The Project Gutenberg EBook of Die Gewerkschaftsbewegung, by Wilhelm Kulemann

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Title: Die Gewerkschaftsbewegung
       Darstellung der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter
              und der Arbeitgeber aller Länder.

Author: Wilhelm Kulemann

Release Date: July 12, 2014 [EBook #46259]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

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Die
Gewerkschaftsbewegung.

Darstellung
der
gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter
und der Arbeitgeber aller Länder.

Von
W. Kulemann
Landgerichtsrat. Jena,
Verlag von Gustav Fischer.
1900.

Alle Rechte vorbehalten.

[iii]

Vorwort.

Als ich bei der Vorbereitung des von mir auf dem evangelisch-sozialen Kongresse in Frankfurt a. M. am 17. Mai 1894 gehaltenen Vortrages über die Gewerkschaften daran ging, mich näher mit dem Gegenstande und der darüber bestehenden Litteratur zu beschäftigen, fand ich eine auffallende Thatsache. Man kann sicher unserer Zeit nicht den Vorwurf machen, daß zu wenig Bücher geschrieben würden. Sollte man da glauben, daß über eine Erscheinung, wie die Gewerkschaftsbewegung, deren weittragende Bedeutung von ihren Freunden wie von ihren Gegnern übereinstimmend anerkannt wird, nicht ein einziges Buch besteht, aus dem man sich zusammenhängend über sie unterrichten könnte! Man möge mich nicht mißverstehen. Ich will gewiß nicht das Verdienst der Werke von Brentano, Lexis, Sartorius von Waltershausen, Berghoff-Ising, Schmöle, des Ehepaares Webb u. a., deren Arbeiten dauernden Wert behalten, herabsetzen, aber sie alle haben sich auf ein bestimmtes eng begrenztes Einzelgebiet beschränkt, und ich trete ihnen deshalb nicht zu nahe, wenn ich es als eine auffallende Lücke unserer volkswirtschaftlichen Litteratur bezeichne, daß sie kein zusammenhängendes Werk über die Gewerkschaftsbewegung aufweist.

Ein solches ist aber neben jenen Arbeiten ein unabweisbares Bedürfnis, dessen Befriedigung um so dringender wird, je mehr die Ueberzeugung sich Bahn bricht, daß gerade bei uns in Deutschland die Sozialdemokratie nur deshalb ihre jetzige Bedeutung hat erlangen können, weil es an einer anderweiten Organisation der Arbeiterklasse zur Vertretung ihrer berechtigten Interessen fehlte, und deshalb auch diejenigen Arbeiterkreise, die den politischen Zielen jener Partei, wie ihren ethischen und volkswirtschaftlichen Grundlagen ablehnend oder wenigstens gleichgültig gegenüberstehen, sich notgedrungen ihr zuwenden müssen, weil nun einmal die Arbeiterinteressenvertretung eine soziale Naturnotwendigkeit ist, der auf irgend einem Wege Rechnung getragen werden muß.

[iv]

Die bezeichnete Lücke auszufüllen ist der Zweck meines Buches. Ich habe versucht, so vollständig, wie es mir möglich war, alles Thatsachenmaterial zusammenzustellen, das sich auf die wirtschaftliche Interessenorganisation der Arbeiter bezieht, ohne Beschränkung auf einzelne Länder oder Formen. Ich bin auch der Ansicht, daß eine solche Arbeit nicht nur den Nutzen einer äußeren Zusammenfassung bietet, insbesondere den Personen, die sich mit der Bewegung beschäftigen wollen, die Mühe erspart, sich durch die Speziallitteratur hindurch zu arbeiten, sondern einen höheren Wert hat, denn, wie in allen jenen Einzelerscheinungen nur ein allgemeiner Gedanke der sozialen Kulturentwickelung zum Ausdrucke kommt, der aber in den verschiedenen Ländern eine durch die Eigenart der Verhältnisse bedingte verschiedene Ausprägung erhalten hat, so kann dieses einheitliche Moment auch nur durch eine einheitliche Behandlung zum vollen Verständnisse gelangen.

Aber die Aufgabe, die ich zu lösen hatte, bestand doch nicht etwa, wie es nach dem bisher Gesagten scheinen könnte, lediglich darin, das in den vorhandenen Einzelwerken enthaltene Material zusammenzustellen, vielmehr ist das Gebiet, das bis jetzt eine litterarische Bearbeitung erfahren hatte, nur ein Teil, und nicht einmal ein sehr großer Teil des Gesamtgebietes. Es ist zunächst räumlich begrenzt, denn es beschränkt sich auf die fünf Länder: England, Frankreich, Nordamerika, Deutschland und die Schweiz. Hinsichtlich der übrigen Länder giebt es nichts als zerstreute Aufsätze in einzelnen Zeitschriften. Aber zu dieser räumlichen Begrenzung kommt, wenigstens hinsichtlich des Landes, das uns am meisten interessiert, nämlich Deutschlands, noch eine inhaltliche hinzu, denn das einzige in Betracht kommende Werk von Schmöle über die sozialdemokratischen Gewerkschaften stellt sich gar nicht die Aufgabe, die ganze deutsche Gewerkschaftsbewegung zu umfassen, sondern greift nur eine einzelne Gruppe heraus, die freilich die stärkste, aber nicht entfernt die einzige ist, neben der vielmehr noch verschiedene beachtenswerte andere Organisationen bestehen, für die es an einer litterarischen Bearbeitung völlig oder fast völlig fehlt.

Zu diesen Organisationen gehören zunächst die Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine. Aber wenn in der Oeffentlichkeit meistens sie und die sozialistischen Gewerkschaften als die einzigen gewerkschaftlichen Bildungen angesehen werden, so ist das durchaus unrichtig. Nicht allein ist in neuester Zeit mit Erfolg der Versuch gemacht, christliche Gewerkvereine ins Leben zu rufen, sondern es giebt auch eine ganze Anzahl von Vereinigungen aller Art, die man freilich nicht zu den Gewerkschaften im engsten Sinne zählen kann, die aber nicht allein unter den Begriff der wirtschaftlichen Interessenorganisation der Arbeiter fallen, sondern die man sogar im weiteren Sinne zu den gewerkschaftlichen Bildungen rechnen muß. Wie in der Natur, so giebt es auch im sozialen Leben Uebergangsstufen,[v] Formen, bei denen die karakteristischen Eigenschaften der betreffenden Gattung freilich noch nicht zu voller Entwicklung gelangt sind, aber doch bereits mehr oder weniger scharf hervortreten. Das gilt auch auf unserem Gebiete. Neben Vereinigungen, die sich ausdrücklich als Gewerkvereine oder Gewerkschaften bezeichnen, giebt es andere, die dies nicht thun, die aber dennoch unverkennbare Berührungspunkte mit ihnen haben. Sie sind als Vorstufen zu betrachten, als embryonale Formen, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Zeit zu vollen Gewerkschaften entwickeln werden. Zu ihnen gehören neben den evangelischen und katholischen Arbeitervereinen vor allem eine Reihe kaufmännischer Organisationen, die in bunter Mannigfaltigkeit den gewerkschaftlichen Karakter in den verschiedensten Stufen der Ausbildung zeigen. Endlich haben auch vielfach staatliche und private Beamte das Bedürfnis einer gemeinsamen Vertretung ihrer Interessen empfunden und ihm durch Vereinigung Rechnung getragen. Nun werden freilich die Beamten im Sinne des Sprachgebrauches nicht zu den Arbeitern gezählt; aber sie befinden sich nicht allein in abhängiger Stellung, sondern diese unterscheidet sich auch meist nicht wesentlich von derjenigen des Arbeiters, insbesondere ist sie regelmäßig weder eine dauernd gesicherte, noch hinsichtlich der Leistungen und Gegenleistungen fest bestimmte, so daß für die Verteidigung der Interessen der Mitglieder gegenüber deren Arbeitgebern volle Veranlassung geboten ist.

Alle diese Organisationen, die, wie gesagt, als unentwickelte gewerkschaftliche Formen zu betrachten sind, haben ein Recht auf unsere Beachtung und müssen ihren Platz finden in einem Buche, welches sich die Aufgabe stellt, einen Ueberblick über die gesamte Gewerkschaftsbewegung zu geben. Aber damit ist eine große Schwierigkeit verbunden, nämlich diejenige der Abgrenzung und Auswahl. Sind jene Vereinigungen, wie ich ausführte, nicht völlig ausgereifte Gewerkvereine, enthalten sie vielmehr deren karakteristische Elemente nur in mehr oder weniger hohem Grade, so entsteht die Frage: welche Stufe der Entwickelung, welches Maß von gewerkschaftlichen Momenten ist zu erfordern, um danach eine bestimmte Vereinigung aufzunehmen oder unberücksichtigt zu lassen? Offenbar ist es nicht möglich, dies grundsätzlich zu bestimmen, sondern es muß dabei ein gewisses subjektives Ermessen walten, hinsichtlich dessen ich durchaus nicht den Anspruch erhebe, es überall zutreffend ausgeübt zu haben. Ich bin völlig darauf gefaßt, daß mir in dieser Beziehung Fehler nachgewiesen, daß mir Vereinigungen bezeichnet werden, die ich nicht berücksichtigt habe, während sie mindestens dasselbe Recht auf Beachtung gehabt hätten, wie andere. Ich werde solche Ergänzungen gern entgegennehmen und, sofern sich einmal das Bedürfnis einer zweiten Auflage geltend machen sollte, sie gewissenhaft verwerten.

[vi]

Giebt es über die Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine wenigstens einige kleinere Schriften, so fehlt es dagegen hinsichtlich der übrigen im Vorstehenden bezeichneten Organisationen völlig an allgemein zugänglicher Litteratur. Ich war deshalb nicht allein für die Materialbeschaffung auf private Bemühungen angewiesen, sondern vor Allem konnte ich auch hinsichtlich der Existenz solcher Vereinigungen, abgesehen von zufälligen Notizen in den Zeitungen, nur auf diesem Wege etwas erfahren. Ich muß deshalb, obgleich ich mich an die am besten orientierten Stellen um Auskunft gewandt und diese fast ausnahmslos in liebenswürdigster Weise erhalten habe, trotzdem die Möglichkeit zugeben, daß mir die eine oder die andere Organisation entgangen sein könnte.

Aber noch in einer anderen Beziehung fiel mir die Aufgabe zu, völlig jungfräulichen Boden zu beackern. Fehlte es bisher nicht allein für einzelne Länder, sondern auch, namentlich in Deutschland, für große Gruppen innerhalb der Arbeiterbewegung an jeder litterarischen Bearbeitung, so gilt das Gleiche hinsichtlich der internationalen Organisation. Es liegt auf der Hand, daß die gewerkschaftliche Entwickelung nicht in die Grenzpfähle der einzelnen Staaten eingeengt werden kann, wird doch gegen jede noch so berechtigte Arbeiterforderung von den Vertretern der Unternehmer stets in erster Linie der Einwand erhoben, daß durch ihre Befriedigung der einheimischen Industrie die Konkurrenz auf dem Weltmarkte unmöglich gemacht werde. Wenn dies nicht in einzelnen, vielleicht auf dem betreffenden Gebiete unvollkommen entwickelten Ländern, sondern überall in gleichem Maße geschieht, wenn man sich in Deutschland auf Oesterreich, Frankreich, England, Amerika und dort wieder auf Deutschland beruft, so erinnert das allerdings lebhaft an die Heine'sche Erzählung von den beiden edlen Polen, von denen keiner wollte, daß der andere für ihn zahle und die deshalb beide schließlich nicht dazu kamen, ihre Zeche zu berichtigen. Aber immerhin ist nicht zu bestreiten, daß die Produktionsbedingungen in den Kulturländern einem natürlichen Ausgleichungsbedürfnisse unterworfen sind und daß die Industrie eines Landes geschädigt werden müßte, wenn die Ungleichheit ihrer Belastung im Vergleiche mit derjenigen der übrigen Länder ein gewisses Maß überschreiten würde. Aus diesem Grunde ist die gewerkschaftliche Bewegung, will anders sie dauernden Erfolg haben, grundsätzlich auf internationale Entwickelung hingewiesen.

Hier ist nun die bisherige Litteratur nicht allein völlig unzureichend, sondern es ist einfach keine vorhanden. Ja, mehr als das. Die Thatsachen der internationalen Organisation sind selbst in den eingeweihtesten Kreisen fast völlig unbekannt geblieben. Das scheint eine kühne Behauptung, aber ich darf doch ganz gewiß die Generalkommission der Gewerkschaften und den Vorstand des sozialdemokratischen Parteiarchivs zu diesen Kreisen zählen, und von beiden[vii] habe ich trotz des bereitwilligsten Entgegenkommens, für das ich hiermit öffentlich meinen Dank ausspreche, nicht allein keine derartige Litteratur erhalten, sondern es wurde mir vielmehr erklärt, daß eine internationale Organisation, abgesehen von den Buchdruckern, eigentlich noch gar nicht existiere und es kaum der Mühe verlohne, sich mit den vereinzelt gemachten erfolglosen Versuchen zu beschäftigen. Wenn es mir desungeachtet gelungen ist, eine, wie ich glaube, ziemlich vollständige Uebersicht der vorhandenen internationalen Beziehungen in den einzelnen Industriezweigen zu beschaffen, die in ihrer Gesamtheit doch recht beachtenswert sind und einen zwar langsamen, aber stetigen Fortschritt des Organisationsgedankens auch im internationalen Rahmen beweisen, so darf ich also hier den Ruhm eines Entdeckers unbekannter Gebiete für mich in Anspruch nehmen.

Soviel über die Arbeiterorganisationen. Aber je länger ich mich mit ihnen beschäftigte, um so mehr wurde mir klar, daß ich mich nicht auf sie beschränken durfte, wenigstens wenn ich nicht meine Aufgabe lediglich in der Zusammentragung von Thatsachen sehen, sondern in ihnen einen höhern Gedanken verfolgen und zum Ausdrucke bringen wollte. Dieser Gedanke, der sich ganz von selbst aufdrängt, sobald man nur die Thatsachen unbefangen auf sich wirken läßt, ist der, daß die Organisation als solche, die Zusammenfassung vieler Einzelner, die in gleichartigen Verhältnissen leben, nicht auf willkürlicher Neigung beruht, sondern einem inneren Bedürfnisse der Entwickelung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse entspringt. Es wäre ja auch wunderbar, wenn es anders sein sollte. In früheren Jahrhunderten, als die Beziehungen der Staatsbürger untereinander unendlich viel einfacher und übersichtlicher waren, bestanden Organisationen, die jedem den seiner Stellung im Wirtschaftsleben entsprechenden Platz zuwiesen. Sollte heute, wo diese Beziehungen von Tag zu Tag mannigfaltiger und verworrener werden, das Bedürfnis nach Organisation geringer sein? Das ist kaum denkbar. Wenn man in unserem Jahrhundert die von früher überkommenen Formen zerschlagen hat, so war das berechtigt, weil diese Formen ihrem Zwecke nicht mehr entsprachen, aber nicht deshalb, weil der Zweck selbst, der sie ins Leben gerufen hatte, nicht mehr bestanden hätte. Indem man sie zerschlug, ohne sie zu ersetzen, schuf man eine Lücke, und das innere Bedürfnis, diese Lücke auszufüllen, ist die Triebkraft der modernen Organisationsbewegung. Individualismus und Sozialismus, Stellung des Einzelnen auf sich selbst und Zusammenfassung vieler oder aller Einzelnen zu organischen Gesamtheiten, das ist der große Gegensatz, zwischen dem sich unsere wirtschaftliche Entwickelung in Pendelschwingungen bewegt. Haben wir die Perioden sowohl der Zunftverfassung wie des Manchestertums überwunden, so liegt es nahe, gerade in der gewerkschaftlichen Organisation als einer Mittelstufe zwischen dem reinen[viii] Individualismus und dem extremen Sozialismus diejenige Form zu sehen, die unserer heutigen Entwickelung am besten angepaßt ist und mittelst deren es gelingen wird, einen harmonischen Ausgleich zu erzielen. Aber ist das richtig, so liegt auf der Hand, daß die Bewegung sich nicht auf die Arbeiter beschränken kann. Auch die Unternehmer haben durch Beseitigung der Zunftverfassung ihre frühere Organisation verloren, ohne daß doch das Erfordernis einer solchen beseitigt wäre. Es ist ja möglich, daß das Bedürfnis der Zusammenfassung zu Verbänden, die das gemeinsame Interesse verfolgen, bei ihnen nicht so stark ist, wie bei den Arbeitern, weil der einzelne Unternehmer schon für sich allein widerstandsfähiger ist, und daraus mag es sich erklären, daß im allgemeinen die Arbeiter den Organisationsgedanken lebhafter aufgegriffen haben, aber gerade nachdem diese vorangegangen sind, bleibt den Unternehmern nichts übrig, als denselben Weg einzuschlagen.

Wollte ich also den Organisationsgedanken zur Geltung bringen, wollte ich zeigen, daß die Vertretung der Interessen der Arbeit als volkswirtschaftlichen Faktors gegenüber denjenigen des Kapitals und der Konsumtion, kurz, daß die „Organisation der Arbeit“, wie man es vielfach genannt hat, eine Naturnotwendigkeit ist, die sich in den Thatsachen widerspiegelt, so mußte ich auch die Vereinigungen der Unternehmer berücksichtigen.

Aber hier bot sich eine große Schwierigkeit, wenngleich rein äußerer Art, nämlich die Rücksicht auf den Umfang des Buches. Hätte ich die Organisation der Unternehmer in derselben Ausführlichkeit behandeln wollen, wie diejenige der Arbeiter, so würde der Stoff in dem Maße angewachsen sein, daß er in einem Bande nicht hätte bewältigt werden können; damit aber würde ich den Zweck, auf den mein Buch nach seiner ganzen Anlage zugeschnitten ist, nämlich die Verbreitung in größeren Kreisen, aufgegeben haben. Es entstand nun die Frage, wie das zu vermeiden sei. Auf die Darstellung der Unternehmervereinigungen ganz zu verzichten, war nicht möglich. Wie schon bemerkt, liegt der leitende Gedanke meines Buches, die Quintessenz dessen, was ich durch dasselbe beweisen will, in dem Satze, daß der einzige Weg, um zu einer durchgreifenden und dauernden Gesundung unserer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu gelangen, in der Organisation der Arbeit, d. h. der beiden an ihr beteiligten Faktoren, der Arbeiter und der Unternehmer, zu sehen ist. Aber die Organisation ist ja nicht Selbstzweck, sondern, wie bemerkt, das Mittel, zu gesunden sozialen Zuständen zu gelangen. Für diese ist nun der weitaus wichtigste Faktor das Verhältnis zwischen den beiden Klassen der Bevölkerung, die sich heute fast wie zwei feindliche Heere gegenüberstehen, nämlich zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. Wenn es deshalb möglich ist, die Organisation der Unternehmer nur insoweit zu behandeln, wie sie für dieses Verhältnis von Bedeutung[ix] ist, so mag freilich ein gewisser systematischer Fehler übrig bleiben, aber er ist dann von vorwiegend formeller Bedeutung, er beeinträchtigt nicht den Hauptzweck des Buches und darf als Preis der damit erzielten Umfangsbeschränkung in Kauf genommen werden.

In der That ist diese Scheidung leichter durchführbar, als es zunächst scheinen könnte. Der Unternehmer hat ein wirtschaftliches Interesse nach zwei ganz verschiedenen Richtungen, nämlich einerseits hinsichtlich der Herstellung und andererseits hinsichtlich des Absatzes. Bei dem letzteren tritt er in einen Interessengegensatz zu den Konsumenten, aber nicht zu den Arbeitern als solchen; zu ihnen besteht vielmehr eine Beziehung des Unternehmers lediglich im Rahmen der Produktion, insofern die Erfüllung der Forderungen, die im Interesse des Arbeiters liegen, in der Regel die Produktionskosten erhöht. Es ergiebt sich hieraus, daß diejenigen Unternehmerorganisationen, die sich mit der Regelung des Absatzes befassen, ganz von selbst aus dem hier gezogenen Rahmen entfallen.

Aber damit ist die uns obliegende Ausscheidung noch nicht erschöpft, vielmehr muß sie auch das Gebiet der Produktion ergreifen. Hier ist sie schwieriger, weil der Unternehmer mit einer ganzen Anzahl von Personen in ein Verhältnis des Interessengegensatzes tritt, und zwar sind dies alle diejenigen, deren Leistungen erforderlich sind, um die Produktion in ihren verschiedenen Stadien zu ermöglichen. Dazu gehören also außer den Arbeitern vor allem die Lieferanten der Roh- und Hülfsstoffe. Endlich kommen sowohl hinsichtlich des Absatzes, wie hinsichtlich der Herstellung für die Interessen des Unternehmers sehr wesentlich die Einrichtungen des Staates in Betracht, insbesondere auf dem Gebiete der Zoll- und Tarifpolitik. Die vielfachen „Vereine zum Schutze der wirtschaftlichen Interessen“, ebenso wie die Kartelle und Syndikate befassen sich nun in der That mit den Beziehungen der Unternehmer nach allen diesen Richtungen, also gegenüber den Konsumenten, den Lieferanten der Roh- und Hülfsstoffe und den staatlichen Behörden. Wenn wir deshalb für unseren Zweck uns auf diejenigen Unternehmerorganisationen beschränken, welche die Beziehungen zu den Arbeitern berühren, so scheiden wir dadurch nicht nur das Gebiet des Absatzes aus, sondern auch einen Teil desjenigen der Produktion, aber immerhin ist der Schnitt, den wir machen, ein völlig scharfer und begrifflich bestimmter, der erkennen läßt, was rechts oder links liegt.

Ich werde in dem Buche selbst nochmals auf diesen Punkt zurückkommen müssen[1], glaubte aber doch schon hier, wo es sich darum handelt, die verfolgte Aufgabe zu bezeichnen und den Leser über dasjenige, was er zu erwarten hat,[x] zu unterrichten, mich darüber aussprechen zu sollen, zumal dadurch die Wahl des Titels berührt wird. Ich habe in diesem den Ausdruck „Arbeitgeber“ und nicht „Unternehmer“ gebraucht, weil in ihm das Verhältnis gerade zu den Arbeitern bezeichnet wird. Allerdings war es schwierig, hier die richtige Abgrenzung zu finden, da naturgemäß viele Vereinigungen sich nicht auf die Verfolgung der Interessen ihrer Mitglieder nach einer einzelnen Richtung beschränken. Lediglich die in neuerer Zeit zahlreich ins Leben gerufenen „Antistreikvereine“, die sich in einzelnen Gewerben zu Zentralverbänden für ganz Deutschland zusammengeschlossen haben, während andere alle Arbeitgeber eines bestimmten Bezirkes ohne Unterschied des Gewerbes umfassen, verfolgen als einziges Ziel die Regelung des Verhältnisses zu den Arbeitern, bei den meisten dagegen bildet diese Aufgabe nur die mehr oder minder in den Vordergrund tretende Seite ihrer Thätigkeit. Vereine, die sich ein weiteres Ziel gesteckt haben, habe ich überall da berücksichtigt, wo die Wahrung der Interessen gegenüber den Arbeitern in dem Statute zum Ausdruck kommt.

Es war meine Absicht, alle Unternehmerorganisationen, die sich mit den Beziehungen zu der Arbeiterschaft überhaupt befassen, zu erwähnen und das Wesentlichste über sie mitzuteilen. Aber an keiner anderen Stelle meines Buches ist das Gelieferte so weit hinter dem Gewollten zurückgeblieben, wie hier, insbesondere ist es mir nicht entfernt möglich gewesen, die angestrebte Vollständigkeit zu erreichen. Auch hier fehlte es bisher an aller und jeder Litteratur. Ja wohl, über die Kartelle und Syndikate giebt es solche in völlig ausreichendem Maße, und um so ruhiger konnte ich deshalb deren Ausscheidung verantworten, aber die Kampforganisationen der Unternehmer gegenüber den Arbeitern haben weder in Deutschland noch in anderen Ländern bisher irgendwelche litterarische Behandlung gefunden.

War ich deshalb zur Beschaffung des Materials ausschließlich auf den Weg privater Ermittelung verwiesen, so machte sich um so mehr eine weitere Schwierigkeit geltend. Die in Rede stehenden Vereinigungen wünschen nämlich zum Teil nicht, daß über ihre Einrichtungen etwas in die Oeffentlichkeit dringt. Brentano, den ich um seine Unterstützung bat, schreibt mir: „Gerade die Unternehmervereine sind heutzutage die wahren geheimen Gesellschaften.“ So habe ich denn auf meine Anfragen zum großen Teil entweder eine ablehnende oder gar keine Antwort erhalten.

Ich habe die gegen die Systematik meines Buches zu erhebenden Einwendungen offen dargelegt und dessen mangelnde Vollständigkeit anstandslos eingeräumt, aber ich konnte mich nicht entschließen, wegen dieser Unvollkommenheit den zweiten Teil ganz zu unterdrücken. Ist auch der Abschnitt über die Organisation der Arbeitgeber gewissermaßen ein Torso geblieben, so glaubte[xi] ich ihn doch als den ersten Versuch einer solchen Arbeit der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten zu sollen. Dazu kommt, daß die Unvollständigkeit hier nicht von solcher Bedeutung ist, wie es scheinen könnte. Den Zweck einer Zusammenstellung, wie sie mein Buch bieten soll, wird man nicht sowohl darin zu sehen haben, den Leser über alle irgendwo bestehenden Vereinigungen dieser Art zu unterrichten, als vielmehr darin, die bisher unternommenen Versuche einer Organisation der Arbeitgeber mit Rücksicht auf die hierbei gemachten Erfahrungen und hervorgetretenen Tendenzen zu zeigen. Dieser Zweck aber ist erreicht, wenn in den zusammengestellten Thatsachen alle typischen und sonst interessanten Züge zum Ausdrucke gelangt sind, und daß dies geschehen ist, glaube ich annehmen zu dürfen.

Das bisher Gesagte gilt im wesentlichen auch hinsichtlich des dritten Hauptabschnittes, nämlich der gemeinsamen Organisation von Arbeitern und Unternehmern. Auch hier fehlte es bisher, abgesehen von dem Buche von Alfred Swaine über den ostschweizerischen Stickereiverband, dem Buche von Boissard über die französischen syndicats mixtes und einigen Arbeiten über die Tarifgemeinschaft der Buchdrucker an jeder Litteratur, so daß ich nur das bieten konnte, was mir durch private Erkundigung zugänglich geworden ist. Ich muß deshalb auch hier die Verantwortung für die Vollständigkeit meiner Zusammenstellung ablehnen.

Nach alledem sehe ich die Berechtigung meines Buches in folgenden Punkten. Dasselbe bietet zum erstenmale:

1. eine Zusammenstellung der gesamten gewerkschaftlichen Entwickelung;
2. eine Darstellung hinsichtlich derjenigen Länder, für die es bisher eine allgemeine zugängliche Litteratur nicht gab;
3. eine Behandlung der in Deutschland bestehenden gewerkschaftlichen Ansätze, soweit sie außer den sozialistischen Gewerkschaften und den Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereinen vorhanden sind;
4. eine Uebersicht der bisherigen internationalen Organisation;
5. Material über die Vereinigungen der Arbeitgeber, soweit sie das Verhältnis zu den Arbeitern berühren;
6. eine Zusammenstellung der bisher unternommenen Versuche einer gemeinsamen Organisation von Arbeitern und Arbeitgebern. —

Habe ich mich bisher mit dem Inhalte meines Buches beschäftigt, so darf ich mir zum Schlusse noch einige Worte über die formelle Seite, insbesondere die Art der Behandlung gestatten. Wenn ich mir die Aufgabe stellte, die wirtschaftlichen Interessenorganisationen der Arbeiter und der Arbeitgeber in allen Kulturländern in einem einzigen Buche zu umfassen, so war damit von selbst die Notwendigkeit einer weitgehenden Beschränkung gegeben. Das ganze[xii] ungeheure Gebiet mit der Ausführlichkeit zu behandeln, wie es die vorhandene Speziallitteratur thut, würde zunächst die Kraft eines Einzelnen weit überstiegen haben. Aber selbst abgesehen hiervon, würde eine solche Arbeit kaum eine innere Berechtigung gehabt haben, denn, soweit bereits befriedigende Bearbeitungen der Einzelgebiete vorliegen, ist für ein neues Buch von gleichem Zuschnitte kein Bedürfnis vorhanden. Endlich aber würde ein solches Werk von vielen Bänden gerade den Zweck nicht erreicht haben, auf den es mir vor allem ankam, nämlich nicht ein Buch für Bibliotheken zu schreiben, das nur wenige Personen in die Hand bekommen, sondern das Verständnis für die große soziale Organisationsbewegung der Gegenwart in möglichst weite Kreise zu tragen. Hierzu bedarf es eines Buches, das freilich einerseits den ganzen Stoff umfaßt und von einheitlichen Gesichtspunkten aus behandelt, das aber andererseits unbeschadet der Vollständigkeit sich möglichster Knappheit befleißigt und dadurch eine Begrenzung nach Umfang und Preis erzielt, wie sie für den bezeichneten Zweck weiter Verbreitung unerläßliche Bedingung ist.

War ich aber hiernach ohnehin nicht in der Lage, mit den vorhandenen Werken der Speziallitteratur in Konkurrenz zu treten, indem vielmehr derjenige, der sich eingehender mit einem Spezialgebiete beschäftigen will, auf jene verwiesen werden muß, so würde es eine thörichte Eitelkeit gewesen sein, wenn ich hier die Absicht gehabt hätte, Originalstudien zu bieten und auf die Urquellen zurückzugehen. Ich habe deshalb vielmehr überall da, wo bereits Bearbeitungen des betreffenden Gebietes vorhanden waren, diese meiner Darstellung zu Grunde gelegt und nur, soweit sie nicht bis auf die Jetztzeit reichten, die erforderlichen Ergänzungen auf anderem Wege beschafft.

Unter den Werken, die für ein eingehenderes Studium in Betracht kommen, stehen in erster Linie die einschlägigen Artikel des von Conrad, Elster, Lexis und Loening herausgegebenen „Handwörterbuches der Staatswissenschaften“, in denen auch ausführliche Litteraturnachweise gegeben sind. Die wertvollste Materialsammlung für die fortlaufende Entwickelung bietet das von H. Braun begründete „Sozialpolitische Zentralblatt“, das seit 1. April 1895 unter dem Titel „Soziale Praxis“ erscheint und jetzt von C. Francke herausgegeben wird. Leider sind meist die Originalquellen, aus denen die Angaben entnommen sind, nicht bezeichnet. Ich erwähne beide Werke in diesem Zusammenhange, da ich vielfach aus ihnen geschöpft habe und es doch nicht gut durchführbar erschien, mich an jeder einzelnen Stelle ausdrücklich auf sie zu beziehen. Im übrigen habe ich die von mir benutzten Quellen und die wichtigere Litteratur bei den einzelnen Abschnitten angegeben.

Es war zuerst meine Absicht, mich nicht auf eine Sammlung des Thatsachenmaterials zu beschränken, sondern daneben in einem zweiten Bande die[xiii] prinzipielle Seite der Organisation, insbesondere deren wirtschaftliche und sozialpolitische Bedeutung zu erörtern.

Es waren auch hier äußere Gründe, die mich zwangen, hiervon abzusehen, und zwar einerseits die bereits hervorgehobene Rücksicht, den Umfang des Buches nicht zu sehr zu vergrößern, andererseits der Wunsch, die Veröffentlichung des fertig gestellten ersten Bandes nicht länger hinauszuschieben. Aber ich hoffe, in nicht allzulanger Zeit das jetzt Unterlassene nachzuholen und in einer ferneren Arbeit nicht allein den Nachweis zu erbringen, daß die Organisation von Arbeitern und Unternehmern als den beiden Faktoren der Arbeit eine unabweisbare Notwendigkeit ist, um deren Interesse gegenüber denjenigen des Kapitals und der Konsumtion wahrzunehmen und zu einer Ordnung in den verworrenen Verhältnissen des heutigen Erwerbslebens zu gelangen, sondern auch zu den hiermit zusammenhängenden Einzelfragen über die beste Form, insbesondere gemeinsame oder getrennte, freiwillige oder zwangsweise Organisation der beiden Berufsklassen, über die Beziehungen zwischen den gewerkschaftlichen und den politischen Aufgaben und das dadurch bedingte Verhältnis der Gewerkschaften zur Sozialdemokratie und endlich über die Berechtigung der einzelnen gewerkschaftlichen Forderungen, insbesondere die Erhöhung des Arbeitslohnes und die Verkürzung der Arbeitsdauer Stellung zu nehmen. In diesem Zusammenhange wird es mir auch möglich sein, etwas nachzuholen, was eigentlich der jetzigen Arbeit hätte vorausgehen müssen, insofern die Auswahl der behandelten Organisationen dadurch bedingt ist, nämlich den Begriff von „Gewerkschaft“ oder „Gewerkverein“ und dessen karakteristische Momente genau zu bestimmen. Ich bemerke dabei, daß ich die beiden genannten Ausdrücke in meinem Buche als gleichbedeutend behandele und abwechselnd gebrauche, ohne durch die Wahl des einen oder des anderen zu dem in Deutschland zwischen den Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereinen und den sozialistischen Gewerkschaften bestehenden Gegensatze und insbesondere zu der Frage, welche von beiden Arten den englischen trade unions am nächsten steht, Stellung zu nehmen. Im allgemeinen ist das Wort „Gewerkschaft“ wegen der handlicheren Ableitungsformen für den Gebrauch bequemer.

Die bereits vorliegende und die vorstehend bezeichnete fernere Arbeit werden in gewisser Weise nur zwei Bände eines Buches bilden, indem sie nicht allein denselben Gegenstand lediglich nach zwei Seiten hin behandeln, sondern auch denselben Grundgedanken zur Darstellung bringen, nämlich die Notwendigkeit der sozialen Organisation, für die der Nachweis auf doppeltem Wege geführt wird, nämlich einerseits induktiv an der Hand der Thatsachen der bisherigen Entwickelung, andererseits deduktiv als Ausfluß anerkannter oder doch als sicher vorhanden nachzuweisender volkswirtschaftlicher und psychologischer Gesetze.[xiv] Deßungeachtet sind beide Arbeiten formell selbständige Bücher, da sie beide für sich ihr Gebiet erschöpfen und keine von beiden die andere zur Voraussetzung hat.

Ich habe übrigens diese Scheidung in zwei Bände nicht in der Weise durchgeführt, daß ich mich in dem vorliegenden streng auf die Darstellung von Thatsachen beschränkt und jede Kritik vermieden hätte. Zweifellos wäre das rein systematisch das Richtige gewesen, aber Systematik ist eben nicht Selbstzweck und wird, wo sie als solcher behandelt wird, zur Pedanterie. Ist ganz gewiß das Durcharbeiten eines so massenhaften Materials, wie ich es zusammentragen mußte, für den Leser in hohem Grade ermüdend, so schien es mir geeignet, die Monotonie der Darstellung gelegentlich dadurch etwas zu unterbrechen, daß ich an einzelnen Stellen kurze kritische Bemerkungen mir gestattete. Dadurch wird freilich der sonst nach Kräften gewahrte durchaus objektive Karakter meines Buches etwas beeinträchtigt, und ein Leser, der nicht auf meinem Standpunkte steht, wird gewiß an diesen Aeußerungen zuweilen Anstoß nehmen. Immerhin darf ich hoffen, daß solche Leser, die gewohnt sind, auch gegnerische Meinungen anzuhören, mir darum nicht zürnen werden. —

Zum Schlusse will ich nicht verfehlen, den üblichen Appell an die Nachsicht meiner Kritiker zu richten. Welche Schwierigkeiten die Verarbeitung eines so ungeheuren Materials bietet, wie es mir vorlag, kann nur derjenige völlig beurteilen, der sich schon mit ähnlichen Arbeiten befaßt hat; besteht doch gerade die Aufgabe darin, diese Schwierigkeit gar nicht merken zu lassen, sondern bei dem Leser das Gefühl hervorzurufen, als ob das, was ihm auf wenigen Seiten über einen Gegenstand gesagt wird und den knappen Auszug aus vielen Bänden und umfangreichen Protokollen, Berichten, Statuten u. s. w. darstellt, Alles enthalte, was darüber zu wissen nötig und möglich sei. Das Exzerpieren ist an sich eine mechanische und gerade deshalb wenig befriedigende Arbeit, aber die Aufgabe, die dabei gelöst werden muß, nämlich zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem zu unterscheiden, so viel zu bieten, wie zur Orientierung erforderlich ist, aber auch nicht mehr, ist doch weniger leicht, als es scheinen könnte, insbesondere erfordert sie einen litterarischen Takt, ein Feingefühl, dessen Bedeutung man nur am eigenen Leibe erfährt, wenn man an hundert und tausend Stellen vor der Frage steht, ob man eine Angabe aufnehmen oder fortlassen, sie ausführlicher oder knapper fassen soll.

Aber es ist nicht nur die Verarbeitung eines so großen Materials, was Mühe verursacht, sondern schon dessen Zusammenbringung ist mit Schwierigkeiten verknüpft, die sich der Fernstehende nicht träumen läßt, und die doppelt groß sind für Jemanden, der einerseits nicht am Sitze einer größeren Bibliothek wohnt und anderseits solche Studien nicht als Beruf betreibt, sondern in einem Amte[xv] steht, das notwendig den Hauptteil seiner Arbeitskraft in Anspruch nimmt, und der deshalb nur seine unregelmäßigen Mußestunden zur Verwendung hat. Perioden von Wochen und Monaten, in denen die Berufsgeschäfte die gesamte Thätigkeit in Anspruch nehmen, zwingen zu Unterbrechungen, die nicht allein dadurch, daß das stete Wiedereinfädeln des zerrissenen Fadens doppelte Mühe und Zeit beansprucht, eine sehr erhebliche Erschwerung mit sich bringen, sondern vor allem die Einheitlichkeit der Arbeit beeinträchtigen.

Sollte es mir gelungen sein, den geneigten Leser von der Größe aller dieser Schwierigkeiten zu überzeugen, so wird er es vielleicht milder beurteilen, wenn er die Aufgabe nicht überall als glücklich gelöst anerkennt, insbesondere einige Partien zu lang, andere zu kurz behandelt findet. Ich bilde mir nicht entfernt ein, hier überall das Richtige getroffen zu haben, ja ich sehe das Verdienst meiner Arbeit überhaupt weniger in dem, was sie selbst unmittelbar bietet, als in der Anregung, die ich mir von ihr für weite Kreise verspreche, sich mit den von mir behandelten Dingen eingehender, als es bisher geschehen ist, zu beschäftigen.

Für solche ferneren Arbeiten, die auf dem gleichen Boden weiterbauen, wird mein Buch, so hoffe ich, im Stande sein, eine brauchbare Unterlage zu bieten.

Braunschweig, 15. September 1899.
W. Kulemann.

[xvii]

Fußnoten:

[1] Vgl. S. 516 ff.

Inhaltsverzeichnis.

Erster Teil.
Arbeiterverbände.
Seite
Erster Abschnitt. Nationale Vereinigungen 1
I. England 1
II. Frankreich 63
III. Oesterreich 85
IV. Schweiz 111
V. Belgien 135
VI. Holland 140
VII. Italien 145
VIII. Die übrigen europäischen Länder 152
IX. Nordamerika 159
X. Australien 178
XI. Deutschland 183
  1. Einleitung 183
  2. Die Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine 185
  3. Die sozialistischen Gewerkschaften 201
  A. Der v. Schweitzer'sche Gewerkschaftsbund 201
  B. Die Internationalen Gewerksgenossenschaften 202
  C. Die York'sche Gewerkschaftsunion 205
  D. Die Vereinigung der Lassalleaner und Marxisten 206
  E. Die lokalen Fachvereine 207
  F. Die Wirkung des Sozialistengesetzes 208
  G. Wiederaufleben der gewerkschaftlichen Bewegung 210
  H. Die neueste Entwickelung 216
  I. Die Lokalorganisierten 255
  4. Der deutsche Buchdruckerverband 258
  5. Die Bergarbeiter 293
  6. Die Postbeamten 316
  a) Allgemeines 316
  b) Der Bayrische Verkehrsbeamtenverein 318
 [xviii] c) Verband deutscher Post- und Telegraphenassistenten 321
  d) Die Postunterbeamten 326
  7. Die Eisenbahnbediensteten 331
  A. Beamte 331
  a) Deutscher Eisenbahnbeamtenverein 332
  b) Verein Deutscher Lokomotivführer 333
  B. Arbeiter 334
  a) Verband Deutscher Eisenbahnhandwerker und Arbeiter 335
  b) Der Bayrische Eisenbahnerverband 336
  c) Verband bayrischer Eisenbahnwerkstätten- und Betriebs-Arbeiter 338
  d) Verband badischer Eisenbahnbediensteter 339
  e) Der Verband der deutschen Eisenbahner 340
  C. Gemischte Vereine 342
  8. Der deutsche Privatbeamtenverein 343
  9. Der Deutsche Werkmeisterverband 347
  10. Die kaufmännischen Vereinigungen 349
  A. Die ältere Richtung 351
  a) Deutscher Verband kaufmännischer Vereine 351
  b) Verein für Handlungskommis von 1858 353
  c) Kaufmännischer Verein in Frankfurt a. M. 354
  d) Kaufmännischer Verein in Mannheim 355
  e) Kaufmännischer Verein Union in Bremen 356
  f) Kaufmännischer Verein München 356
  g) Verein junger Kaufleute in Berlin 357
  h) Kaufmännischer und gewerblicher Hülfsverein für weibliche Angestellte 358
  i) Verband deutscher Handlungsgehülfen 359
  k) Verband reisender Kaufleute Deutschlands 360
  l) Kaufmännischer Hülfsverein in Berlin 361
  B. Die neuere Richtung 362
  a) Verein der deutschen Kaufleute 362
  b) Deutschnationaler Handlungsgehülfenverband 364
  c) Verein für kaufmännische Angestellte 367
  d) Zentralverband der Handlungsgehülfen und -Gehülfinnen Deutschlands 369
  11. Konfessionelle Arbeitervereine 372
  A. Evangelische 372
  B. Katholische 388
  C. Fachabteilungen 391
  D. Christlich-soziale Gewerkvereine 396
  a) Textilarbeiterverband Aachen, Burtscheid 397
  b) Textilarbeiterverein Eupen 399
  c) Textilarbeiterverein Düren 399
  d) Niederrheinischer Verband christlicher Textilarbeiter 400
  e) Textilarbeiterverband in Mönchen-Gladbach 403
  e) Textilarbeiterverband in Mönchen-Gladbach 403
  f) Bayrischer Textilarbeiterverband 404
 [xix] g) Gewerkverein der Maurer 405
  h) Gewerkverein der Metallarbeiter 407
  i) Gewerkverein der Gastwirtsgehülfe 407
  k) Gewerkverein kaufmännischer Hülfsarbeiter 408
  l) Schwarzwälder Uhrenindustriearbeiter 408
  m) Christliche Gewerkschaft in Frankfurt a. M. 409
  n) Gesamtverband christlicher Gewerkvereine 410
Zweiter Abschnitt. Internationale Beziehungen 414
I. Einleitung 414
II. Die internationale Arbeiterassoziation 415
III. Allgemeine Arbeiterkongresse 416
IV. Die einzelnen Gewerbe 440
  1. Buchdrucker 440
  2. Bergarbeiter 462
  3. Eisenbahnarbeiter 472
  4. Textilarbeiter 475
  5. Die Metallarbeiter 478
  6. Die Holzarbeiter 481
  7. Die Seeleute und Hafenarbeiter 483
  8. Tabakarbeiter 486
  9. Lederarbeiter 489
  10. Die Brauer 490
  11. Former 491
  12. Handschuhmacher 492
  13. Hutmacher 496
  14. Töpfer 499
  15. Porzellanarbeiter 500
  16. Glasarbeiter 500
  17. Die Diamantarbeiter 504
  18. Die Bildhauer 505
  19. Die Lithographen 507
  20. Die Sattler und Tapezierer 509
  21. Schuhmacher 510
  22. Die Schneider 512
  23. Handlungsreisende 514
Zweiter Teil.
Arbeitgeberverbände.
I. Einleitung 516
II. Deutschland 522
  A. Uebersicht der bestehenden Interessentenvereinigungen 522
  a) Allgemeine Verbände 522
  b) Organisationen einzelner Berufszweige 526
  B. Arbeitgeber-Schutzverbände 533
  a) Allgemeine Arbeitgeberverbände 535
 [xx] 1. Arbeitgeberverband Hamburg-Altona 535
  2. Bund der Arbeitgeberverbände Berlins 538
  3. Arbeitgeberverband Flensburg 539
  4. Verein Bielefelder Fabrikanten 540
  5. Bergischer Fabrikantenverein 541
  6. Die Streikversicherungsgesellschaft Industria 542
  b) Vereinigungen einzelner Berufszweige 545
  I. Bergbau 545
  1. Ausstandsversicherungsverband des Oberbergamtsbezirks Dortmund 545
  2. Oelsnitz-Gersdorf-Lugauer Steinkohlenbergwerke 546
  3. Magdeburger Braunkohlenbergbauverein 547
  II. Metallindustrie 548
  1. Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller 548
  2. Verband der Metallindustriellen für Nürnberg, Fürth und Umgebung 550
  3. Verband der Metallindustriellen Magdeburgs und Umgebung 550
  4. Vereinigung der Berliner Metallwarenfabrikanten 551
  5. Vereinigung der Berliner Klempner, Kupferschmiede, Gas- und Wasser-Installateure und verwandter Berufszweige 552
  6. Verein der Kupferschmiedereien Deutschlands 552
  7. Verband Berliner Metallindustrieller 553
  8. Verband der Metallindustriellen Württembergs 554
  9. Verband der Metallindustriellen in Halle a. S. und Umgegend 554
  10. Verein Braunschweiger Metallindustrieller 555
  11. Verband der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig 555
  III. Brauerei 556
  1. Verband Braunschweigischer Bierbrauereien 556
  2. Verband der norddeutschen Brauereien 557
  3. Die bayrischen Bierbrauereien 557
  4. Zentralverband deutscher Brauereien gegen Verrufserklärungen 558
  IV. Brauerei 560
  1. Verein zur Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen der Tuchfabrikanten zu Cottbus 560
  2. Tuchfabrikantenverein zu Aachen-Burtscheid 563
  3. Verein der Riemenfabrikanten in Barmen 564
  4. Wupperthaler Riemendreherverband 565
  V. Tabakindustrie 566
  VI. Baugewerke 567
  A. Oertliche Vereine 567
  1. Arbeitgeberbund für das Maurer- und Zimmerergewerbe von Berlin und den Vororten 567
  2. Bund der vereinigten Arbeitgeber der Maurer, Zimmerer und Bauarbeiter in Brandenburg a. H. 568
  3. Verein bremischer Baugewerksmeister 569
  4. Verband der Baumeister und Bauunternehmer in Dresden 570
  5. Freie Vereinigung der Baugeschäftsinhaber in Greiz 571
  6.[xxi] Arbeitgeberverband des Maurer- und Zimmerergewerbes in Magdeburg 572
  7. Verband der Arbeitgeber des Baugewerbes in München 574
  8. Verband süddeutscher Baugewerksmeister 575
  9. Freie Vereinigung der Maurer- und Zimmermeister in Stettin 577
  B. Der deutsche Arbeitgeberbund für das Baugewerbe 578
  VII. Hutfabrikation 580
  1. Verein Berliner Wollfilzhutfabrikanten 580
  2. Verein sächsischer Strohhutfabrikanten zur Wahrung gemeinsamer Interessen 581
  VIII. Tapetenfabrikation 581
  IX. Handwerk 582
  1. Arbeitgeberbund der vereinigten Tischler- und Drechslermeister, sowie verwandter Holzbearbeitungsbetriebe in Stettin 582
  2. Verein der Möbel- und Bautischlereien in Herford 583
  3. Verband der Faßfabrikanten und Küfermeister von Rheinland und Westfalen 584
  X. Landwirtschaft 585
  XI. Der Deutsche Buchdruckerverein 587
III. Oesterreich 602
IV. England 611
V. Frankreich 619
VI. Die übrigen Länder 622
Dritter Teil.
Gemeinsame Organisationen.
A. Freiwillige Vereinigungen 624
  1. Die Tarifgemeinschaft der deutschen Buchdrucker 624
  2. Der Schweizerische Stickereiverband 643
  3. Der Sächsische Stickereiverband 651
  4. Die Schweizerische fédération horlogère 652
  5. Die Lippeschen Ziegler 654
  6. Solinger Stahlwarenindustrie 667
  7. Die Feilenhauerindustrie in Remscheid 671
  8. Die Bergische Bandindustrie 675
  9. Die Schlittschuhindustrie in Remscheid 677
  10. Die französischen syndicats mixtes 678
  11. Die englische trade alliance 685
B. Gesetzliche Organisationen 624
Nachträge.
I.   697
II.   699
III.   700
IV.   700
V.   702
VI.   703
VII.[xxii]   704
VIII.   708
IX.   709
X.   710
XI.   710
XII.   711
XIII.   711
XIV.   712
XV.   712
XVI.   712
XVII.   714
XVIII.   714
XIX.   716
XX.   718

[1]

Erster Teil.
Arbeiterverbände.

Erster Abschnitt.
Nationale Vereinigungen.

I. England[2].

Auf dem Gebiete der Arbeiterorganisation nimmt England zweifellos den ersten Platz ein. Die Entwickelung ist hier am längsten zu verfolgen und am weitesten vorgeschritten, und es liegt nahe, anzunehmen, daß diejenige der übrigen Länder in ihr das Vorbild zu sehen hat, dem sie gut thut als Ziel nachzustreben, womit es völlig vereinbar ist, daß sie sich je nach der Eigenart der Völker und ihrer geschichtlichen Entwickelung verschieden modifiziert.

Ueber den Ursprung der englischen trade unions besteht keine Uebereinstimmung der Meinungen. Während George Howell, dem sich die ältere Auffassung in England anschloß, in seinem Buche: „The conflicts of capital and labour“, London 1877, sie als Ausläufer der alten Handwerkergilden betrachtet, wird diese Auffassung von S. und B. Webb entschieden bekämpft, die vielmehr den Ausgangspunkt in den früh auftauchenden Genossenschaften von Lohnarbeitern finden wollen.

[2]

Auch Brentano[3], ebenso wie Schanz[4] sehen das Vorbild der trade unions nicht in den Gilden, sondern in den Arbeiterbrüderschaften.

Solche Vereinigungen von Handwerksgesellen, ähnlich den deutschen Gesellen- und Bruderladen, finden wir in England wie in den meisten übrigen Kulturländern schon im Mittelalter, aber überall stehen diese Bildungen im Gegensatze zu der Gesetzgebung, die häufig mit strengen Strafbestimmungen gegen sie einschreitet. Aus diesem Grunde hüllen sie ihre Thätigkeit regelmäßig möglichst in Dunkel, und es ist deshalb über sie wenig bekannt. Die Zeit, über die wir besser unterrichtet sind, beginnt erst mit dem im Jahre 1562 durch die Königin Elisabeth erlassenen sog. Lehrlingsgesetze, dessen Bestimmungen für das Verständnis der damaligen gewerblichen und sozialen Verhältnisse von dem größten Interesse sind. Vorbedingung für den Betrieb eines Gewerbes ist eine 7 jährige Lehrlingszeit. Die Anzahl der von einem Meister angenommenen Lehrlinge darf die der von ihm beschäftigten Gesellen höchstens um zwei übersteigen. Die Arbeitszeit dauert im Sommer 12 Stunden, im Winter von Tagesanbruch bis zur Nacht. Der Lohn wird vierteljährlich von den Friedensrichtern und Magistraten festgesetzt, doch ist nicht das Zahlen eines geringeren, sondern nur das eines höheren, als des bestimmten Lohnes mit Strafe für Arbeitgeber und Arbeiter bedroht; man hatte also nicht, wie heute gefordert wird, einen Minimal-, sondern einen Maximallohn. Der Grund hierfür war, daß, nachdem die Pest im Jahre 1348 die Bevölkerung um ein Drittel oder gar die Hälfte vermindert hatte, die Arbeitslöhne infolge des verminderten Angebotes an Arbeitskräften plötzlich außerordentlich in die Höhe gingen, so daß das Parlament 1349 zu einer besonderen Sitzung zusammenberufen wurde, um das „Arbeiterstatut“ zu erlassen, in welchem den[3] Arbeitern verboten wurde, höhere Löhne zu fordern, als zwei Jahre vor Ausbruch der Pest üblich gewesen waren. Das Lehrlingsgesetz behielt diese Vorschrift bei, und verschiedene dagegen unternommene Aufstände hatten keinen Erfolg.

Kann hiernach das Gesetz gewiß nicht als ein arbeiterfreundliches bezeichnet werden, so wurde doch in den bald folgenden Zeiten der steigenden industriellen Entwickelung die behördliche Lohnregelung von den Arbeitern als ein Schutz angesehen, den die meist die Partei der Arbeitgeber nehmenden Behörden ihnen dadurch zu entziehen suchten, daß sie sich weigerten, den Anträgen auf Lohnfeststellung Folge zu geben, und die meisten Arbeiterunruhen aus dem 18. Jahrhundert haben ihren Grund in der Erbitterung der Arbeiter über den ihnen verweigerten Schutz. Einzelne Versuche der Gesellen, den Beistand des Parlamentes anzurufen, gelangen, waren aber ohne nachhaltigen Erfolg. So wurde im Jahre 1756 auf Antrag der Wollweber der Woollen Cloth Weavers Act erlassen, in dem die Festsetzung der Stücklöhne den Friedensrichtern übertragen wurde, aber auf Grund von Petitionen der Fabrikanten, die erklärten, der Konkurrenz gegenüber nicht bestehen zu können, wurde das Gesetz wieder aufgehoben.

Die frühere Periode der staatlichen Fürsorge wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts endgültig überwunden infolge der durch das 1776 erschienene berühmte Buch von Adam Smith: „The Wealth of Nations“ verkündeten und bald allgemein angenommenen Lehre von der wirtschaftlichen Freiheit, die dahin führte, daß 1813 das Lehrlingsgesetz von Elisabeth als „schädlich“ im vollen Umfange aufgehoben wurde.

Dieser Grundsatz der Freiheit forderte nach damaliger Auffassung die Beseitigung aller Vereinigungen, die im stande waren, sie zu beeinträchtigen und, nachdem schon eine Reihe von Einzelgesetzen für die verschiedenen Berufe vorangegangen waren, wurde 1799 durch das Gesetz 39 Geo. III c. 81, den General Combination Act allgemein jede Verbindung verboten und für kriminell strafbar erklärt; dieses Gesetz wurde auch im folgenden Jahre durch ein neues Gesetz (39 und 40 Geo. III c. 60) ausdrücklich bestätigt.

Nun richtete sich freilich das Verbot formell gegen die Arbeitgeber ebensogut, wie gegen die Arbeiter, aber nicht allein waren gegen sie nicht, wie gegen die Arbeiter, Gefängnisstrafen, sondern nur geringe Geldstrafen angedroht, sondern vor allem gelang es niemals, gegen sie ein Eingreifen des Friedensrichters zu erzielen, so daß ein Parlamentsbericht von 1824 anerkennen muß, daß sich kein einziger Fall von Verurteilung eines Arbeitgebers habe nachweisen lassen.

Erschwert wurde die Lage für die Arbeiter noch durch die nach dem Frieden von 1815 in Verbindung mit dem niedrigen Stande der Preise einsetzende außerordentliche Herabdrückung der Löhne. Es ist deshalb begreiflich,[4] daß sich überall Geheimbunde bildeten und Verschwörungen stattfanden, die mit blutigen Verfolgungen endeten.

In dieser Not erstand den Arbeitern ein Helfer in der Person von Francis Plate, eines Schneidermeisters, der sich nach Aufgabe seines Geschäftes mit einer bewundernswerten Energie der Aufgabe der Befreiung der Arbeiterklasse widmete. Ihm in Verein mit dem Parlamentsmitgliede Josef Hume gelang es im Jahre 1824, im Parlamente ein Gesetz (5 Geo. IV c. 95) durchzubringen, welches alle Koalitionsverbote, insbesondere die Combination Laws von 1799/1800, aufhob und den gewerblichen Verbindungen gesetzliche Anerkennung verlieh, indem dieselben nur dann strafbar sein sollten, wenn sie Gewalt gegen Personen oder Sachen verübten. Aber die daraufhin einsetzende allgemeine Bildung von Gewerkvereinen in Verbindung mit erheblichen Lohnsteigerungen riefen einen Entrüstungs- und Petitionssturm der Unternehmer hervor, und es schien, als ob es ihnen gelingen würde, das neue Gesetz völlig wieder rückgängig zu machen. In Wahrheit kam es jedoch nicht hierzu; dasselbe wurde freilich aufgehoben, aber das neue Gesetz von 1825 (6 Geo. IV c. 129), obgleich es formell das allgemeine Verbot von Verbindungen wieder herstellte, berührte doch insofern die Interessen der Arbeiter nicht allzutief, als es von dem Verbote die Verbindungen zum Zwecke der Regelung der Löhne und der Arbeitszeit ausnahm und so das Recht der Arbeiter zum Verhandeln über diese Punkte anerkannte. Allerdings bezog sich dies nur auf Versammlungen, die sich mit den Arbeitsbedingungen der in der Versammlung anwesenden Personen beschäftigten. Ebenso waren Vereinbarungen, mit bestimmten Personen nicht zusammen zu arbeiten oder Jemand zur Niederlegung der Arbeit zu bewegen, strafbar. Die Folgen dieser gesetzlichen Maßregeln waren auch jetzt wieder Unruhen, die sich bis zu Mordthaten steigerten.

Zu dieser Ungunst der Gesetzgebung kam noch der mit dem Jahre 1825 einsetzende und bis 1829 dauernde wirtschaftliche Niedergang, der keine Ausdehnung der Gewerkschaften zuließ; alle von ihnen eingeleiteten Lohnbewegungen endigten mit völligen Niederlagen.

Die nächste Periode in der Entwickelung der englischen Gewerkvereine wird beherrscht durch den Einfluß des Fabrikanten Robert Owen, des ersten kollektivistischen Sozialisten, der nach Vereitelung des in seiner Kolonie New-Harmony in Nordamerika unternommenen Versuches, ein kommunistisches Gemeinwesen ins Leben zu rufen, seine ganze Kraft der heimischen Arbeiterbewegung widmete. Aber sein Ziel war nicht, wie es der Grundgedanke der heutigen Trade unions ist, eine berufliche Organisation innerhalb jedes einzelnen Gewerbes, sondern die Zusammenfassung aller Arbeiter ohne Unterschied zu einem einzigen umfassenden Verbande, entsprechend dem Ideale von der gemeinsamen[5] absoluten Solidarität der Arbeiterinteressen. Dies ist deshalb der Typus für die Periode von 1829–1834, dessen Unterschied gegen die heutigen Gewerkvereine schon in dem Namen hervortritt, indem die damaligen Verbände sich nicht trade unions nannten, sondern ihre Organisation als trades union, also als eine einheitliche Vereinigung bezeichneten. Den äußeren Abschluß fanden diese Bestrebungen in der von R. Owen auf dem Kongresse in London am 6. Oktober 1833 ins Leben gerufenen Grand National Consolidated Trades Union, die in kurzer Zeit eine Mitgliederzahl von mehr als einer halben Million erreichte und einen wahren Gewerkschaftstaumel einleitete. Die Grundlage bildeten als Regel Vereine („Logen“) von Angehörigen desselben Gewerbes, doch gab es auch „gemischte Logen“. Die Leitung der ganzen Union lag in den Händen eines Exekutivkomitees, das aus vier Personen bestand und als Ziel offen den Generalstreik aller Lohnarbeiter ins Auge faßte. In einzelnen Fällen wurden auch tief eingreifende Arbeitseinstellungen unternommen. So war infolge einer von den Londoner Gasarbeitern eingeleiteten Arbeitseinstellung Anfang März 1834 ein Teil der Hauptstadt einige Tage nachts in völlige Dunkelheit gehüllt.

Es ist begreiflich, daß hiergegen nicht allein die Arbeitgeber alle Mittel der Abwehr in Bewegung setzten, indem sie hauptsächlich die Beschäftigung der Arbeiter davon abhängig machten, daß sie „das document unterschrieben“, d. h. erklärten, der Union nicht anzugehören, sondern daß auch die staatlichen Behörden sich zum Eingreifen verpflichtet hielten. Hierzu benutzte man nicht allein den alten master and servant act, auf Grund dessen man Arbeiter wegen Niederlegung der Arbeit zu Gefängnisstrafen verurteilte, sondern vor Allem richtete man den Angriff gegen eine aus dem Mittelalter überkommene Gewohnheit der Arbeiterverbände, sich mit allerlei mystischem und phantastischem Apparate zu umgeben und sowohl bei der Aufnahme der Mitglieder, wie bei sonstigen wichtigen Vorkommnissen feierliche Eidesleistungen zu fordern. Gegen diesen Gebrauch brachte man ein im Jahre 1819 erlassenes Gesetz (37 Geo. III c. 123) zur Anwendung, welches die Abnahme von Eiden seitens eines ungesetzlichen Vereins mit schweren Strafen bedrohte. Auf Grund dieses Gesetzes wurden am 18. März 1834 sechs Arbeiter in Dorchester zu sieben Jahren Deportation verurteilt. Hiergegen leitete die Grand National Consolidated Trades Union eine allgemeine Arbeiterbewegung ein, die nicht nur in einer Riesenpetition mit mehr als einer Million Unterschriften, sondern auch einer am 21. April 1834 ins Werk gesetzten Prozession vor das Parlamentshaus, an der 100000 Menschen teilnahmen, ihren Ausdruck fand.

Aber hinderte man hierdurch zwar den von den Arbeitgebern betriebenen Erlaß strengerer gesetzlicher Maßregeln gegen das Vereinigungsrecht, so[6] erwies sich doch die Union nicht als fähig, die Uebermacht der Unternehmer auf rein privatem Gebiete, zu brechen. Das höchst wirksame Mittel, welches dieselben anwandten, bestand, wie schon bemerkt, darin, daß Sie überall durch „Präsentierung des Dokumentes“ die Arbeiter zum Austritte zwangen. Owen selbst sah sich gezwungen, seine Organisation im August 1834 auf einem zu diesem Zwecke einberufenen Kongresse aufzulösen und in eine „British and Foreign Consolidated Association of Industry, Humanity and Knowledge“ überzuleiten, deren Ziel die Errichtung einer „Neuen moralischen Welt“ durch die Versöhnung aller Klassen war, von der aber, außer wenigen mißglückten Versuchen der Gründung von Produktivgenossenschaften, nichts zu berichten ist.

Owen, der hiermit vom Schauplatze abtritt, war, wie gesagt, ein Vertreter des kollektivistischen Sozialismus und stand Marx ziemlich nahe. Er fand bei seinem Auftreten die Ideen vor, die in den Jahren nach 1815 die Schriften von Cobbes in die englische Arbeiterschaft hineingetragen hatten und die sich zusammenfassen lassen als den Gedanken der Erringung der politischen Macht seitens der Arbeiterklasse. Dieser politischen Demokratie, die er gering anschlug, setzte Owen seine „industrielle Demokratie“ mit dem genossenschaftlichen Eigentum und der genossenschaftlichen Kontrolle der Produktion entgegen. Es war begreiflich, daß nach dem Scheitern des Owenschen Gedankens das politische Ziel wieder in den Vordergrund trat, daß die Partei der „physischen Gewalt“ immer neue Anhänger fand, mit einem Worte, daß es zu der unter dem Namen der „Chartistenbewegung“ bekannten Schreckenszeit kam, die an Gefahr für alle staatliche und gesellschaftliche Ordnung weit alles überbot, was jemals der Sozialdemokratie hat nachgesagt werden können.

Da diese Bewegung, die von 1837 bis 1842 ihren Höhepunkt erreichte, aber bis 1848 ihren bedrohlichen Charakter bewahrte, durchaus politischer Natur ist, so fällt ihre Darstellung aus dem Rahmen der vorliegenden Aufgabe. Es sollen deshalb nur zwei Ereignisse erwähnt werden, die die oben aufgestellte Behauptung beweisen, nämlich einerseits die am 15. Juli 1839 seitens der Chartisten unternommene Plünderung von Birmingham und andererseits die am 10. April 1848 erfolgte Bestellung des Generals Wellington zum Oberbefehlshaber des Heeres, um den drohenden Angriff von 300000 Chartisten, die gegen London heranzogen, abzuwehren. Es ist zweifellos festgestellt, daß damals unter dem Drucke der politischen Erregung nicht allein sonstige Gewaltthätigkeiten, sondern geradezu Mordthaten von Personen verübt wurden, die sich sonst bei ihren Mitbürgern der besten Achtung erfreuten und diese auch ihrer Verurteilung ungeachtet nicht verloren, indem sie eben als politische Märtyrer angesehen wurden.

[7]

Uebrigens bestand hinsichtlich des Verhältnisses zu den trade unions zwischen der Owenistischen und der Chartistenbewegung der große Unterschied, daß die erstere die trade unions als Gesamtheit in ihren Bannkreis gezogen hatte, während sie der letzteren in ihrer Eigenschaft als Vereinigungen durchaus fern standen, womit vereinbar ist, daß manche ihrer Mitglieder für ihre Person zugleich eifrige Chartisten waren.

Kann man in gewissem Sinne die bisherige Periode der trade unions, die etwa bis 1843 zu berechnen ist, als die revolutionäre bezeichnen, der die etwa mit dem Jahre 1860 beginnende Glanzzeit der parlamentarischen Periode gegenübersteht, so giebt es zwischen beiden eine Periode des Ueberganges, in der sich die Ideen der neuen Entwickelung vorbereiten. Indem man alle Pläne sozialer Revolution aufgab, legte man das Hauptgewicht darauf, Wissen und Kenntnisse unter der Masse der Arbeiter zu verbreiten und im übrigen sich auf Maßnahmen rein praktischer Natur zu beschränken. Von der Kampfpolitik der früheren Zeit ist kaum eine Spur geblieben, insbesondere war das Mittel des Streiks so in Mißkredit geraten, daß nicht allein die meisten Verbände ihn völlig aus ihrem Programm beseitigten, sondern die Loge Portsmouth der Steinmaurer sogar beschloß, das Wort „Streik“ abzuschaffen. An Stelle des Streiks sollte das System der Einigungsämter und Schiedsgerichte treten. Man betonte nicht allein den Nutzen eines guten Einvernehmens mit den Arbeitgebern, um die bestehenden Vorurteile gegen die Arbeiterverbände zu zerstören, sondern wies vor allem darauf hin, daß die Höhe des Lohnes nicht in dem Belieben der Unternehmer stehe, sondern dem großen Gesetze von Angebot und Nachfrage unterworfen sei, daß es deshalb die erste Aufgabe der Arbeiterschaft sein müsse, das Angebot von Arbeit zu verringern, wofür man vor allem die Beschränkung der Zahl der Lehrlinge, die Beseitigung der Ueberzeitarbeit und die Schaffung eines Auswanderungsfonds ins Auge faßte. Insbesondere die letztere Maßregel fand allgemeinen Anklang, und in den nächsten 20 Jahren finden wir bei den meisten trade unions einen Fonds, aus dem man Personen unterstützte, die zur Auswanderung geneigt waren, bis die Erfahrung bewies, daß nicht allein die Mittel für einen solchen Zweck nicht entfernt ausreichten, sondern daß man auch gerade die kräftigsten Elemente der Arbeiterschaft entfernte, während die schwächeren zurückblieben. Dagegen stammt aus dieser Periode die segensreiche und auch noch heute anerkannte Politik der „lokalen Gewerbeämter“ zur schiedsrichterlichen Beilegung von Streitigkeiten als Ausdruck des Systems autoritativer Verhandlungen zwischen den Vertretern des Kapitals und der Arbeit. Die Betonung der besseren Bildung der Arbeiterschaft, um die sich insbesondere die allmählich in den Vordergrund des gewerkschaftlichen Lebens tretenden Bucharbeiter (Buchdrucker und Buchbinder)[8] Verdienste erwarben, führte zu der immer allgemeineren Bildung von Gewerkschafts-Bibliotheken und ebenso zu der Gründung von ständigen Gewerkschaftsblättern. „Verschafft euch Wissen statt Alkohol“ — das ist eine in diesen öfters zu lesende Aufforderung an ihre Leser.

Hand in Hand mit dieser veränderten grundsätzlichen Haltung ging eine Umgestaltung der Organisation. Die Gewerkvereine hatten sich früher nicht nur auf Personen desselben Gewerbes, sondern auch auf einen bestimmten Ort beschränkt. Aenderte deshalb ein Mitglied seinen Aufenthalt, so verlor es alle Vorteile seiner bisherigen Mitgliedschaft und mußte erst an dem neuen Orte wieder einem Vereine beitreten, der ein hohes Eintrittsgeld forderte. Dazu kam, daß infolge dieses örtlichen Charakters innerhalb desselben Gewerbes eine ganze Reihe von Gewerkvereinen bestanden, unter denen es keinen organischen Zusammenhang gab. Dem half man dadurch ab, daß man nicht allein Freizügigkeit unter den Vereinen einführte, sondern diese selbst zu einer höheren Einheit verschmolz, indem man einen Exekutivausschuß und einen Sekretär einsetzte. Die erste Vereinigung dieser Art war der am 1. Januar 1851 ins Leben getretene Maschinenbauerverein (Amalgamated engineers).

Um den Streiks entgegenzuwirken, erfand man zwei Wege: entweder übertrug man die Entscheidung dem Exekutivkomitee, d. h. der Zentralinstanz, so daß rein lokale Einflüsse ausgeschlossen waren, oder man verlangte zur Einleitung eines solchen die Unterbreitung unter das Votum der gesamten Mitgliederschaft des ganzen Landes, womit ein erheblicher Zeitaufschub und eine Abkühlung der erregten Gemüter gegeben war.

Die Politik suchte man immer entschiedener aus den Bestrebungen der Gewerkschaften ganz auszuschließen, mit der einzigen Ausnahme der Beeinflussung des Parlamentes hinsichtlich solcher Gesetze, welche unmittelbar das Interesse der Arbeiterschaft berühren. Für diesen Zweck dagegen machte man große Anstrengungen, und so gelang es z. B. im Jahre 1844, als von den Unternehmern versucht wurde, ein Gesetz zustande zu bringen, durch welches die Friedensrichter ermächtigt wurden, „jede schlechte Aufführung in Bezug auf das Dienst- oder Arbeitsverhältnis“ mit zwei Monaten Gefängnis zu bestrafen und gegen jeden von seinem Arbeitgeber verklagten Arbeiter einen Verhaftsbefehl zu erlassen, durch Protestversammlungen und eine Riesenpetition mit zwei Millionen Unterschriften diese Gefahr abzuwenden.

Eine eigentümliche Stellung in dieser Periode bezeichnet die „National Association of United Trades for the Protection of Labour“, die von den vereinigten Gewerkschaften Sheffields, insbesondere unter dem Beistande des Parlamentsmitgliedes Duncombe, eines aristokratischen Demagogen im guten Sinne, Ostern 1845 auf einer von 110 Vertretern in London abgehaltenen[9] Versammlung ins Leben gerufen wurde und eine Reihe von Jahren einen großen Einfluß hatte, obgleich sich ihr von vornherein gerade die großen Verbände fernhielten. Der Zweck der Vereinigung war „die Förderung der Interessen der vereinigten Gewerbe und deren Wohlergehens durch Schlichtung, Schiedsspruch und Rechtsanrufung sowie durch Förderung aller politischen, sozialen und erzieherischen Maßregeln, die die Lage der arbeitenden Klassen zu bessern bestimmt sind“, insbesondere aber die Erringung eines gerechten Lohnes (fair wage). Das Unternehmen knüpfte insofern an die Pläne Owens an, als es auf eine Zusammenfassung aller Gewerbe Bedacht nahm, doch unterschied es sich von diesen nicht nur durch den Grundzug der Mäßigung und der Fernhaltung aller anderen, als der rein gewerkschaftlichen Politik, sondern wollte auch durchaus vermeiden, in die Angelegenheiten der einzelnen Gewerkschaften einzugreifen. Obgleich man auch den genossenschaftlichen Gedanken Owens aufgriff, wollte man ihn doch nicht in den Vordergrund stellen und beschloß deshalb auf der am 28. Juli bis 3. August 1845 in London abgehaltenen Konferenz, das Unternehmen in zwei Teile zu zerlegen: in eine Vereinigung „zum Schutze der Arbeit“, welche die Interessen der Arbeiter gegenüber den Unternehmern und im Parlamente wahrnehmen sollte, und eine solche „zur Beschaffung von Arbeit“, welche den durch Streik arbeitslos gewordenen Mitgliedern auf genossenschaftlichem Wege Arbeit verschaffen sollte. Aber obgleich der Verband auf der im Juni 1846 in Manchester abgehaltenen und von 126 Vertretern besuchten zweiten Konferenz 40000 Mitgliedern zählte, krankte er doch bald an den Schwierigkeiten, die sich stets bei Zusammenfassung der Arbeiter aus verschiedenen Gewerbszweigen ergeben und hauptsächlich in deren widerstreitenden Interessen liegen; jeder Zweig glaubt sein Interesse zu Gunsten eines anderen zurückgesetzt, was insbesondere bei Unterstützung von Streiks sich geltend macht. Ebenso scheiterten die Versuche einer genossenschaftlichen Organisation der Arbeit, und nachdem Duncombe, der als Leiter dem Unternehmen seine ganze Kraft gewidmet hatte, 1848 infolge geschwächter Gesundheit sich hatte zurückziehen müssen, verlor der Verband immer mehr an Bedeutung; als Zeitpunkt der formellen Auflösung wird von Howell das Jahr 1860 bezeichnet.

War der genannte Verband gewissermaßen noch ein Nachzügler der älteren Periode, so sehen wir dagegen in der genannten Amalgamated Society of Engineers, die noch heute im Mittelpunkte des gewerkschaftlichen Lebens Englands steht, den vollen Durchbruch der neuen Anschauungen, die sich von denen der früheren Zeit wesentlich unterscheiden. Der Schwerpunkt liegt neben den bereits hervorgehobenen Momenten hauptsächlich darin, daß die Vereine auf eine breitere Basis, als die des bloßen gewerkschaftlichen Kampfes, gestellt[10] wurden und das Ziel ins Auge faßten, den Mitgliedern einen Rückhalt für ihre ganze wirtschaftliche Existenz zu bieten, insbesondere durch Aufnahme der Versicherung gegen alle diejenigen Schädigungen, die den Arbeiter in seiner Lebensführung bedrohen. Diese vielfach angegriffene „Kassenpolitik“ hatte allerdings neben Vorzügen auch erhebliche Mängel. Der wesentlichste Vorzug bestand in der Sicherung eines festen Mitgliederbestandes, einer Sicherung, die so weit ging, daß selbst große Streiks mit unglücklichem Ausgange den Bestand des Verbandes kaum merklich erschütterten. Die Kehrseite dagegen tritt hervor in einer gewissen Ausschließlichkeit, in der Schaffung einer Arbeiteraristokratie, die sich dadurch behauptet, daß sie eine tiefere Schicht zu ihren Füßen schafft, auf der sie steht. „Schutz gegen Eindringlinge“ ist ein wesentlicher Programmmpunkt, mit dem man unmittelbar an die Verhältnisse der höheren Klassen, insbesondere den Abschluß der studierten Kreise durch Prüfungen, sich anlehnte. Hiermit war verknüpft eine einsichtsvollere Beurteilung der übrigen Bevölkerungsklassen; die in der früheren Periode übliche Bezeichnung derselben als „Müßiggänger“, die Scheidung zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ Klassen läßt man fallen und erhebt zum Grundsatz, keine Forderungen zu stellen, von denen man sich sagen muß, daß der Gegner sie nicht erfüllen kann.

Das Mittel, dessen die Gewerkschaften bedurften, um zu dieser neuen Stellung zu gelangen, war ein doppeltes. Einerseits erhoben sie Beiträge von einer solchen Höhe, wie man sie in Deutschland noch heute kaum kennt, und andererseits hatte man eine Sorgfalt der Geschäftsführung nötig, an die man früher gar nicht gedacht hatte. Damit hängt es zusammen, daß man nicht, wie früher, die Geschäfte der Verwaltung Arbeitern im Nebenamte übertragen konnte, sondern besondere Sekretäre mit angemessenem Gehalte anstellen mußte. Es genügten, wie Webb[5] sich ausdrücken, nicht mehr Enthusiasten und Agitatoren, sondern man bedurfte eine Klasse ständig bezahlter Beamten, die, aus den Reihen der trade unions selbst hervorgegangen, ausdrücklich auf Grund ihrer Fähigkeiten zur Geschäftsführung ausgewählt wurden.

Für alles dieses liefert die Amalgamated Society of Engineers den besten Typus. Ihre Entstehung verdankt sie in erster Linie den beiden um die Entwickelung der trade unions hochverdienten Männern William Newton und William Allam. Der erstere war Mitglied des „Unterstützungsvereins der Dampfmaschinenarbeiter und Maschinen- und Mühlenarbeiter“, denen bei der Bewegung die Führung zufiel. Während Newton in London für die Verschmelzung der bestehenden Vereine thätig war, richtete Allam seine Bemühungen auf die Provinz, insbesondere Lancashire und Manchester, und suchte[11] die dort bestehende Rivalität gegen die Hauptstadt zu besiegen. Auf einer im September 1850 in Birmingham abgehaltenen Konferenz wurde der Plan der Verschmelzung endgültig beschlossen und am 6. Januar 1851 konnte das Exekutivkomitee sein Amt endgültig übernehmen. Obgleich der Bestand an Mitgliedern zunächst nur 5000 betrug, indem eine ganze Reihe von Vereinen sich zurückhielt, war derselbe doch bis zum Oktober auf 11000 gestiegen, die mit einem Wochenbeitrage von 1 Shilling eine stärkere Organisation darstellten, als man sie bis dahin überhaupt gekannt hatte.

Der neue Verein hatte sehr bald seine Feuerprobe zu bestehen, indem er mit dem ihm gegenüber begründeten Unternehmerverein der „Central Association of Employers of Operative Engineers“ über die Frage der Stückarbeit und der Ueberarbeit in einen Kampf verwickelt wurde, der das höchste Interesse der ganzen Arbeiterschaft erregte. Um einem Streik zuvorzukommen, schlossen die Unternehmer am 10. Januar 1852 ihre Werkstätten, und obgleich auch die unbeteiligten Kreise, insbesondere unter dem Einflusse der „Christlichen Sozialisten“, eines im Jahre 1851 gegründeten Vereins, der sich die Aufgabe stellte, das Publikum zu einer gerechten Würdigung der Arbeiterforderungen zu veranlassen und hier zum erstenmal energisch in die Arbeiterbewegung eingriff, über 5000 Pfund beisteuerten, mußten doch die Arbeiter, nachdem ihr Vorschlag eines Schiedsgerichts abgelehnt war, im April die Arbeit zu den alten Bedingungen wieder aufnehmen. Aber das Bedeutungsvolle dieses Kampfes war, daß er trotz seines ungünstigen Ausganges die Stellung des neuen Verbandes kaum ernsthaft berührte. Ebenso erwies sich das auch hier wieder zur Anwendung gelangte Mittel des „Dokumentes“ als wirkungslos, denn, obgleich die meisten Arbeiter in ihrer Notlage dasselbe unterzeichneten, hielten sie innerlich an ihrem Vereine fest, und selbst hochstehende Personen bestritten öffentlich die Verbindlichkeit einer solchen erzwungenen Erklärung. Im Jahre 1861 konnte die Union auf eine Mitgliederzahl von 22000 und einen Vermögensbestand von 73398 Pfund zurückblicken. Die Grundlage dieses Erfolges war aber „das wunderbar durchdachte Finanz- und Verwaltungssystem, das die Union in den Stand setzte, die Funktionen eines gewerblichen Schutzvereines mit dem einer permanenten Versicherungsgesellschaft zu verbinden und auf solche Weise eine finanzielle Stabilität zu erlangen, wie sie vorher nicht geträumt worden war“[6].

Die Folge dieser Ereignisse war, daß der Union die anerkannte Führerschaft der englischen Gewerkschaftsbewegung der nächsten Jahrzehnte zufiel und daß von 1852 bis 1875 kaum eine Gewerkschaft zu finden ist, die nicht die Einrichtungen der Maschinenbauer als Muster und Vorbild übernommen hätte.

[12]

Einen Hauptgegenstand des Streites zwischen den Arbeitern und den Unternehmern bildet in dieser Zeit die Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeiterschaft. Ließ man die Politik des „Dokumentes“ von jetzt ab fallen, so wollten die Unternehmer doch durchaus die Befugnis der Gewerkschaften, mit ihnen über die Arbeiterforderungen zu verhandeln, nicht anerkennen, indem sie sich ängstlich besorgt zeigten um die Freiheit der Arbeiter, die angeblich durch die Vereine bedroht würde. Zuerst die Bauarbeiter erreichten in den Provinzialstädten die Anerkennung von „Arbeitsstatuten“ (Working rules), die von den beiderseitigen Vereinigungen der Arbeiter und der Arbeitgeber bis in die geringsten Einzelheiten festgestellt wurden und den neuen Grundsatz der kollektiven Ordnung des Arbeitsverhältnisses zur Geltung brachten.

Das Beispiel der Maschinenbauer sich zu „amalgamieren“[7] fand bei verschiedenen Gewerben Nachahmung, und indem die intelligenten Generalsekretäre dieser großen Arbeiterverbände durch ihren gemeinsamen Wohnort in London die Möglichkeit eines engen Freundschaftsverhältnisses und steten Gedankenaustausches erhielten, entwickelte sich das System einer eigenartigen Oligarchie. Die „Junta“, die bis zum Jahre 1871 die Führerschaft des englischen Unionismus in der Hand hatte, bestand aus fünf Personen: Allam, Applegarth, Guile, Coulson und George Odger, von denen besonders die beiden ersten sich durch eine ungewöhnliche Intelligenz auszeichneten, während Odger eine sehr wertvolle populäre Beredsamkeit mitbrachte. Allam richtete seinen ganzen unermüdlichen Fleiß auf die Schaffung eines außerordentlich sinnreichen, wenn auch etwas schwerfälligen Systems der Verwaltung und Kontrolle. „Uebertriebene Vorsicht, bureaukratische Genauigkeit und eine an Geiz streifende Sorge für Vermehrung der Vereinsgelder gehörten zu Allams Schwächen, aber zu einer Zeit, wo den „Arbeiteragitatoren“ allgemein Liederlichkeit in Geldsachen und Unfähigkeit zu angespannter regelmäßiger Thätigkeit vorgeworfen wurde, hatten diese Schwächen einen äußerst günstigen Einfluß auf die öffentliche Meinung zur Folge“. „Während Allam danach strebte, den „bezahlten Agitator“ in den verantwortlichen Beamten eines großen Finanzinstituts umzuwandeln, suchte Applegarth der organisierten Trade union eine anerkannte soziale und politische Stellung zu gewinnen“. „Bei allen diesen Männern fanden die Verleumder des Trade-Unionismus sich Personen gegenübergestellt, die bedeutende Charaktereigenschaften und außergewöhnliche Geschäftskenntnisse[13] mit einem großen Stück jenes offiziellen Anstandes verbanden, die der englischen Mittelklasse so imponiert.“ „Der Besitz guter Manieren war, obgleich er als eine Kleinigkeit erscheinen mag, nicht der geringste ihrer Vorzüge. Mit vollendeter Selbstachtung und Integrität verbanden sie Korrektheit des Ausdruckes, durchaus vorwurfsfreies Verhalten im Privatleben und eine bemerkenswerte Abwesenheit von allem, was an die Schenke erinnert.“ „Es war das erstemal in diesem Jahrhundert, daß die Arbeiterbewegung unter die Leitung kam nicht von Gönnern aus den mittleren und höheren Klassen, sondern von wirklichen Arbeitern, die für ihre Stellung speziell vorgebildet waren[8]“. Sie hatten kein bestimmtes Glaubensbekenntnis, sondern standen dem extremen Individualismus der englischen Radikalen ebenso unbefangen gegenüber, wie der Marxschen Internationale, der Applegarth und Odger eine Zeit lang als Mitglieder angehörten. Ihre Gewerkschaftspolitik war in der Praxis darauf beschränkt, allen Arbeitern die Bedingungen zu sichern, die von den entgegenkommendsten Arbeitgebern freiwillig zugestanden wurden.

Aber die Thätigkeit der Junta griff über das rein gewerkschaftliche Gebiet hinaus und umfaßte zugleich eine energische politische Thätigkeit durch Beeinflussung des Parlamentes, und zwar beschränkte man sich nicht auf Maßregeln, die, wie Erweiterung des Stimmrechtes und Abschaffung der arbeiterfeindlichen Gesetze, insbesondere des Master and Servant Law, das unmittelbare Interesse der Arbeiterschaft berührten, sondern man beschäftigte sich auch mit allgemeinen Fragen, wie der Unterstützung der amerikanischen Nordstaaten in ihrem Kampfe gegen die Sklaverei und dem Auftreten Garibaldis. Durch diese Betonung des politischen Elementes stellte sich die Junta in entschiedenen Gegensatz zu dem alten Unionismus, aus dessen Reihen sie lebhaft befehdet wurde.

Neben der Junta sind ein wichtiger Faktor in der nächsten Entwickelungsperiode der trade unions, die allmählich in den meisten größeren Städten ins Leben gerufenen trade councils, d. h. gemeinsame Ausschüsse der sämtlichen an dem betreffenden Orte vertretenen Gewerkschaften, die zuerst nur bei besonderen Vorkommnissen zum Zweck gemeinsamer Stellungnahme und Beschlußfassung einberufen wurden, später aber sich zu festen Organisationen entwickelten. Um 1860 gab es solche permanente councils in Glasgow, Sheffield, Liverpool und Edinburgh; am 10. Juli 1860 wurde dann das Londoner trade council begründet, das bald eine besondere Bedeutung gewann. An demselben waren zunächst nur die kleinen Vereine beteiligt, bis allmählich auch die größeren aus ihrer Zurückgezogenheit heraustraten und sich anschlossen. George Howell[14] und Odger waren die ersten Sekretäre und schon nach einigen Jahren stand das council völlig unter dem Einflusse der Junta. Uebrigens erhielt dasselbe wertvolle Unterstützung durch eine Gruppe von jüngeren Anwälten und Schriftstellern, die es sich zur Aufgabe machten, die berechtigten Forderungen der Arbeiter in den Zeitungen zu vertreten.

