Eigenheiten, und das nette Tinchen war, natürlich innerhalb der Gebote der Sittsamkeit, alles, was man nur wünschen konnte. Und doch erschien das Leben Ordynoff so öde und farblos, als hätte es für ihn auf ewig alles Licht und alle Farben verloren. Er versank in grübelndes Sinnen und wurde reizbar; er war gleichsam preisgegeben den Eindrücken, die er empfing und er empfand sie mit krankhafter Nachdrücklichkeit. So kam es, daß er in einen Zustand verfiel, der an Hypochondrie gemahnte und schließlich sein Empfinden gegen äußere Eindrücke völlig abstumpfte. Oft rührte er wochenlang kein Buch an. Die Zukunft war für ihn aussichtslos, sein Geld ging auf die Neige und er ließ schon im voraus die Arme sinken; ja er dachte nicht einmal an die Zukunft. Manchmal kam wohl seine frühere Liebe zur Wissenschaft über ihn, das frühere Fieber, das ihn zum Schaffen gedrängt hatte, und die Gedanken und Gestalten, die einst in seinem Geist entstanden waren, erstanden jetzt wieder aus der Vergangenheit und stellten sich förmlich greifbar vor ihm auf ... doch sie bedrückten ihn jetzt nur und lähmten seine Energie. Seine Gedanken wurden nicht zu Taten. Die Kraft zur Schöpfung war ausgeschaltet und so schien das Schaffen wie stehen geblieben. Es war, als erständen alle diese Ideen jetzt nur noch deshalb wie Giganten in seinem Geiste, um über seine, ihres Schöpfers, Kraftlosigkeit zu spotten. Unwillkürlich kam es ihm in einer traurigen Stunde in den Sinn, sich mit jenem vorwitzigen Zauberlehrling zu vergleichen, der, nachdem er von seinem Meister den Zauberspruch erlauscht, dem Besen befiehlt, das Wasser herbeizutragen, und der dann schließlich in diesem Wasser ertrinkt, weil er vergessen hat, wie man ihm Einhalt gebietet. Vielleicht, wer weiß, wäre von ihm eine große, selbständige, neue Idee in die Welt gesetzt worden. Vielleicht war es ihm bestimmt gewesen, ein Großer in seiner Wissenschaft zu werden. Wenigstens hatte er früher selbst so etwas geglaubt. Ein aufrichtiger Glaube aber ist schon eine Bürgschaft für die Zukunft. Jetzt jedoch lachte er über diesen seinen blinden Glauben und – kam keinen Schritt vorwärts. Ein halbes Jahr vorher war das anders gewesen: da hatte er in klaren Zügen eine Skizze zu einem Werk entworfen, in dem er seine Anschauungen festlegen wollte, und auf dieses Werk hatte er, jung wie er war, die größten, auch die größten materiellen Hoffnungen aufgebaut. Das Werk war ein Buch über Kirchengeschichte und Worte tiefster glühendster Überzeugung entströmten, während er an ihm schrieb, seiner Feder. Jetzt nahm er diesen Plan wieder vor, las ihn durch, änderte, dachte über ihn nach, las und suchte in den verschiedensten Büchern, und schließlich verwarf er seine Idee – verwarf sie, ohne sie durch eine andere zu ersetzen. Dafür begann so etwas wie Mystik, ja sogar so etwas wie ein Glaube an Prädestination und ein Ahnen der letzten Geheimnisse dieser Welt sich mehr und mehr in seine Seele einzudrängen. Der Unglückliche litt unter seinen unendlichen Qualen und wandte sich schließlich Gott zu, um bei ihm Erlösung zu finden. Die Aufwärterin der Deutschen, eine alte gottesfürchtige Russin, erzählte mit Wohlgefallen, wie ihr stiller Mieter in der Kirche bete und wie er zuweilen stundenlang regungslos auf den Knien liege, die Stirn auf die Fliesen gebeugt ...

Er hatte zu keinem Menschen ein Wort von seinem Erlebnis gesagt. Zuweilen aber, namentlich in der Dämmerung, wenn die Kirchenglocken läuteten und zur Abendandacht riefen und ihr Klang in ihm wieder die Erinnerung an jenen Augenblick erweckte ... als zum erstenmal jenes Gefühl über ihn kam, das er noch nie empfunden und das ihn erzittern ließ, während er, neben ihr kniend, alles andere um sich her vergaß und nur ihr Herz pochen hörte ... und wie da plötzlich diese lichte Hoffnung mit einemmal sein einsames Leben durchstrahlt hatte und er vor lauter Freude und Entzücken in Tränen ausgebrochen war – wenn er das alles jetzt nochmals durchlebte, dann war es ihm, als risse ihn ein Sturm mit sich fort, ein Sturm, der sich aus seiner eigenen, für immer verwundeten Seele erhob; dann erzitterte er und die Qual der Liebe brannte wieder wie sengendes Feuer in seiner Brust; dann tat ihm das Herz vor Leid und Leidenschaft zum Zerspringen weh und mit der Trauer wuchs seine Liebe, wurde noch immer größer und tiefer. Oft saß er so, stundenlang, vergaß sich selbst und sein ganzes alltägliches Leben, vergaß alles in der Welt und saß stundenlang auf einem Fleck, einsam, traurig – stützte dann wohl die Ellbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen, bis ihm die Tränen durch die Finger rannen und er hoffnungslos müde den Kopf schüttelte, während seine Lippen leise flüsterten: „Katherina! Du Süße! Meine Taube du! Mein Schwesterchen! ...“

Nach und nach jedoch begann eine häßliche Überzeugung sich immer mehr in ihm festzusetzen, ja sie verfolgte ihn geradezu und peinigte ihn und stand doch mit jedem Tage unabweisbarer vor ihm, bis sie aus einem bloßen Verdacht zur Wahrscheinlichkeit und zu guter Letzt zur Gewißheit und Überzeugung für ihn wurde. Es schien ihm – und wie gesagt, zuletzt glaubte er selbst fest daran – es schien ihm, daß Katherinas Geist und Vernunft keineswegs gelitten hatten, daß aber Murin seinerseits auch nicht so unrecht hatte, wenn er sie ein „schwaches Herz“ nannte. Es schien ihm, daß irgendein verbrecherisches Geheimnis sie mit dem Alten verband, daß aber das Verbrechen selbst Katherina gar nicht recht zu Bewußtsein gekommen, eben wegen ihres reinen Herzens, und daß sie so in seine Gewalt geraten war. Wer waren sie? – er wußte es nicht. Aber ihn verfolgte die Vorstellung einer erbarmungslosen, eifersüchtigen Tyrannei, die der Alte mit der Beherrschung des armen schutzlosen Geschöpfs ausübte, und sein Herz erbebte in ohnmächtiger Empörung. Es schien ihm, daß der Alte, als ihr vielleicht einmal so etwas wie eine Ahnung des ganzen Zusammenhangs aufgegangen war, ihr dann arglistig das „Verbrechen“ vorgehalten hatte, ihre Schuld und ihren Fall, um dann listig das arme „schwache“ Herz zu quälen und den Tatbestand in schlauer Weise zu verdrehen, wobei er mit Absicht ihre Blindheit da, wo es ihm ratsam erschien, noch verstärkt und andererseits die Neigungen ihres heißen, verwirrten, unerfahrenen Herzens begünstigt haben mochte, bis er ihr auf diese Weise allmählich die Flügel gestutzt und die einst freie unabhängige Seele so weit gebracht, daß sie schließlich weder zu einer Selbstbefreiung durch eine Rettung ins wirkliche Leben, noch zu überhaupt einer Auflehnung gegen seine schlaue Gewaltherrschaft fähig war ...

Mit der Zeit wurde Ordynoff noch menschenscheuer, als früher, seine Deutschen hinderten ihn daran nicht im geringsten, was um der Gerechtigkeit willen nicht verschwiegen sei. Ab und zu aber machte er sich doch auf und ging hinaus, um dann lange ziellos durch die Straßen zu wandern. Es geschah das vornehmlich in der Dämmerstunde und dazu suchte er sich dann öde und entlegene Stadtteile auf, wo selten ein Mensch zu sehen war. An einem regnerischen Vorfrühlingsabend begegnete er in einer dieser Gassen Jaroslaw Iljitsch.

Der war inzwischen merklich magerer geworden, seine freundlichen Augen hatten ihren Glanz verloren und der ganze Mensch machte den Eindruck, als habe das Leben ihn enttäuscht. Er hatte es gerade sehr eilig und eine Angelegenheit vor, die angeblich keinen Aufschub duldete – war dabei durchnäßt und angeschmutzt, und an seiner sonst sehr anständigen, jetzt jedoch von der Witterung etwas blau angelaufenen Nase hing in beinahe phantastischer Weise ein Regentropfen. Außerdem trug er einen Backenbart, während er früher nur einen Schnurrbart gehabt hatte.

Dieser Backenbart und der Umstand, daß Jaroslaw Iljitsch im ersten Augenblick fast tat, als wolle er seinem alten Bekannten ausweichen, frappierten Ordynoff ... Und sonderbar! gewissermaßen schmerzte ihn das sogar und kränkte sein Herz, das doch bis dahin noch niemals des Mitleids anderer Menschen bedurft hatte. Der frühere Jaroslaw Iljitsch war ihm lieber gewesen, dieser gutmütige, dieser naive und – entschließen wir uns, es endlich offen auszusprechen – dieser etwas dumme Jaroslaw Iljitsch, der so gar keine Ansprüche machte auf Enttäuschungen oder Bereicherungen. Es ist doch unangenehm, entschieden unangenehm, wenn ein dummer Mensch, den man einst vielleicht gerade wegen seiner Dummheit gern gehabt hat, plötzlich klüger wird! Übrigens verschwand das Mißtrauen, mit dem er im ersten Augenblick Ordynoff ansah, fast noch schneller, als dieser es wahrnehmen konnte.

Doch ungeachtet dieser Veränderung hatte er seine alten Gewohnheiten keineswegs aufgegeben, wie ja bekanntlich fast jeder Mensch seine Gewohnheiten ins Grab mitzunehmen pflegt: und so begann er denn auch jetzt wieder ganz im Tone des besten Freundes die Unterhaltung. Zunächst bemerkte er, daß er viel zu tun habe, dann, daß sie sich lange nicht gesehen. Darauf nahm aber seine Rede plötzlich eine ganz andere und jedenfalls ganz neue Wendung. Er begann von der Verlogenheit der Menschen im allgemeinen zu sprechen, von der Vergänglichkeit der irdischen Güter sowie von der irdischen Nichtigkeit überhaupt, die nur eine einzige Sorge kenne ... versäumte auch nicht, so ganz beiläufig Puschkin zu erwähnen, jedoch in fast herablassendem Tone, und sprach ferner von seinen guten Bekannten sogar mit einem gewissen Zynismus, worauf er zum Schluß sich noch ein paar Andeutungen über die Falschheit derjenigen erlaubte, die sich öffentlich Freunde nennen, während es in Wirklichkeit, solange die Welt stehe, überhaupt noch keine echte Freundschaft gegeben habe. Mit einem Wort, Jaroslaw Iljitsch war doch klüger geworden!

Ordynoff widersprach ihm nicht, aber eine unsagbare, qualvolle Traurigkeit bemächtigte sich seiner: es war ihm, als habe er soeben seinen besten Freund begraben!

„Ach! Stellen Sie sich vor, da hätte ich es beinahe zu erzählen vergessen!“ unterbrach sich plötzlich Jaroslaw Iljitsch, als fiele ihm etwas ungeheuer Wichtiges ein. „Ich habe eine Neuigkeit! Erinnern Sie sich noch jenes Hauses, wo Sie mal kurze Zeit wohnten?“

Ordynoff zuckte zusammen und erbleichte.

„Können Sie sich denken, in diesem Hause hat man vor kurzem eine ganze Räuberbande entdeckt! – das heißt, verstehen Sie: eine ganze Bande! Schmuggler, Diebe, Spitzbuben der schlimmsten Art und weiß der Teufel was noch alles! Mehrere sind schon hinter Schloß und Riegel, den andern ist man erst noch auf der Spur. Die strengsten Weisungen sind erlassen! Und denken Sie sich weiter: – Sie erinnern sich doch wohl noch des Hausbesitzers? – so’n kleines Männchen, gottesfürchtig, dem Anscheine nach ein ehrwürdiger, durch und durch anständiger, alter Mann ...“

„Nun?“

„Tja – da urteilen Sie jetzt über die Menschheit! Gerade der ist das Haupt der Bande gewesen, der Anführer! Was sagen Sie dazu? Ist das nicht haarsträubend!“

Jaroslaw Iljitsch sprach mit Leidenschaft und verurteilte mit dem einen Sünder sogleich die ganze Welt, denn so ein Jaroslaw Iljitsch kann eben nicht anders, als nach einem Ding alle Dinge beurteilen, das liegt nun mal in seinem Charakter.

„Und jene? ... Und Murin?“ stieß Ordynoff atemlos hervor.

„Murin? Ach so – der! Nein, Murin war ein ehrwürdiger Alter ... Aber ... erlauben Sie mal! ... erlauben Sie mal! ... Sie werfen da ein neues Licht auf die Affäre ...“

„Wie denn? Gehörte er nicht auch zur Bande?“

Ordynoffs Herz schlug laut gegen seine Brust – er verging vor Spannung.

„Übrigens ... nein, wie denn das ... wie kommen Sie darauf?“ Jaroslaw Iljitsch richtete seine bleiernen Augen mit unbeweglichem Blick auf Ordynoff – ein Zeichen, daß er überlegte.

„Murin kann nicht darunter gewesen sein. Er hat schon drei Wochen vorher mit der Frau Petersburg verlassen – ist in seine Heimat zurückgekehrt ... Ich erfuhr es vom Hausknecht ... jenem Tatarenfrechling, erinnern Sie sich?“

Ein schwaches Herz

In ihrer Wohnung im vierten Stock unter dem Dach lebten zwei junge Beamte, Arkadij Iwanowitsch Nefedewitsch und Wassjä Schumkoff.

Ich müßte nun eigentlich den Leser darüber aufklären, warum ich den einen Helden meiner Erzählung bei vollem Namen, den anderen dagegen nur bei seinem Rufnamen genannt habe, sonst könnte man dieses Verfahren leicht für unangebracht oder für allzu vertraulich halten. Das aber setzte wieder voraus, daß ich das Alter, den Rang und Beruf der handelnden Personen genau feststellte. Doch weil die meisten Schriftsteller mit einer derartigen Einleitung beginnen, so habe ich mir vorgenommen, die Erzählung sofort mit der Handlung anfangen zu lassen – nur, um nicht in die abgeschmackte Art der anderen zu verfallen oder wie einige behaupten werden, aus Eigendünkel und Einbildung.

So schließe ich denn meine Einleitung und beginne.

Um sechs Uhr am Vorabend des neuen Jahres kehrte Schumkoff nach Hause zurück. Arkadij Iwanowitsch, der auf seinem Bett lag, erwachte und blinzelte verstohlen den Freund an. Er bemerkte, daß dieser seinen besten Anzug trug und ein blitzblankes Vorhemd anhatte. Das setzte ihn natürlich in Erstaunen. Was beabsichtigte er wohl damit? Woher kam er? Obendrein hatte er heute nicht zu Hause gespeist!

Schumkoff zündete unterdessen Licht an und Arkadij Iwanowitsch erriet sofort, daß sein Freund ihn durch ein scheinbar unbeabsichtigtes Geräusch wecken wollte. Und so geschah es denn auch: Wassjä hustete zweimal, ging mehrmals im Zimmer auf und ab, und ließ ganz zufällig seine Pfeife aus der Hand fallen, als er sie in der Ecke am Ofen ausklopfte. Arkadij Iwanowitsch mußte lachen.

„Nun ist’s aber genug, du Schlauberger!“ sagte er.

„Arkascha, du schläfst nicht?“

„Ja, weißt du: Genau kann ich’s dir nicht sagen; doch scheint es mir, daß ich nicht schlafe.“

„Ach, Arkascha! Guten Tag, mein Lieber! nun Bruderherz ... Du weißt nicht, was ich dir zu sagen habe!“

„Natürlich weiß ich’s nicht! Doch komm mal ein bißchen her zu mir!“

Wassjä kam sofort herbei, ganz als hätte er nur darauf gewartet, und ohne von den Absichten Arkadij Iwanowitschs auch nur etwas zu ahnen. Dieser ergriff ihn bei der Hand, drehte ihn geschickt um, drückte ihn rückwärts aufs Bett und begann ihn, wie man sagt, „zu würgen“, was ihm, dem immer fröhlichen Arkadij Iwanowitsch, ein ungeheueres Vergnügen zu machen schien.

„Hereingefallen!“ rief er, „hereingefallen!“

„Arkascha, Arkascha, was tust du mit mir? Laß los, um Gottes willen, laß los, ich verderbe mir meinen Anzug!“

„Das tut nichts: warum hast du auch deinen guten Anzug an? Sei ein andermal nicht so unvorsichtig und gib dich nicht selbst in meine Hände! Sprich, wo warst du, wo hast du gespeist?“

„Arkascha, um Gottes willen, laß mich los!“

„Wo hast du gespeist?“

„Ja, das wollte ich dir doch gerade erzählen!“

„Also erzähle!“

„Schön, aber laß mich erst los!“

„Nein, ich lass’ dich nicht los, bevor du nicht erzählt hast!“

„Arkascha, Arkascha! Ja, verstehst du denn nicht, daß es so unmöglich ist, ganz unmöglich!“ stöhnte der schwache Wassjä und versuchte vergeblich sich aus den kräftigen Armen seines Freundes zu befreien, „es gibt doch gewisse Angelegenheiten, die ...“

„Was für Angelegenheiten?“

„Nun ja, Angelegenheiten, die, wenn man in solcher Lage von ihnen zu reden beginnt, allen Ernst verlieren. Es ist mir ganz unmöglich ... es würde nur lächerlich wirken und – die Sache ist doch durchaus nicht lächerlich, sondern sogar sehr ernst!“

„Auch noch ernst! Was du dir nicht ausgedacht hast! Du, erzähle mir lieber etwas, worüber ich lachen kann ... Etwas Ernstes, nein etwas Ernstes will ich jetzt nicht hören. Was bist du mir für ein Freund? Bitte, sage mir doch, was bist du für ein Freund!?“

„Arkascha, bei Gott, ich kann nicht!“

„Und ich will nichts davon wissen ...“

„Höre, Arkascha!“ begann Wassjä, der quer über dem Bett lag und sich mit aller Gewalt mühte, seinen Worten Nachdruck zu geben. „Arkascha, meinetwegen sag’ ich’s – nur ...“

„Nun, was denn ...“

„Ich habe – mich verlobt!“

Arkadij Iwanowitsch nahm schweigend und ohne ein Wort zu verlieren, Wassjä wie ein kleines Kind auf seine Arme, ungeachtet dessen, daß Wassjä durchaus nicht so klein war, sondern recht lang, wenn auch sehr mager, und trug ihn von einer Ecke des Zimmers in die andere, ganz als wiege er ein Kind.

„Und ich werde dich Bräutigam einwickeln wie einen Säugling,“ gab er zur Antwort. Doch als er bemerkte, daß Wassjä regungslos und ohne ein Wort zu sagen in seinen Armen lag, besann er sich und begriff, daß er in seinem Scherz offenbar zu weit gegangen war: er stellte ihn daher mitten ins Zimmer hin und streichelte ihm auf die freundschaftlichste Weise die Backe.

„Wassjä, du bist doch nicht böse?“

„Arkascha, höre ...“

„Wohl zum neuen Jahr?“

„Bös bin ich nicht – doch, warum bist du so ein Kraftrüpel, so ein Unmensch? Wie oft habe ich dir nicht gesagt: Arkascha, bei Gott, das ist nicht sehr witzig, durchaus nicht sehr witzig!“

„Nun sei nur nicht gleich böse!“

„Böse? ... Auf wen bin ich denn jemals böse! Aber gekränkt hast du mich doch, verstehst du das!“

„Wodurch denn gekränkt, auf welche Weise?“

„Ich bin zu dir gekommen, wie zu einem Freunde, mit voller Seele und um dir mein Herz auszuschütten, um dir mein Glück mitzuteilen ...“

„Ja, was für ein Glück denn? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“

„Nun, ich heirate doch!“ antwortete geärgert Wassjä, denn er war wirklich gekränkt.

„Du! Du heiratest! Ist das wahr?“ brüllte aus voller Kehle Arkascha. „Nein, nein ... was soll denn das? Und dabei vergießt er Tränen! ... Wassjä, du mein Wassjuk, mein Söhnchen, höre auf! Es ist also wirklich wahr?“ Und Arkadij Iwanowitsch umarmte ihn immer wieder von neuem.

„Nun, also verstehst du jetzt, was soeben in mir vorging?“ sagte Wassjä. „Du bist doch sonst gut zu mir, du bist doch mein Freund, ich weiß es. Ich kam zu dir voll Freude und Begeisterung und plötzlich mußte ich nun diese ganze Freude und diese ganze Begeisterung quer über dem Bette liegend, würdelos ... Du begreifst doch, Arkascha,“ fuhr Wassjä halblachend fort, „in einer so komischen Lage, in der ich in gewisser Hinsicht und in diesem Augenblick nicht einmal mir selbst angehörte ... Ich wollte doch diese Herzensangelegenheit nicht so erniedrigen ... Es fehlt nur noch, daß du mich gefragt hättest, wie sie heißt? Ich schwöre dir, ich hätte mir eher das Leben genommen, als dir in diesem Augenblick ihren Namen gesagt!“

„Aber, Wassjä, warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt! Ich hätte ja sofort aufgehört mit dem Ulk!“ rief Arkadij Iwanowitsch in aufrichtiger Verzweiflung.

„Schon gut, schon gut! Ich sage ja nur so ... Du weißt doch ... nur – weil ich ein so gutes Herz habe. Es ärgert mich ja bloß, daß ich es dir nicht so sagen konnte, wie ich’s wollte! Ich wollte dir doch eine Freude bereiten, dir alles schön und feierlich mitteilen, dich in alles einweihen ... Wirklich, Arkascha, ich liebe dich doch so sehr, daß ich, wenn du nicht wärest, so scheint es mir, überhaupt nicht heiraten würde, ja, vielleicht gar nicht auf der Welt sein möchte!“

Arkadij Iwanowitsch, der äußerst gefühlvoll war, weinte und lachte zugleich, als er das hörte. Wassjä gleichfalls. Beide umarmten sich immer wieder von neuem und vergaßen alles Gegenwärtige.

