*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 46203 ***
KANDINSKY
ÜBER DAS GEISTIGE
IN DER KUNST
INSBESONDERE IN DER MALEREI
MIT ACHT TAFELN
UND ZEHN ORIGINALHOLZSCHNITTEN
DRITTE AUFLAGE
MÜNCHEN 1912
R. PIPER & CO., VERLAG
DEM ANDENKEN AN
ELISABETH TICHEJEFF
GEWIDMET
INHALT
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
A. ALLGEMEINES
I. EINLEITUNG
II. DIE BEWEGUNG
III. GEISTIGE WENDUNG
IV. DIE PYRAMIDE
B. MALEREI
V. WIRKUNG DER FARBE
VI. FORMEN-UND FARBENSPRACHE
VII. THEORIE
VIII. KUNSTWERK UND KÜNSTLER
SCHLUSSWORT
BILDBEIGABEN
1. Mosaik in S. VITALE (Ravenna)
2. Victor und Heinrich DÜNWEGGE "Kreuzigung Christi" (Alte
Pinakothek-München)
3. Albrecht DÜRER "Beweinung Christi" (Alte Pinaköthek-München)
4. RAFFAELE Santi "Die heilige Familie aus dem Hause Canigiani" (Alte
Pinakothek-München)
5. PAUL CÉZANNE "Die Badenden" (mit Genehmigung von Bernheim
Jeune-Paris)
6. KANDINSKY--Impression "Park" (1910)
7. "--Improvisation No. 18 (1911)
8. "--Komposition No. 2 (1910)
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Die Gedanken, die ich hier entwickle, sind Resultate von Beobachtungen
und Gefühlserfahrungen, die sich allmählich im Laufe der letzten fünf
bis sechs Jahre sammelten. Ich wollte ein größeres Buch über dieses
Thema schreiben, wozu viele Experimente auf dem Gebiete des Gefühls
gemacht werden müßten. Durch andere auch wichtige Arbeiten in Anspruch
genommen, mußte ich fürs nächste auf den ersten Plan verzichten.
Vielleicht komme ich nie zur Ausführung desselben. Ein anderer wird es
erschöpfender und besser machen, da in der Sache eine Notwendigkeit
liegt. Ich bin also gezwungen, in den Grenzen eines einfachen Schemas
zu bleiben und mich mit der Weisung auf das große Problem zu begnügen.
Ich werde mich glücklich schätzen, wenn diese Weisung nicht im Leeren
verhallt.
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Dieses kleine Buch war im Jahre 1910 geschrieben. Vor dem Erscheinen
der ersten Auflage (Januar 1912) habe ich weitere Erfahrungen der
Zwischenzeit eingeschoben. Seitdem ist wieder ein halbes Jahr
vergangen und manches sehe ich heute freier, mit weiterem Horizont.
Nach reiflicher Überlegung habe ich von Ergänzungen abgesehen, da sie
noch ungleichmäßig nur manche Teile präzisieren würden. Ich entschloß
mich, das neue Material zu schon seit einigen Jahren sich sammelnden
scharfkantigen Beobachtungen und Erfahrungen aufzuhäufen, die als
einzelne Teile einer Art "Harmonielehre in der Malerei" vielleicht
mit der Zeit die natürliche Fortsetzung dieses Buches bilden werden.
So blieb die Gestalt dieser Schrift in der zweiten Auflage, die sehr
schnell auf die erste folgen mußte, beinahe ganz unberührt. Ein
Bruchstück der weiteren Entwicklung (resp. Ergänzung) ist mein Artikel
"Über die Formfrage" im "Blauen Reiter".
_München_, im April 1912.
KANDINSKY
A.
ALLGEMEINES
[ILLUSTRATION]
I.
EINLEITUNG
Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es Mutter unserer Gefühle.
So bringt jede Kulturperiode eine eigene Kunst zustande, die nicht mehr
wiederholt werden kann. Eine Bestrebung, vergangene Kunstprinzipien
zu beleben, kann höchstens Kunstwerke zur Folge haben, die einem
totgeborenen Kinde gleichen. Wir können z. B. unmöglich wie alte
Griechen fühlen und innerlich leben. So können auch die Anstrengungen,
z. B. in der Plastik die griechischen Prinzipien anzuwenden, nur den
griechischen ähnliche Formen schaffen, wobei das Werk seelenlos bleibt
für alle Zeiten. Eine derartige Nachahmung gleicht den Nachahmungen
der Affen. Äußerlich sind die Bewegungen des Affen den menschlichen
vollständig gleich. Der Affe sitzt und hält ein Buch vor die Nase,
blättert darin, macht ein bedenkliches Gesicht, aber der innere Sinn
dieser Bewegungen fehlt vollständig.
Es gibt aber eine andere äußere Ähnlichkeit der Kunstformen, der eine
große Notwendigkeit zugrunde liegt. Die Ähnlichkeit der _inneren_
Bestrebungen in der ganzen moralisch-geistigen Atmosphäre, das Streben
zu Zielen, die im Hauptgrunde schon verfolgt, aber später vergessen
wurden, also die Ähnlichkeit der inneren Stimmung einer ganzen
Periode kann logisch zur Anwendung der Formen führen, die erfolgreich
in einer vergangenen Periode denselben Bestrebungen dienten. So
entstand teilweise unsere Sympathie, unser Verständnis, unsere innere
Verwandtschaft mit den Primitiven. Ebenso wie wir, suchten diese reinen
Künstler nur das Innerlich-Wesentliche in ihren Werken zu bringen,
wobei der Verzicht auf äußerliche Zufälligkeit von selbst entstand.
Dieser wichtige innere Berührungspunkt ist aber bei seiner ganzen
Wichtigkeit doch nur ein Punkt. Unsere Seele, die nach der langen
materialistischen Periode erst im Anfang des Erwachens ist, birgt
in sich Keime der Verzweiflung des Nichtglaubens, des Ziel- und
Zwecklosen. Der ganze Alpdruck der materialistischen Anschauungen,
welche aus dem Leben des Weltalls ein böses zweckloses Spiel gemacht
haben, ist noch nicht vorbei. Die erwachende Seele ist noch stark unter
dem Eindruck dieses Alpdruckes. Nur ein schwaches Licht dämmert wie
ein winziges Pünktchen in einem enormen Kreis des Schwarzen. Dieses
schwache Licht ist bloß eine Ahnung, welches zu sehen die Seele keinen
vollen Mut hat, im Zweifel, ob nicht dieses Licht--der Traum ist, und
der Kreis des Schwarzen--die Wirklichkeit. Dieser Zweifel und die noch
drückenden Leiden der materialistischen Philosophie unterscheiden stark
unsere Seele von der der "Primitiven". In unserer Seele ist ein Sprung
und sie klingt, wenn man es erreicht sie zu berühren, wie eine kostbare
in den Tiefen der Erde wiedergefundene Vase, die einen Sprung hat.
Deswegen kann der Zug ins Primitive, wie wir ihn momentan erleben, in
der gegenwärtigen ziemlich entliehenen Form nur von kurzer Dauer sein.
Diese zwei Ähnlichkeiten neuer Kunst mit Formen vergangener Perioden
sind, wie leicht zu sehen ist, diametral verschieden. Die erste ist
äußerlich und hat deswegen keine Zukunft. Die zweite ist innerlich
und birgt deswegen den Keim der Zukunft in sich. Nach der Periode der
materialistischen Versuchung, welcher die Seele scheinbar unterlag und
welche sie doch als eine böse Versuchung abschüttelt, kommt die Seele,
durch Kampf und Leiden verfeinert, empor. Gröbere Gefühle, wie Angst,
Freude, Trauer usw., welche auch zu dieser Versuchungsperiode als
Inhalt der Kunst dienen könnten, werden den Künstler wenig anziehen. Er
wird suchen, feinere Gefühle, die jetzt namenlos sind, zu erwecken. Er
lebt selbst ein kompliziertes, verhältnismäßig feines Leben, und das
aus ihm entsprungene Werk wird unbedingt dem Zuschauer, welcher dazu
fähig ist, feinere Emotionen verursachen, die mit unseren Worten nicht
zu fassen sind.
Der Zuschauer heutzutage ist aber selten zu solchen Vibrationen
fähig. Er sucht im Kunstwerk entweder eine reine Naturnachahmung,
die praktischen Zwecken dienen kann (Porträt im gewöhnlichen Sinne
u. dgl.), oder eine Naturnachahmung, die eine gewisse Interpretation
enthält, "impressionistische" Malerei, oder endlich in Naturformen
verkleidete Seelenzustände (was man Stimmung nennt)[1]. Alle diese
Formen, wenn sie wirklich künstlerisch sind, erfüllen ihren Zweck und
bilden (auch im ersten Falle) geistige Nahrung, besonders aber in dem
dritten Falle, wo der Zuschauer einen Mitklang seiner Seele findet.
Freilich kann also ein derartiger Mit- (oder auch Wider-) Klang nicht
leer oder oberflächlich bleiben, sondern die "Stimmung" des Werkes kann
die Stimmung des Zuschauers noch vertiefen--und verklären. Jedenfalls
halten solche Werke die Seele von der Vergröberung ab. Sie erhalten
sie auf einer gewissen Höhe, wie der Stimmschlüssel die Saiten eines
Instrumentes. Aber Verfeinerung und Ausdehnung in Zeit und Raum dieses
Klanges bleibt doch einseitig und erschöpft die mögliche Wirkung der
Kunst nicht.
* * * * *
Ein großes, sehr großes, kleineres oder mittelgroßes Gebäude in
verschiedene Räume geteilt. Alle Wände der Räume mit kleinen, großen,
mittleren Leinwändern behängt. Oft mehrere Tausende von Leinwändern.
Darauf durch Anwendung der Farbe Stücke "Natur" gegeben:
Tiere in Licht und Schatten, Wasser trinkend, am Wasser stehend, im
Grase liegend, daneben eine Kreuzigung Christi, von einem Künstler
dargestellt, welcher an Christus nicht glaubt, Blumen, menschliche
Figuren sitzend, stehend, gehend, auch oft nackt, viele nackte Frauen
(oft in Verkürzung von hinten gesehen), Äpfel und silberne Schüsseln,
Porträt des Geheimrats N, Abendsonne, Dame in Rosa, fliegende Enten,
Porträt der Baronin X, fliegende Gänse, Dame in Weiß, Kälber im
Schatten mit grellgelben Sonnenflecken, Porträt Exzellenz Y, Dame in
Grün. Dieses alles ist sorgfältig in einem Buch gedruckt: Namen der
Künstler, Namen der Bilder. Menschen haben diese Bücher in der Hand und
gehen von einer Leinwand zur andern und blättern und lesen die Namen.
Dann gehen sie fort, ebenso arm oder reich, wie sie eintraten und
werden sofort von ihren Interessen, die gar nichts mit der Kunst zu tun
haben, absorbiert. Warum waren sie da? In jedem Bild ist geheimnisvoll
ein ganzes Leben eingeschlossen, ein ganzes Leben mit vielen Qualen,
Zweifeln, Stunden der Begeisterung und des Lichtes.
Wohin ist dieses Leben gerichtet? Wohin schreit die Seele des
Künstlers, wenn auch sie in der Schaffung tätig war? Was will
sie verkünden? "Licht in die Tiefe des menschlichen Herzens
senden--Künstlers Beruf", sagt Schumann. "Ein Maler ist ein Mensch,
welcher alles zeichnen und malen kann", sagt Tolstoi.
Von diesen zwei Definitionen der Tätigkeit des Künstlers müssen wir
die zweite wählen, wenn wir an die eben beschriebene Ausstellung
denken--mit mehr oder weniger Fertigkeit, Virtuosität und Brio
entstehen auf der Leinwand Gegenstände, die zueinander in gröberer
oder feinerer "Malerei" stehen. Die Harmonisierung des Ganzen auf der
Leinwand ist der Weg, welcher zum Kunstwerk führt. Mit kalten Augen und
gleichgültigem Gemüt wird dieses Werk beschaut. Die Kenner bewundern
die "Mache" (so wie man einen Seiltänzer bewundert), genießen die
"Malerei" (so wie man eine Pastete genießt).
Hungrige Seelen gehen hungrig ab.
Die große Menge schlendert durch die Säle und findet die Leinwänder
"nett" und "großartig". Mensch, der was sagen könnte, hat zum Menschen
nichts gesagt, und der, der hören könnte, hat nichts gehört.
Diesen Zustand der Kunst nennt man l'art pour l'art.
Dieses Vernichten der innerlichen Klänge, die der Farben Leben ist,
dieses Zerstreuen der Kräfte des Künstlers ins Leere ist "Kunst für
Kunst".
Für seine Geschicklichkeit, Erfindungs-und Empfindungskraft sucht sich
der Künstler in materieller Form den Lohn. Sein Zweck wird Befriedigung
des Ehrgeizes und der Habsucht. Statt einer vertieften gemeinsamen
Arbeit der Künstler entsteht ein Kampf um diese Güter. Man klagt
über zu große Konkurrenz und Überproduktion. Haß, Parteilichkeit,
Vereinsmeierei, Eifersucht, Intriguen werden zur Folge dieser
zweckberaubten, materialistischen Kunst[2].
Der Zuschauer wendet sich ruhig ab von dem Künstler, der in einer
zweckberaubten Kunst den Zweck seines Lebens nicht sieht, sondern
höhere Ziele vor sich hat.
"_Verstehen_" ist Heranbildung des Zuschauers auf den Standpunkt
des Künstlers. Oben wurde gesagt, daß die Kunst das Kind ihrer Zeit
ist. Eine derartige Kunst kann nur das künstlerisch wiederholen, was
schon die gegenwärtige Atmosphäre klar erfüllt. Diese Kunst, die
keine Potenzen der Zukunft in sich birgt, die also nur das Kind der
Zeit ist und nie zur Mutter der Zukunft heranwachsen wird, ist eine
kastrierte Kunst. Sie ist von kurzer Dauer und stirbt moralisch in dem
Augenblicke, wo die sie gebildet habende Atmosphäre sich ändert.
* * * * *
Die andere, zu weiteren Bildungen fähige Kunst wurzelt auch in ihrer
geistigen Periode, ist aber zur selben Zeit nicht nur Echo derselben
und Spiegel, sondern hat eine weckende _prophetische Kraft_, die weit
und tief wirken kann.
Das geistige Leben, zu dem auch die Kunst gehört und in dem sie eine
der mächtigsten Agentien ist, ist eine komplizierte aber bestimmte und
ins Einfache übersetzbare Bewegung vor- und aufwärts. Diese Bewegung
ist die der Erkenntnis. Sie kann verschiedene Formen annehmen, im
Grunde behält sie aber denselben inneren Sinn, Zweck.
In Dunkel gehüllt sind die Ursachen der Notwendigkeit, "im Schweiße
des Angesichts", durch Leiden, Böses und Qualen sich vor- und aufwärts
zu bewegen. Nachdem eine Station erreicht ist und manche bösen Steine
aus dem Wege geschafft sind, werden von einer üblen unsichtbaren Hand
neue Blöcke auf den Weg geworfen, welche manchmal scheinbar diesen Weg
gänzlich verschütten und unerkennbar machen.
Da kommt aber unfehlbar einer von uns Menschen, der in allem uns gleich
ist, aber eine geheimnisvoll in ihn gepflanzte Kraft des "Sehens" in
sich birgt.
Er sieht und zeigt. Dieser höheren Gabe, die ihm oft ein schweres
Kreuz ist, möchte er sich manchmal entledigen. Er kann es aber nicht.
Unter Spott und Haß zieht er die sich sträubende, in Steinen steckende
schwere Karre der Menschheit mit sich immer vor- und aufwärts.
Oft ist schon lange nichts von seinem körperlichen Ich auf Erden
geblieben, dann sucht man alle Mittel, dieses Körperliche aus Marmor,
Eisen, Bronze, Stein in gigantesken Größen wiederzugeben. Als ob etwas
läge an diesem _Körperlichen_ bei solchen göttlichen Menschendienern
und Märtyrern, die das Körperliche verachteten und nur dem _Geistigen_
dienten. Jedenfalls ist dieses Heranziehen des Marmors ein Beweis, daß
eine größere Menschenmenge zu dem Standpunkt angelangt ist, wo einst
der jetzt Gefeierte stand.
[Footnote 1: Leider wurde auch dieses Wort, welches die dichterischen
Bestrebungen einer lebendigen Künstlerseele zu bezeichnen hat,
mißhandelt und schließlich verspottet. Gab es je ein großes Wort,
welches die Menge nicht sofort zu entheiligen suchte?]
[Footnote 2: Die wenigen einzeln stehenden Ausnahmen zerstören dieses
trostlose, verhängnisvolle Bild nicht, und auch diese Ausnahmen sind
hauptsächlich Künstler, deren Credo das l'art pour l'art ist. Sie
dienen also einem höheren Ideale, welches im _ganzen_ ein zielloses
Zerstreuen ihrer Kraft ist. Äußere Schönheit ist ein die geistige
Atmosphäre bildendes Element. Es hat aber außer der positiven Seite
(da Schönes = Gutes ist) den Mangel des nicht erschöpfend ausgenützten
Talentes--(Talent im Sinne des Evangeliums).]
[Illustration]
II.
DIE BEWEGUNG
Ein großes spitzes Dreieck in ungleiche Teile geteilt, mit der
spitzesten, kleinsten Abteilung nach oben gewendet--ist das geistige
Leben schematisch richtig dargestellt. Je mehr nach unten, desto
größer, breiter, umfangreicher und höher werden die Abteilungen des
Dreiecks.
Das ganze Dreieck bewegt sich langsam, kaum sichtbar nach vor-und
aufwärts, und wo "heute" die höchste Spitze war, ist "morgen"[1] die
nächste Abteilung, d. h. was heute nur der obersten Spitze verständlich
ist, was dem ganzen übrigen Dreieck eine unverständliche Faselei ist,
wird morgen zum sinn- und gefühlvollen Inhalt des Lebens der zweiten
Abteilung.
An der Spitze der obersten Spitze steht manchmal allein nur ein Mensch.
Sein freudiges Sehen ist der inneren unermeßlichen Trauer gleich. Und
die, die ihm am nächsten stehen, verstehen ihn nicht. Entrüstet nennen
sie ihn: Schwindler oder Irrenhauskandidaten. So stand beschimpft zu
seinen Lebzeiten auf der Höhe Beethoven allein[2]. Wie viele Jahre
wurden gebraucht, bis eine größere Abteilung des Dreiecks an die Stelle
gelangte, wo er einst einsam stand. Und trotz allen Denkmälern--sind
denn wirklich viele bis an diese Stelle empor gestiegen[3]?
In allen Abteilungen des Dreiecks sind Künstler zu finden. Jeder
von denselben, der über die Grenzen seiner Abteilung hinaufblicken
kann, ist ein Prophet seiner Umgebung und hilft der Bewegung, der
widerspenstigen Karre. Wenn er aber nicht dieses scharfe Auge besitzt,
oder dasselbe aus niedren Zwecken und Gründen mißbraucht oder schließt,
dann wird er von allen seinen Abteilungsgenossen völlig verstanden
und gefeiert. Je größer diese Abteilung ist (also je tiefer sie
gleichzeitig liegt), desto größer ist die Menge, der des Künstlers Rede
verständlich ist. Es ist klar, daß eine jede solche Abteilung nach
dem entsprechenden geistigen Brot bewußt oder (viel öfter) gänzlich
unbewußt hungert. Dieses Brot wird ihr von ihren Künstlern gereicht und
nach diesem Brot wird morgen schon die nächste Abteilung greifen.
* * * * *
Diese schematische Darstellung erschöpft freilich das ganze Bild des
geistigen Lebens nicht. Unter anderem zeigt sie eine Schattenseite
nicht, einen großen toten _schwarzen Fleck_. Es geschieht eben zu oft,
daß das erwähnte geistige Brot zur Nahrung manchen wird, die schon in
einer höheren Abteilung leben. Für solche Esser wird dieses Brot zu
Gift: in kleiner Dosis wirkt es so, daß die Seele aus einer höheren
Abteilung in eine niedere allmählich sinkt; in großer Dosis genossen,
bringt dieses Gift zu einem Sturz, welcher in immer tiefere und
tiefere Abteilungen die Seele wirft. Sienkiewicz vergleicht in einem
seiner Romane das geistige Leben mit Schwimmen: wer nicht unermüdlich
arbeitet und mit dem Sinken fortwährend kämpft, der geht unfehlbar
unter. Hier kann die Begabung eines Menschen, das "Talent" (im Sinne
des Evangeliums) zum Fluch--nicht nur des dieses Talent tragenden
Künstlers, sondern auch für alle diejenigen, werden, die von diesem
giftigen Brot essen. Der Künstler braucht seine Kraft, um niederen
Bedürfnissen zu schmeicheln; in einer angeblichen künstlerischen Form
bringt er einen unreinen Inhalt, er zieht die schwachen Elemente an
sich, vermengt sie ständig mit schlechten, betrügt die Menschen und
hilft ihnen, sich zu betrügen, indem sie sich und andere überzeugen,
daß sie geistigen Durst haben, daß sie von der reinen Quelle diesen
geistigen Durst stillen. Derartige Werke verhelfen nicht der Bewegung
nach aufwärts, sie hemmen sie, drängen das Vorwärtsstrebende zurück und
verbreiten Pest um sich.
Solche Perioden, in welchen die Kunst keinen hochstehenden Vertreter
hat, in welchen das verklärte Brot ausbleibt, sind _Perioden des
Niederganges_ in der geistigen Welt. Unaufhörlich fallen Seelen
aus höheren Abteilungen in tiefere, und das ganze Dreieck scheint
unbeweglich zu stehen. Es scheint sich ab- und rückwärts zu
bewegen. Die Menschen legen zu diesen stummen und blinden Zeiten
einen besonderen ausschließlichen Wert auf äußerliche Erfolge, sie
kümmern sich nur um materielle Güter und begrüßen einen technischen
Fortschritt, welcher nur dem Leibe dient und dienen kann, als
eine große Tat. Die rein geistigen Kräfte werden im besten Falle
unterschätzt, sonst überhaupt nicht bemerkt.
Die vereinsamten Hungerer und Seher werden verspottet oder für geistig
anormal gehalten. Die seltenen Seelen aber, die nicht in Schlaf gehüllt
werden können und dunkles Verlangen nach geistigem Leben, Wissen und
Vorschreiten fühlen, klingen im groben materiellen Chorus, trostlos und
klagend. Die geistige Nacht sinkt allmählich tiefer und tiefer. Grauer
und grauer wird es um solche erschrockene Seelen, und ihre Träger,
von Zweifeln und Angst gepeinigt und entkräftet, ziehen oft diesem
allmählichen Verdunkeln um sie den plötzlichen, gewaltsamen Sturz ins
Schwarze vor.
Die Kunst, die zu solchen Zeiten ein erniedrigtes Leben führt, wird
ausschließlich zu materiellen Zwecken gebraucht. Sie sucht ihren
inhaltlichen Stoff in der _harten Materie_, da sie die feine nicht
kennt. Die Gegenstände, die wiederzugeben sie für ihr einziges Ziel
hält, bleiben unverändert dieselben. Das "Was" in der Kunst fällt eo
ipso aus. Nur die Frage, "wie" derselbe körperliche Gegenstand zum
Künstler wiedergegeben wird, bleibt allein da. Diese Frage wird zum
"Credo". Die Kunst ist entseelt.
Auf diesem Wege "Wie" geht die Kunst weiter. Sie spezialisiert sich,
wird nur den Künstlern selbst verständlich, die über Indifferenz
des Zuschauers zu ihren Werken zu klagen anfangen. Da der Künstler
durchschnittlich zu solchen Zeiten nicht viel sagen braucht und schon
durch ein geringes "Anders" bemerkt wird und von gewissen Häufchen
Mäzenen und Kunstkennern dadurch hervorgehoben wird (was weiter
eventuell große materielle Güter mitbringt!), so stürzt sich eine
große Menge äußerlich begabter, gewandter Menschen auf die Kunst, die
scheinbar so einfach zu erobern ist. In jedem "Kunstzentrum" leben
Tausende und Abertausende solcher Künstler, von denen die Mehrzahl
nur nach neuer Manier sucht und ohne Begeisterung mit kaltem Herzen,
schlafender Seele Millionen von Kunstwerken schafft.
Die "Konkurrenz" nimmt zu. Das wilde Jagen nach Erfolg macht die
Suche immer äußerlicher. Kleine Gruppen, die sich zufällig aus diesem
Künstler- und Bilderchaos durchgearbeitet haben, verschanzen sich
in ihren eroberten Stätten. Das zurückgebliebene Publikum schaut
verständnislos zu, verliert das Interesse für eine derartige Kunst und
dreht ihr ruhig den Rücken.
Aber trotz aller Verblendung, trotz diesem Chaos und dem wilden Jagen
bewegt sich in Wirklichkeit langsam, aber sicher, mit unüberwindlicher
Kraft das geistige Dreieck vor- und aufwärts.
Der unsichtbare Moses kommt vom Berge, sieht den Tanz um das goldene
Kalb. Aber doch bringt er eine neue Weisheit mit sich zu den Menschen.
Seine für Massen unhörbare Sprache wird zuerst doch vom Künstler
gehört. Erst unbewußt für sich selbst nicht bemerklich, folgt er
dem Rufe. Schon in derselben Frage "Wie" liegt ein verborgener Kern
der Genesung. Wenn dieses "Wie" auch im großen und ganzen fruchtlos
bleibt, so ist doch im selben "Anders" (was wir auch noch heute
"Persönlichkeit" nennen) eine Möglichkeit vorhanden, nicht das rein
harte Materielle allein am Gegenstande zu sehen, sondern auch noch
das, was weniger körperlich als der Gegenstand der realistischen
Periode ist, den man allein und "so wie er ist", "ohne zu phantasieren"
wiederzugeben versuchte[4].
Wenn weiter dieses "Wie" auch die Seelenemotion des Künstlers
einschließt und fähig ist, sein feineres Erlebnis auszuströmen, so
stellt sich schon die Kunst an die Schwelle des Weges, auf welchem sie
später unfehlbar das verlorne "Was" wiederfindet, das "Was", welches
das geistige Brot des jetzt beginnenden geistigen Erwachens bilden
wird. Dieses "Was" wird nicht mehr das materielle, gegenständliche
"Was" der hintengebliebenen Periode sein, sondern ein _künstlerischer
Inhalt_, die Seele der Kunst, ohne welche ihr Körper (das "Wie") nie
ein volles gesundes Leben führen kann, ebenso wie der einzelne Mensch
oder ein Volk.
[Illustration: Mosaik in S. Vitale]
_Dieses Was ist der Inhalt, welchen nur die Kunst in sich fassen kann,
und welchen nur die Kunst zum klaren Ausdruck bringen kann durch die
nur ihr gehörenden Mittel._
[Footnote 1: Dieses "Heute" und "Morgen" ist im Inneren den biblischen
"Tagen" der Schöpfung ähnlich.]
[Footnote 2: Weber, der Komponist des "Freischütz", meinte von
derselben (d. h. die VII. Symphonie Beethovens): "Nun haben die
Extravaganzen dieses Genius das Nonplusultra erreicht; Beethoven ist
nun ganz reif fürs Irrenhaus." Bei der spannenden Stelle zu Beginn
des ersten Satzes auf pochendem "e" rief Abbé Stadler, als er sie zum
ersten Male hörte, einem Nachbar zu: "Es kommt immer noch das--"e"--es
fällt ihm eb'n nix ein, dem talentlosen Kerl!" ("Beethoven" von August
Göllerich, siehe S. 1 in der Serie "Die Musik", herausgegeben von R.