Der Hauptgegenstand der Thätigkeit war die Organisierung einer Bewegung gegen das Master and Servant Law, dessen Bestimmungen aus der in den Worten ausgedrückten Auffassung des Verhältnisses von Herren zu ihren Dienern entsprangen und die größte Rechtsungleichheit enthielten. So wurde der Arbeiter, der vorsätzlich seinen Vertrag brach, mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft, während der Arbeitgeber nur auf Schadensersatz verklagt werden konnte; auch war es bei dem letzteren zulässig, ihn in eigener Sache als Zeugen zu vernehmen, während der erstere in Ermangelung ausreichender Beweismittel machtlos war. Gegen die Entscheidung der Friedensrichter, mochten sie noch so willkürlich sein, gab es keine Berufung. In einer Anfang 1863 abgehaltenen Versammlung des Glasgower trade council wurde nachgewiesen, daß in einem einzigen Jahre 10339 Arbeiter wegen Vertragsbruches bestraft waren.

Auf Veranlassung der Glasgower Gewerkschaftsführer Macdonald und Campbell trat im Mai 1864 in London eine Konferenz von Vertretern der trade unions zusammen, die als erste gemeinsame Beratung besondere Bedeutung hat. Auf ihre Anregung hin wurde überall eine Bewegung gegen das verhaßte Gesetz eingeleitet, die den Erfolg hatte, daß 1867 ein neuer Master and Servant Act (30 u. 31 Vict. c. 141) erlassen wurde, der einen erheblichen Fortschritt darstellte.

Aber schon zog sich ein neues Gewitter gegen die trade unions zusammen. Die Unternehmer hatten, nachdem das „Dokument“ bei den letzten großen Kämpfen der Maschinenbauer und der Bauhandwerker sich erfolglos erwiesen hatte, ein neues Kampfmittel in der Aussperrung, dem Lockout, gefunden und wandten es in der Ausdehnung an, daß die trade unions im Juni 1866 eine Konferenz nach Sheffield beriefen, an der 138 Vertreter teilnahmen, um gegen diese Angriffe Schutzmaßregeln zu ersinnen. Man begründete die united kingdom alliance of organised trades, die aber, ohne wesentliche Erfolge erzielt zu haben, 1870 sich wieder auflöste, nachdem die Frage, welche Fälle im Gegensatz zum Streik als Lockout zu behandeln und demgemäß zu unterstützen seien, zu steten Streitigkeiten geführt hatte.

Auch andere Kreise, als die Unternehmer, erhoben öffentliche Anklagen gegen den „Terrorismus der trade unions“, und die heute üblichen Angriffe[15] gegen die gewissenlosen Männer, die, ein nichtsthuerisches Leben führend, von den Groschen der von ihnen Betrogenen leben, im Gegensatz zu den Vertretern von Bildung, Talent und Wissen, spielen auch in der damaligen Zeitschriftenlitteratur eine große Rolle.

Den Funken ins Pulverfaß warf ein Vorgang in Sheffield, wo im Hause eines Arbeiters eine Büchse Schießpulver eine Explosion hervorrief, von der man behauptete, daß sie ein beabsichtigtes Attentat darstelle, indem man sich zugleich auf Vorgänge ähnlicher Art bezog, die gleichfalls in Sheffield in den letzten Jahren vorher sich ereignet hatten. Von allen Seiten erscholl der Ruf noch einer gründlichen Untersuchung des Treibens der trade unions, und diese selbst schlossen sich der Forderung an, um den Nachweis zu liefern, daß es sich um Vorgänge von rein örtlicher Bedeutung handele, für die die Gewerkschaften als solche durchaus nicht verantwortlich gemacht werden könnten. Eine im Februar 1867 eingesetzte königliche Kommission erhielt den Auftrag, eine eingehende Untersuchung anzustellen, die sich nicht auf die Vorgänge in Sheffield beschränken, sondern sich auf alle innerhalb der letzten 10 Jahre vorgekommenen Gewaltthätigkeiten erstrecken, auch nicht nur einzelne Vereine, sondern die ganze Thätigkeit der trade unions umfassen sollte.

Hierzu gesellte sich noch eine weitere Gefahr, die dadurch entstanden war, daß der oberste Gerichtshof (Queens Bench) in einer Entscheidung im Jahre 1867 dem Gesetze von 1825 eine Auslegung gab, nach welcher die Gewerkschaften keine Prozeßfähigkeit, also insbesondere nicht das Recht hatten, gegen ungetreue Kassenverwalter gerichtlich vorzugehen. Dadurch war das Vermögen der Vereine, das sich bereits auf eine Viertel Million Pfund belief, schutzlos den Angriffen solcher Personen preisgegeben. Applegarth berief deshalb Ende Januar 1867 nach London eine „Konferenz der amalgamierten Berufe“, die im wesentlichen aus den Mitgliedern der Junta und einigen ihnen nahestehenden Freunden bestand und von 1867 bis 1871 als das eigentliche Kabinett der trade union-Bewegung fungierte.

Eine wirksame Unterstützung leisteten auch in dieser schweren Zeit die bereits erwähnten „Christlichen Sozialisten“ insbesondere Frederic Harrison und der Professor Beesly. Webb[9] äußern sich dahin: „Es würde schwer halten, den Eifer und die geduldige Ergebenheit dieser Freunde des Trade-Unionismus und die Dienste, die sie demselben in der Stunde der Not geleistet haben, zu übertreiben.“ Unterstützt wurden die Bestrebungen der trade unions auch durch die im Jahre 1850 gegründete Gesellschaft zur Förderung der Staatswissenschaften, die 1860 einen aus den hervorragendsten[16] Sozialpolitikern gebildeten Ausschuß zur Untersuchung der Thätigkeit der trade unions einsetzte.

Die Verhandlungen vor der königlichen Kommission bedeuteten einen vollen Sieg der Gewerkschaften. Die Kommission stellte fest, daß selbst in Sheffield vier Fünftel der dortigen Vereine sich an keinerlei Gewaltthätigkeiten beteiligt hätten, diese vielmehr ganz überwiegend von nicht organisierten Arbeitern ausgegangen seien. Allerdings stellte sich der Bericht keineswegs unbedingt auf die Seite der trade unions, insbesondere versuchte er darzulegen, daß derartige Vereinigungen den Arbeitern keinen wirklichen ökonomischen Vorteil brächten, aber trotzdem empfahl er, ihnen unter gewissen Voraussetzungen durch Anmeldung bei einer Registerbehörde gesetzliche Anerkennung zu gewähren. Diese Voraussetzungen waren die Beseitigung von Bestimmungen über die Lehrlingszahl, des Verbotes der Stückarbeit und der Zwischenkontrakte, sowie der gegenseitigen Unterstützung in Streikfällen. Während das Gesetz von 1825 die Verbindungen, die sich auf die Frage des Lohnes und der Ueberstunden beschränkten, von dem Makel der Ungesetzlichkeit ausnahm, empfahl die Kommission für die Zukunft, nur solche Vereine für ungesetzlich zu erklären, die geschaffen würden, um Handlungen zu vollführen, die einen Kontraktbruch enthalten oder zum Zweck der Weigerung, mit einer bestimmten Person zusammen zu arbeiten.

Die Minderheit der Kommission ging in dem von ihr erstatteten Sonderberichte noch weiter und stellte den Satz auf, der für die nächste Zeit den Mittelpunkt der politischen Bestrebungen der Gewerkschaften bildet, daß keine von einem Arbeiter begangene Handlung strafbar sein solle, die nicht ebenso strafbar sei, wenn sie von einem Anderen begangen werde, und daß keine von einer Verbindung von Arbeitern ausgeführte Handlung als strafbar angesehen werden solle, die nicht strafbar sei, wenn sie von einer Einzelperson vorgenommen werde.

Von diesem Berichte der Kommission datiert ein neues Stadium in der Stellungnahme der öffentlichen Meinung gegenüber den trade unions, die sich insbesondere auch in den Leitartikeln der Presse wiederspiegelt. Auch große Unternehmer, wie Brassey, äußerten sich öffentlich dahin, daß die Gewerkschaften erzieherisch auf die Arbeiter einwirkten, und daß ihre Thätigkeit die Kosten der Produktion nicht erhöhe, sondern vermindere.

Die Führer verfehlten nicht, diesen Sieg auszunutzen, und Anfang 1869 arbeitete der christlich-soziale Harrison einen Gesetzentwurf aus, den die Parlamentsmitglieder Hughes und Mundella im Parlamente einbrachten, und obgleich er nicht ohne weiteres zur Annahme gelangte, erklärte doch die Regierung sich bereit, im nächsten Jahre ihrerseits ein Gesetz vorzulegen.

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In der That brachte sie im Jahre 1871 einen Gesetzentwurf ein, durch den die bisherigen Angriffe gegen die Gewerkschaften, soweit sie sich auf ihre angebliche Beschränkung der Freiheit des Gewerbes bezogen, künftig ausgeschlossen sein sollen. Jeder Verein sollte das Recht der Registrierung haben, sobald seine Statuten nicht gegen das Strafgesetz verstießen. Aber obgleich die Vorlage von den Unternehmern, als den Wünschen der trade unions zu weit entgegenkommend, wütend angegriffen wurde, enthielt sie Bestimmungen, welche für die letzteren sehr bedenklich waren: Es sollte nämlich jede Gewaltanwendung, Drohung oder Belästigung, die zu dem Zwecke verübt wurde, auf die Unternehmer oder Arbeiter einen Zwang auszuüben, streng bestraft werden. Die unbestimmten Ausdrücke der früheren Gesetze, wie „belästigen, hemmen, drohen, einschüchtern“ waren wieder aufgenommen; das Ausstellen von Piketts, das andauernde Hinterhergehen oder Beobachten von Personen und selbst das friedliche Zureden, sich einer Vereinigung anzuschließen, war ausdrücklich verboten. Aber obgleich die Gewerkschaftsführer nicht verfehlten, alle Fälle, in denen die Anwendung dieser Bestimmungen zu großen Härten geführt hatten, zu sammeln und geltend zu machen, und obgleich die Gewerkschaften selbst in zahlreichen Versammlungen dagegen protestierten, daß irgend eine Handlung, die sonst nicht strafbar sei, dies dadurch werden solle, daß sie zur Förderung der Arbeiterinteressen vorgenommen werde, gelang ihnen doch nichts Weiteres, als daß sie die Zerlegung des Entwurfes in zwei Teile durchsetzten, von denen der eine unter dem Namen Trade Unions Act die Gewerkschaften legalisierte, während der andere unter dem Titel „Criminal Law Amendment Bill“ sich als eine Ergänzung des allgemeinen Strafrechtes darstellte. Beide Gesetze wurden 1871 erlassen.

Die Bewegung, die durch diese Ereignisse in der Arbeiterwelt hervorgerufen wurde, führte übrigens zu einer wichtigen Neugestaltung der gewerkschaftlichen Organisation, nämlich zu der Schaffung jährlich wiederkehrender allgemeiner Gewerkschaftskongresse. Dieselben haben ihren Ursprung genommen von den trades councils. Wir haben bereits die im Mai 1864 in London und die im Juni 1866 in Sheffield abgehaltenen Konferenzen erwähnt, die gewissermaßen als Vorläufer zu betrachten sind. Aber der Gedanke, jährlich wiederkehrende Kongresse zu berufen, ging aus von den trades councils von Manchester und Salford, die im April 1868 ein Cirkular erließen, durch das sie alle bestehenden trade unions zu einem Pfingsten 1868 in Manchester abzuhaltenden Kongresse einluden. Derselbe war von 34 Abgeordneten als Vertretern von 118000 Mitgliedern besucht und bestimmte Birmingham als Ort des im folgenden Jahre abzuhaltenden 2. Kongresses. Derselbe tagte im August 1869 und konnte bereits die Zahl von 48 Abgeordneten als Vertreter[18] von 250000 Mitgliedern aufweisen; dort wurde auch zuerst das später so wichtig gewordene parlamentarische Komitee eingesetzt.

Aber während diese Bewegung von der Provinz ausging, fand sie bei der Londoner Junta eine unfreundliche Aufnahme. An dem Kongreß in Manchester nahm außer dem in scharfer Opposition zu der Junta stehenden Potter kein einziger Londoner Vertreter teil, und in Birmingham waren freilich George Howell und Odger zugegen, weigerten sich aber, in das parlamentarische Komitee einzutreten. Obgleich hier beschlossen wurde, den nächsten Kongreß 1870 in London abzuhalten, unterließen es doch die Londoner Führer, ihn einzuberufen. Erst unter dem Drucke der oben mitgeteilten Ereignisse vollzog sich ein Umschwung, und so bildet der im März 1871 in London abgehaltene Kongreß den ersten, an dem die eigentlichen Führer der Bewegung teilnahmen. Dieser Umschwung erhielt auch äußerlich dadurch seinen Ausdruck, daß die im Januar 1867 begründete „Konferenz der amalgamierten Berufe“ sich im September 1871 zu Gunsten des parlamentarischen Komitees auflöste, indem die Führer Applegarth, Allam, Powell, Odger u. a. in das letztere eintraten.

Den hauptsächlichsten Gegenstand der gewerkschaftlichen Thätigkeit bildet in den nächsten vier Jahren die Bewegung für Abschaffung der Criminal Law Amendement Bill. Man berief sich insbesondere auf die Dehnbarkeit der in derselben enthaltenen Ausdrücke und die Ungerechtigkeit, daß entsprechende Maßregeln der Unternehmer, wie „schwarze Listen“ und „Führungszeichen“, nicht strafbar waren, und nachdem im Dezember 1872 verschiedene Londoner Gasheizer auf Grund des Gesetzes mit 12 Monaten Gefängnis bestraft waren, stellte man überall die bestimmte Forderung auf, alle auf die gewerkschaftlichen Kämpfe bezüglichen besonderen Strafbestimmungen zu beseitigen.

Der Kongreß von Sheffield 1874, auf dem 1191922 organisierte Arbeiter vertreten waren, zeigt uns den Einfluß der hervorgerufenen Entrüstung auf das Wachstum der Gewerkschaften.

Das Mittel, um zu einem Erfolge zu gelangen, boten die für das Jahr 1874 bevorstehenden Parlamentswahlen, indem man überall den Kandidaten der beiden großen Parteien die Frage nach ihrer Stellung zu jener Forderung vorlegte. Während nun die Liberalen sich durchaus ablehnend verhielten, stellten sich die Konservativen auf Seiten der Gewerkschaften, und so gelang es ihnen mit Hülfe der letzteren, einen entscheidenden Sieg zu erringen. An einigen Orten hatte man auch eigene Arbeiterkandidaten aufgestellt. Die Labour representation league hatte schon 1869 mit der Aufstellung Odgers den ersten Versuch dieser Art gemacht, und 1871 gelang es, von 13 Kandidaten wenigstens zwei durchzusetzen, so daß Alexander Macdonald[19] und Thomas Burt als erste Arbeiterabgeordnete in das Parlament einzogen.

Die konservative Regierung löste denn auch ihr Wort ein, und so wurde 1875 die Criminal Law Amendement Bill widerrufen und durch den Conspiracy and Property Protection Act (38 u. 39 Vict. c. 86) ersetzt. Ebenso wurde das Master and Servant Law gänzlich aufgehoben, und es trat an dessen Stelle der Employers and Workmen Act (38 39 u. Vict. c. 90), der schon durch ihren Namen, insbesondere Ersetzung der Ausdrücke: „Herr“ und „Diener“ durch „Unternehmer“ und „Arbeiter“, die veränderte Grundauffassung anzeigt und den Gedanken von zwei selbständigen und gleichberechtigten Vertragsteilnehmern zum Ausdruck bringt. Die Bestrafung des Vertragsbruches wurde abgeschafft, Gefängnisstrafe soll nur den treffen, der eigenwillig einen Vertrag bricht, obgleich er weiß oder Grund hat, anzunehmen, daß die wahrscheinliche Folge seiner Handlungsweise die ist, daß Menschenleben gefährdet oder schwere körperliche Verletzungen verursacht werden oder daß wertvolles Eigentum der Zerstörung oder schweren Beschädigung ausgesetzt wird, das friedliche Ausstellen von Piketts wurde gestattet, die dehnbaren Begriffe „Zwang“ und „Belästigung“ wurden beseitigt und die Anwendung von Gewalt lediglich dem allgemeinen Strafgesetze unterstellt. Keine von einer Gruppe von Arbeitern begangene Handlung ist in Zukunft strafbar, sofern sie nicht auch bei ihrer Verübung durch einen Einzelnen und ohne Rücksicht auf die Stellung als Arbeiter strafbar ist. Darin lag aber zugleich die Zulässigkeit der neuen wirtschaftlichen Form ausgesprochen, nämlich den Arbeitsvertrag nicht mehr seitens des einzelnen Arbeiters, sondern kollektiv d. h. seitens der ganzen Arbeiterschaft eines bestimmten Gewerbes festzusetzen.

Man darf sich jedoch durch diese äußeren Erfolge nicht darüber täuschen lassen, daß innerlich der Trade-Unionismus sich auf absteigender Bahn befand. Der industrielle Aufschwung, der bis 1875 andauerte, hatte diese innere Zersetzung nicht hervortreten lassen, indem er der Bewegung einen äußeren Anstoß gab, aber sobald er nachließ, machte sich jener Umstand geltend und führte insbesondere Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Niedergange zu einer Krisis, die nur deshalb nicht in höherem Maße verhängnisvoll wurde, weil der Trade-Unionismus bereits eine zu starke Macht in der Arbeiterwelt erlangt hatte.

Wir haben oben die Vorzüge der Männer wie Applegarth und Allam gewürdigt, aber auch ihre Mängel nicht verschwiegen. War damals vor allem erforderlich, der Arbeiterbewegung das auf Lauterkeit des Charakters und Solidität der Geschäftsführung beruhende öffentliche Vertrauen zu sichern, so trat doch, nachdem dies erreicht war, der mit dem Uebermaße der Vorsicht psychologisch untrennbar zusammenhängende[20] Mangel an Initiative immer schärfer hervor, und so groß die Autorität der alten Führer war, so wurden doch die Klagen über ihren „reaktionären Standpunkt“ immer lebhafter und führten zu wesentlichen Verschiebungen, deren wichtigste die Verlegung des Schwerpunktes von London in die Provinz war. Die Junta, die so lange die Führerschaft gehabt hatte, löste sich auf. Applegarth hatte schon 1871 sein Amt als Sekretär niedergelegt. Allam starb 1874. Odger trat aus der Gewerkschaftsbewegung zurück und widmete sich mehr der allgemeinen Politik. Umgekehrt hatte die Bewegung in der Provinz erheblich an Bedeutung gewonnen, und zwar insbesondere durch das Emporblühen von zwei Industriezweigen, die in London nicht vertreten waren. Der eine waren die Kohlenarbeiter, die, nachdem ihre Bewegung 1855 fast vollständig erloschen war, besonders unter ihrem bereits erwähnten Führer Macdonald einen außerordentlichen Aufschwung nahmen und auf dem vom 9.–14. November 1863 in Leeds abgehaltenen Kongresse eine Nationale Union bildeten. Allerdings trat derselben bald eine durch die Grubenarbeiter in Lancashire 1869 ins Leben gerufene andere Organisation, die amalgamierte Association der Bergarbeiter gegenüber, aber gerade diese Spaltung regte das Interesse an und so erreichte die Gesamtzahl der organisierten Bergarbeiter in wenigen Jahren die außerordentliche Höhe von 200000.

Die zweite dieser Arbeitergruppen waren die Baumwollarbeiter, die seit 1853 eine amalgamierte Association besaßen, aber erst seit 1869, insbesondere infolge der Bedeutung ihres Generalsekretärs Thomas Birtwistle, in den Vordergrund der Bewegung traten.

Diese beiden Organisationen, die Bergarbeiter einerseits und die Spinner und Textilarbeiter andererseits, bezeichnen aber zugleich auch die Vertreter von zwei entgegengesetzten Auffassungen für das wichtigste der Arbeiterinteressen, die Lohnfrage. Die eine dieser Auffassungen ist niedergelegt in dem System der „gleitenden Skala“ (sliding scale) und beruht auf dem Grundgedanken, daß der Lohn sich dem Preise des Produktes anzuschließen habe, sodaß er mit ihm steigt und fällt. Insbesondere in den Spinnereibezirken von Oldham und Bolton wurden Listen von 80 Druckseiten aufgestellt, um diesen Grundsatz in alle Feinheiten der Technik hinein zu verfolgen, wahre Kunstwerke der Berechnung, die ein solches Maß von Studium erforderten, daß man für den Sekretär ein besonderes Examen hierüber einführen mußte. Dieser Grundanschauung stellte Macdonald die entgegengesetzte gegenüber, daß unter allen Umständen ein die Aufrechterhaltung der Lebenshaltung des Arbeiters ermöglichender Lohnsatz (fair wage) zu zahlen sei, der seinerseits ein für den Preis bestimmender Faktor sein müsse.

[21]

Ein anderer Gegensatz, der aber sich nicht auf die Bergarbeiter und die Textilarbeiter beschränkte, sondern alle Gruppen in seinen Bereich zog, war die Stellung zu dem Eingriffe der staatlichen Gesetzgebung in die Fragen der Arbeiterinteressen, ein Punkt, der sich am schärfsten zuspitzte in der Ordnung der Arbeitsdauer. Während die eine Richtung hier jeden staatlichen Eingriff ausschloß, wollte die andere die gesetzliche Festlegung, insbesondere den Achtstundentag. Eine Mittelmeinung, auf die man sich zuweilen verständigte, beschränkte die Forderung auf Frauen und Kinder, verwarf aber den gesetzlichen Maximalarbeitstag für Männer, in der Erwartung, daß diese doch mittelbar durch jene beeinflußt werden würde.

Aber noch schärfer trat der Gegensatz der beiden Grundanschauungen hervor hinsichtlich der beiden großen Aufgaben der Gewerkschaften, nämlich einerseits der Unterstützung in den Notfällen des Lebens und andererseits der Erkämpfung günstigerer Arbeitsbedingungen. Gewiß stehen beide Richtungen, die Hülfskassenthätigkeit und die gewerkschaftliche im engeren Sinne, nicht in dem Verhältnisse, daß die eine die andere ausschlösse[10], aber offenbar ist es möglich, einseitig das Gewicht auf diese oder auf jene zu legen. Die alten Verbände, die unter der Leitung von Männern wie Applegarth und Allam groß geworden waren, gingen in der Wertschätzung der Hülfskassenpolitik so weit, daß sie in der That die gewerkschaftliche Seite, also die Vertretung der Arbeiterinteressen gegenüber den Unternehmern, in unangemessener Weise zurücktreten ließen.

Dieses Ueberwiegen der Unterstützungsthätigkeit führte endlich zu einer Praxis, die am tiefsten den Gegensatz der einen und der anderen Grundanschauung erkennen läßt. Es ist für eine Hülfskasse natürlich, daß sie bei der Aufnahme von Mitgliedern das Moment des Risikos in den Vordergrund rücken muß, daß sie „schlechte Risiken“ vermeidet und deshalb Personen oberhalb einer gewissen Altersgrenze überhaupt nicht mehr aufnimmt, da sie die Wahrscheinlichkeit einer baldigen Inanspruchnahme der Kasse bieten, ohne bereits entsprechende Beiträge gezahlt zu haben. Aber mit dieser Rücksicht steht der Gesichtspunkt der Solidarität und der Zweck, möglichst alle Angehörigen des Berufes zu vereinigen, um die gemeinsamen Interessen auch mit gemeinsamer Kraft zu vertreten, in offenbarem Widerspruche. Führte deshalb schon dieser Hülfskassenstandpunkt der alten großen Verbände zu einer Politik der Absonderung, so war es nur ein weiterer Schritt, daß dieselben nicht jedem Berufsangehörigen, sondern nur solchen den Eintritt gestatteten, die ein gewisses Maß von Leistungsfähigkeit boten und demgemäß einen bestimmten Lohnsatz verdienten.[22] Damit war in der That der Grundsatz der Teilung der Arbeiterschaft in eine höhere und eine niedere Schicht, eine Aristokratie und eine rückständige Masse, ausgesprochen.

Führte nun der Verlust der Führerstellung der Hauptstadt mit Rücksicht darauf, daß keine einzelne der Provinzialstädte eine solche erlangte, zu einer Dezentralisierung des ganzen Trade-Unionismus, so gab die bezeichnete aristokratische Politik der großen Verbände den Anlaß, daß selbst innerhalb derselben Berufe eine Zersplitterung Platz griff, die häufig sogar zu Reibereien und Kämpfen führte. Streitigkeiten der einzelnen Gewerbe untereinander über ihre Abgrenzung, ähnlich denen der alten Zünfte, füllen die Protokolle der damaligen Gewerkschaftskongresse. Wir können also die etwa 1876 einsetzende und bis 1885 andauernde Periode in der Entwicklung der Trade-Unionismus bezeichnen als diejenige des Partikularismus und der Sonderpolitik, die notwendig eine Schwächung der ganzen Bewegung mit sich brachte. Demgemäß ist das charakteristische Moment dieser Periode der allgemeine Rückgang, die verlorenen Streiks und die Herabsetzung der Löhne. Der Gesamtbestand von Mitgliedern ging auf denjenigen von 1871 zurück, und auf dem Kongreß in London im Jahre 1881 waren nur 463899 Gewerkschaftler vertreten.

Einer besonderen Erwähnung bedarf die in diese Zeit fallende Landarbeiterbewegung, die mit dem Jahre 1872 einsetzt. Es war ja nur natürlich, daß, wenn alle Arbeitergruppen eine Verbesserung ihrer Lebenslage erlangten, auch die Landarbeiter glaubten, nicht zurückbleiben zu sollen, und das damals herrschende Organisationsfieber führte in Anlehnung an einen am 11. März 1872 ausgebrochenen Streik von 200 Landarbeitern in Warwickshire zur Gründung einer Nationalen Landarbeiter-Union, die schon am Schlusse des Jahres 100000 Mitglieder zählte. Aber obgleich die Bewegung in Josef Arch einen talentvollen Führer hatte und bei den industriellen Vereinen warme Unterstützung fand, war doch die Union innerhalb einiger Jahre auf wenige Tausend Mitglieder zurückgegangen und die Bewegung als erloschen anzusehen.

Auch die schon 1833/34 versuchte Organisation der weiblichen Arbeiter wurde in den folgenden Jahren von neuem in Angriff genommen, insbesondere von Emma Patterson, der Frau eines Tischlers, die, nachdem sie von einer Studienreise nach Amerika zurückgekehrt war, im April 1874 in den „Labour News“ einen Aufruf erließ, in dem sie die Notwendigkeit einer Organisation der weiblichen Arbeiter nachwies. Der Aufruf erregte allgemeine Aufmerksamkeit, und schon nach kurzer Zeit hatte sich ein Komitee gebildet, das am 13. Juli 1874 seine erste Sitzung hielt und die „Womens Protective and Provident League“ begründete. Abweichend von dem ursprünglichen Plane von Mrs. Patterson, einen allgemeinen Arbeiterinnenverein ins Leben zu rufen,[23] beschloß man, die Arbeiterinnen nach den verschiedenen Gewerben zu organisieren. Die League, die später den Namen „Womens trade union provident league“ annahm, besteht noch heute und hatte im Jahre 1894 45000 Mitglieder. Mrs. Patterson starb 1886, doch fand sie in Lady Dilke eine gleichwertige Nachfolgerin. In den folgenden Jahren trat der League ein ähnlicher Verein unter dem Namen „National Union of Working Women“ mit gleichen Zielen zur Seite.

Anfangs hatten diese Bestrebungen nicht allein mit der Indolenz der Frauen selbst und der Abneigung der öffentlichen Meinung, sondern auch mit dem Widerstande der trade unions zu kämpfen, die auf dem alten bürgerlichen Standpunkte standen, daß die Frau ins Haus gehöre. Später drang jedoch die Einsicht durch, daß die Organisation der Arbeiterinnen in dem eignen Interesse der Männer liege, und so beschloß der Kongreß von Dundee 1889 ausdrücklich, dieselbe zu unterstützen.

Die Periode von 1875–1885 ist aber nicht allein, wie schon bemerkt, eine solche der Zersplitterung, sondern auch eine der inneren Auflösung und Schwäche. Die Führer, die an die Stelle der alten Mitglieder der Junta getreten waren, insbesondere Henry Broadhurst, John Burnett, Prior und George Shipton, übernahmen von ihren Vorgängern die Politik der Bedächtigkeit und Vorsicht. Die Kongresse lehnten grundsätzlich die Verhandlung tiefer eingreifender Fragen ab, und da man auch die innere Organisation als eine Aufgabe der einzelnen Vereine ansah, so gestalteten sich die Kongresse immer mehr zu bloßen Auseinandersetzungen persönlicher Art unter den Mitgliedern. In allen Fragen der Taktik und des Prinzips herrschte stets die größte Einstimmigkeit, indem von der durch das parlamentarische Komitee vorbereiteten Tagesordnung alle gewerkschaftlichen Streitpunkte ausgeschlossen waren. Auch in dem parlamentarischen Komitee selbst herrschte völlige Ruhe; man wählte in der Regel dieselben Mitglieder wieder, und so war H. Broadhurst 14 Jahre lang Vorsitzender, bis er als Unterstaatssekretär in das Ministerium des Innern berufen und durch Shipton ersetzt wurde.

Die einzige Angelegenheit von größerer Bedeutung, die in dieser Periode von den Gewerkschaften eifrig betrieben wurde, war die Regelung der Haftpflicht der Unternehmer bei Unfällen. Nach dem gemeinen Rechte in England ist Jeder verpflichtet, den Schaden zu ersetzen, den er selbst oder seine Angestellten im Rahmen ihrer Thätigkeit verschuldet haben. Aber von diesem Grundsatze besteht eine wichtige Ausnahme für die „Arbeitsgemeinschaft“, indem er nicht Platz greift, falls der Schaden durch einen bei derselben Arbeit Beteiligten verursacht ist. Hierdurch ist die Entschädigungsbefugnis der Arbeiter in den meisten Fällen ausgeschlossen. Obgleich es der Agitation der Gewerkschaften[24] gelang, im Jahre 1880 ein Gesetz (Act. 43 u. 44 Vict. c. 52) durchzubringen, welches eine teilweise Reform darstellt, indem das Parlament die Verpflichtung der Unternehmer aussprach, ihre Arbeiter gegen Unfall zu versichern, so war doch dadurch wenig geholfen, da den Unternehmern das „contracting out“ gestattet, d. h. die Befugnis gegeben war, die gesetzliche Bestimmung durch den Arbeitsvertrag auszuschließen, wovon sie begreiflicherweise weitgehend Gebrauch machten. In der Parlamentssession 1893/94 nahm das Unterhaus ein Gesetz an, durch welches die ganze Bestimmung über die Arbeitsgemeinschaft beseitigt und der Arbeiter jedem anderen Staatsbürger gleichgestellt, auch das contracting out für unwirksam erklärt wurde; doch scheiterte die Vorlage im Oberhause und so ist eine befriedigende Ordnung der Angelegenheit noch heute nicht erzielt.

Im übrigen verhielten sich die trade unions gegen alle Vorschläge, die in der gleichen Zeit die Arbeiter anderer Länder bewegten, völlig ablehnend, und noch auf den Kongressen von 1882 und 1883 wurden Anträge hinsichtlich der Ausdehnung des Wahlrechts auf alle erwachsenen Männer mit großer Mehrheit verworfen. Dagegen erwärmte man sich für die Schaffung von bäuerlichen Stellen und eines eignen Hauses für jeden Arbeiter, sowie die Gründung von Produktivgenossenschaften, während man jeden staatlichen Eingriff in den Arbeitsvertrag grundsätzlich verwarf. Ueberhaupt geriet der Trade-Unionismus völlig in das Fahrwasser des bürgerlichen wirtschaftlichen Liberalismus, und einzelne vom sozialen Standpunkte als Fortschritte zu begrüßende Maßregeln sind lediglich der liberalen Partei im Unterhause ohne Mitwirkung der trade unions zuzuschreiben. Dazu gehört z. B. das Gesetz, welches die Auszahlung des Lohnes in Schankwirtschaften verbietet, hinsichtlich dessen das parlamentarische Komitee sich zwar zustimmend äußerte, aber mit der Bemerkung, daß das Gesetz für die organisierten Arbeiter nicht notwendig sei. In derselben Weise erklärte man 1877 hinsichtlich einer Verschärfung des Druckverbotes kein Bedürfnis anerkennen zu können, und erst 1887 gelang es, ein solches Gesetz zur Annahme zu bringen.

Ein Umschwung der Anschauungen wurde zuerst angebahnt durch die in die Jahre 1880–1883 fallende ganz ungewöhnliche Verbreitung des Buches: „Fortschritt und Armut“ von dem Amerikaner Henry George mit seinen Forderungen der Verstaatlichung des Grund und Bodens bezw. der Besteuerung der Grundrente. Hier war ein neuer Gedanke in die Geister geworfen und zum Nachdenken darüber angeregt, ob nicht in den Unterlagen der bestehenden Wirtschaftsordnung ein Grund für die unbefriedigende Lage der Arbeiterklasse zu finden sei. Der Hinweis darauf, daß die ungemeine Steigerung der Produktion und des Gütervorrates infolge der Fortschritte der Technik allen Bevölkerungsklassen[25] zu gute kommen müsse, während er bis jetzt wegen Mangels angemessener Verteilung nur zu jähem Wechsel von Perioden des Aufschwunges und tiefgreifender Krisen Anlaß gebe, führte dazu, sozialistische Anschauungen, deren Verbreitung früher vergeblich versucht war, dem Verständnisse näher zu bringen.

Im Zusammenhang hiermit steht die Thätigkeit der Fabian Society, die 1883 gegründet wurde und durch die Massenverbreitung ihrer „Fabian Essays in Socialism“ und „Fabian Tractats“ sowie durch Tausende von Vorträgen einen weitgehenden Einfluß auf die öffentliche Meinung, insbesondere auch auf die Arbeiterschaft gewann. Vorwiegend aus gebildeten Kreisen hervorgehend, vertritt die Gesellschaft einen gemäßigten Sozialismus, den sie nicht plötzlich und gewaltsam, sondern schrittweise und allmählich zu verwirklichen bestrebt ist, wie sie in dem von Fabius cunctator entnommenen Namen andeuten will.

Unterstützung fanden die theoretischen Erörterungen durch statistische Erhebungen über die Notlage der besitzlosen Klassen, wie sie von mehreren Seiten ins Werk gesetzt wurden. Besondere Verdienste erwarb sich in dieser Beziehung ein reicher Großkaufmann, Charles Booth, der 1886 eine systematische Untersuchung über die Verhältnisse in London einleitete, aus der sich ergab, daß 1¼ Millionen Menschen unter die von ihm gezogene „Linie der Armut“ fielen, daß 32% der Bevölkerung der Hauptstadt in einem Zustande chronischer Armut lebten, die nicht nur die Entwickelung zu höherer Kultur, sondern sogar die Vorbedingungen physischer Gesundheit und gewerblicher Leistungsfähigkeit ausschloß.

So war der Boden vorbereitet, daß neben den beiden bisherigen gewerkschaftlichen Richtungen, von denen die eine die Hülfskassenthätigkeit, die andere den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen in den Vordergrund stellte, sich eine dritte entwickeln konnte, die den Schwerpunkt in die Ordnung des Arbeitsverhältnisses durch staatliche Maßregeln vorlegte, die sich im übrigen aber wieder abstuft von dem Standpunkte des Staatssozialismus bis zum reinen Kollektivismus und der Anhängerschaft der Marxistischen Sozialdemokratie.

Einen bedeutenden Einfluß auf diese Entwickelung haben vor allem zwei Männer gewonnen, deren Stetigkeit bis zu einem gewissen Grade für die Stellung der heutigen englischen Arbeiterschaft typisch ist, nämlich: Burns und Mann.

John Burns, 1859 in Battersea geboren, beteiligte sich schon als Lehrling in einer Maschinenfabrik an öffentlichen Versammlungen, trat dann dem amalgamierten Maschinenbauervereine bei und benutzte die Dauer einer Beschäftigung[26] in Westafrika zum gründlichen Studium der Schriften von Adam Smith und John Stuart Mill. In der socialdemocratic federation, der er 1883 beitrat, wurde er bald das hervorragendste Mitglied; seinem Einflusse verdankten insbesondere die Dockarbeiter in dem unten zu erwähnenden großen Streik ihre Erfolge. Bei den Wahlen 1892 wurde er für Battersea in das Parlament gewählt und auf dem Trade-Unions-Kongreß von 1893 wurde er Vorsitzender des parlamentarischen Komitees.

Auch Tom Mann, der 1856 in Foleshill geboren wurde, ist Maschinenbauer und trat 1878 dem amalgamierten Verein bei. Nachdem er sich insbesondere an den George'schen Schriften gebildet und 1884 durch einen Aufenthalt von 6 Monaten die nordamerikanischen Verhältnisse kennen gelernt hatte, wurde auch er Mitglied der socialdemocratic federation und gab zu Gunsten seiner Agitationsthätigkeit seinen bürgerlichen Beruf auf. Auch er war 1889 an den großen Streiks der Gasarbeiter und der Dockarbeiter hervorragend beteiligt und wurde demnächst Vorsitzender in dem Gewerkvereine der letzteren. 1891 wurde er in die königliche Kommission zur Untersuchung der Arbeiterverhältnisse berufen; 1894 wurde er Sekretär der neugebildeten unabhängigen Arbeiterpartei.

Das Element, welches jetzt neu in die Arbeiterbewegung eingeführt wurde und die Begründung einer neuen Periode bedeutet, waren die ungelernten Arbeiter, die von den alten trade unions grundsätzlich ausgeschlossen waren und nun in dem Sozialismus das neue Evangelium der Befreiung begrüßten. Für sie war nicht allein die Hülfskassenpolitik unverwendbar, da sie bei ihren geringen Löhnen nicht imstande waren, erhebliche Beiträge zu leisten, sondern auch der gewerkschaftliche Kampf aussichtslos, da ihre Kraft zu gering war, um selbst bei Zusammenfassung einen ausreichenden Machtfaktor zu bilden. Ihnen blieb deshalb nichts übrig, als sich an die Hülfe des Staates zu wenden.

Vor die Oeffentlichkeit trat die neue sozialistische Bewegung zuerst im Februar 1886 durch Organisierung einer Anzahl Arbeitslosenversammlungen, bei denen es zu großen Tumulten kam. Die deshalb gegen die Führer Hyndman, Burns, Champion und Williams wegen Aufruhrs erhobenen Anklagen führten jedoch zu Freisprechungen.

Hieran schloß sich dann die Periode der großen Streiks. Eingeleitet wurde sie durch den im Juli 1888 wegen harter Behandlung unternommenen Ausstand von 672 „Zündholz-Fabrikmädchen“ in London, die, von Frau Annie Besant ins Leben gerufen, eine so allseitige Unterstützung im Publikum fand, daß unter dem Drucke der öffentlichen Meinung die Unternehmer nachgeben und Abhülfe schaffen mußten. Dieser Sieg bedeutete[27] eine ganz neue Entwickelung der Arbeiterverhältnisse. Hatte es sich bisher lediglich darum gehandelt, die Kräfte der streikenden Teile gegeneinander zu messen, so hatten hier Arbeiterinnen einen Erfolg erzielt ohne Hülfsmittel und ohne Organisation, nicht aus eigener Kraft sondern durch das Eingreifen der unbeteiligten Bevölkerungsklassen. Offenbar war unter solchen Umständen auch für die ungelernten Arbeiter eine Besserung möglich.

Nachfolge fand das Vorgehen der Zündholzarbeiterinnen bei den Londoner Gasarbeitern, die eine Union der Gasarbeiter und sonstigen Arbeitsleute (Gas workers and general labourers' union) gründeten und ohne Streik die Herabsetzung der Arbeitszeit von 12 auf 8 Stunden, verbunden mit einer kleinen Lohnerhöhung, erreichten.

Aber den Höhepunkt der Bewegung bildet der große Dockarbeiterstreik. Die Arbeit in den Docks und beim Beladen und Entladen der Schiffe im Londoner Hafen ist naturgemäß eine sehr ungleichmäßige, da sie durch das Eintreffen der Schiffe bedingt ist. Deshalb halten die Dockverwaltungen und Werftbesitzer nur einen kleinen Stamm fester Arbeiter, die sie im Bedarfsfalle aus den Reihen der sog. Zufallsarbeiter (Casuals) durch diejenigen ergänzen, die sich arbeitsuchend vor den Thoren der Docks drängen, um bei einer sich bietenden Gelegenheit die Ersten zu sein, die Beschäftigung erhalten. Aber nicht allein dauert diese oft nur wenige Stunden, sondern infolge des Ueberangebotes sind auch die Löhne auf das äußerste gedrückt, und außerdem führt das Herumtreiben ohne Arbeit zu einer großen moralischen Gefahr. Auf die Klasse dieser bejammernswerten Menschen richteten die Londoner Sozialisten ihre Fürsorge, indem sie eine Organisation derselben ins Leben zu rufen versuchten. Nachdem diese Versuche anfangs wenig Erfolg gehabt hatten, brachte am 12. August 1889 ein unbedeutender Streit einen Ausstand der Arbeiter auf dem South West India Dock zum Ausbruche, der sich unter Führung von Ben Tillet (der selbst Arbeiter in einem Thee-Lagerhause war) und Beihilfe von John Burns und Tom Mann, wie ein Lauffeuer auf alle Docks nördlich der Themse ausbreitete. Auch die beiden großen Vereine der Stauer traten auf die Seite der Streikenden, und so hatten sich binnen einer weiteren Woche alle am Themseufer beschäftigten Arbeiter dem Streik angeschlossen, der über vier Wochen hindurch den größten Hafen der Welt völlig lahm legte. Ein förmlicher Enthusiasmus für die Streikenden bemächtigte sich aller Gesellschaftsklassen, so daß nicht weniger als 48736 Pfund zur Unterstützung eingingen, und unter dem Drucke der öffentlichen Meinung gelang es der Vermittelung hervorragender Personen, insbesondere des Erzbischofs Kardinal Manning, alle Forderungen der Arbeiter, die in der Erhöhung des Lohnes auf 6 Pence für die Stunde, der Abschaffung der Zwischenverdingungen und der Stückarbeit,[28] Mehrvergütung für Ueberzeit und Mindestanstellung auf vier Stunden bestanden, durchzusetzen.

Ueberall wurden jetzt Vereine der ungelernten Arbeiter ins Leben gerufen, deren Mitgliederzahl sich innerhalb Jahresfrist auf 200000 belief. An die beiden großen Flutwellen in dem englischen Trade-Unionismus von 1833/34 und 1873/74 hatte sich die dritte angeschlossen.

Der Geist dieser neuen Unionen war ein wesentlich anderer, als bei den alten. Geringe Beiträge bei großen Mitgliederbeständen bedingten schon für sich allein die Ablehnung der Unterstützungspolitik; umsomehr mußte deshalb der Kampfcharakter in den Vordergrund treten. Als hauptsächlichste Ziele bezeichnete man die Verringerung der Arbeitszeit und die Beseitigung der Sonntagsarbeit.

Naturgemäß übte dieser „Neue Unionismus“ erheblichen Einfluß auch auf diejenigen Kreise, die ihm nicht unmittelbar angehörten, und zwar nach zwei Seiten, nämlich sowohl auf die alten Gewerkschaften, wie auf die Entwickelung des eigentlichen Sozialismus. Hatte auch die Sozialdemokratie im deutschen Sinne, insbesondere die Marxistische Propaganda in England zunächst wenig Boden gefunden, so war sie doch gegen Ende der 80er Jahre immer mehr gewachsen und stand auf dem Sprunge, größere Kreise insbesondere unter den ungelernten Arbeitern zu ergreifen. In dem Hauptorgane derselben, der „Justice“, und zwar in den Jahrgängen 1884–1889 und in den Veröffentlichungen der socialdemocratic federation finden wir starke Anklänge an R. Owen und die Periode von 1833/34. Nicht allein die Vereinigung aller Arbeiter ohne Unterschied und in allen Ländern der Welt zu einem einzigen großen Bunde und die Herstellung einer umfassenden Republik auf Grundlage genossenschaftlicher Produktion und Gemeinbesitz aller Produktionsmittel wird unter ausdrücklicher Anlehnung an Owen gefordert, sondern auch die Anwendung von Gewalt wird entweder mit den Worten des kommunistischen Manifestes ausdrücklich empfohlen oder mindestens als eine offene Frage behandelt, deren Entscheidung von dem Verhalten der besitzenden Klassen abhängen werde.

Hierin bewirkte das Jahr 1889 einen weitgehenden Umschlag, indem es „den Strom der sozialistischen Arbeiterbewegung aus revolutionären in konstitutionelle Kanäle leitete“[11]. Der Plan, „die Arbeiter aller Gewerbe und aller Grade zu einem Ansturm auf das mörderische Monopol der Minderheit zu vereinigen“, wird mit dem Aufschwunge der politischen Demokratie von der Tagesordnung abgesetzt. Gerade als der Kampf der Dockarbeiter sich zur Entscheidung[29] neigte, flackerte für einen Augenblick die Idee eines Generalstreikes auf, aber nur, um auch alsbald als unausführbar aufgegeben zu werden. Als die neuen Führer der Bewegung den Problemen der Verwaltung gegenüber wirklich Stellung zu nehmen hatten, ließ man die speziell Owenschen Merkmale der sozialistischen Propaganda ruhig fallen[12].

Burns wurde im Januar 1889 in den Londoner Grafschaftsrat gewählt und mußte sich gerade dort auf praktischem Gebiete bald von der Unmöglichkeit der sozialistischen Pläne überzeugen. Es kann deshalb nicht überraschen, daß sowohl er als Tom Mann der socialdemocratic federation den Rücken kehrten, wofür sie von deren Anhängern mit den heftigsten Angriffen überhäuft wurden. „Als die „neuen Unionisten“ abtrünnig wurden, hörte der revolutionäre Sozialismus auf, um sich zu greifen, und der Wetteifer in der Propaganda für den Kampf um gesetzliche Reformen wurde das bezeichnende Merkmal der englischen sozialistischen Bewegung[13].“

Noch interessanter als die Auseinandersetzung, welche der Neu-Unionismus mit der Sozialdemokratie zu vollziehen hatte, ist diejenige mit dem alten Unionismus und der Versuch des Sozialismus, dort Eingang zu erhalten. Den ersten Versuch, den Boden für sozialistische Ideen zu ebnen, unternahm Adam Weiler, ein Freund von Marx, und eifriges Mitglied der Internationale 1878 auf dem Kongresse in Bristol, indem er zu Gunsten der gesetzlichen Beschränkung der Arbeitszeit der Männer eine Rede hielt und im folgenden Jahre einen Antrag zu Gunsten der Nationalisierung des Grund und Bodens einbrachte, der aber nicht einmal eine zweite Unterschrift zu erlangen vermochte. Im Jahre 1882 sah man bereits die Wirkung der Georgeschen Lehre, und derselbe Antrag wurde mit 71 gegen 31 Stimmen angenommen. Allerdings schien dies mehr ein Zufallserfolg gewesen zu sein, denn in den nächsten 5 Jahren wurde der gleiche Antrag stets abgelehnt. Aber die Minderheiten stiegen von Jahr zu Jahr, und nachdem 1887 in Swansea der Antrag eine kleine Mehrheit erlangt hatte, wurde er 1888 in Bradford sogar mit 66 gegen 5 Stimmen zum Beschlusse erhoben.

Hinsichtlich der gesetzlichen Regelung der Arbeitsdauer gelangte Weiler noch rascher zum Siege, indem er 1883 eine Resolution durchsetzte, durch die das parlamentarische Komitee beauftragt wurde, Schritte zu thun, um für alle Arbeiter im Dienste öffentlicher Behörden oder von Gesellschaften, die vom Parlamente mit Vollmachten ausgestattet seien, die gesetzliche Beschränkung der Arbeitsdauer auf 8 Stunden herbeizuführen. Da der Beschluß nur bei geringer Beteiligung gefaßt war, so suchte das parlamentarische Komitee ihn zunächst[30] ebenso zu ignorieren, wie denjenigen hinsichtlich der Nationalisierung des Grund und Bodens. Aber die auf Beschluß der beiden folgenden Kongresse vorgenommenen Urabstimmungen bewiesen, daß der Gedanke selbst in solchen Unionen der herrschende geworden war, die früher durchaus gegnerisch gesinnt gewesen waren, und ferner, daß die bisherige Zulässigkeit der Ueberstunden dahin geführt hatte, den Neunstundentag zu einer Illusion zu machen, indem über die Hälfte der Arbeiter Ueberschichten hatte.

Unter den Bergarbeitern führte diese Frage zu einer Spaltung und einem scharfen Gegensatze zwischen den Bezirken von Northumberland und Durham auf der einen und den übrigen auf der andern Seite, indem die ersteren die gesetzliche Beschränkung der Arbeitsdauer selbst für Knaben ablehnten, während die letzteren sie befürworteten. Die Leitung der National-Union war freilich seit dem 1881 erfolgten Tode Macdonalds in die Hände der Führer von Northumberland gefallen und hielt deshalb an dem Prinzip der gleitenden Skala und Bekämpfung der gesetzlichen Regulierung fest, aber die Folge hiervon war, daß, nachdem der Streit auf den jährlichen Bergarbeiterkongressen von 1885–1888 mit steigender Erbitterung geführt war, auf einer im September 1888 in Manchester abgehaltenen Konferenz eine Gegenorganisation in der Föderation der Bergarbeiter (miners federation) gegründet wurde, der sich allmählich alle Bezirke außer Northumberland und Durham anschloßen. Im Jahr 1893 zählt die Förderation bereits über 200000 Mitglieder und ist damit die stärkste aller bestehender Unionen geworden.

Einen letzten Gegenstand des Streites bildete die Frage der internationalen Kongresse, die insofern mit der Stellung zum Sozialismus zusammenhing, als dessen Gegner mit der festländischen Sozialdemokratie keine Berührung haben wollten und deshalb jenen Gedanken bekämpften. Schon 1883 und 1886 hatte das parlamentarische Komitee nur ungern und auf ausdrücklichen Beschluß des Kongresses die beiden internationalen Zusammenkünfte in Paris[14] beschickt. Den Beschluß, 1887 nach London einen Kongreß zu berufen, hatte es einfach unausgeführt gelassen, und erst einem nochmaligen Beschlusse in Swansea 1887 gelang es, den Widerstand zu überwinden, so daß 1888 ein internationaler Kongreß in London abgehalten wurde, wobei das Komitee nur die Beschränkung durchgesetzt hatte, daß von demselben die deutsche Sozialdemokratie ausgeschlossen werden sollte.

Unter diesen Umständen wurde die Stellung der alten Führer und insbesondere des parlamentarischen Komitees immer schwieriger; seine alten Forderungen mußte es, da sie den Anschauungen der Mehrheit der Kongresse widersprachen,[31] Schritt für Schritt fallen lassen, während es sich auf der anderen Seite sträubte, dafür die neuen an die Stelle zu setzen. Der einzige Punkt, hinsichtlich dessen in den Jahren 1884–1894 eine erfolgreiche Thätigkeit zu verzeichnen ist, besteht in der eingeleiteten Agitation zur Erlangung „gerechter Löhne“ (fair wages), indem man die staatlichen und städtischen Behörden zu veranlassen suchte, Lieferungen nur unter der Bedingung zu vergeben, daß an die Arbeiter die von den trade unions anerkannten Löhne gezahlt würden. Allmählich ist dies in dem Maße gelungen, daß 1894 bereits 150 städtische Behörden diesen Grundsatz angenommen hatten. Den staatlichen Behörden ist dies durch einen Parlamentsbeschluß vom Jahre 1895 ausdrücklich zur Pflicht gemacht.

Trotzdem wurde der Gegensatz immer schärfer und würde bereits 1889 auf dem Kongresse in Dundee zu einem Sturze des parlamentarischen Komitees geführt haben, wenn nicht die Sozialisten den Fehler gemacht hätten, die Gegner in gehässiger Weise persönlich anzugreifen, wodurch sie die Stimmung in der Weise gegen sich aufbrachten, daß der Kongreß mit einer entschiedenen Niederlage der Sozialisten endete.

Aber schon das nächste Jahr brachte in Liverpool den Umschwung. Der eigene Verein von Henry Broadhurst hatte sich für den Achtstundentag erklärt, und nachdem auch der Kongreß mit 193 gegen 155 Stimmen sich diesen Standpunkt zu eigen gemacht hatte, sah Broadhurst sich gezwungen, seine Stellung als Sekretär des parlamentarischen Komitees niederzulegen[15]. Sein Nachfolger wurde Fenwick, der Vertreter der Kohlenarbeiter von Northumberland, der zwar ebenfalls ein Anhänger der liberalen Politik war, den sozialistischen Forderungen aber nicht so schroff gegenüberstand, wie Broadhurst. Auch Shipton erklärte seine Bekehrung zu den neuen Anschauungen, und so war der Kongreß von Liverpool ein ebenso entschiedener Sieg der sozialistischen Anschauungen, wie der von Dundee eine Niederlage derselben gewesen war.

Im folgenden Jahre hat man dann allerdings in Newcastle den gefaßten Beschluß ganz wesentlich eingeschränkt, indem man die Ausnahme beifügte, daß der Achtstundentag da nicht zur Anwendung gelangen solle, wo die Mehrheit der organisierten Mitglieder eines Gewerkes in geheimer Abstimmung ihn ablehne, aber in dieser Form ist die Forderung auch 1892 auf dem Kongresse von Glasgow mit überwältigender Mehrheit und 1893 in Belfast mit 197 gegen 8 Stimmen angenommen. Seitens der Regierung ist in allen Kriegs- und Marinewerkstätten der achtstündige Arbeitstag eingeführt, und es ist wahrscheinlich, daß diese Einrichtung immer mehr Nachahmung finden wird.

[32]

Ganz ähnlich ist der Verlauf gewesen hinsichtlich der eigentlichen sozialistischen Grundforderung, nämlich der Ersetzung der Privatproduktion durch die kollektive. Wie schon erwähnt, hatte 1888 der Kongreß von Bradford die Verstaatlichung des Grund und Bodens gefordert, aber erst in Belfast wurde dies auf alle Mittel der Produktion ausgedehnt durch den am 6. September 1893 mit 137 gegen 97 Stimmen gefaßten Beschluß, nur solche Kandidaten zu unterstützen, die für diesen Programmpunkt einträten. Dieser Beschluß wurde am 6. September 1894 in Norwich mit 219 gegen 61 Stimmen bestätigt.

Der Verschiebung in der prinzipiellen Richtung, wie sie in dem Programme zum Ausdruck kommt, hat auch eine Aenderung in den leitenden Personen entsprochen. Während 1893 Fenwich trotz seines antisozialistischen Standpunktes als parlamentarischer Sekretär nochmals wiedergewählt wurde, da man noch keinen geeigneten Ersatzmann besaß, hat man ihn 1894 in Norwich fallen lassen und an seine Stelle den Bergmann Samuel Woods gewählt, der den Sozialisten wesentlich näher steht, indem er zwar ein Gegner der Verstaatlichung der Produktionsmittel ist, aber für den gesetzlichen Achtstundentag eintritt. Der ausgesprochene Sozialist Tom Mann unterlag mit einer starken Minderheit.

Auf dem vom 2. bis 6. September 1895 in Cardiff abgehaltenen Kongresse ist nun aber ein Rückschlag erfolgt, der sich aus der, durch Rückgang der „neuen“ G.-V., der ungelernten, insbesondere der Dockarbeiter hervorgerufenen Verschiebung erklärt. Der parlamentarische Ausschuß hatte bereits eine Reihe von Veränderungen der Geschäftsordnung beschlossen, die der älteren Richtung im Verhältnis zu der jüngeren ein Uebergewicht verschaffen mußten, nämlich, daß nur solche Vertreter zugelassen werden sollten, welche den Beruf, den sie vertreten, auch thatsächlich ausüben oder Beamte einer Organisation sind, daß ferner die lokalen Gewerkschaftskartelle, deren bisherige Beteiligung eine Doppelvertretung bedeutete, ausgeschlossen sein, und daß die Abstimmung nicht mehr nach der Zahl der erschienenen Vertreter, sondern nach der Mitgliederzahl der vertretenen Vereine (je 1 Stimme auf 1000 Mitglieder) stattfinden solle. Durch diese Aenderungen war das Stimmenverhältnis der neuen zu den alten Vereinen auf 357 zu 604 herabgesetzt, und so wurde denn der Antrag angenommen, die Verstaatlichung nicht für alle Produktionsmittel, sondern nur für den Grund und Boden, die Bergschätze und die Eisenbahnen und daneben die Kommunalisierung der Werft- und Häfenbetriebe zu fordern. Allerdings wurde beschlossen, den deutschen Sozialdemokraten die Sympathie des Kongresses für ihren Kampf gegen die Behörden auszusprechen und gegen die Uebergriffe der letzteren zu protestieren, doch wurden in den parlamentarischen[33] Ausschuß nur zwei Sozialisten (Thorne und Wilson) gewählt. Als Sekretär wurde Samuel Woods wiedergewählt.

Diese antisozialistische Strömung ist auf dem Kongresse in Edinburgh (7. bis 12. September 1896) noch entschiedener zum Ausdrucke gelangt. Zunächst machte sich dies geltend bei der Beratung des von dem parlamentarischen Ausschusse erstatteten Jahresberichtes, der sich über den kurz vorhergegangenen internationalen Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß in London[16], den ersten, auf den die trade unions gemeinschaftlich mit der Sozialdemokratie getagt hatten, dahin äußerte, daß man zwar über die Nützlichkeit derartiger Kongresse kein Urteil fällen wolle, daß man aber doch fragen dürfe, „ob es angesichts der Dinge, die sich auf diesem Kongresse ereignet haben, und der Erfahrungen, die dort gesammelt wurden, für die trade unions eine weise und kluge Politik sei, sich in Zukunft mit Kongressen dieser Art zu identifizieren“. Der von sozialistischer Seite gestellte Antrag, diesen Satz zu streichen, wurde nach einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen Anhängern und Gegnern des Sozialismus mit 143 gegen 91 Stimmen abgelehnt.

Ein anderer Antrag von Ben Tillet, der dahin ging, daß zukünftige internationale Kongresse nur aus wirklichen („bona fide“) Vertretern von Arbeiterorganisationen bestehen und daß die Vertretung nach der Ordnung der trade unions-Kongresse geregelt werden solle, richtete sich nicht geradezu gegen die Sozialdemokratie, zumal der Antragsteller selbst als ein gemäßigter Sozialist gilt, bedeutet aber doch die Ausschließung der politischen Parteien als solcher und insbesondere der Parteiführer von den Kongressen. Der Antrag wurde mit 172 gegen 11 Stimmen angenommen.

Den Hauptpunkt bildete auch jetzt wieder die Stellung zum Kollektivismus. Die schottischen Buchdrucker beantragten folgende Erklärung: „Der Kongreß ist der Ansicht, daß den Interessen der Arbeiter am besten gedient wird, wenn das Land und die Produktions-, Verteilungs- und Austauschmittel verstaatlicht werden; er beauftragt den parlamentarischen Ausschuß, einen dahin gehenden Gesetzentwurf auszuarbeiten und alsbald einzubringen.“ Demgegenüber beantragte die Gewerkschaft der Webstuhl-Aufseher: »Der Kongreß beschließt, die auf dem Kongresse von Norwich am 6. September 1894 beschlossene Resolution von Keir Hardie aufzuheben und an ihre Stelle die folgende zu setzen: „Der Kongreß ist der Ansicht, daß es zur Aufrechterhaltung der britischen Industrie durchaus notwendig ist, den Grund und Boden, die Bergwerke, Mineralien, Berggerechtigkeiten, Wegeanlagen und Eisenbahnen zu verstaatlichen und alles Wasser, künstliche Licht und alle Straßenbahnen zu kommunalisieren.“[34] Dadurch, daß dieser Antrag die Aufhebung der Resolution von Norwich forderte, stellte er sich in ausdrücklichen Gegensatz zu dem Programme des Kollektivismus und setzte an dessen Stelle dasjenige der Bodenbesitzreformer, indem er die Verstaatlichung nicht auf alle Produktionsmittel ausdehnen, sondern auf Grund und Boden beschränken wollte. Nun erklärte freilich der Vorsitzende des Kongresses es formell für unzulässig, den früheren Beschluß aufzuheben, da jeder Kongreß für sich souverän sei und nur die Aufgabe habe, für das folgende Jahr dem parlamentarischen Ausschusse Instruktionen zu erteilen. Aber obgleich aus diesem Grunde der erste Teil des Antrages nicht zur Abstimmung gelangte, so lag doch darin, daß der Kongreß den zweiten Teil mit 172 gegen 42 Stimmen annahm, eine Ablehnung des früheren Standpunktes und eine entschiedene Niederlage der Kollektivisten. Allerdings bietet das Stimmenverhältnis keinen Anhaltspunkt für das beiderseitige Stärkeverhältnis, da einerseits auch Sozialisten für den Antrag stimmen konnten und andererseits zu der Minderzahl auch Vertreter des reinen Individualismus gehörten, aber der Beschluß war eben deshalb, weil er sich in Gegensatz zu demjenigen von Norwich stellte, eine Ablehnung des Kollektivismus[17].

Die Forderung des gesetzlichen achtstündigen Arbeitstages wurde mit 211 gegen 34 Stimmen wiederholt.

Außerdem wurden Beschlüsse gefaßt zu Gunsten eines Haftpflichtgesetzes für alle Gewerbe, der gesetzlichen Altersversicherung, des Genossenschaftswesens, der Ausdehnung der Kinderschutzvorschriften auf Kinder unter 15 Jahren, der besseren Ausbildung der Lehrlinge, des Verbotes der Nachtarbeit für Personen unter 18 Jahren und einer allgemeinen Amnestie für alle wegen politischer Vergehen Verurtheilten. Ein Fonds für politische Wahlen wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.

Infolge eines Telegramms des Präsidenten der amerikanischen federation of labour Samuel Gomper's wurde beschlossen, die einzelnen Gewerkschaften darüber zu befragen, ob sie geneigt wären, im Jahre 1898 einen internationalen Gewerkschaftskongreß abzuhalten. Für den amerikanischen Gewerkschaftskongreß wurden zwei Abgesandte gewählt.

[35]

Der 30. Kongreß wurde vom 6. bis 11. September 1897 in Birmingham abgehalten bei einer Beteiligung von 381 Abgeordneten, die 1093191 Mitglieder in 149 Vereinen vertraten. Die Verhandlungen hatten erhöhte Bedeutung durch den großen Maschinenbauerstreik und den dadurch aufs neue entfachten schroffen Gegensatz zu den Unternehmern, der die Veranlassung bot, den schon früher öfters aufgetauchten, aber niemals zur Ausführung gebrachten großen Plan eines einheitlichen Verbandes aller Gewerkvereine von neuem aufzugreifen. In der That wurde der Vorschlag im Prinzip angenommen und ein Ausschuß von 13 Mitgliedern beauftragt, bis zum 1. Januar 1898 ein Statut auszuarbeiten, das dem nächsten Kongresse zur Genehmigung vorgelegt werden sollte, dessen Grundzüge aber darin bestehen sollten, daß der Verband aus regelmäßigen Beiträgen, die alle Vereine nach Verhältnis ihrer Mitgliederzahl zu leisten haben, einzelne in Streik befindliche Gewerke zu unterstützen hat. Zunächst wurde den Vereinen zur Pflicht gemacht, zu Gunsten der Maschinenbauer besondere Umlagen zu erheben.

Mit dem Maschinenbauerstreik stand auch ein anderer Punkt der Tagesordnung in Verbindung, nämlich das Verhältnis zu den Genossenschaften. Schon seit längerer Zeit war der Plan erörtert, daß diese den Maschinenbauern beispringen sollten, und um die bisher nicht seltenen Grenzstreitigkeiten zwischen Gewerkschaften und Genossenschaften zu vermeiden, beschloß der Kongreß, künftig etwa auftauchende Meinungsverschiedenheiten einem gemeinsamen Schiedsgerichte zu unterbreiten.

Der Antrag, den Achtstundentag mit allen Mitteln einzuführen, wurde, wie früher, mit großer Mehrheit (923000 gegen 141000 Stimmen) angenommen; ebenso die Verstaatlichung von Grund und Boden, Bergwerken, Eisenbahnen, Wasserläufen und Docks, sowie die Kommunalisierung der Wasserleitungen, Lichtwerke und Straßenbahnen. Hinsichtlich des Arbeiterschutzes forderte man den Ausschluß von aller gewerblichen Arbeit bei Kindern bis zu 15 Jahren und der Nachtarbeit bei jugendlichen Personen unter 18 Jahren mit 595000 gegen 274000 Stimmen.

Bei allen diesen Abstimmungen bestand die Minderheit aus den Kohlenarbeitern von Durham und Northumberland unter Hinzutritt der Weber von Lancashire. Ein Antrag, im Jahre 1898 einen internationalen Gewerkschaftskongreß zu berufen, wurde mit 317145 gegen 282071 Stimmen abgelehnt. Dagegen wurde einstimmig beschlossen, für die Parlamentsmitglieder eine staatliche Vergütung zu fordern. Andere Beschlüsse betrafen den Schutz der Wöchnerinnen und die Forderung, daß im Staatsbetriebe und beim Schiffbau nur organisierte Arbeiter verwendet werden sollen, endlich die unentgeltliche Erteilung von Schulunterricht mit Schulzwang bis zum 16. Lebensjahre und Gelegenheit[36] für jedes Kind, je nach seinen Fähigkeiten wissenschaftliche Ausbildung zu erhalten, Ausschluß des Religionsunterrichtes aus der Schule, sowie Speisung sämtlicher Schulkinder auf Kosten der Schule durch die Schulbehörde. Die Bildung eines Wahlfonds zur Unterstützung von Parlamentswahlen im sozialistischen Sinne wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.

Der vorstehend erwähnte Maschinenbauerstreik ist ein in der neueren Geschichte der englischen Gewerkvereine so bedeutendes Ereignis, daß er einige nähere Angaben verlangt[18]. Er war insofern eigenartig, als beide Parteien ihre eigentlichen Ziele nicht völlig aufdeckten, so daß nach außen der Streitpunkt etwas unklar bleibt. Die Unternehmer, die sich über die Tyrannei des Gewerkvereins beklagten, beabsichtigten in erster Linie überhaupt diesen zu vernichten, in zweiter Linie wenigstens das früher in langen Kämpfen errungene Prinzip des kollektiven Verhandelns, d. h. die Aufstellung der maßgebenden Vertragsbedingungen durch Uebereinkunft der Unternehmer mit dem Gewerkverein zu beseitigen und an seine Stelle wieder den Individualvertrag mit den einzelnen Arbeitern zu setzen. Sie stellten auch anfangs diese Forderung auf, ließen sie aber später fallen, da sie dadurch die öffentliche Meinung gegen sich aufbrachten. Die Arbeiterführer ihrerseits kämpften insofern unter falscher Flagge, als die Forderung des Achtstundentages nur wegen ihres populären Karakters gewählt war, während sie nicht den eigentlichen Streitpunkt bildete, wie sich schon daraus ergiebt, daß sie nach kurzer Zeit von 250 Firmen bewilligt wurde und trotzdem der Streik fortdauerte. Der letzte Grund für den Kampf war wohl, daß beide Teile ihre Kraft erproben wollten und dabei die des Gegners unterschätzten. Daneben wirkten gewisse Schwierigkeiten mit, die sich aus den veränderten technischen Einrichtungen und ihrer Anpassung an die bestehenden Arbeitsverträge ergaben, insbesondere spielte eine große Rolle die Frage, ob an der Maschine auch ungelernte Arbeiter beschäftigt werden dürften.

Nach kleineren Scharmützeln im Anfange des Jahres begann der Konflikt dadurch, daß der Ausschuß der vereinigten Vereine, unter denen die vereinigten Maschinenbauer mit 92000 und die Kesselschmiede mit 41000 Mitglieder die weitaus stärksten waren, am 1. Mai 1897 an mehrere hundert Londoner Firmen die Forderung richtete, den Achtstundentag ohne Lohnermäßigung zu bewilligen. Wie schon bemerkt, kam ein Teil dieser Firmen der Forderung nach, ein anderer Teil aber lehnte sie am 26. Mai ab, nachdem sie sich vorher des Schutzes des Arbeitgeberverbandes (Federated Engineering Employers) versichert hatten. Dieser war im Juni 1896 dadurch gegründet, daß sich die[37] bis dahin bestehenden vier lokalen Vereine der Maschinenfabrikanten zu einem nationalen Verbande zusammenschlossen, der in der Person des Oberst Dyer einen ungewöhnlich geschickten Führer hatte. Am 1. Juli trat der Unternehmerverband in Manchester zusammen und beschloß, falls die Arbeiter wegen der von ihnen gestellten Forderungen in einzelnen Fabriken streiken würden, 25 % aller Arbeiter zu entlassen. Da die Arbeiter sich durch diese Drohung nicht zurückhalten ließen, so trat die Aussperrung am 14. Juli in Kraft, worauf die Arbeiter damit antworteten, daß auch die übrigen 75 % die Arbeit kündigten.

Nach sechsmonatlicher Dauer und mehrfachen Vermittelungsversuchen, insbesondere seitens des Handelsamtes, wurde endlich am 24. Januar 1897 eine Verständigung erzielt, bei der die Arbeiter insofern der unterliegende Teil waren, als sie ihre Forderung des Achtstundentages fallen lassen mußten; andererseits wurde von den Unternehmern der Grundsatz des kollektiven Verhandelns ausdrücklich anerkannt.

Die unmittelbaren Kosten des Streiks haben etwa 25 Millionen Mark, die Schädigung der Arbeiter unter Berücksichtigung des Lohnausfalles fast 100 Millionen betragen. Der Verlust der Unternehmer läßt sich auch nicht annähernd schätzen. Ein Hauptgrund für den Mißerfolg der Arbeiter lag darin, daß sich der große, etwa 180000 Mitglieder zählende Gewerkverein der Maschinenbau- und Eisenschiffbaugewerbe von dem Streite fern hielt, indem der Gewerkverein der Maschinenbauer die von jener Seite als Bedingung der Beihülfe gestellte Forderung des Beitrittes ablehnte. Es ist wahrscheinlich, daß jetzt nachträglich eine Verschmelzung beider Vereine erfolgen wird.

Der 31. Gewerkschaftskongreß ist am 29. August bis 3. September 1898 in Bristol abgehalten; auf demselben waren 159 Vereine mit 1176896 Mitgliedern durch 406 Abgeordnete vertreten. Die Verhandlungen waren erregter, als gewöhnlich, und hierzu trug insbesondere bei die Mißstimmung gegen das parlamentarische Komitee wegen nicht genügender Unterstützung der Maschinenbauer in ihrem Ausstande. Man machte demselben zum Vorwurfe, daß es nicht wegen dieser wichtigen Angelegenheit einen besonderen Kongreß einberufen habe, doch wurde ein Tadelsantrag abgelehnt.

Die durch die Niederlage der Maschinenbauer hervorgerufene Unzufriedenheit war wohl auch der Grund dafür, daß der in den letzten Jahren stets abgelehnte sozialistische Antrag, die Vergesellschaftung des Bodens, sowie aller Produktions- und Umsatzmittel zu fordern, dieses Mal mit 710000 gegen 410000 Summen angenommen wurde, nachdem man vorher bereits beschlossen hatte, den steigernden Grundwert durch Steuern für den Staat nutzbar zu machen. Auch in der Wahl des Kongreßvorsitzenden O'Grady, der zu den Neu-Unionisten gehört, fand diese sozialistische Stimmung Ausdruck. Derselbe[38] bekannte sich in seiner Eröffnungsrede zu der Auffassung, daß die Arbeiter auch in ihrer Vereinigung dem vereinigten Unternehmertum nicht gewachsen seien, wie das Schicksal der Maschinenbauer beweise, und daß man deshalb sich an der Politik beteiligen müsse, um durch die Macht des Staates die berechtigten Forderungen der Arbeiter durchzusetzen. Man müsse ohne Anlehnung an die bestehenden Parteien nur solche Kandidaten wählen, die sich verpflichteten, das trade-unionistische Programm zu vertreten. Außerdem seien Diäten für die Abgeordneten, Einführung der Stichwahl und das allgemeine Wahlrecht zu fordern.

Man hat in Deutschland vielfach in diesem Auftreten des Kongresses einen Uebergang in das sozialistische Lager finden wollen, aber die Engländer selbst haben es keineswegs in dieser Weise aufgefaßt, sondern die Beschlüsse lediglich als Ausdruck der augenblicklichen Unzufriedenheit über den Verlauf des Maschinenarbeiterstreikes aufgefaßt, die es nicht im geringsten ausschließt, daß die Gewerkvereine nach wie vor sich auf praktische Politik beschränken. So wurde das parlamentarische Komitee einfach wiedergewählt, obgleich es in seinem Berichte sogar den vorjährigen Beschluß über Bodenverstaatlichung für „schlechterdings unausführbar“ erklärt hatte.

Dem Einflusse dieser Meinung ist es auch wohl zuzuschreiben, daß man der internationalen Verbindung der Arbeiter geneigter war, als früher. Der betreffende Beschluß lautet: „Um die Arbeiter der Welt fester zusammenzuschließen, um genauere Informationen über ihre Stellung und Arbeitsbedingungen zu erlangen, erhält das parlamentarische Komitee den Auftrag, einen Austausch der verschiedenen Berichte der Verbände mit denen ähnlicher Verbände im Auslande zu veranlassen und, wo es möglich ist, zur Veranstaltung internationaler Kongresse verwandter Gewerbe Beihülfe zu leisten, aber auch in sonstiger Beziehung zur Konsolidation der internationalen Arbeit beizutragen.“

Der wichtigste und zwar ebenfalls durch den Maschinenbauerstreik veranlaßte Punkt der Beratungen war die schon 1897 in Birmingham behandelte Gründung eines Zentralverbandes der Gewerkvereine (General Federation of Trade Unions). Der dort gewählte Ausschuß hatte einen Plan ausgearbeitet, der sich aber nicht der Billigung der sozialistischen Richtung erfreute. Diese, und zwar der rechte Flügel, der in dem Blatte „The Clarion“ seine Vertretung findet, hatte einen Gegenentwurf, das Clarion-Scheme, aufgestellt und sogar, um denselben durchzusetzen, ein besonderes „Arbeiterparlament“ einberufen, das vom 18. bis 20. Juli 1898 in Manchester tagte. Obgleich die zuerst angegebene Zahl von 750000 Mitgliedern nach den offiziellen Protokollen auf 428000 zusammenschrumpfte, von denen an dem zweiten Tage nur noch 200000 an den Verhandlungen teilnahmen, handelte es sich zweifellos um eine bedeutende Versammlung, aber es hatten sich auch[39] solche Gewerkvereine beteiligt, die keineswegs der sozialistischen Richtung zuneigen. Jedenfalls war es verfehlt, daß man dort bereits die Bildung eines Verbandes vollzog, für den man auf 200000 Mitglieder rechnete, die einen von ihnen selbst festzusetzenden, aber nicht unter 1 Penny betragenden Wochenbeitrag zahlen sollten. Unterstützung sollte den beteiligten Vereinen im Falle eines Streiks dann gezahlt werden, wenn der Verband denselben als berechtigt anerkenne und wenn mindestens 26 Mk. für jedes Mitglied eingezahlt seien.

Diese Beschlüsse bedeuteten eine Rücksichtslossigkeit gegen den Gewerkvereinskongreß, da sie dessen Stellungnahme vorgriffen, und vielleicht war dies der Hauptgrund, weshalb der Kongreß das Clarion-Scheme verwarf und den Entwurf seines Komitees annahm. Nach demselben soll zur Aufrechterhaltung des Koalitionsrechts und zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen ein Zentralverband aller Gewerkvereine gebildet werden, in dessen Kasse außer einem Eintrittsgeld von 5 Pf. ein vierteljährlicher Betrag für jedes Mitglied zu leisten ist, der sich auf 25 oder 50 Pf. beläuft, je nachdem der Verein der ersten oder der zweiten Klasse angehört. Dementsprechend wird im Streikfalle eine Unterstützung von 2½ bezw. 5 Mk. wöchentlich gezahlt. Doch sollen Streitigkeiten mit den Unternehmern in erster Linie durch gütliche Verständigung insbesondere Schiedsgerichte oder ständige Einigungsämter beigelegt und Streiks nur dann unterstützt werden, wenn der Verbandsvorstand, in den jeder Verein zwei Vertreter sendet, seine Genehmigung dazu erteilt hat, auch der Verein mindestens ein Jahr dem Verbande angehört. Aber obgleich der Kongreß so grundsätzlich die Gründung beschloß, so glaubte man doch zur entgültigen Erledigung der wichtigen Sache nicht die nötige Zeit zu besitzen, und so wurde das parlamentarische Komitee beauftragt, im Januar 1899 nach Manchester einen besonderen Kongreß für diesen Zweck einzuberufen.

Die übrigen Beschlüsse waren zum Teil alte Bekannte, z. B. die Forderung des Achtstundentages, die Forderung, daß Armenunterstützung nicht den Verlust der bürgerlichen Rechte zur Folge haben soll, die Besoldung der Fabrikärzte durch den Staat, die Bewilligung von Diäten für die Parlamentsmitglieder und das allgemeine Wahlrecht für alle erwachsenen Männer, Revision des Verschwörungsgesetzes und Erweiterung des Haftpflichtgesetzes, insbesondere Verbot des contracting out d. h. der vertragsmäßigen Ausschließung der Haftpflicht. Ebenso forderte man von neuem, daß die Regierung Arbeiten nur an solche Unternehmer vergeben solle, die angemessene, insbesondere die vom Gewerkverein festgesetzten Löhne (fair wages) zahle. In der gleichen Weise erledigte man den Antrag auf zwangsweise Einführung von Schiedsgerichten, indem man verlangte, es sollten Regierungsarbeiten nur solchen Unternehmern gegeben werden, die sich einer schiedsgerichtlichen Erledigung in Streitfällen[40] unterwerfen. Andere Beschlüsse forderten das Verbot der Beschäftigung ungelernter Arbeiter an Maschinen und des Abzugs der Strafen vom Lohne, die Einführung des Achtuhr-Ladenschlusses und Verbesserung der Arbeiterschutzgesetze.

Auf dem Kongresse waren außer Vertretern der amerikanischen und australischen Gewerkschaften sowie zwei Japanern auch Abgesandte der englischen Genossenschaften (cooperative societies) zugegen, und ein wichtiger Teil der Verhandlungen bezog sich auf die Herbeiführung eines engen Zusammenschlusses zwischen Gewerkschaften und Genossenschaften, insbesondere in der Weise, daß letztere nur die von den ersteren gearbeiteten Waren umsetzen und dagegen die Mitglieder der Gewerkschaften ihre Waren von den Genossenschaften beziehen. Allerdings verlangte man auf dem Kongresse auch, daß die Genossenschaften ihren Angestellten die von den Gewerkschaften festgesetzten Löhne zahlen und den Achtstundentag einführen sollten. Bindende Beschlüsse wurden nicht gefaßt.

Der letzte Punkt der Verhandlungen des Kongresses betraf die Schaffung eines gemeinsamen Gewerkvereinsblattes, doch wurde dieselbe abgelehnt, wie es scheint, aus dem Grunde, weil ein Teil der Vereine, insbesondere die sozialistischen, dem parlamentarischen Komitee, mit dessen Geschäftsführung sie unzufrieden waren, nicht ein solches Machtmittel in die Hand geben wollten. Nachträglich ist der Plan dennoch verwirklicht, indem das Parlamentsmitglied F. Maddison seit 1. Oktober 1898 ein Blatt unter dem Titel: „The Trade Unionist“ herausgiebt, das sich nach seiner Programmnummer in der That in entschiedenen Gegensatz zu den sozialistischen Bestrebungen stellt, den Standpunkt des Klassenkampfes als falsch bekämpft und für friedliche Verständigung, sowie für Organisation von Arbeitern und Unternehmern, als im beiderseitigen Interesse liegend, eintritt. An demselben sind die hervorragendsten Gewerkschaftsführer dieser Richtung beteiligt.

Das Programm, welches die Gewerkvereine für die nächste Zukunft verfolgen wollen, ist in der Eingabe (charte) aufgestellt, welches das parlamentarische Komitee, nachdem es zuvor die Ansichten der einzelnen Verbände eingeholt hatte, dem Ministerium eingereicht hat, und das auch jedem Parlamentskandidaten zur Erklärung vorgelegt werden soll. Es enthält folgende Forderungen: 1. Erleichterung und Verallgemeinerung des Wahlrechts; 2. volle Besteuerung des Grund und Bodens; 3. Diäten für die Parlamentsmitglieder; 4. Ausdehnung des Haftpflichtgesetzes auf alle Gewerbe zu Lande und zur See; 5. bessere Durchführung der fair-wages-Resolution; Lohnminimum von wöchentlich 24 sh. in allen Staatsbetrieben; 6. Achtstundentag für die Bergleute; 7. amtliche Erhebungen über Maßregelung von Bergleuten wegen ihrer Beteiligung an Gewerkvereinen; 8. Schutzgesetz für Dampfmaschinen- und Kesselarbeiter. In einem Teile der Presse wird gegen dieses Programm der Vorwurf[41] erhoben, daß es sehr wichtige Forderungen, wie z. B. die weitere Beschränkung der Kinderarbeit, nicht enthalte.

Der in Bristol beschlossene außerordentliche Gewerkschaftskongreß hat vom 24. bis 26. Januar 1899 in Manchester stattgefunden unter Beteiligung von 280 Abgeordneten, die zusammen rund eine Million Mitglieder vertraten. Anfangs schien es schwierig, eine Verständigung zu erreichen, da die Ansichten sich insofern schroff gegenüberstanden, als mehrere größere Verbände, insbesondere die Bergarbeiter (miners federation) — die Vertreter von Durham waren überhaupt nicht erschienen — einen ganz losen Zusammenschluß wollten, der die einzelnen Verbände möglichst wenig in ihrer Selbstständigkeit beschränken sollte, während die kleineren Verbände umgekehrt eine straffe Zentralisation begünstigten. In Verbindung hiermit stand die weitere Frage, ob der Bund nur eine Vereinigung der Zentralverbände sein und deshalb die einzelnen Vereine nur insoweit ihm beitreten könnten, wie sie dem Zentralverbande ihres Gewerbes angehören, oder ob von einer solchen Vorbedingung Abstand genommen werden sollte. Bei der Abstimmung über den ersten Paragraphen des Statutes zeigte sich aber sofort, daß die föderalistischen Bestrebungen sich in der Minderheit befanden, denn die Gründung eines Gesamtverbandes unter dem Namen General Federation of Trade Unions wurde mit 756000 gegen 204000 Stimmen angenommen.

Als Zweck des Verbandes ist bezeichnet, das Recht der Arbeiterorganisationen zu wahren, die allgemeine Lage der Arbeiter und ihre soziale Stellung in jeder Richtung zu heben durch eine Politik, die ihnen die Macht verschafft, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu bestimmen, unter denen sie arbeiten und leben sollen, die Zusammenfassung der Arbeiterklasse als Ganzes und die Herstellung eines einheitlichen Vorgehens seitens aller am Bunde beteiligten Gewerkschaften. Der prinzipielle Standpunkt ist dahin festgelegt, daß als Aufgabe aufgestellt ist die Förderung des sozialen Friedens und die Verhinderung von Ausständen und Aussperrungen zwischen Arbeitern und Unternehmern, sowie von Streitigkeiten zwischen den einzelnen Gewerben und Organisationen durch alle Mittel freundschaftlicher Beilegung, wie Einigung, Vermittelung, Schiedsspruch oder die Errichtung fester Schiedsämter. Bei Ausbruch von Zwistigkeiten soll auf ihre Erledigung durch ein gerechtes, auf beiderseitiger Gleichberechtigung beruhendes Verfahren hingewirkt werden.

Der Verband soll zur gegenseitigen Unterstützung und für die Durchführung der statutenmäßigen Aufgaben einen Fonds ansammeln, zu dem die Vereine nach Maßgabe ihrer Größe vierteljährlich 3 bezw. 6 Pence und daneben ein Eintrittsgeld von 1 Penny für jedes Mitglied zu zahlen haben. Vereine, die dem Bunde später beitreten, haben außerdem, falls sie bereits jetzt bestehen,[42] 10 %, falls sie aber erst später gegründet werden, 5 % des auf den Kopf entfallenden Bundesvermögens beizusteuern. Dafür zahlt die Bundeskasse bei Streiks einen Zuschuß von wöchentlich 2 sh. 6 p. bezw. 5 sh. für jedes Mitglied, jedoch erst seit der zweiten Woche. Bei Eintrittsgeldern und Beiträgen sowie bei dem Streikzuschusse werden nur 90 % des Mitgliederbestandes in Ansatz gebracht. Uebrigens hat der Bundesausschuß darüber zu bestimmen, ob er den Unterstützungsfall als gegeben ansieht, auch steht ihm nach achtwöchiger Dauer oder nach den Umständen schon früher das Recht zu, zu entscheiden, ob die Fortsetzung des Kampfes Vorteil verspricht. Kein Verband wird unterstützt, der nicht ein Jahr lang seine Beiträge bezahlt hat und nachweisen kann, daß er die Mittel hat, 10 % seiner Mitglieder 8 Wochen lang das statutenmäßige Streikgeld zu zahlen.

Die Organisation des Bundes besteht in einem Generalrat (general council), in den die Verbände je nach ihrer Größe (10000, 25000, 50000) 1–4 Vertreter entsenden, und in einem von diesem ernannten Ausschusse (management committee) von 15 Personen, gegen dessen Entscheidung Berufung an den Generalrat offensteht. Daneben bestehen Distriktskomitees nach näherer Bestimmung des Generalrates, die an den Ausschuß regelmäßige Berichte zu erstatten haben. Ueber die Frage, ob in die Vertretungskörper nur wirkliche (bona fide) Arbeiter oder auch die festangestellten Vereinsbeamten sollten gewählt werden können, wurde lange gestritten, schließlich aber die letzteren mit 500000 gegen 357000 Stimmen zugelassen. Uebrigens darf in dem Ausschusse jedes Gewerbe nur durch ein Mitglied vertreten sein. Bei den Verhandlungen wurde dem Zwecke des Bundes, Streiks nach Möglichkeit zu vermeiden, mehrfach und von allen Seiten entschieden Ausdruck gegeben.