„Wie ist denn das nur, ja, wie ist denn das nur gekommen? Erzähle mir doch alles, Wassjä! Ich bin, mein Lieber, entschuldige, ich bin erschüttert, ganz und gar erschüttert, als hätte der Blitz mich getroffen, bei Gott! Doch nein, mein Lieber, nein, du hast dir ganz einfach was ausgedacht. Bei Gott, du lügst!“ brüllte Arkadij Iwanowitsch und blickte wirklich ganz mißtrauisch Wassjä an, aber als er auf dessen Gesicht nun wirklich die leuchtende Bestätigung seiner unumstößlichen Absicht, so schnell als möglich zu heiraten, bemerkte, warf er sich aufs Bett und begann sich vor lauter Entzücken so in ihm herumzuwälzen, daß die Wände zitterten.

„Wassjä, setz dich hierher zu mir!“ rief er, endlich sich im Bett aufrichtend.

„Ich, Bruderherz, ich weiß wirklich nicht – wie und womit beginnen!“

Beide sahen in freudiger Erregung einander an.

„Wer ist sie, Wassjä?“

„Eine Artemjewa! ...“ stieß Wassjä mit vor Glück zitternder und noch ganz schwacher Stimme hervor.

„Nein, wirklich?“

„Nun, ich habe dir doch schon über sie die Ohren vollgeredet! Du bemerktest nur von alledem nichts! Und so schwieg ich denn ganz! Ach, Arkascha, was es mich kostete, dir gegenüber das alles zu verbergen! – doch ich fürchtete mich, fürchtete mich zu reden! Ich dachte, es könnte am Ende alles auseinandergehen, und ich war doch so verliebt, Arkascha! Mein Gott, mein Gott! Weißt du, was das für Geschichten waren,“ begann er, und brach sogleich wieder vor Erregung ab, „sie war doch vor einem Jahr bereits einmal verlobt, er aber wurde plötzlich irgendwohin wegversetzt, ich kannte ihn auch – so einer, nun, Gott mit ihm! Er hat dann nichts mehr von sich hören lassen und war schließlich für sie verschollen. Sie wartete und wartete und wußte nicht, was das bedeuten sollte? ... Plötzlich, vor vier Wochen, kehrte er zurück – bereits verheiratet, und ohne sich bei ihnen auch nur sehen zu lassen. War das nicht roh? Gemein? Niemand war da, der für sie eintrat. Sie weinte und weinte, die Arme, und so verliebte ich mich denn in sie ... ja, ich war eigentlich schon lange, eigentlich schon immer in sie verliebt! Ich tröstete sie und ging wieder und wieder zu ihr. Nun, und da weiß ich denn selbst nicht, wie alles gekommen ist! Auch sie hatte mich recht liebgewonnen: und in der vorigen Woche, da hielt ich es nicht mehr aus, da mußte ich weinen, ich schluchzte und sagte ihr alles, sagte ihr, daß ich sie liebe – kurz, alles! ... ‚Ich würde Sie wohl auch lieben, Wassilij Petrowitsch,‘ sagte sie, ‚ich bin aber ein armes Mädchen, darum spotten Sie meiner nicht – ich wage es überhaupt nicht mehr, jemanden zu lieben.‘ Nun, mein Freund, verstehst du, verstehst du mich?! ... Da haben wir uns denn gegenseitig das Wort gegeben. Und ich habe überlegt, wie ich es der Mutter mitteilen wollte? Lisenka sagte, es sei sehr schwierig, ich möchte noch ein wenig warten: sie fürchtete sich, es selbst zu tun; ‚Mutter wird mich Ihnen jetzt noch nicht geben wollen,‘ meinte sie und weinte dazu. Ich sagte ihr weiter nichts. Heute habe ich es nun der Alten gestanden. Lisa kniete vor ihr nieder und ich auch ... Nun, und sie – segnete uns. Arkascha, Arkascha! mein Lieber! Wir wollen alle zusammen leben! Nein! Ich werde mich von dir um nichts in der Welt trennen!“

„Wassjä, wenn ich dich so ansehe, so kann ich es nicht glauben, bei Gott, ich schwöre es dir, ich kann es nicht glauben. Wirklich, es scheint mir immer ... Höre, wie kannst du dich denn verheiraten? und wie habe ich die ganze Zeit über von nichts wissen können, sag! Jetzt, mein Wassjä, kann ich dir auch gestehen, daß ich selbst zu heiraten gedachte: da du es aber bereits für mich tust, so ist das ja ganz gleich! ... Werde also glücklich, mein Lieber! ...“

„Ach, du, wie mir jetzt leicht und wohl zumut ist ...“ sagte Wassjä und ging vor Erregung im Zimmer auf und ab. „Nicht wahr, nicht wahr, du fühlst es doch auch? Wir werden arm sein, freilich, aber glücklich – und das ist kein Hirngespinst. Unser Glück wird kein papierenes sein, wie es in den Büchern steht, sondern wir werden in Wirklichkeit glücklich sein! ...“

„Wassjä, aber Wassjä, höre!“

„Was denn?“ sagte Wassjä und blieb vor Arkadij Iwanowitsch stehen.

„Mir kam nur der Gedanke – wirklich, ich fürchte mich eigentlich, ihn auszusprechen ... Verzeih mir und nimm mir meine Bedenken! Wovon wirst du leben? Ich bin ja, weißt du, außer mir vor Freude, daß du heiratest, kann mich vor Freude kaum lassen, doch – die Frage bleibt: wovon wirst du leben?“

„Ach, mein Gott, wie du auch bist, Arkascha!“ sagte Wassjä und sah mit tiefer Verwunderung Nefedewitsch an. „Was fällt dir denn ein? Sogar die Alte dachte kaum zwei Minuten lang nach, als ich ihr alles das klar machte. Frage sie doch, wovon sie gelebt haben? Fünfhundert Rubel im Jahr! für drei! so viel beträgt die ganze Pension, mit der sie auskommen müssen! Davon lebt sie, die Alte und ein kleiner Bruder, für den noch die Schule bezahlt werden muß – siehst du, so lebt man eben! Wir beide aber, du und ich, wir sind wahre Kapitalisten, denn ich habe manches Jahr, wenn es gut ging, ganze siebenhundert verdient!“

„Höre, Wassjä, verzeih mir: ich denke, bei Gott, nur daran, wie das alles zu machen geht – aber welche siebenhundert sollen das gewesen sein? Nur dreihundert ...“

„Dreihundert! ... Und Juljan Mastakowitsch? Den hast du ganz vergessen!“

„Juljan Mastakowitsch! Das ist eine Sache, die nicht ganz stimmt, mein Lieber: das sind nicht dreihundert Rubel feststehenden Gehaltes, von denen einem ein jeder einzelne Rubel sicher ist. Juljan Mastakowitsch ist freilich ein großmütiger und großzügiger Mensch, ich verehre ihn und verstehe es, daß er so hoch gestiegen ist, und, bei Gott, ich liebe ihn, weil er dir zugetan ist und dir eine Arbeit bezahlt, für die er sonst nichts zu bezahlen, sondern einfach nur einen Beamten zu beauftragen brauchte – aber sage doch selbst, Wassjä! ... Höre mich an, Wassjä, ich rede doch keinen Unsinn; ich weiß auch, daß es in ganz Petersburg eine solche Handschrift wie die deine nicht wieder gibt, und ich bin gern bereit, das Beste anzunehmen,“ schloß, nicht ohne Wärme, Nefedewitsch, „aber wie, wenn du ihm plötzlich – Gott bewahre dich davor! doch nicht mehr so gefallen und ihn zufriedenstellen solltest und wenn er mit einem Male die Verbindung mit dir abbräche und einen anderen nähme! ... wer weiß, was im Leben nicht alles kommen kann. Dann ist Juljan Mastakowitsch für dich nichts mehr, dann ist er bloß – gewesen, Wassjä ...“

„Höre, Arkascha, ebenso kann sofort über uns die Decke einbrechen ...“

„Nun, freilich, freilich ... Ich will ja auch nichts ...“

„Nein, höre mich an: warum soll er mich denn verabschieden ... Nein, wirklich, höre mich doch nur an! Ich erledige ja alles pünktlich und peinlich: und er ist so gut zu mir, er hat mir doch, Arkascha, er hat mir doch heute noch fünfzig Rubel gegeben!“

„Ist’s möglich, Wassjä? eine Zulage?“

„Was, Zulage? Nein, so: einfach aus seiner Tasche. Er sagte: wie, mein Lieber, du hast bereits den fünften Monat kein Geld mehr erhalten. Wenn du welches brauchst, nimm es: denn ich bin, sagte er, mit dir sehr zufrieden ... bei Gott! Du arbeitest doch nicht umsonst für mich, sagte er, wirklich! Das hat er gesagt. Mir rollten die Tränen über die Backen, Arkascha. Großer Gott!“

„Höre, Wassjä, hast du denn die neue Abschrift fertiggestellt? ...“

„Nein ... noch nicht.“

„Wassinjka! Mein Lieber! Was hast du denn getan?“

„Höre, Arkadij, das tut doch nichts, ich habe noch zwei volle Tage Zeit bis zum Termin ...“

„Wie, hast du denn noch gar nicht angefangen?“

„Na ja, na ja! Du siehst mich ja mit einem Ausdruck an, daß sich mein ganzes Innere umdreht! Nun, was ist denn dabei? Du kannst einem so den Mut nehmen und schreist immer gleich: a–a–a!!! Überleg es dir doch: was ist denn dabei? Ich werde damit schon fertig werden, bei Gott, das werde ich ...“

„Aber wenn du es nun nicht wirst!“ rief Arkadij und sprang auf. „Gerade jetzt, da er dir heute eine Belohnung gegeben hat! Und obendrein willst du heiraten ... Oh, oh, oh! ...“

„Das hat nichts zu sagen, gar nichts,“ schrie fast verzweifelt Schumkoff, „ich werde mich sofort hinsetzen, noch in dieser Minute werde ich mich hinsetzen – das tut gar nichts!“

„Wie hast du es denn nur so vernachlässigen können, Wassjutka!“

„Ach, Arkascha! Konnte ich denn hier so ruhig still sitzen! Mein Zustand war doch so, daß ich kaum in der Kanzlei arbeiten konnte ... Ach! Ach! Heute werde ich die Nacht durcharbeiten, morgen wieder die Nacht durcharbeiten und übermorgen auch noch und dann – wird’s fertig sein! ...“

„Ist noch viel übriggeblieben?“

„Störe mich nicht, um Gottes willen, störe mich nicht! schweige mir davon!“

Arkadij Iwanowitsch ging leise auf den Fußspitzen zu seinem Bett, und setzte sich hin, darauf wollte er plötzlich wieder aufstehen, sagte sich aber sofort, daß er seinen Freund nicht stören dürfe und blieb sitzen: offenbar hatte ihn die Mitteilung so aufgeregt, daß er noch nicht mit sich zur Ruhe kommen konnte. Er blickte auf Schumkoff, der sah ihn an, lächelte und drohte ihm mit dem Finger. Darauf runzelte Schumkoff ganz furchtbar die Brauen, als läge darin die eigentliche Kraft und der gewünschte Erfolg seiner Arbeit, und richtete seine Augen dann wieder aufs Papier.

Es schien, daß auch er seine Erregung noch nicht überwunden hatte, er wechselte beständig seine Feder, rückte auf dem Stuhle hin und her, nahm sich zusammen, um wieder von neuem zu beginnen, doch seine Hand zitterte und versagte offenbar den Dienst.

„Arkascha! Ich habe ihnen auch von dir erzählt!“ rief er plötzlich, als wäre es ihm soeben eingefallen.

„Ja?“ rief Arkascha, „und ich wollte dich vorhin schon darüber fragen, nun?“

„Nun! Ach, ich werde dir später alles erzählen. Sieh, bei Gott, jetzt habe ich selbst zu sprechen angefangen und ich wollte es doch nicht tun, bevor ich nicht wenigstens vier Blätter fertig gemacht. Mir fiel es aber plötzlich ein, das von dir und von ihnen! Ich kann auch, mein Lieber – ich kann gar nicht ordentlich schreiben: immer muß ich an euch denken ...“ Und Wassjä lächelte.

Es trat Schweigen ein.

„Pfui! Was für eine schlechte Feder!“ rief Schumkoff, schlug im Ärger auf den Tisch und nahm wieder eine andere.

„Wassjä! Höre! Nur ein Wort ...“

„Nun, aber schnell, zum letztenmal.“

„Hast du noch viel zu schreiben?“

„Ach, mein Lieber! ...“ Wassjä runzelte die Stirn, als gebe es keine schrecklichere und tötendere Frage auf der Welt, als diese. „Viel, furchtbar viel!“ antwortete er dann.

„Weißt du, ich habe eine Idee ...“

„Was für eine?“

„Nein, nein, schreibe nur.“

„Nun, was für eine? Sag doch!“

„Es ist bereits sieben Uhr, Wassjä!“

Dabei lächelte Nefedewitsch schelmisch und blinzelte Wassjä zu, wenn auch nur ganz schüchtern, da er nicht wußte, wie dieser es aufnehmen würde.

„Nun, was denn?“ sagte Wassjä und schien wirklich mit dem Schreiben aufhören zu wollen. Er sah ihm gerade in die Augen und war ganz bleich vor Erwartung.

„Weißt du, was?“

„Um Gottes willen, was denn?“

„Weißt du, du bist so erregt und wirst doch nicht viel arbeiten können ... Warte, warte, warte, ich sehe, ich sehe – so höre doch!“ beeilte sich Nefedewitsch und sprang, von seinem Gedanken gefaßt, vom Bett auf, um mit allen Kräften einer Erwiderung Wassjäs zuvorzukommen, „es ist vor allem nötig, daß du dich beruhigst und wieder von neuem Kräfte sammelst, ist’s nicht so?“

„Arkascha! Arkascha!“ rief Wassjä aus und sprang vom Stuhl, „ich werde die ganze Nacht aufbleiben und schreiben, bei Gott, das tu’ ich!“

„Nun ja, jawohl! doch gegen Morgen wirst du einschlafen ...“

„Ich werde nicht einschlafen, um nichts in der Welt ...“

„Nein, das geht, das geht nicht! Natürlich wirst du um fünf Uhr einschlafen! Und um acht Uhr werde ich dich wieder wecken. Morgen ist ein Feiertag, da kannst du dich hinsetzen und den ganzen Tag über schreiben ... Dann noch eine Nacht und – ist denn noch so viel übriggeblieben?“

„Da! sieh!“

Wassjä zeigte ihm zitternd vor Erwartung und Erregung das Heft: „Da! sieh!“

„Höre, Bruder, das ist nicht viel ...“

„Ja, mein Lieber, aber – es ist noch etwas,“ sagte Wassjä und sah dabei schüchtern, fragend Nefedewitsch an, als würde von dessen Entschluß alles abhängen: ob sie gingen oder nicht gingen?

„Wieviel?“

„– Zwei Bogen ...“

„Nun, ich glaube, damit wirst du auch fertig, bei Gott, du wirst fertig!“

„Arkascha!“

„Höre, Wassjä! Jetzt zum neuen Jahr sind doch alle in der Familie versammelt und nur wir beide sollten – so ohne Häuslichkeit und ganz verwaist ... Ach! Wassinjka!“

Nefedewitsch umarmte Wassjä und drückte ihn an seine Brust.

„Abgemacht, Arkadij!“

„Wassjuk, ich wollte dir nur noch eines sagen. Siehst du, Wassjuk, mein Junge! Höre! Höre mich an!“

Arkadij hielt den Mund weit aufgesperrt, als könne er vor Begeisterung nicht mehr sprechen. Wassjä, der sich noch immer mit den Händen an Arkadijs mächtigen Schultern hielt, sah ihm gespannt in die Augen und bewegte seine Lippen, ganz als wollte er für ihn sprechen ...

„Nun!“ sagte er endlich.

„Stelle mich ihnen heute vor!“

„Arkadij! Ja: gehen wir hin! Trinken wir Tee bei ihnen! Aber weißt du was? Das neue Jahr freilich wollen wir nicht abwarten, wir wollen früher nach Haus kommen,“ rief Wassjä noch immer in aufrichtiger Begeisterung.

„Das heißt also: zwei Stunden, nicht mehr und nicht weniger! ...“

„Und dann – Trennung, bis ich meine Sache fertig habe! ...“

„Wassjuk! ...“

„Arkadij! ...“

In drei Minuten war Arkadij im Galaanzug. Wassjä brauchte sich nur etwas abzubürsten, da er sich mit solchem Eifer an die Arbeit gemacht hatte, daß er nicht einmal seinen Rock ausgezogen.

Sie beeilten sich, auf die Straße zu kommen, der eine noch freudiger als der andere. Der Weg ging auf die Petersburger Seite[3] nach Kolomna[4]. Arkadij Iwanowitsch schritt weit und kräftig aus, schon an seinem Gang konnte man seine Freude über das Glück Wassjäs erkennen. Wassjäs Gang war trippelnder, doch verlor er deshalb nichts von seiner Würde. Im Gegenteil, Arkadij Iwanowitsch hatte noch nie einen so vorteilhaften Eindruck von ihm gehabt. Er empfand, wie sie so gingen, fast eine gewisse Hochachtung vor ihm, und ein körperlicher Fehler Wassjäs, von dem der Leser bis jetzt noch nichts erfahren (Wassjä war nämlich ein wenig schief gewachsen) und der im Herzen Arkadij Iwanowitschs immer ein tiefes Mitgefühl für ihn erweckt hatte, trug zu einem nur noch größeren, nur noch innigeren Gefühl für seinen Freund bei. Arkadij Iwanowitsch hatte vor Freude weinen können, doch er beherrschte sich.

„Wohin, wohin, Wassjä? Hier ist es doch näher!“ rief er, als er sah, daß Wassjä in den Wosnessenskij-Prospekt abbiegen wollte.

„Komm nur, Arkascha, komm ...“

„Wirklich, es ist näher, Wassjä.“

„Arkascha, weißt du?“ begann Wassjä geheimnisvoll und mit vor Seligkeit flüsternder Stimme, „weißt du? Ich möchte nämlich Lisenka ein Geschenk mitbringen ...“

„Was für eines?“

„Hier, mein Lieber – an der Ecke – wohnt Mme. Leroux ... ein wundervoller Laden!“

„Was denn –“

„Ein Hütchen, mein Lieber, ein Hütchen. Heute morgen habe ich ein reizendes Hütchen gesehen: ich fragte nach der Fasson, und man sagte mir, Manon Lescaut heiße das Wunder! Die Bänder sind kirschfarben, und wenn das Hütchen nicht zu teuer ist ... Arkascha, und schließlich, wenn es auch teuer ist! ...“

„Du übertriffst wahrhaftig noch alle Poeten, Wassjä! Gehen wir also! ...“

Sie gingen und waren in zwei Minuten im Laden. Hier wurden sie von einer schwarzäugigen und lockenhaarigen älteren Französin empfangen, die sofort, beim ersten Blick auf ihre Käufer, ebenso lustig und glücklich zu werden schien, wie diese selbst waren, sogar noch lustiger und noch glücklicher, wenn das möglich gewesen wäre. Wassjä war bereit, Madame Leroux vor Entzücken sofort abzuküssen ...

„Arkascha!“ flüsterte er diesem zu, als er mit seinem Blick all das Schöne und Hohe überflog, das an Holzständern auf dem großen Tisch des Geschäfts ausgestellt war. „Welche Wunder! Wie ist denn das? Dies hier zum Beispiel, dieses Bonbon hier, siehst du?“ Wassjä wies auf ein kleines, reizendes Hütchen, doch nicht auf dasjenige, welches er kaufen wollte, denn schon von weitem hatte dieses andere, am entgegengesetzten Ende, seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er starrte es so an, als wäre zu befürchten, daß es von jemandem gestohlen werden könnte oder als ob das Hütchen selbst, nur damit Wassjä es nicht bekommen sollte, in die Luft fliegen könnte.

„Dieses hier,“ sagte Arkadij Iwanowitsch und wies auf ein anderes Hütchen, „dieses hier ist meiner Meinung nach noch schöner.“

„Nun, Arkascha! Das legt dir Ehre ein: ich muß dir sagen, daß ich vor deinem Geschmack Achtung bekomme,“ bemerkte Wassjä, der scheinbar aus Liebe zu Arkascha auf dessen Geschmack einging. „Dein Hütchen ist wirklich reizend, aber sieh einmal her!“

„Welches ist schöner?“

„Sieh mal her!“

„Dieses?“ sagte etwas zögernd Arkadij.

Doch als Wassjä, der nicht fähig war, länger an sich zu halten, das Hütchen vom Holzgestell herunterholte, von dem es scheinbar selbst herunterfliegen wollte, als freute es sich – nach so langer Erwartung, in der seine Bänderchen, Rüschchen und Spitzen steif hatten dastehen müssen – über den guten Käufer: da entriß sich der mächtigen Brust Arkadij Iwanowitschs ein Schrei des Entzückens. Sogar Madame Leroux, die die ganze Zeit über ihre Würde gewahrt und während ihrer Auswahl zu allen Fragen des Geschmacks herablassend geschwiegen hatte, belohnte jetzt Wassjä mit einem begütigenden Lächeln und dieses Lächeln schien zu sagen: ja! Sie haben es getroffen, Sie sind des Glückes würdig, das Sie erwartet.

„So hat es in seiner Einsamkeit kokettiert und kokettiert!“ rief Wassjä aus, der seine ganze Zärtlichkeit auf das reizende Hütchen übertrug, „hat sich mit Absicht versteckt, der Schelm!“ Und er küßte es, das heißt, er küßte die Luft, die es umgab, denn er fürchtete sich, an seine Kostbarkeit auch nur zu rühren.

„So versteckt sich das wahre Verdienst,“ fügte Arkadij in seinem Entzücken hinzu, um mit dieser Phrase, die er am Morgen in einer Zeitung gelesen hatte, Humor in die Sache zu bringen. „Nun, Wassjä, wie steht es denn?“

„Vivat, Arkascha! Du spielst wohl heute den Geistreichen, um Furore zu machen, wie sich die Damen ausdrücken – nicht wahr, Madame Leroux, nicht wahr!“

„Was wünschen Sie?“

„Nicht wahr, meine liebe Madame Leroux!“

Madame Leroux blickte gütig lächelnd Arkadij Iwanowitsch an.

„Sie glauben nicht, wie ich Sie in diesem Augenblick vergöttere ... Erlauben Sie, daß ich Sie umarme ...“ Und Wassjä küßte wirklich die Ladenmadame.