Strauß.)]
[Footnote 3: Sind nicht manche Denkmäler eine traurige Antwort auf
diese Frage?]
[Footnote 4: Es ist hier oft die Rede vom Materiellen und
Nichtmateriellen und von den Zwischenzuständen, die "mehr oder weniger"
materiell bezeichnet werden. Ist _alles_ Materie? Ist _alles_ Geist?
Können die Unterschiede, die wir zwischen Materie und Geist legen,
nicht nur Abstufungen nur der Materie sein oder nur des Geistes? Der
als Produkt das "Geistes" in positiver Wissenschaft bezeichnete Gedanke
ist auch Materie, die aber nicht groben, sondern feinen Sinnen fühlbar
ist. Was die körperliche Hand nicht betasten kann, ist das Geist? In
dieser kleinen Schrift kann nicht darüber weiter geredet werden, und es
genügt, wenn keine zu scharfen Grenzen gezogen werden.]
[Illustration]
III.
GEISTIGE WENDUNG
Das geistige Dreieck bewegt sich langsam nach vor- und aufwärts. Heute
erreicht eine der untersten größten Abteilungen die ersten Schlagworte
des materialistischen "Credo"--religiös führen ihre Einwohner
verschiedene Titel. Sie heißen Juden, Katholiken, Protestanten usw.
In Wirklichkeit sind sie Atheisten, was einige der Kühnsten oder
Beschränktesten auch offen bekennen. Der "Himmel" ist entleert. "Gott
ist gestorben". Politisch sind diese Einwohner Volksvertretungsanhänger
oder Republikaner. Die Angst, den Abscheu und Haß, welchen sie gestern
gegen diese politischen Ansichten hegten, haben sie heute auf die
Anarchie übertragen, die sie nicht kennen und von welcher ihnen
nur der schreckeinflößende Name bekannt ist. Ökonomisch sind diese
Menschen--Sozialisten. Sie schärfen das Schwert der Gerechtigkeit, um
der kapitalistischen Hydra den tödlichen Hieb zu versetzen und das
Haupt des Übels abzuhauen.
Da diese Einwohner dieses großen Abteiles des Dreiecks nie selbständig
zur Lösung einer Frage gekommen sind und stets in der menschlichen
Karre durch sich selbst opfernde Mitmenschen, die stets hoch über ihnen
standen, gezogen wurden, so wissen sie nichts von diesem Schieben,
welches sie stets nur aus großer Entfernung beobachtet haben. Sie
stellen sich deswegen das Schieben sehr leicht vor und glauben an
einwandfreie Rezepte und an unfehlbar wirkende Mittel.
Die folgende tieferliegende Abteilung wird von der oben beschriebenen
blindlings auf diese Höhe gezogen. Hält sie aber noch fest an der alten
Stelle, sträubt sich vor Angst, ins Unbekannte zu geraten, um nicht
betrogen zu werden.
Die höheren Abteilungen sind religiös nicht nur blind atheistisch,
sondern sie können ihre Gottlosigkeit durch fremde Worte begründen
(z. B. Virchows eines Gelehrten nicht würdigen Satz: Ich habe viele
Leichen seziert und nie dabei eine Seele entdeckt.) Politisch sind sie
noch öfter Republikaner, kennen verschiedene parlamentarische Bräuche,
lesen in den Zeitungen die politischen Leitartikel. Ökonomisch sind sie
Sozialisten verschiedener Nuancen und können ihre "Überzeugungen" durch
viele Zitate unterstützen. (Von Schweitzers "Emma", durch das "Eherne
Gesetz" von Lasalle, zum Marxschen "Kapital" und noch viel weiter.)
In diesen höheren Abteilungen kommen allmählich noch andere Rubriken
vor, die in den eben beschriebenen fehlten: Wissenschaft und Kunst,
wozu auch Literatur und Musik gehören.
Wissenschaftlich sind diese Menschen Positivisten und anerkennen nur
das, was gewogen, gemessen werden kann. Das übrige halten sie für
denselben manchmal schädlichen Unsinn, für welchen sie gestern die
heute "erwiesenen" Theorien hielten.
In der Kunst sind sie Naturalisten, wobei sie bis zu einer gewissen
Grenze, die von anderen gezogen wurde und an die sie deswegen
unerschütterlich glauben, Persönlichkeit, Individualität und
Temperament des Künstlers anerkennen und auch schätzen.
* * * * *
In diesen höheren Abteilungen ist trotz der sichtbar großen Ordnung,
Sicherheit und trotz den Prinzipien, die unfehlbar sind, jedoch
eine versteckte _Angst_ zu finden, eine Verwirrung, ein Wackeln und
eine Unsicherheit, wie in den Köpfen der Passagiere eines großen,
festen überseeischen Dampfers, wenn auf der hohen See bei in Nebeln
verschwundenem festen Land sich schwarze Wolken sammeln und der düstere
Wind das Wasser zu schwarzen Bergen auftürmt. Und dies ist dank ihrer
Bildung. Sie wissen, daß der heute angebetete Gelehrte, Staatsmann,
Künstler noch gestern ein ausgespotteter, keines ernsten Blickes
würdiger Streber, Schwindler, Pfuscher war.
Und je höher in dem geistigen Dreieck, desto sichtbarer tritt mit
ihren scharfen Kanten diese Angst, die Unsicherheit zutage. Erstens
finden sich hier und da Augen, die auch selbst sehen können, Köpfe,
die zu Zusammenstellungen fähig sind. Derartig begabte Menschen fragen
sich: Wenn diese Weisheit von vorgestern durch diese von gestern und
die letztere von der von heute umgeworfen wurde--kann es dann nicht
auch irgendwie möglich sein, daß die von heute von der von morgen auch
umgeschmissen wird. Und die Mutigsten von ihnen antworten: "Es liegt im
Bereiche der Möglichkeiten."
Zweitens finden sich Augen, die das sehen können, was von der heutigen
Wissenschaft "noch nicht erklärt" wurde. Derartige Menschen fragen
sich: "Wird die Wissenschaft auf dem Wege, auf welchem sie schon lange
sich bewegt, zur Lösung dieser Rätsel kommen? Und wenn sie dazu kommt,
wird man sich auf ihre Antwort verlassen können?"
In diesen Abteilungen befinden sich auch professionelle Gelehrte,
welche sich erinnern können, wie jetzt feststehende, von Akademien
anerkannte Tatsachen von denselben Akademien im Anfang begrüßt
wurden. Hier befinden sich auch Kunstgelehrte, die anerkennungsvolle
tiefsinnige Bücher schreiben über die Kunst, die gestern unsinnig
war. Durch diese Bücher nehmen sie die Schranken weg, über welche
die Kunst ihren Sprung längst gemacht hat und stellen neue auf, die
diesmal fest und für alle Zeiten auf dem neuen Platze bleiben sollen.
Bei dieser Beschäftigung merken sie nicht, daß sie die Schranken nicht
vor, sondern hinter der Kunst bauen. Wenn sie es morgen bemerken,
so schreiben sie neue Bücher und verlegen geschwind ihre Schranken
weiter. Und diese Beschäftigung wird so lange ohne Veränderung bleiben,
bis eingesehen wird, daß das äußere Prinzip der Kunst nur für die
Vergangenheit gelten kann und nie für die Zukunft. Es kann keine
Theorie dieses Prinzips für den weiteren im Reiche des Nichtmateriellen
liegenden Weg geben. Es kann sich materiell nicht kristallisieren
das, was materiell noch nicht existiert. Der in das Reich von morgen
führende Geist kann nur durch Gefühl (wozu das Talent des Künstlers
die Bahn ist) erkannt werden. Die Theorie ist die Laterne, die die
kristallisierten Formen des Gestern und des vor dem Gestern liegenden
beleuchtet. (Siehe Weiteres darüber in Kap. VII. Theorie.)
Und wenn wir noch höher steigen, so sehen wir noch größere Verwirrung,
wie in einer großen, fest nach allen architektonisch mathematischen
Regeln gebauten Stadt, welche plötzlich von einer unermeßbaren Kraft
geschüttelt wird. Die Menschen, die hier leben, leben wirklich in so
einer geistigen Stadt, wo plötzlich solche Kräfte wirken, mit welchen
die geistigen Architekten und Mathematiker nicht gerechnet haben. Hier
ist ein Teil von der dicken Mauer wie ein Kartenhäuschen gefallen. Da
liegt ein zum Himmel reichender, kolossaler, aus vielen spitzenartigen,
aber "unsterblichen" geistigen Pfeilern gebauter Turm in Trümmern. Der
alte vergessene Friedhof bebt. Alte vergessene Gräber öffnen sich, und
vergessene Geister heben sich aus ihnen. Die so kunstvoll gezimmerte
Sonne zeigt Flecken und verfinstert sich und wo ist der Ersatz zum
Kampf mit der Finsternis?
In dieser Stadt leben auch taube Menschen, die fremde Weisheit betäubt
hat, die keinen Sturz hören, die auch blind sind, da sie fremde
Weisheit geblendet hat, und die sagen: Unsere Sonne wird immer heller,
und bald sehen wir die letzten Flecken verschwinden. Aber auch diese
Menschen werden hören und sehen.
Und noch höher ist _keine Angst_ mehr zu finden. Da geht eine Arbeit,
die kühn an den von den Menschen gestellten Pfeilern rüttelt. Hier
finden wir auch professionelle Gelehrte, die die Materie wieder und
wieder prüfen, die keine Angst haben, vor keiner Frage, und die endlich
die Materie, auf welcher noch gestern alles ruhte und das ganze Weltall
gestützt wurde, in Zweifel stellen. Die Theorie der Elektronen, d. h.
der bewegten Elektrizität, die die Materie vollständig ersetzen soll,
findet momentan kühne Konstruktoren, die hier und da über die Grenze
der Vorsicht gehen und an der Eroberung der neuen wissenschaftlichen
Burg zugrunde gehen, wie sich vergessende, sich den andern opfernde
Soldaten bei dem verzweifelten Sturm einer hartnäckigen Festung.
Aber--"es gibt keine Festung, die man nicht nehmen kann".
* * * * *
Andererseits vermehren sich oder werden nur öfter bekannt solche
_Tatsachen_, die die gestrige Wissenschaft mit dem gewohnten Wort
"Schwindel" begrüßte. Sogar Zeitungen, diese größtenteils gehorsamsten
Diener des Erfolgs und der Plebs, die den Handel mit "was ihr wollt"
treiben, finden sich gezwungen, in manchen Fällen den ironischen Ton
ihrer Berichte der "Wunder" zu beschränken und auch gar zu unterlassen.
Verschiedene Gelehrte, unter welchen sich reinste Materialisten
befanden, widmen ihre Kräfte der wissenschaftlichen Untersuchung der
rätselhaften Tatsachen, die nicht mehr zu leugnen, nicht mehr zu
verschweigen sind[1].
* * * * *
Andererseits endlich mehrt sich die Anzahl der Menschen, welche keine
Hoffnung setzen auf die Methoden der materialistischen Wissenschaft
in Fragen, die mit "Nichtmaterie" oder einer Materie zu tun haben,
die unseren Sinnen nicht zugänglich sind. Und ebenso wie in der
Kunst, welche bei den Primitiven Hilfe sucht, wenden sich diese
Menschen halbvergessenen Zeiten zu mit ihren halbvergessenen Methoden,
um da Hilfe zu finden. Diese Methoden sind aber noch lebendig bei
Völkern, auf welche wir von der Höhe unserer Kenntnisse mitleidig und
verächtlich zu schauen gewohnt waren.
Zu diesen Völkern gehören z. B. die Inder, welche von Zeit zu Zeit
rätselhafte Tatsachen vor die Augen der Gelehrten unserer Kultur
stellen, Tatsachen, die entweder nicht beachtet wurden oder welche
man wie lästige Fliegen durch oberflächliche Erklärungen und Worte[2]
zu scheuchen versuchte. Die Frau H. P. Blawatzky war wohl die erste,
die nach langjährigen Aufenthalten in Indien ein festes Band zwischen
diesen "Wilden" und unserer Kultur gebunden hat. Von hier ab beginnt
in dieser Beziehung eine der größten geistigen Bewegungen, die heute
eine große Anzahl von Menschen vereinigt und sogar eine materielle Form
dieser geistigen Einigung in "Theosophischer Gesellschaft" gebildet
hat. Diese Gesellschaft besteht aus Logen, die auf dem Wege der inneren
Erkenntnis sich den Problemen des Geistes zu nähern versuchen. Ihre
Methoden, die einen vollen Gegensatz zu den positiven bilden, sind im
Ausgangspunkte dem schon Dagewesenen entliehen und werden wieder in
eine verhältnismäßig präzise Form gebracht[3].
[Illustration: V. und H. Dünwegge. Kreuzigung Christi.]
Die theosophische Theorie, die zum Grund dieser Bewegung dient,
wurde von Blawatzky aufgestellt in einer katechismusartigen Form,
wo der Schüler präzise Antworten des Theosophen auf seine Fragen
bekommt[4]. Theosophie ist nach den Worten Blawatzkys gleichbedeutend
mit _ewigwährender Wahrheit_. (S. 248). "Ein neuer Sendbote der
Wahrheit wird von der theosophischen Gesellschaft die Menschheit
für seine Botschaft vorbereitet finden: es wird eine Ausdrucksform
geben, in die er die neuen Wahrheiten wird kleiden können, eine
Organisation, die in einer gewissen Beziehung seine Ankunft erwartet,
um dann die materiellen Hindernisse und Schwierigkeiten von seinem
Wege hinwegzuheben" (S. 250). Und da nimmt Blawatzky an, "daß im
einundzwanzigsten Jahrhundert die Erde ein Himmel sein werde im
Vergleich zu dem, was sie gegenwärtig ist"--damit schließt sie ihr Buch.
Und jedenfalls, wenn auch die Neigung der Theosophen zur Schaffung
einer Theorie, und die etwas voreilige Freude, bald Antwort auf die
Stelle des ewigen immensen Fragezeichens stellen zu können, leicht den
Beobachter etwas skeptisch stimmen kann, so bleibt doch die große, doch
_geistige_ Bewegung da, welche in der geistigen Atmosphäre ein starkes
Agens ist und die auch in dieser Form als Erlösungsklang zu manchem
verzweifelten in Finsternis und Nacht gehüllten Herzen gelangen wird,
doch erscheint damit eine Hand, die zeigt und Hilfe bietet.
* * * * *
Wenn die Religion, Wissenschaft und Moral (die letzte durch die starke
Hand Nietzsches) gerüttelt werden, und wenn die äußeren Stützen zu
fallen drohen, wendet der Mensch seinen Blick von der Äußerlichkeit ab
und _sich selbst zu_.
Die Literatur, Musik und Kunst sind die ersten empfindlichsten Gebiete,
wo sich diese geistige Wendung bemerkbar macht in realer Form. Diese
Gebiete spiegeln das düstere Bild der Gegenwart sofort ab, sie erraten
das Große, was erst als ein kleines Pünktchen nur von wenigen bemerkt
wird und für die große Menge nicht existiert.
Sie spiegeln die große Finsternis, die erst kaum angedeutet
hervor-tritt. Sie verfinstern sich selbst und verdüstern sich.
Andererseits wenden sie sich ab von dem seelenberaubten Inhalt des
gegenwärtigen Lebens und wenden sich zu Stoffen und Umgebungen,
die freie Hand lassen dem nichtmateriellen Streben und Suchen der
dürstenden Seele.
Einer von solchen Dichtern auf dem Gebiete der _Literatur_ ist
Maeterlink. Er führte uns in die Welt, die man phantastisch oder
richtiger übersinnlich nennt. Seine Princesse Maleine, Sept Princesses,
Les Aveugles usw. usw. sind _keine Menschen_ vergangener Zeiten, wie
uns die stilisierten Helden Shakespeares vorkommen. Es sind direkt
Seelen, die in Nebeln suchen, von Nebeln erstickt zu werden bedroht
sind, über welchen eine unsichtbare, düstere Macht schwebt. Die
geistige Finsternis, Unsicherheit des Nichtwissens und die Angst vor
demselben sind die Welt seiner Helden. So ist Maeterlink vielleicht
einer der ersten Propheten, der ersten künstlerischen Berichterstatter
und Hellseher des oben beschriebenen Niederganges. Die Verdüsterung der
geistigen Atmosphäre, die zerstörende und gleichzeitig führende Hand,
und die verzweifelte Angst vor ihr, der verlorene Weg, der vermißte
Führer spiegeln sich deutlich in diesen Werken[5].
Diese Atmosphäre bildet er hauptsächlich durch reinkünstlerische
Mittel, wobei die materiellen Mittel (düstere Burgen, Mondnächte,
Sümpfe, Wind, Eulen usw.) eine mehr symbolische Rolle spielen und mehr
als innerer Laut angewendet werden[6].
Das Hauptmittel von Maeterlink ist die Anwendung des Wortes.
_Das Wort ist ein innerer Klang_. Dieser innere Klang entspringt
teilweise (vielleicht hauptsächlich) dem Gegenstand, welchem das Wort
zum Namen dient. Wenn aber der Gegenstand nicht selbst gesehen wird,
sondern nur sein Name gehört wird, so entsteht im Kopfe des Hörers die
abstrakte Vorstellung, der dematerialisierte Gegenstand, welcher im
"Herzen" eine Vibration sofort hervorruft. So ist der _grüne, gelbe,
rote Baum_ auf der Wiese nur ein materieller Fall, eine zufällige
materialisierte Form des Baumes, welchen wir in uns fühlen, wenn wir
das Wort Baum hören. Geschickte Anwendung wendung (nach dichterischem
_Gefühl_) eines Wortes, eine _innerlich_ nötige Wiederholung desselben
zweimal, dreimal, mehrere Male nacheinander, kann nicht nur zum Wachsen
des inneren Klanges führen, sondern noch andere nicht geahnte geistige
Eigenschaften des Wortes zutage bringen. Schließlich bei öfterer
Wiederholung des Wortes (beliebtes Spiel der Jugend, welches später
vergessen wird) verliert es den äußeren Sinn der Benennung. Ebenso
wird sogar der abstrakt gewordene Sinn des bezeichneten Gegenstandes
vergessen und nur der reine _Klang_ des Wortes entblößt. Diesen
"reinen" Klang hören wir vielleicht unbewußt auch im Zusammenklange
mit dem realen oder später abstrakt gewordenen Gegenstande. Im
letzten Falle aber tritt dieser reine Klang in den Vordergrund und
übt einen direkten Druck auf die Seele aus. Die Seele kommt zu einer
gegenstandslosen Vibration, die noch komplizierter, ich möchte sagen
"übersinnlicher" ist, als eine Seelenerschütterung von einer Glocke,
einer klingenden Saite, einem gefallenen Brette usw. Hier öffnen sich
große Möglichkeiten für die Zukunftsliteratur. In embryonaler Form wird
diese Kraft des Wortes, z. B. schon in den "Serres chaudes" angewendet.
In Maeterlinks Anwendung klingt deswegen düster ein Wort, welches auf
den ersten Eindruck neutral erscheint. Ein einfaches, gewohntes Wort
(wie z. B. Haare) kann in richtig _gefühlter_ Anwendung die Atmosphäre
von Trostlosigkeit, Verzweiflung verbreiten. Und dies ist das Mittel
Maeterlinks. Er zeigt den Weg, auf welchem man bald sieht, daß Donner,
Blitz und Mond hinter jagenden Wolken äußerliche materielle Mittel
sind, welches auf der Bühne noch mehr wie in der Natur "dem schwarzen
Mann" der Kinder gleichen. Wirkliche innere Mittel verlieren nicht so
leicht ihre Kraft und Wirkung[7]. Und das _Wort_, welches also zwei
Bedeutungen hat--die erste direkte und zweite innere--, ist das reine
Material der _Dichtung_ und der Literatur, das Material, welches nur
diese Kunst anwenden kann, und durch welches sie zur Seele spricht.
Etwas Ähnliches tat in der _Musik_ R. Wagner. Sein berühmtes Leitmotiv
ist ebenso eine Bestrebung, den Helden nicht nur durch theatralische
Ausrüstungen, Schminken und Lichteffekte zu charakterisieren,
sondern durch ein gewisses, präzises _Motiv_, also durch ein rein
_musikalisches Mittel_. Dieses Motiv ist eine Art musikalisch
ausgedrückter geistiger Atmosphäre, die dem Helden voraus-geht, die er
also auf Entfernung geistig ausströmt[8].
Die modernsten Musiker, wie _Debussy_, bringen _geistige_ Impressionen,
die sie oft aus der Natur entnehmen und in rein musikalischer Form in
geistige Bilder verwandeln. Gerade Debussy wird deswegen oft mit den
Impressionisten-Malern verglichen, indem man behauptet, daß er diesen
Malern gleich in großen persönlichen Zügen die Naturerscheinungen zum
Zweck seiner Stücke macht. Die Wahrheit, die in dieser Behauptung
liegt, ist nur ein Beispiel dafür, daß verschiedene Künste zu unserer
Zeit beieinander lernen und in Zielen oft einander gleichen. Es wäre
aber kühn zu behaupten, daß in der gebrachten Definierung Debussys
Bedeutung erschöpfend dargestellt ist. Trotz dem Berührungspunkt
mit den Impressionisten ist der Drang dieses Musikers zum inneren
Inhalt dermaßen stark, daß man in seinen Werken sofort die gesprungen
klingende Seele des Gegenwärtigen erkennt mit allen peinigenden Leiden
und erschütterten Nerven. Und andererseits braucht Debussy auch in
den "impressionistischen" Bildern nie eine ganze materielle Note, die
das Charakteristische der Programmusik ist, sondern bleibt bei der
Ausnützung des _inneren_ Wertes der Erscheinung.
Einen großen Einfluß auf Debussy hat die russische Musik gehabt
(Mussorgsky). So ist es nicht verwunderlich, daß er eine gewisse
Verwandtschaft mit den jungen russischen Komponisten hat, zu welchen
in erster Linie Skrjabin gerechnet werden muß. Es ist ein verwandter
innerer Klang in den Kompositionen der beiden. Und derselbe Fehler
verstimmt oft den Zuhörer. D. h. manchmal werden beide Komponisten ganz
plötzlich aus dem Bereiche der "neuen" "Häßlichkeiten" herausgerissen
und folgen dem Reize der mehr oder weniger konventionellen "Schönheit".
Der Zuhörer fühlt sich oft im wirklichen Sinne beleidigt, da er wie
ein Tennisball fortwährend über das Netz geschleudert wird, über das
Netz, welches die zwei gegnerischen Parteien trennt: die Partei des
äußeren "Schönen" und die des inneren "Schönen". Dieses innere Schöne
ist das Schöne, welches mit Verzicht auf das gewohnte Schöne aus
befehlender innerer Notwendigkeit angewendet wird. Dem nicht daran
Gewöhnten erscheint _natürlich_ dieses innere Schöne häßlich, da der
Mensch im allgemeinen zum Äußeren neigt und nicht gerne die innere
Notwendigkeit erkennt. (Und das ganz besonders heute!) Mit diesem
vollen Verzicht auf das gewohnte Schöne, _alle_ Mittel, die zum Zwecke
der Selbstäußerung führen, heilig heißend, geht heute noch allein,
nur von wenigen begeistert anerkannt, der Wiener Komponist Arnold
Schönberg. Dieser "Reklamemacher", "Schwindler" und "Pfuscher" sagt in
seiner Harmonielehre: "... jeder Zusammenklang, jede Fortschreitung
ist möglich. Ich fühle aber bereits heute, daß es auch hier gewisse
Bedingungen gibt, von denen es abhängt, ob ich diese oder jene
Dissonanz verwende"[9].
Hier fühlt Schönberg genau, daß die größte Freiheit, welche die freie
und unbedingte Atmungsluft der Kunst ist, nicht absolut sein kann.
Jeder Epoche ist ein eigenes Maß dieser Freiheit gemessen. Und über die
Grenzen _dieser_ Freiheit vermag die genialste Kraft nicht zu springen.
Aber _dieses_ Maß muß jedenfalls erschöpft werden und wird jedesmal
erschöpft. Es mag die widerspenstige Karre sich sträuben wie sie will!
Diese Freiheit zu erschöpfen sucht auch Schönberg, und auf dem Wege zum
innerlich Notwendigen hat er schon Goldgruben der _neuen Schönheit_
entdeckt. Schönbergsche Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo
die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern _rein
seelische_. Hier beginnt die "Zukunftsmusik".
Nach den idealistischen Idealen kommen die diese ablösenden
impressionistischen Bestrebungen in der _Malerei_. Die letzteren enden
in ihrer dogmatischen Form und rein naturalistischen Zielen in der
Theorie des Neo-Impressionismus, welcher zur selben Zeit ins Abstrakte
greift: Seine Theorie ist (eine von ihm als universal angesehene
Methode), nicht das zufällige Stück Natur auf Leinwand zu fixieren,
sondern die ganze Natur in ihrer Glanz-und Prachterscheinung zu
bringen[10].
[Illustration: Dürer. Beweinung Christi.]
Ziemlich zur selben Zeit bemerken wir drei ganz andere Erscheinungen:
1. Rosetti und seinen Schüler Burne-Jones mit der Reihe ihrer
Nachfolger, 2. Böcklin mit dem von ihm entsprungenen Stuck und ihren
Nachfolgern und 3. Segantini, dem auch die formellen Nachahmer eine
nichtswürdige Schleppe bilden.
Gerade diese drei Namen wurden gewählt als Charakteristik des
Suchens auf nicht materiellen Gebieten. Rosetti wandte sich zu den
Präraffaeliten und suchte ihre abstrakten Formen wieder zum Leben
zu bringen. Böcklin ging auf das Gebiet des Mythologischen und des
Märchenhaften, wobei er im Gegensatz zu Rosetti in stark entwickelte
materielle körperliche Formen seine abstrakten Gestalten kleidete.
Segantini, der in dieser Reihe äußerlich der materiellste ist, nahm
ganz fertige Naturformen, die er manchmal ins kleinste durcharbeitete
(z. B. Bergketten, auch Steine, Tiere usw.), und immer verstand er,
trotz der sichtbar materiellen Form, abstrakte Gestalten zu schaffen,
wodurch er innerlich vielleicht der unmateriellste dieser Reihe ist.
Das sind die Sucher des Inneren im Äußeren.
Auf eine andere Art, die den _reinen_ malerischen Mitteln näher
steht, ging zu ähnlicher Aufgabe der Sucher des neuen Gesetzes der
Form--_Cézanne_. Er verstand aus einer Teetasse ein beseeltes Wesen
zu schaffen oder richtiger gesagt, in dieser Tasse ein Wesen zu
erkennen. Er hebt die "nature morte" zu einer Höhe, wo die äußerlich
"toten" Sachen innerlich lebendig werden. Er behandelt diese Sachen
ebenso wie den Menschen, da er das innere Leben überall zu sehen
begabt war. Er bringt sie zu farbigem Ausdruck, welcher eine _innere
malerische Note_ bildet und preßt sie in die Form, welche zu abstrakt
klingenden, Harmonie ausstrahlenden, oft mathematischen Formeln
heraufgezogen werden. Nicht ein Mensch, nicht ein Apfel, nicht ein Baum
werden dargestellt, sondern das alles wird von Cézanne gebraucht zur
Bildung einer innerlich malerisch klingenden Sache, die Bild heißt.