Das langangestrebte Ziel einer Gesamtorganisation der trade unions ist also jetzt erreicht, denn wenn auch der Beitritt der einzelnen Verbände von einer Urabstimmung in denselben abhängig gemacht ist, so kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß die große Mehrzahl sich dafür erklären wird. Allerdings ist auch eine skeptische Auffassung, ja eine gewisse Abneigung vertreten, insbesondere bei den großen Verbänden, die sich stark genug fühlen, um auf eigenen Füßen zu stehen und jetzt eine Einmischung des Bundes in ihre Angelegenheiten befürchten, so daß als Träger der Bewegung gerade die kleineren Verbände anzusehen sind. Die Frage, ob der Bund eine Zukunft haben wird, ist vorwiegend dadurch bedingt, ob seine Leitung es verstehen wird, die Selbständigkeit der Verbände soweit zu schonen, daß sie hier nicht auf Widerstand stößt, ohne doch ihren allgemeinen Pflichten etwas zu vergeben. —

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Nachdem wir im Vorstehenden die äußere Entwicklung des Trade-Unionismus zusammenhängend zur Darstellung gebracht haben, verbleibt noch einiges über deren Wirksamkeit im einzelnen zu sagen.

Die Thätigkeit der Gewerkvereine richtet sich natürlich in erster Linie auf die beiden Hauptpunkte des Arbeitsvertrages: den Arbeitslohn und die Arbeitsdauer. Die letztere ist in England wesentlich kürzer als in Deutschland. Für weibliche Personen ist sie schon seit 1847 gesetzlich auf 10 Stunden festgesetzt, und dies hat wesentlich dazu beigetragen, sie auch für Männer abzukürzen. Sie beträgt für diese durchschnittlich 9–9½ Stunden; Sonnabends schließen die Fabriken schon am frühen Nachmittage (half holy day). Aus diesem Grunde stehen Kämpfe um die Arbeitsdauer nicht in der Art im Vordergrunde der gewerkschaftlichen Thätigkeit, wie in Deutschland, und sie treten zurück gegen solche über den Arbeitslohn.

Aber auch auf diese üben die G.-V. einen besänftigenden Einfluß. Soweit nicht durch die automatisch wirkende Regelung der gleitenden Skala eine feste Ordnung geschaffen ist und deshalb die Verständigung von Fall zu Fall erfolgen muß, hat man verschiedene Systeme des Einigungsverfahrens, die man als negotiation, conciliation und arbitration bezeichnet. Der erstere Ausdruck bedeutet die Verhandlungen, die im Falle eines ausgebrochenen oder wenigstens schon drohenden Streikes unter den beiden Sekretären, dem des G.-V. der Arbeiter und dem des G.-V. der Arbeitgeber, eingeleitet werden. Führen diese nicht zum Ziele, so tritt der board of conciliation, das Einigungsamt in Thätigkeit. Dasselbe wird gebildet durch eine gleiche Anzahl Vertreter, welche auf seiten der Arbeiter und der Arbeitgeber gewählt werden und zerfällt in einen Ausschuß (joint committee), dem nur eine kleine Anzahl von Mitgliedern angehören und vor dem insbesondere die Streitigkeiten „individueller“ Natur, d. h. die ein bestehendes Vertragsverhältnis betreffenden, soweit sie nicht bereits durch die Sekretäre beigelegt sind, zur Entscheidung kommen, und die Vollversammlung (full board), in welcher die sog. Grafschaftsfragen d. h. die allgemeinen Verhältnisse des Gewerbes und deren Regelung für die Zukunft erörtert werden. Ist eine Verständigung nicht zu erreichen, so tritt das Schiedsgericht (board of arbitration) in Wirksamkeit, d. h. jede Partei ernennt zwei Schiedsrichter (arbitrator), die ihrerseits einen Obmann erwählen.

Wenn das Einigungsverfahren im Zusammenhange mit der Lohnfrage erwähnt ist, so bedeutet das nicht, daß die Thätigkeit sich auf diese beschränke, sie umfaßt ebenso auch die Arbeitsdauer und die Regelung der sonstigen Arbeitsbedingungen. Ebenso ist nicht gesagt, daß stets alle Formen zur Anwendung kommen, daß insbesondere beim Scheitern der Verständigung unter allen Umständen[44] das schiedsrichterliche Verfahren eingeschlagen wird. Jedenfalls ist die ganze Einrichtung, die sich als äußerst segensreich erwiesen hat, nur denkbar auf der Unterlage der beiderseitigen Organisation in G.-V., denn daß die Frage, ob das Ergebnis der beiderseitigen Verhandlungen gerichtlich erzwingbar sei, bis jetzt in England in der praktischen Bedeutung ganz zurückgetreten ist, hat allein darin seinen Grund, daß die Verhandlungen zwischen Organen geführt werden, die eine zu hohe Stellung in der öffentlichen Achtung einnehmen, als daß sie sich der Anerkennung des einmal ordnungsgemäß geschaffenen Zustandes frivol entziehen könnten, und die einen so großen Einfluß auf ihre Mitglieder ausüben, daß sie deren Folgeleistung sicher sind. Aber selbst in dem Falle, daß einmal ein gerichtlicher Zwang nötig werden sollte, giebt insbesondere hinsichtlich der Arbeiterorganisationen deren angesammeltes, nicht unerhebliches Vermögen einen Rückhalt, auf den bei der Vollstreckung gegriffen werden kann und den die Mitglieder nicht im Stiche lassen.

Einen anderen Teil der Thätigkeit des G.-V. der Arbeiter bildet der Kampf gegen die Mittelmänner (sweating system), d. h. Personen, welche die Arbeit von dem Arbeitgeber übernehmen und sie auf ihre Rechnung von Arbeitern ausführen lassen, diese aber dabei meist in der nichtswürdigsten Weise aussaugen.

Ist ihre Wirksamkeit hier von erheblichem Erfolge begleitet gewesen, so sind sie dagegen in ihrem Kampfe gegen die Accordarbeit im wesentlichen unterlegen. Man wirft derselben vor, daß sie insofern für den Arbeiter ungünstig sei, als sie ihn zu einer ungesunden Anspannung seiner Kräfte anreize, daß dadurch aber ein Ueberschuß an Arbeitskräften hervorgerufen werde und daß selbst der beschäftigte Arbeiter nicht einmal selbst Vorteil habe, indem der Arbeitgeber, sobald tüchtige Arbeiter einen erheblichen Verdienst erzielten, den Lohnsatz herabsetze. Trotz dieser Angriffe ist jedoch die Stücklöhnung noch die überwiegend übliche Form geblieben.

Eine wesentliche Aufgabe der G.-V. ist ferner die Fernhaltung der Arbeitslosigkeit. Dies ist, wie hervorgehoben, eine Hauptrücksicht bei der Bekämpfung der Stücklöhnung und ebenso bei den Bestrebungen auf Herabsetzung der Arbeitsdauer, insbesondere durch Verbot der Ueberarbeit. Man hat aber vor allem für eine vorzügliche Regelung des Arbeitsnachweises gesorgt, der vielfach auch von den Arbeitgebern benutzt wird, und ebenso giebt man bei Arbeitslosigkeit nicht allein Wandergelder, — die früher üblich gewesene Reisekarte, die das Recht auf Unterkunft und Verpflegung gewährte, ist wegen Mißbrauches außer Uebung gekommen — sondern vor allem erhält das ohne seine Schuld arbeitslos gewordene Mitglied eine Unterstützung, deren Höhe verschieden ist und sich bei Personen, die als Führer[45] von Arbeiterbewegungen gemaßregelt sind, häufig auf die volle Höhe des Lohnes, z. B. bei den Maschinenbauern auf etwa 2000 Mk. beläuft. Auch die Dauer der Unterstützung ist verschieden, meist wird sie für eine Zeit von drei Monaten bis zu einem Jahre gewährt.

Ein weiteres Ziel ist die Herstellung gesunder Arbeitsräume und die Schaffung ausreichender Schutzvorrichtungen; in dieser Richtung wird teils unmittelbar auf die Arbeitgeber, teils auf die Gesetzgebung einzuwirken gesucht.

Von größter Bedeutung Sind die von den G.-V. ins Leben gerufenen Unterstützungseinrichtungen für die verschiedensten Lebensschicksale, die um so wertvoller sind, als auf diesem Gebiete staatlicherseits in England bisher nichts geschehen ist. Allerdings bestehen auch freie Hülfskassen, die friendly societies, denen jeder beitreten kann, aber der Schwerpunkt liegt doch ganz überwiegend in der Thätigkeit der G.-V. Die hauptsächlichsten Formen der Unterstützung sind folgende:

1. Sterbe- und Begräbnisgeld; es ist die älteste Form der Beihülfe und findet sich in allen Vereinen. Die Höhe beträgt im Durchschnitt etwa 200 Mk.; zuweilen wird es beim Tode nicht bloß des Arbeiters selbst, sondern auch der Familienangehörigen gezahlt.

2. Krankengeld. Es beträgt meist wöchentlich etwa 10 Mk. und wird 13–25 Wochen lang gezahlt; daneben wird meist Arzt und Apotheke bezahlt, doch ist die Einrichtung nicht so allgemein, wie das Sterbegeld.

3. Die Altersrente. Sie ist nicht so häufig und meist niedriger als das Krankengeld. Das Recht auf dieselbe setzt ein gewisses Alter, meist 60 Jahre, und eine gewiße Dauer, meist 30–40 Jahre, der Mitgliedschaft voraus. Zuweilen wird eine einmalige Abfindungssumme gezahlt, z. B. bei den Eisenbahnarbeitern 400 Mk.

4. Invalidenrente, indem nicht ein bestimmtes Alter, sondern der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit den Anspruch auf Rente begründet.

5. Unfallunterstützung findet sich meist nicht als jährliche Rente, sondern als einmalige Entschädigung von 1000–2000 Mk.

6. Waisengeld wird nur von einzelnen Vereinen gezahlt, ebenso

7. Auswanderungsunterstützung gegen die Verpflichtung, innerhalb gewisser Zeit nicht zurückzukehren.

8. Arbeitslosenunterstützung. Dieselbe besteht in fast allen Vereinen.

Außer diesen materiellen Zwecken suchen die G.-V. auch auf das sittliche Leben der Mitglieder günstig einzuwirken und sie geistig zu heben. Um dem Spirituosengenusse entgegenzuwirken und den Einzelstehenden[46] einen Halt zu gewähren, wird das Klubleben gefördert; es werden Lesezimmer mit Zeitungen und guten Büchern gehalten, wobei insbesondere die Naturwissenschaften bevorzugt werden. Vorlesungen, zum Teil von Universitätslehrern und Disputierübungen dienen der geistigen Anregung.

Um diese großen Aufgaben erfüllen zu können, bedürfen die Gewerkvereine erheblicher Beiträge ihrer Mitglieder, die aber sehr verschieden sind und sich von wöchentlich 10 Pf. bis zu 1 Mk. 40 Pf. belaufen; während langdauernder Streiks ist sogar schon bis zu täglich 1 Mk. erhoben.

Wie schon erwähnt, sind die G.-V., um ihre Einzelkraft zu steigern, zu Verbindungen zusammengetreten, und zwar nicht allein so, daß die Vereine desselben Gewerbes sich untereinander mehr oder weniger eng (federation-amalgamation) zusammengeschlossen haben, sondern auch durch die Schaffung von Gewerkschaftsräten (trade councils), welche für einen bestimmten Bezirk alle G.-V. ohne Unterschied des Berufes vereinigen. Aber dieselben üben keinen erheblichen Einfluß auf die Bewegung aus, da sie einerseits nicht über Geldmittel verfügen und im Falle des Bedarfes auf freiwillige Beiträge angewiesen sind, andererseits auch keine beschließende, sondern nur eine beratende Stimme haben. So kommt es denn auch, daß gerade die bedeutenderen Kräfte der Bewegung sich von ihnen fernhalten; daß es zur Zeit der Junta anders war, lag an den damaligen besonderen Verhältnissen und Personen.

Auch die Gewerkschaftsräte größerer Bezirke, insbesondere der verschiedenen Provinzen, vereinigen sich zuweilen untereinander zu Kartellen, deren Befugnisse sehr mannigfaltig bestimmt sind.

Ihre oberste Zusammenfassung erhalten die G.-V. in den Gewerkschaftskongressen, die seit 1868 jährlich stattfinden[19]. Aber obgleich in denselben[47] bis auf verschwindende Ausnahmen alle G.-V. vertreten sind, so ist der Kongreß doch „mehr ein Aufmarsch der Gewerkvereinskräfte als ein echtes Arbeiterparlament“. „Alle Nebenumstände drängen dazu hin, den Karakter des Kongresses als eine Schaustellung auf Kosten der Eigenschaft desselben als gesetzgeberisches Organ zu verstärken. Der Mayor und die Gemeindevertretung des Ortes, wo er abgehalten wird, heißen die Delegierten in öffentlicher Ansprache willkommen und veranstalten ihnen zu Ehren eine prächtige Empfangsfeier. Die Gallerie der Besucher ist voll von interessierten Beobachtern. Ausländer von hervorragender Stellung, Vertreter von Regierungsabteilungen, Deputationen von dem Verbande der Genossenschaften und anderen einflußreichen Organisationen, wißbegierige Politiker und Minister auf der Jagd nach Popularität wohnen den Sitzungen von Anfang bis zu Ende bei. Der für die Presse bestimmte Tisch ist von Reportern aller bedeutenden Zeitungen des Königreichs dicht besetzt, während die Lokalblätter einander in Extraausgaben überbieten, die wortgetreue Berichte über die Verhandlungen bringen. Aber mehr als alles andere macht der gänzliche Mangel gesetzgebender Macht den Kongreß zu einer Feiertagsdemonstration statt zu einer verantwortlichen, beratschlagenden Versammlung. Die Delegierten wissen genau, daß die Resolutionen keine bindende Kraft für ihre Mandatgeber haben und nehmen sich deshalb nicht die Mühe, sie in ausführbarer Form oder auch nur miteinander in Uebereinstimmung zu bringen[20]“.

Das Verhältnis zu den Unternehmern ist das der gegenseitigen[48] Achtung und Höflichkeit; häufig werden von den Delegierten größere industrielle Werke besichtigt, von den Pferdebahnen wird ihnen freie Fahrt bewilligt und in jeder Weise wird ihnen äußere Auszeichnung entgegengebracht.

Der Kongreß wählt seit 1871 aus seiner Mitte für das folgende Jahr den „parlamentarischen Ausschuß“, der aus 10 Mitgliedern und einem Sekretär besteht. Derselbe ist gewissermaßen die oberste Leitung des ganzen Gewerkschaftswesens, zumal seine Befugnisse in keiner Weise scharf bezeichnet und abgegrenzt sind. Aber um eine solche Stellung auszufüllen, bedürfte man einer Organisation, deren Mitglieder sich ganz dieser Aufgabe widmen könnten, während man vielmehr regelmäßig in den Ausschuß die Sekretäre der großen Verbände wählt, die schon durch ihre sonstigen Arbeiten vollständig in Anspruch genommen sind. „Es ist daher nicht verwunderlich, wenn man erfährt, daß das dem Komitee unterbreitete Arbeitsprogramm, statt das durch die Kongreßbeschlüsse angezeigte weite Feld zu umfassen, gewöhnlich auf das armseligste Minimum herabgeschraubt ist. Die Jahresleistung des Komitees hat sich in den letzten Jahren in der That je auf ein paar Deputationen an die Regierung, zwei oder drei Rundschreiben an die Vereine, eine kleine Beratung mit befreundeten Politikern und die Zusammenstellung eines ausführlichen Berichtes an den Kongreß beschränkt, der nicht ihre eigenen Leistungen, sondern die im Laufe der Session zustande gekommenen Gesetze und anderen parlamentarischen Vorgänge schildert[21]“. So ist die Bedeutung des parlamentarischen Ausschusses in den letzten Jahren immer mehr zurückgegangen und es hat eine immer größere Unzufriedenheit mit seinen Leistungen um sich gegriffen, aber der Mangel liegt nicht an den Personen, sondern an deren Ueberlastung. —

Das bisher Gesagte bezieht sich großenteils nicht auf alle G.-V., sondern nur auf diejenigen der gelernten Arbeiter (skilled men).

Die Unionen der ungelernten Arbeiter (unskilled men) unterscheiden sich von den ersteren, abgesehen von der bereits erwähnten anderen Grundanschauung, auch im einzelnen in wesentlichen Punkten.

Zunächst sind sie überwiegend Streikvereine, beschränken sich hauptsächlich auf Unterstützung bei Arbeitslosigkeit und schließen andere Zwecke, wie Kranken-, Unfall- und Altersfürsorge grundsätzlich aus. Der eigentliche Grund hierfür ist wohl, daß die jungen Organisationen der zum Teil sehr gering gelohnten ungelernten Arbeiter nicht annähernd über solche Mittel verfügen, wie die bereits befestigten Verbindungen ihrer besser gestellten Kollegen. Oeffentlich freilich begründen sie ihre Ablehnung der Unterstützungspolitik mit dem prinzipiellen Gesichtspunkte, daß diese die Vereine allzu bedächtig und[49] vorsichtig gegenüber Arbeitseinstellungen mache. Immerhin ist es wahrscheinlich, daß die neuen G.-V. dieselbe Entwickelung durchmachen werden, wie die älteren, und bereits jetzt läßt sich ein besänftigender Einfluß der ungünstigeren wirtschaftlichen Lage auf die überschäumende Streiklust beobachten.

Ebenso beginnen schon einzelne Vereine mit den Hülfskasseneinrichtungen. So zahlt die Dock-, Werft- und Uferarbeiter-Union Sterbegeld, während viele Filialen derselben Krankenunterstützungsfonds ins Leben gerufen haben. Einige Ortsvereine der „National Union of Gasworkers and General Labourers“ haben örtliche Unterstützungsfonds, und die Unfallunterstützung seitens des Gesamtvereins wird eifrig erörtert.

Eine weitere Verschiedenheit beider Organisationen besteht in ihrer Stellung zu der Regelung von Arbeitsstreitigkeiten, insbesondere bei Lohnfragen. Nachdem es eine Zeit lang üblich gewesen war, in solchen Fällen, sofern eine unmittelbare Verständigung nicht zum Ziele geführt hatte, gemeinsam einen Schiedsrichter zu ernennen und hierzu eine Person zu wählen, die weniger gewerbliches Verständnis, als vor allem das allgemeine Vertrauen der Unparteilichkeit besaß, gingen die älteren G.-V. immer mehr dazu über, an Stelle dieses schiedsrichterlichen das oben näher beschriebene Einigungsverfahren zu setzen. In diesem wird die Streitfrage fast ausschließlich nach der Richtung erörtert, ob der erhobene Anspruch in der allgemeinen Lage des Gewerbes seine Begründung findet, ob also z. B. eine Lohnerhöhung oder -herabsetzung durch die Preislage des Marktes und die Verhältnisse in den Konkurrenzländern gerechtfertigt wird. Um dies festzustellen, werden häufig sehr umfassende Erhebungen veranstaltet. Läßt man sich auf ein schiedsrichterliches Verfahren überhaupt ein, so schließt man durchaus gewerbsfremde Personen aus, man wählt jemand, der die einschlagenden gewerblichen Verhältnisse völlig übersieht und dessen Aufgabe darin besteht, nicht sowohl nach Billigkeitsrücksichten über die Berechtigung des beiderseitigen Standpunktes zu entscheiden, sondern lediglich zu beurteilen, ob nach Lage des augenblicklichen wirtschaftlichen Machtverhältnisses bei einem etwaigen Streik die eine oder die andere Partei den Sieg davon tragen werde, um so das gleiche Ergebnis, welches nach Wahrscheinlichkeitserwägungen ohnehin zu erwarten ist, anstatt durch den Kampf lieber durch freiwilliges Nachgeben der schwächeren Partei herbeizuführen. Es ist begreiflich, weshalb die neuen G.-V. hier das entgegengesetzte Verfahren befolgen. Da ihre Stärke weniger in der eigenen Kraft als in der Sympathie der Bevölkerung beruht, und diese sich weniger durch wirtschaftliche Erwägungen als durch solche der Billigkeit bestimmen läßt, so streben sie dahin, die Entscheidung einem gewerbsfremden Schiedsrichter,[50] also einer Person zu übertragen, die gewissermaßen als Organ der öffentlichen Meinung betrachtet werden kann.

Das Bewußtsein der eigenen Schwäche bringt endlich die neuen G.-V. auch zu der bereits erörterten, grundsätzlich abweichenden Haltung gegenüber der Stellung des Staates zu den wirtschaftlichen Verhältnissen. Während die alten trade unions den staatlichen Eingriff ablehnen und sich zutrauen, falls man ihnen nur keine Hindernisse in den Weg legt, selbst ihre Interessen wirksam vertreten zu können, stehen die neuen Verbände durchaus auf dem Boden des Staatssozialismus.

Uebrigens hat sich in der Stellung zur Politik in den englischen Arbeiterkreisen überhaupt ein gewisser Umschwung vollzogen. Während die trade unions sich früher grundsätzlich mit politischen Fragen als solchen nicht beschäftigten und die beiden bestehenden großen Parteien unterstützten, je nachdem sie sich zu den Arbeiterforderungen stellten, besteht seit 1893 eine Independent Labour Party, die es sich zur Aufgabe stellt, die Arbeiter auch auf politischem Boden zu sammeln. Sie wurde auf einer am 13./14. Januar 1893 in Bradford abgehaltenen Konferenz gegründet, hielt am 2. Februar 1894 in Manchester ihre erste Jahresversammlung und zählte im September 1894 350 Zweigvereine mit 38500 Mitgliedern. Seitdem scheint aber das Wachstum kaum fortgeschritten zu sein, denn die Angaben aus dem Jahre 1897 lauten nur auf 40000 Angehörige. Auch bei den ersten allgemeinen Parlamentswahlen 1895, bei denen die neue Partei ihre Kraftprobe machte, hat sie keine eigenen Kandidaten durchgesetzt, denn die beiden einzigen im Parlamente befindlichen Arbeiter S. Woods und J. Mallinson gehören ihr nicht an. Die Zahl der für sie abgegebenen Stimmen, die damals 27566 betrug, ist allerdings bei späteren Nachwahlen auf 64480 in 38 Wahlkreisen gestiegen. Ihr Präsident ist Keir Hardie, ihr Sekretär Tom Mann. Im Vorstande, der den Titel „Nationaler Verwaltungsrat“ trägt, sitzt u. a. Ben Tillet. Auf dieser Personalunion beruht der Hauptteil ihres Einflusses.

Eine formelle sozialdemokratische Partei besteht in England erst seit kurzer Zeit. Allerdings wurde im März 1881 durch angesehene Personen aus den oberen Klassen unter Führung des Schriftstellers Hyndman eine democratic federation mit dem Programm der Verstaatlichung des Grund und Bodens gegründet, die sich im Jahre 1883 in socialdemocratic federation umtaufte und ein eigenes Organ, die „Justice“ herausgiebt. Anfangs schlossen sich ihr auch die bedeutendsten Arbeiterführer an, wie John Burns, Tom Mann, Ben Tillet und Keir Hardie, von denen aber, wie oben erwähnt, die ersten beiden ihr später den Rücken kehrten. Ihre Mitgliederzahl wird auf 3500–5000 angegeben.

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Wiederholt sind Versuche gemacht, die Bildung einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei, insbesondere eine Verschmelzung der Independent Labour Party mit der Socialdemocratic Federation herbeizuführen und noch auf dem letzten Jahreskongresse der letzteren am 12. April 1898 ist die Frage eingehend erörtert, doch ist es bisher nicht gelungen, sie zu lösen, indem insbesondere die Mitglieder der I. L. P. der S. F. den Vorwurf machen, revolutionäre Phrasen an Stelle ernsthafter Arbeit zu kultivieren. Der neueste Versuch dieser Art ist zugleich in mehrfacher Hinsicht interessant für die Stellung der Sozialdemokratie in England. Er wurde unternommen von dem bereits erwähnten rechten Flügel, den Clarionisten unter Führung von Robert Blatchford, indem sie eine Abstimmung durch Umfrage nicht allein über die Bildung einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei, sondern auch noch über einige der wichtigsten Einzelfragen veranstalteten. An der Abstimmung haben sich 8885 Personen beteiligt, und da viele von ihnen nicht wahlberechtigt sind, so ergiebt sich daraus die geringe politische Bedeutung. Die Notwendigkeit einer Gesamtpartei wurde fast allgemein bejaht, und so sollen bei den nächsten Wahlen in erster Linie überall Sozialdemokraten aufgestellt und nur im Notfalle für andere arbeiterfreundliche Kandidaten gestimmt werden. Im übrigen stimmten für Referendum und Initiativwahl nach schweizerischem Muster 5995, für Altersversorgung, Beschäftigung der Arbeitslosen, Verbot der Kinderarbeit bis zum 14. Jahre und gesetzlichen Achtstundentag zwischen 4763 und 5115, für Nationalisation des Grund und Bodens bezw. volle Besteuerung, Parlamentsdiäten, Verstaatlichung der Eisenbahnen 3709–4052, das allgemeine Stimmrecht 2856, Befreiung von Schulgeld, Verstaatlichung des Schankgewerbes und der Bergwerke, Einführung von Stichwahlen und Erhöhung der Erbschaftssteuer 1423–1976 Personen.

Ist auch im allgemeinen das Verhältnis der Unternehmer zu den Gewerkvereinen der Arbeiter jetzt ein günstiges und wird im ganzen in den Kreisen der ersteren das Ziel einer Beseitigung der trade unions nicht mehr verfolgt, so werden doch naturgemäß Klagen über ihren „Terrorismus“ oft gehört, und so ist denn in neuerer Zeit der Versuch unternommen, eine Gegenorganisation ins Leben zu rufen. Dies ist die national free labour association. Sie wurde auf einem am 31. Oktober 1893 in London abgehaltenen Kongresse begründet und hat seitdem jährliche Jahresversammlungen abgehalten, besitzt auch in der „Free Labour Gazette“ ein eigenes regelmäßiges Organ. Auf dem Kongresse in Manchester im Oktober 1896 wurde mitgeteilt, daß die Mitgliederzahl Ende 1895 131650 betragen habe und Ende Juli 1896 auf 150353 gestiegen sei, im Oktober 1897 soll sie sogar 180000 und im Juni 1898 200000 betragen haben, doch werden diese Ziffern von gegnerischer[52] Seite als nackter Schwindel dargestellt. Die Vereinigung, die sich insbesondere in London und den nördlichen Hafenplätzen des Mersey und des Clyde sowie des Bristol-Kanals ausbreitet, will nicht die trade unions als solche, oder die von ihnen geübte Tyrannei bekämpfen, insbesondere setzt sie mit ihren Angriffen ein bei der Praxis der trade unions, nicht mit blake legs zusammenzuarbeiten und die Behörden zu zwingen, ausschließlich ihre Angehörigen zu beschäftigen. Die Vereinigung will für jeden Bezirk aus Arbeitgebern und Arbeitern in gleicher Zahl zusammengesetzte Schiedsgerichte (boards of arbitration) der verschiedenen Berufszweige errichten, denen sämtliche Arbeitsstreitigkeiten unterbreitet werden müssen. Falls sich das Gericht über einen Urteilsspruch nicht einigen kann, soll ein Unparteiischer mit der Entscheidung betraut werden. Streiks sind nicht völlig ausgeschlossen, sollen aber nur dann unterstützt werden, wenn sie zuvor einem Schiedsgerichte unterbreitet sind. Die Einrichtung von Unterstützungskassen soll den örtlichen Vereinen überlassen bleiben.

Am 10. Oktober 1898 hat die Association ihren Jahreskongreß gehalten, auf dem erwähnt wurde, daß die Vereinigung im Laufe des Jahres an Fabriken, in denen gestreikt wurde, 13000 Arbeitskräfte gesandt habe, darunter 900 während des Maschinenbauerstreiks. Von einzelnen Rednern wurde das neue Haftpflichtgesetz als die englische Industrie schädigend verurteilt, andere wollten das Postenstehen bei Streiks unter Strafe gestellt wissen.

Auch auf diesem Kongresse sollen 250000 Mitglieder durch 100 Abgesandte vertreten gewesen sein, aber unparteiische Blätter, wie der „Daily Chronicle“, behaupten, die ganze Association bestehe aus drei oder vier Leuten, die in London ein Bureau für den Zweck errichtet hätten, bei Ausständen den Unternehmern Arbeit zu verschaffen und deren Angestellte die Kongresse bildeten. Ein gewiß klassischer Zeuge, der jetzige Vorsitzende der Federated Engineering Employers, Alexander Siemens schreibt mir: „Die F. L. A. besteht zum Teil aus zweifelhaften Elementen. Während des Engineering-Streiks unternahm sie, unabhängige Arbeiter zu finden, um die Ausständigen zu ersetzen. Soviel mir bekannt ist, war der Erfolg so gering, daß die Association jetzt ignoriert wird, nachdem sie während des Ausstandes eine Menge Anhänger gefunden hatte.“ Danach darf man davon ausgehen, daß Herr v. Stumm sehr unrichtig berichtet war, wenn er in der Reichstagssitzung vom 9. März 1898 der Vereinigung eine große Bedeutung beimessen wollte, es scheint sich im Gegenteil um ein völlig verunglücktes Unternehmen zu handeln.

Statistische Angaben über die trade unions giebt es erst seit der im Jahre 1886 erfolgten Ernennung John Burnetts zum Arbeitsberichterstatter (chief labour correspondent) im Handelsamte. Seit dieser Zeit[53] werden jährliche Berichte herausgegeben, doch waren dieselben anfangs unvollständig, indem nur ein kleiner Teil der Vereine die ihnen zugesandten Fragebogen ausfüllte. Erst der im November 1898 veröffentlichte Bericht für 1897[22] giebt eine Uebersicht, die den Anspruch auf annähernde Vollständigkeit erhebt. Danach gab es:

1892 1203 Vereine mit 1500451 Mitgliedern
1893 1259 1478474
1894 1299 1437765
1895 1303 1404898
1896 1308 1491007
1897 1287 1609909

Die Gesamtzunahme von 109458 Mitgliedern entspricht 7,3%, doch verteilt sie sich nicht gleichmäßig, indem die 100 größten Vereine einen Zuwachs von 17,2% haben, während die kleineren 7,7% abgenommen haben. Die Verminderung der Vereine um 21 von 1896 auf 1897 bei gleichzeitiger Vermehrung der Mitglieder erklärt sich aus den in dieser Zeit erfolgten Verschmelzungen von Vereinen. Trade councils gab es 1894 148 mit 698550, 1895 151 mit 696270, 1896 148 mit 694701 und 1897 151 mit 693390 Mitgliedern.

Die Verteilung der trade unions auf die einzelnen Gewerbegruppen zeigt folgende Tabelle:

Gewerbegruppen Zahl der Prozentsatz
trade unions Zweigvereine Mitglieder
Metallindustrie, Maschinen- und Schiffbau   272   2433   317518   20
Bergbau und Hüttenwesen     64   1543   282432   17
Bauwesen   138   3034   219072   14
Textilindustrie   244     499   217217   14
Transportwesen (Eisenbahnen, Docks u. s. w.)     65   1268   183418   11
Ungelernte Arbeiter     16     744     92858     6
Bekleidungsindustrie     48     652     75617     5
Buchdruckerei u. Buchbinderei     54     350     52572     3
Oeffentlicher Dienst     37     873     45157     3
Holzbearbeitung   115     559     38401     2
Sonstige Gewerbe   234   1380   385692     5
Zusammen 1287 13335 1609909 100

Das Alter und die Entwickelung der Vereine zeigt folgende Aufstellung:[54]

Gründungszeit Anzahl der
trade unions
Prozentsatz Mitgliederzahl Prozentsatz
    Vor 1825     48     4     54264     3
1825–1829     12     1       9436     1
1830–1839     32     2   107848     7
1840–1849     46     3     66951     4
1850–1859     72     6   221106   14
1860–1869   118     9   250958   16
1870–1879   162   13   286093   18
1880–1887   152   12   233008   14
1888–1897   640   50   375411   23
Zusammen       1282[23] 100       1605075[23] 100

Das Gesetz gewährt denjenigen Vereinen, die ihre Eintragung in ein öffentliches Register bewirken, eine Reihe von Vergünstigungen, insbesondere das Recht, Grund und Boden bis zu 1 Acre und sonstiges Eigentum durch ihre Vorstände (trustee) zu erwerben, sowie einen umfassenden Schutz gegen Veruntreuungen. Die Anzahl der Vereine, die diese Eintragung erlangt haben, sowie die Abstufung nach der Mitgliederzahl zeigt folgende Tabelle:

Mitgliederzahl Eingetragene Vereine Nicht eingetragene Vereine
Anzahl Anzahl
der Vereine der Mitglieder der Vereine der Mitglieder
    Ueber 50000     5   341167
20000 50000     6   190854
10000 20000   14   192508     5   60446
5000 10000   54   226680   26 148977
2000   5000   29     86812   20   63019
1000   2000   40     51294   25   36961
500   1000   65     45089   54   37412
300     500   53     20163   60   22065
100     300 154     26837 213   35331
50     100   89       6352 161   11269
Unter         50   58       1859 156     4819
Zusammen 567 1189610 720 420299

Im allgemeinen zeigen die größeren Vereine eine stärkere Zunahme als die kleineren, deren Mitgliederzahl sogar nicht selten zurückgeht. Das hängt damit zusammen, daß sie ihren Mitgliedern freilich geringere Beiträge abfordern, ihnen dafür aber auch weniger bieten können. Die amtliche Statistik giebt die Ziffern über Einnahme, Ausgabe und Vermögensbestand, sowie über die einzelnen Arten der Ausgaben nur für die 100 größten Vereine, die zusammen[55] 1059609 Mitglieder haben. Sie zeigen in den Jahren 1892–1897 folgende Entwicklung:

Jahr Mitgliederzahl Einnahme
Pfd. St.
Ausgabe
Pfd. St.
Vermögensbestand
Pfd. St.
1892   903981 1455885 1418311 1618790
1893   910119 1614379 1848159 1385010
1894   924584 1629550 1433867 1580693
1895   914766 1557667 1390717 1747643
1896   961026 1673571 1233494 2187720
1897 1059609 1981971 1896072 2273619

Die Einnahmen bestehen neben Zinsen aus belegten Kapitalien, Eintrittsgeldern, Erträgen aus dem Verkauf von Mitgliedskarten und Statuten u. s. w. naturgemäß überwiegend aus den Beiträgen, und zwar sowohl den regelmäßigen Jahreszahlungen wie aus besonderen Umlagen, zu deren Ausschreibung meist das Exekutivkomitee befugt, zuweilen aber auch ein Mehrheitsbeschluß der Mitglieder erforderlich ist. Die Beiträge sind sehr verschieden, und zwar sowohl in den verschiedenen Vereinen wie nach den Jahren mit Rücksicht auf besondere Bedürfnisse. Eine Uebersicht der Beiträge, und zwar der regelmäßigen wie der außerordentlichen, für das Jahr 1897 bietet folgende Tabelle:

Beitrag auf den Kopf: Zahl
der Vereine der Mitglieder
      Unter   5 Schilling     1       2300
mindestens   5 aber 10   17   119369
10 15   17   241842
15 20     9     49074
20 30   19   251825
30 40   16   115077
40 60     8     81031
60 80   10     88421
80 Schilling und darüber     3   110670
Zusammen: 100 1059609

Der Durchschnittsbeitrag belief sich 1892 auf 28 sh. 9¼ d., 1893 auf 31 sh. 2½ d., 1894 auf 32 sh. 1½ d., 1895 auf 31 sh. 11¼ d., 1896 auf 32 sh. 3¾ d., 1897 auf 32 sh. 11¼ d.

Unter den Ausgaben sind die wichtigsten Posten: 1. Streikgeld (dispute pay); 2. Arbeitslosenunterstützung; 3. Alterspension; 4. Kranken- und Unfallunterstützung; 5. Begräbnisgeld; 6. Verwaltungskosten. Damit ist nicht gesagt, daß alle Vereine diese sämtlichen Arten von Unterstützungen gewähren. Der amtliche Bericht teilt die Ausgaben in drei Klassen, nämlich Streikgeld,[56] Verwaltungskosten und Unterstützungen, wobei zu den letzteren die unter 2–5 bezeichneten Posten gezählt werden.

Die Gesamtausgabe aller Vereine für die Jahre 1892–1897 beträgt:

für Streikgeld 2171271 Pfd. Sterl. = 23½ Proz.
Unterstützungen 5466903 = 59½
Verwaltungskosten 1582446 = 17   
    9220620 = 100     

Eine Verteilung auf die hauptsächlichsten Gewerbegruppen, bei der auch die einzelnen Unterstützungen getrennt sind, ergiebt folgende Tabelle:

Gewerbegruppe Prozentsatz der Ausgaben für: Betrag in
Pfd. Sterl.
Streikgeld Unterstützungen für Verwaltungskosten
Arbeitslose Krankheit und Unfall Alter Begräbnis Zusammen
Baugewerbe 12,8 16,6 26,5  8   12,3 63,4 23,8 1358292
Bergbau u. Hüttenwesen 44,5 15,7   9,5 16,9 42,1 13,4 1452284
Metallindustrie, Maschinen- und Schiffbau 11   40,2 17,2 13,7   7,1 78,2 10,8 3686798
Textilindustrie 38,1 25,6  4     1,3 13,8 44,7 17,2   948664
Bekleidungsindustrie 27,2   4,1 35,1   9,1   7,4 55,7 17,1   422261
Transportgewerbe 10,8   5,6   9,5   3,3 17,8 36,2 53     407611
Buchdruckerei und Buchbinderei  6   50,2  5   10,7   9,9 75,8 18,2   325992
Holzverarbeitung 12,1 31,3 11,3 13,8   9,9 66,3 21,6   201062
Ungelernte Arbeiter verschiedener Betriebe 19,8 22,2 15,4   6,2   9,5 53,3 26,9   417656
Zusammen       20,3[24] 27,5 15,9   8,3 10,9       62,6[24] 17,1 9220620

Diese Aufstellung zeigt, wie verschieden das Verhältnis zwischen Streikgeld und Unterstützungen sich bei den einzelnen Vereinen gestaltet. Der Bericht giebt nähere Nachweisungen für die 100 größten Vereine, die in drei Gruppen geteilt werden. Die erste, bei der das Streikgeld im Vordergrunde steht, obgleich zuweilen auch Begräbnis-, Kranken- und Unfallunterstützung gezahlt wird, umfaßt 25 Vereine mit 243411 Mitgliedern. Die zweite, bei welcher zu dem Streikgeld die Arbeitslosenunterstützung hinzukommt, umfaßt 34 Vereine mit 264548 Mitgliedern. Die dritte, bei der daneben alle Arten von Unterstützung[57] (Alter, Krankheit, Unfall) bezahlt werden, ist die größte, denn sie umfaßt 41 Vereine mit 551650 Mitgliedern. Die Vereine, die sich ausschließlich auf Streikgeld beschränken, sind die jüngsten, denn das Durchschnittsalter der Vereine beträgt in der ersten Klasse nur 16, in der zweiten 25, in der dritten 55 Jahre. Aber jedenfalls ergiebt sich aus diesen amtlichen Ziffern, wie unzutreffend es ist, zu behaupten, daß die trade unions überwiegend Streikvereine seien; nicht allein sind die Vereine, bei denen die Streikunterstützung im Vordergrunde steht, stark in der Minderzahl, sondern selbst bei Berücksichtigung aller Vereine beläuft sich der, auf die Streikunterstützung entfallende Betrag, wie nachgewiesen, auf 20,8 bezw. 23½%.

Obgleich alle Vereine ihre Mitglieder bei Streiks unterstützen, ist doch der Betrag in den einzelnen Jahren sehr verschieden; so hatten von den 100 größten Vereinen im Jahre 1897 14 mit 50070 Mitgliedern überhaupt keine Ausgaben hierfür gehabt.

Eine Uebersicht über die Jahre 1892–1897 giebt folgende Tabelle, bei der zu berücksichtigen ist, daß 1892/93 der große Baumwollenstreik, 1893 der große Kohlenstreik und 1897 der Maschinenbauerstreik stattfand, und daß bei solchen Streiks nicht nur die unmittelbar beteiligten, sondern infolge der gegenseitigen Unterstützung auch die übrigen Gewerbe in Mitleidenschaft gezogen werden.

In den 100 größten Vereinen wurden verausgabt in Pfd. St.:

  1892 1893 1894 1895 1896 1897
im Baugewerbe   33286   30655   25279   20110   35178   20516
im Bergbau und Hüttenbetriebe 111656 346361   63235   41403   39478   43374
in d. Metallindustrie, Maschinen- u. Schiffbau   28997     9265   23575   30145   34855 280460
Textilindustrie 134610 132014   33432   21245   17778   31941
Bekleidungsindustrie   12743   10086     8017   60136     5666   18297
Eisenbahndienst     2643     9286     2176     2018     2753     9684
Dockbetrieb     3789     6044       995     1004     2129     1234
anderen Gewerben   26770   32089   13451   10343   16070   27994
Zusammen 352500 584800 160160 186404 153907 433500

Arbeitslosenunterstützung zahlen 75 von den 100 größten Vereinen ihren Mitgliedern in Höhe von 6 sh. bis 20 sh. wöchentlich; die häufigsten Beträge sind 10, 12 oder 15 sh. Die höchsten Ausgaben hierfür werden in der Metallindustrie sowie dem Maschinen- und Schiffbau gemacht. In der folgenden Uebersicht ist deshalb diese Gruppe von den übrigen getrennt; zugleich ist der Prozentsatz der Arbeitslosen angegeben.

[58]

Jahr Ausgabe für Arbeitslosenunterstützung Prozentsatz der Arbeitslosen
in allen Gewerben
Metallindustrie, Maschinen-und Schiffbau
Pfd. St.
Andere Gewerbe
Pfd. St.
1892 216688 134824 6,3
1893 253874 208627 7,5
1894 266907 194282 6,9
1895 206822 229412 5,8
1896 131923 152483 3,4
1897 404851 137373 3,5

Den Betrag der übrigen von den 100 größten Vereinen in den Jahren 1892–97 gezahlten Unterstützungen sowie des Vermögens ergiebt folgende Tabelle.

Jahr Alterspension[25]
Pfd. St.
Kranken- und Unfallunterstützung[26]
Pfd. St.
Begräbnisgeld[27]
Pfd. St.
Vermögen
Pfd. St.
1892 102432 210243 68589 1618790
1893 112588 241638 75343 1385010
1894 122434 230233 70104 1580693
1895 131861 263966 76443 1747643
1896 142518 246788 75858 2187720
1897 152207 269784 82156       2273619[28]

Der Betrag des Vermögens, berechnet auf den Kopf des einzelnen Mitgliedes, ist sehr verschieden. Er betrug 1897 bei den 100 größten Vereinen:

  1 Schill. 4 d. bis weniger als 10 Schill. bei   19 Vereinen mit   148998 Mitgliedern
10     1 Pfd. St.   15     97180
  1 Pfd. St.     2   31   344472
  2     3   16   302237
  3     4     7     64804
  4 und darüber   12   101918
                    100 Vereine mit 1059609 Mitgliedern.

Die geringsten Beträge von 1 sh. 4 d. und 1 sh. 5 d. finden sich nur bei zwei Vereinen; der Höchstbetrag war 13 £. St. 4 sh. 11 d. Bei 57 Vereinen mit 646709 Mitgliedern = 60% belief er sich zwischen 1 und 3 Pfd. St.[59] Am niedrigsten stehen die Vereine, die sich auf Streikgeld beschränken, am höchsten diejenigen, welche möglichst alle Arten von Unterstützungen, insbesondere Alterspension, zahlen. Der Durchschnitt für die 100 Vereine belief sich

1892 auf 1 Pfd. St. 15 Schill.   9¾ Doll.   1895 auf 1 Pfd. St. 18 Schill.     2½ Doll.
1893 1 10   5¼   1896 2   5     6¼
1894 1 14   2¼   1897 2   2 11

Die Organisation der Frauen ist naturgemäß noch weit weniger vorgeschritten, als die der Männer; wo aber die Frauen organisiert sind, gehören sie überwiegend den von den Männern begründeten Vereinen an. Vereine, die ausschließlich aus Frauen bestanden, gab es 1897 nur 25 mit 7935 Mitgliedern gegenüber 114 gemischten, denen 161539 Männer und 111840 Frauen angehörten. In allen 139 Vereinen gab es also 119775 Frauen, so daß sie innerhalb der Gesamtzahl von 1609909 organisierten Arbeitern nur etwa 7% darstellen. Die genauen Verhältnisse der Verteilung zeigt folgende Tabelle:

Prozentsatz der weiblichen
Mitglieder
Zahl der Vereine Zahl der Mitglieder
Männer Frauen Zusammen
100   25     7935     7935
50 bis weniger als 100   63   38041 101895 139936
10   50   23   10208     6143   16351
unter 10   28 113290     3802 117092
Zusammen 139 161539 119775 281314

Weitaus die meisten der organisierten Frauen, nämlich 109180 = 91,1% in 91 Vereinen, sind in der Textilindustrie beschäftigt, wovon allein 74034 = 61,8% in 48 Vereinen auf die Baumwollweberei und 19996 = 16,7% in 18 Vereinen auf die Baumwollspinnerei entfallen. Von den 25 Vereinen mit ausschließlich weiblichen Mitgliedern bestehen nur zwei länger als seit 1874, fünf haben ein Alter von 10–18 Jahren, sieben ein solches von 5–10 Jahren und 11 sind jünger als 5 Jahre. Von den 25 Vereinen haben 20 weibliche Sekretäre.

Das Verhältnis der organisierten Arbeiter zu den nicht organisierten ist nicht genau zu bestimmen, zumal die letzte Volkszählung von 1891 die verschiedenen Beschäftigungsarten nicht streng sondert und deshalb nicht genau diejenigen ausscheiden läßt, die überhaupt für die Organisation in Betracht kommen, indem zu berücksichtigen ist, daß dies durch mancherlei Gründe, insbesondere jugendliches Alter, Gebrechlichkeit u. dgl. ausgeschlossen ist. Nach einer oberflächlichen Schätzung kann man die Anzahl der erwachsenen Männer in den Berufen, die für die Organisation in Frage kommen, auf etwa 7 Millionen annehmen, diejenige der Frauen auf 1 Million. Danach bedeutet die[60] Zahl von 1490134 männlichen und 119775 weiblichen Mitgliedern einen Prozentsatz von 21 bez. 12%. Scheidet man aber die Landwirtschaft aus, in der bisher nur 0,8% der Arbeiter organisiert sind, so steigt der Prozentsatz der männlichen Mitglieder von 21 auf 25%. Am höchsten steigt er im Bergbau und Hüttenbetriebe, indem hier von den insgesamt beschäftigten 776267 Arbeitern über 16 Jahren 282432 = 36% organisiert sind. In der Textilindustrie sind von 403669 beschäftigten Männern über 18 Jahren 108037 = 27% und von den 519915 Frauen gleichen Alters 109180 = 21% organisiert. Von der Gesamtbevölkerung bilden die Mitglieder der trade unions etwa 4%.

Die trade unions sind übrigens über die verschiedenen Gegenden des Königreiches sehr ungleichmäßig verteilt, wie folgende von S. und B. Webb aufgestellte Tabelle ergiebt:

Berufszweig England und Wales Schottland Irland Insgesamt
Maschinenbau u. Metallindustrie   233450   45300   8250   287000
Baugewerbe   114500   24950   8550   148000
Bergbau   325750   21250   347000
Textilgewerbe   184270   12330   3400   200000
Bekleidungs- u. Lederindustrie     78650     8400   2950     90000
Druckgewerbe     37950     5650   2400     46000
Verschiedene kleinere Berufe     46550     7450   4000     58000
Landarbeit., Transportgewerbe &c.   302880   21670 10450   335000
Gesamtsummen 1324000 447000 40000 1511000

Die nördlich vom Humber und Dee gelegenen sieben Grafschaften enthalten allein 726000 Mitglieder; dann folgen die industriellen Bezirke von Mittelengland, Leicester, Derby, Nottingham, Warwick, Gloucester, Northampton und Stafford mit 210000 und Südwales mit 89000, während London mit seiner nächsten Umgebung nur die verhältnismäßig geringe Zahl von 194000 Mitgliedern aufweist. Die führenden Bezirke sind Northumberland, Durham und Lancashire, wo in verschiedenen Berufen 80 bis 100% der Arbeiter Mitglieder ihrer Gewerkschaft sind. In diesen Gegenden bilden die trade unions in der That die ausschlaggebende Macht in der Arbeiterschaft; aber in vielen Bezirken gehören ihnen immerhin 50% der Arbeiter an, und da dies naturgemäß die tüchtigsten sind, so haben sie auch dort die unbestrittene Führerschaft.

Im wesentlichen liegt diese noch heute in der Hand der gelernten Arbeiter der Großindustrie; gegen 750000 Mitglieder gehören allein den drei großen Stapelindustrien an: dem Kohlenbergbau, dem Maschinen- und Schiffbau und der Baumwollenbearbeitung. Der plötzliche Aufschwung der ungelernten Arbeiter von 1889/90 hat rasch nachgelassen. Von den 200000 Eisenbahnarbeitern[61] sind nur 48000 organisiert, von denen noch die größere Zahl auf die höheren Stellungen der Schaffner und Lokomotivführer entfällt. Der Dockarbeiterverein, der 1890 57000 Mitglieder zählte, war schon 1893 auf 14000, 1894 auf 10000 und 1895 auf 9000 zurückgegangen. Die Nationale Union der Hafenarbeiter, der 1890 30000 Personen angehörten, hatte 1893 nur noch 11000 Mitglieder. Die Pferdebahn- und Omnibuskutscher, die Lagerhausarbeiter, Lastträger und städtischen Tagelöhner sind im wesentlichen wieder in den Zustand mangelnder Organisation zurückgesunken.

Die englische Gewerkschaftsbewegung hat insbesondere in den letzten Jahren die deutschen sozialistischen Gewerkschaften ebenso wie die Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine lebhaft angeregt; von beiden Seiten sind Versuche gemacht mit den englischen trade unions nähere Beziehungen anzuknüpfen. So war auf dem Kongresse in Edinburg auch ein Vertreter der deutschen sozialistischen Gewerkschaften, v. Elm, anwesend, dessen Beteiligung zu einer lebhaften Preßfehde zwischen diesen und den Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereinen Anlaß gegeben hat. Die „Generalkommission“ hat zugeben müssen, daß ihr keine Einladung zu dem Kongresse zugegangen war und v. Elm sich ohne eine solche nach Edinburg begeben hat, obgleich die „Generalkommission“ die trade unions zu ihrem II. Gewerkschaftskongresse in Berlin eingeladen hatte, was mit der Begründung abgelehnt war, daß die Einladung zu spät eingetroffen sei, um noch eine Sitzung des parlamentarischen Ausschusses abhalten zu können. Auch der Vorwurf des „Gewerkvereins“ ist als berechtigt anzuerkennen, daß v. Elm das Hauptgewicht seines in London gehaltenen Vortrages darauf gelegt habe, die Hirsch-Duncker'schen Vereine anzugreifen und herabzusetzen. Daß beide gewerkschaftliche Gruppen Deutschlands großen Wert darauf legen, Fühlung mit den trade unions zu erhalten und deren Autorität für ihre Sache zu benutzen, ist begreiflich und berechtigt, aber der Kampf der beiden Konkurrenten soll in Deutschland ausgefochten werden und nicht auf einem englischen Kongresse, auf dem, sofern überhaupt deutsche Gewerkschaften zugelassen werden, die eine Partei ebenso berechtigt ist, wie die andere. Die Haltung der trade unions, wie sie insbesondere durch die beiden Kongresse in Cardiff und Edinburg festgelegt ist, entspricht weder der Politik der sozialistischen Gewerkschaften, noch derjenigen der Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine, sondern bewegt sich auf einer Mittellinie, und es scheint wenig Aussicht vorhanden, daß sie diese zu Gunsten des einen oder anderen extremen Standpunktes verlassen werden; dazu sind sie zu sehr Männer des praktischen Lebens und Gegner aller theoretischen Prinzipien, mögen sie liegen in der Richtung des Sozialismus oder des Individualismus.

Auch die Gegner der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland haben versucht, aus den Kongreßbeschlüssen der letzten Jahre Kapital zu schlagen und insbesondere[62] aus den Beschlüssen in Liverpool und Norwich den Beweis hergeleitet, daß auch in England die G.-V. sich auf die Dauer nicht als derjenige Schutz gegen die Sozialdemokratie bewährt hätten, als welcher sie bis dahin gepriesen wären; man hat deshalb prophezeit, daß diese staatsgefährliche Bewegung jetzt sehr bald auch England erobert haben und dann für jeden klar ersichtlich sein werde, daß jedes Entgegenkommen gegenüber der Arbeiterbewegung lediglich zur Stärkung der Sozialdemokratie führe. Ich werde auf diese Frage an anderer Stelle zurückkommen und bemerke hier nur, daß es sehr viele Leute giebt, die für den Maximalarbeitstag eintreten und selbst den Achtstundentag für ein erstrebenswertes und im Laufe der Zeit erreichbares Ziel halten, ja die auch den Bodenwucher und die Gewinnung ungeheurer Vermögensmassen durch das Steigen des Grundwertes in den Großstädten ohne irgend welche eigene Arbeit für verwerflich halten und deshalb Anhänger der Bodenbesitzreform sind und gewisse Betriebe lieber in der Hand des Staates oder der Gemeinde als in derjenigen des Privatunternehmers sehen, ohne doch trotz aller dieser sozialistischen oder halbsozialistischen Neigungen in der spezifisch sozialdemokratischen Richtung der heutigen Arbeiterbewegung etwas anderes als eine auf das Tiefste zu beklagende Verwirrung zu sehen. Schon hier mag auch darauf hingewiesen werden, daß selbst die sozialistischen G.-V. in England in wichtigen und vielleicht entscheidenden Fragen eine durchaus entgegengesetzte Haltung einnehmen, wie die deutsche Sozialdemokratie. Vor allem teilen gerade die bedeutendsten sozialistischen Führer die geschichtlichen und sittlichen Ideale der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung: Vaterlandsliebe und Religion. Begeisterung für die Größe und Macht Englands macht sich auch bei ihnen in einer den Nichtengländer fast verletzenden Form geltend; häufig eröffnen sie ihre Versammlungen mit Gebet- und Liederandachten, und unerschrocken halten sie den Massen Strafpredigten über Unsittlichkeit und Ausschweifung. Eine große Anzahl von Geistlichen der englischen Staatskirche sind Mitglieder der Fabian Society. Aus der religiösen Gesinnung der englischen Sozialdemokraten ist im Jahre 1891 die Begründung der „Arbeiterkirche“ hervorgegangen, der die meisten der oben genannten Führer angehören. Sie steht auf einem freien, aber durchaus religiösen Boden, setzt sich aber das Ziel, „Mitglieder aller Klassen zu vereinigen, um die gewerbliche Sklaverei abzuschaffen“.

Uebrigens ist schon auf dem Kongresse in Belfast offen von Trennung der beiden mehrgedachten Richtungen gesprochen, und es liegt nicht außerhalb des Bereiches der Möglichkeit, daß hier neben dem vierten Stande der gelernten Arbeiter demnächst die Bildung eines neuen fünften Standes der ungelernten Arbeiter in Frage kommt.

Fußnoten:

[2] Die erste erschöpfende Bearbeitung des englischen Gewerkschaftswesens, die in gewisser Weise noch immer die Grundlage bildet, sind die Arbeiten von L. Brentano, insbesondere seine „Arbeitergilden der Gegenwart“, Leipzig 1871. In neuester Zeit ist diesen Arbeiten ergänzend zur Seite getreten das umfassende Buch von Sidney und Beatrice Webb: „Die Geschichte des Trade-Unionsmus“, London 1874, übersetzt von E. Bernstein, Stuttgart 1895, A. Dietz. Dieses Werk hat in der deutschen Litteratur mit Recht die allgemeinste Anerkennung gefunden; die Verfasser sind selbst Mitglieder der Fabian Society, stehen also auf dem Boden des Sozialismus, wahren sich aber nicht allein einen durchaus unabhängigen Standpunkt, sondern machen auch aus ihrer Abneigung gegen die Marxistische Sozialdemokratie so wenig ein Hehl, daß der Uebersetzer an mehreren Stellen in Anmerkungen ihnen deswegen Tadel zu teil werden läßt. In der folgenden Darstellung ist in erster Linie dieses Buch zu Grunde gelegt.

Die sonstige Litteratur ist in dem Aufsatze von L. Brentano „Die Gewerkvereine in England“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften IV, 7 und den Ausführungen von Biermer im I. und II. Erg.-Bande, S. 412 u. 440 zusammengestellt.

Seit dem 1. April 1891 erscheint in London das Wochenblatt „The Trade Unionist“.

Seit 1887 werden die amtlichen Labour Statistics „Statistic tables and reports on Trade Unions“ herausgegeben, umfangreiche Blaubücher als Anlagen zum Labour Correspondent (J. Burnett). Besonders wertvoll sind auch die Mitteilungen der von dem Labour Department der englischen Regierung in der Mitte jedes Monats herausgegebenen „Labour Gazette“, die seit Mai 1893 erscheint und eine umfassende Statistik aller auf die Arbeiterverhältnisse bezüglichen Thatsachen bietet. Vergl. außerdem L. Brentano: „Entwickelung und Geist der englischen Arbeiterorganisationen“ in Braun: „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, VIII, S. 75 ff., Galton, daselbst, XII, S. 449 ff. Ueber die Organisationen der Arbeiterinnen vergl. G. Dyrenfurth in Brauns Arch. VII, 166 ff.

[3] Arbeitergilden, Buch I, Kap. III, S. 83.

[4] Zur Geschichte der deutschen Gesellenverbände, Leipzig 1877, S. 25 ff.

[5] A. a. O. S. 163.

[6] Webb, a. a. O. S. 175.

[7] Unter amalgamation versteht man die völlige Verschmelzung verschiedener Berufe zu einer einheitlichen Organisation, während federation ein bloßes Bündnis selbständiger Vereine bedeutet.

[8] Webb, a. a. O. S. 189 ff.

[9] A. a. O. S. 216.

[10] Webb, a. a. O., S. 270.

[11] Webb, a. a. O., S. 352.

[12] Webb, a. a. O.

[13] Webb, a. a. O., S. 353.

[14] Siehe unten.

[15] Später hat auch Broadhurst sich zu dem Grundsatze des Achtstundentages bekehrt und ist 1893 von neuem in das parlamentarische Komitee gewählt.

[16] Vergl. unten.

[17] Auch in dem stärksten der englischen Gewerkvereine, nämlich der schon erwähnten neuen Union der Bergarbeiter (miners federation), der um so mehr Interesse bietet, als in ihm die ältere und die jüngere Richtung sich am schärfsten bekämpfen, hat auf der am 3. Januar 1897 in Leicester abgehaltenen Generalversammlung, in der 326214 Mitglieder durch 54 Abgeordnete vertreten waren, die gemäßigte Richtung den Sieg gewonnen, indem der Antrag der Abteilung Schottland, sich für Verstaatlichung aller Produktionsmittel zu erklären, abgelehnt und statt dessen der Antrag von Yorkshire angenommen wurde: „Die Federation erachtet es zur Erhaltung der britischen Industrie für absolut notwendig, den Grund und Boden, die Bergwerke, Bergwerksgerechtigkeiten und die Eisenbahnen des Landes zu verstaatlichen.“

[18] Ich folge im allgemeinen der Darstellung von Clement Edwards in Brauns, Archiv für soziale Gesetzgebung XII, 626 ff.

[19] Die bisher abgehaltenen Kongresse sind folgende: 1. Manchester, 2. Juni 1868, 118367 Mitglieder mit 34 Vertretern; 2. Birmingham, 23. August 1869, 250000 M. mit 48 V.; 3. London, 6. Mai 1871, 287430 M. mit 50 V. Hier wurde zum erstenmale ein parlamentarisches Komitee gewählt. 4. Nottingham, 8. Januar 1872, 255710 M. mit 77 V. Hier wurden die Abgesandten politischer Vereinigungen, die erschienen waren, zurückgewiesen. 5. Leeds, 13. Januar 1873, 730074 M. mit 130 V.; 6. Sheffield, 12. Januar 1874, angeblich 1191922 M. mit 169 V., doch ist man einig, daß diese hohe Ziffer durch Doppelzählungen herbeigeführt ist. 7. Liverpool, 18. Januar 1875, 818032 M. mit 151 V.; 8. Glasgow, 11. Oktober 1875, 539823 M. mit 139 V.; 9. Newcastle on Tyne, 18. September 1876, 556488 M. mit 140 V.; 10. Leicester, 17. September 1877, 691089 M. mit 114 V.; 11. Bristol, 9. September 1878, 623927 M mit 136 V.; 12. Edinburg 1879, 541892 M. mit 115 V.; 13. Dublin, 16. September 1880, 494222 M. mit 105 V.; 14. London, 12. September 1881, 463899 M. mit 157 V.; 15. Manchester, 13. September 1882, 509337 M. mit 153 V.; 16. Nottingham 1883, 471651 M. mit 163 V.; 17. Aberdeen, 8. September 1884, 569033 M. mit 141 V.; 18. Southport, 7. September 1885, 580976 M. mit 141 V.; 19. Hull, 6. September 1886, 633088 M. mit 143 V.; 20. Swansea, 5. September 1887, 674034 M. 156 V.; 21. Bradford, 3. September 1888, 674634 M. 150 V.; 22. Dundee, 2. September 1889, 885055 M. mit 211 V.; 23. Liverpool, 1. September 1890, 1470191 M. 457 V.; 24. Newcastle on Tyne, 7. September 1891, 1302855 M. mit 552 V.; 25. Glasgow, 5. September 1892, 1219934 M. mit 418 V.; 26. Belfast, 4. September 1893, 900000 M. mit 380 V.; 27. Norwich, 3. September 1894, 1080545 M. mit 372 V.; 28. Cardiff, 2.–6. September 1895, 951000 M. mit 345 V.; 29. Edinburg, 7.–12. September 1896, 1035341 M. mit 346 V.; 30. Birmingham, 6.–11. September 1897, 1093191 M. mit 381 V.; 31. Bristol, 29. August bis 3. September 1898, 1176896 M. mit 406 V.

Seit 1874 veranstalten die irischen Gewerkvereine jährliche Sonderkongresse, da die meist kleineren Vereine nicht imstande sind, die Kosten eines Abgesandten für die englischen Kongresse zu tragen. Der dritte irische Kongreß wurde im Mai 1896 in Limerick abgehalten; es waren auf ihm 50000 Mitglieder vertreten (Vgl. Labour Gazette, Juni 1896, S. 177). Auch die schottischen Gewerkvereine sind jetzt diesem Beispiele gefolgt, indem sie den ersten schottischen Kongreß im März 1897 in Glasgow abgehalten haben; auf demselben waren 38 Vereine mit 41000 Mitgliedern vertreten (Vgl. Report of the first annual Scottish trade unions congress. Glasgow, March 1897).

[20] Webb, a. a. O. S. 420.

[21] Webb, a. a. O. S. 423.

[22] Report of the chief labour correspondent of the board of trade on trade unions in 1897 with comparative statistics for 1892–1896. London 1898, Darling & Son.

[23] Für fünf kleine Vereine mit zusammen 4834 Mitgliedern ist die Gründungszeit nicht zu ermitteln gewesen.

[24] Die Abweichung dieser Ziffern mit den oben angegebenen ist in dem Berichte nicht erläutert, scheint aber auf der schwierigen Unterscheidung zwischen Streikgeld und Arbeitslosenunterstützung zu beruhen.

[25] Diese wird nur von 40 Vereinen gezahlt.

[26] Nur 49 Vereine zahlen Krankengeld, nur 44 zahlen Unfallunterstützung.

[27] Das Begräbnisgeld ist am allgemeinsten verbreitet; es wird von 87 Vereinen mit 954965 Mitgliedern gezahlt. Der Betrag schwankt zwischen 2 und 30 Pfd. St., meist ist er 10, 12 oder 15 Pfd. St. Zuweilen wird es auch beim Tode von Frauen oder Kindern gezahlt.

[28] Die verhältnismäßig geringe Zunahme gegen 1896 erklärt sich daraus, daß der Maschinenbauerstreik in den betreffenden Vereinen eine Verminderung des Vermögens im Betrage von 130725 Pfd. St. verursacht hatte.

[63]

II. Frankreich[29].

Der Grundzug der Entwickelung, den wir in England beobachtet haben, tritt uns auch in Frankreich entgegen. Auch hier finden wir zunächst die entschiedenste Ablehnung aller fachvereinlichen Bestrebungen sowohl seitens der Unternehmer wie seitens der öffentlichen Meinung und der Gesetzgebung, aber ebenso das allmähliche Vordringen der Ueberzeugung, daß nur auf diesem Wege eine friedliche soziale Entwickelung möglich sei, und schließlich den völligen Sieg dieser Bewegung über die früheren Vorurteile, ja endlich auch die feindliche Stellung, welche die Sozialdemokratie zu derselben einnimmt. Dabei ist es interessant, daß die beiden großen Revolutionen von 1789 und 1848, weit entfernt, der Arbeiterbewegung Vorschub zu leisten, derselben vielmehr in durchaus bureaukratischer Weise die engsten Fesseln angelegt haben, ein Beweis für die neuerdings oft gemachte Bemerkung, daß diesen Revolutionen der soziale Karakter noch völlig fehlte, daß sie lediglich politischer Natur waren und daß der Arbeiterstand, der zu einem Klassenbewußtsein noch nicht erwacht war, sich bei ihnen lediglich von den bürgerlichen Parteien hat ins Schlepptau nehmen lassen.

Seit dem 16. Jahrhundert waren gegen die Gesellenverbände (compagnonnages) Gesetze erlassen, die jede Vereinigung verboten. Dies wurde zwar durch die Revolution zunächst insofern geändert, als das Gemeindegesetz vom 16. Dezember 1789, Art. 62, allen französischen Bürgern das Recht gab, sich friedlich und ohne Waffen zu vereinigen, um Adressen und Petitionen zu beraten, wobei nur die vorherige polizeiliche Anmeldung vorgeschrieben war. Aber obgleich diese Bestimmung durch das Polizeigesetz vom 19. Juli 1791, Art. 14, auf alle Vereine und Klubs erstreckt und in Tit. I, Art. 3 der Verfassung von 1791 und Art. 7 der Verfassung von 1793 wiederholt wurde, so galt sie doch nicht für gewerkschaftliche Vereinigungen, vielmehr verbot das Gesetz vom 14./27. Juni 1891 in Art. 4 alle Vereinigungen von Bürgern desselben[64] Standes oder Gewerbes und erklärte, daß solche Vereine ebenso wie Unternehmer, Inhaber von offenen Läden und Arbeiter oder Gesellen irgend eines Gewerbes nicht das Recht hätten, in ihren Versammlungen Vorsitzende, Sekretäre und Sachwalter zu bestellen, Register zu führen und über ihre angeblichen gemeinsamen Interessen Beschlüsse zu fassen, zu beraten oder Statuten zu erlassen. In gleicher Weise verbot das Gesetz vom 28. Septbr./6. Oktober 1791, Tit. II, Art. 20, die Koalitionen der ländlichen Arbeiter und Dienstboten.

Dieser Standpunkt wurde auch später beibehalten, indem man zugleich das Vereins- und Versammlungsrecht im allgemeinen erheblich einschränkte. Schon die Verfassung vom 5. Fructidor III (1795) verbot alle Vereine, die der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufen und gab dadurch der Regierung das freie Auflösungsrecht. Zugleich wurden durch das Dekret vom 6. Fructidor III alle Klubs aufgehoben und durch das Dekret vom 22. Ventôse VI (14. März 1798) alle politischen Vereine geschlossen. Der Code pénal von 1810 forderte nicht allein für jeden Verein mit mehr als 20 Mitgliedern polizeiliche Genehmigung (Art. 291–294), sondern hielt das schon durch das Gesetz vom 22. Germinal XI (12. April 1803) erlassene Verbot aller Vereinigungen der Arbeiter und der Arbeitgeber aufrecht (Art. 414–416). Die Ungerechtigkeit, die darin lag, daß die Uebertretung dieses Verbotes bei den Arbeitgebern neben Geldbuße nur mit Gefängnisstrafe von 6 Tagen bis 1 Monat, bei den Arbeitern aber mit Gefängnis von 1–3 Monaten und bei den Anstiftern sogar mit Gefängnis von 2–5 Jahren bedroht war, wurde erst durch das Gesetz vom 27. November 1849 aufgehoben und gegen Arbeiter und Arbeitgeber die gleiche Strafe festgesetzt.

Die Verfassung vom 4. November 1848 hatte freilich in Uebereinstimmung mit dem Gesetze vom 28. Juni 1848 die Vereins- und Versammlungsfreiheit ausgesprochen, aber schon durch Gesetz vom 19. Juni 1849 wurde der Regierung das Recht, Vereine und Versammlungen im öffentlichen Interesse aufzulösen und zu verbieten, wiedergegeben, und durch Gesetz vom 25. März 1852 wurde einfach das Gesetz vom 28. Juni 1848 aufgehoben und der frühere Rechtszustand wieder hergestellt. Die Folge war das Blühen zahlreicher geheimer Gesellschaften.

Auch Napoleon III. verfolgte zunächst diese Politik, und von 1853–1862 wurden 3909 Arbeiter wegen Teilnahme an 749 verbotenen Vereinen bestraft. Erst als der Kaiser die Bedeutung des in der sozialen Bewegung enthaltenen Machtfaktors für seine Interessen erkannte, änderte sich seine Politik. Zunächst wurde durch Gesetz vom 30. Mai 1864 das Koalitionsverbot des Code pénal Art. 414–416 insoweit beseitigt, als nur diejenigen strafbar sein sollten, die[65] durch Gewalt, Drohung oder betrügerische Vorspiegelungen eine Arbeitseinstellung zum Zwecke einer Erhöhung oder Erniedrigung der Löhne herbeizuführen oder die freie Ausübung der Industrie oder der Arbeit zu beschränken versuchen, sowie die Arbeiter oder Arbeitgeber, welche nach einem verabredeten Plane durch Sperren, Bußen oder Verrufserklärungen die Freiheit der Industrie oder der Arbeit beeinträchtigen. Dabei blieb aber das allgemeine Vereinsgesetz auch für die Vereine der Arbeiter und Arbeitgeber in Kraft. Noch weiter ging man im Jahre 1868, indem man seitens der Regierung erklärte, daß man den Fachvereinen der Arbeiter, sofern sie sich von Politik fernhielten, dieselbe Duldung gewähren werde, wie sie bisher schon — wenngleich im Widerspruche zu dem Gesetze — den Vereinen der Arbeitgeber gewährt war. Zugleich ersetzte das Gesetz vom 6. Juni 1808 allgemein für alle nicht politischen Versammlungen das bisherige System der polizeilichen Genehmigung durch die bloße Anmeldung. Die Folge dieser freieren Stellung war zunächst in den Jahren 1868–1870 eine wilde Streikbewegung, die aber fast ausnahmslos ohne Erfolg war.

Die neuere Entwicklung der Arbeitergewerkschaften hat sich in engem Anschlusse an die politische Bewegung der Arbeiterschaft vollzogen und ist durch deren Spaltungen erheblich beeinflußt.

Nachdem die Ausbreitungen der Kommune im Jahre 1871 zu dem Erlasse des Gesetzes vom 14. März 1872 gegen die Internationale und überhaupt zu einem entschiedeneren Auftreten der Regierung gegen die ganze Arbeiterbewegung geführt hatten, wurde der Versuch, die Gewerkschaften zu organisieren, zunächst nicht von der sozialdemokratischen, sondern von der radikalen Partei wieder aufgenommen. Das gilt insbesondere auch von dem ersten allgemeinen französischen Arbeiterkongresse, der vom 2.–10. Oktober 1876 in Paris abgehalten wurde und auf dem 101 Gewerkschaften und 46 lokale Arbeitervereine (cercles d'étude) aus 39 Städten mit einer angeblichen Mitgliederzahl von 1 Million Arbeitern durch 360 Abgeordnete vertreten waren. Er war von der radikalen Zeitung „La Réforme“ zusammenberufen, während die Kosten von dem Minister Crémieux getragen wurden. Man betonte ausdrücklich, daß man sich nicht mit sozialpolitischen Prinzipien, sondern mit rein wirtschaftlich-praktischen Arbeiterangelegenheiten befassen und die Auseinandersetzung zwischen Arbeit und Kapital auf friedlichem Wege herbeiführen wolle. Man forderte die ungehinderte Entwicklung der Gewerkschaften (chambres syndicales) durch Abschaffung aller einschränkenden Gesetze und Erteilung der juristischen Persönlichkeit, volle Autonomie derselben bezüglich aller einschlagenden Fragen, insbesondere des Genossenschaftswesens, der Versorgungskassen, der gewerblichen Ausbildung und durch Vereinigung aller Arbeitersyndikate[66] zu einer „Union nationale“ behufs Vertretung der Gesamtinteressen der französischen Arbeiterschaft, Einführung des Maximalarbeitstages, Reform des Fabrikwesens hinsichtlich die Frauen-, Kinder- und Nachtarbeit und der Fabrikaufsicht, Umgestaltung der Schiedsgerichte zur möglichsten Vermeidung der Streiks u. s. w., kurz, der erste französische Gewerkschaftskongreß stellte sich ganz auf den Boden des englischen Trade-Unionismus, ja auf demselben wurde sogar energisch gegen die Vermischung mit der Politik protestiert und betont, daß man ehrgeizigen Führern, welche das Volk nur benutzen wollten, um ihren persönlichen Interessen zu dienen, nicht folgen solle.

Das äußere Ergebnis des Kongresses war die Gründung des Blattes „Le Prolétaire“, das von den Vertretern der Pariser Syndikate geleitet wurde, und die Einsetzung einer Exekutivkommission, die mit den Abgeordneten der parlamentarischen Linken Fühlung zu nehmen hatte, indem man bei ihnen solange Belehrung suchen wollte, bis man eigene Arbeiterkandidaten werde durchsetzen können.

Es ist begreiflich, daß die Partei der Revolution, die durch Gefangensetzung und Verbannung ihrer thätigsten Anhänger auf Grund des Kommuneaufstandes zunächst machtlos war, sich über die auf dem Pariser Kongresse eingeschlagene Richtung empörte. In einem aus London datierten, von der „Commune révolutionnaire“ unterzeichneten Schriftstücke mit dem Titel: „Les Syndicaux et leur Congrès“ beschuldigte man die Gewerkschaften des offenen Verrates an der Sache der Revolution. Zugleich suchten einige jüngere Anhänger dieser Richtung, unter ihnen auch der soeben zum Marxismus bekehrte spätere Parteiführer Guesde, durch Gründung des Blattes „L'Egalité“ der sozialdemokratischen Bewegung einen festen Halt zu geben.

Auf dem vom 28. Januar bis 8. Februar 1878 in Lyon abgehaltenen zweiten Gewerkschaftskongresse war die revolutionäre kollektivistische Richtung bereits vertreten und forderte die Ueberführung der Produktionsmittel in Gemeinbesitz, indem sie erklärte, daß sie die Gewerkschaften nicht als Mittel, die Lage der arbeitenden Klassen zu bessern, sondern nur als Organisierung des Klassenkampfes ansehen könnte; jede Beziehung zu der bürgerlichen Demokratie müßte abgebrochen, eine eigene Arbeiterpartei geschaffen und der Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung angestrebt werden. Aber diese Anträge wurden gegen etwa 10 Stimmen abgelehnt und von den Wortführern der Mehrheit nicht allein der Kollektivismus verworfen, sondern sogar erklärt, daß auch die Streiks zu mißbilligen seien, da sie zur Verteuerung der Waren führten; man müsse überhaupt das Heilmittel in der Bethätigung der individuellen Freiheit erblicken. Revolutionen führten, abgesehen von den Opfern, die sie kosteten, nur zur Diktatur.

[67]

Aber die Mehrheit war unter sich nicht einig; sie bestand aus Vertretern der unter dem Einflusse von Buchez ins Leben gerufenen Genossenschaftsbewegung, denen sich auch die Anhänger Proudhons anschlossen, und endlich den Mitgliedern der neuen Schule der Possibilisten unter Führung von Finance. Einer ihrer Hauptführer war Vaillant, der später insbesondere im Pariser Gemeinderate eine hervorragende Rolle spielte.

Unter diesen Umständen ist es erklärlich, daß die revolutionären Elemente allmählich an Einfluß gewannen. Zunächst ging das Blatt „Le Prolétaire“ im Jahre 1878 in die Hände von Benoit Malon und Paul Brousse über, die ihrerseits die Ideen Proudhons mit dem System von Marx zu vermitteln suchten. Daneben entstanden andere Blätter derselben Richtung, z. B. „Le Citoyen“, „La Bataille“, „La Commune libre“.

So vorbereitet, hoffte man, auf dem folgenden dritten Kongresse, der vom 20.–31. Oktober 1879 in Marseille stattfand, den entscheidenden Schlag führen zu können, und man hatte sich nicht getäuscht. Dieser Kongreß hat für die soziale Bewegung in Frankreich die größte Bedeutung, sowohl durch die Anzahl der Teilnehmer, wie durch die dort gefaßten Beschlüsse. Gegen 250 Syndikate und 100 andere Organisationen waren durch 130 Abgeordnete vertreten; das Kongreßprotokoll umfaßt 820 Seiten. In Widerspruch zu der von dem Exekutivkomitee der Regierung gegenüber abgegebenen Zusicherung, alle Fragen politischen und internationalen Karakters fern zu halten, beschloß die Mehrheit, für die selbständige Organisation der Arbeiterklasse einzutreten und zu dem Zwecke nicht allein an den politischen, sondern auch an den kommunalen Wahlen teilzunehmen. Als Mittel, durch welches allein die Emanzipation der Arbeiterklasse erreicht werden könne, bezeichnete man die Einführung des Kollektiveigentums an allen Produktionsmitteln. Zum Zwecke der Durchführung dieser Beschlüsse, deren genauere Festsetzung dem folgenden Kongresse vorbehalten wurde, teilte man Frankreich in 6 Distrikte: 1. Zentrum mit Paris, 2. Norden mit Lille, 3. Osten mit Lyon, 4. Westen mit Bordeaux, 5. Süden mit Marseille, 6. Algier. Als Mittel wurde auch die Anwendung von Gewalt für zulässig erklärt.

Die Minderheit des Kongresses, die insbesondere von Finance vertreten wurde, bestritt freilich die Gesetzlichkeit der Abstimmung, und 23 Abgeordnete legten einen formellen Protest ein, aber das Ergebnis wurde dadurch nicht geändert: die Leitung der gewerkschaftlichen Bewegung war an die revolutionäre Partei und insbesondere an die Kollektivisten übergegangen.

Aber begreiflicherweise wollten die überstimmten Vertreter des gewerkschaftlichen Gedankens sich dieser Entthronung nicht fügen, und so beginnt von[68] jetzt an die für die französische Bewegung karakteristische Spaltung in eine große Anzahl sich heftig bekämpfender Gruppen.

Zunächst vollzog sich auf dem Kongresse von Havre (14.–22. November 1880) die Scheidung der politischen von der rein gewerkschaftlichen Richtung, von denen die erstere durch 55, die letztere durch 57 Abgeordnete vertreten war. Beide hielten nach der Trennung ihre Sitzungen nebeneinander und beanspruchten, als der eigentliche Kongreß angesehen zu werden.

Die gewerkschaftliche Gruppe, deren Hauptführer Clémenceau war, gab sich den Namen „Alliance socialiste républicaine“ und schuf sich neben dem Blatte „La ville de Paris“ noch ein besonderes Organ „Le moniteur des syndicats ouvriers“.

Die politische Gruppe hatte durch ihre beiden Führer Guesde und Lafargue (Schwiegersohn von Marx) unter der Beihülfe von Marx und Engels in London ein ausführliches Programm ausarbeiten lassen, das sie in Havre annahm und in welchem erklärt wurde, daß die Gewerkschaften und die Streiks nur Hülfsmittel für die Organisation und die Agitation seien.

Aber die Einigkeit auf seiten der Kollektivisten fand schon auf ihrem Kongresse in Reims (30. Oktober bis 5. November 1881), auf dem 45 Abgeordnete als Vertreter von etwa 300 Gewerkschaften und sozialistischen Gruppen (Studienzirkeln) erschienen waren, ein frühes Ende. Hier waren auch die „Anarchisten“ oder „Kommunisten“ vertreten, die gegen die Tyrannei der Führer protestierten und in den aufgestellten Forderungen nur ein „Minimalprogramm“ sehen wollten, das je nach den örtlichen Verhältnissen Erweiterungen zulaße. Vor allem aber widerstrebten sie der von der Mehrheit beabsichtigten straffen Organisation, die lokal, regional und national gegliedert sein, in einem aus je fünf Vertretern jeder der sechs Distrikte und je einem Vertreter jeder national organisierten Gewerkschaft gebildeten Nationalkomitee mit dem Sitze in Paris gipfeln und die Aufgabe haben sollte, die Verbindung unter den einzelnen Vereinigungen und mit dem Auslande aufrecht zu erhalten. Schließlich verließ die Minderheit unter Protest den Kongreß.

Aber auch unter der Mehrheit zeigte sich der Beginn weiterer Streitigkeiten zwischen den Marxisten, vertreten durch Guesde und Lafargue und den Anhängern von Brousse, denen sich auch Malon anschloß. Der Gegensatz war mehr persönlich als sachlich. Die Broussisten erklärten, daß sie die Ideen aber nicht die Autorität von Marx anerkennen und sich nicht dessen Leitung unterwerfen wollten. So richtete sich die von Brousse und Malon durchgesetzte Gründung eines Nationalkomitees hauptsächlich gegen die bisher von Guesde ausgeübte Diktatur und hatte deshalb eine persönliche Spitze.[69] Spielte bei dem Gegensatze ferner auch die nationale Eitelkeit zweifellos eine Rolle, so handelte es sich doch zugleich um einen Einfluß der alten Proudhon'schen Erinnerungen.

Obgleich man die Austragung dieser Streitigkeiten dem folgenden Kongresse vorbehielt, setzten sie sich doch in der Presse und insbesondere in heftigen Fehden zwischen dem auf dem Kongresse als Parteiorgan anerkannten „Prolétaire“ und den an die Stelle der „Égalité“ getretenen Blättern „Le Citoyen“ und „La Bataille“ fort, ja man beschuldigte sich gegenseitig des Verrates und der Beziehungen zur Polizei. Als Joffrin, der in den Pariser Gemeinderat gewählt wurde, dabei von dem Marseiller Programm insofern abwich, als er sich nicht für die Abschaffung des Erbrechts für Erbschaften über 20000 Fr. aussprach und nicht den Achtstundentag, sondern nur allgemein die gesetzliche Festsetzung der Arbeitszeit forderte, wurde er von den Marxisten auf das heftigste angegriffen.

Der Bruch vollzog sich dann auf dem Kongresse von Saint-Etienne (24. September bis 1. Oktober 1882), auf dem 200 Gewerkschaftler und 150 Studienzirkel vertreten waren. Die Marxisten wurden bei der Wahl des Nationalkomitees mit 66 gegen 6 Stimmen ausgeschlossen, worauf sie in Stärke von 27 Abgeordneten als Vertretern von 37 Vereinen den Kongreß verließen, sich nach Roanne begaben und dort einen Gegenkongreß abhielten.

Die Mehrheit von 86 Abgeordneten als Vertretern von 401 Vereinen tagte in St. Etienne weiter und beschloß, das Hauptgewicht auf die Bildung von Gewerkschaften zu legen. Da sie erklärten, daß sie die politische Thätigkeit nicht als bloße Vorschule der Organisation betrachteten, sondern ihr Ziel auf das Nächstliegende und insbesondere auf die praktische Arbeit richteten, so nannten die Marxisten sie spöttisch: „Les Possibilistes.“ Sie selbst änderten ihren Namen auf dem vom 30. September bis 7. Oktober 1883 in Paris abgehaltenen Kongresse in „Fédération des travailleurs socialistes de France“ und beschlossen, ohne grundsätzlich auf die Revolution zu verzichten, doch sich vorwiegend mit praktischen Fragen, insbesondere dem Versicherungs- und Lehrlingswesen, Schiedsgerichten u. s. w., beschäftigen zu wollen.

Die rein gewerkschaftliche Richtung, die sich in Havre von den Kollektivisten getrennt hatte, hielt seitdem unter den Namen „Alliance socialiste républicaine“ eigene Kongresse ab, so vom 27. November bis 5. Dezember 1881 in Paris und vom 3.–12. September 1882 in Bordeaux. Sie organisierte eine Zentralstelle in der „Union des syndicats“ in Paris mit dem eigenen Organ „Le Moniteur des syndicats ouvriers“. Sie schloß jede politische Thätigkeit aus und beschränkte sich ganz auf die[70] wirtschaftliche Hebung der Arbeiterklasse durch Gewerkschaften, und zwar thunlichst im Wege friedlicher Verständigung mit den Syndikaten der Unternehmer. In der That erreichte sie eine weitgehende Verständigung mit diesen auf dem Wege gegenseitiger Nachgiebigkeit.

Das wichtigste Ereignis in der Entwicklung der gewerkschaftlichen Bewegung in Frankreich bildet das umfassende und segensreiche Syndikatsgesetz (Loie rélative à la creation des Syndicats professionels) vom 21. März 1884.