Es gehörte Würde dazu, um sich in diesem Augenblick solch einem Heißsporn gegenüber nichts zu vergeben. Und vor allem: eine angeborene Liebenswürdigkeit und diese natürliche Grazie, mit der Madame Leroux die Begeisterung Wassjäs aufnahm, entschuldigte ihn, und sie verstand es, sich mit liebenswürdigem Geschick in die Situation zu finden! Es war ja auch überhaupt unmöglich, Wassjä im Ernste böse zu sein!

„Madame Leroux, welches ist der Preis?“

„Fünf Rubel,“ antwortete sie und rechtfertigte ihre Forderung mit einem neuen Lächeln.

„Und dieser Hut hier, Madame Leroux,“ fragte Arkadij Iwanowitsch und wies auf den von ihm gewählten.

„Dieser: acht Rubel.“

„Aber erlauben Sie, erlauben Sie! Nun müssen Sie selbst entscheiden, Madame Leroux, welcher ist schöner, welcher niedlicher, welcher von den beiden würde Sie kleiden?“

„Dieser hier ist reicher, doch der, den Sie gewählt haben – il est plus coquet.“

„Also, nehmen wir ihn!“

Madame Leroux legte ihn in einen Bogen feinen, dünnen Seidenpapiers und steckte es mit kleinen Stecknadeln fest. Das Papier aber, mit dem Hut, schien jetzt beinahe noch leichter zu sein als früher, ohne Hut. Wassjä nahm das Paket und wagte kaum zu atmen, er verabschiedete sich von Madame Leroux, sagte ihr noch etwas Liebenswürdiges und verließ den Laden.

„Ich bin ein Lebemann, Arkascha, ein geborener Lebemann!“ rief Wassjä draußen lachend aus. Das Lachen ging aber gleich darauf in einen kaum hörbaren nervösen feinen Ton über, den ein Lächeln begleitete – und Wassjä selbst wich allen Vorübergehenden ängstlich aus, als ob er sie mit einem Male im Verdacht hätte, der Versuchung, sein kostbares Hütchen zu zerknüllen, nicht widerstehen zu können.

„Höre, Arkadij, höre!“ begann er einen Augenblick später und etwas Feierliches, etwas unendlich Seliges lag in seiner Stimme. „Arkadij, ich bin so glücklich, ich bin so glücklich!“

„Wassinjka! Und wie ich glücklich bin, mein Liebling!“

„Nein, Arkascha, nein, deine Liebe zu mir ist grenzenlos, ich weiß es. Doch du kannst nicht den zehnten Teil von dem empfinden, was ich in diesem Augenblick fühle. Mein Herz ist so voll, so übervoll!! Arkascha! Ich bin ja meines Glückes gar nicht würdig! Ich weiß es, ich fühle es selbst. Womit habe ich es verdient,“ rief er mit einer Stimme aus, die voll war von verhaltenem Schluchzen, „was habe ich denn je Gutes getan, sage nur. Sieh doch, wieviel Menschen es gibt, wieviel Tränen, wieviel Kummer, wieviel Alltag ohne Feiertag! Und ich! Mich liebt ein solches Mädchen, mich ... Du wirst sie ja selbst sehen, wirst selbst ihr edles Herz erkennen. Ich komme aus niedrigem Stande, doch habe ich eine Stellung und ein festes Gehalt. Ich bin mit einem Gebrechen auf die Welt gekommen, bin schief gewachsen. Sie aber liebt mich, so wie ich bin. Juljan Mastakowitsch war heute so zärtlich, so aufmerksam, so höflich zu mir. Er spricht sonst selten mit mir – doch: ‚Nun, Wassjä,‘ sagte er heute (bei Gott, Wassjä nannte er mich) ‚wirst du in den Feiertagen auch durchgehen, wie?‘ Dabei lachte er. ‚Nein,‘ sagte ich zuerst, ‚Euer Exzellenz, ich habe zu tun.‘ Doch dann nahm ich mich zusammen und sagte: ‚Vielleicht werde ich mich auch mal amüsieren, Exzellenz!‘ – bei Gott, das sagte ich. Da gab er mir denn das Geld und sprach noch ein paar Worte mit mir. – Ich, Bruder, ich weinte beinah, die Tränen stürzten mir aus den Augen und er, er schien auch gerührt zu sein, klopfte mir auf die Schulter und sagte: ‚Fühle immer so, Wassjä, wie du jetzt fühlst‘ ...“

Wassjä verstummte auf einen Augenblick.

„Und nicht genug,“ fuhr Wassjä fort. „Ich habe es dir gegenüber noch nie ausgesprochen, Arkadij ... Arkadij! Du hast mir deine Freundschaft geschenkt, ohne dich wäre ich nicht auf der Welt, – nein, nein, sage nichts, Arkascha! Laß mich dir deine Hand drücken, gib, ich will dir danken!“ ... Wassjä konnte seinen Satz wieder nicht beenden.

Arkadij Iwanowitsch wollte schon Wassjä um den Hals fallen, doch überschritten sie gerade die Straße, und so hörten sie denn plötzlich, dicht hinter ihren Ohren den einschneidenden Ruf eines Kutschers: ‚Heda! Achtung!‘ und beide, erregt und erschrocken wie sie waren, liefen so schnell als nur möglich aufs Trottoir. Arkadij Iwanowitsch war eigentlich froh über diesen Zwischenfall. Den Überschuß an Dankbarkeit bei Wassjä erklärte er sich als einen Ausfluß des Augenblicks. Ihm war er peinlich, weil er meinte, daß er Wassjä bis jetzt noch gar nichts Gutes getan! Er schämte sich sogar vor sich selbst, weil Wassjä ihm für das Wenige so dankte! Doch, ein ganzes Leben stand ihm noch bevor – und Arkadij Iwanowitsch atmete frei mit einem großen Vorsatze auf ...

Man hatte es schon aufgegeben, sie zu erwarten! Ein Beweis: daß sie bereits beim Tee saßen! Und wirklich, manchmal ist ein älterer Mensch ahnungsvoller als die liebe Jugend. Lisenka hatte in allem Ernst behauptet, daß er nicht kommen werde, nicht kommen werde. „Mamenka! mein Herz fühlt es, daß er nicht kommen wird!“ aber Mamenka hatte im Gegenteil behauptet, ihr Herz fühle ganz genau, daß Wassjä keine Ruhe finden und deshalb ganz sicher gelaufen kommen würde, zumal er am Vorabend des neuen Jahres doch keinen Dienst mehr hatte! Als nun Lisenka die Tür öffnete, traute sie ihren Augen nicht: sie errötete über und über und ihr Herz schlug so heftig, wie bei einem gefangenen Vögelchen. Ja, sie war rot wie eine Kirsche, der sie überhaupt ähnlich sah.

„Mein Gott, welche Überraschung!“ Ein freudiges „Ach!“ kam über ihre Lippen. „Du Schelm, du Betrüger, du mein Lieber du!“ rief sie aus und fiel Wassjä um den Hals. Doch man stelle sich ihre Verwunderung vor, ihre plötzliche Verlegenheit: denn genau hinter Wassjä, als wollte er sich hinter ihm verstecken, stand, verwirrt wie er war, Arkadij Iwanowitsch. Aber Arkadij Iwanowitsch verstand es nicht, mit Frauen umzugehen: er war sogar sehr ungeschickt ... Einmal passierte es ihm, daß ... Doch davon ein andermal. Indessen, man versetze sich in seine Lage! Es ist nichts Lächerliches dabei: er stand im Vorzimmer, in Gummischuhen, im Mantel und in einer Mütze mit Ohrenklappen, um den Hals einen schrecklichen gelben Schal, der zum Überfluß hinten im Nacken dick geknotet und gebunden war, – dieser Knoten mußte nun gelöst und der Schal abgenommen werden, damit er selbst einen vorteilhaften Eindruck machen konnte ... denn es gibt nun einmal keinen Menschen, der nicht wünschte, einen vorteilhaften Eindruck zu machen! Und dieser Wassjä, dieser unerträgliche, unausstehliche, obgleich sonst so liebe, gute Wassjä, war jetzt ein ganz erbarmungsloser Wassjä! Schreien mußte er:

„Lisenka, hier stelle ich dir Arkadij vor! Wer das ist? Mein bester Freund, umarme ihn, küsse ihn, Lisenka, küsse ihn im voraus, wenn du ihn einmal kennst, wirst du ihn immer küssen ...“ Nun, was blieb da wohl dem armen Arkadij Iwanowitsch übrig? Er stand noch immer und versuchte seinen Schal aufzuknoten! Nein: diese Begeisterung Wassjäs war doch manchmal wirklich unangebracht und ganz gewissenlos! Freilich, freilich, sie bewies sein gutes Herz, aber ... immerhin – es war doch zu peinlich!

Endlich traten sie beide ins Zimmer ... Die Alte war unsagbar glücklich, die Bekanntschaft Arkadij Iwanowitschs zu machen: sie hätte so viel von ihm gehört, sie ... Doch sie beendete ihre Phrase nicht. Ein freudiges „Ach!“ durchtönte das Zimmer und unterbrach sie. Mein Gott! Lisenka stand vor dem enthüllten Hütchen, hielt naiv beide Hände gefaltet, und lächelte, lächelte ... Mein Gott, warum gab es bei Madame Leroux nicht noch ein viel, viel schöneres Hütchen!

Ach, aber wo konnte man wohl ein noch schöneres finden?! Ich spreche im Ernst! Mich bringt schließlich diese Undankbarkeit Verliebter wirklich zur Verzweiflung. Möchten die beiden doch endlich einsehen, daß es gar nichts Schöneres geben kann, als dieses Bonbon von Hütchen! Möchten sie einsehen – doch meine Verzweiflung war umsonst: sie sind bereits wieder alle mit mir einverstanden, es war ein Irrtum und weiter nichts! Ich bin bereit, ihnen zu vergeben. Meine Leser aber werden entschuldigen, wenn ich immer noch von dem Hütchen spreche: Ganz leicht und durchsichtig aus Tüll war es, mit breiten kirschroten Bändern und mit Spitzen bedeckt. Unter dem Tüll und den Rüschen hervor hingen hinten auf den Hals zwei Bänder herab ... Man mußte es ein wenig in den Nacken setzen. Und nun, nach alledem sehen Sie hin, ich bitte Sie! Sie aber scheinen nicht sehen zu wollen! ... Sie sehen zur Seite. Sehen, wie zwei Tränen gleich Perlen in den langen schwarzen Augenwimpern hängen und dort einen Augenblick erzittern und auf diesen Tüll niederfallen, der dünn wie Luft ist, auf diesen Tüll, aus dem das Kunstwerk Madame Lerouxs bestand ... Ich aber ärgere mich: denn nicht dem Hütchen galten diese beiden Tränen! ... Nein! eine solche Sache muß man ganz kaltblütig aufnehmen, nur dann kann man sie wirklich schätzen!

Man setzte sich. Wassjä setzte sich mit Lisenka zusammen und die Alte mit Arkadij Iwanowitsch. Man begann ein Gespräch und Arkadij Iwanowitsch behauptete sich durchaus. Mit Freuden lasse ich ihm Gerechtigkeit widerfahren. Es war das eigentlich von ihm nicht zu erwarten. Nach ein paar Worten über Wassjä verstand er es vorzüglich, von Juljan Mastakowitsch, Wassjäs Wohltäter, zu erzählen. Und so klug, so verständig sprach er, daß das Gespräch eine ganze Stunde lang nicht ins Stocken geriet. Man müßte es gehört haben, mit welchem Takt Arkadij Iwanowitsch einige Sonderheiten Juljan Mastakowitschs berührte, die eine mittelbare oder unmittelbare Beziehung zu Wassjä hatten. Dafür war die Alte auch ganz entzückt, aufrichtig entzückt von ihm: sie selbst gestand es Wassjä. Ausdrücklich rief sie ihn zu sich, um ihm zu sagen, daß sein Freund ein prächtiger, liebenswürdiger junger Mensch sei, und was die Hauptsache, so ein ernster, gesetzter junger Mann. Wassjä hätte am liebsten laut aufgelacht vor Vergnügen. Er dachte daran, wie der gesetzte Arkascha ihn noch vor einer Viertelstunde aufs Bett geworfen hatte! Darauf machte die Alte Wassjä ein Zeichen, leise und unbemerkt ins andere Zimmer zu kommen. Und dort handelte sie nun allerdings Lisenka gegenüber nicht richtig: sie zeigte nämlich Wassjä das Geschenk, das Lisenka ihm zum neuen Jahr machen wollte. Es war eine Brieftasche mit einer goldgestickten, wundervollen Zeichnung: auf der einen Seite war ein rennender Hirsch dargestellt, so natürlich, so ähnlich, so vorzüglich erfaßt. Auf der anderen Seite befand sich das Bild eines berühmten Generals, ebenso vorzüglich, ebenso ähnlich und naturgetreu. Ich kann es gar nicht schildern, dieses helle Entzücken Wassjäs.

Unterdessen war in dem anderen Zimmer die Zeit nicht ungenutzt verstrichen. Lisenka war zu Arkadij Iwanowitsch getreten, hatte ihm die Hand gereicht und ihm gedankt – und Arkadij Iwanowitsch hatte sofort begriffen, daß es sich um den teuren Wassjä handelte. Lisenka war tief bewegt: sie habe erfahren, sagte sie, daß Arkadij ein so treuer Freund ihres Verlobten sei, daß er ihn liebe und über ihn wache und ihn auf jeden Schritt mit seinen Ratschlägen unterstütze, so daß sie, Lisenka, es nicht unterlassen könne, ihm zu danken, und daß sie hoffe, Arkadij Iwanowitsch würde auch sie lieb haben, und wär’s auch nur halb so wie den Wassjä. Darauf fragte sie ihn, ob Wassjä auch seine Gesundheit in acht nehme, sprach von der Heftigkeit seines Charakters und über sein Unvermögen dem praktischen Leben gegenüber, sowie über seinen Mangel an Menschenkenntnis. Sie sagte weiter, daß sie auf ihn aufpassen und ihn vor allem bewahren würde, und daß sie hoffe, auch Arkadij Iwanowitsch werde sie nicht verlassen und bei ihnen bleiben.

„Wir werden alle drei zusammenbleiben und wie ein einziger Mensch sein!“ rief sie in naiver Begeisterung aus.

Doch die Zeit rückte vor und man mußte aufbrechen. Selbstverständlich versuchte man, die Gäste zurückzuhalten, doch Wassjä erklärte kurz und bündig, daß es nicht möglich sei, zu bleiben, und Arkadij Iwanowitsch bestätigte es. Man fragte natürlich: warum? und so erfuhren sie denn, daß es sich um eine Arbeit für Juljan Mastakowitsch handelte, eine sehr eilige, notwendige, unangenehme, die bis übermorgen früh fertiggestellt werden mußte, und daß sie noch sehr im Rückstande wäre. Das Mamachen seufzte, als sie das hörte, Lisenka aber erschrak sehr und trieb sogar selbst Wassjä zur Eile an. Der letzte Kuß verlor dabei nicht an Wert, er war kürzer, eiliger, aber um so heißer und heftiger. Endlich trennte man sich und die beiden Freunde gingen zusammen nach Haus.

Sofort, kaum daß sie auf der Straße waren, tauschten sie untereinander ihre Eindrücke aus. Ja, und es mußte wohl so sein, daß Arkadij Iwanowitsch sich sterblich in Lisenka verliebt hatte! Wem aber war das leichter verständlich, als dem glücklichen Wassjä? Arkadij Iwanowitsch gestand Wassjä sofort alles ein. Wassjä lachte und freute sich sehr darüber, und bemerkte, daß sie jetzt noch innigere Freunde sein würden, als ehedem. „Du hast mich sofort verstanden, Wassjä,“ sagte Arkadij Iwanowitsch, „so ist’s! Ich liebe sie, wie ich dich liebe, sie wird mein Schutzengel sein, ganz wie sie für dich einer ist und euer Glück wird auch auf mich übergehen und auch mich erwärmen. Sie wird auch meine Hausfrau sein, in ihre Hände lege auch ich mein Glück: möge sie für mich sorgen, wie sie es für dich tut. Ja, Freundschaft zu dir – Freundschaft auch zu ihr. Ihr beide werdet für mich ganz unzertrennlich sein, nur daß ihr eben statt ein Wesen, das du früher für mich warst, zwei Wesen sein werdet ...“

Arkadij verstummte im Übermaß seiner Gefühle. Wassjä war durch seine Worte bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert. Niemals hatte er solche Worte von Arkadij erwartet! Arkadij Iwanowitsch verstand es sonst nicht, sich auszudrücken, auch liebte er durchaus nicht zu schwärmen, und doch hatte er soeben die allerüberschwenglichsten Gedanken geäußert. „Wie werde ich für euch beide sorgen, wie euch verwöhnen,“ begann er jetzt von neuem. „Erstens, Wassjä, werde ich der Taufpate aller deiner Kinder sein, aller, ohne Ausnahme, und zweitens, Wassjä, muß man auch an die Zukunft denken. Man muß eine Wohnung mieten, Möbel kaufen, so viel, daß jeder von uns sein Zimmer hat. Weißt du, Wassjä, ich werde bereits morgen ausgehen und die Wohnungszettel studieren. Drei ... nein, zwei Zimmer, mehr haben wir nicht nötig. Ich glaube jetzt selbst, Wassjä, daß ich da heute Unsinn gesprochen habe, das Geld wird gewiß reichen. Warum denn auch nicht? Als ich ihr heute in die Augen sah, wußte ich sofort, daß es reicht! Alles für sie! Oh, wie werden wir arbeiten! Jetzt, Wassjä, kann man es wagen und fünfundzwanzig Rubel für die Wohnung zahlen. Gute Zimmer, mein Lieber, müssen es sein ... in guten Zimmern ist der Mensch fröhlich und hat heitere Gedanken! Und zweitens, Lisenka wird unser gemeinsamer Kassierer sein: nicht eine Kopeke wird unnütz verausgabt! Ich sollte künftig noch einmal in eine Kneipe gehen? Ja, für wen hältst du mich denn eigentlich?! Um nichts in der Welt! Man wird uns Zulage geben, uns Geschenke machen, wenn wir fleißig arbeiten! Und wie werden wir arbeiten, wie Büffel werden wir die Akten pflügen! ... Stelle dir nur vor ... (und die Stimme Arkadij Iwanowitschs wurde ganz schwach vor Seligkeit) – wenn plötzlich so fünfundzwanzig bis dreißig Rubel ins Haus kämen ... Nun, dann werden wir ihr Hütchen kaufen, einen Schal, neue Strümpfchen! Mir aber muß sie dafür durchaus ein Halstuch häkeln: sieh nur, wie schlecht das meine ist: gelb und abgetragen – hatte es zu meinem Unglück heute umgelegt! Ja, und du, Wassjä, bist auch gut: stellst mich gerade in dem Augenblick vor, wie ich noch mit dem Halstuch dastehe ... Doch, nicht darum handelt es sich! Ich, siehst du: ich werde für das Silber sorgen! Ich bin doch verpflichtet, euch ein Geschenk zu machen – meine Ehre verlangt es, und auch meine Eigenliebe! ... Meine Jahreszulage wird doch dazu reichen: hoffentlich wird man sie mir bald geben? Fürchte nichts, mein Lieber, ich werde euch echte silberne Löffel kaufen und gute Messer – die nicht aus Silber zu sein brauchen, doch ausgezeichnete Messer sein werden, und eine Weste werde ich kaufen, das heißt, eine Weste für mich: denn ich werde doch Trauzeuge sein! Du aber nimm dich mal jetzt zusammen, ich werde schon auf dich aufpassen, Bruder; heute und morgen, die ganze Nacht werde ich mit dem Stock hinter deinem Stuhl stehen, beende die Arbeit, Bruder beende sie schnell! Nun, und dann gehen wir beide zum Abend wieder hin, und wir werden glücklich sein ... werden Lotto spielen! ... Werden die Abende zusammen verbringen – hei, wird das schön werden! Pfui, Teufel! Wie ärgerlich, daß ich dir nicht helfen kann. Ich würde am liebsten alles, alles für dich abschreiben ... Warum haben wir nicht dieselbe Handschrift?“

„Ja!“ antwortete Wassjä. „Ja! Ich muß mich beeilen. Ich glaube, es wird jetzt elf Uhr sein – wir müssen uns beeilen ... An die Arbeit!“ Und Wassjä, der die ganze Zeit lächelnd zugehört und bin und wieder versucht hatte, durch irgendeine Bemerkung seine freundschaftlichen Gefühle zu Arkadij auszudrücken, kurz, der bis dahin mit Leib und Seele dabei gewesen war, verstummte plötzlich, wurde unruhig und schweigsam und fing beinah an zu laufen. Offenbar hatte irgendein schwerer Gedanke plötzlich seinen allzu heißen Kopf abgekühlt!

Auch Arkadij Iwanowitsch wurde unruhig: auf seine dringlichen Fragen erhielt er kaum eine Antwort von Wassjä, dessen Ausrufe anderseits gar nicht mehr zur Sache gehörten.

„Ja, was fehlt dir denn, Wassjä?“ rief Arkadij endlich aus, als jener seine Schritte so beschleunigte, daß er ihm kaum zu folgen vermochte. „Bist du wirklich so in Sorge? ...“

„Ach, mein Lieber, wir haben genug geredet!“ antwortete ihm Wassjä ärgerlich.

„Verzweifle doch nicht, Wassjä,“ unterbrach ihn Arkadij, „ich habe es doch schon erlebt, daß du in einer kürzeren Frist noch viel mehr abgeschrieben hast ... Was willst du denn! Du bist doch so geschickt! Im äußersten Falle kannst du einfach etwas flüssiger schreiben: deine Abschrift braucht doch nicht wie gestochen zu sein. Du wirst’s schon schaffen! ... Wenn du dich jetzt aufregst, so wirst du nur zerstreut sein und die Arbeit wird dir schwer fallen ...“

Wassjä antwortete nichts oder murmelte nur etwas vor sich hin, und beide liefen voll Unruhe nach Haus.

Wassjä setzte sich sofort an die Arbeit. Arkadij Iwanowitsch verhielt sich ganz ruhig, er entkleidete sich vorsichtig und legte sich aufs Bett, ohne Wassjä aus den Augen zu lassen ... Angst überkam ihn ... „Was ist das nur mit ihm?“ dachte er bei sich, als er Wassjäs bleiches Gesicht mit den glänzenden Augen darin erblickte – diese Unruhe in all seinen Bewegungen – dies Zittern seiner Hand ... Verdammt, wirklich verdammt! Sollte ich ihm nicht raten, sich lieber zwei Stunden hinzulegen: vielleicht kann er seine Aufregung ausschlafen.“

Wassjä hatte gerade eine Seite beendet, er sah auf und sein Blick traf zufällig Arkadij. Doch sofort schlug er die Augen nieder und griff wieder zur Feder.