So nennt auch schließlich seine Werke einer der größten neuesten
Franzosen--Henri _Matisse_. Er malt "Bilder" und in diesen "Bildern"
sucht er das "Göttliche" wiederzugeben[11]. Um dieses zu erreichen,
braucht er keine anderen Mittel, als den Gegenstand (Mensch oder sonst
etwas) als _Ausgangspunkt_ und die der Malerei und nur ihr eigenen
Mittel--_Farbe und Form_.
Durch rein persönliche Eigenschaften geleitet, als Franzose speziell
und vorzüglich koloristisch begabt, legt Matisse Schwerpunkt und
Übergewicht auf die Farbe. Ebenso wie Debussy kann er sich lange nicht
immer von der gewohnten Schönheit befreien: der Impressionismus rollt
ihm im Blut. So trifft man bei Matisse unter Bildern, die von großer
innerer Lebendigkeit sind, von dem Zwange der inneren Notwendigkeit
hervorgerufen, auch andere Bilder, die, hauptsächlich durch äußere
Anregung, äußere Reize entstanden (wie oft denkt man da an Manet!),
hauptsächlich oder ausschließlich nur das äußere Leben besitzen. Hier
wird die spezifisch französische verfeinerte, gourmante, rein melodisch
klingende Schönheit der Malerei auf eine über Wolken stehende kühle
_Höhe_ gezogen.
Nie unterliegt _diesem_ Schönen der andere große Pariser, der Spanier
Pablo _Picasso_. Immer durch Selbstäußerungszwang geführt, oft
stürmisch hingerissen, wirft sich Picasso von einem äußeren Mittel
zum anderen. Wenn eine Kluft zwischen diesen Mitteln liegt, so macht
Picasso einen tollen Sprung, und da steht er auf der anderen Seite zum
Entsetzen seiner unmenschlich dichten Schar der Nachfolger. Gerade
wähnten sie ihn erreicht zu haben. Nun muß wieder das mühsame Hinab und
Hinauf beginnen. So entstand die letzte "französische" Bewegung des
Cubismus, über welche im Teil II ausführlich gesprochen wird. Picasso
sucht durch Zahlenverhältnisse das Konstruktive zu erreichen. In seinen
letzten Werken (1911) kommt er auf logischem Wege zur Vernichtung des
Materiellen, nicht aber durch Auflösung desselben, sondern durch eine
Art Zerstückelung der einzelnen Teile und konstruktive Zerstreuung
dieser Teile auf dem Bild. Dabei scheint er aber merkwürdigerweise
den Schein des Materiellen beibehalten zu wollen. Picasso scheut vor
keinem Mittel zurück, und wenn ihn die Farbe im Problem der rein
zeichnerischen Form stört, so wirft er sie über Bord und malt ein
Bild mit Braun und Weiß. Diese Probleme sind auch seine Hauptkraft.
Matisse--Farbe. Picasso--Form. Zwei große Weisungen auf ein großes Ziel.
[Footnote 1: Zöllner, Wagner, Butleroff-Petersburg, Crookes-London
usw. Später Ch. Richet. C. Flammarion (sogar der Pariser "Matin" hat
die Äußerungen des letzteren unter dem Titel "Je le constate, mais
je ne l'explique pas" vor etwa zwei Jahren gebracht). Endlich C.
Lombroso, der Schöpfer der anthropologischen Methode in der Frage des
Verbrechens, geht mit Eusapia Palladino zu gründlichen spiritistischen
Sitzungen über und anerkennt die Phänomene. Außer noch anderen
Gelehrten, die auf eigene Faust sich solchen Studien widmen, bilden
sich allmählich ganze wissenschaftliche Vereine und Gesellschaften,
die dieselben Zwecke verfolgen (z. B. Société des Etudes psychiques
in Paris, die sogar Berichtreisen in Frankreich veranstaltet, um
das Publikum mit den von ihr erzielten Resultaten in einer durchaus
objektiven Form bekannt zu machen).]
[Footnote 2: Sehr häufig wird in solchen Fällen das Wort Hypnose
gebraucht, dieselbe Hypnose, welcher in ihrer ersten Form des
Mesmerismus verschiedene Akademien verächtlich den Rücken kehrten.]
[Footnote 3: Siehe z. B. Dr. Steiners "Theosophie" und seine Artikel in
"Lucifer-Gnosis" über Erkenntnispfade.]
[Footnote 4: H. P. Blawatzky: Der Schlüssel zur Theosophie. Leipzig,
Max Altmann 1907. Das Buch erschien in englischer Sprache in London
1889.]
[Footnote 5: Zu solchen Hellsehern des Niederganges gehört in der
ersten Linie auch Alfred Kubin. Mit unüberwindlicher Gewalt wird man
in die schauerliche Atmosphäre der harten Leere hineingezogen. Diese
Gewalt entströmt den Zeichnungen Kubins ebenso wie seinem Roman "Die
andere Seite".]
[Footnote 6: Als in Petersburg unter Maeterlinks eigener Leitung einige
von seinen Dramen aufgeführt wurden, ließ er selbst bei einer Probe, um
einen fehlenden Turm zu ersetzen, einfach ein Stück Leinwand hängen.
Es war ihm nicht wichtig, eine fein nachgeahmte Kulisse verfertigen zu
lassen. Er tat so wie die Kinder, die größten Phantasten aller Zeiten,
immer in ihren Spielen tun, wenn sie einen Stock für ein Pferd ansehen
oder aus bekannten Papierkrähen ganze Regimenter Kavallerie in ihrer
Phantasie machen, wobei ein Kniff in der Krähe plötzlich aus einem
Kavalleristen ein Roß bildet (Kügelgen: "Erinnerungen eines alten
Mannes"). Dieser Zug zur Anregung der Phantasie des Zuschauers spielt
im jetzigen Theater eine große Rolle. In dieser Beziehung hat besonders
viel gearbeitet und erreicht die russische Bühne. Dies ist ein nötiger
Übergang vom Materiellen zum Geistigen des Theaters der Zukunft.]
[Footnote 7: Dieses tritt klar zutage bei Vergleich der Werke
Maeterlinks und Poes. Und dies ist wieder ein Beispiel für das
Fortschreiten auch der künstlerischen Mittel vom Materiellen zum
Abstrakten.]
[Footnote 8: Viele Versuche haben gezeigt, daß eine derartige geistige
Atmosphäre nicht nur Helden, sondern jedem Menschen zugute kommt.
Die Sensitiven können z. B. nicht im Zimmer bleiben, wo vorher ein
Mensch war, welcher ihnen geistig widerwärtig ist, wenn sie von dessen
Anwesenheit auch nichts wußten.]
[Footnote 9: "Die Musik", X, 2, S. 104. Auszug aus der "Harmonielehre"
(Verlag der "Universal Edition").]
[Footnote 10: Siehe z. B. Signac: "De Delacroix au Neo-impressionisme".
(Deutsch erschienen im Verlag Axel Juncker, Charlottenburg 1910).]
[Footnote 11: Siehe seinen Artikel in "Kunst und Künstler" 1909, Heft
VIII.]
[Illustration.]
IV.
DIE PYRAMIDE
So stellen sich allmählich verschiedene Künste auf den Weg, das zu
sagen, was sie am besten sagen können, und durch die Mittel, die jede
von ihnen ausschließlich besitzt.
Und trotz oder dank dieser Absonderung, nie standen in den letzten
Zeiten die Künste, als solche, einander näher als in dieser letzten
Stunde der geistigen Wendung.
In allem Erwähnten sind die Keime des Strebens zum Nicht-naturellen,
Abstrakten und _zu innerer Natur_. Bewußt oder unbewußt gehorchen sie
dem Worte Sokrates: "Erkenne dich selbst!" Bewußt oder unbewußt wenden
sich allmählich die Künstler hauptsächlich zu ihrem Material, prüfen
dasselbe, legen auf die geistige Wage den inneren Wert der Elemente,
aus welchen zu schaffen ihre Kunst geeignet ist.
Und aus diesem Streben kommt von selbst die natürliche Folge--das
_Vergleichen_ der eigenen Elemente mit denen einer anderen Kunst. In
diesem Falle zieht man die reichste Lehre aus der Musik. Mit wenigen
Ausnahmen und Ablenkungen ist die Musik schon einige Jahrhunderte die
Kunst, die ihre Mittel nicht zum Darstellen der Erscheinungen der
Natur brauchte, sondern als Ausdrucksmittel des seelischen Lebens des
Künstlers und zum Schaffen eines eigenartigen Lebens der musikalischen
Töne.
Ein Künstler, welcher in der wenn auch künstlerischen Nachahmung der
Naturerscheinungen kein Ziel für sich sieht und ein Schöpfer ist,
welcher seine _innere Welt_ zum Ausdruck bringen will und muß, sieht
mit Neid, wie solche Ziele in der heute unmateriellsten Kunst--der
Musik--natürlich und leicht zu erreichen sind. Es ist verständlich, daß
er sich ihr zuwendet und versucht, dieselben Mittel in seiner Kunst zu
finden. Daher kommt das heutige Suchen in der Malerei nach Rhythmus,
nach mathematischer, abstrakter Konstruktion, das heutige Schätzen
der Wiederholung des farbigen Tones, der Art, in welcher die Farbe in
Bewegung gebracht wird usw.
Dieses Vergleichen der Mittel verschiedenster Künste und dieses
Ablernen einer Kunst von der anderen kann nur dann erfolg- und
siegreich werden, wenn das Ablernen nicht äußerlich, sondern
prinzipiell ist. D. h. eine Kunst muß bei der anderen lernen, wie sie
mit _ihren_ Mitteln umgeht, sie muß es lernen, um dann _ihre eigenen_
Mittel _prinzipiell_ gleich zu behandeln, d. h. in dem Prinzip, welches
_ihr allein_ eigen ist. Bei diesem Ablernen muß der Künstler nicht
vergessen, daß jedes Mittel eine ihm geeignete Anwendung in sich birgt
und daß _diese_ Anwendung herauszufinden ist.
In Anwendung der Form kann die Musik Resultate erzielen, die die
Malerei nicht erreichen kann. Andererseits bleibt hinter manchen
Eigenschaften der Malerei die Musik zurück. Z. B. hat die Musik die
Zeit, die Ausdehnung der Zeit zur Verfügung. Die Malerei aber kann
dagegen, indem sie den erwähnten Vorzug nicht besitzt, in einem
Augenblick den ganzen Inhalt des Werkes dem Zuschauer bringen, wozu
wieder die Musik nicht fähig ist[1]. Die Musik, die von der Natur
äußerlich ganz emanzipiert ist, braucht nicht irgendwo äußere Formen
für ihre Sprache zu leihen[2]. Die Malerei ist heute noch beinahe
vollständig an die naturellen Formen, aus der Natur geliehene Formen
angewiesen. Und ihre Aufgabe ist heute, ihre Kräfte und Mittel zu
prüfen, sie kennen zu lernen, wie es die Musik schon lange tut, und zu
versuchen, diese Mittel und Kräfte in rein malerischer Weise zum Zweck
des Schaffens anzuwenden.
So grenzt die Vertiefung in sich eine Kunst von der anderen ab, so
bringt sie die Vergleichung wieder zueinander im _inneren_ Streben. So
merkt man, daß jede Kunst ihre Kräfte hat, die durch die einer anderen
nicht ersetzt werden können. So kommt man schließlich zur Vereinigung
der eigenen Kräfte verschiedener Künste. Aus dieser Vereinigung wird
mit der Zeit die Kunst entstehen, die wir schon heute vorahnen können,
die wirkliche _monumentale Kunst_.
Und jeder, wer sich vertieft in die verborgenen _inneren_ Schätze
seiner Kunst, ist ein beneidenswerter Mitarbeiter an der geistigen
Pyramide, die bis zum Himmel reichen wird.
[Footnote 1: Diese Unterschiede sind, wie alles in der Welt, relativ zu
verstehen. Im gewissen Sinne kann die Musik die Ausdehnung in der Zeit
vermeiden und die Malerei--diese Ausdehnung anwenden. Wie gesagt, haben
alle Behauptungen einen nur relativen Wert.]
[Footnote 2: Wie kläglich Versuche ausfallen, die musikalischen Mittel
zur Wiedergabe der äußeren Formen zu brauchen, zeigt eng verstandene
Programmusik. Es wurden noch letzthin solche Experimente gemacht.
Froschgesänge, Hühnerhöfe, Messerschleifen nachzuahmen, ist wohl einer
Varietébühne ganz würdig und kann als unterhaltender Spaß ganz lustig
wirken. In der ernsten Musik aber bleiben solche Ausschweifungen nur
lehrreiche Beispiele, für Mißerfolge "Natur zu geben". Die Natur hat
ihre eigene Sprache, die auf uns mit einer unüberwindlichen Macht
wirkt. Diese Sprache ist nicht nachzuahmen. Wenn man einen Hühnerhof
musikalisch darstellt, um die Stimmung der Natur dadurch zu schaffen,
den Zuhörer in diese Stimmung zu versetzen, so kommt klar zutage,
daß es eine unmögliche und nicht nötige Aufgabe ist. Eine derartige
Stimmung kann von jeder Kunst geschaffen werden, aber nicht durch
äußerliche Nachahmung der Natur, sondern durch künstlerische Wiedergabe
dieser Stimmung in ihrem _inneren_ Wert.]
B.
MALEREI
[ILLUSTRATION]
V.
WIRKUNG DER FARBE
Wenn man die Augen über eine mit Farben besetzte Palette gleiten läßt,
so entstehen zwei Hauptresultate:
1. es kommt eine rein _physische Wirkung_ zustande, d. h. das Auge
selbst wird durch Schönheit und andere Eigenschaften der Farbe
bezaubert. Der Schauende empfindet ein Gefühl von Befriedigung, Freude,
wie ein Gastronom, wenn er einen Leckerbissen im Munde hat. Oder es
wird das Auge gereizt, wie der Gaumen von einer pikanten Speise. Es
wird auch wieder beruhigt oder abgekühlt, wie der Finger, wenn er Eis
berührt. Dies alles sind jedenfalls physische Gefühle, welche als
solche nur von kurzer Dauer sein können. Sie sind auch oberflächlich
und hinterlassen keinen dauernden Eindruck, wenn die Seele geschlossen
bleibt. Ebenso wie man bei Berührung von Eis nur das Gefühl einer
physischen Kälte erleben kann und dieses Gefühl nach dem Wiedererwärmen
des Fingers vergißt, so wird auch die physische Wirkung der Farbe
vergessen, wenn das Auge abgewendet wird. Und ebenso, wie das physische
Gefühl der Kälte des Eises, wenn es tiefer eindringt, andere tiefere
Gefühle erweckt und eine ganze Kette psychischer Erlebnisse bilden
kann, so kann auch der oberflächliche Eindruck der Farbe sich zu einem
Erlebnis entwickeln.
Nur die gewohnten Gegenstände wirken bei einem mittelmäßig
empfindlichen Menschen ganz oberflächlich. Die aber, die uns zum
erstenmal begegnen, üben sofort einen seelischen Eindruck auf uns aus.
So empfindet die Welt das Kind, welchem jeder Gegenstand neu ist. Es
sieht das Licht, wird dadurch angezogen, will es fassen, verbrennt sich
den Finger und bekommt Angst und Respekt vor der Flamme. Dann lernt es,
daß das Licht außer feindlichen Seiten auch freundliche hat, daß es die
Dunkelheit verscheucht, den Tag verlängert, daß es wärmen, kochen und
lustiges Schauspiel bieten kann. Nach der Sammlung dieser Erfahrungen
ist die Bekanntschaft mit dem Lichte gemacht und die Kenntnisse über
dasselbe werden im Gehirn aufgespeichert. Das _stark intensive_
Interesse verschwindet, und die Eigenschaft der Flamme, ein Schauspiel
zu bieten, kämpft mit voller Gleichgültigkeit gegen sie. Allmählich
wird auf diesem Wege die Welt entzaubert. Man weiß, daß Bäume Schatten
geben, daß Pferde schnell laufen können und Automobile noch schneller,
daß Hunde beißen, daß der Mond weit ist, daß der Mensch im Spiegel kein
echter ist.
Und nur bei einer höheren Entwicklung des Menschen erweitert sich immer
der Kreis derjenigen Eigenschaften, welche verschiedene Gegenstände
und Wesen in sich einschließen. Bei hoher Entwicklung bekommen diese
Gegenstände und Wesen inneren Wert und schließlich _inneren Klang_.
Ebenso ist es mit der Farbe, die bei niedrigem Stand der seelischen
Empfindsamkeit nur eine oberflächliche Wirkung verursachen kann, eine
Wirkung, die bald nach beendigtem Reiz verschwindet. Aber auch in
diesem Zustand ist diese einfachste Wirkung verschiedener Art. Das Auge
wird mehr und stärker von den helleren Farben angezogen und noch mehr
und noch stärker von den helleren, wärmeren: Zinnoberrot zieht an und
reizt, wie die Flamme, welche vom Menschen immer begierig angesehen
wird. Das grelle Zitronengelb tut dem Auge nach längerer Zeit weh, wie
dem Ohr eine hochklingende Trompete. Das Auge wird unruhig, hält den
Anblick nicht lange aus und sucht Vertiefung und Ruhe in Blau oder Grün.
Bei höherer Entwicklung aber entspringt dieser elementaren Wirkung eine
tiefergehende, die eine Gemütserschütterung verursacht. In diesem Falle
ist
2. das zweite Hauptresultat des Beobachtens der Farbe vorhanden, d. h.
die _psychische_ Wirkung derselben. Hier kommt die psychische Kraft
der Farbe zutage, welche eine seelische Vibration hervorruft. Und die
erste, elementare physische Kraft wird nun zur Bahn, auf welcher die
Farbe die Seele erreicht.
Ob diese zweite Wirkung tatsächlich eine direkte ist, wie man aus den
letzten Zeilen annehmen kann, oder ob sie durch Assoziation erreicht
wird, bleibt vielleicht eine Frage. Da die Seele im allgemeinen fest
mit dem Körper verbunden ist, so ist es möglich, daß eine psychische
Erschütterung eine andere, ihr entsprechende durch _Assoziation_
hervorruft. Z. B. die rote Farbe kann eine der Flamme ähnliche
seelische Vibration verursachen, da das Rot die Farbe der Flamme
ist. Das warme Rot wirkt aufregend, dieses Rot kann bis zu einer
schmerzlichen Peinlichkeit steigen, vielleicht auch durch Ähnlichkeit
mit fließendem Blut. Hier erweckt also diese Farbe eine Erinnerung an
ein anderes physisches Agens, welches unbedingt eine peinliche Wirkung
auf die Seele ausübt.
Wenn dies der Fall wäre, so würden wir leicht durch die Assoziation
eine Erklärung auch der anderen physischen Wirkungen der Farbe finden,
d. h. zu den Wirkungen nicht nur auf das Sehorgan, sondern auch auf
die anderen Sinne. Man kann eben annehmen, daß z. B. helles Gelb einen
sauren Eindruck macht aus der Assoziation mit der Zitrone.
Es ist aber kaum möglich, derartige Erklärungen durchzuführen.
Was gerade den Geschmack der Farbe betrifft, so sind verschiedene
Beispiele bekannt, wo diese Erklärung nicht gebraucht werden kann.
Ein Dresdener Arzt erzählt von einem seiner Patienten, den er als
"geistig ungewöhnlich hochstehenden" Menschen charakterisiert, daß er
eine bestimmte Sauce immer und unfehlbar "blau" schmeckte, d. h. wie
blaue Farbe empfand.[1] Man könnte vielleicht eine ähnliche, aber doch
andere Erklärung annehmen, daß gerade bei hochentwickelten Menschen die
Wege zur Seele so direkt, und die Eindrücke derselben so schnell zu
erreichen sind, daß eine Wirkung, die durch den Geschmack geht, sofort
zur Seele gelangt und die entsprechenden Wege aus der Seele zu anderen
materiellen Organen mitklingen läßt (in unserem Falle--Auge). Es wäre
eine Art Echo oder Widerschall, wie man es bei Musikinstrumenten hat,
wenn sie, ohne selbst berührt zu werden, mit einem anderen Instrumente
mitklingen, welches direkt berührt wurde. Solche stark fühlenden
Menschen sind wie gute, vielgespielte Geigen, welche bei jeder
Berührung mit dem Bogen in _allen_ Teilen und Fasern vibrieren.
Bei der Annahme dieser Erklärung muß freilich das Sehen nicht
nur mit dem Geschmack, sondern auch mit allen anderen Sinnen in
Zusammenhang stehen. Dieses ist auch der Fall. Manche Farben können
unglatt, stechend aussehen, wogegen andere wieder als etwas Glattes,
Samtartiges empfunden werden, so daß man sie gern streicheln möchte.
(Ultramarinblau dunkel, Chromoxydgrün, Krapplack.) Selbst der
Unterschied zwischen kalt und warm des Farbentones beruht auf dieser
Empfindung. Es gibt ebenso Farben, die weich erscheinen (Krapplack)
oder andere, die stets als harte vorkommen (Kobaltgrün, grünblau Oxyd),
so daß die frisch aus der Tube ausgepreßte Farbe für trocken gehalten
werden kann.
Der Ausdruck "duftende Farben" ist allgemein gebräuchlich.
Endlich ist das Hören der Farben so präzis, daß man vielleicht keinen
Menschen findet, welcher den Eindruck von Grellgelb auf den Baßtasten
des Klaviers wiederzugeben suchen oder Krapplack dunkel als eine
Sopranstimme bezeichnen würde[2].
Diese Erklärung (also eigentlich doch durch Assoziation) wird aber in
manchen Fällen, die für uns von ganz besonderer Wichtigkeit sind, nicht
genügen. Wer von Chromotherapie gehört hat, weiß, daß das farbige Licht
eine ganz besondere Wirkung auf den ganzen Körper verursachen kann.
Es wurde verschiedentlich versucht, diese Kraft der Farbe auszunützen
und bei verschiedenen Nervenkrankheiten anzuwenden, wobei man wieder
bemerkte, daß das rote Licht belebend, aufregend auch auf das Herz
wirkt, das Blaue dagegen zu zeitlicher Paralyse führen kann. Wenn man
eine derartige Wirkung auch auf Tiere und sogar Pflanzen beobachten
kann, was der Fall ist, so fällt hier die Assoziationserklärung
gänzlich weg. Diese Tatsachen beweisen jedenfalls, daß die Farbe eine
wenig untersuchte, aber enorme Kraft in sich birgt, die den ganzen
menschlichen Körper, als physischen Organismus, beeinflussen kann.
Wenn uns aber die Assoziation in diesem Falle nicht ausreichend
erscheint, so werden wir uns auch in der Wirkung der Farbe auf die
Psyche mit dieser Erklärung nicht begnügen können. Im allgemeinen
ist also die Farbe ein Mittel, einen direkten Einfluß auf die Seele
auszuüben. Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele
ist das Klavier mit vielen Saiten.
Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste _zweckmäßig_
die menschliche Seele in Vibration bringt.
_So ist es klar, daß die Farbenharmonie nur auf dem Prinzip der
zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß._
Diese Basis soll als _Prinzip der inneren Notwendigkeit_ bezeichnet
werden.
[Footnote 1: Dr. med. _Freudenberg_. Spaltung der Persönlichkeit.
(Übersinnliche Welt 1908, Nr. 2, S. 64-65.) Hier wird auch über
Farbenhören gesprochen (S. 65), wobei der Verfasser bemerkt, daß die
vergleichenden Tabellen kein allgemeines Gesetz feststellen. Vgl.
L. _Sabanejeff_ in der Wochenschrift "Musik", Moskau 1911, Nr. 9:
Mit Bestimmtheit wird hier auf das baldige Kommen eines Gesetzes
hingewiesen.]
[Footnote 2: Auf diesem Gebiete wurde schon viel theoretisch und
auch praktisch gearbeitet. Auf der vielseitigen Ähnlichkeit (auch
physikalischer Luft- und Licht-vibration) will man auch der Malerei
eine Möglichkeit finden, ihren Kontrapunkt zu bauen. Andererseits in
der Praxis wurde es mit Erfolg versucht, wenig musikalischen Kindern
durch Hilfe der Farben (z. B. durch _Blumen_) eine Melodie einzuprägen.
Viele Jahre arbeitet auf diesem Gebiete Frau A. Sacharjin-Unkowsky,
welche eine spezielle präzise Methode konstruiert hat, "die Musik von
den Farben der Natur abzuschreiben, die Laute der Natur zu malen, _die
Laute farbig zu sehen und die Farben musikalisch zu hören_". Diese
Methode wird schon seit Jahren in der Schule der Erfinderin angewendet
und wurde vom St. Petersburger Konservatorium als zweckmäßig anerkannt.
Andererseits hat Skrjabin auf _empirischem_ Wege eine parallele Tabelle
der musikalischen und farbigen Töne zusammengestellt, die der mehr
physikalischen Tabelle der Frau Unkowsky sehr gleicht. Skrjabin hat
sein Prinzip im "Prometheus" überzeugend angewendet. (S. Tabelle in der
Wochenschrift "Musik", Moskau 1911, Nr. 9.)]
[ILLUSTRATION]
VI.
FORMEN- UND FARBENSPRACHE
"Der Mann, der nicht Musik hat in ihm selbst, Den nicht die Eintracht
süßer Töne rührt, Taugt zu Verrat, zu Räuberei, zu Tücken, Die Regung
seines Sinns ist dumpf wie Nacht, Sein Trachten düster wie der Erebus:
Trau keinem solchen!--_Horch auf die Musik!_" (Shakespeare.)
Der musikalische Ton hat einen direkten Zugang zur Seele. Er findet da
sofort einen Widerklang, da der Mensch "die Musik hat in sich selbst".
"Jedermann weiß, daß gelb, orange und rot Ideen der Freude, des
Reichtums, einflößen und darstellen" (Delacroix).[1]
Diese zwei Zitate zeigen die tiefe Verwandtschaft der Künste überhaupt
und der Musik und Malerei insbesondere. Auf dieser auffallenden
Verwandtschaft hat sich sicher der Gedanke Goethes konstruiert,
daß die Malerei ihren Generalbaß erhalten muß. Diese prophetische
Äußerung Goethes ist ein Vorgefühl der Lage, in welcher sich heute
die Malerei befindet. Diese Lage ist der Ausgangspunkt des Weges, auf
welchem die Malerei durch Hilfe ihrer Mittel zur Kunst im abstrakten
Sinne heranwachsen wird und wo sie schließlich die rein malerische
_Komposition_ erreichen wird.
Zu dieser Komposition stehen ihr zwei Mittel zur Verfügung:
1. Farbe.
2. Form.
Die Form allein, als Darstellung des Gegenstandes (realen oder nicht
realen) oder als rein abstrakte Abgrenzung eines Raumes, einer Fläche,
kann selbständig existieren.
Die Farbe nicht. Die Farbe läßt sich nicht grenzenlos ausdehnen.
Man kann sich das grenzenlose Rot nur denken oder geistig sehen.
Wenn man das Wort Rot hört, so hat dieses Rot in unserer Vorstellung
keine Grenze. Dieselbe muß mit Gewalt, wenn es nötig ist, dazu
gedacht werden. Das Rot, was man nicht materiell sieht, sondern sich
abstrakt vorstellt, erweckt andererseits eine gewisse präzise und
unpräzise innere Vorstellung, die einen rein inneren, physischen
Klang hat[2]. Dieses aus dem Wort klingende Rot hat auch selbständig
keinen speziell ausgesprochenen Übergang zu warm oder kalt. Dasselbe
muß noch dazu gedacht werden, wie feine Abstufungen des roten Tones.