Das Gesetz verfügt zunächst die Aufhebung des Gesetzes vom 14./27. Juni 1791 und des bereits durch Gesetz vom 30. Mai 1864 abgeänderten Art. 416 des Code pénal und erklärt die Art. 291–294 des letzteren sowie das Gesetz vom 10. April 1834[30] auf die Syndikate für nicht anwendbar und bestimmt dann, daß gewerbliche Vereinigungen auch in größerer Mitgliederzahl als 20, sofern diese Personen denselben oder einen verwandten Beruf ausüben, sich ohne Erlaubnis der Regierung bilden können. Die Syndikate dürfen sich nur mit dem Studium oder der Verteidigung wirtschaftlicher, industrieller kommerzieller und landwirtschaftlicher Interessen beschäftigen. Sie brauchen nur die Statuten und die Namen der Vorstandsmitglieder, sowie jede Veränderung bei der Behörde anzuzeigen und die Vorschrift zu befolgen, daß alle Vorstandsmitglieder Franzosen und im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte sein müssen, um das Recht der juristischen Persönlichkeit und die Befugnis zur Erhebung von Beiträgen zu erlangen. Grundstücke dürfen sie allerdings nur insoweit erwerben, als sie für ihre Versammlungen, Bibliotheken und Unterrichtskurse notwendig sind. Sie dürfen Arbeitsnachweise begründen und für ihre Mitglieder Hülfskassen jeder Art errichten. Endlich ist es ihnen gestattet, innerhalb des ihnen selbst zugewiesenen Rahmens Verbände zu bilden, denen aber das Recht der juristischen Persönlichkeit und des Grunderwerbes vorenthalten ist. Jedes Mitglied der Syndikate hat das durch Statutenbestimmung nicht einzuschränkende Recht, vorbehaltlich der Beitragspflicht für das laufende Jahr jederzeit auszuscheiden, ohne daß dabei das durch Beitragszahlungen erworbene Recht an den bestehenden Hülfskassen verloren geht. Uebertretungen des Gesetzes werden an den Vorstandsmitgliedern mit Strafen von 16–200 Frcs. bestraft, doch kann von den Gerichten auch auf Schließung des Vereins erkannt werden.

Durch ein späteres Gesetz vom 30. November 1892 wurde bestimmt,[71] daß auch Aerzte, Zähnärzte und Hebammen, nicht aber Staats- und Gemeindebeamten unter das Syndikatsgesetz fallen.

Daß ein Gesetz von solcher Bedeutung nicht ohne lebhaften Widerspruch geschaffen werden konnte, liegt auf der Hand, und es hat nicht an Stimmen gefehlt, die von demselben die Auflösung aller staatlichen Ordnung vorhersagten. Aber die sowohl auf der Linken wie auf der Rechten der französischen Kammer verteidigte Ansicht, daß gerade umgekehrt die gesetzliche Organisation der Fachvereine zu einer sozialen Beruhigung führen werde, hat schließlich den Sieg davon getragen.

Für die Arbeiterklasse war dieses Gesetz ein Ferment, welches zu lebhaften Auseinandersetzungen und völlig neuen Gruppenbildungen führte. Die revolutionäre Richtung, die durch dasselbe den Verlust ihres Einflusses befürchtete, suchte es als ein Werk der Reaktion zu bekämpfen und die ihr zugänglichen Vereine zu bestimmen, sich ihm nicht zu unterwerfen, insbesondere also ihre Anmeldung, durch die sie die im Gesetze gewährte Stellung erlangen konnten, nicht vorzunehmen. Um dieser Bewegung entgegenzuwirken, veranstalteten die Syndikate der Rhonegegend unter Begünstigung seitens der Regierung im Jahre 1886 einen Kongreß in Lyon, der lediglich für die gewerkschaftliche Richtung unter Ausschluß der politischen Parteien bestimmt sein sollte und der deshalb als der erste Gewerkschaftskongreß bezeichnet werden kann. Aber trotz dieser Beschränkung erklärten sich auf dem Kongresse, auf dem 248 Syndikate durch 158 Abgeordnete vertreten waren, 74 Stimmen gegen und nur 29 für das Gesetz, obgleich von den 248 Syndikaten sich 88 demselben unterworfen hatten. Ja es kam sogar zu Ausschreitungen, indem die dreifarbige Fahne zerrissen und an ihrer Stelle die rote aufgezogen wurde. Die „Union des syndicats ouvriers“ blieb in der Minderheit, und um gegen sie ein Gegengewicht zu schaffen, beschloß der Kongreß die Bildung eines Verbandes aller Syndikate unter dem Namen: „Fédération nationale des syndicats ouvriers“. Zur Leitung der Geschäfte ernannte man ein Nationalkomitee, dessen sich nun die verschiedenen Parteien zu bemächtigen suchten. Die Possibilisten, die es nach Paris verlegen wollten, unterlagen jedoch den Marxisten, die durchsetzten, daß es in der Provinz bleiben und seinen Sitz jährlich wechseln sollte.

Auch auf dem folgenden II. Kongresse, der 1887 in Montluçon stattfand, waren die Marxisten in der Mehrheit, so daß sich die Possibilisten nach Charleville zurückzogen. Die rein gewerkschaftliche Richtung hatte sich infolge ihrer Niederlage in Lyon ganz fern gehalten.

Dasselbe Bild zeigte der III. Kongreß von Bordeaux 1888, auf dem die Marxisten zuerst einen Beschluß zu Gunsten des Generalstreiks durchsetzten,[72] indem sie behaupteten, daß nur auf diesem Wege das Ziel der Sozialisierung der Produktionsmittel zu erreichen sei.

Für eine Zeit lang wurde die bisherige Entwicklung des Parteiwesens innerhalb der Syndikate durchbrochen durch die Boulangistische Bewegung (1887–1890), die von den Marxisten begünstigt, dagegen von den Possibilisten bekämpft wurde, während die Blanquisten sich in zwei Lager teilten. Dieser Umstand sowie die Weltausstellung hinderte im Jahre 1889 die Veranstaltung eines Gewerkschaftskongresses. Statt dessen fanden in Paris zwei internationale Arbeiterkongresse statt, von denen der eine durch die Marxisten in Verbindung mit den Blanquisten, der andere von den Possibilisten mit Unterstützung der englischen trade unions einberufen war[31].

Der IV. Kongreß von Calais 1890 brachte keine Aenderung der Lage. Er beschloß auf Anregung der Marxisten, daß die Bergarbeiter in den Generalstreik einzutreten hätten, um durch Mangel an Kohlen auch die übrigen Industrien zum Stillstande zu bringen und so die Beseitigung der bestehenden Wirtschaftsordnung zu erzwingen. Man erklärte dabei, daß eine gewaltsame Revolution bei den modernen Waffen unmöglich sei, daß aber ebensowenig auf dem Wege der Eroberung der politischen Macht durch das allgemeine Wahlrecht ein durchgreifender Erfolg zu erzielen sei, Abhülfe biete nur die „Revolution der untergeschlagenen Arme“. Die Bergarbeiter leisteten aber diesem Beschlusse keine Folge.

Wie die bisherige Darstellung ergiebt, vollzieht sich die gewerkschaftliche Bewegung in Frankreich zwar formell unabhängig von der politischen, indem die Kongresse lediglich gewerkschaftlichen Karakter tragen und die Kongresse der politischen Parteien neben ihnen hergehen. In Wahrheit jedoch bestimmen sich die verschiedenen gewerkschaftlichen Richtungen völlig durch die politischen Gegensätze. Aus diesem Grunde muß hier auch die Geschichte der politischen Parteien verfolgt werden.

In dieser Hinsicht ist von Interesse, daß sich nicht allein auf dem Kongresse der Possibilisten von 1890 in Chatellerault eine Spaltung zwischen den Anhängern von Brousse und Allemane vollzog, auf die später noch zurückzukommen ist, sondern daß die Marxisten, seit sie bei den Gemeinderatswahlen von 1892 und 1893 erhebliche Erfolge erzielt hatten, ihre Haltung nicht unwesentlich änderten. Während sie, wie erwähnt, noch 1890 in Calais die politischen Wahlen für eine bloße Agitationsschule erklärt und den Generalstreik als einziges Mittel der Abhülfe empfohlen hatten, wurden sie durch ihre Wahlerfolge plötzlich zu Gunsten der parlamentarischen Thätigkeit umgestimmt,[73] und obgleich sie auf dem V. Gewerkschaftskongresse in Marseille (19.–23. September 1892) noch für den Generalstreik eintraten, ließen sie ihn bereits auf ihrem gleichzeitig in Marseille abgehaltenen Parteikongresse fallen und haben ihn auf dem am 15. September 1894 in Nantes abgehaltenen Kongresse endgültig verworfen, sich überhaupt seitdem mehr auf das politische Gebiet begeben. Neben der Erlangung der politischen Macht ist seitdem ihr Ziel die Gewinnung von Anhängern unter den Bauern, indem sie den bäuerlichen Kleinbesitz verteidigen. Um so mehr werden sie von den Possibilisten als Verräter an der Sache des Sozialismus angegriffen. Es hat sich mithin im Laufe der Zeit zwischen beiden Parteien eine völlige Vertauschung der Rollen vollzogen, indem die Marxisten jetzt die gemäßigte Richtung darstellen.

Von besonderem Interesse und erheblichem Einflusse auf die gewerkschaftliche Bewegung hat sich ferner ein neues Element erwiesen, nämlich die Entwickelung der Arbeitsbörsen. Schon im Jahre 1842 war der Gedanke zuerst von Molinari[32] ausgesprochen und damit begründet, daß man durch sie und die damit ermöglichte Vermittelung zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit die Interessen der Arbeiter am besten befördern und die letzteren zugleich den Einflüssen politischer Neuerungen entziehen könne, indem man sie auf das rein gewerkschaftliche Gebiet verweise. Im Laufe der Zeit ist der Gedanke der Arbeitsvermittelung immer mehr in den Hintergrund getreten und die Börsen sind, genau besehen, nichts als Gewerkschaftsverbände geworden, nur mit dem Unterschiede, daß sie Zuschüsse seitens der Gemeinde erhalten. Sie sind ganz allgemeine Anstalten zur Wahrung der gesamten Interessen der ihnen angehörigen Arbeiter. Sie übernehmen deshalb außer dem Arbeitsnachweise die Veranstaltung von Versammlungen zur Erörterung von Fragen, die das Arbeiterinteresse berühren, oder für wissenschaftliche Vorträge, ferner die Einrichtung von Fachlehrkursen und von Bibliotheken, die Herausgabe periodischer Zeitschriften u. s. w.

Der Plan der Schaffung solcher Arbeitsbörsen wurde seit 1884 seitens der Possibilisten aufgenommen, um in ihnen für alle Syndikate, mochten sie auf dem Boden des Syndikatsgesetzes stehen oder nicht, eine gemeinsame Vereinigung und zugleich eine Möglichkeit zu haben, praktisch im Interesse der Arbeiterklasse zu wirken. Allerdings hatten sich seit Erlaß des Gesetzes mehrfach Kartelle zwischen den Syndikaten verschiedener Gewerbe derselben Stadt gebildet, aber obgleich diese grundsätzlich allen Syndikaten offen standen, hatten sich auch hier die politischen Spaltungen als Hindernis erwiesen. In[74] den Arbeiterbörsen sollten dagegen alle Syndikate unabhängig von der politischen Richtung zusammenarbeiten und die Arbeiter zur gewerkschaftlichen Arbeit erziehen.

In Wahrheit nahm die Entwickelung der Arbeitsbörsen zunächst einen ganz anderen Verlauf. Die erste derselben wurde am 28. April 1887 in Paris eröffnet, indem der Pariser Gemeinderat einen jährlichen Zuschuß von 20000 Frs. zusagte, der 1892 auf 100000 Frs. und 1894 auf 154000 Frs. erhöht wurde. Alle Syndikate, mochten sie sich dem Gesetze unterworfen haben oder nicht, waren zugelassen. Aber während die Possibilisten, die den Gemeinderat beherrschten, geglaubt hatten, auch in der Arbeitsbörse die Leitung zu erhalten, drängten sich in Masse neu gegründete Syndikate herzu, die zum Teil unter anarchistischem Einflusse standen, zum Teil auch überhaupt keine Leitung anerkannten. Endlich führte die Ernennung von Ribanier zum Mitgliede der Anfang 1891 geschaffenen obersten Arbeitskommission zu einer Explosion; die Exekutivkommission wurde gewaltsam abgesetzt und die Broussisten, die bisher die Leitung gehabt hatten, wurden durch die Allemanisten entthront. Seitdem entwickelte sich die Arbeitsbörse zum Mittelpunkte derjenigen Syndikate, die dem Syndikatsgesetze feindlich gegenüberstanden. Alle Elemente, die im Verdachte der Mäßigung standen, wurden entfernt, in dem „Journal de la Bourse du Travail“ wurde ein Organ geschaffen, das den Kapitalismus und das Unternehmertum bekämpfen sollte, öffentliche Versammlungen wurden abgehalten, eine Streikkasse begründet und der Plan des Generalstreiks verfolgt. Durch Bildung eines Ausschusses aus Vertretern der Bataillone der Nationalgarde betrat man sogar das rein politische Gebiet und suchte die Kommune und den Bürgerkrieg vorzubereiten.

Hiergegen glaubte der Minister Dupuy einschreiten zu müssen. Zunächst forderte er die außerhalb des Syndikatsgesetzes stehenden, bisher zugelassenen sog. irregulären Syndikate auf, sich bis zum 5. Juli 1893 dem Gesetze zu unterwerfen und schloß, als dieser Aufforderung nicht Folge geleistet wurde, an diesem Tage die Börse. In einer Erklärung vom 7. Juli 1893, die von Vertretern der verschiedensten Parteirichtungen, insbesondere von Lafargue, Jaurès, Brousse unterzeichnet war, wurde hiergegen Protest erhoben und an die Arbeiter die Aufforderung gerichtet, sich auf den Generalstreik vorzubereiten. Thatsächlich freilich gereichte die Auflösung den Marxisten zum größten Vorteile, da durch sie eine Einrichtung beseitigt wurde, die ihren Händen längst entschlüpft und in diejenigen ihrer entschiedensten Gegner übergegangen war. Nachdem dann unter dem Ministerium Bourgeois durch Dekret des Präsidenten vom 5. Dezember 1895 eine andere Verfassung der Börse angeordnet und durch den Gemeinderat von Paris beschlossen war, wurde die Börse im April[75] 1896 wieder eröffnet, doch blieb ein Teil der Syndikate derselben nach wie vor fern und hielten die in der Zwischenzeit gegründete freie Börse aufrecht.

Auf dem Kongresse in St. Etienne (7.–8. Februar 1892) hatte sich unter den Arbeitsbörsen von 11 Städten, die etwa 500 Syndikate umfaßten, ein Zusammenschluß zu der „Fédération nationale des Bourses du travail“ vollzogen, die vom 12.–14. Februar 1893 in Toulouse einen zweiten Kongreß abhielt. Aus den Beschlüssen ist hervorzuheben: Unentgeltliche Arbeitsvermittelung ausschließlich durch die Arbeitsbörsen, Ernennung der Arbeitersekretäre durch dieselben, gesetzliche Festsetzung gewisser Bedingungen des Arbeitsvertrages, insbesondere Minimallohn und gleiche Entlohnung männlicher und weiblicher Arbeiter, Ausführung der Gemeindearbeiten in eigener Regie unter Zulassung von Arbeitervereinigungen. Außerdem wurde von dem Comitée fédéral vorgeschlagen, in Zukunft mit der auf dem Gewerkschaftskongreß von Marseille 1892 gegründeten Fédération nationale des Chambres syndicales zusammenzugehen und insbesondere den nächsten Kongreß gemeinsam 1894 in Nantes abzuhalten, um eine gemeinsame Vertretung aller Syndikate herbeizuführen. Obgleich die Marxisten sich hiergegen energisch auflehnten, mit der Begründung, daß die Arbeitsbörsen, die nur Hülfsmittel für die Syndikate sein sollten, jetzt den Versuch machen wollten, die Herrschaft an sich zu reißen und sich an die Stelle der Fédération nationale zu setzen, erklärte sich die Mehrheit für den Plan, und so fand vom 17.–22. September 1894 in Nantes der VI. Gewerkschaftskongreß zugleich als solcher der Arbeitsbörsen statt. Auf diesem siegte die possibilistische über die marxistische Richtung, und der von der letzteren auf ihrem Parteikongresse 8 Tage zuvor fallen gelassene, dagegen von der ersteren aufgenommene Plan des Generalstreiks wurde mit 63 gegen 36 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen angenommen. Nach stürmischen Auftritten zogen sich die Marxisten von dem Kongresse zurück. Man gründete eine allgemeine Streikkasse, zu der jedes Mitglied monatlich 5 Cts. beizutragen hat. Jede Gewerkschaft soll sich dem für sie bestehenden Berufsverbande anschließen. Die Gesamtheit der Berufsverbände in Gemeinschaft mit den Arbeitsbörsen bildet den Landesgewerkschaftsbund, an dessen Spitze ein Zentralkomitee (conseil national ouvrier) steht, das aus 2 Mitgliedern der einzelnen Berufsverbände und 4 Mitgliedern des Arbeitsbörsenverbandes zusammengesetzt ist. Ihm soll die Aufgabe des früher auf dem Kongresse in St. Etienne eingesetzten Arbeitersekretariates zufallen. Weitere Beschlüsse forderten die Ausdehnung der Prudhommes-(Gewerbe-) Gerichte auf Handels-, Eisenbahn- und Staatsbedienstete, sowie Arbeitsvermittlung durch die Gewerkschaften unter Zuschüssen seitens der Gemeinden.

[76]

Im Jahre 1895 fanden infolge dieser Spaltung zum erstenmale seit 1884 getrennte Gewerkschaftskongresse statt. Der conseil national ouvrier berief den VII. Kongreß nach Limoges, wo derselbe vom 23.–28. September 1895 unter Teilnahme von rund 100 Vertretern mit 140 Mandaten tagte. Man gab sich hier eine neue Organisation, deren Ziel besteht in der möglichsten gewerkschaftlichen Zentralisation, unabhängig von politischen Einflüssen. Man betonte besonders die Uebertragung der gewerkschaftlichen Bewegung auf die landwirtschaftlichen Arbeiter und die Schaffung einer Invalidenversicherung rein aus staatlichen Mitteln. Auf kommunalem Gebiete verlangte man Ausführung der Arbeiten in eigener Regie unter Arbeiterinspektoren, die von den Gewerkschaften vorzuschlagen sind, Unentgeltlichkeit der Lehrmittel in den Schulen, unentgeltliche Schulküchen, Einrichtung von Arbeitsbörsen auf Kosten der Gemeinde und unter Leitung der Gewerkschaften, Einrichtung kommunaler Werkstätten. Als Zwangsmittel zur Durchführung dieser Forderungen betrachtet man in erster Linie den Generalstreik. An der Spitze steht der conseil national ouvrier.

Die Marxistische Fédération des chambres syndicales hielt vom 12.–14. September 1895 in Troyes einen eigenen Kongreß ab, der gleichfalls von etwa 100 Abgeordneten als Vertretern von 750 Gewerkschaften besucht war. Man beschloß u. a. die Aufhebung des Gesetzes gegen die Internationale vom 14. März 1872 und der gegen die Vereinsfreiheit gerichteten Art. 414 und 415 des Code pénal, ferner die Forderung eines Gesetzes, nach welchem die von den Gewerkschaften festgesetzten Arbeitsbedingungen für das ganze Gewerbe maßgebend sind, und die Wahl der Gewerbeinspektoren durch die Gewerkschaften. Auch die Landagitation will man betreiben unter Anschluß an das sozialistische Landprogramm von 1891 und ebenso die Beteiligung an allen Gemeindeangelegenheiten. Der Kongreß empfahl außerdem die nationale und internationale Verbindung der Gewerkschaften.

Die Fédération des chambres syndicales hat seitdem weitere Kongresse nicht abgehalten, die marxistischen Gewerkschaften haben sich vielmehr auf dem 1896 in Lille abgehaltenen Kongresse mit der politischen Partei vereinigt und halten seitdem ihre Zusammenkünfte gleichzeitig mit denen der letzteren ab. Die Zahl ist auf 152 meist unbedeutende Organisationen herabgegangen.

Dagegen hat der von dem conseil national ouvrier einberufene VIII. Gewerkschaftskongreß vom 14.–19. September 1896 in Tours stattgefunden, auf dem 203 gewerkschaftliche Organisationen und Arbeitsbörsen, die zusammen 826 Syndikate umfaßten, durch 69 Abgeordnete vertreten waren. Leider wird auf den Kongressen nur die Zahl der Organisationen, nicht aber die der Mitglieder derselben angegeben, wie denn auch bei den Abstimmungen[77] nicht das Stärkeverhältnis berücksichtigt wird. Deshalb ist es nicht möglich, über die Anzahl der auf den Kongressen vertretenen Arbeiter genaue Ziffern zu geben. Nach Schätzungen soll dieselbe in Tours etwa 100000 betragen haben.

Im Vordergrunde der Beratungen stand die Organisationsfrage. Gemäß einem auf dem internationalen Arbeiterkongresse in Brüssel 1891 gefaßten Beschlusse, in allen Ländern nationale Arbeitersekretariate einzurichten, hatte man auch für Frankreich auf dem Kongresse von St. Etienne ein solches Sekretariat eingesetzt. Aber dasselbe war niemals eigentlich wirklich in Kraft getreten, und seine ganze Thätigkeit hatte sich auf die Veröffentlichung eines einzigen Berichtes über die Lage der arbeitenden Klassen beschränkt. Der Grund hierfür war, daß in dem Sekretariate alle die sich bekämpfenden Richtungen der Blanquisten, Allemanisten, Broussisten, Anarchisten und der reinen Gewerkschaftler vertreten waren und die innere Uneinigkeit jede gemeinschaftliche Thätigkeit unmöglich machte. Schon in Limoges hatte man nun versucht, unter dem Namen einer „Confédération générale du travail“ eine Vereinigung aller Syndikate und Arbeitsbörsen zu schaffen, die sich frei halten sollte von allen Einflüssen der politischen Gruppen (en dehors de toute ingérence politicienne). Auch die wenigen dort vertretenen Marxisten hatten sich hierfür ausgesprochen, und so schien dieser neue Verband endlich den inneren Streitigkeiten ein Ende machen zu sollen. Aber indem man den Sitz nach Paris verlegte und in das Programm den Generalstreik aufnahm, hatte man diese Einigkeit sofort wieder zerstört und den Verband unter den Einfluß der Allemanisten gestellt. Dies wurde auch in dem auf dem Kongresse in Tours erstatteten Berichte über die Thätigkeit des ersten Jahres offen ausgesprochen und darauf hingewiesen, daß an der unseligen Zersplitterung, hervorgerufen durch den Einfluß der politischen Richtungen, jede Machtentwicklung der gewerkschaftlichen Organisation scheitern müsse. Von den sämtlichen vereinigten Verbänden hatten nur 34 den auf jährlich 2 Frs. festgesetzten Beitrag bezahlt und so stellte sich die für den 10. September 1896 abgeschlossene Kassenrechnung auf 808 Frs. 30 Cts. Einnahme und 371 Frs. 50 Cts. Ausgabe.

In Tours versuchte man, diesen Mißerfolg durch eine Aenderung der Organisation zu beseitigen. Der leitende „conseil national“ wird gebildet aus Vertretern, die durch die einzelnen Verbände gewählt werden. Jedes Mitglied kann nur zwei Verbände vertreten und höchstens zwei Stimmen führen; sieben ständige Kommissionen (für Agitation, Schiedsgerichte, Gesetzgebung, Statistik, Streiks, Zeitungswesen und Verwaltung) wurden eingesetzt. Die Kommission für Agitation hat die Aufgabe, die ganze Gewerkschaftsbewegung zusammenzufassen und einen einheitlichen Gewerkschaftskongreß vorzubereiten, auf dem alle Gewerkschaften vertreten sein sollen. Die Beiträge sind nach der Mitgliederzahl[78] der Verbände von 1–10 Frs. abgestuft. Der Vereinigung können nur ganze Verbände, nicht die einzelnen Syndikate angehören, um dadurch die letzteren zum Anschlusse an die Verbände zu zwingen. Immerhin soll die Vereinigung nicht zentralistisch die Selbständigkeit der Verbände aufheben, sondern nur ein föderatives Band herstellen und eine gegenseitige Verständigung anbahnen. Eigenartig ist die Stellung der Arbeitsbörsen, da sie selbst ihrerseits Gewerkschaftsverbände darstellen. So ist die fédération nationale des bourses du travail, die 43 von den bestehenden 51 Börsen umfaßt und der von den 826 in der Confédération générale vertretenen Syndikaten 686 angehören, ein Zentralverband, der innerhalb der Confédération einen Staat im Staate darstellt und auf die Dauer neben ihr keinen Raum haben wird, obgleich man bis jetzt eine Abgrenzung der beiderseitigen Aufgaben dahin versucht hat, daß die Arbeitsbörsen die lokalen, die Confédération die allgemeinen Interessen der Gewerkschaften zu vertreten haben soll.

Der unpolitische Karakter der Vereinigung wurde von neuem betont durch den an die Spitze des Statutes gestellten Satz: „Les éléments constituant la Confédération générale se tiendrout en dehors de toute école politique.

Hinsichtlich der Frage des Generalstreiks beschloß der Kongreß ein gewisses Entgegenkommen gegen die Marxisten, indem man freilich das Prinzip mit allen gegen 4 Stimmen annahm, aber nicht allein die Thätigkeit für dessen Verwirklichung einem besonderen, außerhalb der regelmäßigen Organisation stehenden Komitee übertrug, was in Limoges vergeblich von den Marxisten gefordert war, sondern auch als Aufgabe dieses Komitees nicht die Vorbereitung des allgemeinen Streiks, sondern nur die Propaganda für denselben bezeichnete. Von allen für Streiks aufkommenden Geldern sollen 5 Proz. für diesen Zweck zurückbehalten werden.

Man beschäftigte sich ferner mit der Schaffung eines allgemeinen gewerkschaftlichen litterarischen Organes, doch wurde die Frage nicht zum Abschlusse gebracht, sondern einer Kommission überwiesen.

Dasselbe gilt von der Frage der schiedsgerichtlichen Vermittelung entstehender Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, doch wurde den Arbeitern empfohlen, in solchen Fällen, ehe sie irgend welche Schritte thäten, sich behufs Vermittelung an ihre Gewerkschaft zu wenden. Die Schiedsgerichte sollen nicht obligatorisch sein, auch sollen ihre Sprüche nur einen moralischen Zwang darstellen, dagegen sollen ständige Einigungsämter bestehen.

Hinsichtlich der Streiks empfahl man äußerste Vorsicht, jedoch die Schaffung ständiger Streikkassen, um die einmal unvermeidlichen Arbeitseinstellungen mit Erfolg durchzuführen.

[79]

Die übrigen Beschlüsse betrafen die Ausdehnung der Gewerbegerichte auf alle Betriebszweige, die Wahl der Fabrikinspektoren durch die Arbeitersyndikate, die Gefängnisarbeit, das Submissionswesen, das Zwischenmeistersystem, Kinderarbeit, Lehrlingswesen, Stückarbeit und Einbehaltung des Lohnes, Arbeiterschutzgesetzgebung, Minimallohn und den achtstündigen Maximalarbeitstag.

Man beschloß endlich, für Abhaltung eines allgemeinen internationalen Gewerkschaftskongresses thätig zu sein, der sich ausschließlich mit gewerkschaftlichen Angelegenheiten unter Beiseitelassung aller Politik beschäftigen soll.

Obgleich der Kongreß mit einem Hoch auf die Revolution geschlossen wurde, ist er doch als ein wesentlicher Fortschritt auf der Bahn einer gewerkschaftlichen Entwicklung zu betrachten.

Der III. Kongreß der Confédération générale du travail hat vom 20. bis 25. September 1897 in Toulouse stattgefunden[33], wo 1316 Vereine durch 150 Abgeordnete vertreten waren. Die Hauptgegenstände der Beratung waren die Aenderung der Statuten und die Gründung eines täglichen an Stelle des bisherigen monatlich erscheinenden Organs. Grundsätzlich können nur Verbände von Vereinen die Mitgliedschaft erwerben, Einzelvereine nur dann, wenn der Verband, dem sie angehören, den Anschluß an die confédération ablehnt. Der Sitz wurde endgültig nach Paris verlegt. Die Ablehnung der früheren Abhängigkeit von den politischen Parteien fand seinen scharfen Ausdruck in der Bestimmung der Statuten, daß die dem Bunde angehörigen Verbände und Vereine nicht bei einer politischen Partei eingeschrieben sein dürfen. Das Ziel des Bundes ist vielmehr der Zusammenschluß der gesamten Arbeiterschaft lediglich auf wirtschaftlichem Gebiete zum Kampfe für deren „émancipation intégrale“. Der geschäftsleitende Ausschuß zerfällt in mehrere Abteilungen, die sich mit der Propaganda, mit der Einwirkung auf die Gesetzgebung, der schiedsgerichtlichen Thätigkeit, den Streiks, der Arbeitsstatistik u. s. w. zu beschäftigen haben. Auf Kongressen sollen die nationalen Verbände durch drei, die lokalen durch einen Abgeordneten vertreten sein; jeder Abgeordnete muß einem Vereine angehören. Für das tägliche Organ wurden 200000 Frs. aufgebracht. Auch dieser Kongreß hielt fest an der Empfehlung des Generalstreiks.

Auch der IV. Kongreß, der am 1. Oktober 1898 in Rennes unter Anwesenheit[80] von 104 Abgeordneten als Vertretern von 1090 Organisationen stattfand, hat in die unbefriedigenden Verhältnisse keine durchgreifende Besserung gebracht. Um die in der Stellung zu den Arbeitsbörsen liegende Schwierigkeit zu beseitigen, wurde beschlossen, daß diese in dem conseil général künftig keine unmittelbare Vertretung haben, sondern daß in außerordentlichen Fällen beide Verbände miteinander in Beratung treten sollten. Die Gefahr, daß hierbei Zwistigkeiten entstehen, ist um so größer, als der Verband der Arbeitsbörsen unter der Leitung des Anarchisten Pelloutier steht, der bestrebt ist, die Börsen und die ganze Gewerkschaftsbewegung in anarchistisches Fahrwasser zu leiten. Die Verhandlungen über den Generalstreik ergaben, daß die Stimmung für denselben zurückgegangen ist, insbesondere haben nicht allein nur wenige Vereine die Zahlungen in den dafür vorgesehenen Fonds geleistet, sondern es sind sogar auf Anfrage bei den Vereinen nur wenige Antworten eingegangen. Sonstige Gegenstände der Beratungen waren: die Kontrollmarke, die Altersversorgung, das staatliche Getreidemonopol, die Abrüstungsfrage, die Einschränkung des Alkoholismus, der Boykott und einzelne Punkte des Arbeiterschutzes. —

Bei der Verworrenheit der Parteiverhältnisse möge die jetzige Gruppierung noch einmal kurz zusammengefaßt werden.

Es giebt in Frankreich augenblicklich sechs sozialistische Gruppen:

1. Parti ouvrier français d. h. die auf dem Kongreß in Havre 1880 in der Minderheit verbliebenen Marxisten, die nach ihrem jetzigen Führer Paul Guesde gewöhnlich als Guesdisten bezeichnet werden. Sie bilden heute ein verhältnismäßig gemäßigtes Element, indem sie die „Revolution des Stimmzettels“ vertreten d. h. ihre Pläne lediglich auf dem Wege der gesetzlichen Eroberung der politischen Macht durchzusetzen beabsichtigen. Die wirtschaftlichen Fragen, insbesondere die Streiks, stehen für sie erst in zweiter Linie.

2. Fédération des travailleurs socialistes de France, die 1882 auf dem Kongreß in St. Etienne von den Guesdisten getrennte und nach ihrem Führer Paul Brousse als Broussisten bezeichnete Gruppe, die aber an Bedeutung zurücktritt. Auch sie vertreten eine gemäßigte Richtung, ja ihnen wird seitens ihrer Gegner sogar vorgeworfen, daß sie mit fliegenden Fahnen in das Lager der Staatssozialisten übergegangen seien. Seit 1892 verwerfen sie den Generalstreik ebenso wie die Guesdisten; ihr Gegensatz zu diesen ist vorwiegend ein persönlicher.

3. Parti ouvrier socialiste révolutionaire, die 1890 auf dem Kongresse in Chatellerault abgetrennten, nach ihrem Führer Jean Allemane als Allemanisten bezeichnete Gruppe. Sie betrachten die politische Thätigkeit nur als Mittel der Propaganda und erwarten alles von der Revolution,[81] obgleich sie diese nicht durch Gewalt, sondern durch den Generalstreik d. h. die gleichzeitige Arbeitseinstellung in allen Betrieben herbeiführen wollen. Sie sind heute die Vertreter des revolutionär-kommunistischen Prinzips und lieben es, sich als „Arbeiterproletarier“ den „geistigen Proletariern“ gegenüberzustellen.

4. Neben diesen drei auf der Grundlage des Marx'schen Systems stehenden Gruppen giebt es noch das comité révolutionaire central, das unter Führung von Vaillant die alten Blanquisten in sich vereinigt und nur politisch-revolutionäre Tendenzen verfolgt. Sie gehen meist Hand in Hand mit den Allemanisten und schließen sich diesen auch an hinsichtlich des Generalstreiks, obgleich sie keine besondere Begeisterung für ihn zeigen. Die gewerkschaftliche Thätigkeit halten sie von der politischen völlig getrennt; beide sollen dasselbe Ziel auf verschiedenen Wegen erreichen. Sie sind in erster Linie Vertreter der Zusammenfassung aller gewerkschaftlichen Richtungen.

5. Die Anarchisten. Sie haben, seitdem sie unter ein scharfes Ausnahmegesetz gestellt sind, auf die „Propaganda der That“ verzichtet, und da sie die politische Thätigkeit grundsätzlich verwerfen, so suchen sie in den Gewerkschaften ihren Einfluß geltend zu machen, um die Arbeiter für die Revolution zu erziehen.

6. Die letzte Gruppe bilden die „Socialistes indépendants“, eine nicht geschlossene Organisation, in der sich seit 1885 um den jetzt verstorbenen Benoit Malon hauptsächlich bürgerliche Sozialisten sammeln, die, wie Jaurès, Millerand, Viviani, nur unbestimmt gegen den Radikalismus abgegrenzt sind.

Außer diesen Gruppen giebt es noch die unabhängigen Gewerkschaften, unter denen die Buchdrucker die erste Stelle einnehmen. Sie sind im Gegensatz zu den revolutionären Theorien Anhänger praktischer Thätigkeit im Sinne der sozialen Reform.

Geographisch grenzt sich der Einfluß dieser Gruppen dahin ab, daß die Guesdisten in der Provinz, und zwar im Norden, in Lille, Roubaix, ferner in Lyon, Marseille und Bordeaux, die Allemanisten in Paris, die Broussisten außer in einigen Pariser Vierteln in den Städten des Westens, Blois, Chatellerault, Poitiers, Tours, die Hauptrolle spielen; hier, sowie im Departement Cher teilen sie sich den Einfluß mit den Blanquisten. —

Nach dieser geschichtlichen Darstellung mögen noch einige Angaben über die Thätigkeit der Gewerkschaften und ihrer Ausbreitung am Platze sein.

Die Syndikate zerfallen in die beiden Hauptgruppen: 1. syndicats industriels et commerciaux, 2. syndicats agricoles.

[82]

Die landwirtschaftlichen Syndikate[34], die in dem Entwurf des Gesetzes vom 21. März 1884 überhaupt nicht vorgesehen waren und erst bei der Beratung in der Kammer aufgenommen wurden, haben eine sehr große Bedeutung erlangt. Allerdings ist ihr Karakter von demjenigen der industriellen Syndikate sehr verschieden, indem sie vielfach Aufgaben übernommen haben, die in Deutschland den landwirtschaftlichen Vereinen und Genossenschaften zufallen. Dahin gehören Verbesserung der Bodenbearbeitung, Errichtung landwirtschaftlicher Versuchsanstalten und Untersuchungsstellen, gemeinschaftliche Beschaffung von Samen, Düngungsmitteln, Vieh und Maschinen, gemeinsamer Verkauf der Erzeugnisse, insbesondere Korn, Wein, Butter, Milch, Geflügel, Eier u. s. w. Auch suchen sie die Gesetzgebung, hauptsächlich die Zoll- und Agrarpolitik zu beeinflussen. Den Betrieb einer Produktivgenossenschaft verbinden sie vielfach mit demjenigen eines Konsumvereines, auch errichten sie genossenschaftliche Schlächtereien, Bäckereien, Müllereien; so giebt es allein im Departement Charente-Inferieure 130 Bäckereigenossenschaften. Eine sehr wichtige Thätigkeit entfalten die Syndikate auf dem Gebiete des Versicherungswesens, indem sie entweder selbst allerlei Versicherungen, z. B. gegen Hagel und Feuer, ja sogar gegen die Gefahr, die Ernte nicht einbringen zu können, errichten, oder sich mit Versicherungsgesellschaften in Verbindung setzen. Auch neue Industrien, wie Konservenfabriken, Stärke-, Nudelfabriken u. s. w. suchen sie auf dem Lande einzuführen, um so eine Verbindung der Industrie mit der Landwirtschaft zu erreichen.

Kommen solche Einrichtungen freilich in erster Linie den landwirtschaftlichen Besitzern zu gute, so ist doch der Gegensatz zu den ländlichen Arbeitern in Frankreich schon deshalb nicht so stark, wie in Deutschland, weil die meisten der letzteren ein kleines Grundstück besitzen. Außerdem sind aber auch viele Einrichtungen den Arbeitern als solchen von Nutzen. Hierzu gehören Witwen-, Waisen-, Sterbe-, Pensions- und Sparkassen, Sühne- und Schiedsgerichte, Volkssekretariate und Arbeitsauskunftstellen; die letzteren will man sogar zu einer Zentralstelle für ganz Frankreich zusammenfassen. Gleichfalls Bedeutung für alle Klassen haben die landwirtschaftlichen Fachkurse, Bibliotheken und Haushaltungsschulen, sowie die geselligen Veranstaltungen, bei denen das ausgesprochene Ziel ist, die gegenseitigen Vorurteile abzuschleifen und „die Schranken niederzureißen, die sich gewöhnlich zwischen die einzelnen Personen stellen“. In vielen Syndikaten wird dieser soziale Zweck mit besonderem Nachdruck betont.

[83]

Die Syndikate der Industrie und des Handels zerfallen in drei Klassen, nämlich 1. solche der Arbeitgeber, 2. solche der Arbeiter, 3. gemischte.

Die Arbeiter haben erst langsam von den Befugnissen des Gesetzes Gebrauch gemacht. Bis 1890 hielten die Syndikate der Unternehmer denen der Arbeiter die Waage; erst seit dieser Zeit steigen die letzteren rascher. Die von ihnen verfolgten Aufgaben sind neben der Statistik die Hebung der Lebenshaltung der Arbeiterklasse in allen Beziehungen, also insbesondere Erhöhung der Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit, Arbeitsnachweis, Regelung des Lehrlingswesens, sowie Gründung von Kassen für Durchführung von Streiks und zur Unterstützung in Fällen von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Die meisten haben auch Bibliotheken eingerichtet. Der Bericht von 1895 giebt den Arbeitersyndikaten das Zeugnis, daß sie beherrscht sind durch eine alles Lobes und aller Anerkennung würdige Mäßigung und Weisheit, wenn man sie mit der Arbeiterbewegung anderer Länder vergleicht. Im Jahre 1895[35] bestanden bei ihnen: 419 Bibliotheken, 297 Versicherungskassen, 295 Arbeitsnachweisestellen, 113 Unterrichtsanstalten, 102 Reisekassen, 94 Kassen für Arbeitslose, 43 Unterstützungskassen, 36 Konsumanstalten, 17 Produktivgenossenschaften. Uebrigens haben alle Syndikate von der Befugnis Gebrauch gemacht, sich zu Verbänden zusammenzuschließen.

Das Wachstum und die jetzige Ausdehnung der Syndikate ergiebt folgende Tabelle. Es gab

im Jahre Industrielle und kommerzielle Syndikate Landwirtschaftl.Syndikate Zusammen
Unternehmer Arbeiter Gemischte
1884   101     68     1       5   175
1885   285   221     4     39   549
1886   359   280     8     93   740
1887   598   501   45   214 1358
1888   859   725   78   461 2123
1889   877   821   69   557 2324
1890 1004 1006   97   648 2755
1891 1127 1250 126   750 3253
1892 1212 1589 147   863 3811
1893 1397 1926 173   952 4448
1894 1518 2178 177 1092 4965
1895 1622 2163 173 1188 5146
1896 1730 2253 169 1275 5427
1897 1823 2316 170 1371 5680

[84]

Die Anzahl der Mitglieder ist nur für die Zeit seit 1890 veröffentlicht und ergiebt sich aus folgender Tabelle:

Jahr Mitgliederbestand der Syndikate Zusammen
der Unternehmer der Arbeiter der gemischten der landwirtschaftlichen
1890   93411 139692 14096 234234   481433
1891 106157 205152 15773 269298   596380
1892 102549 288770 18561 313800   723680
1893 114176 402125 30052 353883   900236
1894 121914 403440 29124 378750   933228
1895 131031 419781 31126 403261   585199
1896 141877 422777 30333 423492 1018479
1897 159293 431794 32237 438596 1061920

Die Verteilung auf die Syndikate ist eine sehr verschiedene; sie ergiebt sich aus folgender für den 1. Juli 1894 gültigen Tabelle:

Mitgliederzahl Syndikate Zusammen
Unternehmer Arbeiter gemischte landwirtschaftl.
20 u. darunter 314 294 30   48   686
21       50 578 613 50 174 1415
51     100 287 386 43 199   915
101     200 140 319 25 195   679
201     500   56 205   9 184   454
501   1000   13   62   7   77   159
1001   2000     5   27   8   55     95
2001   5000     3   10   1   14     28
5001 10000     1     7     4     12
über 10000     3     2       5

An Verbänden von Syndikaten gab es:

Jahr Unternehmer Arbeiter gemischte landwirtschaftl. Zusammen
  1884 10 10   20
  1885 12 13   25
  1886 13 13   2   28
  1887 16 15   7   38
  1888 17 15   9   41
1. Juli 1889 18 16   8   42
1890 22 24   1   9   56
1891 22 27   5   9   63
1892 24 47   8 14   93
1893 29 61 11 16 117
1894 29 72   9 15 126
1895 38 79   9 17 143
1896 42 86   8 19 155
1897 46 92   8 20 166

Die Zahl der in diesen Verbänden vereinigten Syndikate und deren Mitgliederbestand ergiebt sich aus folgender Tabelle:

[85]

Jahr Zahl der Syndikate Mitglieder der Syndikate
Unternehmer Arbeiter gemischte landwirtschaftliche Unternehmer Arbeiter gemischte landwirtschaftliche
1894 498   896 35   729 61509 132986 2394 537966
1895 672 1191 35   821 80261 334824 2518 565318
1896 730 1248 34   876 84677 336491 2807 590121
1897 783 1320 36 1006 89016 326835 3395      596534[36]

Ein ziemlich erhebliches Schwanken in der Syndikatsbewegung ergiebt sich daraus, daß viele sich auflösten und andere sich neu bildeten. So wurden 1897

  Syndikate Syndikatsverbände
Unternehmer Arbeiter gemischte landwirtschaftliche Zusammen Unternehmer Arbeiter gemischte landwirtschaftliche Zusammen
aufgelöst   87 167 7   48 309 4 3 4 11
gegründet 180 230 8 144 562 8 9 5 22

Die Zahl der Arbeitsbörsen, der an ihnen beteiligten Syndikate und deren Mitglieder enthält folgende Tabelle:

Jahr Zahl der Börsen Zahl der Syndikate Zahl der Mitglieder
1894 37   658   73359
1895 34   688 199382
1896 45   946 144727
1897 49 1047 166886

Von den 49 Arbeitsbörsen waren 2 1887, 1 1888, 2 1889, 4 1890, 6 1891, 6 1892, 9 1893, 2 1894, 4 1895 und 13 1896 entstanden; 3 andere hatten sich wieder aufgelöst. Die 48 Börsen der Provinz hatten 1896 auf 68220 Nachfragen 40061 Stellen vermittelt. Die Börse von Paris umfaßte nach ihrem am 31. Oktober 1897 abgeschlossenen Berichte 194 Syndikate, von denen 82 einen Arbeitsnachweis besaßen, während die Börse selbst sich damit nicht befaßt, sondern ihre Thätigkeit in der Vertretung der allgemeinen Klasseninteressen sieht.

Fußnoten:

[29] Vgl. W. Lexis: Gewerkvereine und Unternehmerverbände in Frankreich, in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik XVII, Leipzig 1879. v. d. Osten: Die Fachvereine und die soziale Bewegung in Frankreich, Schmollers Jahrb. 1891, S. 1031 ff. und Sonderausgabe. Raoul Jay: Die Syndikate der Arbeiter und Unternehmer in Frankreich, Brauns Archiv IV, S. 403 ff.: Annuaire des Syndicats professionnels. Paris seit 1889. Bulletin de l'Office du travail, insbesondere die Januarhefte. Einen wertvollen Ueberblick über die Entwickelung der französischen Gewerkschaften bis auf die neueste Zeit bietet der Aufsatz von Bourdeau: „Le mouvement syndical en France“ in Serie A Circulaire Nr. 15 des Musée sozial vom 31. Juli 1897. Vgl. auch Zacher: Die rote Internationale. 3. Aufl., Berlin 1884. Hertz. S. 48 ff.

[30] Dasselbe hatte die Bestimmungen des Code pénal Art. 291, die an sich nur für Vereine von mehr als 20 Mitgliedern galten, auf solche Vereine ausgedehnt, die in mehrere Abteilungen von weniger als 20 Mitgliedern zerfallen.

[31] Vgl. unten.

[32] Vergl. G. de Molinari: Les bourses du travail Paris. Guillaunmin, 1893, S. 121 ff.

[33] Da bis zu dem Kongresse von Limoges 1895, wo die Gründung der Confédération générale erfolgte, bereits sechs allgemeine Gewerkschaftskongresse (Lyon 1886, Montluçon 1887, Bordeaux 1888, Calais 1890, Marseille 1892 und Nantes 1894) stattgefunden hatten, so war der von Toulouse der neunte. Die Arbeitsbörsen hatten vorher Kongresse abgehalten in St. Etienne 1892, Toulouse 1893, Lyon 1894, Nimes 1895, Tours 1896, so daß es für sie der sechste war. Die Marxistische Fédération nationale des Syndicats hat außer Troyes 1895 keine weiteren Kongresse abgehalten.

[34] Einen interessanten Ueberblick gewährt der bei Gelegenheit des am 5.–7. Mai 1897 in Orleans abgehaltenen dritten nationalen Kongresses der französischen landwirtschaftlichen Syndikate von Graf de Bocquigny gehaltene Vortrag: „Le mouvement syndical dans l'Agriculture“. Paris, Guillaumin, 1897.

[35] Bis 1895 einschließlich war den Tabellen und statistischen Zahlen der jährlich vom office du travail, einer Abteilung des Handelsministeriums, herausgegebenen Annuaires des syndicats professionels eine erläuternde Einleitung vorangeschickt, der die folgenden Angaben entnommen sind; für 1896 und 1897 ist sie fortgelassen.

[36] Daß diese Ziffer größer ist, als die der Mitglieder der Syndikate selbst, beruht auf mangelhaften Angaben der letzteren.

III. Oesterreich[37].

In Oesterreich begegnet die Gewerkschaftsbewegung einer Reihe schwerwiegender Hindernisse. Dazu gehört in erster Linie der Gegensatz der verschiedenen[86] Nationalitäten, die, abgesehen von einer gewissen instinktiven gegenseitigen Abneigung, zugleich verbunden ist, mit einer weitgehenden Abweichung in der hergebrachten Lebenshaltung; so fühlt der slavische und romanische Arbeiter sich noch völlig zufrieden bei einer Lebensweise, die dem Deutschen unerträglich ist. Ferner kommt in Betracht die Verschiedenheit der Sprache, durch welche die Herausgabe gemeinsamer Arbeiterblätter wesentlich erschwert wird. Außerdem steht Oesterreich noch auf einer verhältnismäßig niedrigen Stufe der industriellen Entwicklung. Es überwiegt einerseits die Landwirtschaft und andererseits das Handwerk. Beide aber begünstigen nicht einen so scharfen Interessengegensatz zwischen Arbeitern und Unternehmern, wie die Industrie. In weitem Umfange besteht auch noch die Hausindustrie mit ihren traurigen Verhältnissen[38].

Die Gesetzgebung enthält für die Gewerkschaftsbewegung teils günstige, teils ungünstige Momente. Zu den ungünstigen gehört die Bestimmung des Vereinsgesetzes, noch welcher den Vereinen verboten ist, Beschlüsse zu fassen, durch welche sie sich eine Autorität in irgend einem Zweige der Gesetzgebungs- oder Exekutivgewalt anmaßen. Auf Grund dieser Bestimmung hat z. B. die Wiener Polizeibehörde 1888 den Fachverein der Bäcker geschlossen, weil derselbe statistische Erhebungen über die Lage der Bäckereiarbeiter unternommen hatte. Das frühere Koalitionsverbot ist freilich durch Gesetz vom 7. April 1870 aufgehoben, aber den Behörden steht das Recht zu, beschäftigungslose Personen in die Heimatgemeinde abzuschieben, wovon vielfach gegen streikende Arbeiter Gebrauch gemacht wird. Eine günstige Einrichtung dagegen liegt in der gesetzlichen Zwangsorganisation, die für das Kleingewerbe bereits durchgeführt und für die Großindustrie und den Bergbau ins Auge gefaßt ist. Sowohl Arbeiter als Arbeitgeber sind hiernach durch gesetzliche Bestimmung zu bezirksmäßig abgegrenzten Vereinigungen verbunden. Die Arbeiterschaft, insbesondere[87] soweit sie unter sozialdemokratischem Einflusse steht, verhielt sich anfangs diesen Gehülfenverbänden gegenüber wegen ihres Zwangskarakters durchaus ablehnend. Aber bald überwog die Ansicht, daß man sich den durch sie gebotenen Vorteil nicht entgehen lassen dürfe, und so hat ein im Jahre 1890 abgehaltener allgemeiner Gewerkschaftstag beschlossen, die Zwangsgenossenschaften thunlichst für die Zwecke der Arbeiterbewegung zu verwerten, wobei der Umstand, daß in denselben alle Arbeiter vereinigt sind, daß aber den fortgeschritteneren naturgemäß die Führung zufällt, und daß der Gehülfenausschuß eine staatlich anerkannte Behörde bildet, als besonders bedeutungsvoll hervorgehoben wurde.

Die erste umfassende Begründung von Gewerkvereinen erfolgte zum Beginn der 70er Jahre, nachdem 1870 durch die Aufhebung des Koalitionsverbotes ein freier Spielraum geschaffen war. Ende der 70er Jahre sollen etwa 30000 Arbeiter gewerkschaftlich organisiert gewesen sein. Aber einerseits wurde dieser Aufschwung durch die spätere ungünstige wirtschaftliche Entwicklung stark gedämpft, andererseits führte das Uebergewicht, welches der Anarchismus zeitweilig in der Arbeiterbewegung erlangte, zu einer gegnerischen Haltung der Behörden und insbesondere zur Verhängung eines Ausnahmezustandes durch ein dem deutschen Sozialistengesetze entsprechendes Gesetz. So zählte man 1888 nur 15000 Mitglieder der Gewerkschaften.

Ein Umschwung erfolgte erst seit dem vom 30. Dezember 1888 bis 1. Januar 1889 in Hainfeld abgehaltenen ersten Parteitage der österreichischen Sozialdemokratie, auf dem es unter Zurückdrängung der anarchistischen und antiparlamentarischen Elemente gelang, eine einheitlich organisierte österreichische sozialdemokratische Partei zu schaffen. Hier wurde auch die Stellung zu den Gewerkschaften behandelt und beschlossen, deren Gründung mit möglichster Heranziehung der männlichen und weiblichen Hilfsarbeiter zu empfehlen, wobei man betonte, daß ein Gegensatz zwischen der politischen und der gewerkschaftlichen Bewegung nicht bestehe und nur mit Rücksicht auf die bestehende Gesetzgebung beide getrennt vorzugehen gezwungen seien.

Auch auf dem zweiten sozialdemokratischen Parteitage in Wien (28.–30. Juni 1891) wurde das Thema „Stand und Ziele der gewerkschaftlichen Organisation“ behandelt. Obgleich man erklärte, Ziffern über den Bestand nicht angeben zu können, so wurde doch behauptet, daß seit 1889 die Zahl der Vereine sich verdoppelt, die der Mitglieder sich verdreifacht habe. Die Gesamtzahl der Fach- und Gewerkschaftsvereinen wurde auf 300, die der Mitglieder auf 600000 geschätzt. Es wurde dabei wiederholt betont, daß die Gewerkschaften nur die Bedeutung einer Erziehung für die Sozialdemokratie haben dürften, daß allerdings manche derselben humanitäre Bestrebungen, insbesondere das Kassen- und Versicherungswesen zu stark in den Vordergrund[88] treten ließen und in einigen sich geradezu eine Arbeiteraristokratie entwickelt habe, in der ein konservativer Geist großgezogen würde, wie ja früher die Arbeiter für die Ideen von Schultze-Delitzsch geschwärmt hätten, daß aber auf eine Umwandlung zu hoffen sei. Eine Resolution empfahl die Förderung der Gewerkschaften auf föderativer Grundlage doch mit der Einschränkung, „daß durch die Gewerkschaftsorganisation die sozialdemokratische Bewegung in keiner Weise hintangesetzt werden darf.“ Die Gewerkschaften sollen sich über ganze Kronländer, womöglich über das ganze Reich erstrecken; wo das nicht angeht, sind lokale Vereine zu gründen, doch soll die Schaffung eines das ganze Reich umfassenden Verbandes angestrebt werden. Solange dies nicht gelungen ist, sollen regelmäßig Delegiertentage die Verbindung vermitteln. In den Vereinen sind auch die nicht qualifizierten Arbeiter und die Frauen aufzunehmen. Als Aufgaben der Gewerkschaften wurden bezeichnet: die Arbeitsvermittelung, die Schaffung von Widerstandsfonds, die Unterstützung der Arbeitslosen sowohl am Orte als auf der Reise und die Gewährung von Rechtsschutz. Die Resolution schloß mit der Aufforderung, allenthalben in Oesterreich Gewerkschaftsvereine zu gründen.

Die späteren Parteitage haben sich mit der Gewerkschaftsfrage nicht mehr beschäftigt, vielmehr unternahm man es bald, eine eigene gewerkschaftliche Organisation zu schaffen. Den Anlaß hierzu bot der Beschluß des englischen trade unions Kongresses in Glasgow 1892, gleichzeitig mit dem für 1893 in Zürich geplanten internationalen Arbeiterkongresse einen internationalen Gewerkschaftskongreß zu berufen. Um diesen Plan zu vermitteln, bildete sich ein Komitee der Wiener Gewerkschaften, das einen Protest gegen den Versuch, zwischen den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie einen Gegensatz zu schaffen, veröffentlichte, aber zugleich beschloß, die Schaffung einer Gesamtorganisation der österreichischen Gewerkschaften ins Leben zu rufen und zunächst selbst die Aufgabe einer provisorischen Gewerkschaftskommission übernahm.

Nach mühevollen Vorarbeiten gelang es, den I. österreichischen Gewerkschaftskongreß[39] zustande zu bringen, der vom 24.–27. Dezember 1893 in Wien tagte. Auf demselben waren 194 Vereine mit angeblich 50000 organisierten Arbeitern durch 270 Abgeordnete vertreten. Davon entfielen 69 Vereine mit 158 Vertretern auf Wien. Außerdem waren die deutsche Generalkommission der Gewerkschaften und der schweizerische Gewerkschaftsbund vertreten.

Der Bericht der provisorischen Generalkommission betonte die großen[89] Schwierigkeiten, mit denen man zu kämpfen gehabt habe. Die Ausgaben der Kommission hatten 576 fl. betragen gegenüber einer Einnahme von 447 fl.

Die wichtigste Aufgabe war die Schaffung einer gemeinsamen Organisation. Als Zweck der Gewerkschaften bezeichnete man: „Die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder allseitig zu wahren, insbesondere durch Maßnahmen zur Erzielung bezw. Erhaltung möglichst günstiger Arbeitsbedingungen beizutragen.“

Die nächsten praktischen Aufgaben sollen sein:

„1. Regelung der Arbeits- und Lohnverhältnisse sowie Beseitigung von Mißständen in den einzelnen Betrieben und dem ganzen Gewerbe.

2. Regelung des Vermittelungswesens und Errichtung von Herbergen.

3. Pflege der Statistik.

4. Einführung bezw. Regelung der Reiseunterstützung.

5. Beseitigung der Lehrlingsausbeutung.“

Die Gewerkschaften sollen sich auf das ganze Kronland erstrecken; in allen Orten, wo eine genügende Anzahl von Berufsgenossen vorhanden ist, sind Ortsgruppen zu errichten. Die Gewerkschaften haben sich mit den verwandten Berufsorganisationen unter einheitlicher, aus Vorstandsmitgliedern sämtlicher dabei in Betracht kommender Berufsorganisationen bestehender Leitung zu Gruppenorganisationen in der Form der Industrieverbände zu vereinigen. Deren Aufgaben sind:

1. Möglichst planmäßige und auf gemeinschaftliche Kosten zu betreibende Agitation für die zur Industriegruppe gehörenden Berufsorganisationen.

2. Herausgabe eines gemeinschaftlichen Organs, das so eingerichtet sein muß, daß den Interessen sämtlicher dabei in Betracht kommender Organisationen Rechnung getragen wird.

3. Streiks, die innerhalb der zur betreffenden Gruppe gehörenden Industriezweige notwendig werden, von den einzelnen Berufsorganisationen aber nicht wirksam geführt werden können, sind, nachdem sie in der Industriegruppe gutgeheißen worden, auf gemeinschaftliche Kosten im prozentualen Verhältnis zur Mitgliederzahl zu führen.

4. Die Berufsstatistik der einzelnen Organisationen zu führen und für die Veröffentlichung der Resultate zu sorgen.

5. Die für die zur Industriegruppe gehörigen Berufe errichteten Herbergen, Zahlstellen für Reiseunterstützung, Rechtsschutz u. s. w. in einzelnen Städten sowie im ganze Reiche möglichst zu zentralisieren.

Für die Zeit, bis die Industrieverbände genügend ausgebaut sind, um einen geschlossenen Verband bilden zu können, wurde zur Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten eine zentrale Körperschaft in Form einer aus je[90] einem Vertreter der verschiedenen Industriegruppen gebildeten Gewerkschaftskommission eingesetzt. Dieselbe hat sich durch je einen Vertrauensmann der Gewerkschaften in der Hauptstadt eines jeden Kronlandes zu ergänzen und ist dem Kongresse für ihr Gebahren verantwortlich. Ihre Aufgaben sind:

1. Die Betreibung der Organisation und Agitation in denjenigen Industrien und Gruppen, deren Angehörige teilweise oder noch gar nicht organisiert sind, mit besonderer Berücksichtigung der Provinz.

2. Gründung von Widerstandsfonds.

3. Die Statuten des Vereins, sowie der Verbände zu einem Einheitlichen und Praktischen zusammenzustellen.

4. Das Unterstützungswesen, als: Rechtsschutz-, Reise-, Herbergs- und Vermittelungswesen u. s. w. zu zentralisieren durch Anstrebung der Errichtung von Arbeitsbörsen.

5. Die in den einzelnen Vereinen aufgenommenen Statistiken zu einer einheitlichen zusammenzustellen, sowie statistische Aufzeichnungen über sämtliche Streiks zu führen.

6. Verbände für zusammengehörende Industriegruppen, sowie einen Zentralverband aller Verbände zu bilden.

7. Veröffentlichung aller die gewerkschaftliche Organisation betreffenden Angelegenheiten durch das Korrespondenzblatt für die Vorstände und Vertrauensleute.

8. Regelung der Fachpresse.

9. Einen Gewerkschaftskongreß mit Zustimmung der Mehrheit der Organisationen einzuberufen.

Die Kommission hält ihre Sitzungen nach Bedarf und wählt aus ihrer Mitte einen Sekretär.

Die Organisationen haben:

1. für Mitglied und Monat einen Kreuzer an die Gewerkschaftskommission zu leisten. Von diesen Beiträgen sind zunächst die Kosten des Blattes, der Verwaltung, Agitation u. s. w. zu bestreiten;

2. die statistischen Erhebungen der Kommission zur allgemeinen Zusammenstellung und Veröffentlichung zu übermitteln, sowie einen vierteljährlichen Bericht über Arbeitslosen- und Reiseunterstützung, Rechtsschutz und Vermittelungswesen u. s. w. einzusenden resp. diesbezügliche Fragebogen der Kommission genau zu beantworten;

3. von etwaigen Streiks der Kommission zu berichten, womöglich und nach Thunlichkeit deren Gutachten einzuholen;

4. sich bei Streiks gegenseitig zu unterstützen oder, wenn es die Notwendigkeit erheischt, daß einzelne Industriezweige sich dem Streik anschließen, dasselbe zu vollführen;[91]

5. zu den Verbandstagen und Kongressen die Kommission einzuladen;

6. die Beschlüsse der Kommission, und sowohl der gemeinsamen Kongresse der Vertreter der Vereine wie der Gewerkschaftskongresse, zu beachten und einzuhalten;

7. die Kommission bei den Erhebungen über Statistik zu unterstützen;

8. Vorschläge in Bezug auf Organisation zu machen.

Die Gruppeneinteilung, wie sie vom Kongresse beschlossen wurde, ist folgende:

I. Bauarbeiter. II. Bekleidungsindustrie. III. Bergarbeiter. IV. Chemische Industrie. V. Eisen- und Metallindustrie. VI. Gas- und Wasserarbeiter. VII. Glas-, Porzellan- und Thonwarenindustrie. VIII. Graphische Fächer und Papierindustrie. IX. Handelsgewerbe und Handelsangestellte. X. Holzarbeiter. XI. Horn-, Bein- und Schildkrotindustrie. XII. Landwirtschaftliche Gruppen. XIII. Lebensmittelbranche. XIV. Ladenindustrie. XV. Textilindustrie. XVI. Verkehrs- und Transportwesen. XVII. Weibliche, Hand- und Maschinenindustrie.

Die Stellung zur Politik wurde in einem Beschlusse niedergelegt, in dem, mit der Erwägung, daß es Zweck der gewerkschaftlichen Organisation sei, eine Kampfes- und Widerstandsorganisation zu sein, deren vornehmste Pflicht darin besteht, die Folgen der kapitalistischen Produktionsweise zu mildern und zu beseitigen und die Arbeiterschaft vor gänzlicher physischer wie geistiger Degeneration zu bewahren, als Aufgabe bezeichnet wird, die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft zu wahren, daneben aber, um den Kampf nach allen Seiten hin erfolgreich durchführen zu können, auch die politischen Mittel zum Zweck nicht zu vergessen; deshalb habe die gewerkschaftliche Organisation sich voll und ganz auf den Boden und die Prinzipien der Sozialdemokratie zu stellen.

An sonstigen Beschlüssen sind noch folgende zu erwähnen:

Da die Gewerkschaften in verschiedenen Kronländern noch sehr schwach und bloß Bildungs- und Unterstützungsvereine vorhanden sind, so sollen die sämtlichen derartigen Arbeitervereine in die Gewerkschaftsorganisation einbezogen werden. Diese Bildungs-, Fach- und Gewerkvereine der Provinz und Wiens sind der Gewerkschaftsorganisation zuzuzählen, sobald sie ihr Statut in die von der Gewerkschaftskommission vorzuschlagende Normalfassung bringen.

Jeder Arbeiter, der sich als Genosse bekennt, muß auch Mitglied der Gewerkschaft seiner Branche sein.

Die Regelung der Fachpresse bleibt den einzelnen verbündeten Organisationen der verwandten Berufe vorbehalten, doch wurde das schon vorläufig von der Generalkommission herausgegebene Korrespondenzblatt für sämtliche[92] Gewerkschaften des Reiches womöglich mit dreimaligem Erscheinen im Monate beibehalten. Dasselbe soll in deutscher und nach Möglichkeit in tschechischer Sprache erscheinen. Kleine Organisationen sollen sich zur Herausgabe eines gemeinschaftlichen Fachblattes vereinigen; doch sollen im allgemeinen die kleinen Branchenblätter abgeschafft und durch Verschmelzung zu großen leistungsfähigen Blättern umgestaltet werden.

Streiks sind bei der jeweiligen Kronlandszentralleitung anzumelden, die unverzüglich die Gewerkschaftskommission zu verständigen hat. Dies gilt für Streiks, die zum Zweck der Lohnverbesserung geführt werden, unbedingt; sie sollen nur eintreten, nachdem sie gutgeheißen sind. Streiks wegen Lohnverkürzung oder aus anderen Ursachen, welche nicht vorhergesehen werden können, sind nach Möglichkeit vorher anzuzeigen. Streiks, welche weder bei der Gewerkschaftskommission noch bei der Kronlandszentralleitung angezeigt sind, verlieren, wenn der Ausbruch nicht ein unvorhergesehener und durch begründete Umstände bedingt ist, den Anspruch auf Unterstützung, doch darf die Gelegenheit zur Entgegennahme freiwilliger Beiträge gegeben werden. Auch nichtorganisierte Arbeiter soll die Organisation nach Kräften bei Streiks unterstützen, um sie dadurch zum Beitritt zu gewinnen.

Boykotts können von der Kommission angeordnet werden und sind dann von den beteiligten Organisationen zur Ausführung zu bringen.

Nach langen Verhandlungen über den Generalstreik wurde von einer Beschlußfassung darüber abgesehen, dagegen beschloß man, die Feier des 1. Mai zu empfehlen. —

War hiermit die Grundlage einer umfassenden Gewerkschaftsorganisation gelegt, so boten sich doch bei der Ausführung sehr große Schwierigkeiten, die durch die Wahl eines ungeeigneten Sekretärs noch vermehrt wurden; insbesondere fiel es schwer, die Vereine an regelmäßige Beiträge zu gewöhnen.

Als erste Aufgabe betrachtete es die Gewerkschaftskommission, in den einzelnen Kronländern Zentralleitungen zu bilden; solche wurden 1894 und 1895 in Mähren, Schlesien, Ober- und Niederösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg, Böhmen, Steiermark, Kärnten, Buckowina und Galizien geschaffen. Ihre Ergänzung fanden sie in Vertrauensmännern, denen ein Hauptteil der Arbeit zufiel. Eine ganze Anzahl von Vereinen wurde durch deren Mitwirkung ins Leben gerufen.

Die Regierung stellte sich von Anfang an nicht unfreundlich zu der Gewerkschaftskommission, ja als es sich 1895 darum handelte, eine offizielle Statistik über den Stand der Arbeitsvermittelung in Oesterreich aufzunehmen, wurde von der k. k. Zentralkommission für Statistik die Gewerkschaftskommission sowie einige große Gewerkschaften, wie die Metallarbeiter, Schneider u. s. w.[93] eingeladen, ihr Gutachten über die von der Regierung vorgelegten Fragebogen abzugeben. Auf Wunsch des statistischen Departements des Handelsministeriums übernahm es die Gewerkschaftskommission, als Erhebungsstelle für die Gewerkschaften und Bildungsvereine zu fungieren. In gleicher Weise ist man bei Besetzung der neu geschaffenen, dem Amte für Arbeitsstatistik beigegebenen ständigen Arbeitsbeiräte, die am 1. Oktober 1898 in Wirksamkeit getreten sind, vorgegangen, indem sich der Handelsminister bei Auswahl der acht Arbeitervertreter mit den Arbeiterorganisationen ins Einvernehmen gesetzt und zwei von der Organisation der christlich-sozialen Arbeiter vorgeschlagene sowie sechs von der Gewerkschaftskommission empfohlenene Personen ernannt hat. Dafür erklärte auch der Sekretär der Gewerkschaftskommission, Hueber, in der Eröffnungssitzung vom 26. September 1898, daß das neue Amt jederzeit die Unterstützung der organisierten Arbeiterschaft haben würde und die Arbeiter alles daransetzen wollten, um ihren guten Willen zur Mitarbeit zu beweisen. In Deutschland würde eine solche Anerkennung der Arbeiterorganisationen von der Bureaukratie als gleichbedeutend mit der Unterwerfung des Staates unter die Sozialdemokratie betrachtet werden. So ist es denn begreiflich, daß, wie an anderer Stelle[40] dargelegt, auch die Unternehmer den Arbeitern gegenüber eine ganz anderen Haltung als in Deutschland einnehmen und infolge davon die soziale Entwicklung einen wesentlich anderen Gang genommen hat.

Der Rechenschaftsbericht der Kommission für 1895 und 1896 führt lebhafte Klage über planlose und deshalb mit großen Opfern verlorene Streiks. Er macht geltend, der Standpunkt mancher Organisation: „Nun stehen wir im Streik und müssen unterstützt werden,“ müsse vertauscht werden mit dem entgegengesetzten der Kommission: „Zuerst der Widerstandsfonds, die Einwilligung der Organisation, dann erst zum Streik.“

Ein besonderer Abschnitt wird in dem Berichte den Arbeiterbildungsvereinen gewidmet. In Oesterreich bestehen danach 230 deutsche und 289 tschechische, zusammen also 519 solcher Vereine. Von den deutschen haben 157 = 70%, von den tschechischen nur 81 = 28% die Fragebogen beantwortet; wie der Bericht meint, hat dabei das Mißtrauen der tschechischen Vereine gegen die als „deutsch“ verschrieene Kommission mitgewirkt. Von den Vereinen hatten sich bis 1896 39 aufgelöst. Die 238 Vereine, aus denen Angaben vorlagen, hatten 19508 Mitglieder, von denen 2256 Frauen waren, mit einer Gesamteinnahme von jährlich 36747 fl., einer Gesamtausgabe von 24657 fl. und einem Vermögensbestande von 12220 fl. Nach dieser Ziffer wird der gesamte Mitgliederbestand der 519 Vereine auf 33400 geschätzt, von denen 20% auch den[94] Gewerkschaften angehören. Die meisten Arbeiterbildungsvereine haben auch Fachblätter, Arbeitslosen- und Waisenunterstützung, Rechtsschutz und Streikgeld, stehen also den Gewerkschaften sehr nahe.

Vom 25. bis 30. Dezember 1896 hat dann der zweite österreichische Gewerkschaftskongreß in Wien stattgefunden. Auf demselben waren 243 Vereine mit 91966 Mitgliedern durch 228 Abgeordnete vertreten. Nach dem mündlichen Berichte des Referenten Hueber umfaßte die Organisation Ende Juni 1896 105000 Mitglieder; insgesamt seien die organisierten Arbeiter Oesterreichs auf 150000 zu veranschlagen, was bei einer Gesamtzahl von acht Millionen noch nicht 2% bedeutet. Die Beiträge wurden an die Kommission 1894 für 37500, 1895 72883 und 1896 für 95900 Mitglieder bezahlt. Als Organ wurde „Die Gewerkschaft“ ins Leben gerufen, die schon bald in erweitertem Umfange erscheinen mußte.

Der erste Gegenstand der Tagesordnung, der Bericht der Generalkommission, führte zu lebhaften Auseinandersetzungen, wobei namentlich die Tschechen sich über Vernachlässigung beklagten. Ebenso wurde es getadelt, daß die sozialdemokratische Partei Oesterreichs nicht offiziell eingeladen sei, doch wurde dies mit der Rücksicht auf die Polizei entschuldigt; übrigens war sie durch drei Abgeordnete vertreten. Auch Legien als Vertreter der reichsdeutschen Gewerkschaften war anwesend.

Weitaus die meiste Zeit nahm die Beratung über die Organisation in Anspruch. Die Gewerkschaftskommission hatte einen Entwurf aufgestellt, der auf dem Grundsatze möglichster Zentralisation beruhte. Die Grundlage sollten Vereine der einzelnen Berufe bilden, die sich zu großen, das ganze Reich umfassenden Zentralverbänden zusammenzuschließen hätten. Die Zentralverbände verwandter Berufe sollten sich zu Industrieverbänden vereinigen, doch waren diese nur als Vorstufe gedacht, denn überall, wo es möglich sei, sollte die Auflösung der Berufsgewerkschaften und die Bildung von Unionen angestrebt werden. Der Unterschied dieser gegenüber den Industrieverbänden beruht darauf, daß, während die letzteren die Berufsgewerkschaften, und zwar sowohl die Ortsvereine wie die Zentralverbände bestehen lassen und lediglich unter ihnen eine föderative Vereinigung schaffen, die Unionen eine völlige Verschmelzung der verwandten Berufe darstellen, so daß schon in den Ortsgruppen nicht die einzelnen Berufe, z. B. Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Hülfsarbeiter u. s. w., sondern die Gesamtheit der beteiligten Gruppen, z. B. der Bauarbeiter zusammengefaßt ist. Zur Erledigung der lokalen Angelegenheiten, wie Herbergswesen, Arbeitsnachweis, Abhaltung von Vorträgen u. s. w. sollten übrigens an allen Orten aus allen dort vertretenen Arbeiterorganisationen Ortsverbände gebildet werden. Die Bildungsvereine sollten überall aufgelöst und nur da,[95] wo die örtlichen Verhältnisse die Schaffung von Berufsgewerkschaften oder von Ortsgruppen der Unionen nicht gestatteten, „allgemeine (gemischte) Gewerkschaften“ zugelassen werden.

Diese Vorschläge fanden jedoch lebhaften Widerspruch, indem darauf hingewiesen wurde, daß man mit dem Zusammengehörigkeitsgefühle innerhalb der einzelnen Berufsarten als einer Thatsache rechnen müsse, die man durch Tadel über Kastengeist und Berufsdünkel nicht aus der Welt schaffe; man werde niemals erreichen, daß Modelleure sich mit Ziegelarbeitern, Bildhauer mit Bauarbeitern zu einer Union zusammenschlössen, selbst die Maurer pflegten den Hülfsarbeitern den Beitritt zu versagen. Das Ergebnis des langwierigen Redekampfes war, daß, nachdem anfangs die Annahme des Vorschlages der Kommission mit 38844 gegen 37019 Stimmen verkündet war, eine nochmalige Zählung die Ablehnung mit 37163 gegen 36555 Stimmen ergab, wobei 11221 Stimmen nicht abgegeben waren.

Bei den Verhandlungen wurde auch das Verhältnis zur Sozialdemokratie gestreift und erwähnt, daß einzelne Gewerkschaften sich zu ihr in scharfem Gegensatze befänden und sozialdemokratische Redner nicht einmal zum Worte zuließen.

Der gegen die Arbeiterbildungsvereine gerichtete Antrag der Kommission, der freilich von einigen Seiten mit dem Hinweise auf die Möglichkeit, durch sie die Arbeiterschaft für die Bewegung zu gewinnen, bekämpft, von der Mehrheit oder wegen der Rückständigkeit jener Bestrebungen unterstützt wurde, fand schließlich insofern Annahme, daß die Auflösung der bestehenden Vereine gefordert und die Neubildung untersagt wurde, doch wurden die vorgeschlagenen „allgemeinen Gewerkschaften“ gestrichen.

Ein weiterer erbitterter Streit betraf die Anstellung eines selbständigen tschechischen Sekretärs bei der Gewerkschaftskommission. Für diese Forderung wurde geltend gemacht, daß die tschechischen Arbeiter dies als Zugeständnis an ihre Nationalität beanspruchten, während die Gegner teils einen solchen Gesichtspunkt als grundsätzlich unzulässig bekämpften, da die Interessen der Arbeiter nicht durch die Nationalitätsunterschiede berührt würden, teils sich darauf beriefen, daß die Forderung praktisch unausführbar sei, da sie zu einer Zweiteilung der Gewerkschaftskommission selbst führen müsse. Als der Antrag abgelehnt und nur beschlossen war, daß einer der beiden Angestellten, der Sekretär oder sein Stellvertreter, der tschechischen Sprache völlig mächtig sein müsse, zogen sich die tschechischen Abgeordneten zu einer Sonderberatung zurück, als deren Ergebnis sie verkündeten, daß sie gegen die Majorisierung protestierten und es den Organisationen im Lande überlassen müßten, zu beschließen, was weiter zu geschehen habe.

[96]

Der an die Gewerkschaftskommission monatlich zu zahlende Beitrag wurde unter Ablehnung des Kommissionsantrages, der 1½ Kr. forderte, auf 1 Kr. festgesetzt.

Der Wortlaut der auf die Organisation bezüglichen Beschlüsse ist folgender:

1. „Bildungs- und Lesevereine und gemischte Gewerkschaften, die aus Mitgliedern bestehen, für deren Branchen eine Ortsgruppe oder Zahlstelle der Berufsorganisation auf Grund der am Orte beschäftigten Arbeiter eines Berufes möglich ist, haben sich in Ortsgruppen oder Zahlstellen der betreffenden Berufsorganisation umzuwandeln. Die Gründung von Bildungs- und Lesevereinen hat in Zukunft zu unterbleiben.

2. Gründung von Berufsgewerkschaften und Verbänden, welche sich auf das ganze Reich zu erstrecken haben.

3. Verbindung verwandter Berufsgewerkschaften (Verbände) zu einem Industrieverbande.

4. Verbindung von Gewerkschaften, Fachvereinen, Ortsgruppen und Zahlstellen zu einem Ortsverbande zum Zwecke der Zentralisation der Arbeitsvermittelung, Errichtung von Herbergen, Abhaltung von Vorträgen und Unterrichten am Orte.

5. Die Gewerkschaftskommission Oesterreichs, welche sich aus je einem Vertrauensmann der Industriegruppen zusammensetzt, ist die Gesamtvertretung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Oesterreichs.“

Als Aufgaben der Gewerkschaftskommission wurde neben der Durchführung der beschlossenen Organisation unter Beobachtung der vom Kongresse angenommenen Normalstatuten noch ferner bezeichnet: Zentralisation des Rechtsschutz-, Herbergs- und Arbeitsvermittelungswesens durch Anstrebung und Errichtung von Arbeitsbörsen unter ausschließlicher Führung der Gewerkschaften, Führung einer sorgfältigen Statistik und Aufzeichnung sämtlicher Streiks, Entgegennahme von An- und Abmeldungen von Angriffs- und Abwehrstreiks und Beschlußfassung über dieselben, Sammlung freiwilliger Spenden für die im Lohnkampfe stehenden organisierten Arbeiter im Wege der freien Organisation der Branchen, Pflege der internationalen Beziehungen zu den Gewerkschaften anderer Länder und Einberufung der nach Bedürfnis, jedoch mindestens alle drei Jahre abzuhaltenden Gewerkschaftskongresse, sowie Besorgung der erforderlichen Vorarbeiten.

Zu ausgedehnten Verhandlungen führte die Streikfrage. Man war allgemein darüber einig, daß freilich Streiks und Boykotts nicht zu entbehren seien, daß aber das Mittel nur mit großer Vorsicht angewandt werden dürfe. Leichtsinnige Streiks seien das Zeichen der Unreife und schädigten die Organisationen.[97] Die Gewerkschaftskommission hatte ein eingehendes Streikreglement vorgelegt, nach dem alle Streiks spätestens sechs Wochen vor ihrem Beginne bei der Kommission angemeldet und nur mit deren Zustimmung unternommen werden dürften; nur Abwehrstreiks sollten hiervon ausgenommen sein. Zur Ansammlung eines Zentralstreikfonds sollten die einzelnen Organisationen für jedes Mitglied monatlich 1 Kreuzer an die Kommission abführen, doch sollte jede Gewerkschaft daneben einen eigenen Widerstandsfonds gründen. Kleine Werkstättenstreiks sollten überhaupt nicht von der Kommission unterstützt werden.

Am heftigsten angegriffen wurde die Ansammlung eines Zentralstreikfonds und die vorherige Anmeldung bei der Kommission, von der man befürchtete, daß die Absicht, einen Streik einzuleiten, zur Kenntnis der Unternehmer gelangen könnte, während andrerseits gerade eine längere Anmeldungsfrist aus dem Grunde gefordert wurde, um dem „Streikfieber“ entgegenzuwirken. Das Ergebnis der Abstimmung war die Ablehnung des festen Beitrages von 1 Kr.: vielmehr soll die Kommission die Beiträge zum Streikfonds durch Sammellisten einziehen. Die Anmeldefrist von sechs Wochen wurde gestrichen, aber die Zustimmung der Kommission als Vorbedingung der Unterstützung beibehalten. Ausgenommen hiervon sind nur Abwehrstreiks, doch sollen auch diese nur im Notfalle und nur dann geführt werden, wenn eine gütliche Beilegung sich als unmöglich erwiesen hat. Genehmigte Streiks sind durch die „Gewerkschaft“ und die „Arbeiterzeitung“[41] bekannt zu machen. Durch eine besondere Resolution wurde für alle Streiks die größte Vorsicht empfohlen.

Ein weiterer Gegenstand der Beratung war die Stellung zu der vorgeschlagenen kommunalen Arbeitsvermittelung. Dieselbe wurde aus dem Grunde abgelehnt, weil die Kommunalverwaltungen zur Zeit dem Einflusse des Kapitales in der Weise unterworfen seien, daß ihre Arbeitsvermittelung nur dessen Interessen dienen würde. Ebenso wurde vor gemeinsamen Arbeitsnachweisen der Arbeiter und der Unternehmer gewarnt und die Arbeitsvermittelung als alleinige Angelegenheit der Gewerkschaften in Anspruch genommen.

Hinsichtlich der Hausindustrie wurde deren völlige Aufhebung und die Einrichtung von Betriebswerkstätten gefordert. Solange dies nicht durchgeführt ist, soll die Hausindustrie unter die Arbeiterschutzbestimmungen der Gewerbeordnung, unter die Gewerbeinspektion und die Arbeiterversicherung gestellt werden.

Auch bei der Frage der Ausgestaltung des Rechtsschutzes ergab sich eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob derselbe den einzelnen Gewerkschaften zu überlassen oder bei der Gewerkschaftskommission zu zentralisieren sei; doch wurde dies letztere beschlossen.

[98]

Endlich wurde noch eine ausführliche Resolution angenommen, in der eine Verbesserung der Arbeiterschutzgesetzgebung, insbesondere die Einführung des gesetzlichen Achtstundentages und eine staatliche Invaliditätsversicherung gefordert wurde; ebenso wurde beschlossen, an der Feier des 1. Mai festzuhalten. Die Vergebung öffentlicher Arbeiten ist an die Bedingung einer höchstens neunstündigen Arbeitszeit und die Gewährung eines ausreichenden, mit den Arbeiterorganisationen zu vereinbarenden Lohnes zu knüpfen.

Im Gegensatze zu den deutschen Verhältnissen wurde von den anwesenden Vertretern der sozialdemokratischen Partei anerkannt, daß auch die sozialpolitische Gesetzgebung Gegenstand der Beratungen und der Thätigkeit der Gewerkschaften zu bilden habe.

Mit einem Hoch auf die internationale Sozialdemokratie wurde der Kongreß geschlossen. Der nächste Kongreß soll 1899 abgehalten werden. —

Die Entwicklung und die Bedeutung der österreichischen Arbeiterorganisationen wird am besten beleuchtet durch einige statistische Angaben.

Nach einer im Jahre 1893 aufgenommenen Statistik gab es damals rund 50000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter. Für Niederösterreich wurden 136 Vereine mit 31522 Mitgliedern gezählt, von denen 56 mit 20202 Mitgliedern auf Wien und 80 mit 11320 Mitgliedern auf die Provinz entfielen. Da die in den betreffenden Berufen beschäftigten Arbeiter in Wien 311652 und in der Provinz 132041 betrugen, so entsprach dies einer Beteiligung von 6-2/3, bezw. 8%.

Eine für Mähren und Schlesien vom 8./9. September 1894 in Wien abgehaltene Konferenz, die von 123 Vertretern aus 35 Orten besucht war, zählte für diese beiden Länder 29 Gewerkschaften mit 11859 Mitgliedern nebst 56 Bildungsvereinen mit 5865 Mitgliedern.

Auf der am 30. Juni 1895 in Wien abgehaltenen Gewerkschaftskonferenz wurde die Gesamtzahl der in Oesterreich bestehenden Gewerkschaften auf 591 mit 80000 Mitgliedern angegeben, neben 275 Bildungsvereinen mit 27000 Mitgliedern.

Die „Gewerkschaft“ veröffentlichte auf Grund von Fragebogen, die von 750 Organisationen versandt und von 730 beantwortet waren, folgende für den 31. Dezember 1895 berechnete Statistik:

Die Mitgliederzahl der 730 Organisationen betrug 88826, während die der fehlenden 20 Organisationen auf 2000 geschätzt wurde. Die Verteilung auf die einzelnen Gewerbe ergiebt folgende Tabelle:

[99]

Berufsgruppen Gesamtzahl der
beschäftigten Arbeiter
Gesamtzahl der
organisierten Arbeiter
Prozentsatz
Polygraphische Gewerbe     21375   8258 38,77
Eisenbahn- und Postdienst   122318 17851 14,60
Industrie der Steine und Erden   119974   7591   6,33
Metallindustrie   246023 14867   6,04
Berg- und Hüttenwesen   139769   7710   5,50
Handel   287283 14719   5,32
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe   163400   6673   4,08
Papier- und Lederindustrie     57411   2070   3,60
Baugewerbe   252900   3251   1,68
Textilindustrie   399938   6265   1,56
Chemische Industrie     19312     281   1,45
Bekleidungsindustrie   383339   6614   1,07
Nahrungsmittelindustrie   317600   3319   1,04
Sonstige Gewerbe   123693   3375   2,71
  2654335 88826   3,30

Eine Ende Juli 1896 aufgenommene Zählung ergab sogar 99434 Mitglieder, darunter 3501 Frauen.

Dazu kommen noch die in mehr oder weniger engem Verbande mit den Gewerkschaften stehenden und in der Umbildung zu ihnen befindlichen Arbeiterbildungsvereine, denen Ende Juni 1896 33400 Personen (31900 Arbeiter und 1500 Arbeiterinnen) angehörten.

Eine Ergänzung finden diese Angaben an den Ziffern der oben erwähnten, von der Regierung im Jahre 1895 vorgenommenen Erhebung, die zugleich die Verteilung auf die einzelnen Kronländer erkennen läßt. Danach ergiebt sich folgende Tabelle:

Kronland Gewerkschaften Ortsgruppen Bildungsvereine Zusammen
Niederösterreich: Wien   85 110   33   228
Provinz     2 109   34   141
Oberösterreich   14     6   14     34
Böhmen   91 152 322   465
Mähren   39   56   72   167
Schlesien   11     6   14     31
Galizien   10     1     11
Bukowina     2       2
Steiermark   24   28     5     57
Tirol   11     8   17     36
Vorarlberg     4   10     7     21
Krain     5     1     3       9
Kärnten     7     3     5     15
Triest und Istrien     1       1
Salzburg     7     1     3     11
Zusammen 313 490 527 1330

[100]

Doch wurden von den ausgesandten 1330 Fragebogen nur 660 beantwortet.