„Höre, Wassjä,“ begann plötzlich Arkadij Iwanowitsch, „wäre es nicht wirklich besser, wenn du dich ein wenig schlafen legtest! Sieh, du bist wie im Fieber ...“

Wassjä sah geärgert, sogar wütend zu Arkadij hinüber und antwortete nichts.

„Höre, Wassjä, was machst du mit dir? ...“ Wassjä schien sich zu besinnen.

„Sollte ich nicht Tee trinken, Arkascha?“ sagte er plötzlich.

„Wie das? Warum?“

„Tee gibt Kraft. Schlafen will ich nicht und werde ich auch nicht! Ich werde schreiben. Beim Teetrinken würde ich mich aber erholen, und ein Augenblick der Ermüdung wäre leichter zu überwinden.“

„Famos, Bruder Wassjä, famos! So gefällst du mir: ich selbst wollte dir schon den Vorschlag machen. Ich wundere mich nur, daß ich nicht früher darauf verfiel. Und – weißt du was? Mawra wird nicht aufstehen, um nichts in der Welt wird sie aufstehen ...“

„Ja! Das stimmt!“

„Ach, Unsinn, das tut auch nichts!“ rief Arkadij Iwanowitsch und sprang barfuß aus dem Bett. „Ich selbst werde den Ssamowar aufstellen ...“

Arkadij Iwanowitsch lief in die Küche und mühte sich um den Ssamowar; Wassjä schrieb unterdessen weiter. Dann kleidete sich Arkadij Iwanowitsch an, um in eine Bäckerei zu gehen, damit Wassjä sich zur Nacht stärken könnte. In einer Viertelstunde stand der Ssamowar auf dem Tisch. Sie tranken den Tee, aber zu einem Gespräch kam es nicht mehr. Wassjä war immer noch sehr zerstreut.

„Ja, was ich sagen wollte,“ sagte er endlich, sich besinnend, „morgen muß man gehen und gratulieren.“

„Das hast du doch nicht nötig.“

„Nein, mein Lieber, das muß sein,“ sagte Wassjä ...

„Ich werde dich bei allen einschreiben. Wozu willst du gehen? Du, arbeite morgen! Heute arbeite noch bis fünf Uhr, wie ich’s dir gesagt habe, und dann lege dich schlafen. Denn sonst, wie wirst du morgen sonst aussehen? Ich würde dich um Punkt acht Uhr wecken ...“

„Ja, geht es denn an, daß du statt meiner mich überall einschreibst?“ fragte Wassjä halb und halb mit dem Vorschlage einverstanden.

„Ja, warum denn nicht? So machen es doch alle!“

„Ich fürchte eigentlich ...“

„Was denn, was?“

„Bei den andern, weißt du, tut es nichts, aber bei Juljan Mastakowitsch – er ist doch mein Wohltäter, Arkascha, und wenn er bemerkt, daß eine fremde Hand ...“

„Bemerkt! Wie töricht du bist, Wassjuk! Wie kann er denn das bemerken? ... Ich kann doch deinen Namen so gut kopieren und dieselbe Schleife dranmachen, bei Gott, du weißt doch. Wirklich, was soll er denn da bemerken?“

Wassjä antwortete nichts und beeilte sich, sein Glas zu leeren ... Darauf schüttelte er zweifelnd den Kopf.

„Wassjä, mein Junge! Ach, wenn es uns doch nur gelingen würde! Wassjä, was fehlt dir denn? Du machst mir Angst! Weißt du, ich werde mich nicht hinlegen, Wassjä, ich werde nicht einschlafen. Zeige mir doch, ob du noch viel zu schreiben hast?“

Wassjä blickte Arkadij Iwanowitsch so an, daß diesem das Herz weh tat und er kein Wort mehr herausbrachte.

„Wassjä! Was ist mit dir? Was hast du? Warum siehst du mich so an?“

„Arkadij, ich, weißt du, ich werde morgen doch selbst gehen und Juljan Mastakowitsch gratulieren.“

„Nun, so gehe doch!“ sagte Arkadij und sah ihn mit großen Augen in qualvoller Erwartung an.

„Höre, Wassjä, schreibe doch schneller, ich werde dir doch nichts Schlechtes raten, bei Gott, das tue ich nicht. Wie oft hat dir nicht Juljan Mastakowitsch selbst schon gesagt, daß ihm an deiner Handschrift am meisten die Leichtigkeit gefällt! Nur Skoroplechin liebt es, wenn die Schrift wie gemalt ist und wie eine Schönschreibevorlage aussieht, um sich das Papier dann unrechtmäßigerweise anzueignen und seinen Kindern mit nach Hause zu bringen – denn eine Vorlage für sie kann sich der Schafskopf wohl nicht kaufen! Aber Juljan Mastakowitsch verlangt immer nur: flüssig, flüssig, flüssig! Doch was hast du nur, Wassjä, ich weiß wirklich nicht, was ich dir noch sagen soll ... Ich fürchte mich fast ... Mit deiner Verzweiflung bringst du mich noch um!“

„Nichts, nichts!“ sagte Wassjä und fiel erschöpft auf seinen Stuhl zurück. Arkadij erschrak.

„Willst du Wasser, Wassjä? – Wassjä!“

„Laß nur, laß,“ sagte Wassjä, und drückte ihm die Hand. „Mir fehlt nichts, mir ist nur etwas traurig zumut, Arkadij. Ich kann es eigentlich selbst nicht sagen, warum. Höre, rede lieber von etwas anderem, erinnere mich nicht daran ...“

„Beruhige dich, um Gottes willen, beruhige dich doch, Wassjä. Du wirst’s schon beenden, bei Gott, wirst’s schon beenden! Und wenn nicht, – nun, was wäre denn dabei für ein Unglück? Tust ja, als wäre das ein wahres Verbrechen!“

„Arkadij,“ sagte Wassjä, seinen Freund so bedeutungsvoll ansehend, daß dieser wieder erschrak, denn noch nie hatte er Wassjä so tief innerlich aufgeregt gesehen. „Wenn ich allein gewesen wäre, wie früher ... Nein! Nicht das meine ich! Ich möchte es dir immer sagen, dir anvertrauen, wie einem Freunde ... Übrigens, wozu dich beunruhigen? ... Siehst du, Arkadij, den einen ist viel gegeben, andere verrichten nur Kleines, wie ich. Nun, wenn man von dir zum Beispiel Dankbarkeit und Anerkennung verlangte – und dir wäre es nicht möglich ...?“

„Wassjä! Ich kann dich wahrhaftig nicht verstehen!“

„Ich bin niemals undankbar gewesen,“ fuhr Wassjä fort, als spräche er zu sich selbst. „Wenn ich nun aber nicht imstande bin, alles auszudrücken, was ich fühle, so ist es, als ob ... so hat es doch den Anschein, Arkadij, als wäre ich tatsächlich undankbar, und das bringt mich einfach um!“

„Was sagst du da, was! Besteht denn wirklich darin deine ganze Dankbarkeit, daß du genau zum Termin fertig geworden bist? Denke doch nach, Wassjä, was du da sagst! Wäre das wirklich die ganze Dankbarkeit?“

Wassjä verstummte und sah seinen Freund mit großen Augen an, als hätte dieser unerwartete Einwand alle Bedenken genommen. Er lächelte sogar, nahm aber sofort wieder eine nachdenkliche Miene an. Arkadij faßte dieses Lächeln als das Ende aller Schrecken auf, die Lebhaftigkeit aber, die wieder über Wassjä kam, als einen Entschluß zu etwas Besserem, und freute sich bereits sehr.

„Nun, Arkascha, du legst dich jetzt schlafen,“ sagte Wassjä. „Sieh nur, daß ich nicht einschlafe, das wäre ein Unglück. Ich mache mich also jetzt an die Arbeit ... Arkascha!“

„Was?“

„Nein, nichts, ich wollte nur ...“

Wassjä setzte sich hin, schwieg und schrieb. Arkadij legte sich schlafen. Weder der eine noch der andere hatte ihren Besuch vom Nachmittag erwähnt. Vielleicht fühlten sich alle beide ein wenig schuldig, die Zeit vergeudet zu haben. Arkadij Iwanowitsch war bald eingeschlafen – in Sorgen über Wassjä. Zu seiner Verwunderung erwachte er genau um acht Uhr morgens. Wassjä war auf seinem Stuhl gleichfalls eingeschlafen, die Feder in der Hand, bleich und übermüdet. Das Licht war niedergebrannt. In der Küche machte sich Mawra am Ssamowar zu schaffen.

„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij erschrocken aus. „Wann bist du eingeschlafen?“

Wassjä riß die Augen auf und sprang vom Stuhl.

„Ach!“ sagte er, „ich bin nur so eingeschlafen! ...“

Er sah sofort nach seinen Papieren, nichts war ihnen geschehen, alles war in Ordnung; kein Tintenfleck, kein Talgfleck, vom Licht war nichts heruntergetröpfelt.

„Ich glaube, ich schlief um sechs Uhr ein,“ sagte Wassjä. „Wie kalt es in der Nacht ist! Trinken wir einen Tee und dann werde ich wieder ...“

„Bist du ruhig geworden?“

„Ja, ja, mir fehlt nichts!“

„Prost Neujahr, Wassjä.“

„Prost Neujahr, mein Lieber, prost Neujahr, wünsche dir gleichfalls alles Gute, mein Lieber.“

Sie umarmten sich. Wassjäs Lippen zitterten und seine Augen schwammen in Tränen. Arkadij Iwanowitsch schwieg: ihm war bitter zumut. Beide tranken sie eilig den Tee ...

„Arkadij! Ich habe beschlossen, selbst zu Juljan Mastakowitsch zu gehen ...“

„Aber er wird es ja doch nicht bemerken ...“

„Mich quält sonst das Gewissen, mein Lieber.“

„Du sitzt doch hier seinetwegen, seinetwegen quälst du dich ... Genug, Wassjä! ... Und ich, weißt du, mein Lieber, werde auch dahin gehen ...“

„Wohin?“ fragte Wassjä.

„Zu Artemjeffs, um auch ihnen zu gratulieren, auch für dich mit!“

„Schön, mein Lieber, schön! Nun! So werde ich also hier bleiben: ja, ich sehe, das hast du dir trefflich ausgedacht. Ich werde also hier bleiben und arbeiten und nicht feiertagsmäßig die Zeit verbringen! Warte nur noch ein wenig, ich werde gleich einen Brief schreiben.“

„Schreibe nur, schreibe, es hat ja noch Zeit. Ich werde mich erst waschen, rasieren und den Rock reinbürsten.“

„Wassjä, mein Bruder, weißt du, wir werden beide glücklich und zufrieden sein! Umarme mich, Wassjä!“

„Ach, wenn du das meinst, Bruder! ...“

„Wohnt hier der Herr Beamte Schumkoff?“ ertönte in diesem Augenblick ein Kinderstimmchen auf der Treppe.

„Hier, mein Kleiner, hier,“ antwortete Mawra und ließ den kleinen Gast eintreten.

„Wer ist da? Wer, wer?“ rief Wassjä, sprang vom Stuhl auf und stürzte ins Vorzimmer. „Petinka, du? ...“

„Guten Tag, habe die Ehre Ihnen zum neuen Jahre zu gratulieren, Wassilij Petrowitsch,“ sagte ein reizender schwarzlockiger Bengel von etwa zehn Jahren, „die Schwester läßt Sie schön grüßen, Mama auch, und die Schwester hat mir befohlen, Sie von ihr zu küssen ...“

Wassjä hob den kleinen Gesandten mit beiden Armen in die Luft und drückte einen langen leidenschaftlichen Kuß auf seine Lippen, die ganz Lisenkas Lippen ähnlich waren.

„Küsse ihn auch, Arkadij!“ wandte er sich an diesen und übergab ihm Petjä – und Petjä ging, ohne die Erde zu berühren, in die mächtige und heftige Umarmung Arkadij Iwanowitschs über.

„Mein Kleiner, willst du Tee?“

„Danke bestens. Wir haben bereits Tee getrunken! Heute sind wir früh aufgestanden. Die Unsrigen gingen zur Frühmesse. Die Schwester hat mich zwei Stunden lang angezogen, mich gewaschen und gekämmt und mir die Hosen genäht, die ich gestern abend, als ich mit Ssascha auf der Straße spielte, zerrissen hatte: wir spielten nämlich Schneeball zusammen, und da ...“

„Nu – nu – nu – nu!“

„Jawohl, die ganze Zeit hat sie mich aufgeputzt, mich zurechtgestutzt und dann mich abgeküßt: ‚gehe zu Wassjä, gratuliere ihm und frage ihn, ob er ruhig die Nacht verbracht hat, und noch ...‘ und ich sollte noch etwas fragen, ja! Ob die Sache schon beendet wäre, von der Sie gestern gesprochen ... gestern ... Ach, ich habe ja alles aufgeschrieben,“ sagte der Kleine, zog ein Blättchen aus der Tasche, – „ja, und ob Sie aufgeregt wären?“

„Ich werde fertig! Ich werde! Sag’s ihr, daß ich fertig werde, mein Ehrenwort drauf!“

„Ja und noch etwas ... Ach! Ich hab’s vergessen: die Schwester hat auch einen Brief und ein Geschenk geschickt, ja, und ich hätte es fast vergessen! ...“

„Mein Gott! ... Wo denn, mein Kind, wo? Da ist’s!? – ah! Sieh doch, mein Lieber, sieh, was sie mir schreibt, die Liebe, Gute! Weißt du, gestern habe ich bei ihr eine Brieftasche für mich gesehen: leider ist sie nicht fertig geworden, so schickt sie mir heute eine ihrer schwarzen Locken, die Brieftasche wird mir deshalb jedoch nicht verloren gehen. Sieh, Bruder, sieh nur!“

Und der aufgeregte Wassjä zeigte Arkadij Iwanowitsch eine schwarze Locke, küßte sie leidenschaftlich und legte sie dann in die Seitentasche, nahe dem Herzen.

„Wassjä! Ich werde dir für diese Locke ein Medaillon kaufen!“ sagte schließlich Arkadij Iwanowitsch.

„Und heute haben wir einen Kalbsbraten und morgen Kalbshirn. Mama will auch noch Kuchen backen ... Und wir werden nicht wieder Haferbrei essen,“ sagte der Knabe, und schloß seine Erzählung.

„Nein, was das für ein netter Kerl ist!“ meinte Arkadij Iwanowitsch. „Wassjä, du bist der glücklichste Sterbliche!“

Der Kleine trank seinen Tee, erhielt ein Briefchen, tausend Küsse und machte sich dann, frisch und fröhlich wie er gekommen war, auf den Heimweg.

„Nun, mein Lieber,“ meinte hocherfreut Arkadij Iwanowitsch, „siehst du, wie gut alles ist, siehst du! Alles wendet sich zum besseren, verzage nicht und klage nicht! Immer voran, Wassjä, mache Schluß mit dem Trübsinn! In zwei Stunden bin ich wieder zu Haus: zuerst fahre ich zu ihnen, dann zu Juljan Mastakowitsch.“

„Nun, lebe wohl, Lieber, lebe wohl ... Ach, wenn es so ist! ... Nun gut, gut, mache, daß du wegkommst,“ sagte Wassjä, „ich, mein Lieber, werde dann also bestimmt nicht zu Juljan Mastakowitsch gehen.“

„Lebe wohl!“

„Wart, mein Lieber, wart: sage ihr ... Nun, alles was du willst – küsse sie von mir ... Du erzählst mir dann alles später, mein Lieber, alles ...“

„Nun, natürlich: jetzt wirst du ja wieder der alte! Seit gestern abend warst du noch gar nicht recht zu dir gekommen, hattest dich von all den Eindrücken noch gar nicht erholt. Nun aber Schluß! Kopf hoch, mein lieber Wassjä! Lebe wohl, lebe wohl!“

Endlich trennten sich die Freunde. Den ganzen Morgen über war Arkadij Iwanowitsch zerstreut und dachte nur an Wassjä. Er kannte dessen schwache und leicht erregbare Natur. Das Glück hatte ihn offenbar so erschüttert: jawohl, das war es, das Glück! Ich habe mich nicht getäuscht! sagte Arkadij zu sich selbst. Mein Gott! Er hat mir aber einen Schrecken eingejagt! Und woraus er nicht eine Tragödie macht! Was für ein Hitzkopf er ist! Wirklich, man muß ihm helfen! Jawohl: helfen!

Bei Juljan Mastakowitsch erschien Arkadij erst um elf Uhr, um in der Portiersloge seinen bescheidenen Namen der endlosen Reihe hoher Persönlichkeiten hinzuzufügen, die auf einem bereits vollgekritzelten weißen Bogen ihre Namen eingetragen hatten. Doch wie groß war seine Verwunderung, als unmittelbar vor seinem Namen die Unterschrift Wassjä Schumkoffs auftauchte! Nun – was ist denn mit ihm geschehen? dachte er erschrocken. Und Arkadij Iwanowitsch, der gerade vorher soviel Hoffnung geschöpft hatte, ging ganz bestürzt von dannen. Bereitete sich in der Tat ein Unglück vor? Was hieß das? Was sollte daraus werden!?

In Kolomna erschien er mit düsteren Gedanken und war anfangs sehr zerstreut. Erst als er mit Lisenka gesprochen hatte, kam er zur Besinnung und ging dann mit Tränen in den Augen fort: er war Wassjäs wegen wirklich in heller Angst. Er lief so schnell wie möglich nach Haus. Gerade an der Newa stieß er mit Schumkoff zusammen. Der lief gleichfalls mehr als er ging.

„Wohin?“ rief Arkadij Iwanowitsch.

Wassjä stutzte wie ein ertappter Verbrecher.

„Ich, mein Lieber, ich gehe nur so ... ich wollte nur ein wenig spazieren ...“

„Du hast es nicht ausgehalten, du willst nach Kolomna gehen? Ach, Wassjä, Wassjä! Warum bist du nur zu Juljan Mastakowitsch gegangen?“

Wassjä antwortete ihm nichts darauf, er winkte nur mit der Hand und sagte dann:

„Arkadij! Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht! Ich ...“

„Schon gut, Wassjä, schon gut! Ich weiß doch, wie das ist. Beruhige dich doch nur! Du bist seit gestern unruhig und aufgeregt! Es ist ja auch kein Wunder! Alle lieben dich, alle leben für dich, mit deiner Arbeit geht’s vorwärts, bald wirst du sie beendet haben, das wirst du bestimmt, ich weiß es: du bildest dir da nur so etwas ein, hast da irgendeine Angst ...“

„Nein, durchaus nicht, durchaus nicht ...“

„Erinnere dich doch, Wassjä, erinnere dich doch, wie es mit dir war, weißt du noch, als du befördert wurdest, du wußtest dich auch nicht vor Glück und vor Dankbarkeit zu lassen, verdoppeltest deinen Eifer und eine Woche lang verdarbst du doch nur die Arbeit! Dasselbe geschieht jetzt wieder mit dir ...“

„Ja, ja, Arkadij – doch ist das jetzt etwas ganz anderes, durchaus etwas anderes ...“

„Wieso denn, etwas anderes: ich bitte dich! Die Sache ist ganz sicher nicht so eilig, du aber quälst dich dermaßen ...“

„Nein, nein, ich bin nur so ... Nun, gehen wir!“

„Wie, so willst du nach Haus und nicht zu ihnen?“

„Nein, mein Lieber, mit diesem Gesicht kann ich dort nicht erscheinen ... Ich habe mich bedacht. Ich konnte es nur ohne dich so allein zu Hause nicht aushalten. Jetzt, da du wieder bei mir bist, werde ich mich hinsetzen und weiter schreiben. Gehen wir!“

Sie gingen und schwiegen eine Zeitlang. Wassjä hatte es jetzt wieder sehr eilig.

„Warum erkundigst du dich gar nicht nach ihnen?“ fragte Arkadij Iwanowitsch.

„Ach, ja! Nun, Arkaschenka, wie steht’s?“

„Wassjä, man erkennt dich gar nicht wieder!“

„Nun, tut nichts, tut nichts. Erzähle mir nur alles, Arkascha!“ bat Wassjä mit flehender Stimme, als wolle er jeder weiteren Erklärung ausweichen. Arkadij Iwanowitsch seufzte tief auf: er wußte mit Wassjä gar nichts mehr anzufangen.

Die Nachrichten von den Kolomnaschen belebten jedoch Wassjä wieder. Er sprach sogar sehr lebhaft von ihnen. Sie speisten beide zu Mittag. Die Alte hatte die Taschen Arkadij Iwanowitschs mit Kuchen vollgestopft und die Freunde waren lustig und guter Dinge, während sie sie aßen. Nach Tisch wollte Wassjä sich hinlegen, um dann die Nacht durcharbeiten zu können. Und so geschah es denn auch. Am Morgen hatte jemand Arkadij Iwanowitsch zum Tee aufgefordert, eine Einladung, die abzuschlagen nicht gut anging. Die Freunde trennten sich infolgedessen. Arkadij versprach, so früh als es eben nur anging, zurückzukommen, wenn möglich schon um acht Uhr. Diese drei Stunden Trennung kamen ihm selbst wie drei Jahre vor. Endlich machte er sich auf, um zu Wassjä zurückzukehren. Als er ins Zimmer trat, sah er, daß es dunkel war. Wassjä war nicht zu Haus. Er fragte Mawra. Mawra sagte, daß Wassjä die ganze Zeit geschrieben habe, darauf im Zimmer auf und ab gegangen sei, und schließlich vor einer Stunde ungefähr hinausgelaufen wäre – mit der Bemerkung, er käme in einer halben Stunde wieder: ‚wenn aber Arkadij Iwanowitsch inzwischen kommt, so sage du ihm,‘ schloß Mawra die Erzählung, ‚daß ich nur ein wenig spazierengegangen bin,‘ das aber habe er ihr drei- bis viermal ausdrücklich anbefohlen.

„Er ist sicher bei Artemjeffs!“ dachte Arkadij Iwanowitsch und schüttelte den Kopf.

Im nächsten Augenblick sprang er auf: er hatte eine neue Hoffnung. „Er ist wohl gar fertig geworden,“ dachte er, „ja: das wird es sein; und er hat es nicht länger ausgehalten und ist zu ihnen gelaufen. Übrigens, nein! Dann hätte er doch auf mich gewartet ... Sehen wir, wie es mit seiner Arbeit steht –“.

Er zündete das Licht an und begab sich an Wassjäs Schreibtisch: die Arbeit ging offenbar gut vonstatten und schien sich ihrem Ende zu nähern. Arkadij Iwanowitsch wollte sich noch näher davon überzeugen, als plötzlich Wassjä eintrat ...