Deswegen nenne ich dieses geistige Sehen unpräzis. Es ist aber
auch zur selben Zeit präzis, da der innere Klang bloß bleibt, ohne
zufällige, zu Einzelheiten führende Neigungen zu warm und kalt usw.
Dieser innere Klang ist ähnlich dem Klang einer Trompete oder eines
Instrumentes, welchen man sich vorstellt bei dem Wort "Trompete" usw.,
wobei die Einzelheiten ausbleiben. Man denkt sich eben den Klang ohne
die Unterschiede, welche er erleidet, durch Klingen im Freien, im
geschlossenen Raum, allein oder mit andern Instrumenten, wenn ihn ein
Postillion, ein Jäger, ein Soldat oder ein Virtuose hervorruft.
Wenn aber dieses Rot in materieller Form gegeben werden muß (wie in der
Malerei), so muß es 1. einen bestimmten Ton haben aus der unendlichen
Reihe der verschiedenen Rot gewählt, also sozusagen subjektiv
charakterisiert werden, und 2. muß es auf der Fläche abgegrenzt
werden, von anderen Farben abgegrenzt, die _unbedingt_ da sind, die
man in keinem Falle vermeiden kann und wodurch (durch Abgrenzung und
Nachbarschaft) die subjektive Charakteristik sich verändert (eine
objektive Hülse erhält): hier spricht der objektive Beiklang mit.
Dieses unvermeidliche Verhältnis zwischen Farbe und Form bringt
uns zu Beobachtungen der Wirkungen, welche die Form auf die Farbe
ausübt. Die Form selbst, wenn sie auch ganz abstrakt ist und einer
geometrischen gleicht, hat ihren innern Klang, ist ein geistiges Wesen
mit Eigenschaften, die mit dieser Form identisch sind. Ein Dreieck
(ohne die nähere Bezeichnung, ob es spitz, flach, gleichseitig ist) ist
ein derartiges Wesen mit dem ihm allein eigenen geistigen Parfüm. In
Verbindung mit anderen Formen differenziert sich dieses Parfüm, bekommt
beiklingende Nuancen, bleibt aber im Grunde unveränderlich, wie der
Duft der Rose, der niemals mit dem des Veilchens verwechselt werden
kann. Ebenso Kreis, Quadrat und alle anderen möglichen Formen[3]. Also
derselbe Vorfall, wie oben mit Rot: subjektive Substanz in objektiver
Hülse.
Hier kommt die Gegenwirkung der Form und Farbe klar zutage. Ein Dreieck
mit Gelb ausgefüllt, ein Kreis mit Blau, ein Quadrat mit Grün, wieder
ein Dreieck mit Grün, ein Kreis mit Gelb, ein Quadrat mit Blau usw.
Dies sind alle ganz verschiedene und ganz verschieden wirkende Wesen.
Dabei läßt sich leicht bemerken, daß manche Farbe durch manche Form in
ihrem Wert unterstrichen wird und durch andere abgestumpft. Jedenfalls
spitze Farben klingen in ihrer Eigenschaft stärker in spitzer Form (z.
B. Gelb im Dreieck). Die zur Vertiefung geneigten werden in dieser
Wirkung durch runde Formen erhöht (z. B. Blau im Kreis). Natürlich ist
es andererseits klar, daß das Nichtpassen der Form zur Farbe nicht als
etwas "Unharmonisches" angesehen werden muß, sondern umgekehrt als eine
neue Möglichkeit und also auch Harmonie.
Da die Zahl der Farben und der Formen unendlich ist, so sind auch die
Kombinationen unendlich und zur selben Zeit die Wirkungen. Dieses
Material ist unerschöpflich.
* * * * *
Die Form im engeren Sinne ist jedenfalls nichts weiter, wie die
Abgrenzung einer Fläche von der anderen. Dies ist ihre Bezeichnung im
Äußeren. Da aber alles Äußere auch unbedingt Inneres in sich birgt
(stärker oder schwächer zum Vorschein kommend), so _hat auch jede
Form inneren Inhalt_[4]. $Die Form ist also die Äußerung des inneren
Inhaltes._ Dies ist ihre Bezeichnung im Inneren. Hier muß an das vor
kurzem gebrachte Beispiel mit dem Klavier gedacht werden, wobei man
statt "Farbe"--"Form" stellt: der Künstler ist die Hand, die durch
diese oder jene Taste (= Form) zweckmäßig die menschliche Seele in
Vibration bringt. _So ist es klar, daß die Formenharmonie nur auf dem
Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele ruhen muß._
Dieses Prinzip wurde hier als das _Prinzip der inneren Notwendigkeit_
bezeichnet.
Die erwähnten zwei Seiten der Form sind zur selben Zeit ihre zwei
Ziele. Und deshalb ist die äußere Abgrenzung dann erschöpfend
zweckmäßig, wenn sie den inneren Inhalt der Form am ausdrucksvollsten
zum Vorschein bringt[5]. Das Äußere der Form, d. h. die Abgrenzung,
welcher in diesem Falle die Form zum Mittel dient, kann sehr
verschieden sein.
Aber trotz aller Verschiedenheit, die die Form bieten kann, wird sie
doch nie über zwei äußere Grenzen hinausgehen, und zwar:
1. entweder dient die Form, als Abgrenzung, dem Ziele, durch
diese Abgrenzung einen materiellen Gegenstand aus der Fläche
herauszuschneiden, also diesen materiellen Gegenstand auf die Fläche zu
zeichnen, oder
2. bleibt die Form abstrakt, d. h. sie bezeichnet keinen realen
Gegenstand, sondern ist ein vollkommen abstraktes Wesen. Solche rein
abstrakte Wesen, die als solche ihr Leben haben, ihren Einfluß und
ihre Wirkung, sind ein Quadrat, ein Kreis, ein Dreieck, ein Rhombus,
ein Trapez und die unzähligen anderen Formen, die immer komplizierter
werden und keine mathematische Bezeichnung besitzen. Alle diese Formen
sind gleichberechtigte Bürger des abstrakten Reiches.
Zwischen diesen beiden Grenzen liegt die unendliche Zahl der Formen, in
welchen beide Elemente vorhanden sind und wo entweder das Materielle
überwiegt oder das Abstrakte.
Diese Formen sind momentan der Schatz, aus welchem der Künstler alle
einzelnen Elemente seiner Schöpfungen entleiht.
Mit ausschließlich rein abstrakten Formen kann der Künstler heute nicht
auskommen. Diese Formen sind ihm zu unpräzis. Sich auf ausschließlich
Unpräzises zu beschränken, heißt sich der Möglichkeiten berauben, das
rein Menschliche ausschließen und dadurch seine Ausdrucksmittel arm
machen.
Andererseits gibt es in der Kunst keine vollkommen materielle Form.
Es ist nicht möglich, eine materielle Form genau wiederzugeben: Wohl
'oder übel unterliegt der Künstler _seinem_ Auge, _seiner_ Hand, die
in diesem Falle künstlerischer sind als seine Seele, die nicht über
photographische Ziele hinausgehen will. Der bewußte Künstler aber,
welcher mit dem Protokollieren des materiellen Gegenstandes sich nicht
begnügen kann, sucht unbedingt dem darzustellenden Gegenstande einen
Ausdruck zu geben, was man früher idealisieren hieß, später stilisieren
und morgen noch irgendwie anders nennen wird[6].
Diese Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit (in der Kunst), den Gegenstand
ohne Ziel zu kopieren, dieses Streben, dem Gegenstande das
Ausdrucksvolle zu entleihen, sind die Ausgangspunkte, von welchen
auf weiterem Wege der Künstler von der "literarischen" Färbung des
Gegenstandes zu rein künstlerischen (bzw. malerischen) Zielen zu
streben anfängt. Dieser Weg führt zum Kompositionellen.
[Illustration: Raffael. Die hl. Familie]
Die rein malerische Komposition hat in bezug auf die Form zwei Aufgaben
vor sich:
1. Die Komposition des ganzen Bildes.
2. Die Schaffung der einzelnen Formen, die in verschiedenen
Kombinationen zueinander stehen, sich der Komposition des Ganzen
unterordnen[7]. So werden mehrere Gegenstände (reale und eventuell
abstrakte) im Bild _einer_ großen Form untergeordnet und so verändert,
daß sie in diese Form passen, diese Form bilden. Hier kann die einzelne
Form persönlich wenig klingend bleiben, sie dient in erster Linie
der Bildung der großen kompositionellen Form und ist hauptsächlich
als Element dieser Form zu betrachten. Diese einzelne Form ist so
und nicht anders gestaltet; nicht, weil _ihr_ eigener innerer Klang,
abgesehen von der großen Komposition, es unbedingt verlangt, sondern
größtenteils, weil sie als Baumaterial dieser Komposition zu dienen
berufen ist. Hier wird die erste Aufgabe--die Komposition des ganzen
Bildes--als definitives Ziel verfolgt[8].
So tritt in der Kunst allmählich immer näher in den Vordergrund das
Element des Abstrakten, welches noch gestern schüchtern und kaum
sichtbar sich hinter die rein materialistischen Bestrebungen versteckte.
Und dieses Wachsen und schließlich Überwiegen des Abstrakten ist
natürlich.
Es ist natürlich, da, je mehr die organische Form zurückgetrieben wird,
desto mehr dieses Abstrakte von selbst in den Vordergrund tritt und an
Klang gewinnt.
Das bleibende Organische hat aber, wie gesagt, eigenen inneren Klang,
welcher entweder mit dem inneren Klang des zweiten Bestandteiles
derselben Form (des Abstrakten darin) identisch ist (einfache
Kombinierung der beiden Elemente), oder auch verschiedener Natur
sein kann (komplizierte und möglicherweise notwendig disharmonische
Kombinierung). Jedenfalls aber läßt das Organische in der gewählten
Form seinen Klang hören, wenn auch dieses Organische ganz in
den Hintergrund gedrängt wird. Deswegen ist die Wahl des realen
Gegenstandes von Wichtigkeit. In dem Doppelklange (geistiger Akkord)
der beiden Bestandteile der Form kann der organische den abstrakten
unterstützen (durch Mit- oder Widerklang) oder für denselben störend
sein. Der Gegenstand kann einen nur zufälligen Klang bilden, welcher,
durch einen anderen ersetzt, keine _wesentliche_ Änderung des
Grundklanges hervorruft.
Eine romboidale Komposition wird z. B. durch eine Anzahl menschlicher
Figuren konstruiert. Man prüft sie mit dem Gefühl und stellt sich die
Frage: sind die menschlichen Figuren für die Komposition unbedingt
notwendig oder dürfte man sie durch andere organische Formen ersetzen,
und zwar so, daß der _innere_ Grundklang der Komposition dadurch nicht
leidet? Und wenn ja, so ist hier der Fall vorhanden, wo der Klang des
Gegenstandes nicht nur dem Klang des Abstrakten nicht hilft, sondern
ihm direkt schadet: gleichgültiger Klang des Gegenstandes schwächt den
Klang des Abstrakten ab. Und dieses ist nicht nur logisch, sondern
auch künstlerisch tatsächlich der Fall. Es sollte also in diesem Fall
entweder ein anderer, mehr zum inneren Klang des Abstrakten passender
Gegenstand gefunden werden (passend als Mit- oder Widerklang) oder
überhaupt sollte diese ganze Form eine rein abstrakte bleiben. Hier
wird wieder an das Beispiel mit dem Klavier erinnert. Statt "Farbe"
und "Form" soll der "Gegenstand" gestellt werden. Jeder Gegenstand
(ohne Unterschied, ob er direkt von der "Natur" geschaffen wurde oder
durch menschliche Hand entstanden ist) ist ein Wesen mit eigenem Leben
und daraus unvermeidlich fließender Wirkung. Der Mensch unterliegt
fortwährend dieser psychischen Wirkung. Viele Resultate derselben
werden im "Unterbewußtsein" bleiben (wo sie ebenso lebendig und
schöpferisch wirken). Viele steigen zum "Oberbewußtsein". Von vielen
kann sich der Mensch befreien, indem er seine Seele dagegen abschließt.
Die "Natur", d. h. die stets wechselnde äußere Umgebung des Menschen,
versetzt durch die Tasten (Gegenstände) fortwährend die Saiten des
Klaviers (Seele) in Vibrationen. Diese Wirkungen, welche uns oft
chaotisch zu sein scheinen, bestehen aus drei Elementen: das Wirken
der Farbe des Gegenstandes, seiner Form und das von Farbe und Form
unabhängige Wirken des Gegenstandes selbst.
Nun tritt aber an die Stelle der Natur der Künstler, welcher über
dieselben drei Elemente verfügt. Und wir kommen ohne weiteres zum
Schluß: auch hier ist das _Zweckmäßige_ maßgebend. _So ist es klar, daß
die Wahl des Gegenstandes (= Beiklingendes Element in der Formharmonie)
nur auf dem Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele
ruhen muß._
Also entspringt auch die Wahl des Gegenstandes dem _Prinzip der inneren
Notwendigkeit_.
Je freier das Abstrakte der Form liegt, desto reiner und dabei
primitiver klingt es. In einer Komposition also, wo das Körperliche
mehr oder weniger überflüssig ist, kann man auch dieses Körperliche
mehr oder weniger auslassen und durch rein abstrakte oder durch ganz
ins Abstrakte übersetzte körperliche Formen ersetzen. In jedem Falle
dieser Übersetzung oder dieses Hineinkomponierens der rein abstrakten
Form Soll der einzige Richter, Lenker und Abwäger das Gefühl sein. Und
freilich, je mehr der Künstler diese abstrahierten oder abstrakten
Formen braucht, desto heimischer wird er im Reiche derselben und tritt
immer tiefer in dieses Gebiet ein. Und ebenso durch den Künstler
geführt auch der Zuschauer, welcher immer mehr Kenntnisse in der
abstrakten Sprache sammelt und sie schließlich beherrscht.
Da stehen wir vor der Frage: müssen wir denn nicht auf das
Gegenständliche überhaupt verzichten, es aus unserer Vorratskammer
in alle Winde zerstreuen und das rein Abstrakte ganz bloßlegen?
Dies ist die natürlich sich aufdrängende Frage, welche durch das
Auseinander-setzen des Mitklingens der beiden Formelemente (des
gegenständlichen und abstrakten) uns auch gleich auf die Antwort
stößt. Wie jedes gesagte Wort (Baum, Himmel, Mensch) eine innere
Vibration erweckt, so auch jeder bildlich dargestellte Gegenstand.
Sich dieser Möglichkeit, eine Vibration zu verursachen, zu berauben,
wäre: das Arsenal seiner Mittel zum Ausdruck zu vermindern. So steht
es jedenfalls heute. Aber außer dieser heutigen Antwort bekommt die
oben gestellte Frage die Antwort, die in der Kunst die ewige bleibt auf
alle Fragen, die mit "muß" anfangen: Es gibt kein "muß" in der Kunst,
die ewig frei ist. Vor dem "muß" flieht die Kunst, wie der Tag vor der
Nacht.
Bei der Betrachtung der zweiten kompositionellen Aufgabe, der Schaffung
der _einzelnen_ zum Aufbau der ganzen Komposition bestimmten Formen muß
noch bemerkt werden, daß dieselbe Form bei gleichen Bedingungen immer
gleich klingt. Nur sind die Bedingungen immer verschieden, woraus zwei
Folgen fließen:
1. ändert sich der ideale Klang durch Zusammenstellung mit anderen
Formen,
2. ändert er sich auch in derselben Umgebung (soweit das Festhalten
derselben möglich ist), wenn diese Form in ihrer Richtung verschoben
wird[9]. Aus diesen Folgen fließt weiter eine andere von selbst heraus.
Es gibt nichts Absolutes. Und zwar ist die Formenkomposition, auf
dieser Relativität ruhend, abhängig 1. von der Veränderlichkeit der
Zusammenstellung der Formen und 2. von der Veränderlichkeit jeder
einzelnen Form bis ins kleinste. Jede Form ist so empfindlich wie
ein Rauchwölkchen: das unmerklichste geringste Verrücken jeder ihrer
Teile verändert sie _wesentlich_. Und dies geht so weit, daß es
vielleicht leichter ist, denselben Klang durch verschiedene Formen zu
erzielen, als ihn durch die Wiederholung derselben Form wieder zum
Ausdruck zu bringen: eine wirkliche genaue Wiederholung liegt außer der
Möglichkeit. Solange wir nur für das Ganze der Komposition besonders
empfänglich sind, ist diese Tatsache mehr theoretisch wichtig. Wenn
aber die Menschen durch das Gebrauchen der abstrakteren und abstrakten
Formen (die keine Interpretation von Körperlichem erhalten werden)
ein feineres und stärkeres Empfinden bekommen werden, so wird diese
Tatsache immer mehr an praktischer Bedeutung gewinnen.
Und so werden einerseits die Schwierigkeiten der Kunst wachsen, aber
gleichzeitig wird auch der Reichtum an Formen in den Ausdrucksmitteln
quantitativ und qualitativ mitwachsen. Dabei wird auch die Frage des
"Verzeichnens" von selbst fallen und wird durch eine andere viel
künstlerischere ersetzt: wie weit ist der innere Klang der gegebenen
Form verschleiert oder entblößt? Diese Änderung in den Ansichten
wird wieder noch weiter und zu noch größerer Bereicherung der
Ausdrucksmittel führen, da die Verschleierung eine enorme Macht in der
Kunst ist. Das Kombinieren des Verschleierten und des Bloßgelegten wird
eine neue Möglichkeit der Leitmotive einer Formenkomposition bilden.
Ohne solche Entwicklung auf diesem Gebiete würde die Formenkomposition
unmöglich bleiben. Jedem, den der innere Klang der Form (der
körperlichen und besonders der abstrakten) nicht erreicht, wird
ein derartiges Komponieren stets als bodenlose Willkür erscheinen.
Gerade das scheinbar folgenlose Verschieben der einzelnen Formen auf
der Bildfläche erscheint in diesem Fall als inhaltloses Spiel mit
den Formen. Hier finden wir denselben Maßstab und dasselbe Prinzip,
welches wir bis jetzt überall als das einzige rein künstlerische, vom
Nebensächlichen freie fanden: Das _Prinzip der inneren Notwendigkeit._
Wenn z. B. Gesichtszüge oder verschiedene Körperteile aus
künstlerischem Grunde verschoben und "verzeichnet" werden, so stößt
man doch außer auf die rein malerische Frage auch auf die anatomische,
die die malerische Absicht hemmt und ihr nebensächliches Berechnen
aufzwingt. In unserem Falle fällt aber alles Nebensächliche von selbst
ab und es bleibt nur das Wesentliche--das künstlerische Ziel. Gerade
diese scheinbar willkürliche, aber in Wirklichkeit streng bestimmbare
Möglichkeit, die Formen zu verschieben, ist eine der Quellen einer
unendlichen Reihe rein künstlerischer Schöpfungen.
Also die Biegsamkeit der einzelnen Form, ihre sozusagen
innerlich-organische Veränderung, ihre Richtung im Bilde (Bewegung),
das Überwiegen des Körperlichen oder des Abstrakten in dieser einzelnen
Form einerseits und andererseits die Zusammenstellung der Formen,
die die großen Formen der Formengruppen bilden, die Zusammenstellung
der einzelnen Formen mit den Formengruppen, welche die große Form
des ganzen Bildes schaffen, weiter die Prinzipien des Mit- oder
Widerklangs aller erwähnten Teile, d. h. das Zusammentreffen einzelner
Formen, das Hemmen einer Form durch die andere, ebenso das Schieben,
das Mit- und Zerreissen der einzelnen Formen, die gleiche Behandlung
der Formengruppen, des Kombinierens des Verschleierten mit dem
Bloßgelegten, des Kombinierens des Rhythmischen und Arhythmischen
auf derselben Fläche, des Kombinierens der abstrakten Formen als
rein geometrischer (einfacher, komplizierter) und geometrisch
unbezeichenbarer, des Kombinierens der Abgrenzungen der Formen
voneinander (stärkerer, schwächerer) usw. usw.--dies alles sind die
Elemente, die die Möglichkeit eines rein zeichnerischen "Kontrapunktes"
bilden und die zu diesem Kontrapunkt führen werden. Und dies wird
der Kontrapunkt der Kunst des Schwarz-Weißen, solange die Farbe
ausgeschaltet ist.
Und die Farbe, die selbst ein Material zu einem Kontrapunkt bietet, die
selbst unendliche Möglichkeiten in sich birgt, wird in Vereinigung mit
der Zeichnung zum großen malerischen Kontrapunkt führen, auf welchem
auch die Malerei zur Komposition gelangen wird und sich als wirklich
reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt. Und immer derselbe
unfehlbare Führer bringt sie auf diese schwindelnde Höhe: _das Prinzip
der inneren Notwendigkeit!_
[Illustration: Cézanne. Die Badenden]
* * * * *
Die innere Notwendigkeit entsteht aus drei mystischen Gründen. Sie wird
von drei mystischen Notwendigkeiten gebildet:
1. hat jeder Künstler, als Schöpfer, das ihm Eigene zum Ausdruck zu
bringen (Element der Persönlichkeit),
2. hat jeder Künstler, als Kind seiner Epoche, das dieser Epoche
Eigene zum Ausdruck zu bringen (Element des Stiles im inneren Werte,
zusammengesetzt aus der Sprache der Epoche und der Sprache der Nation,
solange die Nation als solche existieren wird),
3. hat jeder Künstler, als Diener der Kunst, das der Kunst
im allgemeinen Eigene zu bringen (Element des Rein- und
Ewig-Künstlerischen, welches durch alle Menschen, Völker und Zeiten
geht, im Kunstwerke jedes Künstlers, jeder Nation und jeder Epoche zu
sehen ist und als Hauptelement der Kunst keinen Raum und keine Zeit
kennt).
Man muß nur diese zwei ersten Elemente mit dem geistigen Auge
durchdringen, um dieses dritte Element bloßgelegt zu sehen. Dann sieht
man, daß eine "grob" geschnitzte Indianertempel-Säule vollkommen durch
dieselbe Seele belebt ist, wie ein noch so "modernes" lebendiges Werk.
Es wurde und wird noch heute viel vom Persönlichen in der Kunst
gesprochen, hier und da fällt ein Wort und wird jetzt immer öfter
fallen über den kommenden Stil. Wenn diese Fragen auch von großer
Wichtigkeit sind, so verlieren sie durch Jahrhunderte und später
Jahrtausende gesehen allmählich an Schärfe und Wichtigkeit, werden
schließlich gleichgültig und tot.
Nur das dritte Element des Rein-und Ewig-Künstlerischen bleibt
ewig lebendig. Es verliert mit der Zeit seine Kraft nicht, sondern
gewinnt an ihr ständig. Eine ägyptische Plastik erschüttert uns heute
sicherlich mehr, als sie ihren Zeitgenossen zu erschüttern vermochte:
sie war an ihre Zeitgenossen noch viel zu stark durch damals noch
lebendig gewesene Merkmale der Zeit und der Persönlichkeit gebunden
und durch sie gedämpft. Heute hören wir in ihr den entblößten Klang
der Ewigkeit-Kunst. Und andererseits: je mehr ein "heutiges" Werk von
den ersten zwei Elementen hat, desto leichter wird es natürlicherweise
den Zugang zur Seele des Zeitgenossen finden. Und weiter: je mehr das
dritte Element im heutigen Werk vorhanden ist, desto mehr werden die
ersten zwei übertönt und dadurch der Zugang zur Seele des Zeitgenossen
erschwert. Deswegen müssen manchmal Jahrhunderte vergehen, bis der
Klang des dritten Elementes zur Seele der Menschen gelangen kann.
So ist das Überwiegen dieses dritten Elementes im Werk das Zeichen
Seiner Größe und der Größe des Künstlers.
Diese drei mystischen Notwendigkeiten sind die drei notwendigen
Elemente des Kunstwerkes, die fest miteinander verbunden sind, d. h.
sie durchdringen sich gegenseitig, was in jeder Zeit das Einheitliche
des Werkes ausdrückt. Trotzdem haben die zwei ersten Elemente das
Zeitliche und Räumliche in sich, was im Rein- und Ewig-Künstlerischen,
welches außer Zeit und Raum steht, eine gewisse verhältnismäßig
undurchsichtige Hülse bildet. Der Vorgang der Kunstentwicklung besteht
gewissermaßen aus dem Sichabheben des Rein- und Ewig-Künstlerischen
von dem Element der Persönlichkeit, dem Element des Zeitstiles. So
sind diese zwei Elemente nicht nur mitspielende Kräfte, sondern auch
bremsende.
Der persönliche und zeitliche Stil bildet in jeder Epoche viele präzise
Formen, die trotz den scheinbar großen Verschiedenheiten so organisch
verwandt sind, daß sie als _eine Form_ bezeichnet werden können: ihr
innerer Klang ist schließlich nur _ein Hauptklang_.
Diese beiden Elemente sind subjektiver Natur. Die ganze Epoche will
_sich_ abspiegeln, _ihr_ Leben künstlerisch äußern. Ebenso will der
Künstler _sich_ äußern und wählt nur die ihm seelisch verwandten Formen.
Allmählich und schließlich bildet sich der Stil der Epoche, d. h. eine
gewisse äußere und subjektive Form. Das Rein- und Ewig-Künstlerische
ist dagegen das objektive Element, welches mit Hilfe des subjektiven
verständlich wird.
Das unvermeidliche Sichausdrückenwollen des Objektiven ist die Kraft,
die hier als innere Notwendigkeit bezeichnet wird und die aus dem
Subjektiven heute _eine_ allgemeine Form braucht und morgen eine
_andere_. Sie ist der ständige unermüdliche Hebel, die Feder, die
ununterbrochen "vorwärts" treibt. Der Geist schreitet weiter und
deshalb sind die heutigen inneren Gesetze der Harmonie morgen äußere
Gesetze, die in weiterer Anwendung nur durch diese äußerlich gewordene
Notwendigkeit leben. Es ist klar, daß die innere geistige Kraft der
Kunst sich aus der heutigen Form nur eine Stufe macht, um zu weiteren
zu gelangen.
Kurz gesagt, ist die Wirkung der inneren Notwendigkeit und also die
Entwicklung der Kunst eine fortschreitende Äußerung des Ewig-Objektiven
im Zeitlich-Subjektiven. Und also andererseits das Bekämpfen des
Subjektiven durch das Objektive.