Die in die Statistik der Gewerkschaftskommission einbezogenen Gewerkschaften hatten vom 1. Januar bis 30. Juni 1896 492585,88 fl. Einnahmen und 300760,76 fl. Ausgaben. Die Ausgaben betrugen in Prozenten der Einnahme für Fachblätter 9%, für Agitation 3,6%, Rechtsschutz 0,7%, Reiseunterstützung 2,8%, Arbeitslosenunterstützung 10,1%, Kranken- und Invalidenunterstützung 14,8%. In einem besonderen Dispositionsfonds wurden außerdem für denselben Zeitraum noch 113502 fl. 49 Kr. vereinnahmt und 85103 fl. 22 Kr. verausgabt. Der Vermögensbestand betrug 367634,70 fl.

Die Einnahmen der Bildungsvereine beliefen sich in derselben Zeit auf 113502,49 fl., die Ausgaben auf 85013,22 fl., der Vermögensstand auf 24124,46 fl.

Die Einnahmen der Gewerkschaftskommission für den Zeitraum vom 1. Januar 1894 bis 31. Oktober 1896 betrugen 21913 fl. 39 Kr., die Ausgaben 20150 fl. 33 Kr. Daneben hatte die Kommission für Streiks 45371,50 fl. vereinnahmt und 44960,51 fl. ausgegeben. Die gewerkschaftliche Presse umfaßte 19 deutsche, 12 tschechische und 2 slavonische Fachblätter mit einer Gesamtauflage von 119850 Exemplaren (gegen 77550 im Jahre 1894). Das Zentralorgan ist die „Gewerkschaft“.

Nach dem für das Jahr 1897 veröffentlichten Rechenschaftsberichte beliefen sich für das Jahr 1897 die Einnahmen der Gewerkschaftskommission auf 14120 fl. (gegen 11891 fl. 1896) und die Ausgaben auf 12996 fl. Darunter befanden sich 10892 fl. (gegen 11700) für Streiks. Beiträge wurden im Durchschnitt von 93193 Mitgliedern gezahlt. Die „Gewerkschaft“ erschien in 53000 Exemplaren.

Der Bericht für 1898 ist nur knapp gehalten, da für die Pariser Weltausstellung von dem Ausstellungskomitee, dem auch der Sekretär der Gewerkschaftskommission angehört, eine umfassende Aufstellung aller Arbeiterorganisationen ohne Unterschied der Parteistellung vorbereitet wird; die Einnahme der Kommission betrug 24111,40 fl., die Ausgabe 23130,65 fl. Im Durchschnitt haben 1898 105855 Mitglieder ihre Beiträge gezahlt. An Streikgeldern hat die Kommission 8317,62 fl. vereinnahmt und 7793,68 fl. verausgabt. Vielfach ist es der Kommission gelungen, bei Streiks eine gütliche Beilegung zu erzielen. Die „Gewerkschaft“ würde in 46350 Exemplaren unentgeltlich an die Organisationen abgegeben.

Für das Jahr 1899 ist eine wesentliche Zunahme des Umfanges der österreichischen Gewerkschaften zu erwarten, da eine am 3. Januar 1899 in Krakau abgehaltene Konferenz der galizischen Gewerkschaften beschlossen hat, ihre Mitglieder zum Anschluß an die österreichischen Verbände zu verpflichten[101] und eine gemeinsame Reise- und Arbeitslosenunterstützung einzuführen. Die Gewerkschaftskommission soll aufgefordert werden, im Einvernehmen mit der Landeskommission Galiziens und Schlesiens ein monatliches Gewerkschaftsblatt in polnischer Sprache herauszugeben, das für die Mitglieder obligatorisch sein soll. —

In Oesterreich hat, wie die angeführten Zahlen beweisen, die gewerkschaftliche Bewegung noch nicht den Umfang und deshalb auch die Zentralorganisation noch nicht die Bedeutung erlangt wie in England, Deutschland, Frankreich u. s. w. Es ist deshalb von Interesse, auch die Entwicklung der einzelnen Berufsgruppen zu verfolgen, und mögen deshalb noch einige auf sie bezügliche Angaben hier Platz finden.

Wie bereits hervorgehoben, datiert die Gewerkschaftsbewegung in Oesterreich im wesentlichen erst vom Jahr 1890; ja der hier genommene Aufschwung ist vielfach ohne nachhaltige Wirkung gewesen und die abgehaltenen Kongresse haben später seine Nachfolge gefunden.

1. Vom 7./8. September 1890 fand in Wien der I. österreichisch-ungarische Tischlertag[42] statt. Auf die an 150 Vereine versandten Einladungsschreiben hatten sich außer zahlreichen Wiener Genossen 30 Vertreter aus 18 Provinzorten eingefunden, u. a. aus Pest, Prag, Innsbruck, Graz, Agram, Salzburg, Reichenau. Gegenstände der Tagesordnung waren: 1. Berichte über die Lohnbewegung; 2. Genossenschaftswesen; 3. Gewerkschaftsorganisation; 4. Gründung einer Fachpresse. Als Form der gewerkschaftlichen Organisation wurde ein ganz Oesterreich und ein ganz Ungarn umfassender Verband mit Zweigvereinen für jedes Kronland beschlossen. Neben dem deutschen Fachblatte soll ein solches in böhmischer Sprache erscheinen.

2. Die Berg- und Hüttenarbeiter Oesterreichs[43] haben vom 7.–9. Dezember 1890 in Wien einen Kongreß abgehalten, auf dem Böhmen durch 45, Mähren-Schlesien durch 18, Steiermark durch 13, Niederösterreich durch 6 und Krain durch 4 Abgeordnete vertreten war. Die Tagesordnung betraf: 1. die Lage der Arbeiter und die Mittel zu ihrer Verbesserung; 2. die Achtstundenschicht; 3. die Organisation der Bruderladen; 4. die Organisation der Fachpresse.

Man forderte die achtstündige Schicht einschließlich Ein- und Ausfahrt und Beseitigung der Akkordarbeit. Es soll ein ganz Oesterreich umfassender Zentralverband angestrebt und durch Gründung von lokalen Fachvereinen vorbereitet[102] werden. Aufgabe derselben ist Arbeitslosenunterstützung, Schaffung von Widerstandsfonds, Arbeitsvermittelung und Gewährung von Rechtsschutz. Es wurde hervorgehoben, daß es schwer sei, sich mit den ungarischen Kollegen zu verständigen, sodaß ein gemeinsamer Kongreß nicht durchführbar wäre. Der Kongreß erklärte einstimmig, sich auf den Boden der internationalen Sozialdemokratie zu stellen. Auf einer am 4. März 1895 in Brüx abgehaltenen Generalversammlung des neu begründeten Zentralvereins wurde eine Mitgliederzahl von 3745 in 21 Ortsgruppen festgestellt. In der Osterwoche 1895 wurde in Wien ein fernerer allgemeiner Kongreß der Berg- und Hüttenarbeiter abgehalten, bei dem 8500 Arbeiter durch 45 Abgeordnete vertreten waren. Zwischen den Deutschen und den Böhmen fanden kleine Reibereien statt, auch zeigten sich einzelne fachliche Meinungsverschiedenheiten; so forderten die ersteren bei der Beratung der Kranken- und Unfallversicherung eine Bruderlade für das ganze Reich, während die Böhmen einzelne Landesbruderladen verlangten.

3. Vom 26.–28. Dezember 1890 tagte in Brünn der erste österreichische Metallarbeiterkongreß[44] unter Beteiligung von 122 Abgeordneten aus 43 Orten. Tagesordnung: 1. Organisation sämtlicher Metallarbeiter; 2. Arbeiterschutz und Sozialreform; 3. Koalitionsrecht; 4. Arbeitszeit; 5. Fachpresse; 6. Lohnstatistik. In jeder Provinz soll ein Gewerkschaftslandesverein mit Filialen oder Zahlstellen in den einzelnen Orten bestehen; alle Vereine bilden einen gemeinsamen Verband. Für ganz Oesterreich sollen zwei Fachorgane gegründet werden, und zwar ein solches in deutscher und eins in tschechischer Sprache.

Auf dem am 30. Oktober 1892 in Wien abgehaltenen Verbandstage wurde das Bestehen von 18 Fachvereinen mit 8500 Mitgliedern und ein Vermögen von 16500 fl. festgestellt, auch wurde ein Sekretariat und ein Verbandsorgan begründet.

4. Der II. österreichisch-ungarische Schneidertag[45] wurde vom 15.–17. August 1891 in Wien abgehalten in Anwesenheit von 106 Abgeordneten. Tagesordnung: 1. Berichte über die soziale und wirtschaftliche Lage der Schneider und Schneiderinnen Oesterreichs; 2. Organisation und Agitation; 3. Fachpresse; 4. Arbeiterschutzgesetzgebung. Beschlossen wurde die Gründung eines einheitlichen, aber lokal gegliederten Verbandes über das ganze Reich nach dem Vertrauensmännersystem, mit der Zentralstelle Wien. Die Fachvereine sollen sich über[103] ein ganzes Kronland erstrecken. Neben dem bereits bestehenden Fachblatte soll die Gründung eines deutschen ins Auge gefaßt werden, bis dahin aber die in Hamburg bestehende „Schneiderzeitung“ als Ersatz eintreten; den ungarischen Kollegen soll die Gründung eines eigenes Fachblattes überlassen und schließlich auch auf die Schaffung eines solchen für die kroatisch-slavonische Sprache Bedacht genommen werden. Der Kongreß beschloß, für die Feier des 1. Mai einzutreten und sich auf den Boden der Sozialdemokratie zu stellen.

Der II. österreichisch-ungarische Bäckertag fand vom 2. bis 4. April 1893 in Wien statt. Die Beteiligung war infolge des mißlungenen Wiener Streiks von 1891 nicht erheblich; es waren nur 20 Abgeordnete aus der Provinz und 10 aus Wien anwesend. Auch fanden Streitigkeiten statt, indem die Vertreter der Provinz gegenüber den Wiener Kollegen über „Zentralismus“ sich beklagten. Der auf sozialdemokratischem Boden stehenden Mehrheit trat eine Minderheit entgegen, die von politischer Thätigkeit nichts wissen und sich rein auf gewerkschaftlichen Boden stellen wollte. Die Tagesordnung betraf: Situationsberichte, Rechenschaftsbericht, Organisation und Agitation, Nachtarbeit, Sonntagsruhe, Lehrlings- und Vermittelungswesen, Streiks und Boykotts, Achtstundentag, Reise- und Unterstützungswesen, internationale Vereinigung und den internationalen Bäckereiarbeiterkongreß, die Presse. Es wurde ein Zentralkomitee eingesetzt, um die Organisation für das ganze Reich auf Grund örtlicher Verbände durchzuführen und einen gemeinsamen Fonds anzusammeln. Für die slavischen Länder soll ein Zentralkomitee in Prag eintreten. Bis zur Durchführung einer selbständigen Organisation für Ungarn soll das deutsche Komitee die bezüglichen Aufgaben mit übernehmen. Daneben soll jedoch die Verbindung mit den verwandten Berufen zu einem Industrieverbande angestrebt werden. Ein deutsches und ein tschechisches Fachorgan soll unter der Leitung der beiden Zentralkomitees erscheinen.

Der III. österreichisch-ungarische Bäckertag ist vom 1. bis 3. Januar 1898 in Wien abgehalten und war von 39 Abgeordneten besucht. Die Beschlüsse[104] bezogen sich auf Fragen des Arbeiterschutzes, insbesondere zehnstündige Arbeitszeit einschließlich zwei Stunden Pausen, Sonntagsruhe, Ausschluß jugendlicher Personen von der Nachtarbeit, Aufhebung der unterirdischen Werkstätten, daneben forderte man obligatorische Fach- und Fortbildungsschulen, Regelung der Arbeitsvermittelung, insbesondere Beseitigung der Winkelherbergen, Beschränkung der Lehrlingszahl und Verstärkung der Gewerbeaufsicht. Zur Durchführung dieser Forderungen beschloß man in Notfällen den Generalstreik ins Auge zu fassen.

Entsprechend dem erwähnten Beschlusse wurde die Vereinigung mit den verwandten Berufen angebahnt, und am 25. Dezember 1894 wurde der Verband der Arbeitervereine in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie begründet. Der erste Verbandstag wurde am 5. Januar 1896 in Wien und ebendaselbst am 5./6. April 1896 der I. Kongreß der Arbeiter in den Lebensmittelbranchen Oesterreichs abgehalten[47]. Vertreten waren die Bäcker, Fleischhauer, Müller, Brauer, Faßbinder, Kellner und Feigenkaffeeerzeuger. Die Tagesordnung betraf: 1. Situationsberichte, 2. Organisation und Agitation, 3. Arbeiterschutzgesetzgebung, 4. Presse.

6. Nachdem schon 1893 eine Konferenz stattgefunden hatte, in der die Gründung eines Verbandes der Vereine der Buchbinder und verwandten Berufe Oesterreichs angeregt wurde, ist ein solcher auf dem am 25. und 26. Dezember 1896 in Wien abgehaltenen Kongresse endgültig begründet[48]. Vertreten waren 10 Vereine aus Böhmen, Galizien, Krain, Niederösterreich, Mähren, Oberösterreich, Steiermark und Tirol durch 18 Abgeordnete, außerdem waren Gäste aus Deutschland und Ungarn, sowie Vertreter des Vereins der graphischen Fächer, der Buchdrucker, des Vereins der Papierarbeiter, des Vereins der Futteralmacher und des Vereins der Etuitischler und der Gewerkschaftskommission anwesend. Während von der Vorkonferenz die Böhmen aus nationalen Gründen sich fern gehalten hatten, wurde auf dem Kongresse eine Verständigung erreicht. Es wurde mitgeteilt, daß zunächst versucht sei, sich mit den Buchdruckern zu einem Verbande der Bucharbeiter zu verschmelzen, doch sei dies daran gescheitert, daß die Buchdrucker wesentlich höhere Beiträge hätten, als die Buchbinder leisten könnten; von einigen Seiten wurde auch der Vorwurf aristokratischer Auffassung gegen die Buchdrucker erhoben. Ebenso sah man von einem Anschluß an den Verein der graphischen Fächer ab und beschloß zunächst, einen eigenen Verband zu gründen. Aus[105] den Beratungen über das Statut ist hervorzuheben, daß man Reise- und Arbeitslosenunterstützung, Einrichtung von Herbergen und Arbeitsvermittelung, Pflege der Statistik, Schaffung von Bibliotheken und Lesezirkeln, sowie Gewährung von Rechtsschutz beschloß; Politik und Religion sollen ausgeschlossen sein.

5. Die Bäcker[46] haben den I. österreichisch-ungarischen Bäckertag vom 7. bis 9. Dezember 1890 in Wien abgehalten. Verhandelt wurde über Gewerkschafts- und Genossenschaftsorganisation, Reiseunterstützungswesen und Arbeitsvermittelung, Arbeitszeit und Arbeitslage, Fabrik- und Werkstättenordnung, Lehrlingswesen, Gewerbeinspektion, Arbeiterkammern und Einigungsämter, Kranken- und Unfallversicherung, Fachpresse. Es wurde eine auf örtliche Verbände gestützte Zentralorganisation beschlossen und zu deren Durchführung ein Organisationskomitee eingesetzt.

Der Ausdruck „verwandte Berufe“ ward absichtlich nicht näher bestimmt, um späterer Ausdehnung Raum zu lassen. Zu Schwierigkeiten führte die Ordnung der Fachpresse, indem die Böhmen einerseits erklärten, zur Schaffung eines eigenen Blattes zunächst nicht im stande zu sein, dagegen eine größere Ausdehnung des tschechischen Teiles des Verbandsorgans „Die Einigkeit“ wünschten, was aber abgelehnt wurde. Weitere Punkte der Tagesordnung waren Arbeits- und Lohnverhältnisse, Accordsystem, Minimallohn, Strafhausarbeit und neunstündiger Arbeitstag. Die Ungarn erklärten, daß auch sie die Gründung eines Verbandes beabsichtigten, sich aber zunächst noch zu schwach fühlten.

7. Die Buchdrucker[49] hatten am frühesten eine Organisation, indem für Niederösterreich schon 1842 ein Verein der Buchdrucker und Schriftgießer begründet wurde, der 1891 2200 Mitglieder und ein Vermögen von 168612 fl. besaß. In diesem Jahre wurde er von der Regierung aufgelöst, weil er die bei der Maifeier arbeitslos gewordenen Mitglieder unterstützte. Erst am 28. November 1891 konnte sich ein neuer Verein mit 1800 Mitgliedern bilden. Auch die Bildung eines Gesamtverbandes für ganz Oesterreich wurde schon vor Jahren angeregt, insbesondere wurde schon auf einer Konferenz in Brünn 1881 als Vorbereitung für einen festen Verband die Gemeinsamkeit des gesamten Unterstützungswesens beschlossen, doch kam der Beschluß nicht zur Ausführung. Ebenso scheiterte ein auf dem Buchdruckertage in Wien 1883 beschlossenes Normalstatut an der Nichtgenehmigung seitens der Behörden, und dasselbe Schicksal hatte ein die Zentralisation des Viatikums bezweckender Beschluß des 1890 in Klagenfurt abgehaltenen Buchdruckertages. Auf dem folgenden, der 1892 in Wien tagte, wurde die Zentralisation der örtlichen Arbeitslosenunterstützung durchgeführt, und endlich am 23. Dezember 1894 auf dem Buchdruckertage in Brünn konnte, nachdem die vorher von einer Kommission ausgearbeiteten Statuten am 31. Mai 1894 von der Behörde genehmigt waren, die endgültige Begründung des „Verbandes der Vereine der Buchdrucker und Schriftgießer und verwandter Berufe Oesterreichs“ erfolgen. Die[106] dem Verbande zunächst beigetretenen 12 Vereine von Böhmen, Bukowina, Kärnten, Krain, Mähren, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Schlesien, Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Triest umfaßten 5540 Mitglieder. Nachdem am 26. September 1895 auch Galizien beigetreten war, betrug die Mitgliederzahl Ende 1895 6305. Ende 1896 war dieselbe auf 6965 und Ende 1897 auf 7565 gestiegen. Am 30. September 1897 hat sich auch ein Verein für Dalmatien gebildet, der dem Verbande beigetreten ist, so daß die Zahl der Vereine 13 beträgt.

Das Unterstützungswesen ist jetzt in vollem Umfange im Verbande zentralisiert. Die Ausgaben desselben betrugen 1897 für Krankenunterstützung 89817 fl., für Arbeitslosenunterstützung 44720 fl., für Reiseunterstützung 17371 fl., für Invalidengeld 30802 fl., für Sterbegeld 10662 fl., für Waisenunterstützung 7765 fl., für sonstige Unterstützungen 2929 fl.

Der Verband besitzt außer dem „Vorwärts“ noch drei Verbandsorgane in böhmischer, polnischer und italienischer Sprache. Er hat mit dem ebenfalls für ganz Oesterreich bestehenden Prinzipalverein einen Normallohntarif vereinbart, der mit dem 1. Januar 1896 in Kraft getreten ist und außer den Lohnsätzen die Vorschrift des neunstündigen Arbeitstages sowie genaue Bestimmungen über die zulässige Lehrlingszahl enthält. Der Tarif ist bis auf geringe Ausnahmen in allen Druckereien eingeführt. Ein Tarifeinigungsamt, in dem Gehilfen und Prinzipale in gleicher Anzahl vertreten sind, entscheidet entstehende Streitigkeiten. Der Verband hat sich der österreichischen Gewerkschaftskommission angeschlossen und steht auf dem Boden der Sozialdemokratie. Er umfaßt die große Mehrzahl aller Berufsangehörigen, wie sich aus folgenden Zahlen ergiebt. Es gab

  Ende 1892 Ende 1893 Ende 1894
Verbandsangehörige 3917 = 71,7% 5096 = 78,44 5540 = 80,43%
Nichtverbändler 1545 = 28,3% 1401 = 21,56 1348 = 19,57%
Zusammen 5462     6497     6888    
                   
  Ende 1895 Ende 1896 Ende 1897
Verbandsangehörige 6305 = 81,14% 6595 = 83,03 7565 = 85%
Nichtverbändler 1466 = 18,86 1424 = 16,97 1335 = 15%
Zusammen 7771     8389     8900    

Von den Ende 1895 vorhandenen 1466 Nichtmitgliedern waren etwa 600 Mitglieder der Gegenorganisation, des sog. Prinzipalvereins. Danach verblieben 866 = 11,14%, die überhaupt nicht organisiert waren. Das Gesamtvermögen des Vereins belief sich Ende 1895 auf 555667 fl. = 88,13 fl. auf den Kopf des Mitgliedes.

[107]

8. Weit fortgeschritten ist die Organisation der Eisenbahnbediensteten. Bereits Mitte Oktober 1895 hatten die österreichischen Lokomotivführer in Wien eine Delegiertenversammlung abgehalten, die von etwa 400 Personen, darunter 110 aus der Provinz, besucht war und eine Organisation nach Heizhäusern mit der Zentralstelle Wien beschloß, unter Anlehnung an die Fachorganisation der Eisenbahnbediensteten und an den Verband der Beamten, Hilfsbeamten und Unterbeamten. Zum Organ wurde „Der Eisenbahner“ bestimmt.

Vom 22. bis 24. März 1896 tagte dann in Wien der erste österreichische Eisenbahnerkongreß. Vertreten waren insgesamt etwa 20000 organisierte Mitglieder durch 93 Abgeordnete, und zwar 30 der Staatsbahn, 48 der Südbahn, 10 der Staatseisenbahngesellschaft, 3 der Nordwestbahn, 2 der Nordbahn. Die Forderungen, deren Durchführung man beschloß, sind folgende: 1. Vermehrung des Personals und des rollenden Materials, wöchentliche 36stündige ununterbrochene Ruhepause und jährlichen vierzehntägigen Urlaub ohne Lohnabzug; 2. Abschaffung des Prämien-, Kilometer-, Stundengelder- und Akkordsystems und Einführung eines anständigen festen Lohnes; 3. Bestimmungen darüber, daß jeder Angestellte nach 20 Jahren Dienstzeit seinen höchsten Lohn und längstens nach einem Jahr seine definitive Anstellung erhält. Abschaffung der Bestrafung durch Ausschluß der Beförderung oder Bezugsverkürzung; 4. Einführung eines Eisenbahnschiedsgerichts; 5. Schaffung eines Gesetzes, welches die Wahl von Inspektoren aus den Reihen der Bediensteten bestimmt. Die Inspektoren sollen darüber zu wachen haben, daß die zum Schutze der Eisenbahnbediensteten erlassenen Gesetze befolgt werden; 6. Verbesserung der staatlichen Unfallversicherung durch Erhöhung der Renten; 7. Verwaltung der Betriebskrankenkassen durch das Personal; 8. Durchführung der Alters- und Invaliditätsversorgung durch den Staat und Auflösung der bei den Bahnen bestehenden Pensions- und Provisionsfonds; inzwischen Verbesserung der bestehenden Versicherungen; 9. Verstaatlichung der Eisenbahnen und aller Verkehrsmittel.

Außerdem beschloß man die Feier des 1. Mai und die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle 21jährigen Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechtes. Außer dem bereits bestehenden Fachorgan „Der Eisenbahner“ mit 18000 Abonnenten und einem slovenischen Fachblatte wurde die Gründung eines solchen auch für die polnische und böhmische Sprache beschlossen. Rechtsschutz, Statistik und Agitation soll zentralisiert, die übrige Thätigkeit dagegen den Einzelorganisationen überlassen werden; doch wurde allen Vereinen empfohlen, der Gewerkschaftskommission beizutreten. Der nächste Kongreß soll nach drei Jahren in Prag stattfinden.

Abgesehen von dem Kongresse, der hauptsächlich auf die Gewinnung der Nichtorganisierten berechnet war, besteht in Oesterreich seit 1893 eine Organisation[108] der Eisenbahnbediensteten nach Ortsgruppen, deren Gesamtzahl auf dem Kongresse zu 18–20000 angegeben wurde.

Ein im Oktober 1896 abgehaltener allgemeiner Eisenbahnbeamten-, Hilfsbeamten- und Unterbeamten-Tag suchte eine ähnliche Verbindung auch für die Beamten anzubahnen.

Durch Erlaß des Ministers des Innern vom 13. März 1897 sind sämtliche Organisationen mit der Begründung aufgelöst, daß sie „Tendenzen verfolgen, welche mit den Staatsinteressen unvereinbar sind“, doch hat sich bald darauf ein neuer Verband gebildet.

Die bisher nur dürftige Statistik über die gewerkschaftlichen Verhältnisse in Oesterreich wird für die Zukunft wahrscheinlich wesentlich ausgiebiger werden durch die Thätigkeit des bereits erwähnten, im Sommer 1898 im Handelsministerium eingerichteten arbeitsstatistischen Amtes, zumal wenn ein dem Reichsrate vorgelegter Gesetzentwurf Annahme finden wird, nach welchem eine allgemeine Auskunftspflicht für statistische Zwecke eingeführt und der Kommission ein weitgehendes Recht der Einsicht von Büchern und anderen Urkunden eingeräumt ist.

Ungarn.

In Ungarn steht die Industrie noch auf niedriger Stufe; es ist deshalb interessant, daß hier die Arbeiterbewegung ihren Ausgangspunkt von der Landwirtschaft nimmt. Den ersten Anfang einer solchen, der aber sofort allgemeines Aufsehen erregt und zu einer zweitägigen Verhandlung im Reichsrate Anlaß gegeben hat, war der vom 1. bis 4. Februar 1897 in Budapest abgehaltene und von 60 Vertretern aus 90 Gemeinden besuchte erste ungarische Feldarbeiterkongreß. Derselbe beschloß Einleitung einer umfassenden Organisation, die einem aus 11 Mitgliedern bestehenden Aktionskomitee übertragen wurde. Die Verhandlungen, an denen auch der frühere ungarische Landwirtschaftsminister Graf Festetich teilnahm, zeigten ein schreckliches Bild der Lage der ungarischen Feldarbeiter. Obgleich der Kongreß den Beschluß faßte, sich der sozialdemokratischen Partei anzuschließen, so handelt es sich doch in demselben Maße um eine gewerkschaftliche, wie um eine politische Organisation.

Die hauptsächlichsten Forderungen waren: Allgemeines Stimmrecht und volle Preß- und Versammlungsfreiheit, Maximalarbeitstag von vorläufig zwölf Stunden, der später bis auf acht Stunden herabgesetzt werden soll, Abschaffung der Akkordarbeit und Bezahlung nicht in Naturalien, sondern in barem Gelde, Abschaffung der Robot-(unentgeltlichen) Arbeit, gleiche Bezahlung für Männer und Frauen bei gleicher Leistung.

[109]

Ein zweiter Kongreß fand Ende Februar 1897 in Czegled statt unter Beteiligung von 195 Abgeordneten aus 12 Komitaten als Vertretern von 50 Gemeinden. Auch hier wurde allgemeines Stimmrecht und Preß- und Versammlungsfreiheit gefordert, doch wollte man eine teilweise Entlohnung in Naturalien und während der Ernte eine Arbeitszeit von 5 Uhr morgens bis 7 Uhr abends zulassen; selbst darüber hinaus sollten Ueberstunden gegen besondere Bezahlung gestattet sein.

Der dritte Kongreß ist vom 1. bis 3. Januar 1898 in Budapest abgehalten, unter Beteiligung von etwa 200 Abgeordneten aus 121 Gemeinden, unter denen sich auch eine Anzahl Kleinbauern befanden. Es wurde festgestellt, daß der Erntestreik des vorigen Sommers fast durchweg zu Lohnerhöhungen geführt habe. Es wurden dieselben Beschlüsse gefaßt, wie im Jahre zuvor, auch soll nicht allein die Organisation der Feldarbeiter nötigenfalls gegen das Gesetz im geheimen fortgesetzt, sondern auch der jährliche Erntestreik solange wiederholt werden, bis alle Forderungen bewilligt sind.

Der Verband der Feldarbeiter giebt seit 1. Mai 1897 unter dem Titel „Der Feldarbeiter“ ein monatlich zweimal erscheinendes Organ heraus und wirkt daneben hauptsächlich durch Flugschriften und Wanderredner.

Die ungarische Regierung ist sich der Gefahr, die in der Bewegung liegt, wohl bewußt, aber sie handelt ganz nach deutschem Vorbilde, indem sie die Bewegung nicht durch Beseitigung der Uebelstände zu entkräften, sondern mit Gewalt zu unterdrücken sucht. Nicht allein hat man im Sommer 1897 Soldaten zu Erntearbeiten kommandiert und das Gleiche für ähnliche Fälle in Aussicht genommen, sondern auch ein am 1. März 1898 in Kraft getretenes Gesetz erlassen, nach dem die Aushaltung der Landarbeiterverträge durch Polizei und Militär erzwungen werden soll. Der Reichsrat hat bei Beratung des Gesetzes den Wunsch ausgesprochen, daß das gleiche Verfahren, welches bisher nur für Erntearbeiten vorgesehen ist, auf alle Arten landwirtschaftlicher Arbeiten ausgedehnt wird.

Auf den 25. Dezember 1898 war nach Czegled in Verbindung mit dem Parteitage der ungarischen Sozialdemokratie ein neuer Feldarbeiterkongreß einberufen, insbesondere um gegen das „Sklavengesetz“ zu protestieren. Beide Versammlungen sind von der Regierung verboten. Man hat deshalb beschlossen, den Schwerpunkt in die geheimen sozialdemokratischen Tischgenossenschaften zu verlegen, ihnen gedruckte Referate und Resolutionen zugehen zu lassen und über die erforderlichen Fragen eine schriftliche Abstimmung herbeizuführen.

Am 2. April 1899 hat der zu Weihnachten verbotene Kongreß in Budapest stattgefunden unter Beteiligung von 133 Vertretern aus 92 Orten. Die Verhandlung verlief durchaus ruhig, obgleich die Redner sich ausnahmslos als[110] Anhänger der sozialdemokratischen Partei bekannten. Man protestierte gegen das Feldarbeitergesetz und dagegen, daß die Regierung, wie sie es 1898 gethan und für 1899 wieder angekündigt hatte, während der Ernte eine Feldarbeiterreserve auf den Staatsdomänen zusammenziehe. Daneben forderte man Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Beseitigung der mit den Schnitterverträgen getriebenen Mißbräuche und auskömmlichen Lohn, sowie endlich die Einrichtung staatlicher Ackerbauinspektoren durch Wahl der Feldarbeiter.

Neben der unter sozialdemokratischem Einfluß stehenden Feldarbeiterbewegung hat sich aber in neuester Zeit auch eine christlich-soziale Bewegung entwickelt. Ein Verein dieser Richtung ist in Raab gebildet, ebenso hat im Dezember 1897 eine Konferenz in Budapest stattgefunden, auf der 20 Industriezweige durch etwa 200 Abgeordnete vertreten waren. Man beschloß die Durchführung einer allgemeinen Gewerkschaftsorganisation und ernannte zunächst einen Gewerkschaftsrat, der die Zentralstelle bilden soll.

Auch die Organisation der Arbeiterinnen ist von dieser Seite in die Hand genommen und vom 6. bis 8. September 1897 in Czegled ein Arbeiterinnenkongreß abgehalten, auf dem Einführung des Achtstundentages für die Industrie und des Zehnstundentages für die Landwirtschaft, sowie gewisse Mindestlöhne gefordert wurden. Das Organ dieser Bewegung ist das in Budapest erscheinende Wochenblatt „Die Freiheit.“

Auch für Ungarn ist in neuester Zeit eine dem österreichischen arbeitsstatistischen Amte entsprechende Behörde ins Leben getreten, nämlich der Landesindustrierat in Budapest, der am 1. Februar 1899 seine erste Sitzung abgehalten hat. Sein Arbeitsprogramm umfaßt folgende Aufgaben: Arbeiterstatistik, Arbeiterversicherung gegen Unfälle, Invalidität und Alter, Regelung der Frauen- und Kinderarbeit und Revision des Gesetzes über die Arbeiterkrankenkassen. Aber der karakteristische Unterschied der ungarischen Einrichtung gegenüber der österreichischen tritt am deutlichsten darin hervor, daß zu allen diesen Beratungen über Arbeiterangelegenheiten die Arbeiter selbst nicht zugelassen wurden, während die Handels- und Gewerbekammern Vertreter entsandten. Der hauptsächlichste Gegenstand der bisherigen Beratungen bildete die Regelung des Arbeitsnachweises. Man beschloß eine auf Beihülfe des Staates, der Gemeinden und der Handelskammern beruhende Zentralanstalt mit Filialen in den größeren Orten einzurichten, die unter staatlicher Aufsicht zu je einem Drittel aus Arbeitgebern, Arbeitern und unabhängigen Personen bestehen und ihre Thätigkeit unentgeltlich besorgen soll.

Fußnoten:

[37] Vgl. Kautsky: „Die Arbeiterbewegung in Oesterreich“ in der „Neuen Zeit VIII (1890), S. 49 ff., 97 ff., 154 ff.“ Kralik: Nutzen und Bedeutung der Gewerkschaften. Wien 1891. Oesterreichischer Arbeiterkalender seit 1891 (Brünn). Verhandlungen des I. und II. sozialdemokratischen Parteitages. Wien 1889 u. 1891. Bretschneider, Arbeiterzeitung, erscheint seit 1. Juli 1889. Rechenschaftsbericht der Gewerkschaftskommission Oesterreichs für die Zeit vom 1. Januar 1894 bis 31. Oktober 1896 und Protokoll des II. österreichischen Gewerkschaftskongresses. Wien 1896. Hueber: Einige sonstige Litteratur ist bei den einzelnen Organisationen angegeben.

[38]

Nach der Berufszählung von 1890 waren im cisleithanischen Oesterreich beschäftigt in

die Landwirtschaft 13351370 Personen = 55,9 %
die Industrie   6155510 = 25,8
Handel und Verkehr   2115313 =   8,8
öffentlichen Dienst und freien Berufen   2273211 =   9,5

Im Jahre 1880 betrug der Anteil der Landwirtschaft noch 59,9%, der Industrie 24,6%, des Handels 7%. In Deutschland ergab die Zählung von 1895 für Landwirtschaft 35,7%, für Industrie 39,1%.

[39] Der Beschluß des Kongresses, seine Verhandlungen als Broschüre zu veröffentlichen, ist in Ermangelung ausreichender Beteiligung beim Absatze desselben nicht zur Ausführung gelangt. Als Quelle der Darstellung konnten deshalb nur die Berichte der Zeitungen benutzt werden.

[40] Vgl. unten.

[41] Das Organ der politischen Partei.

[42] Die Verhandlungen sind nach dem stenographischen Protokoll herausgegeben von Adolf Presl, Wien 1890, Mathias Eibensteiner.

[43] Die Verhandlungen sind nach dem stenographischen Protokoll herausgegeben von E. Berner, Prag 1891, Verlag von Knorr.

[44] Die Verhandlungen sind als Broschüre herausgegeben von Ludwig Exner, Wien 1891, im eigenen Verlage.

[45] Das Protokoll ist erschienen im Verlage von Ignaz Brand, Wien. Ueber den I. Schneidertag habe ich nichts ermitteln können.

[46] Die Protokolle beider Bäckertage sind im Verlage von J. Tobola in Wien 1891 und 1893 erschienen.

[47] Das stenographische Protokoll ist in Wien 1894 im Verlage der Administration des „Zeitgeist“ erschienen.

[48] Das Kongreßprotokoll ist, Wien 1897, im Verlage der „Einigkeit“ erschienen.

[49] Das Material verdanke ich dem „Verbande der Vereine der Buchdrucker und Schriftgießer und verwandter Berufe Oesterreichs“. Die Thätigkeitsberichte 1. für 1894–96, 2. für 1896, 3. für 1897 sind im Verlage des Verbandes erschienen.

[111]

IV. Schweiz[50].

Die Verhältnisse in der Schweiz sind in mannigfacher Beziehung abweichend von denen anderer Länder, und gerade diese Abweichungen bieten hinsichtlich der Entwickelung, welche die Arbeiterbewegung hier genommen hat, ein besonderes Interesse. In erster Linie gilt dies von dem Umstande, daß es in der Schweiz an dem Hindernisse, das anderwärts der freien Entfaltung der eignen Leistungsfähigkeit der Arbeiterklasse sich in den Weg gestellt hat, nämlich dem Widerstande der staatlichen Gewalt, fast völlig fehlt. Die Verfassung sowohl der Eidgenossenschaft wie der einzelnen Kantone ist die denkbar freieste, das Wahlrecht durchaus demokratisch; die Regierung wird von dem Volke selbst gewählt, der Arbeiterklasse ist deshalb die Möglichkeit gewährt, alle ihre Bestrebungen insoweit durchzusetzen, wie sie im stande ist, die aus den Gesamtinteressen der Bevölkerung sich ergebenden natürlichen Beschränkungen zu überwinden, vor allem aber die Arbeiterschaft selbst zu gemeinsamer Stellungnahme zu veranlassen. Insbesondere die Bildung von Gewerkvereinen ist in keiner Weise beschränkt, dieselben bedürfen sogar, um juristische Persönlichkeit zu erlangen, lediglich der Anmeldung zum Handelsregister.

Ergeben sich hieraus für die soziale Entwickelung besonders günstige Verhältnisse, so liegen allerdings hindernde Umstände einerseits in der niedrigen Stufe, auf der sich die Industrie des Landes bisher im allgemeinen befindet und der hiermit zusammenhängenden Kleinheit und Enge der Verhältnisse, sowie andererseits in der staatlichen und sprachlichen Zerrissenheit.

Eine letzte Eigentümlichkeit, die man in Betracht ziehen muß, um die Entwicklung der Arbeiterbewegung in der Schweiz zu verstehen, liegt endlich in der eigentümlichen nationalen Abgeschlossenheit und Ablehnung aller fremden Einflüsse. Dies ist besonders aus dem Grunde von Bedeutung, weil die Schweiz seit Jahrhunderten ein Zufluchtsort solcher Elemente gewesen ist, die aus andern Ländern wegen ihres Widerstandes gegen die herrschenden Gewalten sich entfernen mußten, von denen also ein erheblicher Einfluß auf die Schweizer Verhältnisse hätte erwartet werden dürfen. Thatsächlich hat ein solcher nicht stattgefunden; man hat freilich die fremden Elemente, solange sie gewisse Grenzen nicht überschritten, gewähren lassen, aber ihnen eine Herrschaft nicht gestattet.

[112]

Dies gilt insbesondere von der Sozialdemokratie, mit deren Entwicklung hier wie in den meisten übrigen Ländern diejenige der Gewerkschaftsbewegung so eng verknüpft ist, daß beide bei der Darstellung nicht getrennt werden können. Nachdem die Propaganda Lassalle's im Anfange der sechziger Jahre Schiffbruch gelitten hatte, wurde ein neuer Versuch seitens der „Internationale“ von dem begeisterten Schüler Karl Marx', Johann Philipp Becker, unternommen, der schon 1864 in Genf eine „Sektionsgruppe deutscher Sprache der internationalen Arbeiterassoziation“ mit einem eigenen Organe, dem „Vorboten“, begründete, der ersten regelmäßigen Zeitung der Internationale.

Das neue Unternehmen fand bereits zwei ältere Arbeiterorganisationen vor, auf die der geübte Einfluß wesentlich verschieden war. Die erste derselben waren die deutschen Arbeiterbildungsvereine, die bereits in den dreißiger und vierziger Jahren entstanden waren. Unter dem Einflusse der Bewegung von 1848 waren sie stark in das revolutionäre Fahrwasser geraten, und als es Liebknecht und anderen deutschen Flüchtlingen gelang, 1850 eine „Vereinigung der deutschen Arbeitervereine in der Schweiz“ ins Leben zu rufen, bildete dieselbe einige Zeit lang den Sammelpunkt der revolutionären Elemente, bis der Bundesrat auf Drängen der deutschen Regierungen alle diese Vereine auflöste und ihre Mitglieder auswies. Im geheimen bestanden sie jedoch fort und konnten sogar 1858 in Horgen ein Zentralfest der deutschen Arbeitervereine abhalten; doch hatte sich die verfolgte Richtung wesentlich geändert, indem neben den eigentlichen Bildungszwecken auch die genossenschaftlichen Bestrebungen Schulze-Delitzsch's weite Verbreitung fanden. In diesem Sinne wurde auch das 1862 begründete Organ „Das Felleisen“ geleitet. Aber bald wechselte die Stimmung, wobei sich insbesondere der Einfluß der deutschen Sozialdemokratie geltend machte, und auf der Zentralversammlung in Neuenburg am 9./10. August 1868 wurde offiziell der Anschluß der Vereinigung an die internationale Arbeiterassoziation beschlossen, wodurch derselben über 50 Lokalvereine mit 1500 bis 1600 Mitgliedern zugeführt wurden. Nachdem dann auch auf dem V. deutschen Arbeitertage in Nürnberg am 6. September 1868 eine Mehrheit von 61 Vereinen gegen eine Minderheit von 32 sich für den Anschluß erklärt hatte, stand die Internationale auf der Höhe ihrer Macht.

Die zweite Organisation war der „Grütliverein“, der im Mai 1838 in Genf begründet war und sich im bürgerlich-demokratischen Fahrwasser bewegte, auch seit Oktober 1851 ein eigenes Organ: „Der Grütlianer“ herausgab. Der Verein beschränkte sich streng auf Schweizer Bürger und schloß alle Ausländer aus. Obgleich von den anfangs bunt gemischten Elementen allmählich alle anderen bis auf die Arbeiter und kleinen Handwerker ausgeschieden[113] waren, bot doch die Mischung dieser beiden Klassen ein Hemmnis gegen sozialdemokratischen Einfluß, das insbesondere dadurch verstärkt wurde, daß der Sozialismus in internationalem Gewande auftrat und deshalb das oben bezeichnete nationale Selbstgefühl verletzte. Die Folge dieser Umstände war, daß der Grütliverein gegenüber der Internationale eine wesentlich andere Haltung einnahm, als die deutschen Arbeitervereine. Fanden auch deren Bestrebungen in einzelnen Sektionen des Vereins Beifall, so verhielt sich doch die Mehrheit durchaus ablehnend und setzte es durch, daß auf dem Grütli-Zentralfest am 14./15. Juni 1868 ein Anschlußantrag abgelehnt und lediglich eine wohlwollende Neutralität beschlossen wurde.

Auch die Gewerkschaftsbewegung wurde von der Internationale in die Hand genommen. Die erste und einflußreichste Verbindung dieser Art war der im Jahre 1858 entstandene schweizerische Typographenbund; 1867 folgten die Schuhmacher und 1868 die Uhrmacher. Im allgemeinen freilich hatte man sich bis dahin auf lokale oder kantonale Unionen beschränkt, in denen Arbeiter der verschiedensten Berufe nebeneinander zusammengefaßt waren. Die Internationale hatte auf ihrem Kongreß in Brüssel im September 1868 den Arbeitern den fachgenossenschaftlichen Zusammenschluß empfohlen und den Bemühungen Becker's war es bereits Anfang 1869 gelungen, einen Genfer Arbeiterbund mit 23, einen Baseler mit 11 und einen Züricher mit 5 Fachvereinen ins Leben zu rufen. Aber der Grundgedanke war die internationale Zusammenfassung und an ihm scheiterte der groß angelegte Plan, ja es gaben sogar die neu entstehenden Gewerkschaften, die sich regelmäßig auf nationale Abgrenzung beschränkten, den ersten Anstoß, daß die internationale Bewegung Becker's zurückging und ihren Ersatz fand in einer auf die Schweiz beschränkten sozialdemokratischen Partei.

Einer der Ersten, der die Notwendigkeit einer solchen Schwenkung erkannte, war der frühere Buchbinder, spätere Arbeitersekretär Hermann Greulich, der schon 1865 Vizepräsident des Verbandes der deutschen Arbeiterbildungsvereine war und seit 1. Januar 1870 ein neues Organ derselben, die „Tagwacht“ herausgab, in der er für die Gründung einer sozialdemokratischen Partei der Schweiz eintrat. Auf Grund eines von ihm entworfenen Programms wurde eine solche auf dem am 13./14. März 1870 in Zürich abgehaltenen allgemeinen sozialdemokratischen Kongreß beschlossen. Allerdings hielt man hier noch an der Notwendigkeit internationaler Berufsorganisationen fest, aber es war doch gegen die Beckersche Richtung ein Gegengewicht geschaffen, und nachdem auf dem Kongresse des romanischen Bundes der Internationale in Chaux de Fonds (4.–6. April 1870) unter Bakunin die Anarchisten, die ihre Thätigkeit ebenfalls auf die Schaffung von Berufsorganisationen (corps de métier) richteten[114] aber jede politische Thätigkeit verwarfen, mit 21 gegen 18 Stimmen den Sieg davon getragen hatten, ging der Einfluß Beckers mit raschen Schritten zurück und der „Vorbote“ erschien im Dezember 1871 zum letztenmal.

Den Hauptanstoß zu einer wesentlichen Umgestaltung der Verhältnisse gab der deutsch-französische Krieg, und zwar nach zwei Richtungen. Ergriff die Begeisterung über die deutschen Siege die Mehrzahl der Mitglieder der deutschen Arbeiterbildungsvereine, so mußte das zunächst eine Spaltung innerhalb derselben, insbesondere zwischen der durch das „Felleisen“ vertretenen demokratischen und der sozialistischen Richtung, deren Organ die „Tagwacht“ war, hervorrufen, indem die letztere ihrem internationalen Karakter gemäß für die Revolution Partei ergriff. Andererseits begeisterte sich auch der sonst gemäßigte „Grütliverein“ für die Schwesterrepublik und trat in einen scharfen Gegensatz gegen die deutschen „fremden“ Elemente. Ein Umschwung trat erst ein, als die „Tagwacht“ soweit ging, selbst die Schreckensherrschaft der Kommune zu verherrlichen. Jetzt erhob sich gegen die Internationale ein Sturm der Entrüstung ohne Unterschied der Parteien, und der Grütliverein beschloß in seiner Generalversammlung in Langenthal am 26./27. Mai 1872 die völlige Lossagung von ihr. Dieser Beschluß bildete zugleich den Anfang für einen neuen Aufschwung des Vereins, der jetzt wieder entschieden die Führung der Arbeiterbewegung übernahm.

Die Sozialdemokratie hatte demgegenüber einen schweren Stand. Ihr Versuch, einen allgemeinen schweizerischen Arbeiterkongreß zusammenzubringen, scheiterte an der Abneigung gegen die „Fremden“. Mehr Erfolg hatte sie auf gewerkschaftlichem Gebiete. Man suchte zunächst die vielen bestehenden Krankenkassen zu Invalidenkassen zu erweitern und stellte als Ziel auf, für die gesamte Schweiz einen Gewerkschaftsverband zu gründen, für den man zunächst einen Zentralausschuß aller Krankenkassen, Gewerkschaften, Produktivgenossenschaften und gemischten Arbeitervereine einsetzte.

Da man jedoch auf diese Weise das Politische stark in den Hintergrund drängte, so stieß man auf heftigen Widerstand bei den Anhängern der Internationale. Diese benutzten jetzt ihrerseits die Abneigung gegen die Fremden als Hebel für ihre Bestrebungen, indem sie dem Plane der Gründung einer schweizerischen sozialdemokratischen Partei entgegenhielten, daß die Schweizer den Fremden niemals die Einmischung in schweizerische Angelegenheiten politischer Art gestatten würden. Sie empfahlen demgegenüber in einem Rundschreiben vom 19. Februar 1873 eine rein gewerkschaftliche Organisation, indem es erst durch diese möglich werden würde, das Klassenbewußtsein der Arbeiter soweit zu stärken, um demnächst den nationalen Gegensatz zu überwinden und zur Grundlage einer sozialdemokratischen Landespartei zu gelangen.

[115]

Der Schachzug hatte Erfolg, und indem man bei den nichtsozialdemokratischen Gruppen, insbesondere auch bei dem Grütlivereine Beifall fand, gelang es, Pfingsten 1873 in Olten den ersten schweizerischen Arbeiterkongreß zustande zu bringen, der zum Markstein einer neuen Periode der schweizerischen Arbeiterbewegung wurde.

Vertreten waren außer dem Grütlivereine, der mit 4000 Mitglieder die stärkste Organisation darstellte, 13 Arbeiterbildungsvereine mit etwa 1000 Mitgliedern und 35 gewerkschaftliche Vereine mit 3400 Mitgliedern sowie die Reste der Internationalen. Insgesamt waren 9900 Arbeiter durch 82 Abgeordnete vertreten, doch erscheint die Zahl infolge der Doppelzählungen zu hoch. Abgelehnt hatte die Beteiligung lediglich der schweizerische Typographenbund. Die fünf Mitglieder der Bakuninschen Fédération Jurassienne verließen nach kurzer Verhandlung den Kongreß mit der Erklärung, daß sie zwar mit den gewerkschaftlichen Zielen einverstanden seien, aber die Schaffung eines Zentralkomitees ablehnten, da ein solches die Gefahr einer Diktatur begründe.

Von den übrigen Mitgliedern wurde die Gründung eines schweizerischen Arbeiterbundes einstimmig beschlossen, dessen Mitgliedschaft allen Gewerkschaften und Arbeitervereinen offen stehen sollte, die die Statuten anerkennen würden.

In diesen Statuten vermied man sorgfältig jeden Uebergriff auf das politische Gebiet und beschränkte sich lediglich auf gewerkschaftliche Forderungen; und zwar auf solche, die auf dem Boden der bestehenden Ordnung erreichbar waren, indem man allerdings in der Einleitung betonte, daß es sich nur eine einstweilige Besserung des Loses der Arbeiter und deshalb um „Uebergangsforderungen“ handele, wobei die Erringung des vollen Arbeitsertrages das Ziel bleiben müsse. Solche Forderungen waren: Verminderung der Arbeitszeit, insbesondere ein Normalarbeitstag von 10 Stunden, Feststellung der Löhne nach dem Erfordernisse einer auskömmlichen Existenz, Einschränkung der Kinderarbeit, gleiche Bezahlung von Männer- und Frauenarbeit, Gründung der Produktivgenossenschaften seitens der Gewerkschaften, Einrichtung von Arbeitsnachweisen seitens der Arbeiter, Gründung einer Arbeiter-, Kranken-, Invaliden- und Sterbekasse u. s. w. Die lokale Organisation sollte den beteiligten Arbeitern überlassen bleiben, doch wurde empfohlen, für jeden Beruf eine eigene Sektion zu bilden; aushülfsweise sollten gemischte Sektionen eintreten. Das aus neun Personen bestehende Bundeskomitee wurde durch die Sektionen des Vorortes gewählt. Seine Aufgabe bestand in Ueberwachung und Ausführung der Kongreßbeschlüsse und Verwaltung der Bundeskasse sowie Veranstaltung statistischer Erhebungen und Betreibung der Propaganda. Jedes Mitglied hatte jährlich 20 Cent. Beitrag an die Bundeskasse zu zahlen. Oberstes Organ war der[116] jährlich zusammentretende Kongreß, zu dem die Sektionen auf je 50 Mitglieder einen Vertreter wählten, doch sollten alle das Programm und die Statuten berührenden Beschlüsse der Urabstimmung unterbreitet werden. Die Ordnung der Streiks war den einzelnen Gewerkschaftsverbänden überlassen, das Bundeskomitee war auf Sammlung freiwilliger Unterstützungen beschränkt. Zum Bundesorgan wurde die „Tagwacht“ bestimmt, die von Juni 1873 ab mit dem Zusatze: „Sozialdemokratische Zeitung“ wöchentlich zweimal erschien.

Durch die Gründung des Arbeiterbundes hatte die sozialdemokratische Richtung infolge weiser Mäßigung einen erheblichen Sieg erfochten. Immerhin konnten die Reibereien nicht ausbleiben, und zwar um so weniger, als man bald versuchte, den Sieg in dem Sinn auszunutzen, daß man die politische Thätigkeit und die letzten Endziele stärker betonte und mit der Internationale festere Fühlung zu gewinnen suchte. Dies führte insbesondere zu lebhaften Kämpfen zwischen der „Tagwacht“ und dem „Felleisen“, das die Traditionen der nationalen Richtung aufrecht erhielt. Doch siegte auch hier die schärfere Tonart, und nachdem auf dem II. Kongresse in Winterthur im Mai 1874 die Züricher „Eintracht“ wegen ihrer Feindseligkeit gegen die „Tagwacht“ aus dem Bunde ausgeschlossen war, mußte auch das „Felleisen“ nach 13jähriger Wirksamkeit sein Erscheinen einstellen, ja der Verband der Arbeiterbildungsvereine selbst nebst der von ihnen eingerichteten Wanderunterstützungskasse wurde aufgelöst.

Auch im Grütliverein war die sozialdemokratische Richtung erstarkt, und obgleich der Antrag, den Gesamtverein als solchen an den Arbeiterbund anzuschließen, mit 1479 gegen 676 Stimmen abgelehnt wurde, so richtete sich doch die Thätigkeit des Vereins immer mehr auf das soziale und gewerkschaftliche Gebiet.

Der Aufschwung des Arbeiterbundes dauerte in den Jahren bis 1876 und 1877 fort. Auf dem zweiten Kongresse in Winterthur Mai 1874 waren 62 Vereine mit 4439, auf dem dritten in Basel Mai 1875 76 Vereine mit 4953 und auf dem vierten in Bern Juni 1876 71 Vereine mit 5815 Mitgliedern vertreten. Von diesen 71 Vereinen waren 38 Gewerkschaften mit 3342 Mitgliedern. Die nächststärkste Gruppe waren die 17 Arbeiterbildungsvereine mit 1113 Mitgliedern. Von dem Grütliverein hatten sich nur 5 Sektionen mit 524 Mitgliedern angeschlossen.

Aber bald begann der Rückschlag. Der Gegensatz zwischen den politischen und den gewerkschaftlichen Elementen machte sich in steten Streitigkeiten geltend. Der Plan einer Unterstützungskasse für Arbeitseinstellungen mußte wegen mangelnder Beteiligung fallen gelassen werden, auch die ins Leben gerufene Kranken- und Sterbekasse kam nicht zu einer befriedigenden Entwicklung. Das Bundesorgan,[117] die „Tagwacht“ arbeitete bei 1200–1400 Abonnenten mit einem steten Defizit.

So mußte dann endlich auf dem siebenten Kongresse in Olten, 6. bis 8. November 1880, die Auflösung des Bundes beschlossen werden, nachdem die Beteiligung bereits auf 20 Sektionen mit 1400 Mitgliedern zurückgegangen war. Man hatte einsehen müssen, daß die Verschmelzung der schweizerischen und der ausländischen Elemente auf politischem Boden ebenso unmöglich war, wie die Gewinnung der ersteren für die sozialdemokratischen Grundanschauungen. So gründeten denn die Deutschen in Anlehnung an das Mutterland den „Landesausschuß der organisierten deutschen Sozialisten in der Schweiz“, während die Schweizer Sozialisten sich in der „sozialdemokratischen Partei der Schweiz“ zusammenfinden wollten. Endlich schuf man für die unpolitischen Zwecke den „allgemeinen schweizerischen Gewerkschaftsbund“, der allen Arbeitern ohne Unterschied der Nationalität offen stehen sollte. Zum Vororte wurde Genf bestimmt. An Stelle der „Tagwacht“ wurde als Organ der sozialdemokratischen Partei der Schweiz und des Gewerkschaftsbundes die „Arbeiterstimme“ ins Leben gerufen, die versuchen sollte, die auch im Gewerkschaftsbunde herrschenden sozialdemokratischen Traditionen fortzusetzen.

Alle diese Gründungen hatten wenig Lebenskraft. Dem Gewerkschaftsbunde gehörten zur Zeit seiner am 9./10. September 1882 in Olten abgehaltenen, von 16 Vertretern beschickten Konferenz nur 17 Sektionen mit 450 Mitgliedern an; die sozialdemokratische Partei der Schweiz erhob sich nicht über eine Anhängerzahl von 400.

Im Gegensatze hierzu hielt sich der Grütliverein auf seiner früheren Höhe; er zählte Ende September 1882 185 Sektionen mit mehr als 7000 Mitgliedern. Allerdings hatte er gewisse sozialreformerische Gedanken in sich aufgenommen, ja auf der Delegiertenversammlung in Luzern, Pfingsten 1878, war sogar das von einem Ausschusse entworfene „Programm der sozialdemokratischen Partei der Schweiz“ mit 114 gegen 2 Stimmen angenommen, zugleich aber ein „Allianzvertrag“ mit dem Arbeiterbunde mit 119 gegen 28 Stimmen abgelehnt. „Grütlianer“ und „Arbeiterstimme“ lebten fortwährend in lebhaftester Fehde. An der Schaffung des allgemeinen Gewerkschaftsbundes hatte sich der Verein beteiligt, doch trat er schon 1887 mit der Begründung zurück, daß er „als nationaler Verein mit den internationalen Bestrebungen des Gewerkschaftsbundes und der Sozialisten sich nicht befreunden könne“.

Ein neuer Versuch, zu einer Einigung zu gelangen, wurde unternommen durch den „Allgemeinen schweizerischen Arbeitertag“, der von einflußreichen Personen im Grütliverein und in der sozialdemokratischen[118] Partei einberufen wurde und vom 8. bis 10. September 1883 in Zürich unter Beteiligung von 172 Abgeordneten zusammentrat, doch waren von den 183 Sektionen des Grütlivereins nur 60 vertreten. Das Ergebnis war die Einsetzung eines aus je 2 Mitgliedern des Grütlivereins, der schweizerischen sozialdemokratischen Partei, des Gewerkschaftsbundes, der deutschen sozialdemokratischen Mitgliedschaften und der deutschen Arbeiterbildungsvereine zusammengesetzten „Aktionskomitees des schweizerischen Arbeitertages“, dem es gelang, bis Ende 1883 eine Gesamtzahl von 3900 Mitgliedern zusammenzubringen, von denen 1500 dem Grütliverein, 300 der schweizerischen sozialdemokratischen Partei, 650 den deutschen sozialdemokratischen Mitgliedschaften und 550 den deutschen Arbeiterbildungsvereinen und kleinen Gruppen angehörten. Der Beitrag beschränkte sich auf ein Agitationsgeld von vierteljährlich 5 Cts. Auf eine eigentliche Zentralleitung hatte man ebenso verzichtet, wie auf größere praktische Aufgaben; es handelte sich lediglich um eine lose Verbindung zum Zwecke sozialistischer Propaganda. Außerdem versuchte man durch Eingaben an den Bundesrat und die Staatsregierungen, sowie Beeinflussung der öffentlichen Meinung für arbeiterfreundliche Maßregeln zu wirken. Dabei trat jedoch, wie bei der Stellung zum Branntweinmonopol, das von dem Grütliverein befürwortet, von den Sozialisten dagegen bekämpft wurde, vielfach der Gegensatz in den Grundanschauungen deutlich hervor.

Um den sozialistischen Elementen einen stärkeren Einfluß zu verschaffen, setzte man im Sommer 1887, wo die Mitgliederzahl übrigens bereits auf 6000 gestiegen war, durch, daß der Sitz des Aktionskomitees von Zürich nach Bern verlegt wurde. In der That wurde jetzt die Tonart schärfer und das Ziel der Gründung einer sozialdemokratischen Partei deutlicher in den Vordergrund gestellt. Insbesondere der Fürsprecher Stock in Bern und der Bezirksanwalt Otto Lang in Zürich, der seit dem 1. Januar 1888 in seinem Verlage ein neues Blatt, den „Schweizerischen Sozialdemokraten“ erscheinen ließ, waren die Führer der Bewegung, und obgleich der Grütliverein sich fern hielt, gelang es doch, auf den 21. Oktober 1888 nach Bern einen zweiten „schweizerischen Arbeitertag“ zusammenzuberufen, auf dem die neue „sozialdemokratische Partei der Schweiz“ gegründet wurde. Es sollten nicht mehr, wie früher, Vereine als solche, sondern nur noch einzelne Mitglieder beitreten können. Nur Schweizer Bürgern war der Beitritt gestattet. Der Beitrag belief sich auf jährlich 20 Cts. An der Spitze steht das aus 15 Personen bestehende Parteikomitee. Jährlich findet ein ordentlicher Parteitag statt, dessen Beschlüsse jedoch auf Verlangen einer Urabstimmung unterworfen werden müssen.

Der „schweizerische Gewerkschaftsbund“ hatte sich nach kümmerlichen Anfängen allmählich eine etwas festere Stellung erworben. Er zählte[119] 1886 1000 Mitglieder; die „Arbeiterstimme“ hatte sogar eine Auflage von 1700 und deckte ihre Ausgaben. Immerhin hatte der Bund wenig praktische Bedeutung, insbesondere fehlte ihm die Befugnis, bei Streiks einzugreifen, und so war es ganz naturgemäß, daß man nach dieser Richtung hin neuen Plänen nachging. In der That wurde auf dem Zentralfeste des Grütlivereins in Grenchen am 26. Juni 1886 dem Zentralkomitee des Vereins der Auftrag erteilt, mit anderen Vereinen zur Gründung einer „Allgemeinen schweizerischen Reservekasse“ in Verbindung zu treten, und es gelang, mit dem Gewerkschaftsbunde und dem Aktionskomitee des Arbeitertages eine Verständigung zu erzielen, nach der die für die Leitung der Kasse bestimmte Kommission aus 9 Mitgliedern bestehen und von diesen 5 dem Grütliverein und je 2 den beiden anderen Gruppen angehören sollten. Die Mitgliedschaft an der Kasse war keine direkte, sondern nur Vereine und Verbände konnten derselben beitreten. Die Einnahmen der Kasse bestanden aus jährlichen Beiträgen der beteiligten Verbände, die für den Grütliverein auf 1000, für das Aktionskomitee auf 800 und für den Gewerkschaftsbund auf 400 Frs. festgesetzt wurden. Doch wurden diese Beiträge von den einzelnen Verbänden selbständig verwaltet und von der Ablieferung derselben an eine eigene Kasse abgesehen. Ein fester Fonds von 5000 Frs. sollte stets unangetastet bleiben und erst bei Ansammlung von 10000 Frs. die Bewilligung von Unterstützungen eintreten. Diese sollte erst zulässig sein, wenn alle Mittel einer friedlichen Beilegung des Streites erschöpft waren.

Der Erfolg des Unternehmens war zunächst sehr erheblich. Allerdings waren die festen Einnahmen gering, aber es gelang, in einzelnen Fällen große Summen an freiwilligen Beiträgen zu sammeln, und den Arbeitern gab der bloße Bestand einer solchen Kasse einen moralischen Stützpunkt. Immerhin wünschte man mehrfach eine festere Organisation und die Einführung direkter Mitgliederbeiträge. Aber ein in diesem Sinne auf dem Delegiertentage in Aarau am 1. April 1888 gefaßter Beschluß scheiterte an dem Widerspruche des Grütlivereins, und erst nach langen Verhandlungen einigte man sich im März 1889 dahin, daß die übrigen Mitglieder direkte Beiträge von monatlich 20 Cts. zu zahlen, der Grütliverein dagegen eine jährliche Pauschalsumme von 2000 Frs. zu leisten habe; außerdem wurde eine eigene Kassenverwaltung eingerichtet.

Aber die praktische Notwendigkeit drängte weiter. Es war ein unnatürlicher Zustand, daß neben den zentralisierten Verbänden der einzelnen Berufe noch zwei selbständige gewerkschaftliche Organe bestanden, und man forderte deshalb wiederholt die Verschmelzung der Reservekasse mit dem Gewerkschaftsbunde, sowie den engeren Anschluß an die Gewerkschaftsverbände.[120] Trotz des Widerstandes des Grütlivereins gelang es auf dem am 25. Januar 1891 in Zürich abgehaltenen Delegiertentage, diesen Plan durchzusetzen. Die Reservekasse wurde dem Gewerkschaftsbunde überwiesen und die Verwaltung dem aus 12 Mitgliedern bestehenden Bundeskomitee unterstellt.

Aber noch immer wurden weitere Umgestaltungen gewünscht, und nachdem in Bern 1893 beschlossen war, eine Neuregelung hinsichtlich der Behandlung von Streiks vorzunehmen und zu diesem Zwecke einen außerordentlichen Kongreß zu berufen, wurde dieser am 5./6. Juni 1895 in Luzern abgehalten unter einer Beteiligung von 9 Zentralverbänden mit 83 Sektionen durch insgesamt 141 Vertreter.

Die Statuten wurden dahin geändert, daß der Beitritt zum Gewerkschaftsbunde allen Berufsverbänden offensteht, daß aber der Anschluß von Einzelmitgliedern nicht statthaft ist, diese vielmehr ihrem Berufsverbande beizutreten haben. Wo einzelne Berufe zu wenig Mitglieder für eine eigene Organisation besitzen, sollen gemischte Gewerkschaften zulässig sein. Alle zwei Jahre soll ein Bundeskongreß stattfinden; die Gewerkschaften können auf je 50 Mitglieder einen Vertreter entsenden. Gegen alle Beschlüsse kann von 1/3 der Vertreter oder 1/10 der Bundesmitglieder Urabstimmung gefordert werden. Um die durch den großen Uhrenarbeiterstreik erschöpften Mittel des Bundes zu ergänzen, wurde ein außerordentlicher Beitrag von 2 Frs. auf den Kopf beschlossen. Den Verbänden wurde empfohlen, Beitragsleistungen an die sozialdemokratische Partei einstweilen einzustellen. Hinsichtlich des Verhältnisses des Bundes zu den einzelnen Verbänden fand sowohl die straffere Organisation als auch die Lockerung derselben Vertreter. Einerseits wurde den einzelnen Verbänden dadurch ein größerer Einfluß eingeräumt, daß dem Bundesvorstande Vertreter der Verbände hinzutreten und mit ihm das erweiterte Bundeskomitee bilden sollen. Andrerseits wurde angeregt, die Zentralverbände sollten sich zu Gunsten des Bundes auflösen, doch wurde ein Beschluß hierüber nicht gefaßt. Auch die Regelung der Stellung des Bundeskomitees gegenüber Streiks wurde lebhaft erörtert: endlich wurde beschlossen, daß über die Genehmigung eines Streiks das Bundeskomitee, über dessen Beendigung dagegen dasselbe in Verbindung mit den beim Streik beteiligten Arbeitern entscheiden soll.

Auf dem Kongresse ließ der Typographenbund, der früher dem Gewerkschaftsbund angehört hatte, seinen Austritt anzeigen. Auch das Zentralkomitee des Grütlivereins hatte erklärt, auf Vertretung im Bundeskomitee zu verzichten. Trotzdem wurde beschlossen, ihm eine solche Vertretung gegen Zahlung eines festen jährlichen Beitrages einzuräumen, worauf der Verein dann später eingegangen ist.

[121]

Auf dem am 5. April 1896 im Schwurgerichtssaale in Zürich abgehaltenen Kongresse, auf welchem 11 Zentralverbände mit 142 Sektionen durch 185 Abgeordnete vertreten waren, war als Vertreter der sozialdemokratischen Partei der Schweiz der Staatsanwalt Zgraggen aus Bern zugegen. Ein Hauptgegenstand der Verhandlungen war das Verhältnis der bisher als Organ des Bundes benutzten „Arbeiterstimme“ zu der sozialdemokratischen „Tagwacht“. Es wurde beschlossen, die „Arbeiterstimme“ zum wirklichen Gewerkschaftsblatte umzugestalten und wöchentlich erscheinen zu lassen; politische Angelegenheiten soll dasselbe nur soweit bringen, wie sie eng mit der Gewerkschaftsbewegung verknüpft sind. Ferner wurde beschlossen, am 1. Januar 1897 ein selbständiges Sekretariat in Zürich einzurichten.

Der letzte Kongreß ist vom 8. bis 10. April 1898 in Solothurn abgehalten unter Beteiligung von 16 Verbänden mit 138 Sektionen, die durch 187 Abgeordnete vertreten waren. Der Typographenbund hatte mit einer kleinen Mehrheit gegen den Vorschlag seines Vorstandes beschlossen, mit dem Gewerkschaftsbunde einen Kartellvertrag abzuschließen, aber trotz lebhafter Befürwortung seitens derjenigen, die auf diese Weise die Wiederannäherung anbahnen wollten, wurde dies abgelehnt mit der Begründung, daß man dadurch auch andere Verbände bestimmen würde, ein solches loseres Verhältnis mit geringeren Opfern der eigentlichen Mitgliedschaft vorzuziehen. Das Verhältnis der Zentralverbände zum Gewerkschaftsbunde wurde wieder einer eingehenden Erörterung unterzogen, wobei angeregt wurde, einerseits den Bundesvorstand lediglich aus den Vorständen der Verbände zusammenzusetzen, andererseits die Verbände zu Gunsten des Bundes aufzulösen. Schließlich wurde zur Prüfung der Frage eine Kommission eingesetzt, die davon ausgehen soll, daß das gesamte Kassenwesen an den Bund abgetreten, hingegen die Berufsorganisation den Verbänden überlassen werden soll. Besonders interessant waren die Verhandlungen über die Organisation. Der Vorstand der sozialdemokratischen Partei hatte den Gewerkschaftsbund benachrichtigt, daß er eine Neuorganisation anstrebe und anheimgestellt, daß der Bund sich derselben anschließen möge. Obgleich von mehreren Seiten hiergegen mit dem Bemerken protestiert wurde, daß keineswegs alle Mitglieder Sozialdemokraten seien, wurde doch dem Bundesvorstande Vollmacht erteilt, unter Vorbehalt späterer Genehmigung seitens des Bundes in Verhandlungen einzutreten. Dagegen wurde der von einem Vertreter geäußerte Wunsch, es möge auch Nichtschweizern der Eintritt in die sozialdemokratische Partei gestattet werden, von allen Seiten unter dem Hinweise darauf abgelehnt, daß dies nach den bisherigen Erfahrungen den Tod der Partei bedeuten würde.

Diese Verhandlungen zeigen deutlich, daß der Gewerkschaftsbund stark unter sozialdemokratischem Einflusse steht, eine Thatsache, die auch durch mancherlei[122] andere Umstände, z. B. dadurch, daß auf allen Bundeskongressen der sozialdemokratische Parteistand offiziell vertreten ist, bestätigt wird. Ihr ist auch zweifellos der Austritt des Typographenbundes zuzuschreiben, denn bei den einschlägigen Kongreßverhandlungen wurde stets betont, daß derselbe auf konservativem Standpunkte stehe und seine Mitglieder sich zu gut dünkten, um mit anderen Arbeitern zusammenzuwirken.

Die äußere Entwickelung und jetzige Bedeutung des Gewerkschaftsbundes zeigen folgende Zahlen.

Bei seiner Gründung im Jahre 1880 hatte er 13 Sektionen mit 133 Mitgliedern. In Olten (9. September 1882) hatten sich diese auf 17 Sektionen mit 450 Mitgliedern vermehrt. 1886 zählte der Bund 1000 Mitglieder, 1893 gab es bereits 260 Sektionen mit 9495 Mitgliedern.

Durch den Austritt des 1100 Mitglieder zählenden Typographenbundes trat ein starker Rückschlag ein, doch gab es nach dem auf dem Kongreß in Zürich (5. April 1896) erstatteten Berichte am 31. Dezember 1895 bereits wieder 9203 Mitglieder, die sich auf folgende Verbände verteilen: 1. Uhrmacher 3000, 2. Metallarbeiter 1750, 3. Schneider 500, 4. Lithographen 280, 5. Schuhmacher 220, 6. Buchbinder 200, 7. Glaser 150, 8. Tabakarbeiter 100, 9. Müller 40, 10. Korbmacher 20, 11. Holzarbeiter 1261, 12. verschiedene andere Gewerkschaften 1468, 13. politische Vereine 214.

Eine ausführliche Darstellung der äußeren Verhältnisse des Bundes giebt der von demselben zum Zwecke der Landesausstellung in Genf 1897 zusammengestellte und auf besonderen Erhebungen beruhende Bericht. Danach gab es folgende Verbände:

1. Der Metallarbeiterverband mit 53 Sektionen und 2620 Mitgliedern.

2. Die Brauerunion mit 8 Sektionen und 490 Mitgliedern.

3. Der Schneider- und Schneiderinnenverband mit 25 Sektionen und 746 Mitgliedern.

4. Der Schuhmacherverband mit 14 Sektionen, von denen 11 mit 424 Mitgliedern berichtet haben.

5. Der Tabak- und Zigarrenarbeiterverband mit 5 Sektionen und 108 Mitgliedern.

6. Der Müllerverband mit 6 Sektionen und 145 Mitgliedern.

7. Der Buchbinderverband mit 7 Sektionen und 236 Mitgliedern.

8. Der Lithographenbund mit 292 Mitgliedern.

9. Der Korbmacherverband mit 80 Mitgliedern.

10. Der Verband der Baugewerbe mit 22 Sektionen und 1374 Mitgliedern.

11. Der Verband der Holzarbeiter mit 26 Sektionen und 2080 Mitgliedern.

[123]

12. Zwei Gärtnerfachvereine mit 64 Mitgliedern.

13. Die Färbergewerkschaft in Zürich mit 90 Mitgliedern.

14. Allgemeine Arbeitervereine mit 477 Mitgliedern.

Dazu kommt noch der Uhrenarbeiterverband mit 3000 Mitgliedern.

Mit Rücksicht auf die zum Teil unvollständigen Antworten ist die Gesamtmitgliederzahl auf 12700 zu veranschlagen.

Auf dem Kongresse in Solothurn (8. April 1898) wurde mitgeteilt, daß der Bund 322 Sektionen mit rund 14000 zahlenden Mitgliedern umfasse, was etwa 10 % der gesamten schweizerischen Arbeiterschaft entspreche.

Von 1887–1897 hatte der Bund 203267 Frs. verausgabt. Einnahmen und Ausgaben belaufen sich jährlich auf etwa 20000 Frs., der Vermögensbestand betrug am 31. Dezember 1897 12319 Frs. 31 Cts. Das Organ des Bundes „Die Arbeiterstimme“ hat eine Auflage von etwa 4000.

In noch höherem Grade, als in dem Gewerkschaftsbunde, hat die sozialdemokratische Richtung allmählich das Uebergewicht erlangt in dem „Grütliverein“. Wie oben gezeigt, stand der Verein anfangs auf einem durchaus anderen Standpunkte, obgleich schon früh einzelne Sektionen sich dem Einflusse der Sozialdemokratie zugänglich erwiesen. Den Abschluß erreichte diese Bewegung auf dem am 8./9. Oktober 1892 in Olten abgehaltenen Delegiertentage. Nach dem hier gefaßten und dann Ende Mai 1893 durch Urabstimmung mit 4952 gegen 623 Stimmen angenommenen Beschlusse wurden die Statuten dahin geändert, daß sich der Verein nicht mehr, wie bisher, auf die „Grundlage der freisinnigen Demokratie“, sondern auf die „Grundlage der Sozialdemokratie“ stellen will. Demgemäß wurde die frühere Zweckbestimmung: „Förderung des nationalen Bewußtseins“ gestrichen und statt dessen betont, daß der Verein auch mit zweckverwandten Vereinen des Auslandes in freundschaftliche Verbindung treten will. Dieser Umschwung erregte großes Aufsehen und hatte zur Folge, daß eine Anzahl Mitglieder ihren Austritt erklärten. Freilich darf man die Bedeutung des Beschlusses nicht überschätzen. Muß zunächst schon auffallen, daß von 15241 Mitgliedern nur 5675 sich an der Abstimmung beteiligten, wie denn auf der Oltener Versammlung von den 352 Sektionen nur 78 vertreten waren, so bewies die im November 1892 erfolgte Wahl des Redakteurs für das Vereinsorgan, den „Grütlianer“, daß die eigentliche Sozialdemokratie noch immer im Vereine sich in der Minderheit befand. Der von ihr aufgestellte Kandidat, der Redakteur der „Arbeiterstimme“, R. Seidel, erhielt nur 2858 Stimmen, während 5379 sich auf den Redakteur des „Bieler Anzeigers“, H. Mettier, den Kandidaten der Grütlianer Partei, vereinigten. Der Verein lehnte deshalb anfangs auch, trotz seines Programms, die formelle Verbindung mit der Sozialdemokratie durchaus ab. Aber schon aus den Abstimmungsziffern[124] ergiebt sich, daß die sozialdemokratischen Elemente innerhalb des Vereins weitaus die energischeren waren, und so ist es denn begreiflich, daß diese immer mehr die andern aus ihrem Einflusse und schließlich aus dem Vereine verdrängten und dieser völlig zu einer sozialdemokratischen Organisation wurde. Die Jahresberichte für 1895, 1896 und 1897 stehen durchaus auf diesem Standpunkte, bezeichnen die sozialdemokratische Partei und den Grütliverein als „die beiden sozialdemokratischen Zentralverbände“, bekämpfen „die Geringschätzung, mit der einzelne Gewerkschaften und Genossenschaften auf die politische Arbeiterbewegung glauben herabschauen zu dürfen“ und erwarten von einer „Ausbreitung der sozialdemokratischen Ideen“ das Heil der Zukunft. Die Frage, ob die Bildung politisch neutraler oder ausdrücklich sozialdemokratischer Gewerkschaften und Genossenschaften den Vorzug verdiene, wird als eine solche der bloßen Zweckmäßigkeit bezeichnet. Allerdings sind gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisationen ein unentbehrliches Mittel im sozialen Emanzipationskampfe des Proletariates, aber „eine gänzliche Befreiung aus den Fesseln des Kapitalismus werden nur diejenigen dieser Bildungen finden, in denen der sozialdemokratische Geist am lebendigsten und konsequentesten sich äußert“.

Aus der öffentlichen Wirksamkeit des Vereins innerhalb der letzten Jahre ist insbesondere hervorzuheben das Eintreten für eine Revision des Fabrikgesetzes im Sinn einer Beschränkung der Nacht- und Sonntagsarbeit, der Herabsetzung des gesetzlichen Maximalarbeitstages von 11 auf 10 Stunden für Männer und 8 Stunden für Frauen, ferner die Unterstützung des Tabakmonopols und der Schaffung einer eidgenössischen Bundesbank mit alleinigem Banknotenrechte, die Agitation für ein gemeinsames bürgerliches Recht und obligatorische Kranken- und Unfallversicherung, sowie Vorbereitung der Arbeitslosenversicherung. Während in allen diesen Punkten die Bewegung fruchtlos verlief, wurde hinsichtlich des Eisenbahnrückkaufes durch den Bund ein Erfolg erzielt, indem dieser bei der Volksabstimmung am 20. Februar 1898 mit großer Mehrheit angenommen wurde. Daneben hat der Verein und seine Sektionen sich nachdrücklich der Unterstützung der Lohnbewegung gewidmet und eine Reihe von Streiks unterstützt. Der Verein besitzt eine Unterstützungskasse sowie eine eigene Buchhandlung und Buchdruckerei. Die offiziellen Blätter des Vereins sind „Der Grütlianer“ und „Le Grutli“; außerdem erhalten noch mehrere Blätter jährliche Zuschüsse.

Die Zahl der Mitglieder ist seit dem Jahre 1890, wo der Verein den Gipfel der Blüte erreicht hatte, stetig zurückgegangen. Die Mitgliederzahl betrug: am 1. Juli 1860: 2253; am 1. April 1872: 4217; am 1. Oktober 1876: 7332; am 1. Oktober 1881: 6165; am 1. Oktober 1886: 11080; am 1. Oktober 1889: 15363; am 31. Dezember 1890: 16391; zu dem gleichen Zeitpunkte[125] 1891: 15241; 1892: 14140; 1893: 13289; 1894: 12976; 1895: 12439; 1896: 11286 und 1897: 10919.

Allerdings ist die Zahl der Sektionen, die Ende 1897 324 betrug, nicht im gleichen Maße gesunken, da vielfach neue Sektionen gebildet wurden; um so größer ist der Rückgang der Mitglieder in vielen der bestehenden Sektionen. Der Bericht für 1897 giebt auch zu, daß neben anderen Gründen für das Herabgehen des Vereins die Abschwenkung zur Sozialdemokratie in Betracht komme, glaubt aber, daß dafür die Einheitlichkeit des Vereins um so mehr gewachsen sei. Da die sozialdemokratische Partei der Schweiz noch immer recht schwach ist, so bedeutet der Grütliverein augenblicklich, wie auch die Berichte betonen, die wichtigste Zusammenfassung der sozialdemokratischen Elemente.

Dem Rückgange der Mitglieder entspricht der schwache Besuch der Vereinstage, von denen der letzte, der am 2./3. Oktober 1897 in St. Gallen abgehalten wurde, nur 78 Abgeordnete als Vertreter von 62 Sektionen aufwies. Das Verbandsvermögen betrug am 31. Dezember 1897 5765 Frs. Die neben dem Vereine bestehende Kranken- und Sterbekasse hatte 4651 Mitglieder und ein Vermögen von 116011 Frs.

Der Verein hat übrigens trotz seines sozialdemokratischen Karakters in den letzten Jahren versucht, mit den sozialreformerischen Elementen anderer Parteien, insbesondere der bürgerlichen Demokratie, eine Verbindung anzuknüpfen. Nicht allein haben sich im Nationalrate die Abgeordneten dieser Richtungen zu einer gemeinsamen Gruppe zusammengeschlossen, sondern es hat auch am 6. Juni 1897 in Luzern eine Vertrauensmännerversammlung stattgefunden, auf der 91 Vertreter aus 15 ganzen und 5 halben Kantonen zugegen waren und nach eingehenden Vorträgen über wichtige Tagesfragen zur Beratung des weiteren Vorgehens eine Kommission aus 9 Mitgliedern eingesetzt wurde, von denen die sozialpolitische Gruppe 3 und die übrigen 3 Verbände, nämlich Grütliverein, sozialdemokratische Partei und Gewerkschaftsbund je 2 ernannten. Diese Kommission hat am 25. September 1897 in Olten ihre erste Sitzung gehalten und verschiedene Beschlüsse gefaßt. Die Fortsetzung dieser Beratungen ist beabsichtigt.

Der bereits erwähnte „Schweizerische Typographenbund“ hatte sich bis zu dem im Jahre 1889 zu Gunsten des Neunstundentages ausgebrochenen großen Streik in ausgesprochenem Gegensatze zu der Sozialdemokratie befunden und sich aus diesem Grunde auch von dem Gewerkschaftsbunde fern gehalten. Dieser unglücklich verlaufene Streik hat einen gewissen Umschwung der Anschauungen herbeigeführt, indem ein Teil der Vereinsmitglieder für einen Anschluß an die sozialdemokratische Partei eintritt. Trotzdem wurde ein entsprechender Antrag auf der Generalversammlung in Burgdorf 1892 abgelehnt[126] und lediglich unter Freistellung des Beitrittes für die einzelnen Mitglieder die Zahlung eines jährlichen Zuschusses von 200 Frs. beschlossen. Dem Gewerkschaftsbunde ist der Typographenbund 1892 beigetreten, doch hat, wie oben mitgeteilt, das Verhältnis nur bis Ende 1895 gedauert. Seitdem ist wegen des Wiedereintrittes mehrfach innerhalb des Typographenbundes verhandelt, wobei sich die beiden Vorschläge einer völligen Mitgliedschaft mit festen Beiträgen oder eines bloßen Kartellverhältnisses gegenüberstanden. Bei der am 26. März 1898 vorgenommenen Urabstimmung siegte die letztere, auch vom Zentralvorstande vertretene Ansicht mit 660 gegen 651 Stimmen, doch ist abzuwarten, ob der Gewerkschaftsbund auf dieses Angebot eingehen wird.

In der Schweiz besteht auch ein Verein der Buchdruckereibesitzer, und das Verhältnis zwischen ihm und dem Gehülfenverbande ist ein friedliches, obgleich es nicht so weit entwickelt ist, wie in Deutschland, insbesondere besteht kein allgemeiner Tarif für die ganze Schweiz, und die Vorschläge, ihn herbeizuführen, haben innerhalb des Gehülfenverbandes bis jetzt noch nicht die Mehrheit gefunden. In den letzten Jahren hat man eingehend über die Frage der Setzmaschine verhandelt, aber zu einer festen Vereinbarung ist man bis jetzt noch nicht gelangt.

Auch die Bildung einer graphischen Union ist schon mehrfach, insbesondere von den Lithographen, angeregt, der Typographenbund hat sich aber bisher ablehnend verhalten mit der Begründung, daß dieselbe erst möglich sei, wenn die übrigen graphischen Berufe sich auf einer ähnlich hohen Stufe der Organisation befinden würden, wie die Buchdrucker.

In welchem Umfange der Bund in den letzten Jahren seinem Ziele, die Gesamtheit der Angehörigen des Gewerbes zu vereinigen, näher gekommen ist, zeigen folgende Ziffern. Die Zahlen der dem Bunde angehörigen und der außerhalb stehenden Setzer und Drucker waren 1890: 1034 und 524; 1891: 1118 und 560; 1892: 1147 und 509; 1893: 1183 und 526; 1894: 1332 und 543; 1895: 1417 und 563; 1896: 1556 und 494; 1897: 1563 und 559.

Der Bund besitzt Kranken-, Invaliden- und Sterbekasse, die 1896 zu einer einzigen verschmolzen sind, ferner ein eigenes Organ, die „Helvetische Typographia“ und eine eigene Vereinsdruckerei. Aus der allgemeinen Kasse werden außerdem Viatikum und Konditionslosenunterstützung, sowie Umzugsvergütung geleistet. Das Vermögen des Bundes belief sich am 31. Dezember 1897 auf 37000 Frs. neben 100654 Frs. der Kranken-, Invaliden- und Sterbekasse.