„Ah! Du hier?“ rief er aus und schrak zusammen.

Arkadij Iwanowitsch schwieg. Er fürchtete sich, an Wassjä irgendeine Frage zu stellen. Der schlug die Augen nieder und begann schweigend seine Papiere zu ordnen. Schließlich begegneten sich beider Augen. Wassjäs Blick war flehend und gebrochen. Arkadij schrak zurück, als er ihn traf.

„Wassjä, mein Lieber, was ist das mit dir? Was hast du?“ rief er aus, stürzte sich auf Wassjä und nahm ihn in seine Arme, „erkläre mir doch, ich verstehe nichts von deiner Traurigkeit, was hast du, mein armer Märtyrer? Sage mir doch alles, ohne Umschweife. Es kann doch nicht sein, daß dieses eine ...“

Wassjä preßte sich ungestüm an ihn. Sprechen konnte er nicht. Der Atem ging ihm aus.

„Schon gut, Wassjä, schon gut! Wenn du nicht fertig wirst, was ist denn dabei? Ich verstehe dich gar nicht, sag doch, was quält dich so? Siehst du, ich bin doch bereit, für dich alles ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ sagte er, im Zimmer auf und ab gehend, während er nach allem griff, was ihm in die Hände kam, als suchte er ein Mittel, eine Hilfe für Wassjä. „Ich selbst werde morgen anstatt deiner zu Juljan Mastakowitsch gehen, werde ihn bitten, ihn anflehn, daß er dir noch einen Tag Frist gebe. Ich werde ihm alles auseinandersetzen, alles, alles, wenn es dich so quält ...“

„Gott bewahre mich davor!“ rief Wassjä aus und wurde weiß wie die Wand. Er konnte sich kaum auf den Füßen halten.

„Wassjä, Wassjä!“

Wassjä kam wieder zu sich. Seine Lippen zitterten; er wollte etwas sagen, konnte aber nur schweigend Arkadij die Hand drücken. Seine Hand war kalt. Arkadij stand vor ihm in quälender Erwartung. Wassjä sah ihn wieder an.

„Wassjä! Gott mir dir, Wassjä! Du zerreißt mir das Herz, mein Freund, mein Lieber.“

Ströme von Tränen stürzten aus Wassjäs Augen: er warf sich an die Brust seines Freundes.

„Ich habe dich betrogen, Arkadij!“ schluchzte er laut auf, „ich habe dich betrogen: vergib mir, vergib! Ich habe dich hintergangen ...“

„Wieso, Wassjä! Was heißt das?“ fragte Arkadij, außer sich vor Angst und Schrecken.

„Da! ...“

Und Wassjä warf mit einer verzweifelten Geste aus einem Kasten sechs dicke Hefte auf den Tisch, die genau so aussahen wie jenes, das er abschrieb.

„Was soll das?“

„Da, das Ganze müßte ich bis übermorgen fertigstellen. Ich habe nicht einmal ein Viertel davon!“

„Frage nicht, frage nicht, wie das kommen konnte!“ fuhr Wassjä fort, um selbst alles zu erzählen, was ihn so gequält hatte. „Arkadij, lieber Freund! Ich weiß selbst nicht, was mit mir geschehen war. Ich bin erst jetzt wie aus einem Traum erwacht. Ich habe drei ganze Wochen verloren. Ich bin ... immer ... zu ihr gegangen ... Mein Herz sehnte sich ... ich quälte mich ... mit der Ungewißheit ... und ich konnte, ich konnte nicht arbeiten. Ich dachte auch nicht einmal daran. Jetzt erst, wo das Glück wirklich für mich begonnen hat, – da bin ich aufgewacht.“

„Wassjä!“ begann Arkadij Iwanowitsch entschlossen, „Wassjä, ich werde dich retten! Ich begreife alles. Diese Sache ist kein Spaß. Ich muß dir helfen! Höre, höre mich an: ich gehe morgen zu Juljan Mastakowitsch ... Schüttle nicht den Kopf, nein, höre nur! Ich werde ihm alles erzählen, wie es gewesen ist, erlaube mir, daß ich es tue ... Ich werde ihm erklären ... ich werde alles wagen! Ich werde ihm deine Lage schildern, werde ihm erzählen, wie du dich quälst.“

„Wenn du dir nur sagen wolltest, daß du mich damit einfach vernichtest?“ erwiderte Wassjä, ganz starr vor Schreck.

Arkadij Iwanowitsch wurde blaß, doch er beherrschte sich und fing an zu lachen.

„Aber was denn, Wassjä! Was denn! So höre doch! Ich sehe ja, daß ich dich damit nur aufrege. Aber ich verstehe dich doch, ich weiß doch, was in dir vorgeht. Wir leben doch schon fünf Jahre miteinander, und schwach bist du, unverzeihlich schwach. Auch Lisaweta Michailowna hat es bereits bemerkt. Außerdem bist du ein Schwärmer, und das ist auch nicht gut: man kann da plötzlich ins Bodenlose fallen, mein Bruder! Höre mich an, ich weiß doch, was du möchtest! Du möchtest, daß Juljan Mastakowitsch außer sich vor Freude wäre: darüber, daß du heiratest – und womöglich sollte er einen Ball für dich geben ... Halt, halt! Du runzelst die Brauen. Siehst du, schon wegen dieser kleinen Bemerkung von mir bist du beleidigt, für Juljan Mastakowitsch beleidigt! Lassen wir ihn also beiseite. Ich verehre ihn nicht weniger als du. Du wirst mir aber doch nicht abstreiten und mir nicht zu denken verbieten, daß du nicht wünschtest – nun sagen wir: es gäbe keinen einzigen Unglücklichen auf der Erde, bloß weil du heiratest ... Gib es doch zu, mein Lieber, daß du nichts dagegen hättest, wenn ich, dein bester Freund, plötzlich in den Besitz von hunderttausend Rubel Kapital käme: und daß alle Feinde der Welt sich versöhnten, sich mitten auf der Straße vor Freude in die Arme fielen und, wenn möglich, hierher zu dir zu Gaste kämen! Lieber Freund, ich scherze nicht, es ist so! Ich habe dich schon längst erkannt. Weil du dich glücklich fühlst, willst du, daß sich alle glücklich fühlen sollen. Es fällt dir schwer, allein glücklich zu sein! Darum möchtest du mit aller Gewalt dich deines Glückes würdig erweisen und zur Beruhigung deines Gewissens sofort eine große Tat vollbringen! Nun, ich verstehe, wie du dich quälen mußt, daß gerade dort, wo du dein Können zeigen möchtest ... nun, sagen wir, daß dort deine Dankbarkeit, wie du dich ausdrückst, plötzlich versagt! Der Gedanke ist dir sehr peinlich, daß Juljan Mastakowitsch sich ärgern wird, wenn er erfährt, daß du in diesem Falle die Hoffnungen getäuscht hast, die er auf dich gesetzt. Dir ist es schmerzlich, daran zu denken, daß du Vorwürfe von dem hören wirst, den du für deinen Wohltäter hältst – und das gerade jetzt! Jetzt, da dein Herz voll Freude ist und da du nicht weißt, an wem du deine Dankbarkeit auslassen sollst! ... Ist es nicht so? nicht wahr, es ist so!“

Mit zitternder Stimme schloß Arkadij Iwanowitsch seine Rede, er schwieg und schöpfte tief Atem.

Wassjä blickte voll Liebe auf seinen Freund. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln.

In Erwartung einer Hoffnung belebte sich sogar sein Gesicht.

„Also, höre mich an,“ begann von neuem Arkadij, auch seinerseits wieder von Hoffnung belebt, „so ist es denn nicht nötig, daß Juljan Mastakowitsch seine Zuneigung zu dir einbüßt. Ist es nicht so, mein Lieber? Hier liegt doch die Frage? Wenn dem aber so ist, dann werde ich,“ sagte Arkadij vom Stuhl aufspringend, „dann werde ich mich für dich opfern. Ich werde morgen zu Juljan Mastakowitsch gehen ... Widersprich mir nicht! Du, Wassjä, machst ja dein Versäumnis zu einem Verbrechen! Er aber, Juljan Mastakowitsch, ist großmütig und mildtätig, und denkt nicht so wie du! Er, Bruder Wassjä, wird uns anhören und aus dem Unglück helfen. Jawohl. Nun! Hast du dich beruhigt?“

Wassjä drückte mit Tränen in den Augen Arkadijs Hand.

„Schon gut, Arkadij, schon gut,“ sagte er, „die Sache ist bereits beschlossen. Ich habe meine Sache nicht gemacht: gut! Nicht gemacht ist – nicht gemacht. Du aber brauchst deshalb nicht hinzugehen: ich selbst werde hingehen und ihm alles erzählen. Ich habe mich jetzt beruhigt, ich bin vollständig gefaßt. Doch du, nein, du sollst nicht gehen ... So höre doch ...“

„Wassjä, mein Lieber!“ rief Arkadij Iwanowitsch freudig aus, „meine Worte haben auf dich gewirkt: wie freue ich mich, daß du dich besonnen hast und dich zusammennehmen willst. Wie es mit deiner Sache auch stehen mag, was auch geschehen wird – ich bin bei dir, vergiß das nicht! Ich sehe, du willst nicht, daß ich mit Juljan Mastakowitsch darüber spreche – gut: ich werde nichts sagen, nichts, du selbst wirst es tun. Siehst du: du gehst morgen hin ... Oder nein, du wirst nicht hingehen, du wirst hier bleiben und schreiben, verstehst du? Ich werde aber doch herumhören, wie es mit der Sache steht, ob sie sehr eilig ist oder nicht, ob sie zum Termin fertig sein muß oder nicht, und wenn du den Termin versäumst, was daraus entspringen kann? Dann werde ich zu dir kommen und dir berichten. Siehst du, siehst du! Da haben wir schon eine Hoffnung; nun, stelle dir vor, daß die Sache keine Eile hat! Wie viel ist dann gewonnen! Juljan Mastakowitsch kann sie vielleicht überhaupt vergessen haben – und dann ist ja sowieso alles gerettet!“

Wassjä schüttelte bedenklich mit dem Kopf. Doch wandte er seinen dankbaren Blick nicht von dem Gesicht seines Freundes.

„Schon gut, schon gut! Ich fühle mich so schwach und bin so müde,“ sagte er dann seufzend, „ich möchte selbst nicht mehr daran denken. Sprechen wir von etwas anderem! Ich, siehst du, ich werde auch jetzt nicht mehr schreiben, ich werde nur noch die Seite beenden – bis zum Absatz. Höre ... Ich wollte dich schon längst fragen: wie kommt’s, daß du mich so gut kennst?“

Tränen tropften aus seinen Augen auf die Hand Arkadijs.

„Wenn du wüßtest, Wassjä, wie sehr ich dich liebhabe, so würdest du nicht danach fragen!“

„Ja, ja, Arkadij, ich weiß es nicht ... denn ich kann nicht verstehen, für was du mich so liebhast! Ja, Arkadij, du mußt wissen, daß deine Liebe mich geradezu erdrückt. Wie oft, wenn ich mich schlafen legte, habe ich an dich gedacht (denn ich denke immer an dich, bevor ich einschlafe) und mein Herz zitterte so heftig, so sehr ... so sehr ... Weil du mich so gern hast, und ich mein Herz nicht erleichtern und dir mit nichts danken konnte ...“

„Siehst du, Wassjä, siehst du, so bist du! ... Wie du dich wieder aufregst,“ sagte Arkadij, dem das Herz weh tat, wenn er an die gestrige Szene auf der Straße dachte.

„Schon gut. Du willst, daß ich mich beruhige und doch war ich noch niemals so ruhig und glücklich wie eben! Weißt du was? ... Höre, ich möchte dir gern etwas sagen, aber ich fürchte, dich zu kränken ... du bist immer gleich so gekränkt und schreist dann auf mich ein: ich aber bin dann so erschrocken ... Sieh, wie ich jetzt zittere, ich weiß gar nicht warum ... Höre, was ich dir sagen will. Ich glaube, ich habe mich früher selbst nicht gekannt – ja! Und die anderen habe ich erst gestern kennen gelernt. Ich, Bruder, ich verstand nicht, alles richtig zu schätzen. Das Herz in mir war verhärtet. Höre, wie ist das nur möglich, daß ich niemandem, niemandem auf der Welt etwas Gutes getan habe, weil ich es eben nicht tun konnte – sogar mein Äußeres ist unglücklich ... Alle aber haben mir Gutes erwiesen! Du als der erste: sehe ich’s denn nicht?! Ich habe nur immer geschwiegen, geschwiegen!“

„Wassjä, höre auf!“

„Nun, was denn, was denn, Arkascha! ... Ich habe doch nichts ...“ unterbrach sich Wassjä, der vor Tränen kaum sprechen konnte. „Ich habe dir gestern von Juljan Mastakowitsch erzählt. Du weißt doch selbst, wie streng er sonst ist, und wie rauh. Du selbst hast manche Bemerkung von ihm einstecken müssen, mit mir aber hat er gestern gescherzt und mir sein gutes Herz gezeigt, das er allen anderen gegenüber verbirgt ...“

„Nun, Wassjä? Das zeigt doch nur, daß du dessen würdig bist.“

„Ach, Arkascha! Wie gern, wie gern würde ich dies Ganze erledigt haben! ... Ich vernichte ja mein Glück damit! Ich habe so ein Vorgefühl! Nein, nicht dadurch,“ unterbrach sich Wassjä, als er bemerkte, daß Arkadij nach dem dicken Papierstoß auf dem Tisch schielte, „das hat nichts zu sagen, das ist beschriebenes Papier, Unsinn! Diese Sache ist erledigt ... Ich, Arkascha, ich war heute bei ihnen ... Ich bin nicht hineingegangen. – Es war mir zu schwer zumut! Ich stand nur an der Tür. Sie spielte auf dem Klaviers, ich hörte es draußen. Siehst du, Arkadij,“ sagte er mit leiser Stimme, „ich wagte nicht einzutreten ...“

„Höre, Wassjä, was fehlt dir? Du siehst mich so seltsam an?“

„Nein, nichts! Mir ist nicht ganz wohl, meine Kniee zittern, das kommt daher, weil ich die Nacht über auf war! Ein Schleier liegt mir vor den Augen. Und hier, hier ...“

Er wies auf sein Herz und zugleich sank er auch schon ohnmächtig zusammen.

Als er wieder zu sich kam, wollte Arkadij strenge Maßregeln ergreifen. Er wollte ihn mit Gewalt ins Bett legen. Wassjä willigte aber nicht ein, Arkadij konnte reden, was er wollte. Er weinte, rang die Hände, wollte mit aller Gewalt weiterschreiben und seine Seite beenden. Um ihn nicht unnötig aufzuregen, ließ ihn Arkadij schließlich zu seinen Papieren.

„Siehst du,“ sagte Wassjä, sich auf seinen Platz setzend, „ich habe eine Idee, eine Hoffnung. Siehst du: ich werde ihm übermorgen nicht alles bringen. Von dem Rest sage ich ihm, daß es verbrannt ist oder verloren gegangen ... kurz ... – Nein, ich kann nicht lügen. Ich werde ihm lieber alles erklären, werde sagen, wie es gekommen ist, daß ich einfach nicht konnte. Ich werde ihm von meiner Liebe erzählen: er hat ja selbst erst vor kurzem geheiratet, er wird mich verstehen! Ich werde alles das, versteht sich, ihm bescheiden und demütig mitteilen, er wird meine Tränen sehen, sie werden ihn rühren ...“

„Ja, das ist klug von dir, gehe, gehe zu ihm, erkläre dich ihm ... Tränen sind dazu nicht nötig! Warum denn Tränen? Aber weißt du, Wassjä, du hast mir einen tüchtigen Schrecken eingejagt.“

„Schön, ich werde also gehen, ich werde also gehen. Jetzt aber laß mich schreiben, laß mich, Arkascha. Ich störe niemanden, laß auch du mich ruhig schreiben!“

Arkadij warf sich aufs Bett. Er traute Wassjä nicht, er traute ihm wirklich nicht. Wassjä war zu allem fähig. Doch um Entschuldigung bitten, warum!? Die Sache lag ja gar nicht so. Die Sache war doch die, daß Wassjä tatsächlich seine Pflicht nicht erfüllt hatte, daß er vor sich selbst schuldig war und seinem Schicksal gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, daß Wassjä sich niedergedrückt und seines Glückes nicht würdig fühlte und daß er schließlich sich einen Vorwand suchte und seit dem gestrigen Tage, erschüttert durch die Plötzlichkeit aller Geschehnisse, wie er war, noch nicht recht zu sich kommen konnte: ja: so war es! sagte sich Arkadij Iwanowitsch. Deshalb muß man ihn retten, muß ihn mit sich selbst aussöhnen! Und Arkadij dachte noch lange nach und beschloß, unverzüglich zu Juljan Mastakowitsch zu gehen, wenn möglich schon morgen, und ihm alles zu erzählen.

Wassjä saß und schrieb. Der gequälte Arkadij Iwanowitsch legte sich von neuem auf sein Bett, um noch weiter über die Sache nachzudenken, schlief ein und erwachte erst beim Morgengrauen.

„Ach, Teufel! Wieder!“ rief er aus, als er Wassjä erblickte; der saß und schrieb.

Arkadij stürzte zu ihm, umarmte ihn und brachte ihn mit aller Gewalt auf sein Bett. Wassjä lächelte nur: seine Augen fielen ihm vor Müdigkeit zu. Er konnte kaum sprechen.

„Ich wollte mich selbst hinlegen,“ sagte er. „Weißt du, Arkadij, ich habe die Idee, daß ich’s doch noch beenden werde. Ich habe schneller, immer schneller geschrieben. Doch noch länger zu sitzen – dazu bin ich unfähig ... wecke mich um acht Uhr ...“

Er konnte nicht mehr weiter und schlief wie ein Toter ein.

„Mawra!“ wandte sich flüsternd Arkadij Iwanowitsch an die Magd, die gerade den Tee hereinbrachte, „er bat mich, ihn nach einer Stunde zu wecken. Das darf aber unter keiner Bedingung geschehen! Er soll womöglich zehn Stunden hintereinander schlafen, verstehst du?“

„Verstehe, Herr, verstehe.“

„Das Mittagessen brauchst du nicht zu bereiten, nicht das Holz hereinzuschleppen, überhaupt darfst du nicht lärmen, sieh dich vor! Wenn er nach mir fragen sollte, so sage ihm, ich sei in den Dienst gegangen, verstehst du?“

„Ich verstehe, Herr, verstehe, möge er sich ausruhen nach Belieben, was geht’s mich an! Ich freue mich über den Schlaf meines Herrn und bemühe mich, über ihn zu wachen. Was aber die zerschlagene Tasse anbelangt, wegen der Sie mir Vorwürfe machten – das war gar nicht ich, das war die Katze, die sie zerschlagen hat, ich werde es ihr noch zeigen!“

„Tss, sei still!“

Arkadij Iwanowitsch führte Mawra in die Küche, verlangte von ihr den Schlüssel und schloß sie dort ein. Darauf begab er sich in den Dienst. Auf dem Wege überlegte er sich’s, wie er sich bei Juljan Mastakowitsch melden lassen sollte und ob es nicht vielleicht anmaßend sei, es zu tun? Im Büro erschien er sehr schüchtern, fast zaghaft erkundigte er sich, ob Seine Exzellenz da sei; man antwortete ihm, nein, und Exzellenz würden heute wohl überhaupt nicht kommen. Arkadij Iwanowitsch wollte im ersten Augenblick zu ihm in die Wohnung gehen, doch fiel es ihm noch zur rechten Zeit ein, daß ja Juljan Mastakowitsch, wenn er hier nicht erschienen war, dann ganz bestimmt zu Hause dringend beschäftigt sein mußte. Er blieb also im Büro. Die Stunden schienen ihm unendlich lang zu sein. Unterderhand erkundigte er sich nach der Abschrift, mit der Schumkoff beauftragt worden war. Doch niemand wußte etwas von der Angelegenheit. Man wußte nur, daß Juljan Mastakowitsch ihn mit besonderen Aufträgen beschäftigte, mit was für welchen aber – das wußte niemand zu sagen. Schließlich schlug es drei Uhr und Arkadij Iwanowitsch stürzte nach Haus. Auf der Treppe des Dienstgebäudes redete ihn ein Schreiber an und sagte, daß Wassilij Petrowitsch Schumkoff um ein Uhr dagewesen sei und gefragt habe, ob er, Arkadij, da sei, und ferner, ob Juljan Mastakowitsch dagewesen wäre. Als Arkadij Iwanowitsch das hörte, nahm er eine Droschke und fuhr außer sich vor Angst und Schrecken nach Hause.

Schumkoff war zu Hause. Er ging erregt im Zimmer auf und ab. Als er Arkadij Iwanowitsch erblickte, nahm er sich sofort zusammen und beeilte sich sichtlich, seine Erregung zu verbergen. Er setzte sich schweigend an die Arbeit. Offenbar wollte er den Fragen seines Freundes ausweichen. Fast schien er sich durch ihn belästigt zu fühlen und die Absicht zu haben, von seinen Entschlüssen jetzt nichts mehr verlauten zu lassen, da er sich, wie er wohl denken mochte, auf die Freundschaft des anderen ja doch nicht verlassen konnte. Arkadij fühlte das wohl und sein Herz krampfte sich zusammen. Er setzte sich aufs Bett und schlug ein Buch auf, das einzige, welches in seinem Besitz war – wandte aber keinen Blick von dem armen Wassjä. Wassjä schwieg hartnäckig, schrieb und blickte nicht auf. So vergingen einige Stunden und Arkadijs Qualen stiegen aufs höchste. Schließlich, gegen elf Uhr abends, erhob Wassjä seinen Kopf und sah mit stumpfem, unbeweglichem Blick Arkadij an. Arkadij wartete schweigend. Es vergingen zwei bis drei Minuten! Wassjä schwieg immer noch. „Wassjä!“ rief Arkadij endlich. Doch Wassjä gab keine Antwort. „Wassjä!“ wiederholte er und sprang vom Bett auf. „Wassjä, was fehlt dir? Was hast du?“ rief er aus und lief zu ihm hin. Wassjä hob den Kopf und sah ihn mit demselben stumpfen und unbeweglichen Ausdruck an. „Er hat einen Krampf!“ dachte Arkadij, und dabei überlief ihn ein Schauer. Er griff nach der Karaffe mit Wasser und goß Wassjä das Wasser über den Kopf, befeuchtete seine Schläfen, rieb ihm die Hände, und richtig, Wassjä kam wieder zu sich. „Wassjä, Wassjä!“ Arkadij brach in Tränen aus: er konnte sich nicht mehr beherrschen. „Wassjä, richte dich doch nicht zugrunde, besinne dich doch, Wassjä! ...“ Er verstummte und nahm Wassjä in seine Arme. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf Wassjäs Gesicht: er rieb sich die Stirn und griff nach seinem Kopf, als fürchte er, daß er ihm zerspränge ...