Z. B. ist die heutige anerkannte Form eine Eroberung der gestrigen
inneren Notwendigkeit, die auf einer gewissen äußeren Stufe der
Befreiung, der Freiheit geblieben ist. Diese heutige Freiheit wurde
durch Kampf gesichert und scheint, wie immer, vielen "das letzte Wort"
zu sein. Ein Kanon dieser beschränkten Freiheit ist: der Künstler darf
jede Form zum Ausdruck brauchen, solange er auf dem Boden der aus der
Natur entliehenen Formen bleibt. Diese Forderung ist aber, wie alle
früheren, nur zeitlich. Sie ist der heutige äußere Ausdruck, d. h. die
heutige äußere Notwendigkeit. Vom Standpunkt der inneren Notwendigkeit
gesehen, darf eine derartige Beschränkung nicht gemacht werden, und der
Künstler darf sich vollkommen auf die heutige innere Basis stellen,
welcher die heutige äußere Beschränkung genommen wird, und die dadurch
folgendermaßen zu definieren ist: _der Künstler darf jede Form zum
Ausdruck brauchen._
So sieht man endlich (und dieses ist von unbeschreiblicher Wichtigkeit
für alle Zeiten und ganz besonders "heute"!), daß das Suchen nach dem
Persönlichen, nach dem Stil (und also nebenbei nach dem Nationalen)
nicht nur durch Absicht nicht zu erreichen ist, sondern auch nicht
die große Bedeutung hat, die heute der Sache beigemessen wird. Und
man sieht, daß die allgemeine Verwandtschaft der Werke, die durch
Jahrtausende nicht geschwächt, sondern immer mehr und mehr gestärkt
wird, nicht im Äußeren, im Äußerlichen liegt, sondern in der Wurzel
der Wurzeln--im mystischen Inhalt der Kunst. Und man sieht, daß das
Hängen an der "Schule", das Jagen nach der "Richtung", das Verlangen
in einem Werk nach "Prinzipien" und bestimmten, der Zeit eigenen
Ausdrucksmitteln nur auf Irrwege führen kann und zu Unverständnis, zur
Verfinsterung, Verstummung bringen muß.
Blind gegen "anerkannte" oder "unanerkannte" Form, taub gegen Lehren
und Wünsche der Zeit soll der Künstler sein.
Sein offenes Auge soll auf sein inneres Leben gerichtet werden und sein
Ohr soll dem Munde der inneren Notwendigkeit stets zugewendet sein.
Dann wird er zu jedem erlaubten Mittel und ebenso leicht zu jedem
verbotenen Mittel greifen.
Dieses ist der einzige Weg, das Mystischnotwendige zum Ausdruck zu
bringen.
Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich-notwendig sind.
Alle Mittel sind sündhaft, wenn sie nicht aus der Quelle der inneren
Notwendigkeit stammen.
Und andererseits, wenn man auf diesem Wege auch heute ins Unendliche
theoretisieren kann, so ist jedenfalls die Theorie in weiteren
Einzelheiten verfrüht. In der Kunst geht nie die Theorie voraus, und
zieht die Praxis nie nach sich, sondern umgekehrt. Hier ist alles und
ganz besonders im Anfang Gefühlsache. Nur durch Gefühl, besonders im
Anfang des Weges, ist das künstlerisch Richtige zu erreichen. Wenn die
allgemeine Konstruktion auch rein theoretisch zu erreichen ist, so
bleibt doch dieses Plus, welches die wahrhaftige Seele der Schöpfung
ist (und also auch verhältnismäßig ihr Wesen), nie durch Theorie
geschaffen und nie gefunden, wenn es nicht plötzlich vom Gefühl in die
Schöpfung eingehaucht wird. Da die Kunst auf das Gefühl wirkt, so kann
sie auch nur durch das Gefühl wirken. Bei sichersten Proportionen,
bei feinsten Wagen und Gewichten, kommt aus der Kopfrechnung und
deduktiven Wägung nie ein richtiges Resultat zur Folge. Es können
solche Proportionen nicht ausgerechnet werden und solche Wagen können
nicht fertig gefunden werden[10]. Die Proportionen und Wagen sind nicht
außerhalb des Künstlers, sondern in ihm, sie sind das, was man auch
Grenzengefühl, künstlerischen Takt nennen kann--Eigenschaften, die
dem Künstler angeboren sind und durch Begeisterung erhöht werden zur
genialen Offenbarung. In diesem Sinne ist auch die Möglichkeit eines
von Goethe prophezeiten Generalbasses in der Malerei zu verstehen.
Eine derartige Malgrammatik läßt sich momentan nur vorahnen, und wenn
es endlich zu derselben kommt, so wird dieselbe weniger auf Grund der
physischen Gesetze gebaut werden (wie man schon versuchte und heute
wieder versucht: "Kubismus"), sondern auf den Gesetzen der inneren
Notwendigkeit, die man ruhig als seelische bezeichnen kann.
* * * * *
So sehen wir, daß im Grunde eines jeden kleinen und im Grunde des
größten Problems der Malerei das _Innere_ liegen wird. Der Weg, auf
welchem wir uns heute schon befinden, und welcher das größte Glück
unserer Zeit ist, ist der Weg, auf welchem wir uns des Äußeren[11]
entledigen werden, um statt dieser Hauptbasis eine ihr entgegengesetzte
zu stellen: Die Hauptbasis der inneren Notwendigkeit. Aber wie der
Körper durch Übungen gestärkt und entwickelt wird, so auch der Geist.
Wie der vernachlässigte Körper schwach und schließlich impotent wird,
so auch der Geist. Das dem Künstler angeborene Gefühl ist eben das
evangelische Talent, welches nicht vergraben werden darf. Der Künstler,
welcher seine Gaben nicht nützt, ist der faule Sklave.
Deswegen ist es nicht nur unschädlich, sondern unbedingt notwendig, daß
der Künstler den Ausgangspunkt dieser Übungen kennt.
Dieser Ausgangspunkt ist das Wägen des inneren Wertes des Materials auf
der großen objektiven Wage, d. h. Untersuchung--in unserem Falle--der
_Farbe_, die im großen und ganzen jedenfalls auch auf jeden Menschen
wirken muß.
Also braucht man hier auch nicht in tiefe und feine Kompliziertheiten
der Farbe sich einlassen, sondern man begnügt sich mit der elementaren
Darstellung der einfachen Farbe.
Man konzentriert sich zunächst auf _isolierte Farbe_, man läßt
_einzelnstehende Farbe_ auf sich wirken. Dabei kommt ein möglichst
einfaches Schema in Betracht. Die ganze Frage wird in eine möglichst
einfache Form hineingepreßt.
Die zwei großen Abteilungen, die dabei sofort ins Auge fallen, sind:
1. Wärme und Kälte des farbigen Tones und
2. Helligkeit oder Dunkelheit desselben.
So entstehen sofort vier Hauptklänge jeder Farbe: entweder ist sie I.
_warm_ und dabei 1. _hell_ oder 2. _dunkel_, oder sie ist II. _kalt_
und 1. _hell_ oder 2. _dunkel_.
Die Wärme oder die Kälte der Farbe ist eine Neigung ganz im allgemeinen
zu Gelb oder zu Blau. Dies ist eine Unterscheidung, die sozusagen auf
derselben Fläche geschieht, wobei die Farbe ihren Grundklang behält,
aber dieser Grundklang wird mehr materiell oder mehr unmateriell.
Es ist eine horizontale Bewegung, wobei das Warme sich auf dieser
horizontalen Fläche zum Zuschauer bewegt, zu ihm strebt, das
Kalte--sich vom Zuschauer entfernt.
[Illustration: TABELLE I]
Die Farben selbst, die diese horizontale Bewegung einer anderen Farbe
verursachen, sind auch durch dieselbe Bewegung charakterisiert, haben
aber noch eine andere Bewegung, die sie stark voneinander in der
inneren Wirkung trennt: sie sind dadurch der _erste große Gegensatz_ im
inneren Werte. So ist also die Neigung der Farbe zu Kalt oder Warm von
einer unermeßlichen _inneren_ Wichtigkeit und Bedeutung.
Der _zweite große Gegensatz_ ist der Unterschied zwischen Weiß und
Schwarz, also der Farben, die das andere Paar der vier Hauptklänge
erzeugen: die Neigung der Farbe zu Hell oder zu Dunkel. Diese letzten
haben auch dieselbe Bewegung zum und vom Zuschauer, aber nicht in
dynamischer, sondern statischer--erstarrter Form (siehe Tab. I).
Die zweite Bewegung von Gelb und Blau, die zum ersten großen Gegensatz
beiträgt, ist ihre ex- und konzentrische Bewegung[12]. Wenn man zwei
Kreise macht von gleicher Größe und einen mit Gelb füllt und den andern
mit Blau, so merkt man schon bei kurzer Konzentrierung auf diese
Kreise, daß das Gelb ausstrahlt, eine Bewegung aus dem Zentrum bekommt
und sich beinahe sichtbar dem Menschen nähert. Das Blau aber eine
konzentrische Bewegung entwickelt (wie eine Schnecke, die sich in ihr
Häuschen verkriecht), und vom Menschen sich entfernt. Vom ersten Kreis
wird das Auge gestochen, während es in den zweiten versinkt.
Diese Wirkung vergrößert sich, wenn man den Unterschied in Hell und
Dunkel hinzufügt: die Wirkung des Gelb steigert sich bei Aufhellen
(einfach gesagt: bei Beimischung des Weißen), die Wirkung des Blau
steigert sich bei Verdunkeln der Farbe (Beimischung des Schwarzen).
Diese Tatsache bekommt noch eine größere Bedeutung, wenn man bemerkt,
daß das Gelb dermaßen zum Hellen (Weiß) neigt, daß es überhaupt kein
sehr dunkles Gelb geben kann. Es ist also eine tiefe Verwandtschaft bei
Gelb und Weiß im physischen Sinne, ebenso wie bei Blau und Schwarz,
da das Blau eine Tiefe bekommen kann, die an das Schwarz grenzt. Es
ist außer dieser physischen Ähnlichkeit auch eine moralische da, die
im innern Werte die zwei Paare (Gelb und Weiß einerseits und Blau und
Schwarz andererseits) voneinander stark trennt und die zwei Glieder
eines jeden Paares sehr verwandt miteinander macht (worüber Näheres
später bei Besprechung von Weiß und Schwarz).
Wenn man versucht, Gelb (diese typisch warme Farbe) kälter zu machen,
so bekommt sie einen grünlichen Ton und verliert sofort an beiden
Bewegungen (horizontaler und exzentrischer). Es bekommt dadurch einen
etwas kränklichen und übersinnlichen Charakter, wie ein Mensch voll
Streben und Energie, welcher durch äußere Zustände in diesem Streben
und der Anwendung seiner Energie verhindert wird. Das Blau, als eine
ganz entgegengesetzte Bewegung, bremst das Gelb, wobei schließlich bei
weiterem Hinzufügen von Blau beide entgegen-gesetzten Bewegungen sich
gegenseitig vernichten und volle Unbeweglichkeit und Ruhe entsteht. Es
entsteht _Grün_.
Dasselbe geschieht auch mit Weiß, wenn es durch Schwarz getrübt wird.
Es verliert an Beständigkeit und es entsteht zuletzt _Grau_, welches im
moralischen Werte sehr dem Grün nahesteht.
Nur sind im Grün Gelb und Blau als paralysierte Kräfte verborgen, die
wieder aktiv werden können. Eine lebendige Möglichkeit liegt im Grün,
die im Grau ganz fehlt. Sie fehlt deswegen, weil das Grau aus Farben
besteht, die keine rein aktive (sich bewegende) Kraft besitzen, sondern
einerseits aus unbeweglichem Widerstand bestehen und andererseits aus
widerstandsunfähiger Unbeweglichkeit (wie eine ins Unendliche gehende
Mauer von unendlicher Stärke und ein bodenloses unendliches Loch).
Und da beide das Grün schaffenden Farben aktiv sind und eine Bewegung
in sich haben, so kann man schon rein theoretisch nach dem Charakter
dieser Bewegungen das geistige Wirken der Farben feststellen, und
ebenso, wenn man hier experimental handelt und die Farben auf sich
wirken läßt, kommt man wieder zu demselben Resultate. Und tatsächlich
die erste Bewegung von Gelb, das Streben _zum_ Menschen, welches
bis zur Aufdringlichkeit erhoben werden kann (bei Verstärkung der
Intensivität des Gelb), und auch die zweite Bewegung, das Springen
über die Grenze, das Zerstreuen der Kraft in die Umgebung sind
gleich den Eigenschaften jeder materiellen Kraft, die sich unbewußt
auf den Gegenstand stürzt und ziellos nach allen Seiten ausströmt.
Andererseits das. Gelb, wenn es direkt betrachtet wird, (in irgendeiner
geometrischen Form), beunruhigt den Menschen, sticht, regt ihn auf
und zeigt den Charakter der in der Farbe ausgedrückten Gewalt, die
schließlich frech und aufdringlich auf das Gemüt wirkt[13]. Diese
Eigenschaft des Gelb, welches große Neigung zu helleren Tönen hat, kann
zu einer dem Auge und dem Gemüt unerträglichen Kraft und Höhe gebracht
werden. Bei dieser Erhöhung klingt es, wie eine immer lauter geblasene
scharfe Trompete oder ein in die Höhe gebrachter Fanfarenton[14].
_Gelb ist die typisch irdische Farbe_. Gelb kann nicht weit in die
Tiefe getrieben werden. Bei Abkühlung durch Blau bekommt es, wie oben
erwähnt, einen kränklichen Ton. Verglichen mit dem Gemütszustand des
Menschen könnte es als farbige Darstellung des Wahnsinns wirken, aber
nicht der Melancholie, Hypochondrie, sondern eines Wutanfalles, der
blinden Tollheit, der Tobsucht. Der Kranke überfällt die Menschen,
schlägt alles zugrunde und schleudert seine physischen Kräfte nach
allen Seiten, verbraucht sie plan- und grenzenlos, bis er sie
vollständig verzehrt hat. Es ist auch wie die tolle Verschwendung der
letzten Sommerkräfte im grellen Herbstlaub, von welchem das beruhigende
Blau genommen wird und zum Himmel steigt. Es entstehen Farben von einer
tollen Kraft, welcher die Vertiefungsgabe ganz fehlt.
Diese Vertiefungsgabe finden wir im _Blau_ und ebenso erst theoretisch
in ihren physischen Bewegungen 1. vom Menschen weg und 2. zum
eigenen Zentrum. Und ebenso, wenn man das Blau (in jeder gewünschten
geometrischen Form) auf das Gemüt wirken läßt. Die Neigung des Blau
zur Vertiefung ist so groß, daß es gerade in tieferen Tönen intensiver
wird und charakteristischer innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wird,
desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die
Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe
des Himmels, so wie wir ihn uns vorstellen bei dem Klange des Wortes
Himmel.
_Blau ist die typisch himmlische Farbe_[15]. Sehr tiefgehend entwickelt
das Blau das Element der Ruhe[16]. Zum Schwarzen sinkend, bekommt
es den Beiklang einer nicht menschlichen Trauer[17]. Es wird eine
unendliche Vertiefung in die ernsten Zustände, wo es kein Ende gibt
und keines geben kann. Ins Helle übergehend, wozu das Blau auch
weniger geeignet ist, wird es von gleichgültigerem Charakter und
stellt sich zum Menschen weit und indifferent, wie der hohe hellblaue
Himmel. Je heller also, desto klangloser, bis es zur schweigenden
Ruhe übergeht--weiß wird. Musikalisch dargestellt ist helles Blau
einer Flöte ähnlich, das dunkle dem Cello, immer tiefer gehend den
wunderbaren Klängen der Baßgeige; in tiefer, feierlicher Form ist der
Klang des Blau dem der tiefen Orgel vergleichbar.
Das Gelb wird leicht akut und kann nicht zu großer Vertiefung sinken.
Das Blau wird schwer akut und kann nicht zu großer Steigerung sich
heben.
Ideales Gleichgewicht in der Mischung dieser zwei in allem diametral
verschiedenen Farben-bildet das _Grün_. Die horizontalen Bewegungen
vernichten sich gegenseitig. Die Bewegungen aus und ins Zentrum
vernichten sich ebenso. Es entsteht Ruhe. Dies ist der logische Schluß,
welcher theoretisch leicht zu erzielen ist. Und das direkte Wirken
auf das Auge und schließlich durch das Auge auf die Seele führt zu
demselben Resultat. Diese Tatsache ist längst nicht nur den Ärzten
(speziell Augenärzten), sondern allgemein bekannt. Absolutes Grün ist
die ruhigste Farbe, die es gibt: sie bewegt sich nach nirgend hin und
hat keinen Beiklang der Freude, Trauer, Leidenschaft, sie verlangt
nichts, ruft nirgend hin. Diese ständige Abwesenheit der Bewegung ist
eine Eigenschaft, die auf ermüdete Menschen und Seelen wohltuend wirkt,
aber nach einiger Zeit des Ausruhens leicht langweilig werden kann.
Die in grüner Harmonie gemalten Bilder bestätigen diese Behauptung.
Wie das in Gelb gemalte Bild immer eine geistige Wärme ausströmt, oder
ein blaues zu abkühlend erscheint (also aktive Wirkung, da der Mensch
als ein Element des Weltalls zu ständiger, vielleicht ewiger Bewegung
geschaffen ist), so wirkt das Grüne nur langweilend (passive Wirkung).
Die Passivität ist die charaktervollste Eigenschaft des absoluten Grün,
wobei diese Eigenschaft von einer Art Fettheit, Selbstzufriedenheit
parfümiert wird. Deswegen ist das absolute Grün im Farbenreich das, was
im Menschenreich die sogen. Bourgeoisie ist: es ist ein unbewegliches,
mit sich zufriedenes, nach allen Richtungen beschränktes Element.
Dies Grün ist wie eine dicke, sehr gesunde, unbeweglich liegende Kuh,
die nur zum Wiederkauen fähig mit blöden, stumpfen Augen die Welt
betrachtet[18]. Grün ist die Hauptfarbe des Sommers, wo die Natur die
Sturm- und Drangperiode des Jahres, den Frühling überstanden hat und in
eine selbstzufriedene Ruhe getaucht ist. (Siehe Tabelle II.)
Wenn das absolute Grün aus dem Gleichgewicht gebracht wird, so steigt
es zu Gelb, wobei es lebendig wird, jugendlich und freudig. Es ist
wieder durch Beimischung von Gelb eine aktive Kraft eingetreten. Ins
Tiefe sinkend, bei Übergewicht von Blau, bekommt das Grün einen ganz
anderen Klang: es wird ernst und sozusagen nachdenklich. Da tritt also
auch ein aktives Element ein, aber vollständig anderen Charakters wie
bei dem Erwärmen von Grün.
Bei Übergang ins Helle oder Dunkle behält das Grün den ursprünglichen
Charakter der Gleichgültigkeit und Ruhe, wobei im Hellen die erstere,
im Dunkeln die letztere stärker klingt, was auch natürlich ist, da
diese Änderungen durch Weiß und Schwarz erzielt werden. Musikalisch
möchte ich das absolute Grün wohl am besten durch ruhige, gedehnte,
mitteltiefe Töne der Geige bezeichnen.
Diese letzten zwei Farben--Weiß und Schwarz--sind schon im allgemeinen
definiert worden. Bei der näheren Bezeichnung ist das Weiß, welches
oft für eine _Nichtfarbe_ gehalten wird (besonders dank den
Impressionisten, die "kein Weiß in der Natur"[19] sehen), wie ein
Symbol einer Welt, wo alle Farben, als materielle Eigenschaften und
Substanzen, verschwunden sind. Diese Welt ist so hoch über uns, daß
wir keinen Klang von dort hören können. Es kommt ein großes Schweigen
von dort, welches, materiell dargestellt, wie eine unübersteigliche,
unzerstörbare, ins Unendliche gehende kalte Mauer uns vor-kommt.
Deswegen wirkt auch das Weiß auf unsere Psyche als ein großes
Schweigen, welches für uns absolut ist. Es klingt innerlich wie ein
Nichtklang, was manchen Pausen in der Musik ziemlich entspricht, den
Pausen, welche nur zeitlich die Entwicklung eines Satzes oder Inhaltes
unterbrechen und nicht ein definitiver Abschluß einer Entwicklung
sind. Es ist ein Schweigen, welches nicht tot ist, sondern voll
Möglichkeiten. Das Weiß klingt wie Schweigen, welches plötzlich
verstanden werden kann. Es ist ein Nichts, welches jugendlich ist oder,
noch genauer, ein Nichts, welches vor dem _Anfang_, vor der Geburt ist.
So klang vielleicht die Erde zu den weißen Zeiten der Eisperiode.
[Illustration: TABELLE II]
Und wie ein Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach dem
Erlöschen der Sonne, wie ein ewiges Schweigen ohne Zukunft und Hoffnung
klingt innerlich das _Schwarz_. Es ist musikalisch dargestellt wie
eine vollständig abschließende Pause, nach welcher eine Fortsetzung
kommt wie der Beginn einer andern Welt, da das durch _diese_ Pause
Abgeschlossene für alle Zeiten beendigt, ausgebildet ist: der Kreis ist
geschlossen. Das Schwarz ist etwas Erloschenes, wie ein ausgebrannter
Scheiterhaufen, etwas Unbewegliches, wie eine Leiche, was zu allen
Ereignissen nicht fühlend steht und alles von sich gleiten läßt. Es ist
wie das Schweigen des Körpers nach dem Tode, dem Abschluß des Lebens.
Das ist äußerlich die klangloseste Farbe, auf welcher deswegen jede
andere Farbe, auch die am schwächsten klingende, stärker und präziser
klingt. Nicht wie auf Weiß, auf welchem beinahe alle Farben sich im
Klange trüben und manche ganz zerfließen, einen schwachen, entkräfteten
Klang hinterlassen[20].
Nicht umsonst wurde Weiß als reiner Freude Gewand gewählt und
unbefleckter Reinheit. Und Schwarz als Gewand der größten, tiefsten
Trauer und als Symbol des Todes. Das Gleichgewicht dieser beiden
Farben, welches durch mechanische Mischung entsteht, bildet Grau.
Natürlich kann eine derartig entstandene Farbe keinen äußeren Klang
und keine Bewegung bieten. Grau ist klanglos und unbeweglich. Diese
Unbeweglichkeit ist aber eines anderen Charakters wie die Ruhe des
Grün, welches zwischen zwei aktiven Farben liegt und ihr Produkt ist.
Das Grau ist deswegen die Unbeweglichkeit, die trostlos ist. Je dunkler
dieses Grau wird, desto mehr Übergewicht bekommt das Trost-lose,
kommt das Erstickende zur Geltung. Bei Aufhellen kommt eine Art
Luft, Möglichkeit des Atmens in die Farbe, die ein gewisses Element
von versteckter Hoffnung enthält. Ein ähnliches Grau entsteht durch
optische Mischung von Grün und Rot: es entsteht aus geistiger Mischung
der selbstzufriedenen Passivität und eines starken aktiven Glühens in
sich[21].
Das _Rot_, so wie man es sich' denkt, als grenzenlose, charakteristisch
warme Farbe, wirkt innerlich als eine sehr lebendige, lebhafte,
unruhige Farbe, die aber nicht den leichtsinnigen Charakter des sich
nach allen Seiten verbrauchenden Gelb besitzt, sondern trotz aller
Energie und Intensität eine starke Note von beinahe zielbewußter
immenser Kraft zeugt. Es ist in diesem Brausen und Glühen hauptsächlich
_in sich_ und sehr wenig nach außen, eine sozusagen männliche Reife
(siehe Tabelle II).
Dieses ideale Rot kann aber in realer Wirklichkeit große Änderungen,
Abschweifungen und Verschiedenheiten dulden. Das Rot ist sehr reich und
verschieden in der materiellen Form. Man denke sich nur: Saturn-rot,
Zinnoberrot, Englischrot, Krapplack, vom hellsten in die dunkelsten
Töne! Diese Farbe zeigt die Möglichkeit, den Grundton ziemlich zu
behalten und dabei charakteristisch warm oder kalt auszusehen[22].
Das helle warme Rot (_Saturn_) hat eine gewisse Ähnlichkeit mit
Mittelgelb (enthält auch als Pigment ziemlich viel Gelb) und erweckt
das Gefühl von Kraft, Energie, Streben, Entschlossenheit, Freude,
Triumph (lauter) usw. Es erinnert musikalisch auch an den Klang der
Fanfaren, wobei die Tuba beiklingt--hartnäckiger, aufdringlicher,
starker Ton.
Im mittleren Zustande, wie _Zinnober_, gewinnt das Rot an der
Beständigkeit des scharfen Gefühls: es ist wie eine gleichmäßig
glühende Leidenschaft, eine in sich sichere Kraft, die nicht leicht zu
übertönen ist, die sich aber durch Blau löschen läßt, wie glühendes
Eisen durch Wasser. Dieses Rot verträgt überhaupt nichts Kaltes und
verliert durch dasselbe an seinem Klang und Sinn. Oder besser zu sagen:
diese gewaltsame, tragische Abkühlung erzeugt einen Ton, welcher als
"_Schmutz_" besonders heute von Malern vermieden und verpönt wird. Und
dieses mit Unrecht. Der Schmutz in materieller Form als materielle
Vorstellung, als materielles Wesen besitzt jedem anderen Wesen gleich
seinen inneren Klang. Deshalb ist das Vermeiden des Schmutzes in
der Malerei heute ebenso ungerecht und einseitig, wie die gestrige
Angst vor "reiner" Farbe es war. Nie soll vergessen werden, daß alle
Mittel rein sind, die aus innerer Notwendigkeit entspringen. Hier
ist das äußerlich Schmutzige innerlich rein. Sonst ist das äußerlich
Reine innerlich schmutzig. Mit Gelb verglichen sind Saturn- und
Zinnoberrot ähnlichen Charakters, wobei aber das Streben zum Menschen
viel geringer ist: dieses Rot glüht, aber mehr _in sich_, der etwas
wahnsinnige Charakter des Gelb fehlt ihm beinahe ganz. Deswegen
wird es vielleicht mehr geliebt als Gelb: es wird gerne und viel in
primitiver, volkstümlicher Ornamentik gebraucht und auch viel in
Volks-trachten verwendet, wo es im Freien als Komplementärfarbe zu Grün
besonders "schön" wirkt. Dieses Rot ist hauptsächlich materiellen und
sehr aktiven Charakters (isoliert genommen) und nicht zur Vertiefung
geneigt, ebenso wie Gelb. Nur durch das Eindringen in ein höheres
Milieu bekommt dieses Rot einen tieferen Klang. Das Vertiefen durch
Schwarz ist gefährlich, da das tote Schwarz die Glut löscht und auf
das Minimum reduziert. Es entsteht aber dabei das stumpfe, harte,
wenig zur Bewegung fähige _Braun_, in welchem das Rot wie ein kaum
hörbares Brodeln klingt. Und trotzdem entspringt diesem äußerlich
leisen Klang ein lauter gewaltsamer innerer. Durch notwendige Anwendung
des Braun entsteht eine unbeschreibliche innere Schönheit: das Hemmen.
Zinnoberrot klingt wie die Tuba und kann in Parallele gezogen werden
mit starken Trommelschlägen.
Wie jede im Grunde kalte Farbe, läßt sich auch _das kalte Rot_ (wie
Krapplack) sehr vertiefen (besonders durch Lasur). Es verändert sich
auch erheblich im Charakter: der Eindruck des tieferen Glühens wächst,
das Aktive verschwindet aber allmählich ganz. Dieses Aktive ist
aber andererseits nicht so vollkommen abwesend, wie z. B. im tiefen
Grün, sondern läßt eine Ahnung, ein Erwarten eines neuen energischen
Aufglühens wie etwas, was sich in sich zurückgezogen hat, was aber
auf der Lauer liegt und die versteckte Fähigkeit in sich birgt oder
hatte, einen wilden Sprung zu machen. Darin liegt auch der große
Unterschied zwischen ihm und der Vertiefung des Blau, da bei Rot auch
in dieser Lage doch etwas vom Körperlichen zu spüren ist. Es erinnert
doch an ein Element von Leidenschaften tragende, mittlere und tiefere
Töne des Cello. Das kalte Rot, wenn es hell ist, gewinnt noch mehr an
Körperlichem, aber an reinem Körperlichen, klingt wie jugendliche,
reine Freude, wie eine frische, junge, ganz reine Mädchengestalt.