Für die französische Schweiz besteht ein gleicher Verband, die Fédération romande; zwischen beiden herrschen freundschaftliche Beziehungen. —

Eine ähnliche Stellung, wie die Buchdrucker haben in der Schweiz von je her die Uhrenarbeiter eingenommen, indem sie sich insbesondere von der[127] allgemeinen Arbeiterbewegung fern hielten und die Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu den Arbeitgebern erstrebten. Obgleich man bereits 1868 eine Fédération des Graveurs et Guillocheurs begründet hatte, beschränkte sich doch anfangs die gewerkschaftliche Bewegung auf kleine lokale Vereinigungen. Nachdem dann eine nach dem Muster des Stickereiverbandes am 31. Juli 1886 gegründete fédération horlogère, aus Arbeitern und Fabrikanten bestehend, nach kurzem Bestehen an dem Widerstande der beiderseitigen Interessen gescheitert war, wurde endlich auf einem am 16. Oktober 1892 in St. Immer abgehaltenen Kongresse der „Uhrenarbeiterverband“, die „Fédération Ouvrière Horlogère“ ins Leben gerufen, der sich freilich dem Gewerkschaftsbunde nicht formell anschloß, aber doch zu ihm freundschaftliche Beziehungen unterhält und sich an der Reservekasse in der Weise beteiligt hat, daß er für jedes Mitglied jährlich 50 Cent. an dieselbe zahlt. Auf dem am 3. Dezember 1893 in Biel abgehaltenen ersten ordentlichen Kongresse wurden 4500 Mitglieder gezählt. Das Verbandsorgan ist die von G. Reimann herausgegebene „Solidarité horlogère“, die in einer gemäßigt sozialdemokratischen Richtung geleitet wird. Es ist also nicht zu verkennen, daß die sozialdemokratischen Anschauungen unter der schweizerischen Arbeiterschaft allmählich einen größern Einfluß erlangt haben, als die ersten Entwickelungsstadien erwarten ließen. —

Die letzten Jahre haben endlich aber auch einen formellen Zusammenschluß sämtlicher Arbeitervereine in der Schweiz herbeigeführt. Schon auf dem Arbeitertage in Zürich 1883 war von dem Grütliverein die Schaffung eines eidgenössischen Bureaus für Arbeiterstatistik nach dem Vorbilde der nordamerikanischen boards of trade angeregt, jedoch ohne Erfolg. Am 28. August 1886 richtete das Zentralkomitee des Grütlivereins an das Handelsdepartement des Bundes ein Gesuch um einen Zuschuß für ein im Rahmen des Vereins zu errichtendes Arbeitersekretariat, dessen Aufgabe sich unabhängig von allen politischen Zielen lediglich auf Förderung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterschaft beschränken sollte. Schon am 7. September 1886 erfolgte eine grundsätzlich zustimmende Antwort. Auf ein Ausschreiben des Grütlivereins, in dem derselbe alle Arbeitervereine ohne Rücksicht auf Parteistellung und religiöses Bekenntnis zur Teilnahme aufforderte, erklärten sich nicht allein das „Aktionskomitee des schweizerischen Arbeitertages“ und der „Allgemeine schweizerische Gewerkschaftsbund“, sondern auch zahlreiche andere Gruppen, z. B. die katholischen Vereine, zur Mitwirkung bereit. Seitens der Bundesregierung wurden dann folgende Bedingungen gestellt:

1. daß ein Komitee gebildet werde, in dem alle schweizerischen Arbeiterverbände im Verhältnis ihrer Mitgliederzahl vertreten seien,

[128]

2. daß der Arbeitersekretär von diesem Komitee ernannt werde und von ihm seine Anweisungen erhalte,

3. daß jährlich ein Voranschlag über Einnahme und Ausgabe aufgestellt und am Schlusse des Jahres eine Rechnung mit Belegen eingesandt werde,

4. daß das Handelsdepartement sich bei den Beratungen des Komitees durch einen Abgesandten mit beratender Stimme vertreten lassen dürfe,

5. daß wahlberechtigt nur die Vereine sein sollten, die in ihrer Mehrheit aus schweizer Bürgern beständen, und daß stimmberechtigt nur die letzteren sein dürften: endlich sollte für den Arbeitersekretär und die Mitgliedschaft des Vorstandes die gleiche Eigenschaft erfordert werden.

In der zur endgültigen Beschlußfassung auf den 10. April 1887 nach Aarau berufenen allgemeinen Delegiertenversammlung waren der Grütliverein mit 13000, der Piusverein mit 10000, die Fédération horlogère mit 15000, das Aktionskomitee des schweizerischen Arbeitertages mit 6000, die katholischen Gesellenvereine mit 2600, der allgemeine Gewerkschaftsbund mit 2000 Mitgliedern, sowie eine große Anzahl von Kranken- und Unterstützungskassen durch insgesamt 158 Abgeordnete vertreten. Die Gesamtzahl der Mitglieder wird auf 100000 angegeben, doch erscheint sie ebenso wie die Einzelziffern wesentlich zu hoch. Bei den Verhandlungen machte sich wieder der Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und dem Grütliverein geltend, doch überließ man schließlich dem letzteren die Leitung.

Das Ergebnis war die Gründung des „Schweizerischen Arbeiterbundes“. Der erste Paragraph der Statuten lautet: „Zur gemeinsamen Vertretung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse der Schweiz bilden die Arbeitervereine des Landes einen Verband unter den Namen: „Schweizerischer Arbeiterbund“. Beitrittsberechtigt ist jeder Verein, der in seiner Mehrzahl aus schweizerischen Arbeitern besteht und Arbeiterinteressen vertritt, ohne Unterschied seiner politischen und religiösen Richtung.“

Organe des Bundes sind

1. die alle drei Jahre zu berufende Delegiertenversammlung („Arbeitertag“), für die jeder Verein auf je 250 Mitglieder einen Vertreter zu entsenden berechtigt ist;

2. der aus 25 Mitgliedern bestehende Bundesvorstand, der auf je drei Jahre von der Delegiertenversammlung gewählt wird. Mitglieder können nur Schweizer Bürger werden; 2/3 müssen Arbeiter sein;

3. der aus drei Mitgliedern bestehende leitende Ausschuß. Die Mitglieder müssen einem bestimmten Verbande angehören; das Amt wurde dem Grütliverein übertragen;

[129]

4. der Arbeitersekretär, der vom Bundesvorstande auf drei Jahre gewählt wird, doch hat die Delegiertenversammlung ein Vorschlagsrecht. Der Sekretär ist ausschließlich dem Bundesvorstande unterstellt, aber verpflichtet, dem schweizerischen Bundesrate in allen Angelegenheiten, die Arbeiterfragen betreffen, Beihülfe zu leisten.

Der Versuch der sozialdemokratischen Gruppe unter Führung von Steck, diesem Programme ein anderes gegenüberzustellen, nach dem von der Bildung eines Arbeiterbundes ganz abgesehen, vielmehr der Sekretär von einer jährlich zu berufenden allgemeinen Delegiertenversammlung gewählt und einem von ihr eingesetzten dreigliedrigen Ausschusse unterstellt werden sollte, mißlang ebenso, wie die Bestrebungen, einzelne Vereine, insbesondere den „Piusverein“ von dem Verbande auszuschließen. Immerhin erreichte man auf dem ersten ordentlichen Arbeitertage in Olten Ostern 1890 eine Abänderung der Statuten dahin, daß die Wahl des Sekretärs dem Bundesvorstande genommen und der Delegiertenversammlung zugewiesen wurde. Der schweizerische Bundesrat erteilte hierzu seine Zustimmung.

Für die Stellung des Arbeitersekretärs wurde am 11. April 1887 vom Bundesvorstande mit 14 gegen 9 Stimmen, die auf R. Seidel fielen, Hermann Greulich gewählt, der das Amt bis jetzt bekleidet.

Der Zuschuß der Regierung wurde von ursprünglich 5000 seit 1891 auf 25000 Frs. erhöht. In diesem Jahre wurde auch eine Filiale des Sekretariates für die romanische Schweiz in Biel begründet.

Als Aufgabe des Sekretariates waren von Anfang an in erster Linie statistische Arbeiten, insbesondere über Lohnhöhe, Unfälle u. dgl. ins Auge gefaßt. Allerdings ist die der Regierung gegebene Zustimmung, sich streng auf wirtschaftliche Fragen zu beschränken und politische Vereinsverwaltungsfragen vollständig unberührt zu lassen, nur unvollkommen erfüllt. Mit sehr günstigem Erfolge hat der Sekretär mehrfach eine vermittelnde Thätigkeit bei Streitigkeiten ausgeübt. Ein Hauptteil seiner Arbeit bezieht sich auf die Durchführung des eidgenössischen Fabrikgesetzes. Eine Beeinflussung seitens des schweizerischen Bundesrates ist von diesem stets entschieden abgelehnt, und gerade darauf beruht das Zutrauen, das die Arbeiterschaft dem Sekretariate entgegenbringt. Man ist sich seitens der Regierung wohl bewußt, daß die Arbeiterschaft in erheblichem Maße von den sozialdemokratischen Elementen geleitet wird und daß sich dieser Umstand auch in der Thätigkeit des Arbeitersekretariates wiederspiegelt, aber man hat trotzdem daran festgehalten, das letztere als eine eigene Einrichtung der Arbeiterschaft völlig deren selbständiger Leitung zu überlassen.

[130]

Der Ausschuß des Arbeiterbundes hatte seinen Sitz zunächst in St. Gallen; im Juni 1891 wurde er dann nach Winterthur und am 1. Januar 1897 nach Luzern verlegt. Der Bund erhebt bisher keine festen Mitgliederbeiträge, sondern bezieht nur freiwillige Zahlungen der beteiligten Vereine. Es ist schon mehrfach auf das Mangelhafte dieses Zustandes hingewiesen, doch steht einer Aenderung das Hindernis im Wege, daß die am Bunde beteiligten Krankenkassen gesetzlich ihre Mittel nicht anders, als zur Krankenunterstützung verwenden dürfen. Die Mitgliedschaft des Piusvereins ist mehrfach, insbesondere von sozialdemokratischer Seite, angegriffen, doch hat, nachdem der Piusverein den Nachweis erbracht hatte, daß von seinen 15000 Mitgliedern 9000 Lohnarbeiter und auch nur 1000 Ausländer sind, die Mehrheit des Zentralvorstandes sich dahin entschieden, daß der Verein den statutarischen Bedingungen entspreche.

Durch den 1895 erfolgten Beitritt des Eisenbahnerverbandes mit seinen 15000 Mitgliedern hat der Bund eine erhebliche Verstärkung erfahren, so daß auf dem am 6. April 1896 in Winterthur abgehaltenen vierten ordentlichen Schweizer Arbeitertage insgesamt 174181 Mitglieder vertreten waren, von denen 66528 auf die Krankenkassen, 54562 auf Gewerkschaften und Berufsvereine, 16031 auf den Grütliverein, 11548 auf allgemeine Arbeitervereine, 10512 auf katholische Vereine und 15000 auf den Piusverein entfielen. Dabei waren sogar die 30000 Mitglieder des welschen Krankenkassenverbandes, die auf dem früheren Arbeitertage in Zürich vertreten waren, dieses Mal fern geblieben.

Unter den Angelegenheiten, mit denen sich der Bund bisher beschäftigt hat, ist die interessanteste die Errichtung obligatorischer Berufsgenossenschaften. Der Gedanke, Arbeiter und Arbeitgeber seitens des Staates zu korporativen Verbänden zusammenzufassen und diesen die Fassung verbindlicher Beschlüsse in gewerblichen Angelegenheiten zu übertragen, war schon mehrfach aufgetaucht, insbesondere unter den Uhrmachern, indem man glaubte, dadurch dem Uebergewichte der Großindustrie begegnen zu können. Man stützte sich dabei auf die günstigen Erfolge des Ostschweizerischen Stickereiverbandes. Anfangs hatte die Sozialdemokratie diesen Bestrebungen den schärfsten Widerspruch entgegengesetzt, indem sie fürchtete, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiter hinter den Berufsinteressen zurücktreten könnten, allmählich aber war man auch in diesen Kreisen zu einer dem Plane günstigeren Auffassung gelangt.

Die erste öffentliche Beratung der Frage erfolgte auf dem Arbeitertage in Olten Ostern 1890. Der Referent, der radikale Nationalrat Cornatz empfahl, in das Fabrikgesetz die Bestimmung aufzunehmen: „Die Kantone sind ermächtigt, für die Bedürfnisse gewisser Industrien obligatorische Berufsverbände zu schaffen.“ Die Beschlüsse derselben sollten durch die Vertreter der Meistervereinigungen[131] und die der Arbeitervereinigungen in gemeinsamer Beratung gefaßt werden, wobei die Mehrheit entscheiden sollte. Die Berufsgenossenschaften sollten der Ueberwachung durch die öffentlichen Behörden unterliegen.

Der Korreferent Greulich forderte dagegen ausschließlich, daß den „Arbeitergewerkschaften“, sobald sie die Mehrzahl der Berufsgenossen umfassen — der Beitritt sollte also freiwillig bleiben — folgende Rechte zustehen sollten:

1. Begutachtung aller Gesetze und Verwaltungsmaßregeln, die den bezüglichen Beruf betreffen, insbesondere Anträge über Bewilligung von Ueberstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit.

2. Begutachtung der Ortsgebräuche hinsichtlich der Arbeitszeit, Lohnzahlung, Kündigungszeit und anderer Streitpunkte des Arbeitsvertrages.

3. Vertretung der Arbeiter des Berufes vor Gericht, soweit berufliche Interessen in Frage kommen.

4. Das Recht, für die Arbeiter als Vertragspartei mit den Arbeitgebern über die Arbeitsbedingungen zu unterhandeln und Arbeitsverträge abzuschließen, die für alle Arbeiter der Gruppe verbindlich sind, sowie die Befugnis, die Innehaltung derselben zu überwachen und gegen Zuwiderhandelnde mit Strafen einzuschreiten.

Aus den Wahlen der Gewerkschaften aller Berufe werden die kantonalen Arbeiterkammern und aus Wahlen der letzteren die schweizerische Arbeiterkammer gebildet.

Gleiche Organisationen mit gleichen Rechten bestehen für die Arbeitgeber.

Beide Gruppen wählen Abgeordnete in gleicher Zahl, die zusammen die gemischten Gewerbekammern bilden unter einem neutralen Vorsitzenden. Sie können Beschlüsse fassen, die für alle Berufsangehörigen verbindlich sind. Auch hier erfolgt eine Zusammenfassung zu kantonalen Industriekammern und einer schweizerischen Industriekammer.

Diese Körperschaften haben Gewerbeschiedsgerichte und Einigungsämter zu bilden und gemeinsame Einrichtungen für gewerbliche Ausbildung und Förderung der gewerblichen Interessen zu treffen.

Der Arbeitertag stellte sich auf den Boden der Greulich'schen Vorschläge, beschränkte sich aber auf einen allgemeinen Beschluß, „durch Schaffung von Berufsgenossenschaften mit korporativen Rechten und unter strenger Ausscheidung der Organisationen der Arbeiter und Gewerbsinhaber den Boden herzustellen, auf welchem die gegenseitige Verständigung der Gewerbsgenossen vor sich gehen und die Industrie- und Gewerbegesetzgebung erblühen kann.“

Nachdem am 20. Januar 1892 im Nationalrate ein Antrag Favon eingebracht war, der sich in ähnlicher Richtung bewegte, und nachdem auch der schweizerische Gewerbeverein am 12. Juni 1892 auf seiner Versammlung in Schaffhausen[132] sich für staatlich geregelte Berufsgenossenschaften ausgesprochen und auf dem Kongresse des Gewerkschaftsbundes in Aarau am 17./18. April 1892 Greulich von neuem seine Vorschläge verteidigt hatte, gelang es endlich, auf dem Arbeitertage in Biel am 2./3. April 1893 nach einem Referate des ultramontanen Nationalrats Decurtins einen einstimmigen Beschluß herbeizuführen, daß jedes Gewerbegesetz als verfehlt zu betrachten sei, das nicht die obligatorischen Berufsgenossenschaften enthalte. Dabei wurde allerdings die Trennung der Unternehmer und Arbeiter in selbständige Gruppen gefordert, um einer Majorisierung der einen oder der anderen Partei vorzubeugen. Die Ausgleichung der Sonderinteressen soll einer aus beiden Gruppen gewählten Delegiertenkommission übertragen werden. Der Wortlaut des Beschlusses ist folgender:

1. Die obligatorischen Berufsgenossenschaften müssen in jedem Berufe zwei verschiedene Gruppen umfassen: die der Meister und die der Arbeiter. Diese Gruppen haben durch Verständigung zu regeln: a. die Lehrlingsverhältnisse, b. die Arbeitszeit, c. die Lohnverhältnisse.

2. Die obligatorischen Berufsgenossenschaften müssen in allen Gemeinden oder Bezirken organisiert werden, in dem sich die nötigen Berufselemente vorfinden.

3. Jeder Meister und jeder Arbeiter, der auf einem organisierten Berufe arbeitet, ist Mitglied der Berufsgenossenschaft.

4. Die von der Berufsgenossenschaft gefaßten Beschlüsse haben Gesetzeskraft für alle Prinzipale und Arbeiter, die in einer Gemeinde oder in einem Bezirke den organisierten Beruf ausüben.

5. In jedem Kanton besteht ein Kantonalverband obligatorischer Berufsgenossenschaften. Dessen Organ ist eine Kommission, bestehend aus einer gleichen Anzahl von Delegierten jeder Meister- und Arbeitergenossenschaft. Sie entscheidet über die Reklamationen gegen die Beschlüsse einer Gewerkschaft des Kantons und legt die Konflikte zwischen den Meister- und Arbeitergewerkschaften eines Berufes bei.

6. Alle Kantonalverbände bilden einen schweizerischen Verband, dessen Organ eine Kommission von gleich vielen Delegierten der Meister und Arbeiter aus den Kantonalverbänden ist. Diese entscheidet über die Reklamationen gegen die Beschlüsse der kantonalen Kommissionen und begleicht die Konflikte zwischen den letzteren.

7. Die eidgenössischen und kantonalen Behörden haben das Recht, sich in den eidgenössischen und kantonalen Kommissionen durch Mitglieder vertreten zu lassen, die beratende Stimmen haben.

Anfangs hatte insbesondere die Sozialdemokratie die Befürchtung geltend gemacht, daß nicht allein die Arbeiter in der gemeinsamen Organisation mit den[133] Unternehmern der schwächere Teil sein, sondern daß insbesondere die zielbewußten Arbeiter von der großen Masse der indifferenten erdrückt werden würden. Später ließ man aber dieses Bedenken fallen in der Erwägung, daß die natürliche Führung doch stets den intelligenteren Arbeitern zufallen werde, und so erklärte sich schließlich selbst der Führer der radikalen sozialistischen Richtung, Seidel, mit dem Antrage Greulich's einverstanden. Einen praktischen Erfolg hat der gefaßte Beschluß bisher noch nicht gehabt, da die Verfassungsänderung, die bezweckte, dem Bunde die Zuständigkeit auf dem Gebiete des Gewerbewesens einzuräumen, bei der Volksabstimmung am 4. März 1894 mit 155000 gegen 134500 Stimmen verworfen wurde.

Der Arbeiterbund hat aber trotzdem sein Ziel nicht fallen gelassen, sondern sich auch auf dem Arbeitertage in Winterthur (6. April 1896) wieder mit der Frage der obligatorischen Berufsgenossenschaften beschäftigt. Man beschloß, den obligatorischen Karakter insoweit zu mildern, als der Zwang von der Zustimmung der Mehrheit abhängig gemacht wird und deshalb ein Bundesgesetz mit folgenden Bestimmungen zu fordern:

Wenn in einem Berufszweige, der sich mit der Erzeugung von Waren beschäftigt — dadurch sollte der Handel ausgeschlossen sein — von bestehenden Organisationen der Arbeiter oder der Arbeitgeber die Bildung einer solchen Genossenschaft beantragt wird, so soll unter sämtlichen Beteiligten eine Abstimmung stattfinden. Hat in beiden Gruppen die Mehrheit sich für den Antrag erklärt, so sind zunächst in jeder Gemeinde Sektionen zu bilden, aus deren Wahl dann die unter Vorsitz eines Bundesbeamten tagende konstituierende Delegiertenversammlung aus gleicher Vertretung beider Gruppen hervorgeht. Beide Gruppen haben das Recht, sich selbständig zu konstituieren und ihre eigenen Angelegenheiten zu ordnen; ihre Beschlüsse sind für alle Arbeiter bezw. Arbeitgeber verbindlich. Keine Gruppe ist an die Beschlüsse der anderen gebunden; allgemeine Beschlüsse können nur von der Berufsgenossenschaft als Gesamtheit gefaßt werden, wobei stets erforderlich ist, daß die Mehrheit der Arbeiter und die Mehrheit der Arbeitgeber sich für die Maßregel erklärt. Die Berufsgenossenschaft ist befugt, alle Arbeitsverhältnisse in ihrem ganzen Geschäftsgebiete zu regeln, insbesondere kann sie Lohntarife aufstellen, die Arbeitszeit festsetzen, das Lehrlingswesen ordnen, die Verkaufspreise für die Erzeugnisse bestimmen, die Arbeit verteilen (kontingentieren), Betriebe selbst übernehmen, den Absatz genossenschaftlich organisieren und Vorkehrungen zur Sicherung der Existenz ihrer Angehörigen treffen. Gegen Beschlüsse der Berufsgenossenschaft, die nicht in beiden Gruppen mindestens 2/3 der Stimmen erhalten, findet Rekurs an den Bundesrat und die Bundesversammlung statt. Beide Instanzen können auch von Amtswegen einen Beschluß aufheben, wenn er die allgemeinen Interessen der Bevölkerung schädigt.

[134]

Neben der Frage der obligatorischen Berufsorganisation haben sich die Verhandlungen der Bundesversammlungen besonders bezogen auf die Reform des eidgenössischen Fabrikgesetzes, insbesondere einen besseren Arbeiterschutz, die Haftpflicht der Unternehmer, sowie die Kranken- und Unfallversicherung.

Aus dem von dem Bundesvorstande veröffentlichten Berichte für das Jahr 1897 ist hervorzuheben, daß sich in Zürich am 18. März 1897 eine Arbeitskammer aus dem dort bestehenden Arbeiterberufsverein auf politisch und religiös neutraler Grundlage gebildet hat, die bei ihrer Gründung 7000 Mitglieder umfaßte und ein eigenes Bureau besitzt. Ihr Hauptzweck ist neben organisatorischen Aufgaben die Auskunftserteilung. Man hat sich entschlossen, bei dem Bundesrate die Erhöhung des Bundeszuschusses von 25000 auf 30000 Frs. zu beantragen, um einen italienischen Gehülfen des Arbeitersekretärs anzustellen, wofür das Bedürfnis durch die sich lebhafter entwickelnde gewerkschaftliche Bewegung in Tessin gegeben ist.

Der am 3. April 1899 in Luzern abgehaltene fünfte schweizerische Arbeitertag beschäftigte sich vor allem mit den Gewerkschaften. Es ist von großer Bedeutung, daß beide Referenten, nämlich der christlich-soziale Prof. Beck wie der sozialdemokratische Arbeitersekretär Greulich in der Forderung, die Gewerkschaften auf politisch und religiös neutraler Grundlage aufzubauen, durchaus übereinstimmten, sodaß, nachdem ein Antrag, sie den sozialdemokratischen Grundsätzen anzupassen, gegen wenige Stimmen abgelehnt war, fast einstimmig beschlossen wurde, „in Erwägung, daß eine einheitliche gewerkschaftliche Organisation der großen Mehrheit der Arbeiter nur auf dem neutralen Boden der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse unter Ausschluß parteipolitischer oder religiöser Stellungnahme erzielt werden kann“, die Agitation für solche unpolitische Gewerkschaften zu empfehlen, um dadurch den Zusammenschluß aller Organisationen in dem Gewerkschaftsbunde herbeizuführen.

Daneben wurden die Fragen der Arbeitslosenversicherung und des Arbeitsnachweises verhandelt und in letzterer Hinsicht beschlossen, es sei als Ideal ein Arbeitsnachweis anzustreben, der unter Kontrolle der Betriebsinhaber in den Händen der Arbeiter liege, wobei Streitigkeiten durch eine gemischte Kommission zu schlichten seien; solange dieses Ideal noch nicht erreicht sei, müßten paritätisch verwaltete Arbeitsnachweisebureaux geschaffen werden.

In den letzten Jahren ist übrigens auch für die Schweiz angeregt, nach dem französischen Vorbilde Arbeitsbörsen zu schaffen, insbesondere wird der Gedanke von den Züricher Metallarbeiterorganisationen vertreten und in der Sitzung der Züricher Arbeiterunion vom 8. März 1894 ist ein entsprechender Entwurf zur Annahme gelangt. Zweck der Arbeitsbörsen soll sein: Arbeitsvermittelung, sowie statistische Erhebungen über Wohnungsverhältnisse, Lohn,[135] Lehrlingswesen, Lebensmittelpreise und Reiseunterstützung. Die Arbeitgeberverbände, die sich der Börse als ausschließlichen Arbeitsvermittelungsortes bedienen, sollen ein Kontrollrecht erhalten.

Fußnote:

[50] Die wertvollste Quelle für die Schweiz bildet das Buch von Dr. Berghoff-Ising: Die sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz. Leipzig 1895, Duncker & Humblot. Vgl. außerdem Bechtle: Die Gewerkvereine in der Schweiz, Jena, 1888 und Bücher: Die schweizerischen Arbeiterorganisationen in der Zeitschrift für die gesamt. Staatswissenschaft. Bd. XLIV (1888), S. 609–674. Das neuere Material ist mir von dem schweizerischen Arbeitersekretariate zur Verfügung gestellt.

V. Belgien[51].

Belgien besitzt, nachdem 1830 die früheren Beschränkungen aufgehoben sind, ein völlig unbeschränktes Vereinsrecht; es ist deshalb wunderbar, daß trotzdem die Entwicklung des Gewerkschaftswesens sich noch in einem wenig fortgeschrittenen Zustande befindet. Die ersten Versuche wurden von der Internationale unternommen, aber die ins Leben gerufenen Vereine, die nicht nach Berufen gesondert waren und weniger wirtschaftliche als politische Zwecke verfolgten, sind nach 1870 rasch wieder verschwunden. Erst nach der 1885 erfolgten Gründung der unter sozialdemokratischem Einflusse stehenden Arbeiterpartei (Parti ouvrier) ist die Gewerkschaftsbewegung in lebhaften Fluß gekommen. Anfangs freilich beschäftigte sich auch die Arbeiterpartei mehr mit der Errichtung von „Kooperativgesellschaften“ (Genossenschaften), die sich zu großer Bedeutung entwickelt haben. Die bedeutendste, der Voruit, wurde 1880 gegründet und zählt jetzt, bei einem jährlichen Geschäftsumsatze von 16000000 Frs., über 5000 Mitglieder. Der Progrès in Jolimont mit 6276 Mitgliedern betreibt eine Bäckerei mit einem Jahresumsatz von 8000000 kg Brot, zwei Schlachtereien, mehreren Apotheken und vier Gast- und Volkshäusern. Das Maison du Peuple in Brüssel mit einem Jahresumsatze von 2000000 Frs. liefert Brot, Kohlen, Kurzwaren und betreibt ebenfalls mehrere Wirtshäuser. Der Zusammenhang dieser Genossenschaften mit der Arbeiterpartei ist ein sehr enger, so daß sie sogar aus ihren Ueberschüssen Beiträge für Streikzwecke liefern. In der neueren Zeit hat man aber auch angefangen, eigentliche Gewerkvereine zu gründen.

Dem Beispiele der Sozialisten ist seit 1886 die katholische Partei gefolgt[136] und hat katholisch-konservative und katholisch-demokratische Arbeitervereine geschaffen, die aber ebenfalls in erster Linie politische Zwecke verfolgen. Da sie den Grundsatz vertraten, daß die Arbeitgeber aus Gründen christlicher Liebe nicht berechtigt seien, ihre Sonderinteressen in einer den Arbeitern nachteiligen Weise zu verfolgen, so gelangen sie zu einer gewissen Interessenharmonie und haben deshalb überall Arbeiter und Arbeitgeber zu Mitgliedern.

Die Liberalen sind hinsichtlich der Arbeiterorganisation die letzten gewesen und haben bis jetzt am wenigsten Erfolge aufzuweisen; erst die 1893 geschaffene liberale Arbeiterpartei hat die Gründung von Gewerkvereinen in die Hand genommen.

Außer diesen Gruppen giebt es noch einige unabhängige Arbeiterorganisationen, z. B. die Buchdrucker und die Schneider.

Endlich haben die amerikanischen Ritter der Arbeit in Belgien einigen Anhang, doch haben sich die Bergarbeiter (fédération des mineurs) in neuerer Zeit von der amerikanischen Oberleitung unabhängig gemacht, so daß dieser jetzt nur noch die Glasarbeiter (Union verrière) mit 1120 Mitgliedern unterstellt sind.

Die Gesamtzahl dieser Vereine wird von Vandervelde und Mahaim übereinstimmend auf 180 mit etwa 60–70000 Mitgliedern geschätzt, was bei etwa 7–800000 männlichen Arbeitern einem Verhältnis von etwa 8% entspricht. In acht Gewerben haben sich die Vereine der einzelnen Orte miteinander zu Verbänden (fédérations) zusammengethan; es sind dies die Zigarrenmacher mit 6, die Holzarbeiter mit 12, die Buchdrucker mit 14, die Steinarbeiter mit 12, die Maler mit 3, die Bergarbeiter mit 27 und die Metallarbeiter mit 20 Ortsvereinen. Die stärksten Verbände sind die Bergarbeiter mit 23000 und die Buchdrucker mit 14000 Mitgliedern; 8 andere besitzen über 500, die meisten aber unter 200 Mitgliedern.

Etwa 100 Vereine gehören als „affiliés“ der Arbeiterpartei an. Im übrigen läßt sich das Stärkeverhältnis der Parteien annähernd ersehen aus den Ziffern für Gent, wo die Bewegung sich am stärksten entwickelt hat; hier besaßen 1897 die Sozialisten 14 Gewerkschaften mit 10195, die Antisozialisten 18 Gewerkschaften mit 2981 und die Liberalen 4 Gewerkschaften mit 884 Mitgliedern.

Im allgemeinen sind die Vereine noch zu schwach, um äußere Erfolge zu erzielen; die nach dem 1. Mai 1891 zahlreich unternommenen Streiks endigten überall mit Niederlagen und führten zu einem erheblichen Verluste von Mitgliedern.

Bei den meisten Vereinen steht der Kampfkarakter im Vordergrunde, und dies gilt nicht allein von den sozialistischen, sondern auch von den unabhängigen[137] und den Rittern der Arbeit. Die Hauptform ist die der Vereine zur Behauptung des Lohnsatzes (Sociétés de maintien de prix).

Von allen belgischen Gewerkvereinen sind nach außen am meisten die Bergarbeiter hervorgetreten, die nicht allein an dem Londoner internationalen Gewerkschaftskongresse mit 15000 Mitgliedern teilnahmen, sondern auch seit 1892 ihre regelmäßigen öffentlichen Jahresversammlungen abhalten. Die dritte derselben, die am 8./9. April 1894 in La Louvière stattfand, hat eine Reihe wichtiger Forderungen aufgestellt, insbesondere die Verstaatlichung der Bergwerke und ihren Betrieb durch den Staat oder durch die Arbeitersyndikate, Festsetzung eines Minimallohnes, Abschaffung der Akkordarbeit, internationale Vereinbarung zur Einschränkung der Kohlenförderung behufs Vermeidung der Ueberproduktion. Auf dem am 20. Oktober 1896 gleichfalls in La Louvière abgehaltenen fünften Kongresse, auf dem 91 Gruppen vertreten waren, beschloß man, den Bergarbeitern frei zu stellen, ob sie sich den Gewerkschaften oder den Genossenschaften anschließen wollen. Am Eröffnungstage der Brüsseler Ausstellung hat ein großer Bergarbeiterkongreß stattgefunden. Ein am 10. Januar 1897 in Charleroi abgehaltener außerordentlicher Kongreß forderte eine Lohnerhöhung, lehnte aber für den Weigerungsfall ab, den Generalstreik zu beschließen.

Einen erheblichen Einfluß haben die Arbeitervereine auf die Gemeinden gewonnen, insbesondere seitdem bei den Gemeindewahlen am 19. November 1895 die Sozialisten in 19 Städten ausschließlich und in 29 anderen in Gemeinschaft mit den Radikalen die Verwaltung in die Hand bekommen haben. So haben sie es durchgesetzt, daß regelmäßig bei den städtischen Arbeitsverdingungen ein gewisser Mindestlohn zur Bedingung gemacht wird.

Die staatliche Gesetzgebung hat erst seit 1890 ihr Interesse den sozialen Fragen zugewandt. Das erste einschlägige Gesetz war dasjenige vom 9. August 1890 über die Einrichtung und Verwaltung von Arbeiterwohnungen.

Die Versuche, den Gewerkvereinen die Rechte der juristischen Persönlichkeit und des Eigentumserwerbes zu verschaffen, die schon am 7. August 1889 zur Einbringung einer Vorlage seitens des Ministers Lejeune und am 16. November 1894 zur Vorlegung eines neuen Gesetzentwurfes durch den Minister Bergerem geführt hatten, scheiterten lange an der Befürchtung, daß dadurch das „Eigentum der toten Hand“ begünstigt werden würde. Schließlich ist aber doch das Gesetz vom 31. Mai 1898 zur Verabschiedung gelangt, nach welchem den Berufsvereinen nach näher Bestimmung des Gesetzes die Rechte der juristischen Person zugesichert sind. Als Berufsverein ist anzusehen „eine Vereinigung, die ausschließlich zum Betriebe, zum Schutze und zur Entwicklung ihrer Berufsinteressen zwischen Personen gebildet ist, die in der Industrie, im Handel, in der Landwirtschaft oder in den freien Berufen mit einem Erwerbszwecke entweder[138] denselben oder ähnliche Berufe, entweder dasselbe Gewerbe oder solche ausüben, die auf die Herstellung derselben Produkte abzielen“. Vereine mit politischem Karakter sind ausgeschlossen. Die Anmeldung geschieht bei einer besonderen Behörde, die darüber zu entscheiden hat, ob der Verein den Bedingungen des Gesetzes entspricht. Eine Vorbedingung für die Anerkennung ist, daß der Verein die Verpflichtung übernimmt, „gemeinsam mit der Gegenpartei die Mittel und Wege aufzusuchen, um jede auf die Arbeitsbedingungen bezügliche Streitigkeit, bei welcher der Verein beteiligt ist, entweder durch Einigung oder durch ein Schiedsgericht beizulegen“. Jährlich muß der Verein eine Liste der Vorstandsmitglieder und ein Verzeichnis von Einnahmen und Ausgaben einreichen. Die Liste der Mitglieder muß öffentlich ausgelegt werden. Zur Annahme von Geschenken und Legaten kann der Verein durch königliche Verordnung ermächtigt werden. Vereine, die sich nicht im Rahmen des Gesetzes halten, insbesondere ihr Vermögen zu anderen als den im Gesetze zugelassenen Zwecken verwenden, werden aufgelöst. Ihr Vermögen wird nach den Bestimmungen des Gesetzes verwandt und die Vorstandsmitglieder bestraft.

Das Gesetz ist besonders von sozialdemokratischer Seite heftig bekämpft, und es ist zu erwarten, daß die Gewerkschaften dieser Richtung auf die hier gewährte Rechtsstellung verzichten und ihre Anmeldung nicht nachsuchen werden. Die Hauptangriffe stützen sich darauf, daß das Gesetz nur solche Vereine zuläßt, welche ausschließlich die Förderung der Interessen eines bestimmten Berufes bezwecken, daß aber alle allgemeinen Angelegenheiten, also nicht bloß politische, sondern insbesondere auch die Versicherungen gegen Krankheit, Unfälle, Alter, Arbeitslosigkeit u. s. w. ausgeschlossen sind. Auch Werkstätten für Arbeitslose dürfen sie nur für einen vorübergehenden Zeitraum errichten. Oertliche Verbände der Gewerkschaften sind untersagt. In der That scheint das Gesetz ein recht unvollkommener Versuch geblieben zu sein.

Die sozialdemokratische Partei hat sich auf ihrem im August 1898 abgehaltenen Parteitage eingehend mit den Gewerkschaften beschäftigt und ihre Stellung in einer umfassenden Resolution bezeichnet, aus der folgende Punkte hervorzuheben sind:

Jede Gewerkschaft soll alle Arbeiter des gesamten Berufes umfassen ohne Unterscheidung der Spezialfächer. Geschäftsführer und Schatzmeister sind zu besolden. Der Beitrag soll wöchentlich 50 Cts. für Männer und 15–25 Cts. für Frauen und Lehrlinge betragen. Jede Gewerkschaft soll eine Unterstützungskasse besitzen oder sich einer solchen anschließen, auch die Hälfte ihrer Einnahme hierauf verwenden. Aus der Kasse sollen hauptsächlich bei Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall Unterstützungen gewährt werden. Die andere Hälfte der Einnahmen ist für Verwaltungskosten und die Streikkasse[139] zu bestimmen. Jede Gewerkschaft soll eine Bibliothek einrichten und die Parteiblätter halten. Streiks sind nicht zu billigen, wenn die Gewerkschaft nicht stark genug ist, oder wenn Ueberfluß an Arbeitskräften besteht, oder wenn es sich darum handelt, die Wiederbeschäftigung eines Einzelnen zu erzwingen, falls dieser nicht seine Stelle im Kampfe für die Gewerkschaft verloren hat.

In neuester Zeit scheinen übrigens auch die Liberalen größere Anstrengungen zu machen, den Vorsprung ihrer sozialistischen und klerikalen Konkurrenten wieder einzuholen. Sie haben am 25./26. Dezember 1897 in Brüssel ihren ersten Kongreß abgehalten, auf dem 55 Vereine mit angeblich 300000 Mitgliedern durch 80 Abgeordnete vertreten waren. In dem aufgestellten Programme finden sich folgende Forderungen: Staatliche Organisation einer Alters- und Pensionskasse; Einrichtung von Arbeitsbörsen mit einen Schutzausschusse für die Arbeiter; allgemeine obligatorische Volksschule mit weltlichem und unentgeltlichem Unterricht; allgemeines gleiches Stimmrecht mit Proportionalvertretung, Mindestlöhne und Maximalarbeitszeit; Besteuerung des Kapitalbesitzes und des Einkommens; allmähliche Abschaffung der Eingangszölle, Umkehr der Beweispflicht bei Arbeitsunfällen, die dem Unternehmer zufallen soll.

Nach dem Vorbilde von Frankreich hat man in Belgien auch Arbeitsbörsen geschaffen. Der erste Versuch wurde schon 1850 von Molinari in Brüssel unternommen, 1885 nahm der Bürgermeister von Brüssel, Buls, den Gedanken wieder auf und rief 1889 neben dem bereits von Arbeitervereinigungen begründeten Oeuvre du travail eine doppelte Einrichtung dieser Art: das maison du travail für männliche und das comptoir du travail für weibliche Arbeiter ins Leben. In Lüttich hat am 11. Februar 1888 die Handelskammer eine Arbeitsbörse mit gemeinsamer Verwaltung eines Arbeiters, eines Arbeitgebers und eines Vertreters der Stadt geschaffen. In Gent ist 1891 von dem „Handels- und Gewerbeverein“ eine ähnliche, von Stadt und Provinz unterstützte Einrichtung begründet.

Seit 1892 besteht auch zwischen den verschiedenen Börsen ein Verband, um eine Arbeitsvermittelung von Ort zu Ort für ganz Belgien herzustellen.

Uebrigens weichen die belgischen Arbeitsbörsen von ihrem französischen Vorbilde doch in ihrer Grundlage erheblich ab, indem sie sich streng auf das Ziel der Arbeitsvermittelung beschränken und hierbei eine volle Gleichberechtigung beider Parteien betonen, während jene sich zu einseitigen Kampforganisationen der Arbeiter entwickelt haben, die den Unternehmern keinerlei Einfluß gestatten.

Fußnote:

[51] Die weitaus wichtigsten Quellen für die belgischen Gewerkschaften sind einerseits die Arbeit von Emile Vandervelde: „Enquète sur les associations professionels d'ouvriers et d'artisans en Belgique“, 2 Bände, Brüssel 1891. Imprimerie des travaux publies (vgl. dazu die Besprechung von Binck in Braun, Archiv für soziale Gesetzgebung VI, 627) und andererseits Ernest Mahaim: Etudes sur l'association professionelle, Lüttich 1891. Außerdem: Rapport sur les associations professionelles en Belgique, Bruxelles 1889 und Rapport sur le projet de loi accordant la personification civile aux unions professionelles, Bruxelles 1889.

[140]

VI. Holland[52].

In Holland ist es sehr schwer, über Arbeiterverhältnisse etwas zu erfahren. Bis vor wenigen Jahren hatte man keine amtliche Statistik, sondern überließ diese Thätigkeit einer Privatgesellschaft, der „Vereinigung für Statistik“, deren Erfolge sehr gering waren. Im Jahre 1889 wurde bei Gelegenheit der Beratung eines Gesetzes über Frauen- und Kinderarbeit die Einsetzung einer staatlichen statistischen Kommission angeregt, und 1892 wurde in der That durch königliche Verfügung eine solche unter dem Namen „Zentralkommission für Statistik“ geschaffen, in die man unter anderem auch einen bekannten Sozialdemokraten, R. van Zinderen-Bakker, berief. Die Kommission begann ihre Thätigkeit damit, daß sie außer an die Gemeindebehörden auch an die bestehenden vier großen Arbeiterverbände: 1. den allgemeinen niederländischen Arbeiterverband (Het algemeen nederlandsch werklieden verbond), 2. den niederländischen römisch-katholischen Volksbund (De nederlandsche roomsch-katholicke volksbond), 3. den niederländischen Arbeiterverband „Patrimonium“ (Het nederlandsch werklieden verbond „Patrimonium“), 4. den sozialdemokratischen Bund (De socialdemocratische Bond) Fragebogen schickte. Allein die unter 2 und 4 genannten Vereinigungen lehnten die Antwort ab, und da auch von den 1149 Arbeitervereinen, die nach den Berichten der Bürgermeister bestanden, nur 693 Auskunft gaben, so ist das Ergebnis der Erhebungen durchaus ungenügend. Das Wesentlichste aus dem von der Kommission erstatteten und im Jahre 1894 veröffentlichten Berichte ist im folgenden wiedergegeben.

Vor 1811 bestanden in Holland keine Arbeitervereine. Von 1811–1855, wo das Koalitionsverbot aufgehoben wurde, sind 13, von 1855–1865 8, von 1865–1878 65, von 1878–1885 72 und von 1885–1894 271 derartige Vereinigungen gegründet.

Die Mitgliederzahl, soweit sie genau ermittelt wurde, betrug:

bei 265 allgemeinen Vereinen   42712
bei 133 Gewerkschaften   10106
bei[141] 181 Hülfskassen   63201
bei 103 Geselligkeitsvereinen     5601
bei   29 anderen Vereinen     5049
insgesamt bei 711 Vereinen 126669

Doch sind diese Zahlen wesentlich zu hoch, da viele Mitglieder mehreren dieser Vereinigungen angehören. Die Gesamtzahl der bestehenden Gewerkschaften wurde auf 226 ermittelt. Am stärksten und am besten organisiert sind der Typographen- und der Zigarrenmacherbund, sowie der Verein der Eisenbahnarbeiter.

Von den erwähnten vier Verbänden zählte der erste 23 Zweigvereine mit 2500 Mitgliedern, der zweite 12 Zweigvereine mit 11000 Mitgliedern, der dritte 160 Zweigvereine mit 12000 Mitgliedern und der vierte 99 Zweigvereine, deren Mitgliederzahl absichtlich geheim gehalten wird.

Die holländischen Gewerkschaften schwimmen durchaus im sozialdemokratischen Fahrwasser, und zwar verfolgt die holländische Sozialdemokratie unter ihrem allmächtigen Führer Domela Nieuwenhuis eine völlig andere Richtung, als diejenige der meisten übrigen Länder, insbesondere die deutsche, und steht zu derselben in einem schroffen Gegensatze, der sich auf dem internationalen Kongresse in London 1896 in der entschiedensten Form geltend machte. Der Standpunkt der holländischen Sozialdemokraten ist etwa derselbe, den die deutschen sog. „Jungen“ oder „Unabhängigen“ vertreten: sie verwerfen die Vertretung ihrer Ansicht im Parlamente und die Mitwirkung an der Gesetzgebung, und obgleich nach dem bei den letzten Wahlen (Juni 1897) in Kraft getretenen Wahlgesetze eine Erweiterung des Wahlrechts von 290000 auf 580000 Wähler (bei 5 Millionen Einwohnern) eingetreten ist, so besteht doch der Beschluß des Weihnachten 1893 abgehaltenen Parteitages in Groningen, unter keinen Umständen an den Wahlen teilzunehmen, auch jetzt noch in Kraft. Thatsächlich ist freilich diese Enthaltungspolitik bei den Wahlen keineswegs durchgeführt, vielmehr sind vier sozialdemokratische Abgeordnete gewählt, während insgesamt 15000 sozialdemokratische Stimmen abgegeben sind[53]. Obgleich nun diese antiparlamentarische Richtung der Sozialdemokratie die Gewerkschaften durchaus begünstigt und ihnen geneigter gegenübersteht, als die parlamentarische, die in ihr eine Konkurrenz sieht, so ist die holländische Gewerkschaftsbewegung dennoch bisher schwach und wenig entwickelt, was sich daraus erklären mag, daß die Bevölkerung vorzugsweise aus Landarbeitern, Kleinbürgern, Handels- und Seeleuten besteht und die Industrie wenig vertreten ist.

[142]

Dagegen ist es jetzt gelungen, einen Zusammenschluß der gewerkschaftlichen Organisationen in dem Arbeitersekretariat zu schaffen, welches thatsächlich die Stellung einer obersten Gewerkschaftsinstanz besitzt. Die Anregung hierzu war zunächst von dem „Sozialdemokratischen Bunde“ auf seiner Hauptversammlung in Amsterdam 1891 gegeben; es zeigte sich jedoch bald, daß die Uebernahme der Sache seitens der sozialdemokratischen Partei nicht der richtige Weg war, und so wurde auf der Hauptversammlung in Zwolle 1892 beschlossen, zunächst eine Verständigung mit den gewerkschaftlichen Zentralverbänden zu suchen. Dieser Anregung entsprechend fand eine auf den 9. Juli 1893 einberufene Zusammenkunft von Gewerkschaftsvertretern statt, die zwar über den Grundgedanken sich einigte, jedoch beschloß, zu einer neuen Konferenz am 27. August 1893 nicht nur die sozialistischen, sondern alle Arbeiterorganisationen einzuladen, „welche davon überzeugt sind, daß die Arbeiter gegenüber dem geschlossenen Vorgehen der Arbeitgeber gemeinsame Sache machen müssen“. Obgleich einzelne Vereinigungen dieser Aufforderung keine Folge leisteten, so war doch diese neue Konferenz so zahlreich besucht, daß man zur Gründung des „Nationalen Arbeitersekretariats“ schreiten konnte. Dessen Zweck ist nach dem Organisationsstatut die Verbindung der bestehenden Arbeitervereinigungen untereinander, das Sammeln und Veröffentlichen statistischer Daten und die Korrespondenz mit Arbeitersekretariaten anderer Länder. Dasselbe besteht aus je einem Vertreter der beteiligten Verbände. Eine Versammlung der Zentralvorstandsmitglieder aller angeschlossenen Verbände wird nach Ermessen vom Sekretariate einberufen. Nach dem ersten im Februar 1893 veröffentlichten Berichte des Sekretariates umfaßte dasselbe damals 22 Fachverbände und allgemeine Arbeiterorganisationen mit zusammen 330 Abteilungen, 15728 Mitgliedern und Fachorganen. Der Vorschlag, ein gemeinsames Organ seitens des Sekretariates herauszugeben, ist zunächst abgelehnt. Auf der am 23. Februar 1896 in Haarlem abgehaltenen zweiten Jahresversammlung, auf der 22 Verbände vertreten waren, wurde mitgeteilt, daß sich im Jahre 1895 15 neue Organisationen dem Sekretariat angeschlossen hätten und dasselbe Ende 1895 31 Verbände und Vereine mit 18700 Mitgliedern umfaßte; doch scheint die Mitgliederzahl infolge von Doppelzählungen zu hoch gegriffen. Die 31 Organisationen sind folgende: 1. Allgemeiner Möbelarbeiterbund, 2. Internationaler Maler- und Anstreicherbund, 3. Niederländischer internationaler Tabak- und Zigarrenarbeiterbund, 4. Sozialistenbund, 5. Niederländischer Bürstenmacherbund, 6. Kalk- und Steinarbeiterbund, 7. Schneiderverein, 8. Metallarbeiterbund, 9. Erd- und Bergarbeiterverein, 10. Allgemeiner niederländischer Schriftsetzer(Typographen-)bund, 11. Allgemeiner niederländischer Holzarbeiterbund, 12. Niederländischer Bund der Eisenbahn- und Tramarbeiter, 13. Korkschneiderverein, 14. Steinhauerbund, 15. Neutraler Schmiedegesellenverein[143] Amsterdam, 16. Handlangerverein, 17. Blei- und Zinkarbeiterverein, 18. Verein der Arbeiter für Pfahlarbeiten, 19. Weber- und Spinnerbund, 20. Schneiderverein in Heerenveen, 21. Maschinisten- und Heizerbund, 22. Kombinierter Fachverein in Appeldoorn, 23. Verein der Schmiedegesellen und verwandter Fächer, 24. Oelschlägerverein in Zaandyk, 25. Sozialdemokratische Arbeiterpartei, 26. Kupfer- und Blecharbeiterbund, 27. Zuckerbäckerbund, 28. Spiegel- und Leistenmacherverein, 29. Bäckergesellenbund, 30. Arbeitersekretariat Maastricht, 31. Feldarbeiterverein.

Elf dieser Verbände haben ein eigenes Fachorgan.

Auf der am 28. Februar 1897 abgehaltenen dritten Jahresversammlung hatte sich die Anzahl der zugehörigen Vereine von 31 auf 44 erhöht, die Zahl der Mitglieder aber wird, auf Grund genauerer Zählungen, auf 17553 angegeben. Die Einnahmen betrugen 832,80 fl., die Ausgaben 658,81 fl. Die Streikkasse hatte 14923,70 fl. Einnahme und 15119,1 fl. Ausgabe.

Die Thätigkeit des Sekretariates hat sich bisher vorwiegend auf Organisationsfragen und die Behandlung der Streiks beschränkt. Eine am 23. Juni 1895 abgehaltene Versammlung der Hauptvorstände der Organisationen lehnte den Vorschlag der Begründung eines gemeinsamen Streikfonds ab, beschloß aber ein allgemeines Streikreglement und forderte die Vereine auf, sich bei Streiks gegenseitig zu unterstützen. Der Jahresbeitrag der Verbände für das Sekretariat wurde von 1 fl. auf 2½ fl. für je 100 Mitglieder erhöht. Als Aufgabe des Sekretariates wurde vor allem die Schaffung einer möglichst genauen Arbeitsstatistik bezeichnet.

In der bereits erwähnten Hauptversammlung vom 28. Februar 1897 wurde die Herausgabe einer monatlich erscheinenden gemeinsamen Zeitung wiederholt abgelehnt. Unter die Stellung der politischen Parteien zu dem Sekretariate einigte man sich dahin, daß deren Vertreter als solche auszuschließen seien, dagegen sich als Privatpersonen beteiligen könnten.

Unter den Verbänden der einzelnen Gewerbe ist der bedeutendste derjenige der Diamantarbeiter, der Anfang 1898 7500 Mitglieder zählte, eine jährliche Einnahme von 93630 fl. und eine Ausgabe von 104545 fl. hatte. Von den Ausgaben entfielen 68269 fl. auf Unterstützungen. —

Der Typographenbund zählte 1716 Mitglieder; die Einnahme betrug 2581 fl., die Ausgabe 2528 fl. Das Fachblatt hatte eine Auflage von 3700. Die im Januar 1898 abgehaltene Generalversammlung beschloß die Gründung einer Krankenkasse. Die Buchdrucker haben aber Anfang 1898 auch einen allgemeinen Kongreß unter Beteiligung aller Richtungen, insbesondere auch der katholischen Vereine, abgehalten, auf dem man einen einheitlichen Tarif aufstellte und dessen Durchführung mittels gemeinsamen Vorgehens beschloß;[144] die Errichtung eines föderativen Zentralverbandes wurde ins Auge gefaßt.

Der Bund der Post- und Telegraphenbeamten zählt 55 Vereine mit 1850 Mitgliedern.

Der Bund der Weber und Spinner zählt 9 Vereine mit 1000 Mitgliedern und besitzt ein gemeinsames Fachblatt. Die Einnahme betrug 673 fl., die Ausgabe 624 fl.

Es besteht auch noch seit 28 Jahren ein allgemeiner niederländischer Arbeiterbund mit 3600 Mitgliedern und einer Jahreseinnahme von 2196 fl. Derselbe besitzt eine Begräbniskasse, an der auch andere Arbeiter teilnehmen können, mit 9870 Mitgliedern.

Uebrigens beginnt jetzt auch die holländische Regierung den sozialen Dingen ein größeres Interesse zuzuwenden. Ein am 23. Mai 1897 von der Regentin vollzogenes Gesetz über Errichtung von Arbeitskammern ist das erste greifbare Ergebnis dieser Politik.

In Zukunft können durch königliche Verordnung in einer Gemeinde oder in einer Gruppe von Gemeinden für ein jedes oder für mehrere verwandte Gewerbe gemeinsam Arbeitskammern errichtet werden. Diesen Kammern soll eine gleiche Anzahl von Arbeitgebern und Arbeitern angehören. Eine vierfache Aufgabe wird ihnen zugedacht, nämlich 1. das Sammeln von Informationen über Arbeiterangelegenheiten, 2. das Erstatten von Gutachten an die staatlichen, provinziellen oder städtischen Behörden in Bezug auf alle Fragen, welche die Interessen von Arbeit und Arbeitern berühren, 3. das Erstatten von Gutachten und das Ausarbeiten von Verträgen und Regelungen, wenn von einer bei Arbeiterangelegenheiten beteiligten privaten Seite ein derartiges Gesuch erfolgt, endlich 4. das Verhindern oder Beilegen von Arbeitsstreitigkeiten entweder durch direkte Vermittlung oder durch das Anraten zur Anrufung eines Schiedsgerichts.

Die Kammer soll mindestens jährlich viermal zusammentreten und außerdem auf Verlangen des Vorstandes oder eines Drittels der Mitglieder. Wähler ist jeder Niederländer, männlich oder weiblich, Arbeiter oder Arbeitgeber, der 30 Jahr alt ist. Wahlberechtigt sind alle männliche oder weibliche Personen, die im letzten Kalenderjahre in ihrem Bezirke den Beruf als Arbeitgeber oder Arbeiter ausgeübt haben und 25 Jahr alt sind. Die Kammer hat einen Vorstand, bestehend aus einem unparteiischen Vorsitzenden, zwei Beisitzern als Vertreter von Arbeitern und Arbeitgebern und einen Sekretär. Die Art der Beilegung von Streitigkeiten ist genau geordnet.

Auch die auf Grund der Neuwahlen im Juni 1897 zusammengetretene II. Kammer ist für soziale Reformen günstig gestimmt, insbesondere ist die[145] treibende Kraft in sozialpolitischer Richtung die neu gebildete „Liberale Union“, die bei den letzten Wahlen 30 Abgeordnete durchgesetzt hat und mit Nachdruck für soziale Verbesserungen eintritt. Aus dem im November 1896 veröffentlichten Programme sind folgende Punkte hervorzuheben: Erweiterung des Wahlrechts, insbesondere Befreiung vom Zensus, Arbeitskammern, Regelung des Arbeitsvertrages, Einschränkung übermäßiger Arbeitszeit auch für erwachsene Männer, Sonntagsruhe, Zwangsversicherung gegen Unfall, Krankheit, Invalidität und Alter mit Staatszuschuß, Wohnungsgesetz, Neuordnung des Armenwesens.

Demgemäß hat auch das auf Grund der Kammerwahlen neu gebildete Ministerium Pierson-Gormann-Borgesius die Bahn der Sozialreform eingeschlagen und die Thronrede, mit der die Kammer am 21. September 1897 eröffnet wurde, bezeichnet als Vorlagen u. a. ein Arbeiterschutzgesetz für Kinder und jugendliche Arbeiter, ein Gesetz über obligatorische Unfallversicherung und eine Regelung der Wohnungsfrage.

Fußnoten:

[52] Die wichtigste Quelle für Holland ist der im Texte erwähnte Bericht der „Zentralkommission für Statistik“, der unter dem Titel: Statistik der Arbeidervereenigingen, utgeven door de Centrale Commission voor de statistik, s'Gravenhage 1894, van Weelden en Mingelen, im Buchhandel erschienen ist. Vgl. außerdem H. Polak in der „Neuen Zeit“ 1894/95, Nr. 2. S. 54 ff. Falkenberg u. Mayer in Braun, Archiv f. soz. Ges. XI, 750. Endlich veröffentlicht das „Nationaal Arbeids-Secretariaat in Nederland“ seit 1893 jährliche Berichte. Die Adresse des Arbeitersekretärs ist: G. van Erkel, Amsterdam, Rozenstraat 155.

[53] Gewählt sind: 17 Altliberale (früher 38), 30 Sozialliberale (früher 20), 4 Radikale (früher 2), 22 Antirevolutionäre (früher 15), 22 Katholiken (früher 25), 4 Sozialdemokraten, 1 Christlich-Historischer.

VII. Italien[54].

In Italien ist das Vereinsleben von je her stark entwickelt gewesen, wie die Neigung zu Geheimbünden beweist; auch das Klubleben umfaßt größtenteils nicht nur die höheren Klassen, sondern auch die Arbeiter. Vereinigungen der letzteren sind die über ganz Italien verbreiteten und mitgliederreichen fasci, die man als eine Zwischenstufe zwischen Bildungsvereinen und Gewerkvereinen Hirsch-Duncker'scher Richtung bezeichnen kann; sie stehen nicht allein nicht auf dem Boden des Klassenkampfes, sondern werden sogar häufig von Nichtarbeitern, insbesondere auch von den Arbeitgebern geleitet.

[146]

Eine besondere, mit den übrigen Arbeitervereinigungen des Landes nicht in organischer Verbindung stehende Organisation bilden die fasci dei lavoratori in Sizilien, insbesondere in den Provinzen Palermo, Catania und Girgenti. Dieselben werden geleitet durch einen Ausschuß von 9 Personen, an deren Spitze der in den Zeitungen öfters genannte Buchhalter der Volkbank in Palermo, Garibaldi Bosco, steht. Die Vereinigungen, aus Männern und Frauen bestehend, haben das allgemeine Ziel der Erringung besserer Arbeitsbedingungen, sehen von politischen Forderungen ab und sind deshalb als gewerkschaftliche zu betrachten, obgleich die italienische Regierung sie als sozialistische bekämpft. Einige haben Lebensversicherungseinrichtungen, andere betreiben Kranken- und Unterstützungskassen, Vorschuß- und Konsumvereine.

Einen ähnlichen Karakter tragen die Hilfs- und Unterstützungsvereine (società di mutuo soccorso), die eine Unterstützung in einzelnen Notfällen des Lebens bezwecken, insbesondere bieten sie eine Versicherung gegen die aus Krankheit und Todesfall erwachsenden Vermögensnachteile, doch unterstützen sie auch im Falle von Arbeitslosigkeit und insbesondere auch bei Streiks und nähern sich dadurch dem gewerkschaftlichen Gebiete. Lebenslängliche Renten zu gewähren ist ihnen durch das Gesetz vom 15. April 1886 verboten. Die Mehrzahl der Mitglieder sind Handwerker und Kleingewerbetreibende, auch Kleinbauern; deshalb tragen die Vereine im ganzen einen kleinbürgerlichen Karakter, doch haben sie sich überwiegend der in den letzten Jahren gebildeten selbständigen Arbeiterpartei angeschlossen. Ueber die Ausbreitung dieser Vereine fehlen neuere Nachrichten; nach der amtlichen Statistik von 1885 gab es damals 4971 mit 804000 Mitgliedern und 32 Millionen Lire Vermögen.

Die eigentlichen Gewerkvereine, die im Gegensatze zu der Unterstützung in einzelnen Notfällen die Hebung des Arbeiterstandes im allgemeinen und insbesondere die Verbesserung der Arbeitsbedingungen bezwecken, nennen sich in Italien società di resistenza und bezeichnen so ihren Kampfkarakter und ihre Hauptaufgabe des Eingreifens bei Streiks. Obgleich durch den erst 1890 aufgehobenen Art. 386 des codice penale italiano jede Verständigung der Arbeiter untereinander zu dem Zwecke, „ohne vernünftigen Grund“ (senza ragionevole causa) die Arbeit einzustellen, zu verhindern oder Lohnsteigerungen herbeizuführen, mit Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft wurde, so haben doch schon früh einzelne Arbeitervereinigungen auch auf diesem Gebiete eine Thätigkeit entfaltet. Der allererste Verein dieser Art ist der Hutmacherverband (federazione dei cappellai), doch ist die Verbindung der einzelnen Vereine untereinander sehr lose; der Vorschlag, die lokalen Organisationen zu zentralisieren, wurde auf dem Hutmacherkongreß in Intra 1885 von der Mehrheit abgelehnt. Die Zahl der zum Verbande gehörigen Vereine betrug 1891 85[147] mit etwa 5000 Mitgliedern, was bei einer Gesamtzahl von 17292 Hutmachern (nach der Statistik von 1881) ein Verhältnis von 29 % bedeutet.

Der wichtigste Gewerkverein ist derjenige der Buchdrucker, der seit Anfang der 70er Jahre besteht. Die einzelnen Vereine haben freilich keine gemeinschaftliche Streikkasse, entrichten aber doch an das Zentralkomitee eine nach der Zahl der Mitglieder bemessene Steuer, aus der ausständigen Genossen ein Zuschuß gewährt wird. Der Hauptzweck, den der Verband verfolgt, ist Aufrechthaltung eines für Italien gemeinsam aufgestellten Tarifs. Die Zahl der Mitglieder betrug 1878: 2238, 1881: 2958, 1885: 3752, was bei einer Gesamtzahl von 14317 Buchdruckergehilfen ein Verhältnis von 26 % bedeutet.

Eine Frucht des großen Ausstandes im Jahre 1891 ist der Gewerkverein der Metallarbeiter in Mailand (federazione di resistenza agli operai metallurgici di Milano), der trotz polizeilichen Verbotes fortbesteht und sich neuerdings stark ausbreitet.

Endlich hat sich auf dem am 27. April 1894 in Mailand abgehaltenen Kongresse sämtlicher italienischer Eisenbahnarbeitervereinigungen ein Gewerkverein unter dem Namen Lega dei ferrovieri gebildet, der den Zweck der moralischen und materiellen Hebung der Klasse verfolgt, während die gegenseitige Hilfeleistung zunächst noch den einzelnen Vereinen überlassen bleibt. Zugleich wurde der Anschluß an die Arbeiterpartei beschlossen. Sie besitzt ein eigenes Fachblatt „Il Treno“ (der Zug). So haben wir hier den Abschluß einer Entwicklung: der alte fascio ferrovierio stand durchaus auf dem Boden der oben bezeichneten Auffassung der fasci, konnte also als G.-V. nicht angesehen werden. Die später im Gegensatze dazu gegründete Unione ferrovieri vertrat den gewerkschaftlichen Standpunkt, lehnte aber anfangs politische Bestrebungen ab, bis diese auch in ihr das Uebergewicht erlangten und sie nun diese auch in die Kreise des alten fasci übertrug.

Die Hauptforderungen der lega sind: gesetzliche Regelung der Arbeitszeit und der Sonntagsruhe, Lohnminimum bei gleichem Lohne für Frauen und Männer, besondere Gewerbegerichte und Schiedsämter (probi viri) für die Eisenbahnen, Verstaatlichung der Eisenbahnen, Teilnahme der Arbeiterschaft an den Wohlfahrtseinrichtungen.

Einen sehr erheblichen Aufschwung der gewerkschaftlichen Entwicklung haben die Arbeiterkammern (camere di lavoro) herbeigeführt, eine Einrichtung, die mit den französischen Arbeitsbörsen und den Arbeitersekretariaten Verwandtschaft hat. Nachdem ein von dem (Mazzini'schen) XIV. allgemeinen Arbeiterkongreß in Genua 1876 gefaßter Beschluß, entsprechend den Handelsgerichten und Handelskammern auch Arbeitergerichte und Arbeiterkammern zu errichten, ohne weitere Wirkung geblieben war, wurde der Gedanke unter dem[148] Einflusse der am 28. April 1887 erfolgten Begründung der Arbeitsbörse in Paris insbesondere von dem Buchdruckerverbande wieder aufgenommen und es gelang zuerst in Mailand am 22. September 1891 eine Arbeiterkammer zu errichten. In den beiden folgenden Jahren folgten Bologna, Brescia, Cremona, Florenz, Monza, Parma, Pavia, Piacenza, Rom, Turin, Venedig, Neapel, Padua und San Pier d'Arena. Auf dem 1893 in Parma abgehaltenen ersten Delegiertenkongreß wurde die Begründung eines Gesamtverbandes (Federazione italiana delle Camere del Lavoro) und die Einrichtung eines Arbeitersekretariates (Segretariato nazionale del Lavoro) beschlossen. Die hier gleichfalls ins Leben gerufene und zuerst am 1. Januar 1894 erschienene eigene Zeitschrift (Giornale delle Camere del Lavoro), die in Mailand monatlich herausgegeben wurde, ist bereits nach neun Nummern wieder eingegangen. Die Spitze des Gesamtverbandes bildet das Zentralkomitee (comitato centrale), das zuerst seinen Sitz in Mailand hatte, denselben aber am 21. März 1895 nach Bologna verlegte. Jährlich finden Delegiertenkonferenzen statt, in denen die maßgebenden Beschlüsse gefaßt werden.

Die Arbeiterkammern sind nach ihrem Grundgedanken selbständige Klassenvertretungen der Arbeiterschaft. Sie erhalten von den Gemeinderäten jährliche widerrufliche Zuschüsse von 500–15000 Lire und haben dagegen jährliche Berichte zu erstatten. Dagegen sind sie, abgesehen davon, daß sie keine politische Thätigkeit betreiben dürfen, durchaus unabhängig. Ihre Aufgabe ist im allgemeinen die Vertretung der Interessen der Arbeiter. Im einzelnen werden in den Statuten aufgeführt: 1. die Sammlung von Nachrichten, insbesondere über die Lage des Arbeitsmarktes, 2. die Errichtung von Arbeitsnachweisen, 3. Einflußnahme auf die soziale Gesetzgebung, insbesondere Ausdehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung und Ueberwachung der bestehenden Gesetze, 4. Verhandlungen mit den Unternehmern, insbesondere bei Feststellung der Lehrlingsverträge und Herbeiführung einheitlicher Lohntarife, 5. Thätigkeit als Schiedsgerichte und Einigungsämter, 6. Förderung des Genossenschaftswesens, 7. Pflege der geistigen Interessen, insbesondere der Bildung in den Arbeiterkreisen durch Vorträge, Unterrichtskurse, Lesehallen, Bibliotheken u. s. w. Politische und religiöse Fragen sind allgemein ausgeschlossen.

Ueber die Abgrenzung der Mitgliedschaft ist bei der ersten Entstehung von Arbeiterkammern viel gestritten, insbesondere ob man ausschließlich Arbeiter oder auch andere Personen zulassen sollte, wobei in Betracht kommt, daß in den meisten bestehenden Arbeitervereinen auch Arbeitgeber vertreten sind, so daß man bei deren Ausschließung den Beitritt der Vereine als solcher nicht hätte gestatten dürfen. Obgleich die Regelung in den einzelnen Städten verschieden ist, so werden doch im allgemeinen sowohl Einzelpersonen als Vereine zur[149] Mitgliedschaft zugelassen, aber man hat dadurch eine gewerkschaftliche Organisation und eine allmähliche Ausscheidung der nicht zu der Arbeiterklasse gehörenden Elemente herbeigeführt, daß in den Kammern besondere Fachabteilungen gebildet sind, deren Mitgliedschaft mehr oder weniger weitgehende Rechte innerhalb der Kammer begründet.

Ueber den Mitgliederbestand der einzelnen Kammern liegen nur Zahlen aus dem Jahre 1895 vor. Damals gab es in Bologna 9628, in Cremona 4494, in Florenz 4000, in Mailand 12000, in Neapel 2600, in Parma 1800, in Pavia 1134, in Rom 10782, in Turin 4806, in Venedig 9163 Mitglieder. Zu den meisten Kammern stehen die Unterstützungsvereine, die Kampfvereine und die Genossenschaften in dem Verhältnis als „società aderenti“.

Das Verhältnis zu den städtischen Behörden war durchweg ein durchaus freundliches; obgleich vielfach ausgesprochene Sozialdemokraten an der Spitze der Kammer standen, aber gerade indem die italienischen Arbeiter, schon bevor die Sozialdemokratie eine ausschließliche Herrschaft erlangt hat, zu einer geordneten praktischen Mitarbeit und Vertretung ihrer Interessen herangezogen werden, ist vorgesorgt, daß die Arbeiterverhältnisse sich in gesunden Bahnen entwickeln.

Aber der reaktionäre Wind, der in den letzten Jahren in anderen Staaten zur Herrschaft gelangt ist, hat auch in Italien die viel versprechende Schöpfung gestört. Nach § 260 des Gesetzes über die Gemeindeverwaltung dürfen die Gemeinden Ausgaben nur für gemeinnützige Zwecke beschließen. Der Minister erforderte nun ein Gutachten des Staatsrates darüber, ob die in den oben genannten Städten in den Etat aufgenommenen Zuschüsse für die Arbeiterkammern als gemeinnützige Ausgaben angesehen werden könnten, und in der Sitzung vom 12. November 1896 entschied der Staatsrat dahin, daß die Arbeiterkammern, selbst wenn sie sich durchaus auf ihre legalen Aufgaben beschränkten, doch nur als Einrichtungen im Interesse einer bestimmten Klasse von Personen anzusehen seien. Der Minister hat nicht allein durch Erlaß vom 28. November 1896 dieses Gutachten den Präfekten zur Nachachtung mitgeteilt, sondern ist noch weiter gegangen und hat kurz darauf die Arbeiterkammern völlig aufgehoben mit der Begründung, daß sie nicht wirtschaftliche, sondern ausschließlich politische Zwecke verfolgten. So wird also auch Italien vor dem Schicksale nicht verschont bleiben, daß alle eingreifenden sozialen Reformen erst durch den Einfluß der erstarkten Sozialdemokratie erzwungen werden müssen.

Bis zu dieser jüngsten Aera wandelte die italienische Gesetzgebung auf der Bahn der sozialen Reform. Nicht allein wurde durch Gesetz vom 8. Juli 1883 eine nationale Kasse für Versicherung gegen Betriebsunfälle begründet,[150] sondern durch Gesetz vom 15. April 1886 sind auch die Verhältnisse der freien Hülfskassen (Società di mutuo soccorso) dahin geregelt, daß Unterstützungsvereine der Arbeiter, die sich aber auch mit Bildungszwecken befassen dürfen, durch Eintragung die Rechte der juristischen Persönlichkeit erlangen. Endlich ist am 15. Juni 1893 ein Gesetz über Gewerbeschiedsgerichte und Einigungsämter (Collegii dei probi viri) erlassen.

Die Aufgaben, welche in anderen Ländern die Gewerkschaften übernommen haben, sind bisher den politischen Parteien zugefallen. Insbesondere ist die bürgerliche Demokratie, die unter der Fahne des fast als Nationalheiligen verehrten Mazzini kämpft, von je her stark mit sozialem Oele gesalbt gewesen. Der von Mazzini selbst begründete Patto di fratellanza hat schon seit mehreren Jahren sich mit anderen ihm nicht angehörenden, aber nahe stehenden Vereinen zur Abhaltung gemeinsamer Arbeiterkongresse verbunden, die deshalb den Namen congresso operaio italiano delle società affratellate ed aderente haben. Der XVIII. Kongreß dieser Art, der Ende Mai 1892 in Palermo abgehalten und von 415 Brudervereinen und 274 Anschlußvereinen durch insgesamt 217 Abgeordnete beschickt wurde, führte zu lebhaften Auseinandersetzungen zwischen Kollektivisten und Individualisten, und während der Kongreß von Neapel 1889 die individualistische Tagesordnung angenommen hatte, entschied man sich hier für eine neutrale Resolution, die lediglich die Notwendigkeit einer vollständigen politischen und sozialen Emanzipation betont. Zugleich beschloß man die Bildung einer umfassenden Arbeiterpartei und setzte einen Ausschuß ein, um innerhalb sechs Monaten mit den übrigen nationalen und regionalen Arbeiterverbänden eine federazione dei lavoratori d'Italia ins Leben zu rufen auf Grundlage der Erwägung, daß „das moderne Leben sich ausdrückt im Kampfe des Proletariats gegen den Kapitalismus zur Erlangung wirtschaftlicher Gerechtigkeit“.

Aber in diesen Bestrebungen ist die bürgerliche von der sozialen Demokratie überflügelt. Bisher hatte die letztere in Italien keine erheblichen Erfolge aufzuweisen, zumal sie an dem Anarchismus einen starken Gegner hatte. Den Kern der sozialistischen Bewegung bildete bisher die Lega socialista in Mailand unter der geistigen Leitung des Herausgebers der Critica sociale des Advokaten Turati. Diese berief auf den 2. und 3. August 1891 nach Mailand einen italienischen Arbeiterkongreß, auf dem gleichfalls beschlossen wurde, eine italienische Arbeiterpartei zu begründen. Der eingesetzte Ausschuß hat dann nach umfangreichen Vorarbeiten eine konstituierende Versammlung (congresso per l'organizatione operaia italiano) ausgeschrieben, die am 14. und 15. August 1892 in Genua zusammentrat. Da man alle Arbeitervereinigungen zugelassen hatte, so war es begreiflich, daß es zu einer Auseinandersetzung zwischen Sozialisten[151] und Anarchisten kommen mußte, und obgleich die Präsidentenwahl, bei der für die ersteren 106, für die letzteren 46 Stimmen abgegeben wurden, das Uebergewicht der Sozialisten ergeben hatte, so räumten dieselben doch das Feld und eröffneten am 15. August einen neuen Kongreß, auf welchem die Gründung einer italienischen Arbeiterpartei (partito dei lavoratori italiani) erfolgte. Das Organ derselben ist „La Lotta di Classe“. Auf dem Kongresse waren 192 Arbeiterorganisationen vertreten, unter ihnen auch 450 società affratellate.

Vom 8. bis 10. September 1893 ist in Reggio (Emilia) der zweite Parteitag abgehalten, auf dem 164 Abgeordnete anwesend waren.

Die Partei ist zweifellos als politische zu betrachten, da sie nicht allein die Vergesellschaftung der Arbeitsmittel und der Produktion in ihr Programm aufgenommen hat, sondern dies Ziel auch dadurch erreichen will, daß sie sich in Besitz der staatlichen Macht setzt. Immerhin hat sie auch rein gewerkschaftliche Zwecke, will aber diese im Rahmen des Parteiverbandes durch besondere Organisationen verfolgen, indem sie als Aufgaben bezeichnet:

1. den gewerkschaftlichen Kampf zur unmittelbaren Verbesserung der Lebenslage des Arbeiters hinsichtlich der Arbeitszeit, des Lohnes, der Fabrikordnungen u. dgl., ein Kampf, dessen Leitung den Arbeiterkammern und den Gewerkvereinen übertragen wird;

2. einen umfassenderen Kampf zur Eroberung der politischen Machtstellung.

Gewerkschaftliche Angelegenheiten sollen nur von den G.-V. behandelt werden, und Mitglieder der letzteren dürfen nur Handarbeiter sein, während an der politischen Organisation auch andere Personen teilnehmen können.

Bei der geringen Entwickelung der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterverbände ist es von Interesse, daß sich in Italien eine eigenartige Ausbildung des Genossenschaftswesens vollzogen hat, die sich an die russischen Kartelle anlehnt. Die società cooperative di lavoro haben den Zweck, unmittelbar vom Staate, den Gemeinden und auch Privatleuten Arbeiten zu übernehmen und so den Verdienst der Zwischenpersonen auszuschließen. Die Mitglieder sind sämtlich Arbeiter. Von den erzielten Ueberschüssen werden gewöhnlich erhebliche Beträge in Reservefonds für Pensions-, Kranken- und Invalidenkassen zurückgelegt, der Rest wird verteilt. Durch das Gesetz vom 11. Juni 1889 wird die Gründung solcher Genossenschaften begünstigt, die denn auch bereits unter den Pflasterarbeitern, Fuhrleuten, Handlangern, Maurern, Steinhauern, Bildhauern, Malern, Lackierern u. s. w. ins Leben getreten sind. Von 1889–1894 wurden an 146 Arbeitsgenossenschaften Arbeiten im Betrage von 9½ Millionen Mark vergeben. Ende 1894 bestanden 530 anerkannte Genossenschaften. Einige derselben haben sich auch zu größeren Verbänden zusammengeschlossen.

[152]

Eine Zeit der heftigsten Verfolgung der Partei begann, als Crispi Ende 1893 zum zweiten Male das Ministerpräsidium übernahm. In Veranlassung der Unruhen in Sizilien, für die man die Partei verantwortlich machte, beschloß Anfang Juli 1894 die Kammer auf Vorschlag der Regierung eine Reihe von Gesetzen, die der Regierung das Recht gaben, alle Versammlungen der Partei zu verbieten, und sogar die Führer in bestimmten Orten zu internieren. Am 22. Oktober 1894 wurde darauf die „sozialistische Arbeiterpartei“ durch Beschluß der Regierung aufgelöst.

Aber trotz des Verbotes gelang es, am 13. Januar 1895 einen Kongreß nach Parma einzuberufen und im geheimen abzuhalten. Hier wurde der Name „Italienische sozialistische Partei“ angenommen und beschlossen, daß nicht mehr Vereine als solche, sondern nur noch Einzelmitglieder der Partei angehören können. Bei den Parlamentswahlen, die am 26. Mai und 2. Juni 1895 stattfanden, erhielt die Partei 80000 Stimmen gegen 27000 im Jahre 1892, und obgleich man 20–25000 als Unterstützung der Radikalen abziehen muß, so bedeutet dies doch eine starke Verdoppelung innerhalb drei Jahren. Die Anzahl der Abgeordneten stieg von 5 auf 12.

Die Niederlage der italienischen Truppen in Adua Anfang März 1896 führte dann zum Sturze Crispis, und da auch die Verlängerung des mit Ende 1895 ablaufenden Internierungsgesetzes von der Kammer abgelehnt war, so war damit der Höhepunkt der Verfolgung überschritten. Der am 11.–13. Juni 1896 abgehaltene Kongreß von Florenz zeigte eine neue Stärkung der Partei, denn während in Reggio nur 294 Vereine in 209 Orten vertreten gewesen waren, zählte man jetzt 450 in 420 Orten. Allerdings war die Mitgliederzahl von 107830 in Reggio auf 28000 herabgegangen, aber dies war nur die Folge des Grundsatzes der unmittelbaren Mitgliedschaft, und die 21000 waren ausschließlich solche Personen, die eingeschrieben waren und regelmäßig ihre Beiträge gezahlt hatten. Die Partei verfügt über 27 Zeitungen, von denen einige, wie „La Lotta di Classe“, „Battaglia“, „Giustizia“, bis zu 7500 Auflage haben. Das wissenschaftliche Organ der Partei ist die „Critica Sociale“.

Fußnote:

[54] Mitteilungen über italienische Gewerkschaften finden sich in: C. F. Ferrari, Saggi di economia statistica, übersetzt von Eheberg in Schmollers Jahrb. Bd. V, S. 247 ff., außerdem in der Statistica della società di mutuo soccorso, Rom 1888, p. XV und in Colnaghi, Italy, the condition of labour 1891. Im allgemeinen ist die Litteratur über italienische Arbeiterverhältnisse äußerst dürftig, so daß Biermer im Handw. d. Staatsw., II. Erg.-Bd., S. 437 bemerkt: „Ueber die Organisation der Arbeiter und Arbeiterinnen sind wir so gut wie nicht unterrichtet.“ Die beste deutsche Quelle bilden die Aufsätze von Sombart in den „Blättern für sozial. Praxis“ und »Braun's Archiv für soz. Gesetzgebung, insbesondere Bd. VI, S. 209, 215, 549, 557, Bd. VIII, S: 521 ff. Vgl. außerdem Virgili, daselbst Bd. XI, S. 726. Einen Ueberblick über die Entwickelung der „Italienischen sozialistischen Partei“ giebt der für den internationalen Arbeiterkongreß in London 1896 erstattete Bericht vom 27. Juli 1896. Mailand. Druckerei des Vorstandes der sozialistischen Partei.

VIII. Die übrigen europäischen Länder.

Wie in Italien, so haben sich auch in den noch zu erwähnenden europäischen Ländern die meist noch sehr geringen Ansätze einer gewerkschaftlichen Bewegung im Anschlusse an die politische Sozialdemokratie entwickelt.

[153]

In Dänemark ging die Bewegung von der Internationale aus, indem 1871 der „Internationale Arbeiterverein für Dänemark“ gebildet wurde, der, in eine Reihe von Sektionen für die verschiedenen Gewerbe eingeteilt, die Beförderung von Arbeitseinstellungen und die Schaffung von Produktivgenossenschaften als seine Aufgabe ansah. Als 1873 die Internationale polizeilich aufgelöst und verboten wurde, bildeten die einzelnen Sektionen selbständige Gewerkvereine, deren es damals 27 gab, von denen aber die Mehrzahl sich später wieder zu einem „Sozialdemokratischen Bunde“ zusammenschlossen. Seit 1880 ist die Gewerkschaftsbewegung stärker geworden und es haben sich in den meisten Betriebszweigen Gewerkvereine gebildet. Auf dem sozialdemokratischen Kongreß, der Ende Juli 1892 in Kopenhagen stattfand, wurde die Zahl der politischen Parteiangehörigen auf 15000, diejenige der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auf 32000 angegeben.

Ueber die Fortschritte in den letzten Jahren geben folgende Zahlen Anhalt:

  1894 1896
Die Gesamtzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter    
in Dänemark betrug 27841 63377
Davon waren Mitglieder von Zentralverbänden 25576 54757
einzelstehenden Lokalvereinen   2265   8620
Solche Lokalvereine gab es       45       53
während die zentralisierten Vereine     426     802
betrugen, die an Gewerkschaftsverbänden bildeten       23       40
Die Jahreseinnahmen betrugen in Kronen    317372,14    711063,61
Die Jahresausgaben    261862,97    586669,83

Die Verteilung auf die einzelnen Berufe ergiebt sich aus folgender Tabelle:

Zentralverband Zahl der Zentralverband Zahl der
Lokalvereine Mitglieder Lokalvereine Mitglieder
Arbeitsleute 96 19365 Vergolder   2     44
Bäcker 30     900 Maler 28 1500
Klempner 23     750 Maurer 67 4296
Buchbinder 11     789 Müller 13   360
Former 36     982 Papierfabrikarbeiter   7   561
Glasarbeiter   4     190 Maschinentischler   9   517
Schneider 60   2200 Sattler und Tapezierer 30   450
Schmiede- und Maschinenarbeiter 53   4657 Schuhmacher 49 2000
Textilarbeiter 12   1200 Schlachter 28   610
Zimmerleute 61   3298 Tischler 45 3422
Wagenbauer 14     230 Tabakarbeiter 31 2461
Lohngerber   6     165 Buchdrucker 45 1475
Drechsler 11     205 Schiffszimmerer   5   350

[154]

Außerdem giebt es noch Zentralverbände der Weißgerber, Lithographen und der Dienstboten, die zusammen 12 Lokalvereine mit etwa 1000 Mitgliedern hatten.

Vom 3. bis 5. Januar 1898 ist in Kopenhagen der erste reine Gewerkschaftskongreß abgehalten, auf dem 943 gewerkschaftliche Organisationen mit 69720 Mitgliedern durch 403 Abgeordnete vertreten waren. Hier wurde der Zusammenschluß sämtlicher Fachvereine zu einem einheitlichen Verbande unter dem Namen: „Vereinigte Fachverbände Dänemarks“ erreicht. An dessen Spitze steht ein Zentralvorstand aus 21 Mitgliedern, zu denen noch zwei Mitglieder des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei hinzutreten. Der Zentralvorstand wählt einen geschäftsführenden Ausschuß von fünf Personen. Der Schwerpunkt der Leitung fällt in die Einzelverbände, doch ist für wichtige Fälle die Entscheidung des Zentralvorstandes vorbehalten, z. B. muß jeder Streik bei ihm angemeldet werden und bedarf seiner Genehmigung, wovon die aus dem Zentralfonds zu zahlende Streikunterstützung von wöchentlich 10 Kronen für Männer und 6 Kronen für Frauen abhängig ist. Die Mittel sollen durch Sondersteuern der Mitglieder in Höhe von wöchentlich 25–50 Oere aufgebracht werden. Außerhalb des Verbandes stehen 52 lokale Vereine in Kopenhagen mit etwa 20000 Mitgliedern. Es wurde beschlossen, für die Durchführung des Achtstundentages einzutreten. Neben mehreren Fachorganen besitzt auch der Gewerkschaftsbund eine eigene Wochenzeitung. Die Beiträge belaufen sich auf jährlich 20 Oere. Es soll in der Regel kein Streik unterstützt werden, bei dem nicht ein Versuch der gütlichen Beilegung oder eines schiedsgerichtlichen Verfahrens gemacht ist; dabei ist der Zentralvorstand zuzuziehen. Für die erste Woche wird Unterstützung seitens des Verbandes nicht gezahlt[55].

Auch die politischen Vereine der Sozialdemokratie bilden einen einheitlichen Verband. Die Partei besitzt im Reichstage 11 Abgeordnete und hat fünf Tageszeitungen, von denen die gelesenste, „Socialdemokraten“, allein in Kopenhagen 33000, die übrigen zusammen etwa 17000 Abonnenten haben. Daneben giebt es ein wöchentlich erscheinendes gemeinsames Gewerkschaftsorgan, und endlich besitzen die meisten Gewerkschaften ihr eigenes Fachblatt.

In Norwegen[56] gab es bis zum Jahre 1886 nur wenige und unbedeutende Arbeitervereine, die aber kaum einen gewerkschaftlichen Karakter trugen, sondern neben der Krankenunterstützung vorwiegend gesellige Zwecke verfolgten.[155] Die einzige Ausnahme bildeten die Buchdrucker, die schon seit 1874 eine gewerkschaftliche Organisation besitzen und auch heute an der Spitze der Bewegung marschieren. Aus den Mitgliederbeiträgen von wöchentlich 1 Krone (= 1 Mk. 12½ Pfg.) werden außer der Verbandskasse eine Streikkasse, eine Arbeitslosigkeitskasse, eine Reisekasse, eine Krankenkasse und eine Sterbekasse unterhalten.