„Ich weiß nicht, was mit mir ist!“ sagte er endlich, „ich glaube ... Aber beunruhige dich nicht, Arkadij, beunruhige dich nicht, es ist alles gut!“ fügte er, ihn mit traurigen Augen ansehend, hinzu. „Laß gut sein, laß gut sein!“

„Du – du beruhigst noch mich!“ rief Arkadij, dessen Herz in Stücke zerriß. „Wassjä,“ sagte er dann, „lege dich endlich zu Bett, schlaf ein wenig, was meinst du? Quäle dich doch nicht umsonst! Besser, du setzt dich nachher wieder an die Arbeit!“

„Schon gut, schon gut!“ wiederholte Wassjä, „ja: Ich werde mich hinlegen: schon gut; ja! Siehst du, ich wollte es nämlich beenden, aber jetzt habe ich mich doch bedacht ... ja ...“

Und Arkadij schleppte ihn zu Bett.

„Höre, Wassjä,“ sagte er entschlossen, „mit dieser Sache muß ein Ende gemacht werden! Sage mir, was hast du dir gedacht?“

„Ach!“ sagte Wassjä, winkte mit der Hand schwach ab und wandte seinen Kopf auf die andere Seite.

„Schön, Wassjä, schön! Entschließe dich, ich will nicht zu deinem Mörder werden, ich kann nicht länger schweigen! Du wirst nicht eher einschlafen, bis du dich nicht zu etwas Bestimmtem entschlossen haben wirst, ich weiß es.“

„Wie du willst, wie du willst,“ wiederholte rätselhaft Wassjä.

„Er ergibt sich,“ dachte Arkadij Iwanowitsch.

„Folge mir doch, Wassjä,“ sagte er, „denke daran, was ich dir gesagt habe: ich kann dich ja retten; morgen – morgen werde ich dein Schicksal entscheiden! Was sage ich: Schicksal!? Du hast mich so bange gemacht, Wassjä, daß ich schon anfange, deine Worte zu wiederholen. Was für ein Schicksal! Das ist ja Unsinn! Du willst nicht die Liebe und Zuneigung Juljan Mastakowitschs verlieren, ja! Und du wirst sie auch nicht verlieren, du wirst sehen ... Ich ...“

Arkadij Iwanowitsch hätte noch weiter gesprochen, aber Wassjä unterbrach ihn. Er richtete sich auf, umschlang schweigend mit beiden Händen Arkadij Iwanowitsch und küßte ihn.

„Schon gut!“ sagte er mit schwacher Stimme, „schon gut! Genug davon!“

Und wieder kehrte er seinen Kopf weg zur Wand.

„Mein Gott!“ dachte Arkadij. „Mein Gott! Was ist mit ihm? Er ist ganz und gar von Sinnen: was mag er vorhaben? Er wird sich ja zugrunde richten!“

Arkadij sah voll Verzweiflung auf ihn.

„Wenn er doch wirklich krank werden würde,“ dachte Arkadij, „das wäre vielleicht noch das Beste. Durch die Krankheit würde er dann aller Sorgen enthoben sein und man würde die Sache auf eine ganz ausgezeichnete Weise beilegen können. Doch was sage ich? Ach, du mein großer Gott ...“

Inzwischen schien Wassjä eingeschlafen zu sein. Arkadij Iwanowitsch freute sich über das gute Zeichen, wie er es auslegte, und beschloß bei sich, die ganze Nacht an Wassjäs Bett zu bleiben. Doch Wassjä schien nicht zur Ruhe zu kommen, er bewegte sich alle Augenblick, warf sich im Bett herum und öffnete von Zeit zu Zeit die Augen. Schließlich aber nahm die Müdigkeit doch überhand und er schlief ein wie ein Toter. Es war gegen zwei Uhr morgens, als Arkadij Iwanowitsch, mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, auf seinem Stuhl ebenfalls einschlief.

Er hatte einen sehr unruhigen und sonderbaren Traum. Ihm war es, als wache er, während Wassjä noch immer auf dem Bett lag. Doch sonderbarerweise war das nur eine Verstellung von Wassjä, er hinterging Arkadij, stand vom Bett auf und setzte sich an den Schreibtisch. Schmerz ergriff Arkadij, er war tief traurig und konnte es kaum ertragen, als er so sehen mußte, wie Wassjä ihn hinterging. Er wollte nach ihm greifen, ihn rufen und aufs Bett zurücktragen. Wassjä schrie aber laut auf und als Arkadij zusah, hielt er nur seine Leiche im Arm. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Herz klopfte heftig. Er erwachte und öffnete die Augen. Wassjä saß vor ihm am Tisch und – schrieb.

Arkadij wollte seinen Augen nicht trauen und blickte aufs Bett: aber nein, da war Wassjä nicht! Arkadij sprang auf, noch ganz unter dem Eindruck seines Traumes. Wassjä aber rührte sich nicht. Er schrieb immer weiter. Voll Entsetzen bemerkte plötzlich Arkadij, daß Wassjä immer nur mit der trockenen Feder übers Papier fuhr, die weißen Seiten umblätterte und sich eilte und eilte, ganz, als wäre er emsig an seiner Arbeit! „Nein, das da ist kein Krampf!“ dachte Arkadij Iwanowitsch und erzitterte am ganzen Körper. „Wassjä, Wassjä! Antworte mir doch!“ rief er und packte ihn an der Schulter. Doch Wassjä schwieg und fuhr fort, mit trockener Feder auf dem Papier weiter zu schreiben.

„Endlich, endlich schreibt meine Feder so schnell, wie ich will,“ sagte er und blickte Arkadij an.

Arkadij ergriff seine Hand und entriß ihm die Feder.

Ein Stöhnen kam aus Wassjäs Brust. Er ließ die Arme sinken und sah Arkadij an, dann griff er sich mit einem quälenden, traurigen Ausdruck an die Stirn, als wollte er einen schweren eisernen Ring entfernen, der dort lag und ließ dann leise, wie in Nachdenken versunken, seinen Kopf auf die Brust fallen.

„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij Iwanowitsch verzweifelt. „Wassjä!“

Nach einiger Zeit sah Wassjä ihn an. Tränen standen in seinen großen blauen Augen und das bleiche Gesicht drückte eine unendliche Qual aus ... Er flüsterte etwas.

„Was, was sagst du?“ rief Arkadij und beugte sich zu ihm.

„Warum nur ich, warum nur ich?“ flüsterte Wassjä, „warum? Was habe ich denn getan?“

„Wassjä! Was ist dir! wen fürchtest du, Wassjä? Sprich!“ rief Arkadij und rang die Hände in Verzweiflung.

„Warum will man denn mich zu den Soldaten geben?“ flüsterte Wassjä weiter und sah fragend in die Augen seines Freundes, „warum mich? Was habe ich denn getan!“

Arkadij schauderte vor Entsetzen: er wollte, er konnte es nicht glauben. Wie gebrochen stand er da.

Im nächsten Augenblick faßte er sich wieder: „Das ist nur so, das ist vorübergehend!“ sagte er zu sich, bleich mit blauen, zitternden Lippen und kleidete sich an. Er wollte sofort zu einem Doktor laufen. Plötzlich rief ihn Wassjä. Arkadij stürzte zu ihm und umarmte ihn besorgt, wie eine Mutter ihr Kind ...

„Arkadij, Arkadij, sage es niemandem! Hörst du! Mein Unglück will ich allein tragen ...“

„Was hast du? Was hast du? besinne dich doch, Wassjä, besinne dich doch!“

Wassjä seufzte und leise Tränen liefen über seine Wangen.

„Warum sie vernichten? Was hat sie denn für eine Schuld daran? ...“ murmelte er gequält und herzzerreißend. „Meine Sünde ist es, meine Sünde! ...“

Er schwieg einen Augenblick.

„Lebe wohl, meine Geliebte! Lebe wohl, meine Geliebte!“ flüsterte er und wiegte seinen armen Kopf. Arkadij zuckte zusammen, raffte sich dann auf und wollte zum Doktor ... „Gehen wir! Es ist Zeit!“ rief Wassjä, der die Bewegung Arkadijs bemerkt hatte. „Gehen wir, Bruder, gehen wir! ich bin bereit! Du wirst mich begleiten.“ Er verstummte und sah Arkadij vernichtet und zugleich mißtrauisch an.

„Wassjä, komme mir nicht nach, um Gottes willen! Erwarte mich hier. Ich werde sofort, sofort zu dir zurückkehren,“ sagte Arkadij Iwanowitsch, der selbst den Kopf verloren hatte. Und er griff nach seiner Mütze, um nach dem Doktor zu laufen. Wassjä setzte sich wieder hin, er war still und gehorsam, nur in seinen Augen blitzte eine verzweifelte Entschlossenheit. Arkadij kehrte noch einmal zurück, ergriff vom Tisch das Federmesser, sah noch zum letztenmal nach dem Armen und lief zur Wohnung hinaus.

Es war acht Uhr morgens. Das Licht hatte bereits die Dämmerung im Zimmer verdrängt.

Er fand niemanden. Er lief eine ganze Stunde umher. Alle Ärzte, deren Adressen er von den Hausverwaltern erfuhr, bei denen er sich erkundigte, ob nicht ein Doktor im Hause wohne, waren bereits ausgefahren: in ihre Praxis oder in ihren privaten Angelegenheiten. Nur einen traf er schließlich zu Hause. Dieser fragte lange und umständlich seinen Diener, der Arkadij anmeldete: wer und woher der Herr sei, aus welchem Grunde er käme und aus welchen Verhältnissen der frühe Besucher zu sein scheine – bis er dann schließlich doch zu dem Entschluß kam, daß es ihm nicht möglich sei, ihn zu empfangen, da er viel zu tun habe und nicht ausfahren könne, und daher Arkadij sagen ließ, diese Art von Kranken müsse man in ein Krankenhaus bringen.

Da ließ der verzweifelte und erschütterte Arkadij, der ein solches Ergebnis denn doch nicht erwartet hatte, alles stehen und liegen, wie es war, alle Ärzte, die es auf der Welt gab, und begab sich nach Haus, in höchster Angst um Wassjä. Er lief in die Wohnung. Mawra wischte gerade den Fußboden auf, ganz, als wäre nichts geschehen und brach kleine Hölzchen entzwei, um den Ofen anzuzünden. Er stürzte ins Zimmer: aber Wassjä war nicht da!

„Wohin? Wohin nur? Wohin mag der Unglückliche gelaufen sein?“ fragte sich Arkadij im höchsten Schreck. Und er fing an, Mawra auszufragen. Die aber wußte nichts, hatte Wassjä weder gehört noch gesehen. „Gott sei ihm gnädig!“ sagte Arkadij und lief zu den Kolomnaschen.

Jawohl: dort, nur dort konnte er sein!

Es war bereits zehn Uhr, als er bei ihnen ankam. Aber auch Lisenka und ihre Mutter hatten nichts gehört, nichts gesehen. Arkadij stand ganz verstört vor ihnen und fragte immer nur, wo Wassjä sei. Die Alte trugen ihre Füße nicht mehr, und sie fiel auf den Diwan hin. Lisenka, die am ganzen Körper zitterte, begann ihn über das Geschehene auszufragen. Doch – was sollte er ihr sagen? Arkadij Iwanowitsch versuchte, sich so schnell als möglich von ihnen loszumachen, er dachte sich irgendeine Ausrede aus, die ihm natürlich nicht geglaubt wurde, lief davon und ließ sie erschüttert und in Sorgen um Wassjä zurück. Er begab sich in sein Büro, um die Nachricht zu überbringen und darauf hinzuwirken, daß man so schnell als möglich Maßregeln ergriff. Unterwegs kam ihm der Gedanke, daß Wassjä ja zu Juljan Mastakowitsch gegangen sein könne. Das war wohl auch am ehesten anzunehmen! Arkadij hatte bereits vorher, noch bevor er zu den Kolomnaschen gegangen war, an diese Möglichkeit gedacht. Als er am Hause der Exzellenz vorübergefahren war, hatte er schon anhalten lassen wollen, aber er hatte dann doch wieder dem Kutscher befohlen, weiterzufahren. Er wollte lieber erst im Büro nach Wassjä fragen und erst dann, wenn er dort nicht sein sollte, sich zu Seiner Exzellenz begeben, und wär’s auch nur, um Bericht zu erstatten. Irgend jemand mußte es doch tun!

Kaum war er in den Vorraum eingetreten, als ihn auch schon einige jüngere Kollegen umringten, die alle im gleichen Rang mit ihm standen, und ihn fragten, was mit Wassjä geschehen sei? Und alle sprachen sie davon, daß Wassjä den Verstand verloren habe und sich einbilde, er müsse zu den Soldaten, weil er sich ein Versäumnis im Dienst habe zuschulden kommen lassen. Arkadij Iwanowitsch antwortete auf die Fragen, die auf ihn einstürmten, oder besser gesagt, er antwortete niemandem etwas Rechtes, und beeilte sich nur so schnell wie möglich in die inneren Gemächer zu kommen. Auf dem Wege dorthin erfuhr er, daß Wassjä im Kabinett Juljan Mastakowitschs sei, und daß sich die meisten der Vorgesetzten gleichfalls dorthin begeben hatten. Vor der Tür wurde er zurückgehalten. Einer von den höheren Beamten fragte ihn, was er wünsche? Doch ohne den Herrn recht zu erkennen, sagte er irgend etwas über Wassjä und ging geradeaus auf das Kabinett zu. Er war noch draußen, als er schon die Stimme Juljan Mastakowitschs hörte.

„Wohin wollen Sie?“ fragte ihn wieder jemand.

Arkadij Iwanowitsch verlor fast den Mut und wäre beinahe schon umgekehrt – als er gerade durch die geöffnete Tür seinen armen Freund Wassjä erblickte. Und nun zwängte er sich durch die Tür in das Zimmer hinein. Dort herrschte große Aufregung und Verwirrung. Juljan Mastakowitsch schien sehr aufgeregt zu sein. Um ihn herum standen alle die höheren Beamten, sprachen hin und her und wußten nicht, wozu sie sich entschließen sollten. Weiter abseits stand Wassjä. In der Brust Arkadijs erstarb alles, wie er ihn so stehen sah. Wassjä stand da: bleich, mit erhobenem Kopfe, die Hände stramm an der Hosennaht, ganz als wäre er wirklich ein Rekrut und stände vor seinen Vorgesetzten. Er blickte starr Juljan Mastakowitsch in die Augen. Arkadij wurde natürlich sofort bemerkt, und da einige wußten, daß er Wassjäs Freund und Stubengenosse war, so meldete man dies sofort Seiner Exzellenz. Man führte Arkadij vor. Er wollte die ihm gestellten Fragen beantworten, aber als er auf Juljan Mastakowitsch sah und auf dessen Gesicht Trauer und Mitleiden erblickte, da schluchzte er laut auf wie ein Kind. Er tat noch mehr: er ergriff die Hand Seiner Exzellenz und drückte sie an seine Augen und benetzte sie mit seinen Tränen, so daß Seine Exzellenz genötigt war, sie ihm zu entziehen. Er winkte mit der Hand ab und sagte nur: „Schon gut, lieber Mensch, ich sehe, daß du ein gutes Herz hast.“ Arkadij schluchzte und warf den Umstehenden flehende Blicke zu. Ihm kam es so vor, als wären sie alle Brüder seines armen Wassjä, die ebenso um ihn trauerten, wie er selbst. „Wie – ja wie ist denn das mit ihm geschehen?“ fragte Juljan Mastakowitsch. „Weshalb hat er seinen Verstand verloren?“

„Aus Dan–Dan–Dankbarkeit!“ konnte Arkadij Iwanowitsch kaum antworten.

Diese Antwort setzte alle in Verwunderung: allen schien sie sonderbar und unverständlich: wie konnte wohl ein Mensch aus Dankbarkeit den Verstand verlieren? Arkadij versuchte es zu erklären, so gut er’s konnte.

„Gott, wie traurig!“ rief Juljan Mastakowitsch aus, „und dabei hatte die Arbeit, mit der ich ihn beauftragt, durchaus keine Eile. Wegen nichts hat sich der Mensch zugrunde gerichtet! ...“ Juljan Mastakowitsch wandte sich dann von neuem an Arkadij Iwanowitsch und fragte ihn noch weiter aus: „er bittet,“ sagte er und wies auf Wassjä, „daß man es nicht ‚Ihr‘, wohl irgendeinem jungen Mädchen, sagen möge – ist es seine Braut?“

Arkadij erzählte. In der Zwischenzeit bemühte sich Wassjä ersichtlich, über irgend etwas nachzudenken: mit der größten Anstrengung versuchte er, sich irgendeiner sehr wichtigen und nötigen Sache zu erinnern, von der er wohl glaubte, daß sie ihm im Augenblicke sehr zustatten käme. Mit fragenden und zugleich gequälten Blicken sah er seine Umgebung an, als hoffte er, andere würden sich vielleicht der Sache erinnern, die er vergessen hatte. Er richtete seine Augen auf Arkadij – und plötzlich flammte in seinen Augen eine Hoffnung auf. Er trat mit dem einen Fuß einen Schritt vor, ging dann noch drei Schritte weiter und schlug schließlich so stramm, wie es ihm möglich war, mit dem rechten Bein ans linke: so, wie es die Soldaten tun, wenn sie von einem Offizier gerufen und angesprochen werden. Alle warteten gespannt, was nun geschehen würde.

„Ich habe einen körperlichen Fehler, Eure Exzellenz, ich bin schwach und klein von Wuchs, und tauge nicht zum Dienst,“ stieß er endlich abgebrochen hervor.

Alle, die im Zimmer waren, fühlten wohl, wie sich ihnen in diesem Augenblick das Herz zusammenzog. Juljan Mastakowitsch war erschüttert, obgleich er sonst keinen allzu weichen Charakter hatte. „Führt ihn fort,“ sagte er und winkte mit der Hand ab.

„Meine Stirn!“ sagte Wassjä halblaut vor sich hin, drehte sich linksum und ging aus dem Zimmer. Alle, die an seinem Schicksal Anteil nahmen, stürzten ihm nach. Auch Arkadij drängte sich mit ihnen hinaus. Man mußte noch auf den Wagen warten, der Wassjä ins Krankenhaus bringen sollte. Man führte ihn deshalb so lange in den Vorraum. Hier saß er schweigend da, offenbar in großen Sorgen. Wen er wiedererkannte, dem nickte er mit dem Kopfe zu, als wollte er sich von ihm verabschieden. Jeden Augenblick sah er nach der Tür und schien sich darauf vorzubereiten, daß man „jetzt“ sagte. Um ihn herum hatte sich ein enger Kreis gebildet: alle redeten sie und schüttelten mit den Köpfen. Viele wunderten sich über die Geschichte, die nun bekannt geworden war; die einen redeten voll Eifer darüber; andere wiederum bemitleideten Wassjä und lobten ihn, weil er ein so bescheidener, stiller junger Mann gewesen sei, und so viel versprochen hätte: man erzählte sich, wie strebsam er gewesen, wie wissensdurstig und lernbegierig. „Mit eigenen Kräften hat er sich aus niederem Stande emporgearbeitet!“ bemerkte irgend jemand. Mit Rührung sprach man auch von seiner Anhänglichkeit an die Exzellenz. Einige konnten sich nicht erklären, wie Wassjä sich nur in den Kopf gesetzt und darüber den Verstand verloren hatte, daß man ihn zu den Soldaten geben würde, wenn er seine Arbeit nicht beendete. Man erzählte sich, daß der Arme vor nicht langer Zeit noch ein Leibeigener gewesen sei und es nur Juljan Mastakowitsch, der in ihm Talent, Gehorsam und eine seltene Bescheidenheit entdeckt, zu verdanken hatte, daß er eine Anstellung erhielt. Kurz, es gab viele solcher Meinungen und Gespräche. Besonders bemerkbar durch seine Aufregung machte sich ein Kollege von Wassjä, ein Männchen von sehr kleinem Wuchs in den Dreißigern. Er war weiß wie ein Tuch, zitterte am ganzen Körper und lächelte so sonderbar, vielleicht, weil eine jede Skandalszene und ein jedes schreckliche Erlebnis die Zuschauer erschreckt und doch zugleich auch unterhält, fast erfreut. Dieser hier lief um den kleinen Kreis herum, der sich um Schumkoff gebildet hatte, und da er, wie gesagt, klein von Wuchs war, so stellte er sich auf die Zehenspitzen und faßte jeden am Rockknopf, dem gegenüber er sich das erlauben konnte, und versicherte allen, daß er wisse, woher das alles gekommen und daß es ein klarer, aber schwerer Fall sei, den man nicht so einfach behandeln könne: er erhob sich dann wieder auf die Fußspitzen und flüsterte seinem Zuhörer etwas ins Ohr, nickte mehrmals heftig mit dem Kopfe und lief wieder weiter. Schließlich nahm die Szene ein Ende. Ein Wärter und ein Arzt aus der Irrenanstalt erschienen. Sie gingen auf Wassjä zu und sagten ihm, daß er mit ihnen fahren müsse. Wassjä sprang sofort auf, sah sich eifrig und doch gleichzeitig fragend im Kreise um und folgte ihnen. Plötzlich schien er jemanden mit den Augen zu suchen! „Wassjä, Wassjä!“ rief schluchzend Arkadij Iwanowitsch. Wassjä blieb stehen und Arkadij näherte sich ihm. Sie umarmten sich beide zum letztenmal, und wollten von einander nicht lassen. Es war schrecklich anzusehen. Welch ein Schicksal preßte ihnen die Tränen aus den Augen! Worüber weinten sie beide? Wo lag das Unglück? Warum verstanden sie einander nicht mehr?