Dieses Bild ist leicht durch höhere klare, singende Töne der Geige
zu musikalischem Ausdruck zu bringen[23]. Diese Farbe, nur durch
Beimischung von Weiß intensiv werdend, ist als Kleidungsfarbe beliebt
für junge Mädchen.
Das warme Rot, durch verwandtes Gelb erhöht, bildet _Orange_. Durch
diese Beimischung wird die Bewegung in sich des Rot zum Anfang der
Bewegung des Ausstrahlens, des Zerfließens in die Umgebung gebracht.
Das Rote aber, welches eine große Rolle im Orange spielt, erhält
dieser Farbe den Beiklang des Ernstes. Es ist einem von seinen Kräften
überzeugten Menschen ähnlich und ruft deswegen ein besonders gesundes
Gefühl hervor. Wie eine mittlere Kirchenglocke, die zum Angelus ruft,
klingt diese Farbe, oder wie eine starke Altstimme, wie eine Largo
singende Altgeige.
Wie Orange entsteht durch das Näherziehen des Rot zum Menschen, ebenso
entsteht durch das Zurückziehen des Rot durch Blau das _Violett_,
welches die Neigung hat, vom Menschen sich weg zu bewegen. Dieses im
Grunde liegende Rot muß aber kalt sein, da das Warm des Rot mit dem
Kalt des Blau sich nicht mischen läßt (durch kein Verfahren), was auch
auf dem Gebiete des Geistigen stimmt.
Violett ist also ein abgekühltes Rot im physischen und
psychischen Sinne. Es hat deswegen etwas Krankhaftes, Erlöschtes
(Kohlenschlacken!), hat etwas Trauriges in sich. Diese Farbe wird nicht
umsonst als passend für Kleider alter Frauen gehalten. Die Chinesen
brauchen sie direkt als Farbe der Trauerkleider. Es ist dem Klange
ähnlich des englischen Horns, der Schalmei, und in der Tiefe den tiefen
Tönen der Holzinstrumente (z. B. Fagott)[24].
Beide letzte Farben, die aus einem Summieren von Rot mit Gelb oder Blau
entstehen, sind von einem wenig labilen Gleichgewicht. Bei der Mischung
der Farben beobachtet man die Neigung derselben, das Gleichgewicht zu
verlieren. Man bekommt das Gefühl eines Seiltänzers, welcher aufpassen
und nach beiden Seiten fortwährend balancieren muß. Wo beginnt Orange
und hört das Gelb, das Rot auf? Wo ist die Grenze des Violetts, welche
es streng von Rot oder Blau trennt[25]?
[Illustration: TABELLE III]
Beide zuletzt charakterisierten Farben (Orange und Violett) sind
der _vierte_ und letzte _Gegensatz_ im Farbenreiche der einfachen
primitiven Farbentöne, wobei sie zueinander stehen im physikalischen
Sinne so wie die des dritten Gegensatzes (Rot und Grün), d. h. als
Komplementärfarben (siehe Tabelle II).
Wie ein großer Kreis, wie eine sich in den Schwanz beißende Schlange
(das Symbol der Unendlichkeit und Ewigkeit) stehen vor uns die sechs
Farben, die in Paaren drei große Gegensätze bilden. Und rechts und
links die zwei großen Möglichkeiten des Schweigens; das des Todes und
das der Geburt (siehe Tabelle III).
* * * * *
Es ist klar, daß alle die gebrachten Bezeichnungen dieser nur einfachen
Farben sehr provisorisch und grob sind. So sind auch die Gefühle, die
als Bezeichnungen der Farben gebracht wurden (wie Freude, Trauer usw.).
Diese Gefühle sind auch nur materielle Zustände der Seele. Die Töne der
Farben, ebenso wie die der Musik, sind viel feinerer Natur, erwecken
viel feinere Vibrationen der Seele, die mit Worten nicht zu bezeichnen
sind. Jeder Ton kann sehr wahrscheinlich mit der Zeit einen Ausdruck
auch im materiellen Wort finden, es wird aber immer noch ein übriges
bleiben, was vom Worte nicht vollständig ausgeschöpft werden kann, was
aber nicht eine luxuriöse Beigabe des Tones ist, sondern gerade das
Wesentliche in demselben. Deswegen sind und bleiben Worte nur Winke,
ziemlich äußerliche Kennzeichen der Farben. In dieser Unmöglichkeit,
das Wesentliche der Farbe durch das Wort und auch durch andere Mittel
zu ersetzen, liegt die Möglichkeit der monumentalen Kunst. Hier unter
sehr reichen und verschiedenen Kombinationen ist eine zu finden, die
gerade auf der eben festgestellten Tatsache ruht. Und nämlich: derselbe
innere Klang kann hier in demselben Augenblicke durch verschiedene
Künste gebracht werden, wobei jede Kunst außer diesem allgemeinen Klang
noch das ihr geeignete wesentliche Plus zeigen wird und dadurch einen
Reichtum und eine Gewalt dem allgemeinen innern Klang hinzufügen wird,
die durch _eine_ Kunst nicht zu erreichen sind.
Welche dieser Harmonie an Kraft und Tiefe gleichkommenden Disharmonien
und unendlichen Kombinationen mit dem Übergewicht einer Kunst, mit dem
Übergewicht der Gegensätze verschiedener Künste auf dem Grund still
mitklingender anderer usw. usw. dabei möglich sind, kann jedem klar
werden.
Oft hört man die Meinung, daß die Möglichkeit, eine Kunst durch
andere zu ersetzen (z. B. durch das Wort resp. die Literatur), die
Notwendigkeit der Verschiedenheit der Künste widerlegen würde. Das ist
aber nicht der Fall. Wie gesagt, ist eine genaue Wiederholung desselben
Klanges durch verschiedene Künste nicht möglich. Wenn dieses aber
auch möglich wäre, so würde doch die Wiederholung desselben Klanges
wenigstens äußerlich anders gefärbt werden. Wenn aber auch dies nicht
der Fall wäre, wenn also die Wiederholung durch verschiedene Künste
desselben Klanges ganz genau jedesmal _denselben_ Klang (äußerlich und
innerlich) erzielen würde, so würde auch eine derartige Wiederholung
nicht überflüssig sein. Schon deswegen, weil verschiedene Menschen
für verschiedene Künste begabt sind (aktiv oder passiv, d. h. als
Absender oder als Empfänger des Klanges). Wenn aber auch dieses nicht
der Fall wäre, so würde doch dadurch die Wiederholung nicht einfach
bedeutungslos werden. Das Wiederholen derselben Klänge, die Aufhäufung
derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig ist zum
Reifen der Gefühle (auch der feinsten Substanz), so wie zum Reifen
verschiedener Früchte die verdichtete Atmosphäre eines Treibhauses
notwendig, eine absolute Bedingung zum Reifen ist. Ein leises Beispiel
davon ist der einzelne Mensch, auf welchen Wiederholung von Handlungen,
Gedanken, Gefühlen einen schließlich gewaltigen Eindruck macht, wenn
er auch wenig fähig ist, die einzelnen Handlungen usw. intensiv
aufzusaugen, wie ein ziemlich dichter Stoff die ersten Regentropfen[26].
Man muß sich aber nicht nur in diesem beinahe greifbaren Beispiel
die geistige Atmosphäre vorstellen. Diese ist geistig dasselbe wie
die Luft, die auch rein oder von verschiedenen fremden Elementen
erfüllt sein kann. Nicht nur Handlungen, die jeder beobachten kann,
und Gedanken und Gefühle, die äußeren Ausdruck haben können, sondern
auch ganz versteckte Handlungen, von welchen "niemand was weiß",
nicht ausgesprochene Gedanken, nicht zum äußeren Ausdruck gekommene
Gefühle (also Handlungen im Menschen) sind die Elemente, die die
geistige Atmosphäre bilden. Selbstmorde, Morde, Gewalttaten, unwürdige,
niedere Gedanken, Haß, Feindseligkeit, Egoismus, Neid, "Patriotismus",
Parteilichkeit sind geistige Gestalten, die Atmosphäre _schaffenden_
geistigen Wesen[27]. Und umgekehrt Selbstopfer, Hilfe, reine hohe
Gedanken, Liebe, Altruismus, Freude an anderer Glück, Humanität,
Gerechtigkeit sind eben solche Wesen, die die ersteren, wie die Sonne
die Mikroben, töten und reine Atmosphäre herstellen[28].
Die andere (kompliziertere) Wiederholung ist die, an welcher
verschiedene Elemente in verschiedener Form teilnehmen. In unserem
Falle verschiedene Künste (also realisiert und summiert--die
monumentale Kunst). Diese Form der Wiederholung ist noch gewaltiger, da
verschiedene Menschennaturen verschieden auf einzelne Mittel reagieren;
für die eine ist die zugänglichste die musikalische Form (die überhaupt
auf alle wirkt--die Ausnahmen sind zu selten), der zweiten--die
malerische, der dritten--die literarische usw. Außerdem sind die in
verschiedenen Künsten verborgenen Kräfte im Grunde verschieden, so daß
sie das zu erzielende Resultat auch bei denselben Menschen steigern,
wenn auch jede Kunst auf eigene Faust isoliert arbeitet.
* * * * *
Dieses schwer definierbare Wirken der einzelnen isolierten Farbe ist
der Grund, auf welchem verschiedene Werte _harmonisiert_ werden.
Es werden Bilder (kunstgewerblich--ganze Einrichtungen) in einem
Lokalton gehalten, welcher nach künstlerischem Gefühle gewählt wird.
Das Durchdringen eines farbigen Tones, das Zusammenbinden zweier
nebeneinander liegender Farben durch Beimischung einer zur anderen
ist die Basis, auf welcher oft die farbige Harmonie aufgebaut wurde.
Aus dem eben über Farbenwirkungen Gesagten, aus der Tatsache, daß
wir zu einer Zeit leben, die voll von Fragen, Ahnungen, Deutungen
ist und deswegen voll von Widersprüchen (man denke auch an die
Schichten des Dreiecks), können wir leicht die Folge ziehen, daß
gerade unserer Zeit ein Harmonisieren auf dem Grunde der einzelnen
Farbe am wenigsten passend ist. Vielleicht neidisch, mit trauriger
Sympathie können wir die Mozartschen Werke empfangen. Sie sind uns eine
willkommene Pause im Brausen unseres inneren Lebens, ein Trostbild
und eine Hoffnung, aber wir hören sie doch wie Klänge aus anderer,
vergangener, im Grunde uns fremder Zeit. Kampf der Töne, das verlorene
Gleichgewicht, fallende "Prinzipien", unerwartete Trommelschläge, große
Fragen, scheinbar zielloses Streben, scheinbar zerrissener Drang und
Sehnsucht, zerschlagene Ketten und Bänder, die mehrere zu einem machen,
Gegensätze und Widersprüche--das ist unsere Harmonie. Auf dieser
Harmonie fußende _Komposition ist eine Zusammenstellung farbiger und
zeichnerischer Formen, die als solche selbständig existieren, von der
inneren Notwendigkeit herausgeholt werden und im dadurch entstandenen
gemeinsamen Leben ein Ganzes bilden, welches Bild heißt._
Nur diese einzelnen Teile sind wesentlich. Alles übrige (also auch
das Behalten des gegenständlichen Elements) ist nebensächlich. Dieses
Übrige ist nur Beiklang.
Logisch fließt daraus auch die Zusammenstellung zweier farbiger Töne
miteinander. Auf demselben Prinzip der Antilogik werden jetzt Farben
nebeneinander gestellt, die lange Zeit für disharmonisch galten. So
ist es z. B. mit der Benachbarung von Rot und Blau, dieser in keinem
physikalischen Zusammenhang stehenden Farben, die aber gerade durch
den großen _geistigen Gegensatz_ unter ihnen als eine der stärkst
wirkenden, eine der best passenden Harmonien heute gewählt werden.
Unsere Harmonie ruht hauptsächlich auf dem Prinzip des Gegensatzes,
dieses zu allen Zeiten größten Prinzips in der Kunst. Unser Gegensatz
ist aber der des _inneren_ Gegensatzes, welcher allein dasteht und jede
Hilfe (heute Störung und Überflüssigkeit) anderer harmonisierender
Prinzipien ausschließt!
Merkwürdig, daß gerade diese Zusammenstellung von Rot und Blau dermaßen
bei den Primitiven beliebt war (bei den alten Deutschen, Italienern
usw.), daß sie sich bis heute in den Überbleibseln dieser Zeit (z. B.
der volkstümlichen Form der Herrgottschnitzerei) erhalten hat[29].
Sehr oft sieht man in solchen Werken der Malerei und farbigen Plastik
die Mutter Gottes im roten Hemd mit einem übergeworfenen blauen
Überkleid; es scheint, als ob die Künstler die _himmlische_ Gnade
bezeichnen wollten, die auf den _irdischen_ Menschen gesandt wurde
und das _Menschliche_ durch das _Göttliche_ verdeckte. Logisch fließt
aus der Bezeichnung unserer Harmonie, daß gerade "heute" die innere
Notwendigkeit ein unendlich großes Arsenal der Ausdrucksmöglichkeiten
braucht.
"Erlaubte", "unerlaubte" Zusammenstellungen, der Zusammenstoß
der verschiedenen Farben, das Übertönen einer durch die andere,
vieler durch eine, das Herausklingen einer aus der anderen, das
Präzisieren des farbigen Fleckes, das Auflösen ein- und vielseitiger,
das Zurückhalten des fließenden Farbenfleckes durch zeichnerische
Grenze, das Übersprudeln dieses Fleckes über diese Grenze, das
Ineinander-fließen, das scharfe Abtrennen usw. usw. eröffnen eine
sich in unerreichbare Fernen verlierende Reihe der reinmalerischen (=
farbigen) Möglichkeiten.
Die Abwendung vom Gegenständlichen und einer der ersten Schritte in
das Reich des Abstrakten war in zeichnerisch-malerischer Beziehung
das Ausschließen der dritten Dimension, d. h. das Streben, das "Bild"
als Malerei auf einer Fläche zu behalten. Es wurde die "Modellierung"
ausgeschaltet. Dadurch wurde der reale Gegenstand zum abstrakteren
gerückt, was einen gewissen Fortschritt bedeutete. Dieser Fortschritt
hatte aber sofort zur Folge das Annageln der Möglichkeiten an eine
reale Fläche der Leinwand, wodurch die Malerei einen neuen durchaus
materiellen Beiklang gewann. Dieses Annageln war gleichzeitig eine
Beschränkung der Möglichkeiten.
Das Streben, sich von diesem Materiellen und dieser Beschränkung
zu befreien, vereint mit dem Streben zum Kompositionellen, mußte
natürlich zum Verzicht auf _eine_ Fläche bringen. Es wurde versucht,
das Bild auf eine ideelle Fläche zu bringen, die sich dadurch vor der
materiellen Fläche der Leinwand bilden mußte[30]. So entstand aus
der Komposition mit flachen Dreiecken eine Komposition mit plastisch
gewordenen, dreidimensionalen Dreiecken, d. h. mit Pyramiden (der
sogenannte "Kubismus"). Es entstand aber auch hier sehr bald die
Inertionsbewegung, die gerade auf diese Form sich konzentrierte
und so wieder zur Verarmung an Möglichkeiten führte. Das ist das
unvermeidliche Resultat der äußerlichen Anwendung eines aus innerer
Notwendigkeit entsprungenen Prinzips.
Gerade in diesem Falle von ausschließlich großer Wichtigkeit soll man
nicht vergessen, daß es auch andere Mittel gibt, die materielle Fläche
zubehalten, eine ideelle Fläche zu bilden und die letztere nicht nur
als eine flache Fläche zu fixieren, sondern sie als dreidimensionalen
Raum auszunützen. Schon die Dünne oder die Dicke einer Linie, weiter
das Stellen der Form auf der Fläche, das Überschneiden einer Form durch
die andere sind als Beispiele für die zeichnerische Ausdehnung des
Raumes genügend. Ähnliche Möglichkeiten bietet die Farbe, die, richtig
angewendet, vor- oder zurücktreten und vor- oder zurückstreben kann und
das Bild zu einem in der Luft schwebenden Wesen machen kann, was der
malerischen Ausdehnung des Raumes gleichbedeutend ist.
Das Vereinen der beiden Ausdehnungen im Mit- oder Widerklang ist eines
der reichsten und gewaltigsten Elemente der zeichnerisch-malerischen
Komposition.
[Footnote 1: P. Signac o. c.--Siehe auch den interessanten Artikel von
K. _Scheffler_--"Notizen über die Farbe" (Dekorative Kunst, Febr.
1901).]
[Footnote 2: Sehr ähnliches Resultat, wie bei dem weiterfolgenden
Beispiel mit _Baum_ Dreieck steht, also die Bewegung. Dies ist von
großer Wichtigkeit für die Malerei.]
[Footnote 4: Wenn eine Form gleichgültig wirkt und, wie man es nennt,
"nichts sagt", so ist dieses nicht buchstäblich zu verstehen. Es gibt
keine Form, wie überhaupt nichts in der Welt, was nichts sagt. Dieses
Sagen gelangt aber oft zu unserer Seele nicht, und zwar dann, wenn das
Gesagte an und für sich gleichgültig ist oder, richtiger bezeichnet,
nicht an der richtigen Stelle angebracht wurde.]
[Footnote 5: Diese Bezeichnung "ausdrucksvoll" ist richtig zu
verstehen: manchmal ist die Form dann ausdrucksvoll, wenn sie
gedämpft ist. Die Form bringt manchmal gerade dann das Nötige am
ausdrucksvollsten, wenn sie nicht bis zur letzten Grenze geht, sondern
nur ein Wink ist, nur die Richtung zum äußeren Ausdruck zeigt.]
[Footnote 6: Das wesentliche des "Idealisierens" lag im Bestreben,
die organische Form zu verschönern, ideal zu machen, wobei leicht
das Schematische entstand und das innere Klingen des Persönlichen
verstumpfte. Das "Stilisieren", mehr aus dem impressionistischen
Grunde emporwachsend, hatte als ersten Zweck nicht die "Verschönerung"
der organischen Form, sondern ihr starkes Charakterisieren durch
das Auslassen der zufälligen Einzelheiten. Deswegen war das hier
entstehende Klingen ganz persönlichen Charakters, aber mit überwiegend
sprechendem Äußeren. Die kommende Behandlung und Veränderung der
organischen Form hat zum Ziel das Bloßlegen des _inneren_ Klanges. Die
organische Form dient hier nicht mehr zum direkten Objekt, sondern ist
nur ein Element der göttlichen Sprache, die Menschliches braucht, da
sie durch Menschen an Menschen gerichtet ist.]
[Footnote 7: Die große Komposition kann selbstverständlich aus
kleineren in sich geschlossenen Kompositionen bestehen, die äußerlich
sogar feindlich einander gegenüberstehen, aber doch der großen
Komposition (und gerade in diesem Falle durch das Feindliche) dienen.
Diese kleineren Kompositionen bestehen aus einzelnen Formen auch
verschiedener innerer Färbung.]
[Footnote 8: Starkes Beispiel dafür--die badenden Frauen von Cézanne,
Komposition im Dreieck. (Das mystische Dreieck!) Solches Aufbauen
in geometrischer Form ist ein altes Prinzip, welches zuletzt
verlassen wurde, da es in steife akademische Formeln ausartete, die
keinen inneren Sinn, keine Seele, mehr hatten. Die Anwendung dieses
Prinzips durch Cézanne gab demselben eine neue Seele, wobei das
Reinmalerisch-Kompositionelle besonders stark betont wurde. Das Dreieck
in diesem wichtigen Falle ist kein Hilfsmittel für Harmonisierung
der Gruppe, sondern das laut gebrachte künstlerische Ziel. Hier ist
die geometrische Form zur selben Zeit Mittel zur Komposition in der
Malerei: der Schwerpunkt ruht auf rein künstlerischem Streben bei
starkem Mitklingen des Abstrakten. Deswegen verändert Cézanne mit
vollem Recht die menschlichen Proportionen: nicht nur die ganze Figur
muß zur Spitze des Dreiecks streben, sondern auch einzelne Körperteile
werden immer stärker von unten nach oben wie durch inneren Sturm in die
Höhe getrieben, werden immer leichter und dehnen sich sichtlich aus.]
[Footnote 9: Was man Bewegung nennt; z. B. ein Dreieck einfach nach
oben gerichtet klingt ruhiger, unbeweglicher, stabiler, als dasselbe
Dreieck schief auf die Fläche gestellt.]
[Footnote 10: Der große, vielseitige Meister Leonardo da Vinci
ersann ein System oder eine Skala von Löffelchen, mit welchen
verschiedene Farben zu nehmen waren. Es sollte dadurch ein mechanisches
Harmonisieren erreicht werden. Einer seiner Schüler quälte sich mit
der Anwendung dieses Hilfsmittels, und durch Mißerfolge verzweifelt,
wendete er sich an seinen Kollegen mit der Frage, wie der Meister
selbst mit den Löffelchen umgehe. "Der Meister wendet sie nie an",
antwortete ihm der Kollege. (Mereschkowski: "Leonardo da Vinci",
deutsche Übersetzung von A. Eliasberg im Verlage R. Piper & Co.,
München.)]
[Footnote 11: Der Begriff "Äußeres" soll hier nicht mit dem Begriff
"Materie" verwechselt werden. Den ersten Begriff brauche ich nur als
einen Ersatz für "äußere Notwendigkeit", welche nie über die Grenzen
des anerkannten und also nur traditionellen "Schönen" führen kann.
Die "innere Notwendigkeit" kennt diese Grenzen nicht und schafft
dadurch oft Dinge, die man gewöhnt ist, als "häßlich" zu bezeichnen.
"Häßlich" ist also nur ein Gewohnheitsbegriff, welcher als äußeres
Resultat einer der früher gewirkt habenden und schon verkörperten
inneren Notwendigkeiten noch lange ein Scheinleben weiter führt. Als
häßlich wurde in dieser vergangenen Zeit alles gestempelt, was damals
in keinem Zusammenhang mit der inneren Notwendigkeit stand. Was aber
im Zusammenhang mit ihr war, wurde als schön definiert. Und dieses
letzte mit Recht,--alles, was die innere Notwendigkeit hervorruft,
ist schon dadurch schön. Und wird auch als solches früher oder später
unvermeidlich anerkannt.]
[Footnote 12: Alle diese Behauptungen sind Resultate
empirisch-seelischer Empfindung und sind auf keiner positiven
Wissenschaft basiert.]
[Footnote 13: So wirkt z. B. der gelbe bayerische Briefkasten, wenn
er seine ursprüngliche Farbe nicht verloren hat. Es ist interessant,
daß die Zitrone gelb ist (scharfe Säure), der Kanarienvogel gelb ist
(scharfes Singen). Hier ist eine besondere Intensität des farbigen
Tones vorhanden.]
[Footnote 14: Das Korrespondieren der farbigen und musikalischen
Töne ist selbstverständlich nur relativ. Ebenso wie eine Geige sehr
verschiedene Töne entwickeln kann, die verschiedenen Farben entsprechen
können, so ist es z. B. auch bei dem Gelb, welches in verschiedenen
Nuancen durch verschiedene Instrumente ausgedrückt werden kann. Man
denkt sich bei solchen hier stehenden Parallelismen hauptsächlich den
mittelklingenden reinen farbigen Ton und in der Musik den mittleren Ton
ohne Variierung desselben durch Vibrieren, Dämpfer etc.]
[Footnote 15: ... les nymbes ... sont dorés pour l'empereur et les
prophètes (also für Menschen) et _bleu_ de ciel pour les personnages
symboliques (also für nur geistig existierende Wesen). (Kondakoff, N.
Histoire de l'art bysantin consid. princip. dans les miniatures. Paris
1886--1891. Vol. II, p. 38, 2.)]
[Footnote 16: Nicht wie Grün--welches, wie wir später sehen werden,
irdische, selbstzufriedene Ruhe ist--sondern feierliche, überirdische
Vertiefung. Dies ist buchstäblich zu verstehen: auf dem Wege zu diesem
"über" liegt das "irdische", welches nicht zu vermeiden ist. Alle
Qualen, Fragen, Widersprüche des Irdischen müssen erlebt werden. Keiner
hat sich ihnen entzogen. Auch hier ist innere Notwendigkeit, die durch
das Äußere verdeckt wird. Die Erkenntnis dieser Notwendigkeit ist die
Quelle der "Ruhe". Da uns aber _diese_ Ruhe am entferntesten liegt, so
können wir uns auch im Farbenreiche dem Überwiegen des Blau innerlich
schwer nähern.]
[Footnote 17: Auch anders als violett, wie dieses weiter unten
bezeichnet wird.]
[Footnote 18: So wirkt auch das ideale, viel gepriesene Gleichgewicht.
Wie gut Christus auch das gesagt hat: "Du bist weder kalt noch
warm...."]
[Footnote 19: Van Gogh stellt in seinen Briefen die Frage, ob er
nicht eine weiße Mauer direkt weiß malen könnte. Diese Frage,
die für einen Nichtnaturalisten keine Schwierigkeiten bieten
kann, da er Farbe als inneren Klang braucht, erscheint einem
impressionistisch-naturalistischen Maler als ein kühnes Attentat auf
die Natur. Diese Frage muß dem letzteren Maler ebenso revolutionär
vorkommen, wie seinerzeit revolutionär und verrückt die Änderung der
braunen Schatten in blaue schien (das beliebte Beispiel vom "grünen
Himmel und blauen Gras"). Wie im letzteren Falle der Übergang vom
Akademismus und Realismus zum Impressionismus und Naturalismus zu
erkennen ist, so ist in der Frage van Goghs der Kern der "Übersetzung
der Natur" zu bemerken, d. h. der Neigung, die Natur nicht als
äußerliche Erscheinung darzustellen, sondern überwiegend das Element
der _inneren Impression_, die kürzlich _Expression_ genannt wurde,
kundzugeben.]
[Footnote 20: Das Zinnoberrot z. B. klingt auf Weiß matt und schmutzig,
auf Schwarz bekommt es eine grelle, reine verblüffende Kraft. Hellgelb
wird schwach, zerfließend auf Weiß; auf Schwarz wirkt es so stark, daß
es sich direkt vom Hintergrunde befreit, in der Luft schwebt und ins
Auge springt.]
[Footnote 21: Grau--Unbeweglichkeit und _Ruhe_. Dieses ahnte schon
Delacroix, welcher Ruhe durch Mischung von Grün und Rot erzielen wollte
(Signac o. c).]
[Footnote 22: Warm und kalt kann freilich jede Farbe sein, aber nirgend
findet man diesen Oegensatz so groß wie beim Rot. Eine Fülle von
inneren Möglichkeiten!]
[Footnote 23: Reine, freudige, oft nacheinander folgende Töne kleiner
Glocken (auch Pferdeschellen) werden im Russischen als "himbeerfarbenes
Klingen" bezeichnet. Die Farbe des Himbeersaftes liegt nahe dem eben
beschriebenen hell und kalt Rot.]
[Footnote 24: Unter Künstlern antwortet man manchmal scherzweise auf
die Frage nach dem Befinden: "ganz Violett", was nichts Erfreuliches
bedeutet.]
[Footnote 25: Das Violett hat auch eine Neigung, zum Lila überzugehen.
Und wann endet dies und fängt das andere an?]