Eine allgemeine gewerkschaftliche Bewegung beginnt erst seit 1886, und ist auch heute noch wenig entwickelt. Bis 1890 gab es nur lokale Vereine; seit dieser Zeit haben sich nicht allein die meisten Vereine desselben Gewerbes zu Zentralvereinen zusammengeschlossen, sondern es haben sich auch Gesamtverbände gebildet. Endlich bestehen in den meisten größeren Städten Kartelle der verschiedenen Fachvereine.

Ende 1898 gab es folgende 13 Zentralvereine:

1. Buchbinder   20 Vereine mit   1400 Mitgliedern
2. Metallarbeiter   13   1200
3. Tischler   12   1000
4. Schneider   12   1000
5. Schuhmacher   12   1000
6. Maler     6     900
7. Eisenbahnarbeiter   16   1000
8. Bäcker   24     900
9. Steinhauer   10     800
10. Former     4     500
11. Klempner     3     400
12. Buchbinder     3     400
13. Hafenarbeiter     7   1600
  Zusammen 142 Vereine mit 12100 Mitgliedern.

Daneben giebt es aber noch in Christiania einen Verband unter dem Namen „De samwirkende Fagforeninger i Kristiania“, dem 50 Vereine mit 6000 Mitgliedern angehören und der eine gemeinsame Unterstützung in Streikfällen bezweckt. Zu ihm gehören die meisten der oben aufgeführten Vereine, soweit sie in Christiania ihren Sitz haben, daneben aber auch noch andere nicht zu Zentralverbänden zusammengeschlossene Fachvereine. Endlich besteht noch unter dem Namen „Norsk Fagforbund“ ein Verband von 30 Vereinen mit etwa 2000 Mitgliedern, der insofern von den Zentralverbänden und den „Samwirkende Fagforeninger“ unabhängig ist, als seine Mitglieder keiner von beiden Organisationen angehören.

Zusammengenommen giebt es in Norwegen etwa 270 Fachvereine mit ungefähr 24000 Mitgliedern.

[156]

Auf dem am 2. April 1899 in Christiania abgehaltenen Gewerkschaftskongresse, auf dem 73 Vereine mit rund 20000 Mitgliedern durch 113 Abgesandte vertreten waren, wurde unter dem Namen „Landesorganisation der norwegischen Fachvereine“ ein Zentralverband für das ganze Land gebildet.

Von den politischen Parteien haben sich sowohl die Sozialdemokraten wie die Liberalen der Gewerkschaftsbewegung angenommen. Die ersteren haben erst seit 1884 eine Organisation, indem damals auf dem Arbeitertage in Arendal die Norwegische Arbeiterpartei (Det norske Arbeiderparti) gegründet wurde, die zur Zeit 80 Vereine mit etwa 12000 Mitgliedern zählt. Von den Vereinen haben 36 ihren Sitz in Christiania, 44 in der Provinz. Der Einfluß der Sozialdemokratie überwiegt in den meisten der obengenannten Fachvereine (mit Ausnahme der Buchdrucker) und in den Samwirkende Fagforeninger, während der Norsk Fagforbund den Liberalen folgt, die auch eine politische Organisation in den „Vereinigten norwegischen Arbeitergesellschaften“ (De forenede norske Arbeidersamfund) geschaffen haben. In der Nationalversammlung hat die Sozialdemokratie bisher noch keinen Vertreter; seitens der Hauptstadt ist in dieselbe ein Buchdrucker gewählt, der sich zu der liberalen Partei zählt.

In Schweden[57] ist ebenfalls sowohl die politische, wie die gewerkschaftliche Bewegung bisher nur schwach entwickelt. Beide haben erst seit 1885 begonnen; 1889 wurden die bestehenden Einzelvereine zu einer einheitlichen sozialdemokratischen Partei zusammengefaßt, deren Mitgliederzahl auf dem Kongresse in Gothenburg 1894 auf 7000 angegeben wurde, dagegen war sie im Juli 1897 auf 21261 angewachsen.

Gewerkschaftliche Zentralverbände gab es Ende 1895 in folgenden Gewerben: 1. Metallarbeiter, 2. Gießer, 3. Klempner und Blecharbeiter, 4. Holzarbeiter, 5. Schuharbeiter, 6. Schneider, 7. Sattler und Tapezierer, 8. Erd- und Hafenarbeiter, 9. Maurer, 10. Maler, 11. Töpfer, 12. Böttcher, 13. Bäckereiarbeiter, 14. Buchbinder, 15. Kellner, 16. Buchdrucker. Für sämtliche Verbände war der Vorort Stockholm mit Ausnahme der Klempner (Malmö), Schuharbeiter (Gothenburg), Sattler und Tapezierer (Gothenburg), Erd- und Hafenarbeiter (Helsingborg), Maurer (Malmö). Die Tabakarbeiter besitzen einen Verband für die drei skandinavischen Länder mit dem Vorort Stockholm.

Ueber die Mitgliederzahlen liegen nur Angaben vor von den in Stockholm bestehenden Ortsvereinen. Von diesen hatten die Metallarbeiter 9 Vereine mit 843, die Gießer 240, die Klempner und Blecharbeiter 2 Vereine mit 161, die[157] Holzarbeiter 7 Vereine mit 385, die Schuharbeiter 2 Vereine mit 266, die Schneider 461, die Sattler und Tapezierer 2 Vereine mit 72, die Erd- und Hafenarbeiter 2 Vereine mit 350, die Maurer 240, die Maler 508, die Böttcher 44, die Tabakarbeiter 125 Mitglieder. Außerdem gab es in Stockholm noch 36 Fachvereine, die keinem Zentralverbande angehörten, u. a. Bürstenbinder mit 19, Seiler mit 20, Zuckerraffinadeure mit 35, Telegraphen- und elektrische Arbeiter mit 70, Brauereiarbeiter mit 282, Gerbereiarbeiter mit 12, Gasarbeiter mit 25, Handelshülfsarbeiter mit 85, Pantoffelmacher mit 20, chemisch-technische Arbeiter mit 38, Rohrarbeiter mit 275, Gepäckträger mit 60, Korbmacher mit 30, Porzellanarbeiter mit 32, Buchdrucker mit 36 Mitgliedern. Die meisten dieser Mitglieder sind gleichzeitig solche der sozialdemokratischen Partei, die in Stockholm 3500 Mitglieder besitzt. In einzelnen dieser Fachvereine, z. B. bei den Holzarbeitern, hat die Stellung zur Sozialdemokratie schwere Kämpfe hervorgerufen, doch haben schließlich deren Anhänger meistens den Sieg davongetragen.

Einen Markstein der gewerkschaftlichen Entwickelung bildet der vom 5. bis 8. August 1898 in Stockholm abgehaltenen Gewerkschaftskongreß, auf dem es gelang, den Zusammenschluß zu einer einheitlichen Landesorganisation herbeizuführen. Anwesend waren 269 Vertreter für 23 Gewerkschaftsverbände, 13 Lokalvereine und 19 „Arbeitergemeinden“ (lokale Gesamtorganisationen entsprechend den deutschen Gewerkschaftskartellen) mit insgesamt über 50000 Mitgliedern, bei weitem mehr, als bis dahin auf einem schwedischen Arbeiterkongresse vertreten waren. Die geschaffene Landesorganisation bezweckt durch Einfordern von Berichten eine möglichst vollständige Uebersicht über die Wirksamkeit der Gewerkschaften zu erlangen, durch ein Sekretariat diese Berichte zu verarbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen in allen Fällen, wo die Arbeitgeber durch Aussperrungen die Organisation oder die Bestrebungen der Arbeiter auf Verbesserung ihrer Lohn- und Arbeitsverhältnisse hindern, wo das Koalitionsrecht bedroht ist, sowie bei erheblichen Lohnherabsetzungen. Die Einzelvereine sollen sich zu Zentralverbänden zusammenschließen, die ihrerseits die Landesorganisation bilden; ebenso sollen örtliche Gewerkschaftskartelle gebildet werden. Nur wenn Zentralverbände fehlen, können die Einzelvereine unmittelbar dem Landesverbande beitreten. Die Leitung des letzteren wird geführt durch ein aus 5 Mitgliedern bestehendes Sekretariat, das von einem Ausschusse aus Vertretern der Zentralverbände kontrolliert wird. Die oberste Instanz ist der Kongreß, auf dem alle Vereine nach ihrer Größe vertreten sind. Streiks werden nur dann unterstützt, wenn sie von dem Sekretariat gebilligt sind und mehr als 5% der Mitglieder umfassen. Die Mittel werden durch wöchentliche Steuern von 25 Oere aufgebracht. Ein Hauptpunkt[158] des Streites war die Frage, ob dem Vereine die Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei zur Pflicht gemacht werden sollte. Nach dreitägigen Debatten siegte die bejahende Ansicht mit 173 gegen 83 Stimmen bei 7 Enthaltungen, jedoch wurde für den Anschluß eine Frist von drei Jahren gestattet.

Seit mehreren Jahren hat man übrigens angefangen, eine gemeinsame Organisation der drei skandinavischen Länder ins Auge zu fassen, indem man gemeinsame Kongresse veranstaltet, die zugleich für die politische und für die gewerkschaftliche Bewegung bestimmt sind. So wurde auf dem am 18. August 1892 in Malmö abgehaltenen skandinavischen Sozialistenkongresse der Zusammenschluß aller Fachvereine der drei Länder namentlich zum Zwecke des gemeinsamen Vorgehens in Lohnfragen beschlossen. Ebenso faßte der vom 19. bis 22. Juni 1897 in Stockholm stattgefundene skandinavische Arbeiterkongreß, auf dem 51 dänische, 24 norwegische und 101 schwedische Vertreter anwesend waren, eine Resolution, in welcher als gemeinschaftliche Aufgabe der politischen und der gewerkschaftlichen Arbeiterorganisation bezeichnet wurde, die Arbeiter zum Kampfe für die Anerkennung ihrer Menschenrechte zu sammeln, um unter den gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen die bestmöglichen ökonomischen Bedingungen und die politische Freiheit zu erringen und die Arbeiter über die wirtschaftliche Entwickelung und ihre Folgen aufzuklären. Um Verbesserungen in den Existenzbedingungen der Arbeiter zu erreichen, sollen die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen Einfluß auf die gesetzgebenden Körperschaften zu gewinnen suchen und bei jeder Gelegenheit solche Fragen behandeln, die in sozialökonomischer oder politischer Beziehung für die Arbeiter von Wichtigkeit sind. Der gewerkschaftliche Kampf ist so lange nötig, bis die Gesellschaft selbst die Produktionsmittel in Besitz nimmt, aber durch diesen Kampf kann die Ausbeutung nicht abgeschafft, sondern nur gemildert werden. Als Ziel wurde die Erringung des allgemeinen Wahlrechts bezeichnet und als Mittel zu dessen Erreichung eine allgemeine Arbeitseinstellung ins Auge gefaßt. Die Gewerkschaften sollen in jedem Lande von einem Sekretariate geleitet werden und sich in allen drei Ländern bei Streiks gegenseitig unterstützen.

Von den einzelnen Gewerben sind die Bäcker bisher am besten organisiert. Auf einem im September 1895 in Kopenhagen abgehaltenen Kongreß der skandinavischen Bäckergesellen wurde mitgeteilt, daß in Christiania eine Organisation besteht, die in dieser Stadt 800, im übrigen Norwegen 500 Mitglieder zählt. Der dänische Bäckerverband hat etwa 800 Mitglieder. Der Kongreß beschloß die Bildung eines skandinavischen Bäckereiarbeiterverbandes unter der Bedingung, daß die drei Länder gegenseitige Reise- und Unterstützungskassen errichten, dagegen jedes Land seine eigene Organisation behält. —

[159]

In Rumänien hat die Arbeiterpartei auf ihrem Parteitage im Juni 1894 beschlossen, in allen Orten, wo Industrie vorhanden ist, Gewerkschaftsorganisationen zu gründen. (Adresse: Josef Schneid, Bukarest, Clubul Muncitorilor Palatul Bâilor Etorie). —

Für Spanien besteht nach einer mir zugegangenen Notiz ein Nationales Arbeitersekretariat (M. Antonio Garcia Quejido, Barcelone Sadurni, 3 I).

Für Portugal hat ein im August 1892 abgehaltener und von 96 Abgeordneten besuchter Arbeiterkongreß die Bildung gewerkschaftlicher Organisationen beschlossen, welche Widerstandskassen gründen, aber gegen leichtfertige Streiks auftreten und daneben die Schaffung von Arbeiterschutzgesetzen für Frauen und Kinder, von Gewerbegerichten und Arbeitsbörsen, sowie die Unterdrückung der Gefängnisarbeit verfolgen sollen.

Fußnoten:

[55] Der Wortlaut des Organisationsstatutes ist in Nr. 21 des „Correspondenzblattes der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ vom 23. Mai 1898 veröffentlicht.

[56] Die nachfolgende Darstellung beruht auf den von Herrn Dr. Oscar Jäger in Christiania mir gemachten Mitteilungen, die sich ihrerseits auf Angabe des Geschäftsführers der Norwegischen sozialdemokratischen Partei stützen.

[57] Die folgenden Angaben, die ich Herrn Dr. Uppström in Stockholm verdanke beruhen überwiegend auf dem letzten der alle 5 Jahre von dem Oberstatthalteramte in Stockholm veröffentlichten Bericht für 1890–1895.

IX. Nordamerika[58].

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika sind die Vorbedingungen für die gewerkschaftliche Entwickelung insofern denen in der Schweiz ähnlich, als derselben keinerlei staatliche Hindernisse entgegenstehen, ja die politische Freiheit ist in Amerika aus dem Grunde noch unbeschränkter, als in der Schweiz, weil das Land gegen fremde Einflüsse gesichert ist. Wenn deshalb in beiden Ländern die Arbeiterbewegung sich nicht, wie in Deutschland, Oesterreich und zum Teil in Frankreich in einer der Staatsgewalt feindlichen Richtung vollzogen und überhaupt nicht eine Bedeutung erlangt hat, aus der den übrigen Bevölkerungsklassen Gefahr drohen könnte, so liegt es nahe genug, hierin einen inneren Zusammenhang zu finden und daraus den Schluß zu ziehen, daß nur der Druck den Gegendruck erzeugt. Uebrigens nimmt Amerika noch in einer anderen Beziehung gegenüber allen europäischen Ländern eine Sonderstellung ein, nämlich insofern, als die Bevölkerung im Verhältnis zu der Ausdehnung des Landes gering ist und deshalb Arbeitslosigkeit, falls sie die Folge von Uebervölkerung wäre, hier ausgeschlossen sein müßte. Wenn in Wahrheit auch in Amerika Verkehrskrisen und Arbeitslosigkeit eine kaum geringere Rolle spielen,[160] als in Europa, so ist der Schluß nicht abzuweisen, daß der Grund dieser traurigen Erscheinungen in Verhältnissen ihren Grund haben müsse, die diesseits wie jenseits des Ozeans in gleichem Maße Geltung haben.

Wie in der Schweiz, so kommt auch in Nordamerika bei der sozialen Entwickelung ein gewisser Gegensatz des deutschen Elementes gegen das einheimische in Betracht, der um so wichtiger ist, als hier wie dort das erstere sich den Einflüssen des Sozialismus in weit höherem Grade zugänglich zeigt, als einerseits das schweizerische und andererseits das englisch-amerikanische. In beiden Ländern finden wir aber auch innerhalb der deutschen Arbeiterschaft eine Teilung hinsichtlich der Stellung zu der Frage des Internationalismus. Die von Marx geleitete Internationale hat hier wie dort anfangs einen nicht unerheblichen Einfluß geübt, der aber schließlich ganz zurückgedrängt wurde. Um aber die Parallele zwischen beiden Ländern zu vervollständigen, finden wir endlich beiderseits die Nachwirkungen der innerhalb der Internationale eingetretenen Spaltung zwischen Sozialisten und Anarchisten. Dagegen ist eine Besonderheit des englisch-amerikanischen Wesens eine eigentümliche kirchlich-religiöse Richtung und die wohl hiermit in Verbindung stehende Neigung, auch Vereinen, deren Zweck vorwiegend auf wirtschaftlichem Gebiete liegt, einen gewissen Ordenskarakter mit allerlei wunderlichem Ritual zu geben, womit eine stark autoritäre Stellung des Vorsitzenden verbunden zu sein pflegt.

Schon seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts bestanden Gewerkvereine, welche den englischen ähnlich waren, doch hatten sie meist nur lokalen Karakter und haben sämtlich die Handelskrise von 1837 nicht überdauert. Eine umfassendere Arbeiterbewegung beginnt erst nach dem Ende des Sezessionskrieges insbesondere durch die Gründung der National Labor Union, die sich zum erstenmale mit Erfolg der Aufgabe unterzog, alle Gewerkvereine zu einer großen Organisation zusammenzufassen.

Die Anregung hierzu ging aus von der Gewerkschaft der Maschinenbauer, die schon 1863 den Vorschlag machte, eine allgemeine „National Trades Assembly“ ins Leben zu rufen. Die Gewerkschaft der Farmer schloß sich 1864 auf ihrem Vereinstage in Buffalo diesem Plane an und trat zunächst mit den Maschinenbauern zu der „Labor Reform Association“ zusammen. Im März 1866 wurde endlich von dem Gewerkverein der Wagenbauer ein Ausschuß eingesetzt, mit dem Auftrage, einen allgemeinen Arbeiterkongreß einzuberufen, dessen Hauptaufgabe darin bestehen sollte, die Agitation für den Achtstundentag einzuleiten[59]. Auf dem Kongresse, der am 20. August 1866[161] zusammentrat, waren 60000 Arbeiter vertreten. Man beschloß die Gründung eines alle Arbeiter umfassenden Zentralvereins unter dem Namen „National Labor Union“, dem alle auf dem Kongresse vertretenen Vereine beitraten, deren Hauptzweck darin bestehen sollte, die Besserung der Arbeitsbedingungen, insbesondere die Verkürzung der Arbeitszeit auf 8 Stunden, herbeizuführen. Streitigkeiten mit den Arbeitgebern suchte man möglichst durch Schiedsgerichte zu erledigen, doch wollte man im Notfalle auch Arbeitseinstellungen durchführen. Daneben befürwortete man die Gründung von Konsumvereinen, die Errichtung staatlicher arbeitsstatistischer Aemter und das Zurückbehalten der öffentlichen Ländereien für wirkliche Ansiedler im Gegensatze zu dem Verkaufe an Spekulanten. Dem Verbande traten sehr bald 3000 lokale Gewerkschaften bei.

Die wichtigste Frage war von Anfang an die Stellung zur Politik, über die es sowohl bei der Gründung in Baltimore, wie auch auf dem im August 1867 in Chicago abgehaltenen zweiten Jahreskongresse lebhafte Auseinandersetzungen gab. Insbesondere das Organ des Verbandes, der „Workmen's Advocate“ trat für die politische Bethätigung ein und ebenso der Präsident, Sylvis, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der amerikanischen Arbeiterbewegung, der jedoch schon am 27. Juli 1869 starb. Seinen Bemühungen gelang es, auf dem dritten Jahreskongreß in New York am 21. September 1868 die „Arbeiterreformpartei“ zu begründen, die freilich von der N. L. U. äußerlich getrennt sein, innerlich aber mit ihr in fester Verbindung stehen sollte. Man wollte insbesondere bei den Präsidentenwahlen gegenüber den alten großen Parteien, den Republikanern und den Demokraten, selbständig vorgehen.

Auf dem vierten Kongresse in Philadelphia, August 1869, war die Beteiligung noch größer, als auf den früheren; es wurden 178571 eingeschriebene Mitglieder der N. L. U. gezählt. Die Stärke der „Arbeiterreformpartei“ war noch größer. Aber trotzdem begann bereits jetzt der Rückgang. Den mehrfach begonnenen Streiks war man in Ermangelung ausreichender Streikfonds nicht gewachsen, und der mit den 1870er Jahren beginnende Geschäftsaufschwung entfremdete die Arbeiter den Gewerkschaften. Schon der fünfte Kongreß in Cincinnati am 15. August 1870 war schwach besucht, und auf dem sechsten in St. Louis (7. bis 10. August 1871) waren nur noch 21 Abgeordnete anwesend; von größeren Gewerkschaften waren nur die Bergarbeiter vertreten.

Einen Hauptgrund zu diesem Rückgange bildete die innerhalb der „Arbeiterreformpartei“ ausgebrochene Meinungsverschiedenheit über die Frage, ob man sich auf die industriellen Arbeiter beschränken oder auch die Kleinbauern[162] (Farmer) heranziehen sollte. Auf einer im Februar 1872 in Columbus abgehaltenen Konferenz kam es über diese Frage zu einer Spaltung, und so tagten am 21. August 1872 die beiden Gruppen in getrennten Versammlungen, die eine in Columbus, die andere in Philadelphia. Die erste der beiden Richtungen hat dann noch zwei Kongresse, den einen 1873 in Cleveland, den anderen 1874 in Rochester abgehalten, doch war die Bedeutung der N. L. U. für das öffentliche Leben bereits geschwunden.

Schon 1866 hatten auch eine Reihe deutscher Gewerkvereine einen Verband, die „Arbeiterunion“, gegründet, die ein Blatt unter gleichem Namen herausgab. In demselben fanden anfangs die beiden Richtungen, von denen die eine die Interessengemeinschaft von Kapital und Arbeit betonte, während die andere sozialdemokratische Grundsätze verfolgte, gleichzeitig Vertretung, doch erlangte die zweite Richtung allmählich das Uebergewicht, und als das Blatt bei Beginn des deutsch-französischen Krieges gegen Deutschland Stellung nahm, war die Mißstimmung so groß, daß es am 17. September 1870 einging.

Die „Internationale Arbeiterassoziation“ hatte bis zum Ende der 1860er Jahre in Amerika wenig Boden zu fassen vermocht. Als in der National Labor Union die durch Sylvis vertretene Richtung das Uebergewicht erlangte, suchte sie mit jener Verbindungen anzuknüpfen, die dahin führten, daß die N. L. U. sich auf dem Kongreß in Basel 1869 durch zwei Abgesandte vertreten ließ. Auch gelang es mehrfach, auf dem Boden der Internationale stehende deutsche Arbeitervereine ins Leben zu rufen und Sektionen der verschiedenen Nationalitäten zu begründen, obgleich der Höchstbestand der Mitgliederzahl niemals 4–5000 überschritten hat; bereits 1873 war dieselbe wieder auf 2–3000 und Anfang 1874 auf 1800–2000 zurückgegangen. Diese Sektionen, deren man Anfang 1871 erst 6, am Ende des Jahres aber bereits 24 zählte, setzten ein Zentralkomitee ein, das mit dem Londoner Generalrate in engster Verbindung stand. Am 6. Juli 1872 wurde in New York der erste Kongreß der Internationale in Amerika abgehalten, auf dem 22 Sektionen vertreten waren und ein Föderalrat, bestehend aus 3 Deutschen, 2 Franzosen, 2 Irländern, 1 Schweden und 1 Italiener, eingesetzt wurde. Die eingeborenen Amerikaner fehlten. Hinsichtlich der auf dem Kongreß im Haag 1872 vollzogenen Spaltung der Anhänger von Marx und Bakunin trat der amerikanische Verband durchaus auf die Seite der ersteren. Dieser Rückhalt war auch der Grund, weshalb der Kongreß im Haag auf Vorschlag von Marx den Beschluß faßte, den Sitz des Generalrates von London nach New York zu verlegen.

Entsprechend dem von Marx gegebenen Rate, die Erringung politischer Macht durch Anlehnung an die wirtschaftlichen Forderungen zu unterstützen,[163] suchte man auch in Amerika im weitesten Umfange internationale Gewerkschaften ins Leben zu rufen, doch war der mit dem Jahre 1873 beginnende gewerbliche Niedergang diesen Bestrebungen sehr ungünstig. Die traurigen geschäftlichen Verhältnisse, die bis 1879 andauerten, führten auch zu einer Spaltung innerhalb der Arbeiterschaft. Ein Teil derselben unter Führung der deutschen Arbeitervereine, die sich im März 1872 in der „Arbeiterzeitung“ ein wertvolles Organ geschaffen hatten, forderte gegenüber der allgemeinen Not staatliche Hilfe, insbesondere Beschäftigung der Arbeitslosen, Außerkraftsetzung der Mietgesetze, Verteilung von Lebensmitteln u. s. w. Andere gingen noch weiter und verlangten die Einführung der Volksabstimmung über jedes Gesetz und die Beschränkung des Vermögensbesitzes auf 300000 Dollars. Auch griff man zu dem bedenklichen Mittel öffentlicher Umzüge, die zu Konflikten mit der Polizei führten.

Es scheint übrigens weniger die sachliche Meinungsverschiedenheit, als persönliche Gegensätze und der Unabhängigkeitsdrang gegenüber dem Generalrate der Internationale gewesen zu sein, was zu der Spaltung führte und den Generalrat veranlaßte, zunächst den Föderalrat der amerikanischen Föderation aufzulösen und einige andere Sektionen bis zum nächsten Kongresse zu suspendieren. Dieser, der zweite und letzte amerikanische Kongreß der Internationale wurde am 11. April 1874 in Philadelphia abgehalten. Es gelang, die Unzufriedenen aus der Partei auszuschließen; um den Föderalrat zu überwachen, wurde eine Kontrollkommission eingesetzt. Die „Arbeiterzeitung“ wurde zum offiziellen Organ erklärt, aber der Kontrollkommission unterstellt.

Die Ausgeschlossenen, die im allgemeinen mehr das einheimische amerikanische Element darstellten, gründeten jetzt ihrerseits im Sommer 1874 die „sozialdemokratische Arbeiterpartei von Nordamerika“. In einer Konferenz am 4. Juli 1874 in New-York wurden Programm und Statuten angenommen. Anfangs machte sich innerhalb der Partei der Gegensatz zwischen Lassalleanern und Marxisten sehr stark geltend, aber nachdem in Gotha die Einigung der deutschen Sozialisten vollzogen war, gelang es auch für Amerika, auf dem vom 4. bis 6. Juli 1875 in Philadelphia abgehaltenen ersten Jahreskongresse grundsätzlich eine Einigung aller sozialistischen Gruppen zu beschließen, deren Durchführung dann auf dem Kongresse in Pittsburg am 16. April 1876 in der Weise zustande kam, daß man erklärte: 1. die zu schaffende Arbeiterorganisation aller Sozialisten Amerikas soll eine nationale mit internationalen Tendenzen sein; 2. sie soll zentralistisch gerichtet sein; 3. die Partei wird für die Schaffung von Gewerkschaften mit nationaler und internationaler Grundlage Sorge tragen; 4. es soll eine internationale beratende Behörde eingesetzt werden. Der Versuch, auf einer gleichzeitig tagenden Versammlung eine[164] Einigung auch mit den anderen politischen Gruppen, insbesondere den Greenback-Leuten, zustande zu bringen, mißlang.

Die Internationale hatte bei diesen Verhandlungen im Bewußtsein ihrer Schwäche weitgehende Zugeständnisse machen müssen, jedenfalls hatte sie durch die Schaffung einer nationalen Arbeiterpartei für Amerika ihre Bedeutung verloren, und da, wie der letzte Bericht des Generalrates hervorhebt, der Verkehr mit den europäischen Ländern sich auf einen unerheblichen Briefwechsel mit einigen Personen beschränkte, Beiträge aber überhaupt nicht mehr eingingen, so hielt der Generalrat es für richtig, die Internationale auch formell aufzulösen. Er berief eine Delegiertenkonferenz nach Philadelphia auf den 15. Juli 1876, auf der aber nur 14 amerikanische und keine einzige europäische Sektion vertreten waren und sprach seine Ansicht dahin aus, daß die Internationale Arbeiterassoziation als nicht mehr vorhanden anzusehen sei. Es wurde dann auch die Auflösung einstimmig beschlossen.

Am 22. Juli 1876 wurde die neue Partei unter dem Namen: „Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten“ oder „Workingmen's Party of the United States“ in Philadelphia formell begründet. Das Programm fordert, daß alle Arbeitsmittel, Grund und Boden, Maschinen, Verkehrswege Eigentum der Gesellschaft werden und an Stelle der Lohnarbeit die genossenschaftliche Produktion trete. Die Gewerkschaften wurden als Vorstufe zur sozialistischen Organisation gutgeheißen. Zu Organen der Partei wurden der „Labor Standard“, die „Arbeiterstimme“ und der „Vorbote“ bestimmt.

Aber der Streit der Meinungen war nur äußerlich beigelegt und machte sich bald von neuem geltend, insbesondere gab es zwischen den beiden neu geschaffenen Organen der Partei, dem Vollziehungsausschusse in Chicago und dem Aufsichtsrate in New-Haven lebhafte Fehde. Die Gemäßigten und die Radikalen bekämpften sich heftig über die prinzipielle Frage, ob die politische oder die gewerkschaftliche Richtung in den Vordergrund zu stellen sei. Die früheren Mitglieder der Internationale vertraten im allgemeinen mehr die gemäßigte, insbesondere die gewerkschaftliche Richtung, sie suchten mit den bestehenden Gewerkvereinen enge Fühlung zu halten und gründeten eine International Labor Union, die sich jedoch schon 1880 wieder auflöste.

Die Jahre 1876–78 standen unter dem Zeichen der durch die wirtschaftliche Notlage hervorgerufenen großen Streiks, die überwiegend mit einem Mißerfolge der Arbeiter endeten. Das hatte zur Folge, daß die öffentliche Meinung in Arbeiterkreisen sich mehr von der gewerkschaftlichen Richtung ab- und der politischen zuwandte. Ja es bildeten sich die berüchtigten Molly Maguires, Geheimbünde, die Gewaltthätigkeiten und Aufstände hervorriefen und gewaltsam unterdrückt werden mußten. Ein Ausfluß dieser Stimmung war auch die auf[165] dem Kongreß in Newark vom 25. bis 31. Dezember 1877 beschlossene Abänderung der bisherigen Bezeichnung „Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten“ in „Sozialistische Arbeiterpartei Nordamerikas“. Die gewerkschaftliche Richtung unter Führung von Strasser wurde in den Hintergrund gedrängt und ein selbständiges Auftreten bei der Präsidentschaftswahl beschlossen. Auch die Mitgliederzahl hob sich auf etwa 10000, die in 25 Staaten etwa 100 Sektionen bildeten.

Aber dieser Aufschwung der Sozialdemokratie fand rasch sein Ende mit der im Jahre 1879 wieder beginnenden günstigern Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Mitgliederzahlen der Vereine schmolzen zusammen wie Schnee vor der Sonne, und auf dem vom 26. Dezember 1879 bis 1. Januar 1880 in Alleghany abgehaltenen Jahreskongreß wurde berichtet, daß nur noch 1500 Mitglieder ihre Beiträge zahlten. Man versuchte deshalb, durch Sendboten aus Deutschland zu wirken, und verschiedene Parteiführer, insbesondere Fritzsche und Viereck, unternahmen große Agitationsreisen, jedoch ohne nennenswerten Erfolg.

Auch die in Deutschland zurückgedrängte sozialrevolutionäre Richtung glaubte in Amerika neuen Boden zu finden, und ihre Vertreter, insbesondere Hasselmann und Most, bearbeiteten denselben mit dem Feuereifer des Fanatismus. In der That gelang es, am 14. Oktober 1883 in Pittsburg einen Kongreß der Sozialrevolutionäre und Anarchisten zustande zu bringen, auf dem Abgesandte aus 26 amerikanischen Städten anwesend waren; auch einige Vertreter aus dem Auslande waren erschienen. Man beschloß, eine neue Internationale zu begründen und gab dem neuen Verbande, der zunächst für Amerika wirken sollte, den alten Namen: „Internationale Arbeiterassoziation“ oder „International Working Peoples' Association“; er betrachtete sich als einen Zweig der auf dem Londoner Weltkongreß[60] am 14. Juli 1881 ins Leben gerufenen neuen Internationale, die allerdings ihr Dasein nur auf dem Papiere führte, denn das dort errichtete Auskunftsbureau hatte schon längst seine Thätigkeit wieder eingestellt.

Die Organisation des neuen Verbandes war dem Prinzip gemäß durchaus föderalistisch, die Sektionen hatten weitgehende Autonomie. Der verbindende Gedanke war die Ueberzeugung von der Notwendigkeit einer „Propaganda der That“; Beteiligung an der Politik wurde grundsätzlich verworfen. Hinsichtlich der Gewerkschaften erklärte man: „Wir erblicken in solchen Gewerkschaften, die auf radikalen Prinzipien beruhen und die Abschaffung der Lohnarbeit erstreben, die Grundlage zu einem besseren Gesellschaftssystem. Andrerseits sind wir entschlossen,[166] alle Organisationen, welche auf reaktionären Prinzipien beruhen, zu bekämpfen, indem sie Feinde der Arbeiterklasse und ein Hindernis von Humanität und Fortschritt sind.“ Schiedsgerichte wurden, als für die Arbeiter wertlos, unbedingt verworfen.

Das Verhältnis der neuen Internationale zu der sozialdemokratischen Arbeiterpartei wurde, nachdem die zunächst, insbesondere auf dem in Baltimore vom 26. bis 28. Dezember 1883 abgehaltenen Kongresse der letzteren gemachten Versuche einer Annäherung gescheitert waren, bald ein immer feindlicheres und die gegenseitigen Angriffe in den Parteiblättern immer heftiger.

Hatte schon die bisherige Entwicklung den Beweis geliefert, daß die praktisch veranlagten Amerikaner für die sozialistischen Bestrebungen einen durchaus ungeeigneten Boden bildeten, denn auf dem im Mai 1883 in Kopenhagen abgehaltenen Parteitage der deutschen Sozialdemokratie wurde die Zahl der amerikanischen Genossen auf nur 2000 angegeben, so waren die nächsten Jahre noch wesentlich ungünstiger. Der wirtschaftliche Aufschwung im Anfange der 80er Jahre hatte für die Arbeiter den Anlaß gegeben, in eine umfassende Bewegung zur Erringung des Achtstundentages einzutreten. Aber die unternommenen Ausstände hatten wenig Erfolg, führten dagegen vielfach zu Unruhen und Gewaltthätigkeiten, bei denen insbesondere die sozialrevolutionäre Partei eine Rolle spielte. Die schärfste Zuspitzung fanden diese Dinge in Chicago, wo vom 1. bis 4. Mai 1886 umfassende Straßenkämpfe stattfanden, bei denen durch das Werfen von Dynamitbomben sieben Polizisten getötet und 60 schwer verwundet wurden. Ihre Sühne fand diese Schreckensthat in der am 11. November 1887 in Chicago erfolgten Hinrichtung der vier Anarchisten Spies, Parsons, Fischer und Engel. Aber die Folge dieser Ereignisse war zugleich eine allgemeine Abneigung gegen alles, was mit der sozialen Revolution kokettierte, und obgleich davon in erster Linie die International Working Peoples' Association betroffen wurde und deren Schwächung ihrer Gegnerin, der sozialdemokratischen Arbeiterpartei scheinbar hätte zu gute kommen müssen, so wandte sich die Stimmung doch auch gegen sie, und indem Streitigkeiten persönlicher Art noch hinzutraten, machte sich bald ein starker Rückgang bemerkbar, ja Most berechnet in seiner „Freiheit“ die Mitgliederzahl für den Sommer 1889 auf nur noch 780.

Die Gewerkvereine hatten sich inzwischen kräftig entwickelt, und in der Not sahen sich die Vertreter der politischen Richtung gezwungen, die soeben noch als Aschenbrödel behandelte Gewerkschaftsbewegung wieder in den Vordergrund zu rücken, wobei ihnen der schon nach 2–3 Jahren wieder einsetzende wirtschaftliche Rückgang wesentlich zu statten kam.

[167]

So gelang es, in den meisten größeren Städten central labor unions zu gründen, in denen überwiegend ungelernte Arbeiter vertreten waren und die stark unter sozialistischem Einflusse standen. Die älteren, mehr konservativen Gewerkschaften der gelernten Arbeiter fanden sich meist zu sog. Trade Assemblies zusammen, lokalen Verbänden, die zunächst gegenseitige Unterstützung und erst in zweiter Linie politische Thätigkeit bezweckten.

Die weitere Entwicklung knüpft sich vor allem an zwei große Verbände, die in der amerikanischen Arbeiterbewegung eine erhebliche Bedeutung erlangt haben.

Der erste derselben ist der Orden der Ritter der Arbeit (Knights of Labor), der 1869 in Philadelphia von dem Schneider Stevens begründet wurde, sich aber bald zu einem alle Berufszweige umfassenden Bunde erweiterte. Er war anfangs ein Geheimbund und geriet dadurch, daß er die Geheimhaltung seiner Einrichtungen auch im Beichtstuhle forderte, in Gegensatz zu der katholischen Kirche, den er durch Nachgeben beendigte. Seitdem wird er von katholischer Seite begünstigt; übrigens hat er den Karakter als Geheimbund 1881 aufgegeben und seine Statuten in dem Bundesblatte (Journal of the Knights of Labor) bekannt gegeben.

Der Zweck des Ordens ist die allgemeine Hebung der Arbeiterklasse, insbesondere die gemeinsame Vertretung der Arbeiterinteressen gegenüber den Unternehmern. Aber seine Organisation ist insofern abweichend von derjenigen der eigentlichen Gewerkvereine, als er sich nicht auf die Berufszugehörigkeit stützt, sondern alle Arbeiter ohne Unterschied, insbesondere also gelernte und ungelernte vereinigt; selbst andere, nicht den Arbeiterkreisen angehörende Personen können ihm beitreten, doch dürfen sie nicht ¼ der Gesamtmitgliederzahl übersteigen. Auch gegen die Unterschiede der Religion, Nationalität und Rasse ist er durchaus gleichgültig und gestattet nicht allein den Negern, sondern unter gewissen Beschränkungen sogar den Chinesen den Eintritt. Endlich steht er allen politischen Anschauungen grundsätzlich neutral gegenüber, und Sozialisten wie Anarchisten sind in ihm vertreten.

In den letzteren Jahren haben die sozialistischen Ideen sich etwas mehr Boden verschafft, insbesondere wurde 1894 das noch zu erwähnende von der Federation of Labour abgelehnte Programm angenommen. Dasselbe erklärt sich für Zusammenschluß aller Arbeiter- und Farmerorganisationen zu einer einzigen politischen Partei und fordert: „1. Obligatorischen Schulbesuch; 2. unmittelbare Gesetzgebung; 3. gesetzlichen Achtstundentag; 4. sanitäre Ueberwachung der Werkstätten, der Bergwerke und des Hauses; 5. ausgedehnte Unfallversicherung seitens der Arbeitgeber; 6. Abschaffung des Kontraktsystems bei allen öffentlichen Arbeiten; 7. Abschaffung des Schwitzsystems; 8. Erwerb von Straßenbahnen, Gas- und elektrischen Werken[168] seitens der Gemeinden zum Zwecke öffentlicher Verteilung von Licht, Wärme und Betriebskraft; 9. Ankauf der Telegraphen, Telephone, Eisenbahnen und Bergwerke durch den Staat; 10. gemeinsamen Besitz des Volkes an allen Mitteln der Produktion und Güterverteilung; 11. Volksabstimmung (Referendum) bei allen Gesetzen.“

Auf den Mitgliedskarten der Arbeitsritter ist deren Standpunkt in folgender Weise bezeichnet:

„Die Ritter der Arbeit bilden die größte Arbeiterorganisation der Welt. Sie sind die einzige Organisation, die — neben dem Eintreten für möglichst günstigen Lohn, kurze Arbeitszeit und sonstige Vorteile — die der industriellen Ungerechtigkeit zu Grunde liegenden Ursachen zu beseitigen sucht. Sie überlassen jedem Gewerbe und jedem örtlichen Zweigvereine die selbständige Regelung der Verhältnisse des betreffenden Gewerbes oder Ortes und können doch vermöge ihrer Organisation, falls nötig, ihre Kräfte rasch zusammenfassen. Sie streben nach der Beseitigung des kapitalistischen Systems der Produktion und des Austausches, wollen aber, in der Ansicht, daß Reformen nur wohltätig und von Dauer sein können, wenn sie auf der Ueberzeugung eines gebildeten und einsichtigen Volkes beruhen, ihre Ziele allein durch den Appell an die Vernunft und das Gewissen, niemals auf gewaltsame Weise erreichen. Sie laden alle ehrlichen und nützlichen, mit der Hand oder geistig thätigen Arbeiter zur Mitgliedschaft ein ohne jede Rücksicht auf Religion, Rasse oder Abstammung.“

Trotz dieser sozialistischen Anwandlungen hat der Orden sich nicht allein gegenüber dem Anarchismus wegen seiner ungesetzlichen Haltung durchaus gegensätzlich gestellt und z. B. die Attentate in Chicago scharf getadelt, sondern auch zu der Sozialdemokratie wegen ihres antireligiösen Verhaltens eine ablehnende Stellung eingenommen. Die Hauptziele sind neben Erhöhung der Löhne und Herabsetzung der Arbeitszeit insbesondere die Erringung des Achtstundentages, die Errichtung arbeitsstatistischer Aemter, das Verbot der Kinderarbeit und Sicherung gegen gesundheitsschädliche Einflüsse, Einschränkung der Gefängnisarbeit, sowie die Einrichtung von Produktivgenossenschaften und Konsumvereinen. Auf staatlichem Gebiete erstrebt der Bund die Verstaatlichung der Telegraphen und Eisenbahnen, die Einrichtung von Postsparkassen, die Reform des Münzwesens insbesondere durch freie Silberprägung, die Zurückbehaltung der öffentlichen Ländereien für wirkliche Bebauer und die Einführung der progressiven Einkommensteuer. Endlich legt man das Hauptgewicht auf die Einschränkung der Einwanderung, da diese ein Ueberangebot von Arbeitskräften erzeugt. Die wirtschaftlichen Ziele sucht man in erster Linie durch Selbsthülfe, insbesondere auf friedlichem Wege durch Verhandlungen mit den Unternehmern und Schiedsgerichte zu erreichen, scheut aber auch vor Arbeitseinstellungen[169] nicht zurück, wie denn große Streiks seitens des Bundes durchgeführt sind. Soweit auf diesem Wege Abhülfe nicht zu erreichen ist, verlangt man das Eingreifen der staatlichen Gesetzgebung ohne scharf ausgesprochenes Prinzip. In die eigentliche Politik hat man, abgesehen von der 1886 bei den New-Yorker Gemeindewahlen dem bekannten Bodenreformer Henry George gewährten Unterstützung, sich nur insoweit eingemischt, als man bei den Wahlen die Kandidaten zu gewissen Zusagen zu bestimmen suchte; der Wunsch, auf Schaffung einer selbständigen Arbeiterpartei neben Republikanern und Demokraten hinzuwirken, ist allerdings seit Jahren laut geworden, bisher aber ohne Erfolg geblieben.

Für die Organisation des Bundes bilden die Grundlage die local assemblies, Ortsvereine, in denen die Mitglieder ohne Unterschied der Rasse, der Religion und des Berufes vereinigt sind, nur in größeren Städten nimmt man diese Unterschiede zur Unterlage für Sondergruppen. Meist sind Frauen den allgemeinen Vereinen zugeteilt, doch giebt es einige Ortsvereine, die nur aus Frauen bestehen. Die Ortsvereine werden zu Bezirksverbänden (district assemblies) vereinigt, über denen die General Assembly steht, die jährlich zusammentritt und die oberste Instanz bildet. Sie wählt den Großmeister (Grand Master Workman), der sehr weitgehende Befugnisse besitzt, jedoch von einem Aufsichtsrate aus 5 Mitgliedern kontrolliert wird.

Großmeister war von 1869 bis 1879 der Begründer des Ordens, Stevens, der dann durch Powderley ersetzt wurde; der letztere ist ebenso, wie sein Vorgänger, aus den niedrigsten Verhältnissen hervorgegangen und hat neben einem außerordentlichen Organisationstalente eine große Mäßigung insbesondere in den Verhandlungen mit den Unternehmern bewiesen. Auf dem Kongresse in Philadelphia 1893 wurde er wegen des zurückgegangenen Einflusses des Ordens und der unzweckmäßigen Verwendung der Gelder lebhaft angegriffen und legte, nachdem er nur mit geringer Mehrheit wiedergewählt war, sein Amt nieder. Sein Nachfolger wurde R. Sovereign, ein Mann, der zuerst cowboy, dann Steinhauer und endlich Journalist gewesen war, auch bereits in der Politik eine Rolle gespielt hatte und dem Orden seit 1887 angehörte. Seine Wahl bedeutete den Sieg der westlichen über die bis dahin herrschend gewesene östliche Gruppe, hat aber eine Verschiebung der allgemeinen Richtung innerhalb des Bundes nicht zur Folge gehabt.

Der äußere Entwickelungsgang drückt sich aus in der Zahl der Mitglieder. Dieselbe hatte in den ersten Jahren nach der Gründung schon einmal 80000 betragen, war aber 1878 auf 12000 zurückgegangen, 1883 betrug sie 52000, 1884 71000, 1885 111000, Anfang 1886 etwa 200000 und am 1. Juli 1886 sogar 752430; schon am 1. Juli 1887 war sie wieder auf[170] 585127 und am 1. Juli 1888 aus 425038 zurückgegangen. Auf der Nationalkonvention (Generalversammlung) in St. Louis 1892 waren angeblich 241000, in Philadelphia 1893 nur noch 212000 Arbeiter vertreten und in New-Orleans im November 1894 wurde nur erwähnt, daß der Bestand an Mitgliedern noch weiter zurückgegangen sei. Später scheint wieder ein Aufschwung eingetreten zu sein, denn für 1897 wird die Mitgliederzahl auf 325000 angegeben[61].

Der Orden hat einen ausgesprochen amerikanischen Karakter. Aus diesem erklärt sich auch seine Abneigung gegen die Einflüsse der deutschen Sozialdemokratie, denn er fordert von seinen Mitgliedern, daß sie die aus ihrer früheren Heimat mitgebrachten Anschauungen und Besonderheiten völlig aufgeben und sich ganz als Amerikaner fühlen. Allerdings hat er auch außerhalb Amerikas, insbesondere in England und Belgien[62], Vereine zu gründen versucht, aber doch nur mit ziemlich geringem Erfolge. Dadurch, daß er keinen Unterschied zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern macht, ja sich hauptsächlich auf die letztern stützt, erhält er ein gewisses anti-aristokratisches Gepräge.

Die staatssozialistischen Neigungen, die sich eine Zeit lang stark geltend machten, sind auch in neuerer Zeit mehr zurückgetreten, nachdem man die Erfahrung gemacht hat, daß die im Parlament durchgesetzten arbeiterfreundlichen Gesetze, insbesondere das Gesetz über den achtstündigen Arbeitstag für Regierungsarbeiter lediglich auf dem Papiere stehen geblieben und von den Behörden nicht befolgt sind, so daß man jetzt von der Stärkung der eigenen wirtschaftlichen Kraft der Verbände sich mehr Erfolg verspricht, als von der Gesetzgebung. Doch haben die großen Ausstände der letzten Jahre, der Minenarbeiter in Idaho und Tennessee, der Eisenbahnarbeiter in Buffalo, der Eisen- und Stahlarbeiter der Carnegie'schen Werke in Homestead und endlich der große Pulman-Streik bewiesen, daß auch hier die Macht des großen Kapitals überwiegt.

Bildet der hervorgehobene Umstand, daß der Orden der Arbeitsritter eine Sonderung der Arbeiter nach Berufen nicht zuläßt, den Grund, weshalb er als Gewerkverein im engeren Sinn nicht zu betrachten ist, so trägt dagegen der zweite große Verband durchaus diesen Karakter. Es ist das die American Federation of Labour.

Im Jahre 1881 hatten mehrere große Gewerkschaften in Pittsburg unter dem Namen „Federation of organised Trades and Labor Unions“ einen allgemeinen nationalen Verband gegründet, der auf jährlichen Kongressen zu den die Arbeiter betreffenden gesetzlichen Einrichtungen Stellung nehmen wollte. Der Verband stand den sozialistischen Ideen ziemlich ablehnend[171] gegenüber, und auf den Kongressen in Pittsburg 1881 und Cleveland 1882 wurden die Anträge, die Verstaatlichung des Grund und Bodens in das Programm aufzunehmen, mit großer Mehrheit verworfen. Erst 1883 auf dem III. Kongreß in New York wurde die Forderung der Ueberführung der Eisenbahnen und Telegraphen in das Eigentum des Staates zugestanden.

Auf dem im Oktober 1884 in Chicago abgehaltenen IV. Kongresse beschloß man, für die Erringung des Achtstundentages und die Feier des 1. Mai einzutreten, wiederholte auch diesen Beschluß auf dem V. Kongresse in Washington im Dezember 1885, erzielte aber wenig praktische Erfolge. Auf dem VI. Kongresse in Columbus im Dezember 1886 änderte der Verband seinen Namen und bezeichnet sich seitdem als „American Federation of Labor“.

Der Grundkarakter ist durchaus derjenige eines gewerkschaftlichen Zentralverbandes, der sich aus einer Reihe einzelner nach Berufen getrennter Vereine zusammensetzt. Zweck des Bundes ist die Weckung des Klassen- und Solidaritätsgefühls der Arbeiter. Das nächste Ziel bildet die Durchführung des Achtstundentages. Der Politik steht man sehr kühl gegenüber, und der langjährige Präsident Samuel Gompers, der sich vom einfachen Zigarrenarbeiter zu seiner jetzigen einflußreichen Stellung emporgearbeitet hat, gilt den deutschen Sozialdemokraten geradezu als der Typus eines „Nur-Gewerkschaftlers“, gegen den man die schärfsten Angriffe richtet. Neben dem Präsidenten, der weitgehende Machtvollkommenheit besitzt, besteht ein Exekutivausschuß aus vier Mitgliedern. Bei kleinen Streiks, die nicht über 5 Wochen dauern, erfolgt die Bewilligung der Unterstützung durch den Präsidenten, in anderen Fällen findet Urabstimmung unter sämtlichen zum Bunde gehörigen Vereinen statt. Das Organ des Bundes ist der seit März 1894 erscheinende „American Federationist“.

In neuester Zeit haben hinsichtlich der Stellung zum Sozialismus heftige Kämpfe stattgefunden. Schon auf dem im Dezember 1892 in Philadelphia abgehaltenen Kongresse neigte etwa ¼ der Abgeordneten nach dieser Richtung, insbesondere hinsichtlich einer von den bestehenden Parteien unabhängigen Arbeiterpolitik und der Verstaatlichung der Produktionsmittel. Die Mehrheit jedoch beschränkte diese Forderung auf die Verkehrsmittel und erklärte die Bildung einer selbständigen Arbeiterpartei solange für aussichtslos, wie die Arbeiter nicht in wesentlich größerem Umfange an den Organisationen sich beteiligten.

Auf dem Kongresse in Chicago im Dezember 1893 setzte sich dieser Kampf fort, indem der Sozialist Morgan einen Antrag einbrachte, der eine unabhängige Arbeiterpolitik verlangte und folgende Einzelforderungen aufstellte:[172] 1. Schulzwang; 2. direkte Gesetzgebung[63]; 3. gesetzlicher achtstündiger Arbeitstag; 4. Sanitäre Inspektion für Fabriken, Bergwerke und Arbeiterwohnhäuser; 5. Haftpflichtgesetz; 6. Abschaffung des Kontraktsystems bei öffentlichen Arbeiten; 7. Beseitigung des Schwitzsystems; 8. Uebernahme der Straßenbahnen, Gasanstalten und elektrischen Anlagen durch die Stadt; 9. Verstaatlichung der Telegraphen, Telephone, Eisenbahnen und Bergwerke; 10. Verstaatlichung aller Produktionsmittel; 11. Einführung des Referendums für die gesamte Gesetzgebung. Der Kongreß lehnte es jedoch ob, zu diesen Forderungen Stellung zu nehmen, indem er sie lediglich den Arbeiterverbänden zur Erwägung überwies mit dem Ersuchen, ihre Vertreter zur nächsten Jahreskonvention über die aufgeworfenen Fragen zu instruieren.

Dieser nächste Kongreß, der am 12. Dezember 1894 in Denver stattfand, entschied gegen die Sozialisten. Zunächst wurde die Forderung einer unabhängigen Arbeiterpolitik verworfen. Dann wurden die mitgeteilten Punkte 1–9, 11 angenommen, Ziffer 10 dagegen abgelehnt. Endlich wurden bei der Gesamtabstimmung für das so geschaffene Programm nur 735, dagegen aber 1173 Stimmen abgegeben, so daß es verworfen war, wobei die Sozialisten sich der Abstimmung enthielten.

Auf diesem Kongresse, bei dem als Vertreter der englischen trade unions John Burns und David Holmes anwesend waren, wurde übrigens der Sitz des Verbandes von New York nach Indianapolis verlegt und ebenso an Stelle von Gompers zum Präsidenten Mac Bride gewählt, eine Wahl, die nicht eine prinzipielle Aenderung der Haltung, sondern nur den Sieg des Westens über den Osten bedeutete. Bride war früher Kohlengräber und wurde dann zum statistischen Beamten des Staates Ohio berufen; er ist ebenso wie sein Vorgänger Gegner des Sozialismus und wird sogar als noch weiter rechts stehend betrachtet. Uebrigens wurde schon nach zwei Jahren Gompers mit großer Mehrheit wiedergewählt und ist seitdem Präsident geblieben.

Der letzte (XVI.) Kongreß hat vom 12. bis 21. Dezember 1897 in Nashville stattgefunden unter Beteiligung von 97 Abgeordneten als Vertreter von 74 Organisationen. Auch die englischen trade unions hatten zwei Vertreter gesandt. Nach dem Jahresberichte hatte die Einnahme sich auf 18639, die Ausgabe auf 10113 Dollars belaufen; der Vermögensbestand betrug 4168 Dollars.

Die aufgestellten Forderungen waren: Allgemeine Schulpflicht, Beschränkung der Kinderarbeit, direkte Gesetzgebung des Volkes durch das Referendum[173] und Initiativbegehren, sanitäre Beaufsichtigung der Betriebsstätten, Haftpflicht der Unternehmer bei Gesundheitsschädigungen und Tötungen der Arbeiter, Abschaffung des Schwitzsystems, Aufhebung der Verschwörungsgesetze, städtische Verwaltung aller öffentlichen Unternehmungen, Beseitigung des Banknotenmonopols, Errichtung eines Arbeitsamtes, die Schaffung von Postsparkassen, Beschränkung der Einwanderung durch Festsetzung eines Bildungsminimums, die Einführung eines gesetzlichen Achtstundentages, für die sich die Mehrheit erklärte. Auch forderte man, daß die Regierung ihre Kriegsschiffe nicht Unternehmern in Auftrag geben, sondern auf eignen Werften bauen solle und erklärte sich für den Uebergang aller dem öffentlichen Verkehr dienenden Anstalten, insbesondere der Telegraphen, in das Eigentum des Staates. Zu dem vorgeschlagenen Gesetze über die trusts nahm man im allgemeinen eine zustimmende Haltung ein, wollte aber auch gegen dessen Anwendung auf die Gewerkschaften geschützt sein. Für einige Streiks, so auch für den der englischen Maschinenbauer, wurden Unterstützungen bewilligt. Auch Fragen der Politik wurden behandelt. So erklärte man sich mit der Anerkennung der Aufständischen auf Cuba als kriegführender Macht einverstanden, mißbilligte aber die beabsichtigte Erwerbung von Hawaii. Zur Vorbereitung der nächsten Parlamentswahlen wurde eine besondere Konferenz ins Auge gefaßt. Der Bund will künftig das Hauptgewicht auf die Bildung von Vereinen ungelernter Arbeiter legen. Gompers wurde mit 1858 Stimmen gegen 407, die auf den Sozialisten Kraft fielen, als Präsident wiedergewählt.

Den Gesamtkarakter des Kongresses bezeichnet ein Bericht in dem „American Federationist“, dem Organ des Bundes[64], dahin: „Während der ganzen Zusammenkunft beschränkten sich die Abgeordneten durchaus auf praktische Fragen, welche den Arbeiter unmittelbar angehen. Sehr wenig sozialistische Gesinnung wurde entfaltet. Nur sieben Abgeordnete können als Mitglieder der sozialistischen Arbeiterpartei angesehen werden.“

Der Mitgliederbestand des Bundes hat sehr geschwankt. Auf dem Kongreß in Washington 1882 wurden 280000, in Columbus 1886 316469, in Boston 1889 549641 Mitglieder gezählt. Im Jahre 1890/91 soll diese Zahl sogar auf 675117 in 60 Gewerkschaftsverbänden gestiegen sein, doch wurden auf dem Kongreß in Philadelphia 1892 nur 17 Verbände mit 229800 Mitgliedern gezählt, die durch 89 Abgeordnete vertreten waren. In der noch zu erwähnenden Statistik der New Yorker Volkszeitung wird die Mitgliederzahl auf 350000 angegeben. Auf dem Kongreß in Nashville 1897 wurde mitgeteilt, daß dem Bunde im letzten Jahre 18 Zentralverbände, 189 Ortsvereine und[174] 8 Nationalverbände mit insgesamt 34000 Mitgliedern beigetreten waren, doch wurde der Gesamtbestand nicht angegeben.

Die American Federation of Labor steht zu dem Orden der Arbeiterritter in einem gewissen Konkurrenzverhältnisse, huldigt auch, wie erwähnt, zum Teil anderen Ansichten, insbesondere ist der Orden streng zentralistisch, während der Bund seinen einzelnen Unterverbänden weitgehende Selbständigkeit gewährt. In dieser Beziehung steht zwischen ihnen gewissermaßen in der Mitte der erst in den letzten Jahren begründete Zentralverband der Eisenbahnangestellten, die American Railway Union. Die Eisenbahnarbeiter hatten bis dahin eine große Menge von Vereinen, die aber alle auf kleine Bezirke beschränkt waren und sich nicht allein gegenseitig nicht unterstützten, sondern häufig gegeneinander auftraten. Erst 1893 gelang es dem früheren Lokomotivheizer, späteren Stadtschreiber Eugen Debbs, der bis dahin Sekretär des Heizerverbandes und später Redakteur des Fachorganes war, in dem neuen Verbande eine Verbindung zu schaffen, die sich zu erheblicher Bedeutung entwickelt hat. Allerdings fand Debbs bei den bestehenden Vereinen den schärfsten Widerstand, doch gelang es ihm, eine Menge bisher noch nicht organisierter Eisenbahnarbeiter insbesondere aus dem Westen zu Vereinen zusammenzuschließen, die seinem Verbande beitraten. Er suchte zwischen diesen und den Einzelvereinen dadurch ein festes Band herzustellen, daß die Mitglieder der letzteren zugleich einem Ortsvereine des Gesamtverbandes angehören mußten.

Der Standpunkt der Railway Union ist am besten zu ersehen aus der von Debbs bei deren Gründung abgegebenen Erklärung, in der es heißt:

„Der Hauptpunkt der Organisation ist der Schutz der Mitglieder hinsichtlich ihres Lohnes und ihrer Rechte. Die Eisenbahnbediensteten können ein Mitbestimmungsrecht für den Lohnsatz und die Arbeitsbedingungen beanspruchen. Genügender Lohn und angemessene Behandlung müssen die Gegenleistung für erfolgreiche treue Dienste bilden. So werden wir zu harmonischen Beziehungen und befriedigenden Ergebnissen gelangen. Der neue Bund wird konservativen Grundsätzen huldigen. Auch dem geringsten Mitgliede wird bei gerechten Forderungen der Beistand nicht versagt werden, aber auf der anderen Seite sollen keine maßlosen Forderungen, keine unberechtigten Beschwerden Unterstützung finden. Nach gründlicher Organisation jedes Dienstzweiges bei gebührender Berücksichtigung jedes Rechtes kann man zuversichtlich hoffen, daß alle Differenzen zu befriedigender Erledigung kommen, daß harmonische Beziehungen hergestellt werden, daß der Dienst unberechenbar besser wird, daß die Notwendigkeit für Ausstände und Sperren, Verrufserklärungen und schwarze Listen, die beiden Teilen gleich verderblich sind und für die allgemeine Wohlfahrt eine beständige Drohung bilden, ganz und für immer wegfällt“.

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Die Gesamthaltung des Bundes ist hiernach als eine antisozialistische zu bezeichnen. Allerdings verfolgt er im Gegensatze zu den älteren Vereinen, die nur gelernte Arbeiter aufnehmen und deshalb einen aristokratischen Karakter tragen, eine fortschrittliche Politik; Debbs selbst gehört zu der Partei der Demokraten. Aber der Sozialismus hat von ihm keine Förderung zu erwarten; ebenso gilt er als ein Mann, der dem in Amerika allmächtigen Einflusse des Dollars nicht unterliegt.

Ueber den Mitgliederbestand liegen nur Zahlen aus dem Jahre 1894 vor. Danach zählte die Union im April 1894 80000 Angehörige, während auf der ersten Generalversammlung Mitte Juni 1894 425 Vereine mit 125000 Mitgliedern vertreten waren.

Obgleich hiernach kollektivistische Anschauungen zum Teil in die angeführten großen Verbände Einzug gehalten haben, so stehen diese doch dem Sozialismus in der Form der Sozialdemokratie durchaus ablehnend gegenüber; insbesondere ist es karakteristisch, daß die genannten Führer streng religiös sind und zugleich dem Templerenztum zuneigen. Es wird hier also der Beweis geliefert, daß eine in ihrer Gegnerschaft gegen den Kapitalismus durchaus entschieden vorgehende Arbeiterorganisation nicht entfernt Veranlassung hat, gleichzeitig materialistischen Grundsätzen zu huldigen.

In neuester Zeit hat übrigens auch die sozialdemokratische Bewegung wieder einen gewissen Aufschwung genommen und zugleich ihr Interesse den Gewerkschaften in höherem Grade zugewandt. Es ist ihren Anhängern gelungen, im November 1895 einen neuen gewerkschaftlichen Zentralverband unter dem Namen „Socialist Trade and Labor Alliance« ins Leben zu rufen, der vom 29. Juni bis 2. Juli 1896 in New York seine erste Hauptversammlung abhielt. Schon der Name bezeichnet die sozialistische Richtung, wie denn auch das Programm als Zweck angiebt, den bestehenden Gewerkschaftsorganisationen und ihren teils trägen, teils korrumpierten, teils bewußt reaktionären Elementen eine Gewerkschaftsorganisation gegenüberzustellen, die es sich zur Aufgabe macht, die Interessen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter nicht nur nach der ökonomischen, sondern auch nach der politischen Seite hin zu wahren“. In der Versammlung waren 64 Lokal- und 7 Distriktsorganisationen, sowie einige gewerkschaftliche Nationalverbände durch 75 Abgeordnete vertreten.

Außer den bisher behandelten großen Verbänden bestehen noch eine ganze Anzahl von Einzelgewerkschaften, die ihnen teils angehören, teils ihnen fern stehen. Dieselben bezeichnen sich, wenn sie auf die Vereinigten Staaten beschränkt sind, als nationale, wenn sie dagegen auch Mitglieder in Canada oder Mexiko haben, als internationale Vereine. Die wichtigsten sind die[176] Eisengießer, die Eisen- und Stahlarbeiter, die Zigarrenarbeiter, die Möbelarbeiter, die Hafenarbeiter, die Granithauer; unter den Buchdruckern bestehen zwei Vereine, nämlich einerseits der deutsch-amerikanische Typographenbund und andererseits die International typographical union. Meist giebt es auch in den größeren Städten lokale Verbände der am Orte bestehenden Gewerkschaften, die häufig in deren Selbstbestimmung tief eingreifende Befugnisse haben. Ebenso haben sich zuweilen die local assemblies der einzelnen Staaten zu Verbänden zusammengeschlossen, so in New York, New Jersey, Pennsylvania, Ohio, Illinois, Maryland, Missouri, Michigan und Wisconsin.

Der Versuch, eine Zusammenfassung aller Gewerkschaften nach dem Vorbilde der englischen trade unions-Kongresse mit ihren eigenem parlamentarischen Komitee ins Leben zu rufen, ist 1881 unternommen durch einen nationalen Gewerkschaftskongreß, der in Pittsburg tagte und auf dem die „Federation of organised Trades and Labor Unions of the United States and Canada“ mit einem „Legislative committee“ aus 5 Personen gegründet wurde. Aber obgleich einige Jahresversammlungen abgehalten wurden — auf derjenigen in Chicago im Oktober 1884 waren 400000 Arbeiter durch 200 Abgesandte vertreten — hat es die Organisation doch niemals zu wirklicher Bedeutung gebracht.

Hinsichtlich der Statistik der gesamten amerikanischen Arbeiterbewegung ist man auf private Angaben angewiesen, die um so weniger zuverlässig sind, als viele Vereine ihre Mitgliederzahlen absichtlich geheim halten. Aus älterer Zeit ist eine von der American Review für den 1. Januar 1885 veranstaltete Erhebung vorhanden, nach der es damals 26 nationale und 15 internationale Gewerkschaften mit zusammen 434550 Mitgliedern gab; doch waren dabei viele örtliche Vereinigungen nicht mitgerechnet. Eine neuere Statistik hat die New Yorker Volkszeitung veranstaltet und in ihrem Blatte vom 27. August 1892 veröffentlicht. Danach betrug die Mitgliederzahl:

1. bei den Knights of Labor 205000,

2. bei der American Federation of Labor 350000.

3. Eine Anzahl von Vereinen, die den beiden Verbänden sich nicht angeschlossen hatten, umfaßte 266871 Personen. Dazu gehörten: die International Bricklayers and Stonemasons Union mit 35000, die Brotherhood of Locomotive Engineers mit 31000, die Brotherhood of Locomotive Firemen mit 25071, die Brotherhood of Railroad Trainmen mit 23500, der Order of Railway Telegraphers mit 22506, die Granite Cutters National Union mit 20000, die Operative Plasters International Union mit 14000, die Musicians National League mit 11000, der Order of Railroad Conductors[177] mit 10000, die National Association of Machinists mit 10000, die Brotherhood of Railroad Carmen mit 10000 Mitgliedern.

Ein Teil der hier aufgeführten Vereinigungen hat sich später der American Railway Union angeschlossen.

4. Außer diesen Gruppen zählt die Erhebung noch 14 Vereine, von denen nicht ermittelt ist, ob sie der Federation angehören, mit 55000 Mitgliedern und schätzt, daß in nicht bekannt gewordenen Vereinen, insbesondere Geheimbünden, noch etwa 50000 Arbeiter gesammelt sind.

Hiernach ergiebt sich eine Gesamtzahl von 926900 oder, da viele Doppelzählungen vorzuliegen scheinen, von rund etwa 825000 organisierten Arbeitern, was etwa 30 % der in der Industrie, im Handwerk und im Bergbau beschäftigten Personen und 10 % der gesamten Arbeiterbevölkerung entspricht.

Nach einer Uebersicht des American Federationist, des Organes der American Federation of Labor, gab es Ende 1898 in den Vereinigten Staaten rund eine Million gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, von denen etwa 60 % der Federation of Labor, 10 % den Verbänden der Eisenbahnangestellten und 10 % den lokalen Bauarbeitervereinen angehörten.

Diese Zahlen sind zusammengetragen aus den Berichten der Behörden für Arbeitsstatistik und den Berichten der verschiedenen Landes- und Ortsgewerkschaften und Arbeiterverbände.

Nach der letzten Volkszählung giebt es in den Vereinigten Staaten 22000000 Personen, welche in Erwerbsverhältnissen stehen. Hiervon sind 4000000 weibliche Personen, 7000000 Landarbeiter, gelernte Handwerker, Bank- und Handlungsgehülfen, 2000000 Arbeiter, welche kein Gewerbe erlernt haben und 2000000 Dienstboten und Personen in ähnlichen Stellungen, welche sich zu gewerkschaftlicher Organisation nicht eignen. Von den übrigen 5000000 sind vielleicht 500000 Arbeitgeber und wenigstens 2000000 leben in Landstädten und in den dünnbevölkerten Distrikten des südlichen und westlichen Gebietes, außerhalb der Mittelpunkte der gewerblichen Betriebe, des Bergbaues und anderer Industriegebiete, welche das Feld für Arbeiterverbände darbieten. Hiernach verbleiben ungefähr 2500000, welche die Gewerbe und die Gebiete umfassen, in welchen die Gewerkschaften ihre Thätigkeit entfalten.

In manchen Bezirken sind fast alle Arbeiter organisiert. Die meisten Gewerkschaften haben Unterstützungskassen. Der Buchdruckerverband verausgabt für Unterstützungszwecke jährlich etwa 1400000 Mk.; der Zigarrenarbeiterverband zahlte 1893 für Arbeitslose 356000 Mk. Die Lokomotivführer gaben in den letzten 15 Jahren durchschnittlich jährlich 700000 Mk. für Sterbegeld, die Heizer 600000 Mk. Die Gesamtausgabe dieser vier größten Verbände, die zusammen[178] etwa 120000 Mitglieder haben, beträgt jährlich rund vier Millionen Mark für Unterstützungen.

Fußnoten:

[58] Vgl. H. W. Farnam: Die amerikanischen Gewerkvereine, Leipzig 1879. Sartorius v. Waltershausen: Die nordamerikanischen Gewerkschaften unter dem Einflusse der fortschreitenden Produktionstechnik, Berlin 1886. Derselbe: Der moderne Sozialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1890. W. T. Stead: Der Krieg zwischen Arbeit und Kapital in den Vereinigten Staaten, deutsch von M. Pannwitz, 1894. Stevens: Die Gewerkvereine der Vereinigten Staaten in Braun, Archiv für sozial. Gesetzgebung, Bd. XII. S. 695 ff.

[59] Mit Recht weist S. v. Waltershausen: Die n. a. Gewerkschaften, S. 28, darauf hin, daß der erste Versuch zur Bildung einer allgemeinen Arbeiterpartei sich abweichend von Deutschland nicht auf politischer, sondern auf wirtschaftlicher Unterlage vollzogen habe.

[60] Vgl. unten S....

[61] Bei W. T. Stead a. a. O., S. 113.

[62] Vergl. oben S....

[63] Es ist nicht recht verständlich, was damit gemeint ist, denn die Forderung dahin zu verstehen, daß die Gesetze nicht von Vertretungskörpern endgültig gemacht, sondern dem Volke selbst zur Urabstimmung unterbreitet werden, scheint nicht angängig, da dies schon unter Ziffer 11 (Referendum) ausgesprochen ist.

[64] Der Bericht ist in Nr. 7 des Korrespondenzblattes der Generalkommission für die Gewerkschaften Deutschlands vom 14. Februar 1898 abgedruckt.

X. Australien[65].

Australien ist das Land, dessen soziale Verhältnisse man bei uns am wenigsten kennt, die aber dieser Kenntnis am meisten wert sind, nähern dieselben sich doch mehr, als die irgend eines anderen Landes denjenigen Zuständen, die wir als das letzte Ziel der sozialen Entwickelung, als das durch den Jammer und Kummer, durch den Hader und Streit unserer heutigen Uebergangsverhältnisse wie ein trostreiches Licht hindurchschimmernde Ideal befriedigender Ausgleichung der Gegensätze betrachten müssen. Nirgend hat der Arbeiterstand und damit die Masse der Bevölkerung eine so hohe Stufe der materiellen und ideellen Lebenshaltung erreicht, nirgend findet ein so günstiges Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion, eine so weitgehende Verwertung der vorhandenen Arbeitskraft und eine so geringe Arbeitslosigkeit statt, wie in Australien. Eine nähere Beschäftigung mit den dortigen Verhältnissen ist deshalb allen, die sich mit sozialen Fragen beschäftigen, auf das nachdrücklichste zu empfehlen.

Australien verdankt diese glücklichen Zustände in erster Linie der Entwicklung seines Gewerkschaftswesens. Allerdings kommt ihm dabei zustatten, daß ihm aus Europa im allgemeinen ein gutes Arbeitermaterial zufließt; auch hat man sich im Interesse der nationalen Arbeit zu hohen Schutzzöllen entschlossen, aber das Wesentliche ist doch, daß man in der eignen Bevölkerung sich einen kaufkräftigen Abnehmer, einen wertvollen inneren Markt geschaffen hat. Die Löhne der australischen Arbeiter übersteigen die amerikanischen, die ihrerseits die englischen weit hinter sich zurücklassen, von den deutschen gar nicht zu reden. Sätze von 10–12 Mark nach unserm Gelde bilden die Regel für ungelernte Arbeit; für gelernte steigen sie auf 30–35 Mk. Daneben ist die Arbeitszeit fast ausnahmslos auf acht Stunden herabgesetzt, und die gewonnene Muße wird von den Arbeitern benutzt, um sich auf eine Stufe der Bildung zu bringen, die uns unglaublich erscheint. Eine natürliche Folge dieser günstigen Verhältnisse ist es, daß sozialistische Ideen[179] bis jetzt in Australien nirgends Boden gefunden haben, selbst Eingriffe der Gesetzgebung, die uns durchaus berechtigt erscheinen, wie z. B. die Schaffung staatlicher Schiedsgerichte für gewerbliche Streitigkeiten, finden keinen Beifall, da man vorzieht, den Ausgleich durch freie Verhandlungen und nötigenfalls freiwillige Einsetzung einer Schiedsinstanz herbeizuführen. Es ist deshalb völlig begreiflich, daß insbesondere der bekannte englische Politiker Sir Charles Dilke, der den australischen Arbeiterverhältnissen eingehende Studien gewidmet hat, sich gewissermaßen zum Apostel derselben aufgeworfen hat und mit Feuereifer dafür eintritt, dem dort gegebenen Vorbilde nachzueifern. Daß auch in Australien noch nicht das Ideal selbst erreicht ist, daß auch dort noch menschliche Leidenschaften sich häßlich geltend machen und Streitigkeiten selbst größeren Umfanges zwischen Arbeitern und Arbeitgebern nicht zu vermeiden sind, hat insbesondere der große, von den Wollscherern ausgegangene, dann aber allgemein gewordene Streik vom Jahre 1890 bewiesen, der infolge der Ueberspannung der Forderungen, insbesondere des verlangten Ausschlusses aller nicht den G.-V. angehörenden Arbeiter von der Beschäftigung, für die G.-V. ungünstig auslief, indem die öffentliche Meinung sich gegen die Streikenden erklärte. Aber selbst dieses Ereignis hat die sozialen Verhältnisse nicht dauernd zu schädigen und eine Strömung gegen die private Form der Produktion und das Lohnsystem nicht ins Leben zu rufen vermocht.

Gerade der Kampf um den Achtstundentag hat den Ausgangspunkt für die australische Gewerkschaftsbewegung gebildet, er steht noch heute in dem Maße im Vordergrunde, daß keine Arbeitergruppe als G.-V. anerkannt wird, die nicht dieses Ziel errungen hat. Die ersten, die in den Kampf eintraten, waren die Bauhandwerker, die 1856 einen G.-V. bildeten und ohne nennenswerten Widerstand der Arbeitgeber den Achtstundentag durchsetzten. Der Tag, an welchem dies geschah, der 23. April, wird als sog. demonstration day jährlich als allgemeiner Festtag der gesamten Arbeiterschaft Australiens mit großem Pomp gefeiert, wobei sich nicht nur die höchsten Spitzen der Behörden und der Statthalter, sondern auch die Vertreter der G.-V. der Arbeitgeber beteiligen. Auf die Bauhandwerker folgten bald die Maschinenbauer, die Eisengießer und die Schiffbauer. Nach einem Rückschlage, den die Bewegung im Anfange der 60er Jahre durch das massenhafte Rückströmen der Goldwäscher von den erschöpften Goldfeldern des Innern erlitt, beginnt seit 1869 die Ausdehnung auf alle Arbeiterklassen, so daß heute über 60 G.-V. in dem Ausschusse vertreten und eigentlich nur noch die Textilarbeiter von der Organisation ausgeschlossen sind; selbst einige Zweige der weiblichen Arbeiter sind bereits angegliedert.

Der statutenmäßige Zweck aller G.-V. ist Verteidigung der Rechte der Arbeit, insbesondere neben der Aufrechterhaltung des Achtstundentages die Erlangung[180] günstiger Lohnbedingungen, aber dies alles unter möglichster Vermeidung von Streiks durch Beförderung des guten Einvernehmens mit den Arbeitgebern.

So bezeichnen z. B. die Statuten des Vereins der Wollscherer dessen Ziele, wie folgt: „Verteidigung des Rechts der Arbeit, Verbindung zu gegenseitigem Schutze, Erreichung und Erhaltung einer ausreichenden Lohnhöhe, Beistand in allen Fällen der Unterdrückung, Aufbringung eines Vereinsvermögens, möglichste Verhinderung von Streiks und Beförderung eines guten Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, Beilegung von Streitigkeiten durch Einigungsämter, Schiedsgerichte und andere gesetzliche Mittel, Anlegung von Geldern in Unternehmungen, welche von Arbeitern betrieben werden.“

Der größte australische G.-V., die Organisation der vereinigten Bergleute, hat nach dem am 24. Februar 1891 dem Delegiertentage erstatteten Berichte in den 18 Jahren seines Bestehens neben 71293 Pfd. St. für Unfallentschädigung, 13929 Pfd. St. für Sterbegelder und 15329 Pfd. St. für andere Hilfskassenzwecke nur 6614 Pfd. St. für Streiks ausgegeben.

Die Verhandlungen erfolgen zwischen dem Zentralverein der Arbeiter und demjenigen der ebenfalls zu G.-V. organisierten Arbeitgeber. Nirgends in der Welt haben die den englischen trade councils entsprechenden Provinzialausschüsse der G.-V. über ihre Mitglieder eine solche fast schrankenlose Gewalt, wie in Australien. Auch von den Behörden werden sie allgemein als Vertreter der Arbeiter anerkannt. Soll ein Streik durchgeführt werden, so wird von dem Ausschusse zuweilen für ganz fern stehende Arbeiterklassen angeordnet, daß sie ebenfalls die Arbeit niederlegen, und niemals wird solchem Befehle die Folgeleistung versagt. Für die Verhandlungen besteht ein besonderes dem G.-V. gehöriges Gebäude, die Trades Hall. Uebrigens hat man 1887 für Victoria ein festes Schiedsgericht (board of conciliation) errichtet und ist bestrebt, diese Einrichtung allgemein zu machen, auch eine gesetzliche Bestimmung durchzusetzen, daß das Vermögen der Vereine für die Durchführung der getroffenen Entscheidungen in Anspruch genommen werden kann. Ebenso geht man darauf aus, dem Vereine ein gesetzliches Besteuerungsrecht über seine Mitglieder einzuräumen; da sie das Recht der juristischen Persönlichkeit bereits besitzen, so würde das ein weiterer Schritt sein, ihnen öffentlich-rechtliche Gewalt zu verleihen und sie zu staatlichen Faktoren zu erheben. Das Kassenwesen hat man bei vielen G.-V. zurücktreten lassen, da die Mitglieder zugleich Versicherungsgesellschaften (friendly societies) angehören.

Ist in Australien, wie in anderen Ländern, die Gewerkschaftsbewegung zunächst von den gelernten Arbeitern ausgegangen, so haben doch insbesondere[181] seit 1890 auch die ungelernten sich der Organisation zugewandt, und es besteht jetzt ein Zentralverein derselben, die General labor union. Auch die landwirtschaftlichen Arbeiter (bush labourers) und insbesondere die schon genannten Wollscherer, die, über den ganzen Kontinent zerstreut, auch ihre Arbeit in nomadisierender Weise verrichten, haben seit Ende der 80er Jahre die Organisation begonnen. In neuester Zeit ist man bestrebt, an Stelle der kolonialen Ausschüsse eine einheitliche Zentralinstanz aller australischen G.-V. zu setzen, durch die man dann die weitere Forderung durchzusetzen hofft, daß nur Mitglieder von G.-V. beschäftigt werden dürfen. Viel Erfolg haben diese Versuche bisher noch nicht gehabt, denn obgleich 1890 die Australian labour federation gegründet wurde, so hat sie doch eine rechte Bedeutung nicht erlangt, da die an die einzelnen G.-V. zur Genehmigung gesandten Statuten eine ausgesprochene sozialistische Tendenz verfolgten und deshalb wenig Beifall fanden. Im September 1895 haben sich auf einer Konferenz in Sidney die Zentralverbände von Queensland und Neu-Süd-Wales sowie zwei lokale Gewerkschaften Südaustraliens zu einem festen Bunde zusammengeschlossen, der beabsichtigt, die Gesamtvereinigung energisch in die Hand zu nehmen.

Ein Ansatz zu einer gewissen gemeinsamen Organisation ist dadurch gemacht, daß ein Gesetz der Kolonie Victoria vom 28. Juli 1896 den Gouverneur ermächtigt für eine Reihe von Gewerben eine je zur Hälfte aus Arbeitgebern und Arbeitern gebildete Behörde einzusetzen, die das Recht hat, die Mindestsätze an Zeitlohn und Stücklohn zu bestimmen; Uebertretungen sind mit Geldstrafe bis 2000 M. bedroht. Nach dem Berichte des ersten Fabrikinspektors vom 1. Juni 1898 ist von dieser Befugnis u. a. für Bäckerei, Schuhmacherei, Tischlerei und die Gewerbe zur Herstellung von Bekleidungs- und Wäschegegenständen mit befriedigendem Erfolge Gebrauch gemacht.

Statistische Angaben liegen nur hinsichtlich einzelner Vereine vor. So besaß nach dem bereits erwähnten Berichte die Organisation der vereinigten Bergleute im Februar 1891 94 Zweigvereine mit etwa 25000 Mitgliedern, die sich über alle Kolonien verteilten. Die Wollscherer besaßen einen Verein für Südaustralien, Victoria und Neu-Süd-Wales und einen andern für Queensland und Neuseeland, von denen der erstere 25000, der letztere 10000 Mitglieder hat. Insgesamt schätzt man die Zahl der organisierten auf 75% aller Arbeiter.

Ein interessanter gesetzgeberischer Versuch verdient hier kurze Erwähnung, der in der Kolonien Neuseeland gemacht ist. Die in Australien bestehenden glücklichen sozialen Zustände haben sich seit Anfang der 1870er Jahre, seitdem das öffentliche Land, soweit es günstigen Boden hatte, in Privatbesitz übergegangen[182] war, wesentlich verschlechtert, und darunter hatten auch die Gewerkvereine zu leiden, so daß insbesondere im Jahre 1890 nicht allein der große Hafenarbeiterstreik, sondern noch mehrere andere Streiks z. B. der Schafscherer, der Bergleute, der Schuhmacher u. s. w. mit völligen Niederlagen endeten. Versuche gütlicher Beilegung durch freiwillige Einigungsämter und Schiedsgerichte waren regelmäßig an der Weigerung der Unternehmer gescheitert, und nachdem in Süd-Wales eine zur Prüfung dieser Verhältnisse eingesetzte königliche Kommission einen eingehenden Bericht erstattet hatte, brachte die Regierung 1892 einen Gesetzentwurf wegen Bildung von Schiedsgerichten ein, der auch Annahme fand. Aber da man den Gerichten keine Zwangsgewalt beigelegt hatte, so erwies sich das Mittel bald als völlig wirkungslos, und der 1895 unternommene Versuch, die zwangsweise Durchführung der Schiedssprüche zu sichern, scheiterte im Oberhause.

Günstiger verlief die gleiche Angelegenheit in Neuseeland, wo der von der Regierung 1891 vorgelegte Entwurf zum Gesetze erhoben wurde und seitdem in Kraft steht. Nach ihm hat jede Partei, Unternehmer und Gewerkverein, das Recht, bei ausbrechenden Streitigkeiten über das Arbeitsverhältnis die Gegenpartei vor das Bezirksamt (district board) zu laden, wo nach eingehender Untersuchung ein Schiedsspruch erlassen wird. Dieser kann freilich nicht zu zwangsweiser Durchführung gebracht werden, sondern ist nur ein guter Rat, aber sobald er nicht befolgt wird, kann die Entscheidung eines Schiedsgerichtes (court of arbitration) angerufen werden. Dieses besteht aus einem Richter des obersten Gerichtshofes als Vorsitzendem und zwei Beisitzern, von denen der eine von den organisierten Unternehmern und der anderen von dem Verbande der Gewerkvereine gewählt wird. Der Spruch dieses Gerichtshofes, der ebenfalls nach eingehender Sachuntersuchung ergeht, kann, sofern das Gericht selbst es anordnet, zwangsweise durchgeführt werden, indem gegen den Unternehmer oder den Gewerkverein, der sich nicht fügt, Geldstrafen bis zu 500 Pfd. St. verhängt werden.

Gegenstand der Entscheidung sind die Länge der Arbeitszeit, die Feiertage, die Höhe des Lohnes, die Frage des Akkordlohnes, die Zahl der Lehrlinge, das Recht der Unternehmer, nicht organisierte Arbeiter zu beschäftigen oder organisierte auszuschließen, sowie die Pflicht der Arbeiter, Unterstützungskassen beizutreten. Jeder Unternehmer und jeder Gewerkverein kann in dieser Weise vor Gericht gezogen werden.

Bei der Beratung des Gesetzes wurde der naheliegende Einwand geltend gemacht, daß doch der Staat nicht einen Unternehmer zwingen könne, zu Bedingungen, die er für unmöglich erkläre, sein Gewerbe zu betreiben, aber man hielt dem entgegen, daß man ihn auch nur zwinge, falls er die von einer[183] berufenen Instanz als angemessen anerkannten Arbeitsbedingungen nicht annehmen wolle, überhaupt auf einen Betrieb seines Gewerbes zu verzichten. Thatsächlich hat das Gesetz, welches seit 1. Januar 1894 in Kraft ist, bis jetzt zur allgemeinen Zufriedenheit gewirkt, wobei allerdings in Betracht zu ziehen ist, daß die Auswahl der betreffenden Richter mit ganz besonderer Vorsicht geschieht, denn offenbar kommt hier alles darauf an, wie die große in die Hand des Gerichtes gelegte Gewalt in der Praxis gehandhabt wird. Uebrigens ist das Gesetz bis jetzt nur für die organisierten männlichen Arbeiter erlassen und auf die nicht organisierten und die Frauen noch nicht ausgedehnt.