„Da, da, nimm! Verwahre es!“ sagte Schumkoff und drückte Arkadij ein Stückchen Papier in die Hand. „Sie würden es mir fortnehmen. Bringe es mir später; bring es mir! hörst du; verwahre es gut“ ... Wassjä durfte nicht weiter sprechen. Man rief ihn. Er lief eilig die Treppe hinab und nickte allen mit dem Kopfe zum Abschied zu. Verzweiflung lag auf seinem Gesicht. Man setzte ihn in einen geschlossenen Wagen. Die Pferde zogen an und fort ging es. Arkadij öffnete das Stück Papier: Lisas schwarze Locke lag darin. Was mochte in Wassjä vorgegangen sein, als er sich von ihr trennte. Heiße Tränen stiegen Arkadij in die Augen: „Ach, arme Lisa!“

Nach Schluß des Büros ging er zu den Kolomnaschen. Ich kann nicht erzählen, was dort geschah! Sogar Petjä, der kleine Petjä, der doch noch nicht begreifen konnte, was mit dem guten Wassjä geschehen war, ging in die Ecke, bedeckte sein Gesicht mit den kleinen Händchen und schluchzte, als ob ihm sein Kinderherz brechen wollte. Es wurde Abend, als Arkadij nach Hause zurückkehrte. Als er über die Newa ging, blieb er einen Augenblick stehen und sah mit durchdringendem Blick über den Fluß in die rauchige, kaltneblige Ferne, die gerötet war von der letzten, blutig purpurnen Abendsonne.

Die Nacht senkte sich über die Stadt und die ganze unübersehbare tote Schneefläche der Newa glänzte, vom letzten Strahl der Sonne beschienen, in unendlichen Myriaden von diamantenen Funken. Es war eine Kälte von zwanzig Grad. Steifer Dunst ballte sich um die vielen jagenden Pferde und laufenden Menschen. Die Luft erzitterte beim geringsten Laut, und wie Riesen erhoben sich zu beiden Seiten der Ufer in den kalten Himmel die Rauchsäulen der Häuser, schoben sich und schichteten sich übereinander, während sie aufstiegen, und es war, als ob neue Gebilde und Gebäude über der alten eine neue Stadt in den Wolken bildeten ... als ob sich diese ganze Welt, mit all ihren Bewohnern, den starken und den schwachen, mit ihren Behausungen der Armen und den Palästen der Reichen und Mächtigen der Erde in dieser Dämmerstunde in einen phantastischen Traum verwandelte, der aus dem Dunst zu dem dunkelblauen Himmel aufstieg, um sich in ihm aufzulösen und im Wesenlosen zu vergehen ... Ein sonderbares Gefühl überkam den verwaisten Freund des armen Wassjä. Er schrak zusammen, und plötzlich strömte, durch ein mächtiges, ihm bis jetzt ganz ungeahntes Gefühl, eine heiße Blutwelle in sein Herz. Er begriff mit einem Male den Sinn des ganzen Geschehnisses, begriff, warum Wassjä sein Glück nicht tragen konnte und seinen Verstand verloren hatte. Seine Lippen zitterten, seine Augen glänzten, er erbleichte vor dem Neuen, das in ihm erstand ...

Seit der Zeit war Arkadij finster und verschlossen und hatte ganz seine frühere Fröhlichkeit verloren. Seine Wohnung wurde ihm unerträglich – er nahm sich eine andere. Nach zwei Jahren begegnete er ganz zufällig Lisenka in der Kirche. Sie war verheiratet: ihr folgte eine Amme mit einem Kinde auf dem Arm. Sie begrüßten einander und vermieden es lange Zeit, von der Vergangenheit auch nur zu sprechen. Lisa erzählte, daß sie glücklich und auch nicht mehr so arm sei wie früher, daß ihr Mann ein guter Mensch wäre und sie liebhabe ... Doch plötzlich, mitten in ihrer Rede, stockte sie, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wandte sich ab und senkte ihren Kopf über ein Betpult, um vor den Menschen ihre Trauer zu verbergen.

Ein Roman in neun Briefen

I.

(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)

Hochverehrter Iwan Petrowitsch, teuerster Freund!

Es ist nun schon glücklich der dritte Tag, daß ich, man kann wohl sagen, regelrecht Jagd auf Sie mache, mein Bester, zumal ich Sie in einer höchst, höchst dringlichen Angelegenheit sprechen muß, während Sie leider für mich unauffindbar sind. Als wir gestern bei Ssemjon Alexejewitsch waren, erlaubte sich meine Frau einen kleinen Scherz auf Ihre Rechnung, indem sie bemerkte, daß Sie und Tatjana Petrowna eigentlich erstaunlich wenig Sinn für Häuslichkeit an den Tag legten: und es ist ja wahr, noch sind Sie keine drei Monate verheiratet, und schon hält es schwer, Sie einmal zu Hause anzutreffen. Wir haben alle herzlich darüber gelacht – natürlich nur auf Grund unserer aufrichtigen Zuneigung zu Ihnen. Doch ganz abgesehen von allen Scherzen, mein Teuerster, bin ich durch Sie in eine arge Hetze geraten. Ssemjon Alexejewitsch meinte, Sie würden vielleicht im Klub der „Vereinigten Gesellschaft“ auf dem Balle zu finden sein. Ich ließ daraufhin meine Frau bei der Gattin Ssemjon Alexejewitschs zurück und eilte selber nach dem Klub. Stellen Sie sich nun die Lage vor, in der ich mich befand: ich war auf dem Ball – allein – ohne Frau! Iwan Andrejewitsch, mit dem ich unten im Vestibül zusammentraf, zog natürlich sogleich (der Schuft!) bloß aus dem einen Umstande, daß ich, wie gesagt, allein eintrat, besondere Schlüsse auf die Art meiner Vorliebe fürs Tanzvergnügen, hakte sich daher ohne weiteres in meinen Arm und wollte mich schon mit Gewalt in den Tanzsaal schleppen, obschon sich seine flotte Seele, wie er vorausschickte, in der „Vereinigten Gesellschaft“ herzlich beengt fühlte und die diversen Patschuli- und Resedadüfte ihm bereits Kopfweh verursacht hätten. Doch weder fand ich Sie, noch Tatjana Petrowna. Dafür versicherte mir Iwan Andrejewitsch, und er schwor förmlich darauf, daß ich Sie unfehlbar im Alexandertheater antreffen werde, da man an dem Abend gerade Gribojedoffs Meisterstück[5] spiele.

Ich eile hin: auch dort sind Sie nicht zu entdecken! Heute morgen dachte ich, Sie bei Tschistoganoff zu finden – trügerische Hoffnung! Tschistoganoff schickt mich zu Perepalkins – gleichfalls vergeblich. Mit einem Wort, ich fühle mich jetzt völlig, aber völlig abgehetzt, was Sie nach obiger Schilderung meiner Irrfahrten gewiß begreiflich finden werden: Sie können sich doch vorstellen, wie viel ich gelaufen bin! Jetzt habe ich zur Feder gegriffen – es bleibt mir eben nichts anderes übrig! Nur ist die Sache nicht zu schriftlicher Erledigung geeignet (Sie verstehen mich?). Besser wäre es, unter vier Augen ... Na, jedenfalls muß ich Sie unbedingt und zwar so bald wie möglich sprechen, und deshalb fordere ich Sie auf, heute mit Tatjana Petrowna zum Tee und Abendbrot zu uns zu kommen. Meine Frau wird sich über Ihren Besuch unendlich freuen. Wirklich, Sie werden mich damit, wie man zu sagen pflegt, bis zu meinem Lebensende verpflichten. Übrigens, mein Teuerster – da ich schon einmal zu schreiben begonnen habe, so sei’s denn auch geschrieben – ich sehe mich gezwungen, Sie schon jetzt etwas ins Gebet zu nehmen, jawohl teuerster Freund, sehe mich gezwungen, Ihnen eine anscheinend ganz unschuldige kleine Machenschaft vorzuwerfen, als deren äußerst boshaft ausgewähltes Opfer ich mich selbst betrachten muß ... Sie verkappter Bösewicht, Sie gewissenloser Mensch! Da führen Sie vor etwa einem Monat einen Ihrer Bekannten bei mir ein, nämlich Jewgenij Nikolajewitsch, versehen ihn mit Ihrer freundschaftlichen, das heißt für mich somit heiligsten Empfehlung, weshalb ich mich aufrichtig über die neue Bekanntschaft freue, den jungen Menschen mit offenen Armen empfange und dabei ahnungslos den Kopf in die Schlinge stecke. Das heißt, eine Schlinge ist es nun, genau genommen, gerade nicht. Immerhin haben Sie mir da, wie man zu sagen pflegt, eine böse Suppe eingebrockt. Von näheren Erklärungen will ich vorläufig Abstand nehmen – die Zeit drängt; und brieflich, wissen Sie, ist es auch nicht immer leicht, das richtige Wort zu finden. Infolgedessen geht denn meine inständige Bitte an Sie dahin, mein schadenfroher Freund und Kollege, daß ich Sie sozusagen um Ihre Meinung darüber bitte, ob es sich nicht irgendwie machen ließe – natürlich in aller Diskretion und Höflichkeit – daß man Ihrem jungen Mann unmißverständlich – doch natürlich ohne ihm zu nahe zu treten – unter vier Augen oder gar ganz heimlich – ungefähr und andeutungsweise zu verstehen gäbe, daß es in der Residenz noch viele andere Häuser außer dem meinigen gibt? Ich kann nicht mehr, mein Bester! Meine Kraft ist zu Ende! „Falle zu Füßen!“ wie unser polnischer Freund Ssimonewitsch sagt. Wenn wir uns sehen, erzähle ich Ihnen alles. Ich will damit nicht etwa gesagt haben, daß der junge Mann kein einnehmendes Wesen habe, oder daß, sagen wir, irgendwelche seiner sonstigen Eigenschaften abstoßend seien. Im Gegenteil, er ist sogar in jeder Beziehung ein sehr netter und liebenswürdiger Mensch. Doch – nun, gedulden Sie sich noch ein Weilchen, bis wir unter uns sind. Inzwischen aber, wenn Sie ihn vorher sehen sollten, dann geben Sie ihm um Christi willen einen Wink, Verehrtester. Ich würde es ja selbst tun, aber Sie wissen doch, wie ich bin: ich bringe es nicht fertig – da ist nun einmal nichts zu machen. Sie haben ihn doch nun einmal eingeführt und uns empfohlen. Übrigens werden wir uns ja heute abend zur Genüge aussprechen können. Daher vorläufig: auf Wiedersehen!

Verbleibe usw.

P. S. Mein Kleiner ist schon seit einer Woche nicht ganz gesund und mit jedem Tage wird es schlimmer. Es sind die Zähnchen: die fangen jetzt an, durchzubrechen. Meine Frau muß sich daher viel mit ihm abgeben und ist recht mitgenommen, die Arme. Kommen Sie unbedingt. Sie werden uns aufrichtig erfreuen, werter Freund.

II.

(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)

Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch!

Erhalte gestern Ihren Brief, lese ihn und staune! Sie suchen mich Gott weiß wo und bei wem, während ich einfach zu Hause bin. Bis zehn Uhr wartete ich auf Iwan Iwanytsch Tolokonoff, der aber nicht kam. Nach Empfang Ihres Schreibens rief ich sogleich meine Frau – wir kleiden uns an, ich nehme eine Droschke, scheue nicht die Ausgabe – und erscheinen bei Ihnen gegen halb sieben. Sie aber – sind nicht zu Hause: wir werden von Ihrer Frau empfangen. Ich warte bis halb elf. Länger kann ich nicht. Nehme meine Frau, bezahle wieder eine Droschke, bringe meine Frau nach Haus und begebe mich darauf allein zu Perepalkins, in der Hoffnung, Sie vielleicht dort anzutreffen, sehe mich aber in meiner Annahme wieder enttäuscht. Komme nach Haus gefahren, schlafe die ganze Nacht nicht, rege mich auf, fahre am Morgen wieder dreimal zu Ihnen, um neun, um zehn und um elf, stürze mich dreimal in Ausgaben, fahre hin und her, und wieder lassen Sie mich mit einer langen Nase abziehen.

Als ich Ihren Brief las, wunderte ich mich nicht wenig. Sie schreiben von Jewgenij Nikolajewitsch, bitten ihm eine Andeutung zukommen zu lassen, erwähnen aber mit keiner Silbe, weshalb und warum. Vorsicht ist ja freilich ganz lobenswert, aber mein Papier ist schließlich ebensoviel wert, wie Ihres, von mir aber weiß ich wenigstens, daß ich wichtige Papiere nicht meiner Frau zu Papilloten gebe. Ich begreife nicht, um es endlich auszusprechen, in welchem Sinne Sie mir eigentlich dies alles zu schreiben beliebt haben. Und überdies, da nun einmal die Rede davon ist: weshalb ziehen Sie denn mich in diese ganze Angelegenheit hinein? Ich habe keine Lust, meine Nase in alles und jedes hineinzustecken. Sie können ihm doch ebensogut selbst eine Absage geben! Ich sehe vorläufig nur das eine: daß ich mich mit Ihnen deutlicher auseinandersetzen muß. Inzwischen aber vergeht die Zeit. Ich muß mich sehr einschränken und weiß nicht, was ich tun soll, wenn Sie gewisse Bedingungen nebst Ihrem Versprechen nicht aufrechterhalten. Die Reise läßt sich nicht aufschieben, und Reisen kostet Geld. Außerdem quält einen noch die Frau, die mit aller Gewalt einen Samtmantel nach der neuesten Mode haben will. Was jedoch Jewgenij Nikolajewitsch betrifft, so beeile ich mich, Ihnen folgendes zu bemerken: habe gestern, ohne viel Zeit zu verlieren, gleich nochmals Erkundigungen über ihn eingezogen, als ich bei Pawel Ssemjonytsch Perepalkin auf Sie wartete. Er besitzt rund 500 Seelen im Jaroslawschen Gouvernement, und von der Großmutter hat er Aussicht, noch ein Gut in der Nähe von Moskau mit 300 Seelen zu erben. Wieviel er an barem Gelde besitzt, weiß ich nicht, denke aber, daß Sie hierüber selber besser Bescheid wissen dürften. Bitte Sie ferner, mir endgültig Ort und Zeit eines Zusammentreffens anzugeben. Sie schreiben, Iwan Andrejewitsch habe Ihnen gesagt, daß ich mit meiner Frau im Alexandertheater anzutreffen sei. Darauf kann ich nur erwidern, daß es Iwan Andrejewitsch nicht sehr auf die Wahrheit anzukommen scheint und man ihm und seinen Worten um so weniger Glauben schenken darf, als er noch vor nicht länger als drei Tagen seine eigene Großmutter um achthundert Rubel betrogen hat.

Habe die Ehre usw.

P. S. Meine Frau ist in anderen Umständen, außerdem ist sie schreckhaft und zeitweilig zur Melancholie geneigt. In den Theatern aber wird auf der Bühne zuweilen geschossen, oder künstlich, mit allerlei Maschinen, Donner erzeugt. Und deshalb, um meine Frau nicht der Gefahr des Erschreckens auszusetzen, besuche ich mit ihr keine Theater. Auch bin ich selbst kein großer Liebhaber theatralischer Aufführungen.

III.

(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)

Teuerster Iwan Petrowitsch, bester Freund!

Verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich bitte Sie tausendmal um Vergebung, doch will ich mich ungesäumt rechtfertigen, soweit ich es kann.

Gestern, kurz vor sechs Uhr, gerade als wir in aufrichtigem Mitleid Ihrer gedachten, erschien ein Abgesandter von meinem Onkel Stepan Alexejewitsch, mit der Nachricht, daß es mit der Tante schlimm stehe. Um meine Frau nicht aufzuregen, sagte ich ihr kein Wort davon und fuhr unter dem Vorwande, etwas Unaufschiebbares vorzuhaben, zu meiner Tante. Mit dieser stand es in der Tat schlimm genug: kurz vor fünf hatte sie wieder einen Schlaganfall gehabt, den dritten im Laufe der letzten zwei Jahre. Karl Fedorytsch, ihr Hausarzt, erklärte, daß sie vielleicht nicht einmal diese Nacht überleben werde. Stellen Sie sich also meine Lage vor, verehrtester Freund! Die ganze Nacht auf den Beinen, Laufereien über Laufereien und obendrein noch Sorgen! Erst gegen Morgen streckte ich mich, völlig erschöpft, und zwar sowohl psychisch als physisch, bei meinem Onkel ein wenig auf dem Diwan aus, vergaß aber, vorher zu sagen, daß man mich rechtzeitig wecken solle, und erwachte erst um halb zwölf. Der Tante ging es besser. So fuhr ich denn nach Haus: meine Frau – nun, Sie können sich denken: die arme Seele hatte die ganze Nacht in der Ungewißheit über meinen Verbleib in begreiflicher Aufregung schlaflos zugebracht. Ich nahm ein paar Bissen, küßte das Kind, beruhigte meine Frau und begab mich zu Ihnen. Sie waren nicht zu Hause. Statt Ihrer traf ich bei Ihnen Jewgenij Nikolajewitsch an. Dann kam ich nach Haus zurück und jetzt sitze ich und schreibe an Sie. Murren Sie nicht und ärgern Sie sich nicht über mich, mein bester Freund! Schlagen Sie, fällen Sie mir meinetwegen das schuldige Haupt von den Schultern, nur entziehen Sie mir nicht Ihre Freundschaft. Von Ihrer Frau erfuhr ich, daß Sie am Abend bei Sslawjänoffs sein werden. Werde unbedingt auch hinkommen. Ich erwarte Sie mit größter Ungeduld.

Inzwischen verbleibe ich usw.

P. S. Unser Kleiner bringt uns fast zur Verzweiflung! Karl Fedorytsch hat ihm ein Abführmittelchen verordnet. Er fiebert, weint, gestern hat er niemand erkannt. Heute erkennt er uns zum Glück und stammelt wieder „Papa“, „Mama“ und schreit sein „Bu–ah“. Meine Frau ist in Tränen.

IV.

(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)

Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch!

Schreibe an Sie bei Ihnen, in Ihrem Zimmer, an Ihrem eigenen Schreibtisch; bevor ich jedoch die Feder ergriff, habe ich gute zweieinhalb Stunden auf Sie gewartet. Jetzt erlauben Sie mir aber, Ihnen, Pjotr Iwanytsch, in betreff dieser ganzen garstigen Angelegenheit einmal rückhaltlos meine Meinung zu sagen.

Aus Ihrem letzten Schreiben schloß ich, daß man Sie bei Sslawjänoffs erwartete und daß Sie mich quasi hinbestellten: ich erscheine also, warte geschlagene fünf Stunden, doch wer nicht kommt – sind Sie. Wie, soll ich mich zum Narren machen lassen? um fremde Menschen zu erheitern? oder was verlangen Sie von mir? Erlauben Sie, mein Herr ...

Doch weiter: ich komme zu Ihnen am frühen Morgen, in der Annahme, Sie noch in Ihren vier Pfählen anzutreffen, und ahme also nicht gewisse und gelinde ausgedrückt irreführende Leute nach, die ihre Bekannten Gott weiß wo und in welchen Lokalen suchen, während man sie zu jeder anständig gewählten Tageszeit in ihrem Heim finden kann. Doch ich hatte nicht das Vergnügen, Sie in Ihrem Hause anzutreffen. Ich weiß nicht, was mich noch immer abhält, Ihnen unumwunden die Wahrheit zu sagen. Ich begnüge mich also mit der Bemerkung, daß Sie gerade kein Mann von Wort zu sein scheinen und daß Sie Ihr Versprechen jetzt wohl zurückziehen und gewisse Verabredungen und Bedingungen anscheinend verleugnen wollen. Nach Erwägung Ihres ganzen Verhaltens mir gegenüber, kann ich Ihnen nur gestehen, daß ich mich über Ihre Schlauheit entschieden wundern muß. Denn jetzt ist es mir vollkommen klar, daß Sie diese häßliche Absicht schon seit langer Zeit hegen. Für die Richtigkeit meiner Annahme dürfte als bester Beweis die Tatsache sprechen, daß Sie sich noch in der vorigen Woche in einer nahezu unstatthaften Weise jenes von Ihnen an mich gerichteten Briefes bemächtigt haben, in dem Sie selbst – zwar ziemlich dunkel und versteckt – die Bedingungen einer gewissen, Ihnen wohl noch erinnerlichen Abmachung schwarz auf weiß niedergeschrieben haben. Sie fürchten also Dokumente, vernichten sie und wollen mich an der Nase herumführen, wie’s scheint. Das aber werde ich nicht zulassen, denn bisher hat mich noch niemand für einen Narren gehalten, vielmehr hat ein jeder nur Gutes über mich geäußert. Jetzt sind mir die Augen geöffnet. Sie wollen mich irreführen, wollen mir mit Ihren Andeutungen in betreff Jewgenij Nikolajewitschs Sand in die Augen streuen, und während ich nach Ihrem mir bis jetzt noch unverständlichen Brief vom Siebenten dieses Monats eine Aussprache mit Ihnen suche, lassen Sie mich bald hierhin, bald dorthin zu einem Stelldichein laufen, zu dem Sie selbst gar nicht erscheinen: ja ganz augenscheinlich suchen Sie sich vor mir absichtlich zu verbergen. Sie denken wohl, mein Herr, daß ich unfähig sei, Ihre Ränke zu durchschauen? Sie versprechen mir alles mögliche für meine Ihnen sehr gut bekannten Dienstleistungen, versprechen Empfehlungen an verschiedene Personen usw., indessen verstehen Sie aber in einer mir selbst rätselhaften Art und Weise es so einzurichten, daß Sie sich sogar mit dem Anschein einer gewissen Berechtigung noch Geld von mir leihen und zwar in beträchtlicher Höhe und ohne irgendwelche Sicherheiten Ihrerseits, also einzig auf geheuchelte Freundschaft hin, wie dies noch in der jüngstvergangenen Woche geschehen ist. Jetzt jedoch, nachdem Sie das Geld erhalten haben, verbergen Sie sich vor mir und scheinen überdies von jenem Dienst nichts mehr wissen zu wollen, den ich Ihnen erwiesen, indem ich Sie mit Jewgenij Nikolajewitsch bekannt machte. Vielleicht rechnen Sie auf meine baldige Reise nach Ssimbirsk und hoffen, daß es vorher nicht zur Abrechnung zwischen uns kommen werde. Doch wenn das der Fall ist, dann erkläre ich Ihnen hiermit feierlichst und bekräftige es mit meinem Ehrenwort, daß ich, wenn es darauf hinausläuft, bereit bin, meinetwegen noch ganze zwei Monate in Petersburg zu verbleiben, daß ich mein Ziel aber erreichen und Sie schon aufzufinden wissen werde. Auch ich verstehe mitunter, einem Menschen zum Trotz etwas durchzusetzen. Zum Schluß jedoch erkläre ich Ihnen, daß ich, wenn Sie mir nicht heute noch befriedigende Erklärungen geben – zunächst schriftlich, nachher mündlich, unter vier Augen – und wenn Sie mir in Ihrem Brief nicht alle die Hauptbedingungen, die zwischen uns vereinbart wurden, schwarz auf weiß bestätigen und mir endlich nicht länger Ihre Hintergedanken bezüglich Jewgenij Nikolajewitschs vorenthalten: daß ich mich dann gezwungen sehe, Maßregeln zu ergreifen, die Ihnen gewiß sehr unangenehm und auch mir nichts weniger als angenehm sein werden.