[Footnote 26: Äußerlich ist auf dieser Wiederholung die Wirkung der
Reklame basiert.]
[Footnote 27: Es gibt Perioden der Selbstmorde, der feindlichen
Kriegsgefühle etc. Krieg und Revolution (letztere in kleinerer Dosis
als der Krieg) sind Produkte solcher Atmosphäre, welche durch sie
weiter verpestet wird. Mit dem Maß, mit dem du mißt, wird auch dir
gemessen werden!]
[Footnote 28: Solche Zeiten kennt die Geschichte auch. War eine größere
da, als das Christentum, welches die Schwächsten in den geistigen Kampf
mitriß? Auch im Kriege und der Revolution gibt es Agenzien, die zu
dieser Gattung gehören und die ebenso die Pestluft entdichten.]
[Footnote 29: Mit vielen koloristischen Entschuldigungen brachte in
seinen früheren Bildern diese Zusammenstellung wahrscheinlich als einer
der ersten noch "gestern" Frank Brangwin.]
[Footnote 30: Siehe z. B. den Artikel von _Le Fauconnier_ in dem
Katalog der II. Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München
(1910--11).]
[Illustration]
VII.
THEORIE
Aus der Charakteristik unserer heutigen Harmonie folgt von selbst, daß
es zu unserer Zeit weniger als je möglich ist, eine vollkommen fertige
Theorie zu bauen[1], einen konstruierten malerischen Generalbaß zu
schaffen. Solche Versuche würden in der Praxis zum selben Resultat
führen, welches z. B. die schon erwähnten Löffelchen Leonardo da
Vincis gebracht haben. Aber zu behaupten, daß es in der Malerei nie
feste Regeln, an Generalbaß erinnernde Prinzipien geben wird, oder daß
dieselben stets nur zu Akademismus führen werden, wäre doch übereilt.
Auch die Musik kennt ihre Grammatik, die aber wie alles Lebende sich in
großen Perioden verändert, die andererseits gleichzeitig, als Hilfe,
als eine Art. Wörterbuch immer erfolgreiche Anwendung fand.
Unsere Malerei ist aber wieder heute in einem anderen Zustand; ihre
_Emanzipation_ von der direkten Abhängigkeit von der "Natur" ist im
allerersten Anfange. Wenn bis jetzt die Farbe und Form als innere
Agentien verwendet wurden, so war es hauptsächlich unbewußt. Das
Unterordnen der Komposition einer geometrischen Form wurde schon in
alter Kunst angewandt (z. B. bei den Persern). Das Bauen aber auf der
rein geistigen Basis ist eine lange Arbeit, die erst ziemlich blind
und aufs Geratewohl beginnt. Dabei ist es nötig, daß der Maler außer
seinen Augen auch seine Seele kultiviert, damit sie auch fähig wird,
die Farbe auf ihrer Wage zu wiegen und nicht nur beim Empfangen der
äußeren Eindrücke (auch freilich hie und da der inneren), sondern als
bestimmende Kraft beim Entstehen ihrer Werke tätig ist.
Wenn wir schon heute anfangen würden, ganz das Band, das uns mit
der Natur verknüpft, zu vernichten, mit Gewalt auf die Befreiung
loszusteuern und uns ausschließlich mit der Kombination von reiner
Farbe und unabhängiger Form zu begnügen, so würden wir Werke schaffen,
die wie eine geometrische Ornamentik aussehen, die, grob gesagt,
einer Krawatte, einem Teppich gleichen würden. Die Schönheit der
Farbe und der Form ist (trotz der Behauptung der reinen Ästheten oder
auch der Naturalisten, die hauptsächlich auf "Schönheit" zielen) kein
genügendes Ziel in der Kunst. Wir sind eben infolge unseres elementaren
Zustandes in der Malerei sehr wenig fähig, von ganz emanzipierter
Farben-, Formenkomposition schon heute ein inneres Erlebnis zu
erhalten. Die Nervenvibration wird freilich vorhanden sein (wie etwa
vor kunstgewerblichen Werken), sie bleibt aber hauptsächlich im
Bereiche der Nerven stecken, weil sie zu schwache Gemütsvibrationen,
Erschütterungen der Seele hervorrufen wird. Wenn wir aber bedenken, daß
die geistige Wendung ein direkt stürmisches Tempo angeschlagen hat, daß
auch die "festeste" Basis des menschlichen Geisteslebens, d. h. die
positive Wissenschaft, mitgerissen wird und vor der Tür der Auflösung
der Materie steht, so kann behauptet werden, daß nur noch wenige
"Stunden" uns von dieser reinen Komposition trennen.
Auch die Ornamentik ist freilich kein ganz lebloses Wesen. Sie hat
ihr inneres Leben, welches uns entweder nicht mehr verständlich ist
(alte Ornamentik), oder nur ein alogischer Wirrwarr ist, eine Welt,
wo sozusagen erwachsene Menschen und Embryos gleich behandelt werden
und gesellschaftlich gleiche Rollen spielen, wo Wesen mit abgerissenen
Körperteilen auf ein Brett mit selbständig lebenden Nasen, Zehen und
Nabeln gestellt werden. Es ist der Wirrwarr eines Kaleidoskopes[2], wo
der materielle Zufall und nicht der Geist der Urheber ist. Und trotz
dieser Unverständlichkeit oder Unfähigkeit, überhaupt verständlich
zu werden, wirkt auf uns die Ornamentik doch, wenn auch zufällig und
planlos[3]: ein orientalisches Ornament ist auch innerlich ganz anders
als ein schwedisches, negerisches, altgriechisches usw. Nicht ohne
Grund ist es z. B. allgemein gebräuchlich, Musterstoffe als lustig,
ernst, traurig, lebhaft usw. zu bezeichnen, d. h. mit denselben
Adjektiven, welche von den Musikern stets gebraucht werden (Allegro,
Serioso, Grave, Vivace etc.), um den Vortrag des Stückes zu bestimmen.
Es ist zum großen Teile möglich, daß das Ornament auch einst aus der
Natur entstand (auch die modernen Kunstgewerbler suchen ihre Motive
in Feldern und Wäldern). Aber wenn wir auch annehmen würden, daß
keine andere Quelle als äußere Natur gebraucht war, so wurden doch
im guten Ornament andererseits die Naturformen und Farben nicht rein
äußerlich behandelt, sondern vielmehr als Symbole, die schließlich
beinahe hieroglyphisch angewendet wurden. Und gerade deswegen wurden
sie allmählich unverständlich, und wir können nicht mehr ihren inneren
Wert entziffern. Ein chinesischer Drache z. B., welcher in seiner
ornamentalen Form doch sehr viel präzis Körperliches beibehalten hat,
wirkt auf uns so wenig, daß wir ihn ruhig in Eß- und Schlafzimmern
vertragen können und nicht stärker als einen Tischläufer mit gestickten
Gänseblümchen empfinden.
[Illustration: Kandinsky. Impression Nr. 4]
Es wird sich vielleicht zum Schlüsse unserer jetzt dämmernden Periode
wieder eine neue Ornamentik entwickeln, die aber kaum aus geometrischen
Formen bestehen wird. Heute aber, an der Stelle, an der wir angelangt
sind, würde ein Versuch, diese Ornamente mit Gewalt zu schaffen, dem
Versuch gleichen, eine kaum angedeutete Knospe durch Gewalt der Finger
zur Blume öffnen zu wollen.
Wir Sind heutzutage noch fest an die äußere Natur gebunden und müssen
unsere _Formen_ aus ihr schöpfen. Die ganze Frage ist nun die: wie
dürfen wir das machen? d. h. wie weit darf unsere Freiheit gehen, diese
Formen zu ändern und mit welchen Farben dürfen sie verbunden werden?
Diese Freiheit darf so weit gehen, so weit das Gefühl des Künstlers
reichen kann. Von diesem Standpunkte aus ist zugleich zu sehen, wie
unendlich groß die Notwendigkeit der Pflege dieses Gefühls ist.
Einige Beispiele werden das zweite Glied der Frage ziemlich ausreichend
beantworten.
Die stets erregende, isoliert betrachtete, warme rote Farbe wird
ihren inneren Wert wesentlich verändern, wenn sie nicht mehr isoliert
ist und als abstrakter Laut bleibt, sondern zum Element eines Wesens
verwendet wird, indem sie mit einer naturellen Form verbunden wird.
Dieses Summieren des Rot mit verschiedenen naturellen Formen wird auch
verschiedene innere Wirkungen verursachen, die aber durch die ständige
sonst isolierte Wirkung des Rot verwandt klingen werden. Verbinden
wir dieses Rot mit Himmel, Blume, Kleid, Gesicht, Pferd, Baum. Ein
roter Himmel bringt uns auf die Assoziation mit Sonnenuntergang,
Brand und dergleichen. Es ist also eine "natürliche" (diesmal
feierliche, drohende) Wirkung, die dabei entsteht. Nun hängt freilich
sehr viel davon ab, wie die anderen Gegenstände, die mit dem roten
Himmel kombiniert werden, behandelt werden. Wenn sie in eine kausale
Verbindung gestellt werden, und auch mit für sie möglichen Farben
verbunden werden, so klingt das Naturelle im Himmel noch stärker. Wenn
aber die anderen Gegenstände sehr von der Natur entrückt sind, so
können sie dadurch den "natürlichen" Eindruck des Himmels abschwächen,
eventuell sogar vernichten. Ziemlich ähnlich wird die Verbindung des
Rot mit einem Gesicht ausfallen, wo das Rot als Gemütserregung der
gemalten Figur wirken kann, oder durch eine spezielle Beleuchtung
erklärt wird, wobei derartige Wirkungen nur durch große Abstraktion der
anderen Teile des Bildes zerstört werden können.
Rot im Kleid ist dagegen ein ganz anderer Fall, da das Kleid von jeder
beliebigen Farbe sein kann. So ein Rot wird am liebsten eventuell als
"malerische" Notwendigkeit wirken können, da das Rot hier allein ohne
eine direkte Assoziation mit materiellen Zielen behandelt werden kann.
Aber es entsteht doch eine gegenseitige Wirkung von diesem Rot im Kleid
auf die mit diesem Rot bekleidete Figur und umgekehrt. Wenn z. B.
die ganze Note des Bildes eine traurige ist und diese Note besonders
in der in Rot gekleideten Figur konzentriert ist (durch die Stellung
der Figur in der ganzen Komposition, durch ihre eigene Bewegung,
durch Gesichtszüge, Haltung des Kopfes, Farbe des Gesichtes usw.),
so wird dieses Rot im Kleid als Gemütsdissonanz ganz besonders stark
die Traurigkeit des Bildes und besonders dieser Hauptfigur betonen.
Unbedingt würde hier eine andere Farbe, die selbst traurig wirkte, den
Eindruck schwächen durch Verminderung des dramatischen Elementes[4].
Also wieder das schon erwähnte Prinzip des Gegensatzes. Das dramatische
Element entsteht hier nur durch Einschließen des Rot in die gesamte
traurige Komposition, da das Rot, wenn es ganz isoliert ist (also
auch auf die ruhige Spiegelfläche der Seele fällt), bei gewöhnlichen
Zuständen nicht traurig wirken kann[5].
Wieder anders wird es stehen, wenn dasselbe Rot an einem Baum verwendet
wird. Der Grundton des Rot bleibt, wie in allen erwähnten Fällen. Dazu
wird sich aber der seelische Wert des Herbstes anschließen (da das Wort
"Herbst" allein eine seelische Einheit ist, wie es auch jeder reale,
abstrakte, unkörperliche, körperliche Begriff ist). Die Farbe verbindet
sich vollständig mit dem Gegenstand und bildet ein isoliert wirkendes
Element ohne den dramatischen Beiklang, welchen ich bei Anwendung des
Rot am Kleide eben erwähnt habe.
Ein ganz anderer Fall endlich ist ein rotes Pferd. Schon der Klang
dieser Worte versetzt uns in eine andere Atmosphäre. Die naturelle
Unmöglichkeit eines roten Pferdes verlangt unbedingt ein ebenso
unnaturelles Milieu, in welches dieses Pferd gestellt wird. Andernfalls
kann die Gesamtwirkung entweder als Kuriosität wirken (also nur
oberflächliche und ganz unkünstlerische Wirkung), oder als ein
ungeschickt aufgefaßtes Märchen[6] (also als begründete Kuriosität
mit unkünstlerischer Wirkung). Eine gewöhnliche, naturalistische
Landschaft, modellierte, anatomisch gezeichnete Figuren würden mit
diesem Pferd einen solchen Mißklang bilden, welchem kein Gefühl folgen
würde und was in Eins zu verbinden es keine Möglichkeit geben würde.
Wie dieses "Eins" zu verstehen ist, und wie es sein kann, zeigt die
Definierung der heutigen Harmonie. Daraus ist zu schließen, daß es
möglich ist, das ganze Bild zu spalten, in Widersprüche zu tauchen,
durch alle Art äußere Flächen zu führen, auf alle Art äußeren Flächen
zu bauen, wobei aber die _innere Fläche_ immer dieselbe bleibt. Die
Elemente der Konstruktion des Bildes sind eben jetzt nicht auf diesem
Äußern, sondern nur auf der _inneren Notwendigkeit_ zu suchen.
Der Zuschauer ist auch zu sehr gewöhnt, in solchen Fällen einen "Sinn",
d. h. einen äußerlichen Zusammenhang der Teile des Bildes, zu suchen.
Wieder hat dieselbe materialistische Periode im ganzen Leben und also
auch in der Kunst einen Zuschauer ausgebildet, welcher sich dem Bilde
nicht einfach gegenüberstellen kann (besonders ein "Kunstkenner")
und im Bilde alles mögliche sucht (Naturnachahmung, Natur durch das
Temperament des Künstlers--also dieses Temperament, direkte Stimmung,
"Malerei", Anatomie, Perspektive, äußerliche Stimmung usw. usw.), nur
sucht er nicht, das innere Leben des Bildes selbst zu fühlen, das
_Bild_ auf sich direkt wirken zu lassen. Durch die äußeren Mittel
geblendet, sucht sein geistiges Auge nicht, _was_ durch diese Mittel
lebt. Wenn wir ein interessantes Gespräch mit einem Menschen führen,
so suchen wir uns in seine Seele zu vertiefen, suchen die innere
Gestalt, seine Gedanken und Gefühle und denken nicht daran, daß er sich
Worte zu Hilfe nimmt, die aus Buchstaben bestehen, daß die Buchstaben
nichts wie zweckmäßige Laute sind, die zur Entstehung das Einziehen
der Luft in die Lunge brauchen (anatomischer Teil), durch Ausstoßen
der Luft aus der Lunge und spezielle Stellung der Zunge, Lippen usw.
eine Luftvibration verursachen (physikalischer Teil), die weiter durch
das Trommelfell usw. zu unserem Bewußtsein gelangen (psychologischer
Teil), die eine Nervenwirkung erzielen (physiologischer Teil) usw. ins
Unendliche. Wir wissen, daß alle diese Teile bei unserer Unterhaltung
sehr nebensächlich sind, rein zufällig, als momentan notwendige äußere
Mittel gebraucht werden müssen und daß das _Wesentliche im Gespräch_
die Mitteilung der Ideen und Gefühle ist. Ebenso sollte man sich zum
Kunstwerk stellen und sich die direkte abstrakte Wirkung des Werkes
dadurch verschaffen. Dann wird mit der Zeit die Möglichkeit sich
entwickeln, durch reine künstlerische Mittel zu sprechen, dann wird es
überflüssig werden, Formen aus der äußerlichen Welt zum innerlichen
Sprechen zu leihen, die uns heute die Gelegenheit geben, Form und Farbe
verwendend, dieselben im innern Werte zu vermindern oder zu steigern.
Der Gegensatz (wie das rote Gewand in der traurigen Komposition) kann
unbegrenzt gewaltig sein, muß aber auf einer und derselben moralischen
Fläche bleiben.
Wenn aber diese Fläche auch vorhanden ist, so wird damit die
Farbenfrage in unserm Beispiel nicht ganz gelöst. Die "unnatürlichen"
Gegenstände und die dazu stimmenden Farben können leicht einen
literarischen Klang bekommen, indem die Komposition als ein Märchen
wirkt. Dies letzte Resultat versetzt den Zuschauer in eine Atmosphäre,
welche er, da sie märchenhaft ist, ruhig gelten läßt, und wo er dann
1. die Fabel sucht, 2. unempfindlich oder wenig empfindlich gegen die
reine Farbenwirkung bleibt. Jedenfalls ist in diesem Falle die direkte,
reine innere Wirkung der Farbe nicht mehr möglich: das Äußerliche hat
leicht über das Innerliche Übergewicht. Und der Mensch im allgemeinen
geht nicht gerne in große Tiefen, er bleibt gerne an der Oberfläche,
da dieselbe weniger Anstrengung verlangt. Es gibt zwar "nichts
tieferes als Oberflächlichkeit", aber diese Tiefe ist die des Sumpfes.
Gibt es andererseits eine Kunst, die leichter genommen wird als die
"plastische"? Jedenfalls sobald sich der Zuschauer im Märchenlande
glaubt, ist er sofort gegen starke seelische Vibrationen immun. Und so
wird das Ziel des Werkes zu Nichts. Deswegen muß eine Form gefunden
werden, die erstens die Märchenwirkung[7] ausschließt und zweitens
die reine Farbenwirkung in keiner Weise hemmt. Zu diesem Zweck müssen
Form, Bewegung, Farbe, die aus der Natur (realen oder nicht realen)
geliehenen Gegenstände keine äußerliche und äußerlich verbundene
erzählerische Wirkung hervorrufen. Und je äußerlich unmotivierter z. B.
die Bewegung ist, desto reiner, tiefer und innerlicher wirkt sie.
* * * * *
Eine sehr einfache Bewegung, von welcher das Ziel unbekannt ist, wirkt
schon an und für sich als eine bedeutende, geheimnisvolle, feierliche.
Und das, solange man das äußerliche, praktische Ziel der Bewegung nicht
kennt. Dann wirkt sie als reiner Klang. Eine einfache gemeinsame Arbeit
(z. B. die Vorbereitung zur Hebung eines großen Gewichtes) wirkt,
wenn das Ziel unbekannt ist, so bedeutungsvoll, so geheimnisvoll, so
dramatisch und packend, daß man unwillkürlich stehen bleibt, wie vor
einer Vision, wie vor einem Leben auf anderer Fläche, bis plötzlich der
Zauber fort ist, die praktische Erklärung wie ein Schlag kommt und das
rätselhafte Vorgehen und den Grund desselben bloßlegt. In der einfachen
Bewegung, die äußerlich nicht motiviert ist, liegt ein unermeßlicher
Schatz voller Möglichkeiten. Solche Fälle kommen besonders dann leicht
vor, wenn man in abstrakte Gedanken vertieft hinwandert. Diese Gedanken
reißen den Menschen aus dem alltäglichen, praktischen, zweckmäßigen
Treiben. Deswegen wird das Beobachten solcher einfacher Bewegungen
außerhalb des praktischen Kreises möglich. Sobald man sich aber
erinnert, daß in unseren Straßen nichts Rätselhaftes vorkommen darf,
so fällt im selben Augenblicke das Interesse für die Bewegung aus:
der praktische Sinn der Bewegung löscht den abstrakten Sinn derselben
aus. Auf diesem Prinzip sollte und wird der "neue Tanz" gebaut werden,
der das einzige Mittel ist, die _ganze_ Bedeutung, den ganzen inneren
Sinn der Bewegung in _Zeit und Raum_ auszunützen. Der Ursprung des
Tanzes ist scheinbar rein sexueller Natur. Jedenfalls sehen wir noch
heute dieses ursprüngliche Element im Volkstanze entblößt liegen.
Die später entstandene Notwendigkeit, den Tanz als Mittel zum
Gottesdienst zu gebrauchen (Mittel zur Inspiration), bleibt sozusagen
auf der Fläche der angewandten Ausnützung der Bewegung. Allmählich
bekamen diese beiden praktischen Verwendungen eine künstlerische
Färbung, die sich durch Jahrhunderte entwickelte und mit der Sprache
der Ballettbewegungen endete. Diese Sprache ist heute nur wenigen
verständlich und verliert immer an Klarheit. Außerdem ist sie für die
kommende Zeit viel zu naiver Natur: sie diente eben nur dem Ausdrucke
der materiellen Gefühle (Liebe, Angst usw.) und muß durch eine andere
ersetzt werden, die imstande ist, feinere seelische Vibrationen zu
verursachen. Aus diesem Grunde haben die Tanzreformatoren unserer Zeit
ihren Blick zu vergangenen Formen gewendet, wo sie auch noch heute
Hilfe suchen. So entstand das Band, welches Isadora Duncan zwischen
dem griechischen Tanz und dem kommenden anknüpfte. Dieses ist also aus
demselben Grunde geschehen, aus welchem die Maler bei den Primitiven
Hilfe suchten. Natürlich ist es auch im Tanz (ebenso wie in der
Malerei) nur ein Übergangsstadium. Wir stehen vor der Notwendigkeit
der Bildung des neuen Tanzes, des Tanzes der Zukunft. Dasselbe Gesetz
der unbedingten Ausnützung des _inneren_ Sinnes der Bewegung, als des
Hauptelementes des Tanzes, wird auch hier wirken und zum Ziele bringen.
Auch hier muß und wird die konventionelle "Schönheit" der Bewegung über
Bord geworfen und der "natürliche" Vorgang (Erzählung = literarisches
Element) als unnötig und schließlich störend erklärt. Ebenso wie in
der Musik oder in der Malerei kein "häßlicher Klang" und keine äußere
"Dissonanz" existiert, d. h. ebenso wie in diesen beiden Künsten jeder
Klang und Zusammenklang schön (= zweckmäßig) ist, wenn er aus der
inneren Notwendigkeit stammt, so wird bald auch im Tanze der innere
Wert _jeder_ Bewegung gefühlt und es wird die innere Schönheit die
äußere ersetzen. Den "unschönen" Bewegungen, die jetzt plötzlich schön
werden, entströmen sofort eine ungeahnte Gewalt und lebendige Kraft.
Von diesem Augenblick an beginnt der Tanz der Zukunft.
[Illustration: Kandinsky. Improvisation Nr. 18]
* * * * *
Dieser Tanz der Zukunft, welcher also auf die Höhe der heutigen
Musik und Malerei gestellt wird, wird in demselben Augenblick die
Fähigkeit bekommen, als das dritte Element, die _Bühnenkomposition_ zu
verwirklichen, welche das erste Werk der _Monumentalen Kunst_ sein wird.
Die Bühnenkomposition wird zunächst aus diesen drei Elementen bestehen:
1. musikalische Bewegung,
2. malerische Bewegung,
3. tanzkünstlerische Bewegung.
Nach dem oben von der reinmalerischen Komposition Gesagten wird jeder
verstehen, was ich unter der dreifachen Wirkung der inneren Bewegung (=
Bühnenkomposition) verstehe.
Ebenso wie die zwei Hauptelemente der Malerei (zeichnerische und
malerische Form) jedes ein selbständiges Leben führen, durch eigene
und nur ihnen allein eigene Mittel sprechen, ebenso wie aus der
Kombinierung dieser Elemente und ihrer sämtlichen Eigenschaften und
Möglichkeiten die Komposition in der Malerei entsteht, geradeso wird
die Komposition auf der Bühne unter Mit- (= Gegen-) Wirkung der
obengenannten drei Bewegungen möglich werden.
Der obenerwähnte Versuch Skrjabins (die Wirkung des musikalischen
Tones durch die Wirkung des entsprechenden farbigen Tones zu erhöhen)
ist natürlich nur ein sehr elementarer Versuch, welcher nur _eine_
Möglichkeit ist. Außer dem Mitklange zweier oder schließlich der drei
Elemente der Bühnenkomposition kann noch folgendes verwendet werden:
der Gegenklang, abwechselnde Wirkung der einzelnen, Verwendung der
vollkommenen Selbständigkeit (natürlich äußeren) jedes der einzelnen
Elemente usw. Gerade dieses letzte Mittel hat Arnold Schönberg in
seinen Quartetten schon angewendet. Und hier sieht man, wie stark
der _innere_ Zusammenklang an Kraft und Bedeutung gewinnt, wenn der
_äußere_ Zusammenklang in diesem Sinne gebraucht wird. Man denkt sich
nun die glückerfüllende neue Welt der drei mächtigen Elemente, die
einem schöpferischen Ziele dienen werden. Ich bin hier gezwungen, auf
das weitere Entwickeln dieses bedeutungsvollen Themas zu verzichten.
Der Leser soll nur das für die Malerei gegebene Prinzip auch in diesem
Falle korrespondierend verwenden und auch vor seinem geistigen Auge
wird sich von selbst der glückvolle Traum der Zukunftsbühne stellen.
Auf den verwickelten Wegen dieses neuen Reiches, welche durch schwarze
Urwälder, über unermeßliche Klüfte auf eisige Höhen, an schwindelnden
Abgründen als ein endloses Netz vor dem Pionier liegen, wird ihn mit
unfehlbarer Hand immer derselbe Führer lenken--das _Prinzip der inneren
Notwendigkeit_.
* * * * *
Aus den oben geprüften Beispielen der Anwendung einer Farbe, aus der
Notwendigkeit und Bedeutung der Anwendung "natureller" Formen in
Verbindung mit Farbe als Klang geht hervor 1. wo der Weg zur Malerei
liegt und 2. _wie_ im _allgemeinen_ Prinzip dieser Weg zu betreten
ist. Dieser Weg liegt zwischen zwei Gebieten (die heute zwei Gefahren
sind): rechts liegt das vollständig abstrakte, ganz emanzipierte
Anwenden der Farbe in "geometrischer" Form (Ornamentik), links das
mehr reale, zu stark von äußeren Formen gelähmte Gebrauchen der Farbe
in "körperlicher" Form (Phantastik). Und zur selben Zeit schon (und,
womöglich nur heute) ist die Möglichkeit vorhanden, bis zur rechts
liegenden Grenze zu schreiten und sie zu überschreiten, und ebenso
bis zur linksliegenden und darüber hinaus. Hinter diesen Grenzen (hier
verlasse ich meinen Weg des Schematisierens) liegt rechts: die _reine
Abstraktion_ (d. h. größere Abstraktion als die der geometrischen
Form) und links _reine Realistik_ (d. h. höhere Phantastik--Phantastik
in härtester Materie). Und zwischen denselben--grenzenlose Freiheit,
Tiefe, Breite, Reichtum der Möglichkeiten und hinter ihnen liegende
Gebiete der reinen: Abstraktion und Realistik--_alles_ ist heute, durch
den heutigen Moment, dem Künstler zu Diensten gestellt. Heute ist der
Tag einer Freiheit, die nur zur Zeit einer keimenden großen Epoche
denkbar ist[8]. Und im selben Augenblick ist diese selbe Freiheit eine
der größten Unfreiheiten, da alle diese Möglichkeiten zwischen, in und
hinter den Grenzen aus einer und derselben Wurzel wachsen: aus dem
kategorischen Rufen der _Inneren Notwendigkeit_.
