Yvonne Müller hat einen halb französischen, halb deutschen Namen, und da sie nur in einem Buche Annette Kolbs[1] existiert, ist diese Mischung kein Zufall, sondern ein Symbol. Man wird sich daher auch nicht wundern, zu erfahren, daß Yvonne Müller, natürlich von Ganghofer vorgestellt, in ein Gespräch mit dem Kaiser gezogen war und auf die Aufforderung, zu reden, folgendermaßen beginnt: „Majestät, wer deutsche und französische Elemente in sich vereint, wird heute durch sein inneres Isolement zu Gedanken und Überzeugungen gedrängt.“
Man sieht, Yvonne spricht programmatisch und etwas preziös (Isolement), sie kokettiert ein ganz klein wenig mit, wie sie sagt, „einer eigentümlichen, wenig beneidenswerten, wenn auch in mancher Hinsicht privilegierten Lage,“ und sie ist sich doch bewußt, die beiden Völker besser zu verstehen als andere, und tapfer schließt sie: „Menschen wie ich sollten nicht totgeschwiegen, sondern konsultiert werden.“
Lassen wir Yvonne und kehren wir zu Annette zurück. Man sollte sie in der Tat konsultieren. Zwar ist das neulich, sogar in Dresden, geschehen, und da war Annette wohl etwas ungeschickt: sie stellte sich einem in Kriegszeit besonders empfindlichen Publikum zu direkt als Halbfranzösin vor, und ein aufgebrachter Kritiker ging so weit, von ihrem kleinen Unglück zu sprechen, das wohl für sie, nicht aber für bange deutsche Mütter, Gattinnen und Väter tragisch sei. Dieser Versuch einer Konsultation also verunglückte — um so empfehlenswerter ist es, sich an das Buch zu halten.
Denn hier enthüllt sich eine merkwürdige und interessante Persönlichkeit, nicht indem sie erklärt, ich bin dies und das und ich leide, sondern sie läßt sich reizvoll suchen und ahnen, und die Rassenkreuzung hat wieder einmal Geist und Talent hervorgebracht. Wie hübsch, elegant, diskret, leise ironisch, hingehaucht humorvoll Annette Kolb von ihrer Seele erzählen kann, bewies ihr Roman „das Exemplar“; hier in den Aufsätzen berichtet sie von ihren Ideen und Forderungen. In deren Mittelpunkt steht das Politische. Als Französin hat sie den politischen Sinn. Ihn zu definieren ist nicht meine Aufgabe, nur so viel, er ist ein wahres Genie für das Reale, Erreichbare, im nächsten Augenblick Notwendige, gepaart mit dem Sinn für Feinheit und rassenhafte Nuance. Der politisierende Franzose ist nicht für das Sprunghafte, sondern für das geschmeidige Einbohren, und sein Handwerk ist nicht eine Aufgabe, die von außen an ihn herantritt, sondern die er als eigene Angelegenheit, als Angelegenheit des Daseins, als Prüfstein, als Ziel auffaßt. Mit einem Wort, Annette Kolb wäre eine recht brauchbare Diplomatin, und da sie das, vergleiche Yvonne Müller, nicht hat werden können, hat sie sich ein Leben nach ihrer Idee geschaffen: sie verkehrt mit Diplomaten und schließt ihnen gleich alles an, was irgendwo von bedeutenden Männern existiert, sie reist und spinnt von München ihre Netze nach englischen Schlössern, deutschen Baronien, römischen Palästen und pariser Hotels.
Dabei ist sie so künstlerisch fundamentiert, daß sie durch die Politik nicht gehindert wird, Frau und Dame zu sein, nur Frau und Dame. Ein wunderhübsches Kapitel des Buches heißt „Reisen“ und besteht aus einem halben Dutzend Stücken, in denen sie von den Lockungen der Rue de la Paix spricht und das mutige Bekenntnis findet: „Ich konstatiere an mir selbst eine immer wachsende Leidenschaft für die Güter dieser Erde und wie sehr sich unsere Anforderungen an das Leben mit unseren geistigen Fähigkeiten steigern.“ Denn Annette-Yvonne ist nicht reich und trägt doch in sich das Ideal des westeuropäischen, internationalen, deutsch-englisch-französischen Lebens. So bleibt ihr nichts übrig, als Gast zu sein, zu reisen, zu besuchen, Menschen zu studieren und immer wieder zu sich zurückzukehren.
Daß sich aber die Politikerin und die Frau nicht in ihr töten, findet seine Erklärung in einer Tatsache, die der protestantische Leser anzuerkennen gebeten wird; in der Tatsache, daß sie katholisch ist. Sie ist ein wenig jesuitisch, Annette, sie hat den romanisch bestimmten Stil, in dem für mich immer etwas von Ungemütlichem und fast möchte ich sagen, Intrigantem ist, das ich bewundere. Nebenbei erfährt man dadurch nach langer Zeit auch wieder etwas von dem neueren Leben des Katholizismus, denn man würde Annette schlecht kennen, wenn man glaubt, sie ließe sich einen Besuch bei Duchesne entgehen, wenn sie auch am selben Nachmittag noch bei Rodin Tee trinken wird. Annette geht regelmäßig zur Messe, sie hat den Mut zu ihrem eigenen Stil.
Ich zögere nicht, ihr die Palme einer der besten und interessantesten deutschen Schriftstellerinnen zu überreichen. Wer bei uns sagt so definitive Dinge wie sie über die Psychologie der Nationen? Nicht einmal die Männer. Zur Beruhigung aber die Schlußversicherung: sie ist gut deutsch, sie glaubt an deutsche Zukunft; nur: sie ist kritisch und sie wünscht den geistigen Bund zwischen Frankreich und Deutschland. Ihre Zeit wird bald kommen.
Otto Flake.
In: Die Neue Rundschau, S. Fischer, Berlin, 1915, S. 574-576.
[1] Wege und Umwege. Verlag der Weißen Bücher, Leipzig.