Gestatten Sie, daß ich verbleibe usw.

V.

(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)

11. November.

Mein bester, verehrtester Freund Iwan Petrowitsch!

Ihr Brief hat mich in tiefster Seele betrübt. Und Sie, der Sie mein bester, doch leider nur zu leicht ungerechter Freund sind, Sie schämen sich nicht, mir, der ich Ihnen doch von allen am meisten zugetan bin, so etwas zu schreiben – so übereilt zu urteilen, das Ganze nicht einmal zu erklären und mich dann mit so beleidigendem Argwohn zu kränken?

Doch ich beeile mich, Ihnen Rede zu stehen und Ihre Anschuldigungen von mir zu weisen.

Sie, Iwan Petrowitsch, haben mich gestern nur deshalb nicht dort angetroffen, weil ich ganz plötzlich und unvorhergesehenermaßen an ein Sterbelager gerufen wurde. Meine Tante Jewfimija Nikolajewna ist nämlich gestern um elf Uhr nachts sanft entschlafen. Zum Anordner der sämtlichen traurigen Obliegenheiten wurde ich durch einstimmigen Beschluß meiner Verwandten gewählt. Da gab es denn für mich so viel zu tun, daß ich Sie heute unmöglich treffen, ja nicht einmal ein paar Zeilen an Sie schreiben konnte. So tut mir das Mißverständnis, zu dem es zwischen uns gekommen ist, in der Seele leid. Meine Bemerkung über Jewgenij Nikolajewitsch, die von mir scherzhaft und mehr so nebenbei geäußert war, haben Sie ganz falsch verstanden und der Geschichte einen mich tief kränkenden Sinn untergeschoben. Sie kommen auch auf das Geld zu sprechen und verbergen nicht Ihre Befürchtungen. Was diese letzteren betrifft, so bin ich bereit, allen Ihren Wünschen und Forderungen nachzukommen, doch möchte ich Sie heute nur kurz daran erinnern, daß das Geld, die 350 Rubel, von mir in der vorigen Woche ausdrücklich nur unter gewissen Bedingungen von Ihnen genommen worden sind, und zwar nicht als Darlehn! In diesem Falle hätten Sie von mir unbedingt einen Wechsel oder eine Quittung erhalten. Zu einer Erörterung der weiteren von Ihnen angeführten Punkte will ich mich nicht herablassen. Ich sehe, daß alles nur auf einem Mißverständnis Ihrerseits beruht, erkenne darin Ihre gewohnte Übereiltheit in der Beurteilung menschlicher Verhältnisse, Ihre Hitzigkeit und rücksichtslose Offenheit. Ich weiß jedoch, daß Ihr Gerechtigkeitssinn und Ihr ehrlicher Charakter nicht lange bei solchem Mißtrauen verbleiben und Sie mir noch einmal als erster die Hand zur Versöhnung reichen werden. Sie sind in einem Irrtum befangen, Iwan Petrowitsch, in einem sehr großen Irrtum!

Doch ungeachtet dessen, daß Ihr Brief mich tief verletzt hat, wäre ich als erster bereit, heute noch mit meiner Entschuldigung zu Ihnen zu kommen, nur habe ich leider so viel zu tun – heute sogar noch mehr als gestern – daß ich schon halbtot bin und mich kaum noch auf den Füßen zu halten vermag. Zur Vollendung meines Unglücks hat sich nun auch noch meine Frau zu Bett legen müssen: ich befürchte eine ernste Krankheit. Was den Kleinen betrifft, so geht es ihm jetzt Gott sei Dank etwas besser. Doch ich schließe ... Die Geschäfte wollen erledigt sein und ich habe ihrer mehr als einen ganzen Berg!

Verbleibe, teuerster Freund,

Ihr usw.

VI.

(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)

14. November.

Sehr geehrter Herr!

Drei Tage habe ich gewartet; habe mich bemüht, sie nützlich zu verbringen – indem ich, eingedenk der Regel, daß Höflichkeit und Anstand die erste Zierde eines jeden Menschen sind, Sie nach meinem letzten Schreiben vom Zehnten dieses Monats weder mit einem Wort noch einer Tat an mich erinnerte, einesteils um Ihnen Zeit zu geben, ungestört Ihrer Christenpflicht der Tante gegenüber nachzukommen, anderenteils auch deshalb, weil ich zu gewissen Erwägungen und Ermittelungen in der bewußten Angelegenheit selbst der Zeit bedurfte. Jetzt jedoch will ich nicht mehr zögern, mich endgültig und entschieden mit Ihnen auszusprechen.

Ich gestehe Ihnen offen, daß ich beim Lesen Ihrer zwei ersten Briefe allen Ernstes der Meinung war, Sie hätten wirklich nicht begriffen, was ich wollte; es war dies denn auch hauptsächlich der Grund, weshalb ich Sie unbedingt zu treffen und unter vier Augen zu sprechen wünschte, weshalb ich die Angelegenheit nicht dem Papier anzuvertrauen wagte und mir selbst die Möglichkeit einer Unklarheit in meiner schriftlichen Ausdrucksweise vorhielt. Wie Sie wissen, habe ich keine besondere Erziehung genossen und habe mir auch keine feinen Manieren aneignen können; hohles Geckentum aber ist mir fremd, denn die bittere Erfahrung hat mich gelehrt, wie trügerisch oft das Äußere sein kann, sowie, daß unter Blumen sich nicht selten Schlangen verbergen. Doch Sie haben mich verstanden; geantwortet aber hatten Sie mir nur deshalb nicht so, wie es sich gehörte, weil Sie in der Falschheit Ihrer Seele schon von Anfang an bei sich beschlossen, Ihr Ehrenwort zu brechen und damit auch das zwischen uns bestehende Freundschaftsverhältnis zu lösen. Der Beweis hierfür ist Ihr schändliches Benehmen mir gegenüber, ein Benehmen, das mir und meinen Interessen geradezu verderblich ist – was ich von Ihnen nie erwartet hätte und woran ich bis zu diesem Augenblick nicht habe glauben wollen, denn bestrickt, wie ich von Anfang unserer Bekanntschaft an durch Ihre guten Manieren war, durch Ihre feinen Umgangsformen, durch Ihre Sachkenntnis und nicht zuletzt auch durch die Vorteile, die mir aus Ihrer Bekanntschaft erwachsen konnten, nahm ich an, daß ich in Ihnen einen aufrichtigen Freund, einen echten Kameraden gefunden hatte, der mir wirkliches Wohlwollen entgegenbrachte. Jetzt jedoch habe ich erkennen müssen, daß es Menschen gibt, die unter einem trügerischen, glänzenden Äußeren in ihrem Herzen Gift verbergen, die ihren Verstand zu nichts anderem benutzen, als zum Ränkeschmieden wider ihren Nächsten und zu häßlichem, hinterlistigem Betruge, und die es deshalb stets umgehen, ihre Worte schwarz auf weiß zu geben und dabei ihre Stilgewandtheit nicht zu Nutz und Frommen ihrer Freunde und ihres Vaterlandes gebrauchen, sondern einzig zur Einschläferung und Umgarnung der Vernunft derjenigen, die sich auf Unternehmungen und Vereinbarungen mit Ihnen eingelassen haben. Ihre Falschheit mir gegenüber geht nur zu deutlich aus folgendem hervor.

Erstens: als ich in meinem Brief klar und unmißverständlich Ihnen, mein sehr verehrter Herr, die Lage schilderte, in der ich mich befand, und gleichzeitig – in meinem ersten Brief – die Frage an Sie stellte, was Sie mit einzelnen Ausdrücken und angedeuteten Absichten, vornehmlich in bezug auf Jewgenij Nikolajewitsch, gesagt haben wollten, da verstanden Sie es, das Wesentliche mit Stillschweigen zu übergehen und sich, nachdem Sie in mir Zweifel und Argwohn geweckt, ruhig wieder aus der Affäre zu ziehen. Darauf, d. h. nachdem Sie so etwas mit mir in Szene gesetzt hatten, was sich nicht einmal mit einem anständigen Wort bezeichnen läßt, schrieben Sie an mich und beklagten sich in wehleidigem Tone über mich bei mir selbst! Wie wünschen Sie wohl, daß man das nennen soll, mein Herr? Sodann, als mir jeder Augenblick teuer war und Sie mich im ganzen Weichbilde der Haupt- und Residenzstadt auf der Suche nach Ihnen umherlaufen ließen, schrieben Sie mir unter der Maske der Freundschaft Briefe, in denen Sie absichtlich mit keiner Silbe die Hauptsache berührten, sondern sich statt dessen ausschließlich in Nebensächlichkeiten ergingen: Sie schrieben mir von Ihrer, von mir allerdings unter allen Umständen sehr geachteten Gemahlin und teilten mir mit, daß der Arzt Ihrem Kleinen ein Abführmittelchen verordnet habe und daß bei ihm das erste Zähnchen durchgebrochen sei. Von allen diesen Dingen schrieben Sie in jedem Ihrer Briefe mit einer Regelmäßigkeit, die für mich geradezu kränkend war. Natürlich, ich will gern zugeben, daß die Qualen des eigenen Kindes jedes Vaterherz bedrücken können, doch wozu davon gerade dann reden, wenn es sich um ganz Anderes, Wichtigeres, Notwendigeres handelt? Ich schwieg und geduldete mich – so schwer es mir auch fiel. Jetzt aber, wo die Zeit Ihrer Inanspruchnahme durch den Todesfall Ihrer Tante verstrichen ist, glaube ich, es mir selbst schuldig zu sein, die Auseinandersetzung nun endlich und zwar unverzüglich herbeizuführen. Ferner haben Sie mir durch trügerische Angaben von Orten, an denen ich Sie sollte treffen können, und an denen ich Sie doch niemals traf, offenbar die Rolle Ihres Narren oder Spaßmachers aufzwingen wollen, der zu sein ich nicht die geringste Lust verspüre. Darauf, nachdem Sie mich noch vorher zu sich eingeladen und selbstverständlich vergeblich auf sich hatten warten lassen, teilten Sie mir mit, daß Sie zu Ihrer leidenden Tante abberufen worden seien, die um Punkt fünf Uhr nachmittags einen Schlaganfall gehabt habe, womit Sie anscheinend peinlich gewissenhaft den wahren Sachverhalt klarlegten. Zum Glück jedoch habe ich, sehr geehrter Herr, im Laufe dieser drei Tage Zeit gehabt, Erkundigungen einzuziehen, wodurch ich erfahren habe, daß Ihre Tante bereits am Abend des Siebenten, kurz vor Mitternacht, von einem Schlagfluß betroffen worden ist. Daraus ersehe ich, daß Sie sogar die Heiligkeit Ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen gemißbraucht haben, um andere Menschen zu betrügen. Endlich schreiben Sie in Ihrem letzten Brief vom Tode dieser Ihrer Tante, die nach Ihrer Angabe gerade zu der Stunde entschlafen sein soll, in der ich mich zwecks bewußter Unterredung auf Ihre eigene Aufforderung hin bei Ihnen einfinden sollte und mich in der Tat auch einfand. Doch hier übersteigt die Schändlichkeit Ihrer Berechnungen und Erfindungen jede Glaubwürdigkeit, denn, wie es mir, dank einem glücklichen Zufall, aus der sichersten Quelle zu erfahren gelungen ist, ist Ihre Frau Tante erst runde vierundzwanzig Stunden nach der von Ihnen so gottlos angegebenen Sterbestunde um elf Uhr nachts entschlafen, nämlich den elften November, und nicht den zehnten!

Ich käme schwerlich zu einem Ende, wenn ich noch alle anderen Beweise aufzählen wollte, die mir Ihre Falschheit offenbart haben. Doch für jeden unparteiischen Beurteiler dürfte allein schon dieser eine Zug genügen, daß Sie mich in jedem Ihrer Briefe ihren „aufrichtigen Freund“ nennen und mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten sagen, was Sie meines Erachtens zu keinem anderen Zweck getan haben, als um mein Gewissen wie meine Vorsicht einzuschläfern.

Ich komme jetzt zu Ihrem Hauptbetrug und Treubruch, der in folgenden Punkten besteht: in Ihrem, in letzter Zeit unausgesetzt beobachteten Stillschweigen über alles das, was unsere gemeinsamen Interessen betrifft; ferner in der sträflichen Entwendung jenes Briefes, in dem Sie – allerdings nur andeutungsweise und mir nicht ganz verständlich – unseren beiderseitigen Vertrag nebst allen einzelnen Bedingungen auseinandergesetzt hatten; drittens in der Tatsache, daß Sie mich in einer nahezu barbarisch vergewaltigenden Weise um 350 Rubel anpumpten, ohne jede Quittung oder sonstige Bestätigung, also nur auf Grund meiner Eigenschaft als Ihr Kompagnon, sozusagen; und schließlich in Ihrer schändlichen Verleumdung unseres gemeinsamen Bekannten Jewgenij Nikolajewitsch.

Es ist mir jetzt auch vollkommen klar, was Sie mit der letztgenannten Verleumdung eigentlich bezweckten: nämlich mir zu beweisen, daß von dem Betreffenden, wie von einem – mit Verlaub zu sagen – Ziegenbock weder Milch noch Wolle zu gewinnen sei; d. h. daß man von ihm gar keinen Nutzen habe und daß er selber weder dies noch das, weder Fisch noch Fleisch sei, was Sie ihm in Ihrem Brief vom Sechsten dieses Monats deutlich als ein Gebrechen anrechnen. Ich aber kenne Jewgenij Nikolajewitsch als bescheidenen und gesitteten jungen Mann: und gerade das ist es, womit er einen für sich einnehmen, sich in der Gesellschaft Achtung gewinnen und es in seiner Laufbahn noch einmal zu etwas bringen kann. Auch ist es mir nicht unbekannt geblieben, daß Sie im Verlaufe von ganzen zwei Wochen jeden Abend beim Hasardspiel mit ihm mindestens mehrere Zehnrubelscheine, wenn nicht gar Hunderter, in Ihre Tasche geschoben und somit auf diese Weise Jewgenij Nikolajewitsch mörderlich gerupft haben. Jetzt aber scheint das alles von Ihnen vergessen zu sein und anstatt mir für das, was ich durch Sie ausgestanden habe, zu danken, eignen Sie sich auf Nimmerwiedersehen auch noch mein Geld an, indem Sie mich vorher durch den Antrag, Ihr Kompagnon zu werden, und durch die Aussicht auf verschiedene Vorteile, die mir dadurch erwachsen würden, zur Hergabe einer beträchtlichen Summe verlocken. Jawohl: nachdem Sie sich in so gesetzwidriger Weise von mir und Jewgenij Nikolajewitsch Geld angeeignet haben, vergessen Sie jeden Dank, den Sie mir schuldig sind, und gehen bis zur Verleumdung desjenigen, den ich allein durch meine Empfehlungen in Ihrem Hause eingeführt habe. Sie selbst dagegen fahren, nach den Aussagen Ihrer Freunde, bis auf den heutigen Tag fort, mit Jewgenij Nikolajewitsch ein Herz und eine Seele zu sein, ja, im Überschwang der Gefühle küssen Sie ihn womöglich und stellen ihn aller Welt als Ihren besten Freund vor, obschon es, wie ich hinzusetzen möchte, so leicht keinen einzigen Dummen geben wird, der nicht sofort und ganz genau erriete, auf was alle Ihre Absichten eigentlich hinauslaufen und was Ihre Freundschaftsbeteuerungen in Wirklichkeit wert sind. Ich wenigstens sage es offen, daß sie nichts als Lug und Trug bedeuten, Falschheit und Hohn auf alle Anstandsbegriffe und Menschenrechte, daß sie eine Schmähung Gottes sind und der Inbegriff aller Lasterhaftigkeit. Als Beispiel und Beleg hierfür nenne ich mich selbst! d. h. ich wollte sagen, die Erfahrungen, die ich mit Ihnen gemacht habe. – Wann habe ich Sie je beleidigt oder Ihnen sonst ein Unrecht angetan, daß Sie mich auf eine so tückische Art zu behandeln wagen?

Ich schließe meinen Brief. Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt. Jetzt füge ich nur noch einen Satz hinzu: wenn Sie, mein Herr, nicht in der kürzesten Frist nach Empfang dieses Briefes mir, erstens, ungeschmälert den ganzen Ihnen von mir geliehenen Betrag, in Summa 350 Rubel, zurückerstatten, und zweitens alle mir Ihrem Versprechen gemäß zustehenden Beträge auszahlen, so werde ich Mittel und Wege zu finden wissen, Sie dazu zu zwingen, wenn es sein muß, sogar durch öffentliche Anklage; denn ausdrücklich nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß mir der Schutz der Gesetze zu Gebote steht; und zum Schluß möchte ich Ihnen noch mitteilen, daß ich gewisse Papiere und damit Beweise in Händen habe, die, sobald sie nicht mehr im Besitz Ihres ergebensten Dieners verbleiben, Sie und Ihren Namen in den Augen der ganzen Welt doch recht tief in den Schmutz herabziehen könnten.

Gestatten Sie usw.

VII.

(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)

15. November.

Iwan Petrowitsch!

Nach Empfang Ihres bäuerischen und zugleich mehr als seltsamen Sendschreibens, wollte ich dasselbe im ersten Augenblick einfach zerreißen und fortwerfen – habe es aber einstweilen doch als Rarität aufbewahrt. Im übrigen tun mir unsere Mißverständnisse und Unannehmlichkeiten von Herzen leid. Eigentlich war es meine Absicht, Ihnen überhaupt nicht zu antworten. Aber die Notwendigkeit zwingt mich dazu – eben die Notwendigkeit, Ihnen hierdurch mitzuteilen, daß es mir ganz entschieden nichts weniger als angenehm sein würde, Sie jemals wieder in meinem Hause zu sehen; das gleiche gilt von meiner Frau: ihre Gesundheit ist nicht ganz auf der Höhe und der Geruch von Schmierstiefeln ist ihr schädlich. Anbei retourniert sie Ihrer Frau Gemahlin mit bestem Dank ein Buch, den „Don Quijote“, der bei uns liegengeblieben war. Was aber Ihre Galoschen betrifft, die Sie angeblich bei Ihrer letzten Anwesenheit in unserem Hause vergessen haben wollen, so muß ich Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, daß man sie bisher nirgends gefunden hat. Inzwischen werden sie noch gesucht. Sollten sie jedoch nicht zu finden sein, so werde ich Ihnen neue kaufen.

Im übrigen habe ich die Ehre usw.

VIII.

(Am 16. November erhält Pjotr Iwanowitsch durch die Stadtpost zwei Briefe. Er erbricht den ersten und entnimmt dem Kuvert ein zierlich zusammengefaltetes blaßrosa Blättchen. Die Handschrift ist die seiner Frau. Gerichtet ist es an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben den 2. November. Im Kuvert befindet sich sonst nichts. Pjotr Iwanowitsch liest:)

Lieber Eugène! Gestern war es völlig unmöglich. Mein Mann war den ganzen Abend zu Haus. Komm aber morgen unbedingt um Punkt elf. Um halb elf fährt mein Mann nach Zarskoje und wird erst um ein Uhr zurückkehren. Ich habe mich die ganze Nacht geärgert. Danke für die Zusendung der Nachrichten. Welch ein Haufen Papier! Hat sie das wirklich alles selbst geschrieben? Übrigens, der Stil geht an. Noch einmal: Hab Dank. Ich sehe, daß du mich liebst. Sei mir nicht böse wegen gestern und komm morgen unbedingt! A.

(Pjotr Iwanowitsch erbricht den zweiten Brief.)

Pjotr Iwanytsch!

Mein Fuß hätte ohnehin niemals mehr Ihre Schwelle überschritten: Sie haben ganz überflüssigerweise Ihr Papier verschmiert.

In der nächsten Woche verreise ich nach Ssimbirsk, doch als unschätzbarer und bester Freund verbleibt Ihnen: Jewgenij Nikolajewitsch. Wünsche angenehmen Zeitvertreib. Wegen der Galoschen bitte ich, sich nicht zu beunruhigen.

IX.

(Am 17. November erhält Iwan Petrowitsch durch die Stadtpost gleichfalls zwei Briefe. Er erbricht den ersten und entnimmt ihm einen eilig und flüchtig beschriebenen Zettel. Die Handschrift ist die seiner Frau. Adressiert ist er an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben den 4. August. Außer dem Zettel enthält das Kuvert nichts weiter. Iwan Petrowitsch liest:)

Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Jewgenij Nikolajewitsch! Möge Gott Ihnen auch dieses Gute vergelten. Werden Sie glücklich, das Los, das mir zufällt, ist grausam, grauenhaft! Es war Ihr Wille. Wäre Tantchen nicht gewesen, ich hätte mich Ihnen nicht so anvertraut. Lachen Sie nicht über mich, und auch nicht über Tantchen. Morgen werden wir getraut. Tantchen ist froh, daß sich ein guter Mensch gefunden hat, der mich ohne Mitgift nimmt. Heute hab’ ich ihn mir zum erstenmal aufmerksam angesehen. Er ist, glaube ich, ein guter Kerl. Man läßt mir keine Zeit. Leben Sie wohl, leben Sie wohl ... Mein Liebling Sie!! Denken Sie manchmal auch an mich, ich – ich werde Sie nie vergessen. Leben Sie wohl! Ich unterschreibe diesen letzten Brief wie meinen ersten ... wissen Sie noch?

Tatjana.

(Im zweiten Brief steht folgendes:)

Iwan Petrowitsch!

Morgen erhalten Sie neue Galoschen. Ich bin nicht gewohnt, fremdes Eigentum aus fremden Taschen hervorzuholen, und ebensowenig ist es meine Art, allerlei Fetzen auf den Straßen aufzusammeln.

Jewgenij Nikolajewitsch wird in den nächsten Tagen nach Ssimbirsk reisen, im Auftrage seines Großvaters, für den er dort einiges erledigen soll, und da hat er mich denn gebeten, ihm zu einem Reisegefährten zu verhelfen. Wollen Sie nicht?

Fußnoten

[1] Bei Petersburg. E. K. R.

[2] Der Petersburger nimmt seine Hauptmahlzeit um 6 bezw. 7 Uhr nachmittags ein. E. K. R.

[3] Stadtteil von Petersburg.

[4] Vorort von Petersburg. E. K. R.

[5] „Verstand schafft Leiden“. E. K. R.

Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:

F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band
R. Piper & Co. Verlag, München, 1920.
Siebentes bis zwölftes Tausend

Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

Newskij (Newski)
Petjä (Petja)
Ssergejeff (Sergejeff)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):