Daß die Kunst über der Natur steht, ist keine irgendwie neue
Entdeckung[9]. Neue Prinzipien fallen auch nie vom Himmel, stehen
hingegen im kausalen Zusammenhang mit der Vergangenheit und der
Zukunft. Nur ist uns wichtig, in welcher Lage heute dieses Prinzip
liegt und wohin wir mit Hilfe desselben morgen gelangen können. Und
dieses Prinzip, das muß wieder und wieder betont werden, muß nie
mit Gewalt angewendet werden. Wenn aber der Künstler seine Seele
nach dieser Stimmgabel stimmt, so werden schon von selbst seine
Werke in diesem Ton klingen. Und speziell die heute fortschreitende
"Emanzipation" wächst auf dem Boden der inneren Notwendigkeit, die, wie
schon bezeichnet wurde, die geistige Kraft des Objektiven in der Kunst
ist. _Das Objektive der Kunst_ sucht sich heute mit einer besonders
starken Spannung zu offenbaren. Es werden also die zeitlichen Formen
gelockert, damit das Objektive klarer zum Ausdruck kommen kann. Die
naturellen Formen stellen Grenzen, die in vielen Fällen diesem Ausdruck
im Wege liegen. So werden sie zur Seite geschoben und die freie Stelle
wird für das _Objektive der Form_ gebraucht--Konstruktion zum Zweck
der Komposition. Dadurch erklärt sich der schon heute klar daliegende
Drang, die konstruktiven Formen der Epoche zu entdecken. Als eine der
Übergangsformen zeigt z. B. der Kubismus, wie oft die naturellen Formen
den konstruktiven Zwecken gewaltsam unterordnet werden müssen und
welche unnötigen Hindernisse diese Formen in solchen Fällen bilden.
Jedenfalls wird heute im allgemeinen eine entblößte Konstruktion
angewendet, welche scheinbar die einzige Möglichkeit ist, dem
Objektiven in der Form Ausdruck zu verleihen. Wenn wir aber daran
denken, wie die heutige Harmonie in diesem Buch definiert wurde, so
können wir auch auf dem Gebiete der Konstruktion den Geist der Zeit
erkennen: nicht eine klar daliegende, oft in die Augen springende
("geometrische") Konstruktion, die an Möglichkeiten reichste bzw. die
ausdrucksvollste zu sein, sondern die versteckte, die aus dem Bilde
unbemerkt herauskommt und also weniger für das Auge als für die Seele
bestimmt ist.
Diese _versteckte Konstruktion_ kann aus scheinbar zufällig auf
die Leinwand geworfenen Formen bestehen, die wieder scheinbar in
keinem Zusammenhang zueinander stehen: die äußere Abwesenheit dieses
Zusammenhanges ist hier seine innere Anwesenheit. Das äußerlich
Gelockerte ist hier das innerlich Zusammengeschmolzene. Und dieses
bleibt inbezug auf beide Elemente gleich: in der zeichnerischen und in
der malerischen Form.
Und gerade hier liegt die Zukunft der Harmonielehre der Malerei. Die
"irgendwie" zueinander stehenden Formen haben doch im letzten Grunde
eine große und präzise Beziehung zueinander. Und schließlich läßt sich
auch diese Beziehung in einer mathematischen Form ausdrücken, nur wird
hier vielleicht mehr mit unregelmäßigen als mit regelmäßigen Zahlen
operiert.
_Als letzter abstrakter Ausdruck bleibt in jeder Kunst die Zahl._
Es ist selbstverständlich, daß dieses objektive Element andererseits
die Vernunft, das Bewußte (objektive Kenntnisse--malerischer
Generalbaß) als eine notwendige _mitwirkende_ Kraft unbedingt verlangt.
Und dieses Objektive wird dem heutigen Werk auch in der Zukunft die
Möglichkeit geben, statt "ich war"--"ich bin" zu sagen.
[Footnote 1: Solche Versuche wurden gemacht. Dazu trägt viel bei der
Parallelismus mit der Musik, z. B. "Tendances Nouvelles", Nr. 35: Henri
_Rovel_--Les lois d'harmonie de la peinture et de la musique sont les
mêmes (P. 721).]
[Footnote 2: Dieser Wirrwarr ist natürlich auch ein präzises Leben,
aber einer anderen Sphäre.]
[Footnote 3: Die eben beschriebene Welt ist doch eine Welt mit dem
ihr unbedingt eigenen inneren Klang, welcher im _Grunde_, im Prinzip
notwendig ist und Möglichkeiten bietet.]
[Footnote 4: Es muß hier wieder ausdrücklich betont werden, daß alle
solche Fälle, Beispiele etc. nur als schematisierte Werte anzusehen
sind. Alles dies ist konventionell und kann durch die große Wirkung der
Komposition und ebenso leicht durch einen Strich geändert werden. Die
Möglichkeiten ziehen sich in unendliche Reihen.]
[Footnote 5: Immer muß unterstrichen werden, daß die Ausdrücke, wie
"traurig, freudig" usw., sehr grober Natur sind und nur als Wegweiser
zu den feinen, unkörperlichen Gemütsvibrationen dienen können.]
[Footnote 6: Wenn das Märchen nicht _im ganzen_ "übersetzt" ist, so
hat es zur Folge ein Resultat, ähnlich dem der kinematographischen
Märchenbilder.]
[Footnote 7: Dieser Kampf mit der Märchenluft ist dem Kampfe mit
der Natur gleich. Wie leicht und oft ganz gegen den Willen des
Farbenkomponisten "die Natur" sich von selbst in seine Werke eindrängt!
Es ist leichter, die Natur zu malen, als mit ihr zu kämpfen!]
[Footnote 8: Ober diese Frage siehe meinen Artikel "Über die Formfrage"
im Blauen Reiter (Verlag R. Piper & Co., 1912). Von dem Werk Henri
Rousseaus ausgehend, beweise ich hier, daß die kommende Realistik in
unserer Periode nicht nur gleichwertig mit der Abstraktion ist, sondern
ihr identisch.]
[Footnote 9: Besonders die Literatur drückte längst dies Prinzip aus.
Z. B. sagt Goethe: "Der Künstler steht mit freiem Geiste über der
Natur und kann sie seinen höheren Zwecken gemäß traktieren ... er
ist ihr Herr und Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit
irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden. (NB!) Ihr Herr
aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höheren Intentionen
unterwirft und ihnen dienstbar macht. Der Künstler will zur Welt
durch ein Ganzes sprechen: Dieses Ganze findet er aber nicht in der
Natur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn
man will, des Anwehens eines befruchtenden göttlichen Odems." (Karl
Heinemann, Goethe, 1899, S. 684.) Zu unserer Zeit O. _Wilde_: "Kunst
fängt an da, wo die Natur aufhört" (De Profundis). Auch in der Malerei
finden wir oft solche Gedanken. Delacroix sagte z. B., die Natur wäre
für den Künstler nur ein Wörterbuch. Und: "den Realismus sollte man
den Antipoden der Kunst definieren" ("Mein Tagebuch", S. 246. Bruno
Cassirer Verlag. Berlin 1903).]
VIII.
KUNSTWERK UND KÜNSTLER
Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht
das wahre Kunstwerk "aus dem Künstler". Von ihm losgelöst bekommt
es ein selbständiges Leben, wird zur Persönlichkeit, zu einem
selbständigen, geistig atmenden Subjekt, welches auch ein materiell
reales Leben führt, welches ein _Wesen_ ist. Es ist also nicht
eine gleichgültig und zufällig entstandene Erscheinung, die auch
gleichgültig in dem geistigen Leben weilt, sondern, wie jedes Wesen
besitzt es weiterschaffende, aktive Kräfte. Es lebt, wirkt und ist
an der Schöpfung der besprochenen geistigen Atmosphäre tätig. Aus
diesem innerlichen Standpunkte ist auch ausschließlich die Frage zu
beantworten, ob das Werk gut oder schlecht ist. Wenn es "schlecht"
in der Form ist oder zu schwach, so ist diese Form schlecht oder
zu schwach, um in jeder Art rein klingende Seelenvibrationen
hervorzurufen[1]. Ebenso ist in Wirklichkeit nicht _das_ Bild "gut
gemalt", welches richtig in Werten (die unvermeidlichen Valeurs der
Franzosen) ist oder irgendwie beinahe wissenschaftlich in Kalt und
Warm geteilt ist, sondern das Bild ist gut gemalt, welches innerlich
_voll_ lebt. Die "_gute Zeichnung" ist auch nur die, an welcher nichts
geändert werden kann, ohne daß dieses innerliche Leben zerstört wird_,
ohne jede Rücksicht darauf, ob diese Zeichnung der Anatomie, Botanik
oder sonst einer Wissenschaft widerspricht. Hier besteht die Frage
nicht darin, ob eine äußerliche (also auch nur immer zufällige) Form
verletzt wird, sondern nur darin, ob der Künstler diese Form, wie
sie äußerlich existiert, braucht oder nicht. _Ebenso müssen Farben
angewendet werden, nicht_, weil sie in der Natur in diesem Klang
existieren oder nicht, sondern _weil sie in diesem Klang im Bilde
notwendig sind_ oder nicht. Kurz gesagt, _der Künstler ist nicht
nur berechtigt, sondern verpflichtet, mit den Formen so umzugehen,
wie es für_ seine Zwecke_ notwendig _ist_. Und weder
Anatomie oder dergleichen, noch das _prinzipielle_ Umwerfen dieser
Wissenschaften ist notwendig, sondern _volle unbeschränkte_ Freiheit
des Künstlers in der Wahl seiner Mittel[2]. Diese Notwendigkeit ist das
Recht auf unbeschränkte Freiheit, die sofort zum Verbrechen wird, wenn
sie nicht auf derselben beruht. Künstlerisch ist das Recht darauf die
besprochene innere moralische Fläche. Im ganzen Leben (also auch in der
Kunst)--reines Ziel.
Und speziell: ein zweckloses Befolgen der wissenschaftlichen Tatsachen
ist nie so schädlich, wie ein zweckloses Umwerfen derselben. Im
ersten Fall entsteht eine Naturnachahmung (materielle), welche für
verschiedene spezielle Zwecke verwendet werden kann[3]. Im zweiten--ein
künstlerischer Betrug, welcher als Sünde eine lange Kette von üblen
Folgen bildet. Der erste Fall läßt die moralische Atmosphäre leer. Er
versteinert sie. Der zweite vergiftet und verpestet sie.
Die Malerei ist eine Kunst und die _Kunst_ im ganzen _ist nicht ein
zweckloses Schaffen_ der Dinge, die im Leeren zerfließen, sondern eine
Macht, die zweckvoll ist, und muß der Entwicklung und Verfeinerung
der menschlichen Seele dienen--der Bewegung des Dreiecks. Sie ist die
Sprache, die in nur ihr eigener Form von Dingen zur Seele redet, die
für die Seele das _tägliche Brot_ sind, welches sie nur in dieser Form
bekommen kann.
Wenn die Kunst sich dieser Aufgabe entzieht, so muß die Lücke offen
bleiben, da es keine andere Macht gibt, die die Kunst ersetzen kann[4].
Und immer zu der Zeit, wo die menschliche Seele stärkeres Leben führt,
wird auch die Kunst lebendiger, da Seele und Kunst in einer Verbindung
von wechselseitiger Wirkung und Vervollkommnung stehen. Und in den
Perioden, in welchen die Seele durch materialistische Anschauungen,
Unglauben und daraus fließende rein praktische Bestrebungen betäubt und
vernachlässigt wird, entsteht die Ansicht, daß die "reine" Kunst nicht
für spezielle Zwecke dem Menschen gegeben ist, sondern zwecklos, daß
Kunst nur für Kunst existiert (l'art pour l'art)[5]. Hier wird das Band
zwischen Kunst und Seele halb anästhesiert. Das rächt sich aber bald,
da der Künstler und der Zuschauer (welche mit Hilfe der' Seelensprache
miteinander reden) sich nicht mehr verstehen, und der letztere wendet
dem ersteren den Rücken oder sieht ihn an wie einen Gaukler, dessen
äußere Geschicklichkeit und Erfindungskraft bewundert werden.
In erster Linie soll dann der Künstler die Lage zu ändern versuchen,
dadurch, daß er seine Pflicht _der Kunst_ und also auch _sich
gegenüber_ anerkennt und sich nicht als Herr der Lage betrachtet,
sondern als Diener höherer Zwecke, dessen Pflichten präzis, groß und
heilig sind. Er muß sich _erziehen_ und vertiefen in die eigene Seele,
diese eigene Seele vorerst pflegen und entwickeln, damit sein äußeres
Talent etwas zu bekleiden hat und nicht, wie der verlorene Handschuh
von einer unbekannten Hand, ein leerer zweckloser Schein einer Hand ist.
_Der Künstler muß etwas zu sagen haben, da nicht die Beherrschung der
Form seine Aufgabe ist, sondern das Anpassen dieser Form dem Inhalt_[6].
Der Künstler ist kein Sonntagskind des Lebens: Er hat kein Recht,
pflichtlos zu leben, er hat eine schwere Arbeit zu verrichten, die oft
zu seinem Kreuz wird. Er muß wissen, daß jede seiner Taten, Gefühle,
Gedanken das feine unbetastbare, aber feste Material bilden, woraus
seine Werke entstehen, und daß er deswegen im Leben nicht frei ist,
sondern nur in der Kunst.
Und daraus geht von selbst hervor, daß der Künstler dreifach
verantwortlich ist, im Vergleich zum Nichtkünstler: 1. muß er sein ihm
gegebenes Talent wieder erstatten, 2. bilden seine Taten, Gedanken,
Gefühle, wie die jedes Menschen, die geistige Atmosphäre, so daß sie
die geistige Luft verklären oder verpesten und 3. sind diese Taten,
Gedanken, Gefühle das Material zu seinen Schöpfungen, welche noch
einmal wieder an der geistigen Atmosphäre tätig sind. Er ist nicht nur
"König", wie ihn Sar Peladan nennt, in dem Sinne, daß er die große
Macht hat, sondern auch in dem Sinne, daß auch seine Pflicht groß ist.
Wenn der Künstler Priester des "Schönen" ist, so ist auch dieses Schöne
durch dasselbe Prinzip des _inneren Wertes_ zu suchen, welchen wir
überall gefunden haben. Dieses "Schöne" ist nur durch den Maßstab der
_inneren Größe_ und _Notwendigkeit_ zu messen, welche uns bis jetzt
überall und durchweg richtige Dienste geleistet hat.
_Das ist schön, was einer inneren seelischen Notwendigkeit entspringt.
Das ist schön, was innerlich schön ist_[7].
Einer der ersten Vorkämpfer, einer der ersten seelischen Komponisten
in der Kunst von heute, der die Kunst von morgen entspringen wird,
Maeterlink, sagt:
"Es gibt nichts auf Erden, das nach Schönheit begieriger wäre und
sich leichter verschönt, als eine Seele.... Darum widerstehen auch
sehr wenige Seelen auf Erden der Herrschaft einer Seele, die sich der
Schönheit hingibt"[8].
Und diese Eigenschaft der Seele ist das Öl, durch das die langsame,
kaum sichtbare, zeitweise äußerlich stockende, aber fortwährende,
ununterbrechbare Bewegung des geistigen Dreiecks nach vor- und aufwärts
möglich ist.
[Footnote 1: Die z. B. sogenannten "unmoralischen" Werke sind entweder
überhaupt unfähig, eine Seelenvibration hervorzurufen (dann sind
sie nach unserer Definierung unkünstlerisch), oder sie verursachen
_auch_ eine Seelenvibration, indem sie eine in irgendeiner Beziehung
richtige Form besitzen. Dann sind sie "gut". Wenn sie aber, von dieser
seelischen Vibration abgesehen, auch rein körperliche Vibration
niederer Gattung, (wie es zu unserer Zeit genannt wird) erzeugen, so
dürfte man daraus nicht den Schluß ziehen, daß das Werk, aber nicht die
auf dies Werk durch niedrige Vibrationen reagierende Persönlichkeit zu
verachten ist.]
[Footnote 2: Diese unbeschränkte Freiheit muß auf dem Grunde der
inneren Notwendigkeit (die man Ehrlichkeit nennt) basiert sein. Und
dieses Prinzip ist nicht nur das der Kunst, sondern das des Lebens.
Dieses Prinzip ist das größte Schwert des wirklichen Übermenschen gegen
das Philistertum.]
[Footnote 3: Es ist klar, daß diese Naturnachahmung, wenn sie von der
Hand eines Künstlers stammt, welcher seelisch lebt, nie eine ganz
tote Wiedergabe der Natur bleibt. Auch in dieser Form kann die Seele
sprechen und gehört werden. Als Gegenbeispiel können z. B. Landschaften
Canalettos dienen zu den traurig berühmten Köpfen von Denner (Alte
Pinakothek in München).]
[Footnote 4: Diese Lücke kann auch leicht durch Gift und Pest
ausgefüllt werden.]
[Footnote 5: Diese Ansicht ist eins der wenigen idealen Agentien zu
solchen Zeiten. Es ist ein unbewußter Protest gegen den Materialismus,
welcher alles praktisch zweckmäßig haben will. Und das beweist
wieder, wie stark und unverwüstlich die Kunst ist und die Kraft der
menschlichen Seele, die lebendig ist und ewig, die betäubt, aber nicht
getötet werden kann.]
[Footnote 6: Es ist doch sicher klar, daß hier die Rede von der
Erziehung der Seele ist und nicht von einer Notwendigkeit, gewaltsam
in jedes Werk einen bewußten Inhalt hinein zu pressen oder diesen
erdachten Inhalt gewaltsam künstlerisch zu bekleiden! In diesen Fällen
würde nichts als leblose Kopfarbeit entstehen. Es wurde auch schon
oben gesagt: Geheimnisvoll entsteht das wahre Kunstwerk. Nein, wenn
die Künstlerseele lebt, so braucht man sie durch Kopfgedanken und
Theorien nicht zu unterstützen. Sie findet selbst etwas zu sagen, was
dem Künstler selbst im Augenblick ganz unklar bleiben kann. Die _innere
Stimme der Seele_ sagt ihm auch, welche Form er braucht und von wo sie
zu holen, ist (äußere oder innere "Natur"). Jeder Künstler, welcher
nach dem sogenannten Gefühl arbeitet, weiß, wie plötzlich und für ihn
unerwartet die von ihm ersonnene Form ihm widrig erscheint, wie "wie
von selbst" sich eine andere, richtige an die Stelle der ersteren,
verworfenen stellt. Böcklin sagte, daß ein richtiges Kunstwerk wie eine
große Improvisation sein muß, d. h. Überlegung, Aufbauen, vorherige
Komposition sollen nichts als Vorstufen sein, auf welchem das Ziel
erreicht wird, welches dem Künstler selbst unerwartet erscheinen kann.
So soll auch die Verwendung des kommenden Kontrapunktes verstanden
werden.]
[Footnote 7: Unter diesem Schönen wird selbstredend nicht die äußere
oder sogar innere im allgemeinen Verkehr angenommene Moral verstanden,
sondern _alles_ das, was auch in der ganz untastbaren Form die Seele
verfeinert und bereichert. Deshalb ist, z. B., in der Malerei jede
Farbe innerlich schön, da jede Farbe eine Seelenvibration verursacht
und jede Vibration bereichert die Seele. Und deshalb endlich kann alles
innerlich schön sein, was äußerlich "häßlich" ist. So ist es in der
Kunst, so ist es im Leben. Und deshalb ist nichts "häßlich" im inneren
Resultat, d. h. in der Wirkung auf die Seele der anderen.]
[Footnote 8: Von der inneren Schönheit. (K. Robert Langewiesche Verlag.
Düsseldorf und Leipzig. S. 187.)]
[Illustration]
SCHLUSSWORT
Die beigefügten sechs Reproduktionen sind Beispiele der konstruktiven
Bestrebungen in der Malerei.
Die Formen dieser Bestrebungen zerfallen in zwei Hauptgruppen:
1. die einfache Komposition, die einer klar zum Vorschein kommenden
einfachen Form unterordnet ist. Diese Komposition nenne ich die
_melodische_;
2. die komplizierte Komposition, die aus mehreren Formen besteht, die
weiter einer klaren oder verschleierten Hauptform unterordnet sind.
Diese Hauptform kann äußerlich sehr schwer zu finden sein, wodurch die
innere Basis einen besonders starken Klang bekommt. Diese komplizierte
Komposition nenne ich die _symphonische_.
Zwischen diesen zwei Hauptgruppen liegen verschiedene Übergangsformen,
in welchen das melodische Prinzip unbedingt vorhanden ist.
Der ganze Entwicklungsvorgang ist auffallend dem in der Musik ähnlich.
Abweichungen in diesen beiden Vorgängen sind Resultate eines anderen
mitspielenden Gesetzes, welches aber schließlich immer bis jetzt dem
ersten Entwicklungsgesetz unterlag. So sind diese Abweichungen hier
nicht maßgebend.
Wenn man in der _melodischen Komposition_ das Gegenständliche entfernt
und dadurch die im Grunde liegende malerische Form entblößt, so findet
man primitive geometrische Formen oder die Aufstellung einfacher
Linien, die einer allgemeinen Bewegung dienen. Diese allgemeine
Bewegung wiederholt sich in einzelnen Teilen und wird manchmal
durch einzelne Linien oder Formen variiert. Diese einzelnen Linien
oder Formen dienen in diesem letzten Falle verschiedenen Zwecken.
Sie bilden z. B. eine Art Abschluß, welchem ich den musikalischen
Namen "fermata" gebe[1]. Alle diese konstruktiven Formen haben einen
einfachen inneren Klang, welchen auch jede Melodie hat. Deswegen
nenne ich sie die melodischen. Durch Cézanne und später Hodler zum
neuen Leben geweckt, bekamen diese melodischen Kompositionen zu
unserer Zeit die Bezeichnung der _rhythmischen_. Das war der Kern der
Wiedergeburt der kompositioneilen Ziele. Daß die Beschränkung 'des
Begriffes "rhythmisch" auf ausschließlich diese Fälle zu eng ist, ist
auf den ersten Blick klar. Ebenso wie in der Musik _jede_ Konstruktion
einen eigenen Rhythmus besitzt, ebenso wie in der ganz "zufälligen"
Verteilung der Dinge in der Natur auch _jedesmal_ ein Rhythmus
vorliegt, so auch in der Malerei. Nur ist in der Natur dieser Rhythmus
uns manchmal nicht klar, da uns seine Ziele (in manchen und gerade
wichtigen Fällen) nicht klar sind. Diese unklare Zusammenstellung wird
deshalb arhythmisch genannt. Diese Teilung in das Rhythmische und
Arhythmische ist also vollkommen relativ und konventionell. (Geradeso
wie die Teilung der Konsonanz von der Dissonanz, die im Grunde nicht
existiert.)[2].
[Illustration: Kandinsky. Komposition Nr. 2]
Kompliziertere "rhythmische" Komposition mit einer starken Andeutung
des symphonischen Prinzips sind viele Bilder, Holzschnitte, Miniaturen
usw. der vergangenen Kunstepochen. Man erinnere sich nur der alten
deutschen Meister, der Perser, Japaner, der russischen Ikonen und
besonders der Volksblätter usw. usw.[3]
In beinahe allen diesen Werken ist die symphonische Komposition
noch sehr stark an die melodische gebunden. D. h. wenn man das
Gegenständliche entfernt und dadurch das Kompositionelle entschleiert,
so kommt eine Komposition zum Vorschein, die aus dem Gefühle der
Ruhe, der ruhigen Wiederholung, der ziemlich gleichmäßigen Verteilung
gebaut ist[4]. Unwillkürlich kommen alte Chorkompositionen, Mozart
und schließlich Beethoven in Erinnerung. Das alles sind Werke, die
mehr oder weniger mit der erhabenen, ruhe- und würdevollen Architektur
eines gotischen Domes verwandt sind: Gleichgewicht und gleichmäßige
Verteilung der einzelnen Teile ist die Stimmgabel und die geistige
Basis solcher Konstruktionen. Solche Werke gehören zu der Übergangsform.
Als Beispiele der neuen symphonischen Kompositionen, in welchen das
melodische Element nur manchmal und als einer der untergeordneten Teile
Anwendung findet, dabei aber eine neue Gestaltung bekommt, habe ich
drei Reproduktionen nach meinen Bildern beigegeben.
Diese Reproduktionen sind Beispiele drei verschiedener Ursprungsquellen:
1. direkter Eindruck von der "äußeren Natur", welcher in einer
zeichnerisch-malerischen Form zum Ausdruck kommt. Diese Bilder nenne
ich "_Impressionen_";
2. hauptsächlich unbewußte, größtenteils plötzlich entstandene
Ausdrücke der Vorgänge inneren Charakters, also Eindrücke von der
"inneren Natur". Diese Art nenne ich "_Improvisationen_;
3. auf ähnliche Art (aber ganz besonders langsam) sich in mir bildende
Ausdrücke, welche lange und beinahe pedantisch nach den ersten
Entwürfen von mir geprüft und ausgearbeitet werden. Diese Art Bilder
nenne ich "_Komposition_". Hier spielt die Vernunft, das Bewußte, das
Absichtliche, das Zweckmäßige eine überwiegende Rolle. Nur wird dabei
nicht der Berechnung, sondern stets dem Gefühl recht gegeben.
Welche unbewußte oder bewußte Konstruktion aller drei Arten meiner
Bilder zugrunde liegt, wird wohl dem geduldigen Leser dieses Buches
klar sein.
Zum Schluß möchte ich bemerken, daß meiner Ansicht nach wir der Zeit
des bewußten, vernünftigen Kompositionellen immer näher rücken, daß
der Maler bald stolz sein wird, seine Werke _konstruktiv_ erklären zu
können (im Gegensatz zu den reinen Impressionisten, die darauf stolz
waren, daß sie nichts erklären konnten), daß wir schon jetzt die Zeit
des zweckmäßigen Schaffens vor uns haben und endlich, daß dieser Geist
in der Malerei im organischen direkten Zusammenhang mit dem schon
begonnenen Neubau des neuen geistigen Reiches steht, da dieser Geist
die Seele ist der _Epoche des großen Geistigen_.
[Footnote 1: Siehe z. B. das Mosaik in Ravenna, welches in der
Hauptgruppe ein Dreieck bildet. Zu diesem Dreieck neigen sich immer
weniger bemerklich die übrigen Figuren. Der ausgestreckte Arm und der
Türvorhang bilden die fermata.]
[Footnote 2: Als Beispiel dieser klar daliegenden melodischen
Konstruktion mit offenem Rhythmus ist in diesem Buch das Bild von
Cézanne "Die Badenden" gebracht.]
[Footnote 3: Melodische Kompositionen mit symphonischen Anklängen sind
viele Bilder Hodlers.]
[Footnote 4: Hier spielt eine große Rolle die Tradition. Und ganz
besonders in der volkstümlich gewordenen Kunst. Solche Werke entstehen
hauptsächlich zur Blütezeit einer Kulturkunstperiode (oder greifen
in die nächste ein). Die ausgebildete offene Blüte verbreitet die
Atmosphäre der inneren Ruhe. Zu Keimungszeiten sind zu viel kämpfende,
zusammenstoßende, hemmende Elemente da, als daß die Ruhe eine sichtlich
überwiegende Note bilden könnte. Im letzten Grunde ist natürlich jedes
ernste Werk doch ruhig. Diese letzte Ruhe (Erhabenheit) ist nur für den
Zeitgenossen nicht leicht zu finden. Jedes ernste Werk klingt innerlich
so, wie die ruhig und erhaben gesagten Worte: "ich bin da". Liebe oder
Haß dem Werke gegenüber verduften, lösen sich auf. Der Klang dieser
Worte ist ewig.]
End of the Project Gutenberg EBook of Über das Geistige in der Kunst, by
Wassily Kandinsky
*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 46203 ***