Fußnote:

[65] Eine vorzügliche Darstellung der australischen Arbeiterverhältnisse, insbesondere auch hinsichtlich der Gewerkschaftsentwicklung, bietet G. Ruhland in seinem Aufsatze: Achtstundentag und Fabrikgesetzgebung in Australien, Ztschr. f. d. ges. Staatsw. Jahrg. 47, S. 279 ff. Vgl. außerdem: Charles Dilke in der Révue sociale et politique, Brüssel 1891, Heft 2; H. H. Champion, The crushing defeat of trade unionism in Australia. Nineteenth century, Februar 1891; W. P. Reeves in Braun, Archiv f. soz. Ges., Bd. XI, S. 635 ff.

XI. Deutschland[66].

1. Einleitung.

Die ersten Anfänge einer Gewerkschaftsbewegung in Deutschland finden wir in den Handwerker- und Bildungsvereinen, die insbesondere in den Jahren vor 1848 unter der Leitung von liberalen Politikern entstanden, aber in der Zeit der Reaktion vielfach sich wieder auflösten. Ein Interessen- und Klassengegensatz trat jedoch in diesen Vereinen noch nicht hervor, und in der That war zu einem solchen der Anlaß erst geboten, nachdem die Verdrängung des Kleinbetriebes durch den Großbetrieb, der Handarbeit durch die Maschinenarbeit das frühere Verhältnis des Gesellenstandes als einer Vorstufe des Meisterstandes beseitigt und eine immermehr sich vertiefende Scheidungslinie zwischen Arbeitgeber und Arbeiter gezogen hatte.

Der älteste wirkliche G.-V. in Deutschland ist der im Jahre 1865 von Fritzsche gegründete deutsche Tabakarbeiterverein und der im folgenden Jahre ins Leben gerufene Verband der deutschen Buchdrucker. Der letztere verdient unser besonderes Interesse dadurch, daß er sich bis auf die[184] allerneueste Zeit von politischen Einflüssen völlig fern gehalten hat und aus diesem Grunde das treueste Bild eines wirklichen G.-V. bietet. Wir wollen uns deshalb mit ihm demnächst noch eingehender beschäftigen. Das Gleiche gilt von einer Reihe anderer in neuester Zeit begründeter Organisationen, insbesondere den christlichen Vereinigungen aller Art. Im übrigen ist die deutsche Gewerkschaftsbewegung teils ausgesprochenermaßen, teils wenigstens thatsächlich unter Anlehnung an politische Parteien erwachsen und zwar aus einer doppelten Wurzel.

Der äußere Anstoß wurde gegeben durch Berichte, welche Max Hirsch im Sommer 1868 in Briefen aus England über die dortigen G.-V. in der „Berliner Volkszeitung“ veröffentlichte, und in denen er das englische Vorbild zur Nachahmung empfahl. Nach seiner eigenen Angabe hatte er die Reise nach England unternommen, um sich über die dortigen sozialen Verhältnisse, insbesondere über das Genossenschaftswesen zu unterrichten und hatte dort die ihm vorher kaum bekannten G.-V. kennen gelernt. Ob dieselben den Führern der jungen sozialdemokratischen Bewegung bekannt gewesen sind, oder ob diese erst aus den Hirsch'schen Berichten ihre Anregung erhalten haben, mag dahingestellt bleiben, jedenfalls griff der damalige Präsident des von Lassalle gestifteten „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“, v. Schweitzer, in Gemeinschaft mit Fritzsche, dem Gründer des „Deutschen Tabakarbeitervereins“, den Gedanken lebhaft auf und beantragte am 23. August 1868 bei der in Hamburg tagenden Generalversammlung seines Vereins, daß man seitens desselben mit der Gründung von Gewerkschaften vorgehen solle. Er fand jedoch hier den entschiedensten Widerspruch und erlangte schließlich nur, daß man erklärte, nichts dagegen einwenden zu wollen, wenn er und Fritzsche persönlich, oder ganz unabhängig von dem Vereine, die Sache in die Hand nähmen. Daraufhin beriefen beide auf den 26. September 1868 einen deutschen Arbeiterkongreß nach Berlin „zur Begründung allgemeiner, nach den verschiedenen Berufsarten gegliederter Gewerkschaften“.

Max Hirsch, der inzwischen von England zurückgekehrt war und unter den Berliner Arbeitern insbesondere durch die Maschinenbauer eine starke Stütze hatte, versuchte mit deren Hilfe auf diesem Kongresse seinen Standpunkt zu vertreten, blieb aber in der Minderheit und wurde schließlich mit Gewalt aus dem Saale getrieben. Er berief darauf seinerseits auf den 28. September 1868 eine große Arbeiterversammlung, welche unter dem Vorsitze des fortschrittlichen Abgeordneten Franz Duncker tagte und schließlich die von Hirsch entworfenen „Grundzüge für die Konstituierung der deutschen Gewerkvereine“ mit großer Mehrheit annahm.

[185]

So waren also gleichzeitig zwei verschiedene Bewegungen ins Leben gerufen, welche beide eine Interessenvertretung der Arbeiter bezweckten. Aber, wie sie sich schon in ihren Namen insofern unterschieden, als die von Hirsch begründeten und gewöhnlich noch ihm und ihrem zweiten geistigen Vater als Hirsch-Duncker'sche bezeichneten Vereine sich „Gewerkvereine“ nannten, während die Schweitzer'schen sich den Namen „Arbeiterschaften“ oder „Gewerkschaften“ beilegten, so waren beide Organisationen auch in ihrem Karakter wesentlich verschieden, wie dies insbesondere bei ihrer Stellungnahme gegenüber den Arbeitseinteilungen hervortritt. Schweitzer bezeichnete in seiner öffentlichen Aufforderung zur Beschickung des einberufenen Kongresses als dessen Ziel „die umfassende festbegründete Organisation der gesamten Arbeiterschaft Deutschlands durch und in sich selbst zum Zwecke gemeinsamen Fortschreitens mittels der Arbeitseinstellungen“.

Während also die Aufgabe dieser Gewerkschaften geradezu als Organisation der Streiks bezeichnet werden kann, gehen umgekehrt die Gewerkvereine davon aus, daß zwischen den Interessen der Arbeiter und der Arbeitgeber eine natürliche Harmonie bestehe, weshalb man sie höhnisch „Harmonieapostel“ genannt hat, daß deshalb eine Verbesserung der Lage der Arbeiter thunlichst in friedlicher Entwicklung geschehen und ein Ausgleich etwa ausbrechender Streitigkeiten durch Schiedsgerichte und Einigungsämter geschehen müsse. Beide Gruppen stehen zu einander in scharfem Gegensatze, insbesondere muß jeder, der den „Gewerkvereinen“ als Mitglied beitreten will, vorher einen Revers unterschreiben, durch welchen er erklärt, weder Mitglied noch Anhänger der Sozialdemokratie zu sein. Versuche, eine Aufhebung dieser Statutvorschrift herbeizuführen, wie sie wiederholt z. B. auf dem letzten am 30. Mai 1898 in Magdeburg abgehaltenen Verbandstage gemacht sind, haben bisher keinen Erfolg gehabt.

Wir wollen jetzt die Entwicklung dieser beiden Gruppen gesondert verfolgen und uns dann noch mit einer Reihe anderer Organisationen, insbesondere dem bereits erwähnten deutschen Buchdruckerverbande beschäftigen.

2. Die Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine[67].

Nach den in der Versammlung vom 28. September 1868 angenommenen Grundsätzen sollte eine Organisation der gesamten deutschen Arbeiterschaft mit[186] beruflicher Gliederung angestrebt werden. Die Einheit bildet deshalb der nationale Gewerkverein eines bestimmten in sich abgeschlossenen Gewerbes. Dieser stützt sich auf die Ortsvereine, und zwar wird zur Bildung eines Gewerkvereins das Vorhandensein von mindestens fünf Ortsvereinen gefordert. Uebrigens giebt es auch „selbständige“ d. h. nicht zu einem G.-V. vereinigte Ortsvereine. Eine Mittelstufe zwischen diesen beiden Formen, die Bezirksvereine, die man anfangs nach dem Vorbilde der englischen trade unions ins Auge gefaßt hatte, sind nur ganz vereinzelt gebildet. Dagegen sind vielfach Vereinigungen aller an einem Orte oder in einem Bezirke bestehenden Vereine zur Vertretung der gemeinsamen Interessen als Orts- oder Bezirksverbände geschaffen, denen insbesondere das Bildungswesen, die Erteilung von Rechtsbeistand, die Abwehr gegenüber anderen Parteien und die Errichtung von Herbergen übertragen ist. Der Beitritt zu diesen Verbänden war früher obligatorisch, bis man dies auf dem Verbandstage von 1892 beseitigt hat, immerhin bestehen jetzt 145 Orts- und 7 Bezirksverbände.

An der Spitze jedes G.-V. steht ein „Generalrat“, welcher auf der alle drei bis fünf Jahre zusammentretenden Generalversammlung gewählt wird. Eine Gesamtvertretung aller G.-V. war von Anfang an beabsichtigt und ist schon Pfingsten 1869 durch Gründung des „Verbandes der deutschen Gewerkvereine“ geschaffen, an dessen Spitze der „Zentralrat“ steht. Beirat des letzteren ist Max Hirsch unter dem Titel „Verbandsanwalt“; derselbe ist zugleich Herausgeber des Verbandsorganes: „Der Gewerkverein“. Die regelmäßige Versammlung des Verbandes ist der „Verbandstag“. Auf demselben wird jedesmal der Betrag festgestellt, welchen jeder G.-V. an die Verbandskasse zu zahlen hat; derselbe darf jedoch den Satz von 5 Pfennigen vierteljährlich auf den Kopf des Mitgliedes nicht übersteigen. Die Verbandstage finden jetzt alle drei Jahre statt und nehmen regelmäßig eine ganze Woche in Anspruch. Außer der konstituierenden Versammlung, die am 18. Mai 1869 in Berlin stattfand und in der die Begründung des Verbandes erfolgte, haben bis jetzt 12 ordentliche Verbandstage stattgefunden und zwar 1) 27. bis 29. August 1871 in Berlin; 2) 17. bis 21. April 1873 in Berlin: 3) 28. bis 31. März 1875 in Leipzig; 4) 15. bis 17. Oktober 1876 in Breslau; 5) 23. bis 27. Oktober 1877 in Gera; 6) 12. bis 17. Oktober 1879 in Nürnberg; 7) 19. bis 25. Juni 1881 in Stuttgart; 8) 24. bis 29. Juni 1883 in Stralsund; 9) 17. bis 22. Juni 1886 in Halle a. S.; 10) 11. bis 16. Juni 1889 in Düsseldorf; 11) 7. bis 15. Juni 1892 in Mannheim; 12) 3. bis 9. Juni 1895 in Danzig; 13) 30. Mai[187] bis 6. Juni 1898 in Magdeburg. Außerdem sind zwei außerordentliche Verbandstage in Berlin abgehalten; der erste am 19. Juni 1869 betraf Aenderungen des Verbandsstatutes, der zweite am 8. September 1889 bezweckte die Aufhebung der Verbandsinvalidenkasse.

Der Grundgedanke für das Verhältnis dieser verschiedenen Instanzen ist der, daß den Ortsvereinen möglichste Selbständigkeit gelassen ist, mit einziger Ausnahme des Kassenwesens, welches naturgemäß zentralisiert sein muß. Jeder G.-V. hat eine Kranken- und Sterbekasse. Der Verband hatte außerdem am 1. Juli 1869 eine Invalidenkasse ins Leben gerufen, die aber nach Einführung der reichsgesetzlichen Invaliditätsversicherung am 8. September 1889, nachdem ihr Mitgliederbestand auf 2046 herabgesunken war, liquidieren mußte, wobei übrigens die Mitglieder 76% ihrer Beiträge zurückerhielten. Gleichzeitig mit der Invalidenkasse des Verbandes hatte auch der größte Einzelverein, der G.-V. der Maschinenbauer und Metallarbeiter eine solche gegründet, die man anfangs auch neben den gesetzlichen Zwangsverbänden aufrecht zu erhalten suchte, bis sich ergab, daß die Mitglieder nicht die Beiträge zu beiden Versicherungen nebeneinander aufbringen konnten. So wurde denn im November 1893 von der Generalversammlung die Auflösung beschlossen und das nach Zahlung von insgesamt 928000 Mk. Invalidengeldern noch vorhandene Vermögen in Höhe von 500000 Mk. zur Verteilung gebracht, so daß sämtliche Mitglieder die von ihnen eingezahlten Beiträge zurückerhielten.

Bei ausbrechenden ernsteren Streitigkeiten wenden sich die Ortsvereine zunächst an ihren Generalrat, der, falls seine Versuche zur Beilegung erfolglos bleiben, die Sache dem Zentralrate unterbreitet. Dieser soll eine Arbeitseinstellung nur unter der dreifachen Voraussetzung anordnen, daß auch durch seine Vermittelungen keine Verständigung zu erzielen ist, daß er den Streik als berechtigt anerkennt und daß derselbe nach Lage der Umstände Erfolg verspricht.

Der Zweck der G.-V. ist nach dem Normalstatut „der Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder auf gesetzlichem Wege“. Aus den „leitenden Grundsätzen“ ist folgendes hervorzuheben:

Es soll ein Arbeitslohn angestrebt werden, der zum künftigen Unterhalte des Arbeiters und seiner Familie ausreicht mit Einschluß der Versicherung gegen jede Art von Arbeitsunfähigkeit, sowie der nötigen Erholung und humanen Bildung. Die Arbeitszeit ist auf 10 Stunden zu beschränken, Sonntags- und Nachtarbeit möglichst zu beseitigen. Weiblichen und unerwachsenen Arbeitern ist der erforderliche Schutz zu gewähren. Zuchthausarbeit soll der freien Arbeit keine Konkurrenz bereiten. Fabrik- und Arbeitsordnungen sind mit den Arbeitern zu vereinbaren. Zur Erledigung von Streitigkeiten ist[188] ein von beiden Teilen zu besetzendes stehendes Schiedsgericht unter einem unparteiischen Obmann zu bilden.

Ein Hauptgewicht haben die G.-V. von Anfang an auf die Bildung von Hülfskassen jeder Art gelegt. Ihrem Einflusse ist es wesentlich zu danken, daß das Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen vom 7. April 1876 erlassen und daß in der Gewerbeordnung und in den späteren Versicherungsgesetzen im wesentlichen der Grundsatz des bloßen Kassenzwanges im Gegensatz zu der weitergehenden Forderung der Zwangskassen Aufnahme gefunden hat, daß also insbesondere die Zugehörigkeit zu einer den gesetzlichen Normativbedingungen entsprechenden Hülfskasse von dem Beitritte zu den gesetzlichen Zwangskassen entbindet. In neuerer Zeit freilich beklagt man sich immer mehr über ungünstige Behandlung der freien Kassen, insbesondere insofern, als man ihre Vertreter nicht zu den für die Schiedsgerichte, das Reichsversicherungsamt und die Unfalluntersuchung und Unfallverhütung geschaffenen Ausschüssen zuläßt, und als das neue Krankenkassengesetz vom 10. April 1892 die Bestimmung traf, daß die freien Kassen die ärztliche Behandlung in Natur — im Gegensatz zu der früher gestatteten Geldentschädigung — leisten und daß der Satz des Krankengeldes sich nach dem ortsüblichen Tagelohn des Wohnortes des Versicherten — im Gegensatze zu dem Sitze der Kasse — richten müsse, entwickelte sich eine große Bewegung auf völlige Aufhebung der Kassen, die aber von der Zentralleitung mit Erfolg bekämpft ist. Nach dem Gesetze müssen die Hülfskassen von den G.-V. völlig getrennt sein. Immerhin hat man eine gemeinschaftliche Interessenvertretung zunächst durch ein Kartell und seit 1892 durch den „Verband der deutschen G.-V.-Hülfskassen“ hergestellt.

Ueber die Ziele der bisherigen Sozialversicherung hinaus hat man seitens der G.-V. die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ins Auge gefaßt, also eine Aufgabe von ungemeiner Bedeutung. Allein obgleich auf dem Verbandstage in Nürnberg 1879 das von einer zu diesem Zwecke eingesetzten Kommission ausgearbeitete Statut einer „Verbandskasse für Reisende und Arbeitslose“ zur Annahme gelangte, so ist die letztere doch mangels ausreichender Beteiligung nicht ins Leben getreten. Immerhin hat man durch statistische Erhebungen über Häufigkeit und Dauer der Arbeitslosigkeit sich ein erhebliches Verdienst erworben. Außerdem haben schon seit 1881, wo die Tischler damit begannen, die einzelnen G.-V. eine Arbeitslosenunterstützung eingerichtet, und auf dem Verbandstage in Danzig 1895 konnte der Verbandsanwalt feststellen, daß dieselbe jetzt bei allen Vereinen durchgeführt sei.

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sucht man zunächst zu erreichen durch eine möglichst ausgebildete Arbeitsstatistik verbunden mit Arbeitsnachweis. Neben den Ortsvereinssekretären, denen die Arbeitsvermittelung obliegt,[189] sind bisher 90 besondere Arbeitsnachweisestellen eingerichtet. Auch eine Ausdehnung über den örtlichen Rahmen hinaus mit Hülfe der Generalsekretäre wird angestrebt, doch haben hier bis jetzt nur die Vereine der Kaufleute und der Kellner ernsthafte Versuche unternommen. Die Arbeitslosenunterstützung beläuft sich meist auf wöchentlich 7 Mk. 50 Pf. und wird bis zu 13 Wochen gezahlt. Mit derselben verbunden ist eine Reiseunterstützung bei Ortswechsel und eine Uebersiedelungsbeihülfe für die Angehörigen. Endlich giebt es noch eine Unterstützung in besondern Notfällen.

Die G.-V. haben sich die nachdrückliche Förderung des Genossenschaftswesens angelegen sein lassen. Allerdings ist die versuchte Schaffung von Produktivgenossenschaften fast überall an der mangelnden kaufmännischen Berechnung und Umsicht gescheitert; nur in Burg bei Magdeburg bestehen Produktivgenossenschaften der Tuchmacher, der Zigarrenarbeiter und der Goldleistenverfertiger mit gutem Erfolge.

Die Kredit-, Rohstoff- und Magazinvereine haben Bedeutung wesentlich nicht für Arbeiter, sondern für kleine Unternehmer, die übrigens in den G.-V. ebenfalls vertreten sind. So hat z. B. der Generalrat der Schneider seit zwei Jahren einen genossenschaftlichen Wareneinkauf eingerichtet, dagegen hat man Konsumvereine an sehr vielen Orten ins Leben gerufen und zur Blüte gebracht und nicht minder die Bildung von Baugenossenschaften angeregt.

Ebenso haben die G.-V. die Förderung des Volksbildungswesens thatkräftig in die Hand genommen und sich deshalb mit den zu diesem Zwecke bestehenden Vereinigungen, insbesondere der „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“, in nahe Fühlung gesetzt.

Als sehr nützlich haben sich die Einrichtungen zur Gewährung von Rechtsschutz erwiesen. Die Ortsvereine oder häufiger noch die Orts- und Bezirksverbände bestellen einen geeigneten Rechtsverständigen, bei dem die Mitglieder unentgeltlich Rechtsbelehrung erhalten können, übernehmen auch auf ihre Kosten die Durchführung von Prozessen der Mitglieder, wobei nur Beleidigungs-, Ehescheidungs- und Erbschaftssachen, sowie Streitigkeiten der Mitglieder untereinander ausgeschlossen sind. Vorzugsweise wird von dem Rechtsschutze in Versicherungsangelegenheiten und vor den Gewerbegerichten Gebrauch gemacht.

In neuester Zeit sind die G.-V. vor allem bestrebt, sich selbst eine gesichertere rechtliche Grundlage zu verschaffen, indem sie den Erlaß eines Gesetzes über die Zulassung von „Berufsvereinen“ fordern, dessen Grundgedanke darin besteht, daß Vereine, welche die Berufsinteressen ihrer Mitglieder vertreten, unter den durch Gesetz festzustellenden Voraussetzungen ihre Eintragung in ein öffentliches Register nachsuchen können und durch diese eigene Rechtsfähigkeit erlangen. Der erste Versuch in dieser Richtung wurde von Schulze-Delitzsch[190] durch einen am 4. Mai 1869 im Reichstage eingebrachten Antrag unternommen, der die privatrechtliche Stellung der Vereine überhaupt regeln und die Rechtsfähigkeit, sobald gewisse gesetzliche Bedingungen erfüllt waren, lediglich von der Eintragung in ein bei den Amtsgerichten zu führendes Register abhängig machen wollte. Nachdem eine Kommission den Gesetzentwurf weiter ausgearbeitet hatte, wurde er am 21. Juni 1869 vom Reichstage angenommen. Aber obgleich Schulze-Delitzsch seinen Antrag noch zweimal wiederholte, gelang es nicht, das Widerstreben des Bundesrates zu besiegen, und längere Zeit ist man auf die Angelegenheit nicht zurückgekommen. Erst seit einem am 14. Mai 1890 von den Abgeordneten Hirsch und Eberty eingebrachten Antrage ist die Frage wieder in Fluß gekommen, aber ein in der Session 1893/94 mit großer Mehrheit angenommener Beschluß hat bei der Regierung keine Zustimmung gefunden, und da man im Bürgerlichen Gesetzbuche[68] den Regierungsvorschlag annahm, nach welchem: Vereine mit sozialpolitischen Zwecken nur mit Genehmigung der Verwaltungsbehörde die die Rechtsfähigkeit bedingende Eintragung erlangen können und sich darauf beschränkte, in einer Resolution die Vorlegung eines Gesetzes über die Berufsvereine zu fordern, so ist bei der ablehnenden Haltung der Regierung zunächst eine endgültige Regelung nicht zu erwarten. Die in den Sessionen 1897/98 und 1898/99 von dem Abg. Schneider, sowie von den Abg. Pachnicke und Rösicke eingebrachten Anträge, welche die Vereine zur Wahrung der Berufsinteressen von der erwähnten Genehmigungspflicht befreien wollten, sind nicht zur Erledigung gekommen.

Den Bestrebungen auf gesetzliche Einführung von Schiedsgerichten und Einigungsämtern und bessere Ausbildung des Arbeiterschutzes haben die G.-V. ihre lebhafte Förderung und Unterstützung angedeihen lassen, und die im Jahre 1890 erlassenen Gesetze über diese Einrichtungen sind wesentlich auf ihren Einfluß zurückzuführen. Dagegen hat neuerdings die Frage des gesetzlichen Maximalarbeitstages eine Meinungsverschiedenheit wachgerufen, die mit der grundsätzlichen Stellung der G.-V. zu der Frage der Selbsthülfe oder Staatshülfe zusammenhängt. Das vorläufige Ergebnis der in dieser Hinsicht geführten langwierigen Verhandlungen ist eine beim Reichstage eingereichte Resolution, nach welcher die Regelung der Arbeitszeit erwachsener Männer bei vollem Koalitionsrechte in erster Linie Sache der Berufsvereine, womöglich mit Hülfe von Einigungsämtern, ist, daneben aber ein beruflich-sanitärer Maximalarbeitstag für solche Gewerbe, in welchen durch übermäßige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, von Reichswegen eingeführt werden soll. Auf diesem Standpunkte steht bekanntlich auch das Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1890.

[191]

Auch bei der durch die Frage des Acht-Uhr-Ladenschlusses für Kaufgeschäfte herbeigeführten Beratung trat der Gegensatz der Anschauungen hervor. Während ein von dem Generalrate der Kaufleute gestellter Antrag forderte, daß man sich einfach auf den Boden des Vorschlages der Kommission für Arbeiterstatistik stellen sollte, wollte der Anwalt freilich dem Grundsatze der gesetzlichen Feststellung der Ladenschlußzeit zustimmen, dagegen die Tageszeit der Bestimmung „auf dem Wege der örtlichen Selbstverwaltung unter Mitwirkung der beteiligten Prinzipale und Gehülfen“ vorbehalten. Nach heftigen Erörterungen siegte jedoch in der Sitzung des Zentralrates vom 21. Mai 1896 die entschiedenere Richtung mit 15 gegen 12 Stimmen.

Einen Einblick in die Thätigkeit des Verbandes und der Gewerkvereine überhaupt gewähren die Verhandlungen des vom 30. Mai bis 6. Juni 1898 in Magdeburg abgehaltenen 13. Verbandstages. Von den 42 vertretungsberechtigten Vereinen waren 40 erschienen und wurden von dem Oberbürgermeister im Namen der Stadt begrüßt. Der Oberpräsident v. Bötticher, Freiherr v. Berlepsch, Dr. v. Rottenburg, Dr. Bödiker und viele andere bekannte Staatsmänner, ebenso wie das Parlamentarische Komitee der trade unions sowie Thomas Burt, der Vorsitzende der Bergarbeiter und Georg Barnes, Generalsekretär der Maschinenbauer, hatten Glückwünsche gesandt, der Vertreter der Ungarischen Arbeiterschutzvereine Soltan Czikora war persönlich anwesend und der Vertreter des Zentralrates der Belgischen Liberalen Arbeiterpartei Professor Wilmotte war nur durch plötzlich eingetretene persönliche Gründe an der Teilnahme gehindert.

Aus dem von dem Anwalte erstatteten Berichte ist folgendes hervorzuheben: Der Verband hat sich in der vorangegangenen dreijährigen Periode in erster Linie mit der Versicherungsfrage beschäftigt, insbesondere mit der dem Reichstage vorgelegten Novelle zu dem Unfallversicherungsgesetze. In einer Massenpetition mit 40000 Unterschriften forderte man Beseitigung der Wartezeit von 13 Wochen, für die heute die Krankenkassen eintreten müssen, bessere Unfallverhütungsvorschriften, Beschleunigung des Rentenfeststellungsverfahrens und Aufrechterhaltung des vollen Rekursrechtes an das Reichsversicherungsamt. Hinsichtlich der auf Schaffung einer Arbeitslosenversicherung seitens des Reiches oder der Gemeinden abzielenden Pläne hat der Verband seinen Standpunkt, dieses Gebiet den Arbeitervereinen zu erhalten, nachdrücklich vertreten und in einer am 25. Januar 1897 in Berlin abgehaltenen Gewerkvereinsversammlung die Zwangsversicherung auf das schärfste verurteilt. Umgekehrt ist der Verband in einer Petition am 2. November 1896 nachdrücklich für erhöhten staatlichen Arbeiterschutz eingetreten und hat insbesondere eine Erhebung über den Zusammenhang der Betriebsunfälle und Betriebskrankheiten mit der Länge der[192] Arbeitszeit unter Berücksichtigung des Alters und Geschlechtes, sowie den Erlaß weiterer Schutzvorschriften nach § 120 e Absatz 3 der Gewerbeordnung (Regelung der Arbeitszeit in gesundheitsschädlichen Betrieben), insbesondere für Verkaufsstellen und in der Konfektionshausindustrie, ferner Verbesserung der Gewerbeaufsicht, insbesondere Verbot der Verbindung derselben mit der Dampfkesselrevision und endlich Ausdehnung des Schutzes jugendlicher Arbeiter von 16 auf 18 Jahre und die Herabsetzung des Maximalarbeitstages der Frauen von 11 auf 10 Stunden gefordert. Ein von dem Anwalte ausgearbeiteter Plan wegen Schaffung eines besonderen Reichsarbeitsamtes ist dem Reichstage noch nicht vorgelegt. Für die durch Bundesratsbeschluß vom 4. März 1896 angeordnete Beschränkung der Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien ist der Verband nachdrücklich eingetreten; ebenso hat er sich den Bestrebungen auf gesetzliche Einführung des Acht-Uhr-Ladenschlusses und für Errichtung kaufmännischer Schiedsgerichte angeschlossen. Eine an den Reichstag gerichtete Petition wegen Kürzung der Arbeitszeiten und Einführung der wöchentlichen Lohnzahlung, sowie Vorkehr gegen Arbeitslosigkeit in den staatlichen Betrieben ist von diesem dem Reichskanzler überwiesen. Als dieser durch Beschluß vom 17. Dezember 1896 die beantragten Maßnahmen als teils unnötig, teils unausführbar ablehnte, hat der Zentralrat im Januar 1897 eine vom Anwalte ausgearbeitete Denkschrift eingereicht, in der er die geltend gemachten Bedenken zu widerlegen sucht, auf die aber eine Antwort nicht erfolgt ist. Der G.-V. der Maschinenbauer und Metallarbeiter ist auf Grund einer am 26. März 1897 abgehaltenen großen Eisenbahnarbeiterversammlung noch besonders unter Hinweis auf die immer mehr sich häufenden Eisenbahnunfälle für Verkürzung der Arbeitszeit und Erhöhung der Löhne im Eisenbahnbetriebe eingetreten, doch wurde von der Eisenbahndirektion Berlin ihren Arbeitern der Besuch der Versammlung verboten. Im Interesse der endlichen gesetzlichen Regelung der Berufsvereine beschloß der Zentralrat bei dem Reichskanzler durch eine Deputation seine Wünsche vorzutragen. In der dieser Deputation am 12. Februar 1896 gewährten Audienz trat deutlich hervor, daß die Regierung diese Bestrebungen wesentlich aus dem Grunde bekämpfte, weil sie daraus eine Stärkung der Sozialdemokratie befürchtete, wogegen die Deputation vergeblich geltend machte, daß gerade umgekehrt die Beförderung praktischer Reformbestrebungen die utopischen und staatsfeindlichen Anschauungen lahm legen werde. Der frühere Handelsminister Frhr. v. Berlepsch, der am 28. November 1895 einer gleichen Deputation eine Audienz bewilligte, hatte eine wesentlich mehr entgegenkommende Erklärung abgegeben, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß gerade diese Stellung gegenüber der Frage der Berufsvereine in Verbindung mit der Einführung des Maximalarbeitstages in Bäckereien der unmittelbare Anlaß für seinen Rücktritt wurde. Als das berühmte[193] Rundschreiben des Grafen Posadowsky vom 11. Dezember 1897 bekannt wurde, welches die Beseitigung des bisherigen Koalitionsrechtes befürchten ließ, veranstaltete der Zentralrat auf den 7. Februar 1898 in Berlin eine große Protestversammlung, der mehrere andere in der Provinz sich anschlossen. Eine besondere Fürsorge hat der Verband von je her der Errichtung von Schiedsgerichten und Einigungsämtern gewidmet und so auch in den letzten Jahren in verschiedenen Städten darauf hingewirkt, solche ins Leben zu rufen. Bei den Gewerbegerichtswahlen hat der Verband sich eifrig beteiligt und ist hierbei auch zuweilen mit den Sozialdemokraten Hand in Hand gegangen. Der Verband ist dem Verein für Sozialpolitik beigetreten und hat sich auf dessen letzter Generalversammlung in Köln, wo Freiherr v. Berlepsch das berühmte Hoch auf den vierten Stand ausbrachte, an den Verhandlungen über die Handwerkerfrage und das Koalitionsrecht mit Erfolg beteiligt. Auch für die Bestrebungen der internationalen Friedensgesellschaften sind einzelne Vereine eingetreten. Zu den ausländischen Arbeiterberufsvereinen, insbesondere in England, Belgien, Holland und Ungarn hat der Verband Beziehungen angeknüpft. An dem internationalen Arbeiter- und Gewerkschaftskongresse in London (Juli 1896) hat der Verband nicht teilgenommen, weil er ein Uebergewicht der Sozialdemokratie befürchtete. Zu dem bald darauf folgenden Kongresse der englischen trade unions in Edinburg, auf dem der Vertreter der sozialistischen Gewerkschaften v. Elm den Verband in unangemessener Weise angriff[69], hatte er eine Einladung nicht erhalten. Man geht mit dem Gedanken um, in Gemeinschaft mit den trade unions einen internationalen Kongreß auf rein gewerkschaftlicher Grundlage einzuberufen. Selbst das Bedenken, bei solchen Gelegenheiten mit den Sozialdemokraten zusammen arbeiten zu müssen, hat sich, seit dem ruhigen Verlaufe und der gemäßigten Haltung des im August 1897 in Zürich abgehaltenen internationalen Arbeiterschutzkongresses, auf dem der Verband aus dieser Rücksicht nicht vertreten war, vermindert, so daß der Bericht des Anwaltes eine Mitwirkung des Verbandes bei solchen Unternehmungen für die Zukunft ins Auge faßt. Die Agitation für Ausbreitung des Verbandes ist nachdrücklich in die Hand genommen; Agitationsvorträge wurden gehalten 1889–91 200 mit 7000 Mk. Kosten, 1892–94 250 mit 9000 Mk. Kosten und 1895–97 311 mit 9400 Mk. Kosten. An Flugblättern wurden 255000, an Broschüren 90000 Stück vertrieben. Auf der Berliner Gewerbeausstellung im Sommer 1896 hatte der Verband eine übersichtliche Darstellung seiner bisherigen Entwicklung und Thätigkeit ausgelegt. Der Erfolg zeigte sich u. a. in der Gründung von sechs Ortsvereinen der Kellner, die auf diese Weise zuerst in[194] die Organisation einbezogen wurden. Auch unter die Arbeiterinnen hat man die Agitation getragen und insbesondere während der Konfektionsarbeiterinnenbewegung mehrere Versammlungen abgehalten, deren Ergebnis darin bestand, daß in Berlin, Stolp und Stettin Ortsvereine der Arbeiterinnen in Anschluß an den G.-V. der Schneider gegründet wurden. Streiks sucht man möglichst durch friedliche Verständigung zu vermeiden, doch ist der Verband nicht allein für den Ausstand der englischen Maschinenbauer eingetreten und hat Sammlungen unter den Mitgliedern veranstaltet, die einen Ertrag von 34292 Mk. ergaben, sondern hat auch für die Hamburger Hafenarbeiter seine Sympathie erklärt, nachdem die Unternehmer die Einleitung von Ausgleichsverhandlungen abgelehnt hatten.

Zu dem Thätigkeitsberichte des Anwaltes wurde folgender Antrag angenommen:

Der 13. ordentliche Verbandstag der Deutschen Gewerkvereine protestiert gegen jede irgendwie geartete Beeinträchtigung des Koalitionsrechts als ungerecht und gemeinschädlich, fordert vielmehr als unentbehrliches Mittel zur Abwehr von Druck und Elend und zur Herbeiführung besserer materieller, geistiger und sittlicher Zustände für die Arbeitermassen die vollste Koalitions- und Vereinigungsfreiheit und die Rechtsfähigkeit der Arbeiterberufsvereine durch lediglich gerichtliche Eintragung.

Der zweite Gegenstand der Verhandlungen war die Zoll- und Handelspolitik. Nach ausführlichen Vorträgen des Prof. Lotz und des Redakteurs Goldschmidt, in denen darauf hingewiesen wurde, daß die Arbeiter nicht nur als Konsumenten, sondern auch als an dem Gedeihen der Industrie beteiligte Personen ein Interesse an der Zoll- und Handelspolitik hätten, wurde beschlossen, die Handelsvertragspolitik ohne Erhöhung der Getreidezölle aufrecht zu halten und auszubauen, auch das Bedauern darüber ausgesprochen, daß die Eingabe des Zentralrates an den Reichskanzler wegen Zuziehung von Arbeitervertretern zu der Vorbereitung neuer Handelsverträge keinen Erfolg gehabt habe.

Ein fernerer Vortrag des Verbandsabgeordneten Mauch behandelte die Arbeitslosenunterstützung und insbesondere die Frage, von wem dieselbe in die Hand zu nehmen sei. Das Ergebnis der Beratungen wurde niedergelegt in folgenden Sätzen:

1. Unterstützungseinrichtungen gegen Arbeitslosigkeit zu treffen, gebietet das private wie das öffentliche Interesse. Die Lösung dieser Aufgabe steht aus den einfachsten und faßlichsten Gründen in erster Linie den gewerblichen Berufsvereinen zu; sie erfüllt einen ihrer wesentlichsten und wichtigsten Zwecke.

[195]

2. Die Selbstversicherung in den Berufsvereinen fördert und kräftigt die persönliche und wirtschaftliche Moralität des Arbeiters, indem sie ihn zur Selbstverantwortlichkeit und Selbsthülfe erzieht. Sie bietet durch die Selbstverwaltung Sicherheiten gegen sträfliche Ausbeutung durch Arbeitsscheu wie gegen Parteilichkeit und Zurücksetzung aus Gründen, die mit den gewerblichen und moralischen Eigenschaften des Arbeiters nichts gemein haben.

3. Die Notwendigkeit staatlicher und kommunaler Einrichtungen zur Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist so lange zu verneinen, bis nicht durch die Erfahrungen erwiesen ist, daß die gewerblichen Berufsvereine zur befriedigenden Lösung dieser ihrer Aufgabe unfähig und unvermögend sind.

4. Zur wirksamen Durchführung dieser Aufgabe bedürfen die Arbeiterberufsvereine öffentlich-rechtlicher Grundlagen, die sowohl die Ansprüche der Mitglieder sicherstellen, als auch die Vereine vor willkürlichen Eingriffen der Aufsichtsbehörden schützen.

5. Die Arbeitsvermittelung bildet eine notwendige Ergänzung der organisierten Arbeitslosenunterstützung; sie wird sich am fruchtbarsten und erfolgreichsten in gewerblicher und sozialer Beziehung erweisen auf dem Boden der Freiwilligkeit in Gemeinschaft mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinen oder -verbänden. In dieser Form verdient sie die erste Stelle. Staatliche oder kommunale Arbeitsnachweise, die als Ersatz oder als Ergänzung der ersten Form eingerichtet werden, erfüllen nur dann ihren Zweck als Wohlfahrtseinrichtungen, wenn in ihrer Verwaltung den Arbeitnehmern wie den Arbeitgebern ein ausreichendes Mitbestimmungsrecht eingeräumt wird.

Der vierte Gegenstand der Verhandlungen war der Vortrag des Verbandsabgeordneten Pioch über die Berufsorganisation der Arbeiterinnen und der jugendlichen Arbeiter. Der Referent forderte möglichste Beseitigung der Fabrikarbeit für verheiratete Frauen durch Erhöhung des Verdienstes der Männer, Beschränkung der Arbeitszeit für weibliche und jugendliche Arbeiter und Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren und empfahl als Mittel die Berufsorganisation. Die Versammlung stellte sich auf denselben Standpunkt durch Annahme folgender Sätze:

„Zur wirksamsten Lösung der Frage gewerblicher Frauenarbeit muß gesucht werden, die Lage der männlichen Arbeiter mit allen gesetzlichen Mitteln und durch Vereinigungen auf dem Boden der Selbsthülfe zu bessern.

Der Beruf der Frau ist am wichtigsten und segensreichsten in der Familie. Solange jedoch die wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse einen bedeutenden Teil der weiblichen Bevölkerung für ihre Existenz zur Lohnarbeit nötigen, bedürfen diese Arbeiterinnen im besonderen Grade des gesetzlichen Schutzes sowohl in der Fabrik- als auch in der Hausindustrie.

[196]

Die Arbeitszeit der erwachsenen Arbeiterinnen ist allmählich auf acht Stunden herabzusetzen, die Arbeitszeit jugendlicher weiblicher Arbeiterinnen entsprechend niedriger. Die Altersgrenze jugendlicher weiblicher Arbeiterinnen ist auf 18 Jahre zu erhöhen. Eine weitere Beschränkung aller Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeiter in gesundheitsschädlichen Betrieben ist anzustreben.

Die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren ist unbedingt nötig und diese sind aus den mit dem Arbeiterleben bekannten Kreisen zu wählen.

Die Entlohnung der weiblichen Arbeitskraft muß bei gleichen Leistungen der der männlichen Arbeiter gleichkommen. Die Forderung der Erhöhung der Löhne der Arbeiterinnen von ihrem jetzigen tiefen und zum Lebensunterhalt unzureichenden Stande ist zugleich ein Hauptmittel zur Besserung der Löhne männlicher Arbeiter.

Die Berufsorganisation der Arbeiterinnen ist das wichtigste Mittel zur Besserung ihres Loses. Die deutschen Gewerkvereine haben die Pflicht, so viel wie möglich weibliche Mitglieder zu erwerben. Die Arbeiterinnen müssen ihr Interesse diesen bewährten Organisationen zuwenden, um dadurch im Kampfe um ihre Existenz gestärkt zu werden.

Den Arbeitsverhältnissen jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen ist volle Aufmerksamkeit zuzuwenden; ebenfalls müssen diese Personen frühzeitig in die deutschen Gewerkvereine aufgenommen und durch allgemeine und gewerbliche Fortbildung zu tüchtigen Mitgliedern geschaffen werden, um so durch Nachwuchs jugendlicher Kräfte der Organisation die weiteste Verbreitung zu geben.“

Weiter gelangte folgender Zusatzantrag des Verbandsanwalts einstimmig zur Annahme:

„Der Verbandstag beschließt, bei den gesetzgebenden Körperschaften um gründliche Umgestaltung der Gesindeordnung gemäß den wesentlichen Grundsätzen der Gewerbeordnung zu petitionieren. Mit der Ausarbeitung dieser Petition wird der Zentralrat betraut.“

Den letzten Hauptgegenstand der Tagesordnung bildete das Referat des Anwalts Dr. Max Hirsch über die Frage: „Wie stellen sich die deutschen Gewerkvereine zu den Arbeitseinstellungen?

Der Redner tadelte die häufigen unüberlegten und zu wenig vorbereiteten Streiks und empfahl zu ihrer Verhütung obligatorische Einführung von Schiedsgerichten und Einigungsämtern, die außerdem das Recht haben müßten, auch ohne Anrufen der Beteiligten bei drohenden oder schon ausgebrochenen Streiks Einigungsversuche zu machen. Das Ergebnis der Beratungen war der folgende Beschluß:

[197]

1. „Eine Petition bei dem neuen Reichstag um Abänderung des Gewerbegerichtsgesetzes einzureichen in der Richtung, daß die Gewerbegerichte für alle Orte und Bezirke mit entwickeltem Gewerbebetrieb obligatorisch eingeführt und verpflichtet werden, auch ohne Anrufung der Parteien bei jeder größeren Arbeitsdifferenz Einigungsversuche zu machen.

2. Den Gewerk- und Ortsvereinen dringend zu empfehlen, daß sie bezüglich aller Arbeitsdifferenzen gemäß unseren altbewährten Grundsätzen und Statuten einen festen, selbständigen Kurs einhalten, darin gipfelnd, daß die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse thatkräftig und ausdauernd erstrebt, hierzu aber unter allen Umständen zuerst der Weg der Verständigung und Einigung beschritten und erst bei Erfolglosigkeit aller friedlichen Versuche und bei Vorhandensein günstiger Aussichten und genügender Mittel in den Ausstand getreten wird. In dieser Weise hat unsere Organisation auch bei der Beteiligung von anders oder nicht organisierten Arbeitern zu handeln und sich niemals willenlos mitreißen zu lassen. Dem Generalrat ist sofort bei jeder auftauchenden Differenz wahrheitsgemäße und genaue Mitteilung zu machen und dessen Rat oder Anweisung einzuholen und streng zu befolgen. Die betreffenden Ortsvereins- und Ortsverbandssekretäre werden dringend aufgefordert, auch dem Gewerkvereins- und dem Verbandsorgan von Arbeitsstreitigkeiten Nachricht zu geben.

Hinsichtlich der Unterstützung von Streiks anderer Organisationen wurde noch ausdrücklich beschlossen, dieselbe davon abhängig zu machen, daß die beteiligten Ortsvereine bei den Verhandlungen zur Mitwirkung zugezogen seien.

Die übrigen Beratungsgegenstände waren von geringerer Bedeutung. Der Antrag, daß auch nicht dem Verbande angehörige Organisationen im Streikfalle aus Verbandsmitteln unterstützt werden dürften, wurde ebenso abgelehnt, wie ein Zwang zum Eintritt in die Ortsverbände und die Vergrößerung des Verbandsorgans. Es wurde beschlossen, den Ortsverbänden gemeinschaftliche Arbeitsnachweise zur Pflicht zu machen, dagegen die Kosten des Rechtsschutzes von ihnen auf die Gewerkvereine zu übertragen. Die Zahlung von Pension an die Gewerkvereinsbeamten wurde prinzipiell beschlossen, die Ausführung aber späteren Beschlüssen vorbehalten. Die Beschickung wirtschaftlich-sozialer Kongresse soll in Zukunft stattfinden, dagegen wurde, wie schon erwähnt, die Beseitigung des bei der Aufnahme eines neuen Mitgliedes zu erfordernden Reverses wegen der Nichtzugehörigkeit zur Sozialdemokratie mit allen gegen drei Stimmen abgelehnt.

Der äußere Umfang des Verbandes ist mehrfachen Schwankungen unterworfen gewesen.

[198]

Gewaltig war bei dem ersten Auftauchen des Gedankens der Zulauf und die Begeisterung, sodaß Ende 1869, also nach etwa einjährigem Bestehen, die Leitung auf 258 Ortsvereine mit rund 30000 Mitgliedern, gegliedert in 13 Gewerkvereine und 9 selbständige Ortsvereine, herabblicken konnte. Aber die Bewegung wurde in ihrer Blüte gebrochen durch den unglücklichen Waldenburger Streik, der am 1. Dezember 1869 von 7000 Bergarbeitern infolge des von den Grubenbesitzern an sie gestellten Verlangens, aus dem G.-V. auszutreten, begonnen wurde, aber nach 8 Wochen mit einer völligen Niederlage endigte. Der Zentralrat hatte es an Bemühungen, zunächst durch Vermittelung bei den Bergwerksbesitzern und nachher durch Abmahnungen bei den Arbeitern, den von Anfang an aussichtslosen Streik zu vermeiden, nicht fehlen lassen, auch nach Ausbruch desselben nach Kräften Gelder für die Ausständigen gesammelt, aber er konnte es nicht hindern, daß man den unglücklichen Ausgang den G.-V. zur Last legte, daß man von seiten der Arbeiter das Zutrauen zu ihnen verlor und von seiten der Unternehmer sie als Beförderer von Streiks anklagte. Auch der französische Krieg wirkte ungünstig ein, und so war denn am Ende desselben die Mitgliederzahl von 30000 auf etwa 6000 zurückgegangen. Ende 1872 war man jedoch schon wieder zu 279 Ortsvereinen mit 19000 Mitgliedern und Ende 1874 zu 357 Ortsvereinen mit 22000 Mitgliedern emporgestiegen. Aber mit dem wirtschaftlichen Rückgange der folgenden Jahre trat auch für die G.-V. wieder eine Abwärtsbewegung ein, so daß Ende 1878 freilich die Ortsvereine auf 365 gestiegen, die Mitgliederzahl aber auf 16500 herabgegangen war. Ein Aufschwung wurde dann erst wieder durch die Krankenversicherungsgesetzgebung begründet, indem durch dieselbe der Zulauf zu den Hülfskassen der G.-V. und dadurch auch zu diesen selbst wesentlich gesteigert wurde, so daß Ende 1885 953 Ortsvereine mit 51000 Mitgliedern bestanden, die sich Ende 1891 auf 1350 Ortsvereine mit 63000 Mitgliedern vermehrt hatten. Der Austritt des G.-V. der Porzellanarbeiter, der am 1. Januar 1893 in das sozialdemokratische Lager abschwenkte, brachte dann einen Verlust von 4000 Mitgliedern, so daß Ende 1891 nur 1315 Ortsvereine mit 58000 Mitgliedern vorhanden waren. Seitdem hat eine regelmäßige und wachsende Ausdehnung stattgefunden. Allerdings ist 1895 der 554 Mitglieder zählende G.-V. der Berg- und Grubenarbeiter wegen Hinneigung zur Sozialdemokratie aus dem Verbande ausgeschlossen, doch ist dafür der 1894 gegründete G.-V. der deutschen Bergarbeiter beigetreten. Ende 1894 hatte der Verband 1436 Ortsvereine mit 67000 Mitgliedern, Ende 1897 1633 Ortsvereine mit 80000 Mitgliedern und am 30. März 1898 1673 Ortsvereine mit 81150 Mitgliedern. Am 31. Dezember 1898 betrug die Mitgliederzahl 82755. Der Kassenabschluß für den 1. April 1899 ergiebt einen Mitgliederbestand von 84419.

[199]

Die Verteilung auf die einzelnen Gewerbe ergiebt sich aus folgender Tabelle:

  Ende1872 Ende1879 31. 12. 31. 12. 31. 12. 31. 12. 31. 12. 31. 12. 31. 12.
1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898
Maschinenbauer u. Metallarb. 4468 3749 12129 24163 27836 27000 28127 30837 32938
Fabrik- u. Handarbeiter 3543 2423   9908 10080 11339 11833 13284 15006 15415
Tischler und verwandte Berufe 2019 2879   4795   4393   4733   4880   5423   6010   6152
Schuhmacher und Lederarbeiter   306   666   3845   3670   3900   4200   4620   5300   5690
Textilarbeiter und verw. Berufe 1571 1129   3403   3002   2788   2899   3022   3330   3434
Schneider   438   457   2415   2595   3060   3000   3010   3350   3360
Bauhandwerker 2521 1642   1709   2090   2226   1629   1624   2300   1985
Graphische Berufe, Maler und verwandte Berufe   289 1058   1486   1612   1655   1918   1944   1900   1951
Zigarren- und Tabakarbeiter   102   125   1212   1121   1145   1230   1344   1408   1462
Töpfer   266     43     890     843     916   1021   1139   1324   1487
Berg- und Grubenarbeiter   239     727     554     455     182     210     257
Schiffszimmerer u. verw. Berufe   633   240     170     173     163     173     181     193     190
Klempner und Metallarbeiter   180   2508   2346   2472   2667   3103   3134   3225
Bildhauer und verw. Berufe     28     234     194     221     243     299     387     376
Kaufleute     13   1831   3951   3820   3620   4085   4298   4382
Konditoren und verw. Berufe     484     313     263     305     356     254     247
Selbständige Ortsvereine[70]   41       54       54       66     141     124     312     204
(Siehe Tabelle auf Seite 200).

Die Gesamteinnahme für die Jahre 1869 bis 1895 belief sich auf 20500000 Mk., die Gesamtausgabe auf 18500000 Mk., so daß ein Vermögen von zwei Millionen Mark verblieb. Von den Ausgaben entfielen 11000000 Mk. auf Kranken- und Begräbnisgelder, 1750000 Mk. auf Invalidenunterstützung, 2850000 Mk. auf Rechtsschutz, Bildungszwecke, Reise-, Notstands- und Arbeitslosenunterstützung.

Das Verbandsvermögen belief sich am 1. April 1899 auf 54977 Mk. 04 Pf. neben einem Bestande der Organkasse von 8322 Mk. 76 Pf. Das Gesamtvermögen der Vereine mit Ausschluß der Kranken- und Begräbniskassen betrug Ende 1895 741257 Mk., d. h. mehr als 11 Mk. auf den Kopf.

Neben dem Verbandsorgan, dem „Gewerkverein“, der 1899 im 31. Jahrgange erscheint, haben noch sechs Gewerkvereine ihre besonderen Fachblätter. Die Gesamtauflage beträgt 74800. Außerdem besteht noch eine zur Benutzung durch die Tagespresse bestimmte „Gewerkvereinskorrespondenz“, die nach einem Beschlusse des Zentralrates vom 2. Juli 1896 künftig mindestens einmal monatlich erscheinen und allen sich dafür interessierenden Blättern unentgeltlich zugesandt werden soll.

[200]

Ueber die Leistungen der Vereine giebt für die sechs Jahre 1892–1897 folgende Tabelle eine Uebersicht.

Gewerkvereine Jahr Reise- und Wanderunterstützung Uebersiedelungsbeihülfe Arbeitslosenunterstützung Beiträge arbeitsloser Mitglieder Unterstützung in besonderen Notfällen Gesamtsumme der Unterstützungen in Mark
Zahl der unterstützten Mitglieder Betrag in Mark Zahl der unterstützten Mitglieder Betrag in Mark Zahl der unterstützten Mitglieder Betrag in Mark Zahl der unterstützten Mitglieder Betrag in Mark Zahl der unterstützten Mitglieder Betrag in Mark 1892–94 1895–97
Maschinenbau- u. Metallarbeiter 1892/94 6296 24371   651 14959 1894   65453 4392 7340   382   4765 116888 113544
1895/97 6751 27558   954 22121 1412   53914 3074 4142   449   5809
Fabrik- u. Handarbeiter 1892/94     67     859   689   10659   247   3818   15336   23195
1895/97   210   2650   799   13559   458   6986
Tischler u. verwandte Berufe 1892/94   183   3421   605   12483       4       7   183   3545   19456   30798
1895/97   469   2493   115   3518 1053   20696   479   920   175   3171
Schuhmacher u. Lederarbeiter 1892/94   394   2459   119   1592   215     4825   202   554     73   1123   10553   20273
1895/97   403   2761   145   2260   569   12334   645 1378     96   1540
Kaufleute 1892/94   215   14498   165   921     26     745   16164   29146
1895/97   424   26039   354 1643     39   1464
Schneider u. verwandte Berufe 1892/94   273   1167     20     333     57     1054       9     41     81   1960     4555     7606
1895/97   257   1403     37     605   150     3557     20     94     86   1947
Textilarbeiter u. verwandte Berufe 1892/94     60     554     42     405     73     1233     16       58   199   2059     4369     6909
1895/97     58     297     61     852   186     3594       2       3   208   2223
Klempner u. Metallarbeiter 1892/94   257   1069     22     523     68     1260   274   596     96   1433     4881     8970
1895/97   383   2132     60   1721   115     3632   204   445     94   2240
Graphische Berufe, Maler u. verwandte Berufe 1892/94     64   1292       9       72       8       198     51   202     35     451     1215     2670
1895/97     75     457     10     137   122     1633     19     45     31     398
Bauhandwerker 1892/94       6       58       5       68       1         10     28     377       513     1290
1895/97       9       81     12     172     17       504     44     533
Zigarren- u. Tabakarbeiter 1892/94     39     205     23     315     45     1264     20     57     39     527     2308     2292
1895/97     45     258     24     264       844     27     55     67     871
Töpfer u. Ziegler 1892/94     17       54     17     221     25       189     12     205       669     1292
1895/97     61     222     20     189     25       499       1       8     24     374
Konditoren u. verw. Berufe 1892/94     49     249     16     177     21       290       5       70       786       713
1895/97    27     142       2       64     22       430       1       1       5       76
Bildhauer u. verw. Berufe 1892/94     17       80       4       79     31       461       1       20       649       948
1895/97     33     186       2       32     40       703       2       27
Schiffszimmerer u. verw. Berufe 1892/94       4       27       4     10       2       30         67       143
1895/97      3       21       1         34       5       8       6       80
Berg- u. Grubenarbeiter 1892/94       4       108     25     352       490       132
1895/97       6       8     12     124
Selbständige Ortsvereine 1892/94         195
1895/97       4       166       6       29
Insgesamt 1892/94 7476 31594 1178 23084 3914 113985 5137 9786 1434 21480 198929 250176
1895/97 8583 38011 1652 34585 4938 141138 4835 8750 1802 27692

[201]

3. Die sozialistischen Gewerkschaften[71].
A. Der v. Schweitzer'sche Gewerkschaftsbund.

Der von v. Schweitzer auf dem 26. September 1868 berufene und unter seinem Vorsitze tagende Kongreß war von 206 Abgeordneten aus allen Teilen Deutschlands besucht, die 142008 Arbeiter aus 110 Orten vertraten. Nach der gewaltsamen Entfernung der Hirsch'schen Anhänger gelang es v. Schweitzer ohne Mühe, in den viertägigen Verhandlungen, seine vorher bis in alle Einzelheiten ausgearbeiteten Pläne zur Annahme zu bringen. Jede Gewerkschaft sollte durch ganz Deutschland eine geschlossene Einheit bilden. Aus den Vorständen der einzelnen Gewerkschaften wurde eine Zentralleitung unter dem Namen „Deutscher Gewerkschaftsbund“ gebildet, dessen Sitz in Berlin war und dessen Präsidium aus v. Schweitzer, Fritzsche und einer dritten unbekannten Person bestand. v. Schweitzer beabsichtigte die Einteilung der Gewerkschaften, die auf dem Grundsatze der Branchenorganisation beruhten, in 32 Berufsgruppen, die sogenannten „Arbeiterschaften“, die etwa den späteren „Industrieverbänden“ entsprechen. Von solchen Arbeiterschaften wurden auf dem Kongresse sofort 10 gebildet, nämlich: die Berg- und Hüttenarbeiter, die Metallarbeiter, die Färber, die Weber und Manufakturarbeiter, die Schuhmacher, die Bäcker, die Buchbinder, die Schneider, die Holzarbeiter und die Maurer.

Aber diesem günstigen Anfange entsprach nicht der weitere Verlauf, und insbesondere v. Schweitzer selbst grub schon nach einem Jahr seinem soeben geschaffenen Werke das Grab, indem die erste Delegiertenversammlung des „deutschen Gewerkschaftsbundes“, die Ende 1869 in Anschluß an die in Kassel abgehaltene Generalversammlung des von Lassalle gegründeten „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ tagte, auf Antrag v. Schweitzer's die Auflösung aller bestehenden Gewerkschaften und den Uebertritt ihrer sämtlichen Mitglieder in einen gleichzeitig ins Leben zu rufenden „Allgemeinen deutschen Arbeiterunterstützungsverband“ mit dem Sitze in Berlin[202] beschloß. Dieser Verband sollte mit dem „Allgemeinen deutschen Arbeitervereine“ in engster Verbindung bleiben, indem nicht allein zwischen den Präsidenten eine Personalunion bestehen sollte, sondern auch die Mitgliedschaft des Unterstützungsverbandes von der Anerkennung der Grundsätze des Arbeitervereins abhängig gemacht war.

Welche Gründe v. Schweitzer hierzu bestimmt haben, ist schwer zu beurteilen. Möglicherweise fürchtete er aus der nahe liegenden Konkurrenz beider Organisationen eine Zersplitterung und war von der alleinseligmachenden Kraft der politischen Sozialdemokratie so überzeugt, daß er sie nicht durch eine selbständige Gewerkschaftsbewegung lahm legen wollte, vielleicht aber war es auch ein aus seiner eigenartigen Natur zu erklärender blasierter Ueberdruß an dem selbstgeschaffenen Unternehmen, der ihn ja auch bald bestimmte, von seiner ganzen politischen Thätigkeit zurückzutreten. Jedenfalls war durch die Gründung des Unterstützungsverbandes, in dem alle Arbeiter ohne Rücksicht auf die Berufsgliederung und die durch diese bedingten besonderen Beziehungen und Interessen Aufnahme fanden, das allein lebenskräftige Prinzip der gewerkschaftlichen Organisation verlassen.

Dem entsprach auch der äußere Verlauf der Entwicklung. Während, wie erwähnt am 26. September 1869 in Berlin 142000 Arbeiter vertreten gewesen waren, während in Kassel immerhin noch 35232 Mitglieder gezählt wurden, war diese Zahl bereits auf der im folgenden Jahre 1870 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung auf 20657 und bei einer am 25. Mai 1871 vorgenommenen Zählung auf 4257 herabgegangen. Als man in den folgenden Jahren seitens der Polizei energisch gegen alle sozialdemokratischen Vereinigungen vorging, benutzte Hasenclever, der Nachfolger v. Schweitzer's im Arbeitervereine und im Unterstützungsverbande, dies als Vorwand, um den nicht mehr lebensfähigen Verband durch einen Erlaß vom 8. September 1874 formell aufzulösen. Allerdings hatten sich nicht alle Gewerkschaften dem in Kassel gefaßten Beschlusse gefügt, und es bestanden deshalb einige derselben auch noch ferner weiter, aber zu irgend welcher Bedeutung vermochten sie nicht zu gelangen.

B. Die internationalen Gewerksgenossenschaften.

Auch die Marxisten hatten die große praktische Bedeutung der Gewerkschaften erkannt, aber sie gerieten, als die konsequenteren, noch mehr als die Lassalleaner in Konflikt mit ihrer Grundauffassung von der Unmöglichkeit, unter der Herrschaft der bestehenden Wirtschaftsordnung zu befriedigenden Zuständen zu gelangen, während doch die Gewerkschaften sich grundsätzlich auf den Boden dieser Ordnung stellen. So fand man denn schließlich eine Vermittelung[203] in dem Standpunkte, daß die Gewerkschaften freilich das Los der Arbeiterklasse nicht eigentlich zu bessern vermöchten, aber doch weiteren Verschlechterungen vorzubeugen im Stande sein und vor allem Schulen bildeten, in denen es möglich sei, die Arbeiter zum Verständnisse ihrer Lage zu bringen und für die politischen Aufgaben vorzubereiten. Eine konsequentere Richtung freilich sprach es offen aus, daß die Gewerkschaftsbewegung keinen weiteren Zweck haben könne, als gewissermaßen experimentell die Unmöglichkeit zu beweisen, im Rahmen der bestehenden Ordnung zu befriedigenden Zuständen zu gelangen und so die Arbeiterschaft von der Notwendigkeit einer Umgestaltung der heutigen Verhältnisse zu überzeugen.

Eine weitere Verschiedenheit beider Richtungen bestand darin, daß die Lassalleaner sich im nationalen Rahmen hielten, während die Marxisten die internationale Regelung als die allein mögliche ansahen. Anstatt nun aber den Ausgangspunkt von nationalen Verbänden zu nehmen und deren internationale Zusammenfassung als letzten Abschluß der Zukunft vorzubehalten, ging man umgekehrt davon aus, daß vor allem die an der Abgrenzung der Völker klebende rückständige Auffassung durchbrochen werden müsse und deshalb die internationale Organisation die Grundlage der nationalen zu bilden habe. Uebrigens war das Ziel, das man anstrebte, das gleiche, wie es Schweitzer verfolgte, nämlich nicht berufsmäßig abgegrenzte Vereinigungen, von denen man vielmehr annahm, daß sie als auf falschem „Kastengeist“ beruhend, dem Solidaritätsgedanken Abbruch thun würden, sondern allgemeine Arbeiterverbände, die sich von den politischen nur durch ihr zunächst in Angriff genommenes Arbeitsgebiet unterschieden. Endlich hielt man die gewerkschaftlichen Vereinigungen überhaupt, da sie auf dem Boden des Lohnsystems standen, nicht für in erster Linie wertvoll, sondern richtete vielmehr die Agitation zunächst auf Produktivgenossenschaften, die den Arbeiter in die Lage bringen sollten, sich der Herrschaft des Kapitals und des Unternehmertums zu entziehen und deshalb geeignet schienen, einen Uebergang zu der künftigen sozialistischen Wirtschaftsordnung herzustellen.

Demgemäß beschloß der erste von der „Internationalen Arbeiterassoziation“ in London einberufene Kongreß, der vom 3. bis 9. September 1866 in Genf tagte, auf Vorschlag des Generalrates, daß die Thätigkeit der „Gewerkvereine“, die sich mit den Fragen des Lohnes und der Arbeitszeit zu beschäftigen hätten, als notwendig anzuerkennen sei, solange die heutige Wirtschaftsform bestehe, daß sie aber bisher zu ausschließlich den unmittelbaren Kampf gegen das Kapital vor Augen gehabt und ihre eigene Macht der Thätigkeit gegen das heutige Produktionssystem noch nicht vollkommen verstanden hätten, daß sie vielmehr Schwerpunkte der Organisation für die Arbeiterklasse zu bilden und ihre Thätigkeit[204] durch die Verbindung der Vereine in allen Ländern zu verallgemeinern hätten. „Die Errichtung und Förderung von Gewerkvereinen soll daher“ — so heißt es dann wörtlich — „die Hauptaufgabe des Arbeiterstandes für die Gegenwart und die nächste Zukunft bleiben; abgesehen davon, daß sie den Uebergriffen des Kapitals entgegenwirken, müssen sie lernen, in bewußter Weise als Brennpunkt der Organisation der Arbeiterklasse zu handeln im Interesse ihrer vollständigen Emanzipation.“

Die Arbeitseinstellungen beschloß man, obgleich von einigen Seiten ihr Nutzen völlig bestritten wurde, „als notwendiges Hülfsmittel im Kampfe zwischen Kapital und Arbeit“ anzuerkennen, doch sei ihr Hauptwerk zu sehen „in der Gewöhnung der Arbeiter an gemeinsame Aktion und in der zuweilen im Anschluß an Streiks erfolgenden Gründung von Produktivgenossenschaften“.

Auf dem dritten Kongresse in Brüssel, der vom 6. bis 13. September 1868 tagte, wurden diese Beschlüsse bestätigt, die allgemeine Gründung von Streikkassen empfohlen und alle Mitglieder der internationalen Arbeiterassoziation zum Eintritte in die „Gewerksgenossenschaften“, wie man sie jetzt nannte, aufgefordert. Auch der 1869 in Basel abgehaltene Kongreß beauftragte den Generalrat, „die internationale Verbindung der Gewerksgenossenschaften aller Länder zu ermitteln“.

In Deutschland hatte die Marx'sche Richtung der Sozialdemokratie zuerst Fuß gefaßt, als der auf den 5. September 1868 nach Nürnberg berufene fünfte Vereinstag deutscher Arbeitervereine, die bis dahin im Fahrwasser der Fortschrittspartei gesegelt waren, auf Antrag von Liebknecht den Beschluß gefaßt hatte, „das Programm der internationalen Arbeiterassoziation zu dem seinigen zu machen.“ Zugleich wurde unter Ablehnung eines Antrags Sonnemann, der sich für staatliche Altersversorgungs- und Lebensversicherungskassen aussprach, beschlossen, „den Mitgliedern des Verbandes und speziell dem Vororte aufzugeben, für Vereinigungen der Arbeiter in zentralisierten Genossenschaften thatkräftig zu wirken.“

Auch der konstituierende Kongreß der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach (7. bis 9. August 1869) stellte sich auf den gleichen Standpunkt, fand aber eine Schwierigkeit darin vor, daß das gewerkschaftliche Interesse bereits überwiegend durch die lassalleanischen Gründungen in Anspruch genommen war. So wurde denn auf Antrag von Bebel und York beschlossen: „Die sozialdemokratische Arbeiterpartei betrachtet es als eine Pflicht jedes Parteigenossen, auf eine Einigung der Gewerkschaften mit allen Mitteln hinzuwirken, hält aber als Bedingung fest, daß die Gewerkschaften sich von dem Arbeiterschaftspräsidium des Herrn von Schweitzer lossagen. Zugleich empfiehlt der Kongreß die weitere Bildung von Gewerksgenossenschaften auf internationaler Grundlage.“

[205]

Diese Bestrebungen waren nicht ohne Erfolg. Nicht allein erhielt die Marx'sche über die Lassalle'sche Richtung überhaupt bald das Uebergewicht, sondern dazu kam noch, daß von Schweitzer durch seine diktatorische Haltung sich viele Feinde gemacht hatte. Außerdem knüpfte der Ausdruck „Gewerksgenossenschaft“ an die gerade von Lassalle in den Vordergrund seines Programms gestellten Produktivassoziationen an, und endlich gab der internationale Karakter einen gewissen Nimbus, als ob dadurch eine außerordentliche Macht gewährt wäre. So gelang denn vielfach die Verschmelzung der von beiden Richtungen begründeten Verbände.

C. Die York'sche Gewerkschaftsunion.

Von besonderem Interesse sind die Bestrebungen des bereits erwähnten York, eines Tischlers in Harburg, der es als seine Lebensaufgabe ansah, die gewerkschaftliche Entwickelung auf eine höhere Stufe zu heben. Er sah den Grund des bisherigen Mißerfolges einerseits in der zu großen Zersplitterung der Gewerksgenossenschaften und andererseits in der Abhängigkeit derselben von der politischen Partei. Er forderte deshalb eine Trennung von der letzteren und eine selbständige wirtschaftliche Arbeiterbewegung, zugleich aber auch die Verbindung aller Fachverbände zu einer „Gewerkschaftsunion“. Die Aufgabe derselben sollte vor allem sein die einheitliche Regelung der Lohnkämpfe, ferner der Austausch der gemachten Erfahrungen und gemeinsame statistische Erhebungen, planmäßige Agitation und gemeinsame Wanderunterstützung. Die Union sollte unter einem leitenden Ausschusse stehen, alljährliche Unionskongresse abhalten und ein gemeinsames Preßorgan, „Die Union“, haben. Es gelang York, einen Gewerkschaftskongreß[72] zur Beratung seines Programms zusammenzuberufen, der vom 15. bis 17. Juni 1872 in Erfurt tagte und von 51 Abgeordneten mit 65 Mandaten als Vertretern von 11358 Arbeitern besucht war. Welche Grundanschauungen York verfolgte, tritt am deutlichsten hervor in folgender von ihm beantragten Resolution: „In Erwägung, daß die Kapitalmacht alle Arbeiter, gleichviel ob sie konservativ, fortschrittlich, liberal oder Sozialdemokraten sind, gleich sehr bedrückt und ausbeutet, erklärt der Kongreß es für die heiligste Pflicht der Arbeiter, allen Parteihader beiseite zu setzen, um auf dem neutralen Boden einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation die Verbindung eines erfolgreichen kräftigen Widerstandes zu schaffen, die bedrohte Existenz sicher zu stellen und eine Verbesserung ihrer Klassenlage zu erkämpfen. Insbesondere aber haben die verschiedenen Fraktionen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei die Gewerkschaftsbewegung nach Kräften zu fördern und spricht der Kongreß sein[206] Bedauern darüber aus, daß die Generalversammlung des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins einen gegenteiligen Beschluß gefaßt hat.“

Aber obgleich der Kongreß diese Resolution annahm, so wurden doch die York'schen Vorschläge wesentlich abgeschwächt, indem sich gegen die geplante Zentralisation der Widerstand der bestehenden Gewerkschaften geltend machte. Nachdem ein, allerdings von York nicht unterstützter Antrag, die Vororte der bestehenden Vereine als Exekutivausschüsse und Kassenverwaltungen ganz zu beseitigen und so die Vereine in der Union aufzulösen, abgelehnt und es statt dessen jedem Vereine überlassen war, ob er dies thun wolle, wurde auch die Schaffung eines selbständigen Organes verworfen und beschlossen, ein solches unter dem Namen „Die Union“ als Beiblatt dem „Volksstaat“ beizulegen. Immerhin wurde die Gründung der „Union“ als eines Zentralverbandes aller Gewerkschaften, sowie eine Unionssteuer von wöchentlich 8 Pfennig einstimmig beschlossen, ein Zentralausschuß mit dem Sitze in Leipzig gewählt und zur Beratung eines Unionsstatutes eine Kommission eingesetzt. Diese hat jedoch die übertragenen Aufgaben unerledigt gelassen. Auch der zweite von York zu Pfingsten 1874 nach Magdeburg berufene Kongreß scheiterte an dem Widerstande der einzelnen Gewerkschaftsvorstände gegen die ihnen zugemutete Aufgabe ihres Selbstbestimmungsrechtes. Der am 1. Januar 1875 erfolgte Tod Yorks hatte den baldigen völligen Verfall seiner Schöpfung zur Folge, und damit war der Plan der Gründung unpolitischer, von allen Parteien unabhängiger Gewerkschaften, der vielleicht geeignet gewesen wäre, der sozialen Entwickelung Deutschlands eine ganz andere Richtung zu geben, für Jahrzehnte gescheitert. Allerdings verfolgte man den Plan, alle Gewerkschaften zu einem einheitlichen Verbande zusammenzufassen, in den nächsten Jahren noch weiter und hatte bereits zu Pfingsten 1876 einen allgemeinen Gewerkschaftskongreß nach Magdeburg berufen, doch wurde er unter dem Eindrucke des Hödel'schen Attentates von der Polizei verboten.

D. Die Vereinigung der Lassalleaner und Marxisten.

Die auf dem Gothaer Kongresse vollzogene Vereinigung der Lassalleaner und Marxisten zu einer einheitlichen „sozialistischen Arbeiterpartei“ bot den Anlaß, jetzt auch die Bestrebungen auf Verschmelzung der beiderseitigen gewerkschaftlichen Organisationen von neuem aufzugreifen. Dies wurde dadurch erleichtert, daß auch die Marxisten im Hinblick auf ihre recht geringen praktischen Erfolge den Gedanken einer internationalen Ausgestaltung des Gewerkschaftswesens als ein noch für lange Zeit unausführbares Ziel aufgegeben hatten. So trat denn im Anschluß an den Parteikongreß in Gotha am 28. und 29. Mai 1875 eine von beiden Richtungen beschickte Gewerkschaftskonferenz[207] zusammen, die sich dahin einigte, den bestehenden Vereinen desselben Gewerbes den Zusammenschluß zur Pflicht zu machen. Zur Vorbereitung eines allgemeinen Gewerkschaftskongresses wurde eine Kommission von 5 Personen mit dem Sitze in Berlin eingesetzt, mit der die Vorstände der einzelnen Organisationen in Verbindung treten sollten; die Konferenz erklärte ferner: „Es ist Pflicht der Gewerksgenossen, aus den Gewerkschaftsorganisationen die Politik fern zu halten, dagegen sich der sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands anzuschließen, weil nur diese die politische und wirtschaftliche Stellung der Arbeiter in vollem Maße zu einer menschenwürdigen zu machen vermag.“ Die bestehenden 13 Gewerkschaftsblätter zu einer einzigen zu verschmelzen, hielt man für unthunlich, dagegen sollten die verwandten Berufe sich in dieser Hinsicht zusammenthun. Auch die gemeinsame Wanderunterstützung erklärte man für die erste Aufgabe, die erledigt werden müsse.

E. Die lokalen Fachvereine.

Während die bisher behandelten Bestrebungen sämtlich auf dem Grundsatze der Zentralisation beruhten, indem man davon ausging, daß nur durch Zusammenschluß wenn nicht der gesamten Arbeiterschaft, so doch wenigstens aller Arbeiter eines bestimmten Gewerbes ein Erfolg zu erzielen sei, hatten sich in der Stille, ohne daß man ihre Entstehung im einzelnen verfolgen kann, in den größeren Städten örtliche Vereine von Fachgenossen gebildet, die sich deshalb die Bezeichnung „Fachverein“ beilegten, und die, im Gegensatz zu den zentralisierten Gewerkschaften, die Beschränkung auf einen bestimmten Ort als Grundsatz aufstellten. Daß diese Bewegung von den großen Städten ausging, erklärt sich sehr einfach, war doch die Organisation der Arbeiterschaft in diesen erheblich weiter fortgeschritten, so daß von den seitens einer über ein größeres Gebiet erstreckten Gewerkschaft gesammelten Geldern das Meiste für die Betreibung der Organisation an den kleineren Orten verwendet werden mußte, und deshalb, vom Standpunkte des Egoismus betrachtet, die Arbeiterschaft der Großstädte nicht mit Unrecht den Vorwurf gegen die Gewerkschaften erhob, daß sie für die Arbeiterschaft der kleinen Orte die Last zu tragen habe. Dazu kam, daß man sich durch die Abhängigkeit von den auswärts befindlichen Gewerkschaftsorganen an freier Bewegung und rascher Ausnutzung augenblicklicher Vorteile gehindert fühlte.

Aber auch abgesehen von diesen egoistischen Beweggründen hatten die Lokalorganisationen zweifellos gewisse Vorzüge. In erster Linie fiel bei ihnen die Schwierigkeit fort, daß sie sich nicht mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen durften, da dies nur in Frage kam, wenn mehrere Vereine miteinander in Verbindung traten. Dadurch aber, daß man politische Fragen in den Versammlungen[208] behandeln durfte, erhielten diese mehr Reiz und Anziehungskraft und gestatteten die Verwendung im Sinne der sozialdemokratischen Agitation.

Dazu kommt, daß nicht allein die Opferwilligkeit für die dem Gebenden aus unmittelbarer Nähe bekannten Aufgaben und Personen größer zu sein pflegt, als für entfernte Kreise, und daß die Kontrolle und überhaupt die Verwaltung sich erheblich vereinfachte. Machten die Anhänger der Zentralorganisation geltend, daß nur sie die wichtige Aufgabe der Wanderunterstützung zu erfüllen im stande seien, so wiesen dem gegenüber die Vertreter der lokalen Vereine darauf hin, daß gerade durch die Wanderunterstützung der Zuzug aus der Provinz in die großen Städte erleichtert und so den Arbeitern der letzteren eine schwere Konkurrenz geschaffen werde.

F. Die Wirkung des Sozialistengesetzes.

Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21. Oktober 1878 war, wie der Titel sagt, nicht bestimmt zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie als solche, sondern gegen ihre „auf Umsturz gerichtete“ Thätigkeit in Vereinen, Versammlungen und der Presse, noch weniger aber gegen die ganze Arbeiterbewegung und die aus derselben entspringenden Interessenvertretungen. Machte dieser Grundgedanke in der Fassung des Gesetzes einen noch so unklaren und der Auslegung der Behörden weiten Spielraum lassenden Ausdruck gefunden haben, so kann man doch von einer loyalen Handhabung, die bei der Beratung des Gesetzes im Reichstage feierlich angelobt war, nicht mehr sprechen, wenn die Anwendung der gegen die gedachten staatsumstürzenden Bestrebungen gegebenen Machtmittel sich richtete gegen Bestrebungen, die, wie die gewerkschaftlichen, sich grundsätzlich auf den Boden der bestehenden Staats- und Wirtschaftsordnung stellten. Zweifellos giebt es für jene staatsumstürzende Richtung, die allein auf dem Boden der Auffassung erwachsen kann, daß die bestehende Ordnung in ihrer Grundlage verfehlt und zu irgend welcher Besserung unfähig sei, keinen gefährlicheren Feind, als Bestrebungen, die auf dem Boden eben dieser selben Ordnung eine solche Besserung herbeizuführen und so den schlagendsten Beweis für die Verkehrtheit jenes radikalen Ausgangspunktes zu liefern suchen. Wir werden uns mit dem Verhältnisse der Gewerkschaftsbewegung zur Sozialdemokratie an anderer Stelle[73] eingehender zu beschäftigen haben und werden dort den Satz begründen: die Gewerkschaftsbewegung ist der Todfeind der Sozialdemokratie. Daß also die zum Kampfe gegen die letztere verpflichteten Behörden die erstere nicht, wie es natürlich gewesen wäre, mit allen Mitteln unterstützten, war ein Beweis eines[209] unglaublich geringen Verständnisses auf sozialpolitischem Gebiete, wie es uns allerdings bei dem dem realen Leben abgewandten Bureaukratismus nicht wunder nehmen kann; daß man aber zwischen beiden einen Unterschied gar nicht anerkannte, sondern alles, was auf Vertretung der Arbeiterinteressen abzielte, mit den Waffen des Gesetzes bekämpfte, läßt sich in der That nur so erklären, wie es ein sehr vorsichtiger Beurteiler[74] thut mit den Worten: „Ist von staatlichen Organen doch nur zu oft dann gerade in eine Bewegung einer Berufsvereinigung störend eingegriffen worden, wo innerhalb der letzteren eine die spezifisch gewerkschaftlichen Aufgaben ernst nehmende Richtung allgemach die Oberhand über die große Zahl derer gewonnen hatte, denen die Gewerkschaftsbewegung nur als Mittel zur Verfolgung politischer Ziele gilt.“ ... „Ohne tieferes Verständnis für die den Berufsorganisationen bei der Weiterbildung unserer sozialen Verhältnisse zugefallene Rolle waren manche Polizei- sowie andere Staatsbehörden bisher geneigt, das Interesse der besitzenden Klasse und insbesondere dasjenige der Arbeitgeber ohne weiteres mit dem der Gesamtheit zu identifizieren und gegen die Fachvereinigungen der Arbeiter jedes nur irgend angängige gesetzliche Hinderungsmittel in Anwendung zu bringen.“

Die Ausbreitung und die Leistungen der Gewerkschaften zur Zeit des Erlasses des Sozialistengesetzes sind am besten zu ersehen aus der im Jahre 1877 von dem Hamburger Buchhändler Geib auf privatem Wege aufgenommen und in Nr. 4 des „Pionier“ vom 26. Januar 1878 veröffentlichten, neuerdings in dem „Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ Nr. 30 von 1893 wieder abgedruckten Statistik. Nach dieser gab es damals 25 Gewerkschaften, welche zusammen mit 5 Lokalorganisationen 49055 Mitglieder in 1266 Ortsgruppen umfaßten; 18 derselben mit 22145 Personen zahlten einen Monatsbeitrag bis zu 40 Pf., nur 8 derselben erhoben 60 Pf. oder darüber. Nach einer anderen Quelle[75] zählten die Gewerkschaften damals 58000 Mitglieder in 29 Verbänden und 1300 Zweigvereinen mit 15 Gewerkschaftsblättern. Ueber die Ausbreitung der lokalen Fachvereine fehlen alle Angaben, doch geht ihre nicht geringe Bedeutung daraus hervor, daß auf dem von York einberufenen Erfurter Gewerkschaftskongresse von den insgesamt vertretenen 11358 Mitgliedern der Marx'schen Organisationen 6152 den internationalen Gewerksgenossenschaften, dagegen 3768 lokalen Fachvereinen und 1438 freien Vereinigungen angehörten.

Von den in der Geib'schen Statistik aufgezählten 25 Verbänden sind bis zum Ende des Jahres 1878 nicht weniger als 16 der Auflösung zum Opfer gefallen. Die meisten der übrigen lösten sich, um dem zu entgehen, freiwillig auf. Auch[210] die lokalen Fachvereine hatten größtenteils dasselbe Schicksal. Die ganze Arbeiterbewegung, die politische wie die gewerkschaftliche, schien zunächst vom Erdboden verschwunden. Daß man selbst Verbände, wie die der Buchdrucker, die in ausgesprochenem Gegensatze zu der Sozialdemokratie standen, nicht verschonte[76], zeigte deutlich den Karakter des obrigkeitlichen Schreckensregimentes.

G. Wiederaufleben der gewerkschaftlichen Bewegung.

Lag es zunächst wie ein Bann auf der ganzen Arbeiterschaft, so suchten doch die Führer möglichst eine Fühlung der Genossen aufrecht zu erhalten und benutzten hierzu in erster Linie die Gründung von Fachblättern, die sich anfangs ängstlich von jeder Berührung mit allgemeinen oder gar politischen Angelegenheiten fern hielten, deren Unterstützung aber trotzdem gerade mit dem Hinweise den Arbeitern ans Herz gelegt wurde, daß sie den einzigen zunächst möglichen Weg darstellten, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern. Solche Organe entstanden schon fast unmittelbar nach der auf Grund des Sozialistengesetzes erfolgten Unterdrückung der früheren Gewerkschaftsblätter und politischen Zeitungen. So wurde schon 1878 das „Schuhmacherfachblatt“, 1879 die „Neue Tischlerzeitung“, der „Schiffbauerbote“ und das Organ der Tabakarbeiter „Der Gewerkschafter“ begründet. Bald bot die von der Regierung ins Leben gerufene soziale Versicherungsgesetzgebung Stoff zur Besprechung, und insbesondere die zugelassene Bildung freier Hülfskassen gab Anlaß, den ablehnenden Standpunkt der Arbeiterschaft gegen die staatliche Bevormundung zum Ausdrucke zu bringen. Hatte man doch die Bekämpfung der Umsturzbestrebungen so weit ausgedehnt, daß selbst die im Jahre 1876 auf Grund des Hülfskassengesetzes errichtete „Zentral-, Kranken- und Sterbekasse“ verboten war, um der Arbeiterklasse das Gefühl völliger Recht- und Schutzlosigkeit mit voller Klarheit zum Bewußtsein zu bringen.

Auch einzelne Vereinigungen, die lediglich die Fachinteressen der Beteiligten vertreten wollten, wagten sich unter dem Namen von „Fachvereinen“ ans Licht, obgleich sie es möglichst vermieden, an die Oeffentlichkeit zu treten und vielmehr ihre Thätigkeit im wesentlichen darauf beschränkten, arbeitslos gewordene Mitglieder durch Wanderbeihülfen zu unterstützen, Krankenkassen, Herbergen und Arbeitsnachweise zu errichten und ein Fachblatt herauszugeben.

Uebrigens war doch auch die durch die Botschaft vom 17. November 1881 eingeleitete Sozialpolitik, genau besehen, bereits eine Abweichung von derjenigen des Sozialistengesetzes. Allerdings beschränkte sie die Aufgabe des Staates auf eine möglichst bureaukratische Staatshülfe und trat den Versuchen der Arbeiter,[Pg 211] aus eigner Kraft für sich zu sorgen, rücksichtslos entgegen. Aber immerhin war doch die Parole ausgegeben, die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen und daß ein Anspruch der letzteren auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher zu teil geworden, in den Aufgaben eines auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens stehenden Staates begründet sei. So bedauerlich es war, daß dieses Entgegenkommen der staatlichen Gewalt von den Arbeitern schroff zurückgewiesen wurde, indem man darin nur den Versuch sah, die selbständige Stellung ihrer Klasse noch weiter herabzudrücken, so gab doch diese Haltung zugleich den unbefangen Denkenden Anlaß zur Prüfung der Frage, ob nicht in der That eine Hebung der Arbeiterklasse ohne deren eigene Beteiligung ein verfehltes Unternehmen sein müsse.

Diesen Erwägungen und insbesondere dem Wunsche, das Mißtrauen der Arbeiter zu bekämpfen und zwischen ihm und dem Königtume eine Brücke zu schlagen, entsprang die von Stöcker, A. Wagner, Henrici u. a. im Jahre 1880 eingeleitete sog. Berliner Bewegung, die sich stützte auf die Gründung einer eigenen christlich-sozialen Partei. An maßgebender Stelle stand man zunächst dieser Bewegung nicht unsympathisch gegenüber, und da sie nur auf dem Wege der Vereinsbildung und öffentlicher Versammlungen wirken konnte, so ging damit eine freiere Handhabung des Vereins- und Versammlungsrechtes Hand in Hand.

Eine besondere Stellung nahm hierbei ein der damals vielgenannte Vergolder Ewald, der im Anfang 1882 öffentlich mit dem Vorschlage hervortrat, die Berliner Arbeiter möchten doch durch eine an den Fürsten Bismarck zu entsendende Deputation oder eine an den Reichstag gerichtete Petition ihre Wünsche und Beschwerden in loyaler Weise zum Ausdruck bringen, einem Vorschlage, der auch in Regierungskreisen Beifall fand. In einer auf den 31. März 1882 einberufenen Versammlung, zu der die Vorstände der damals in Berlin bestehenden 18 Fachvereine eingeladen und in der 9 derselben vertreten waren, wurde zur Ausarbeitung des Petitionsentwurfes ein „Generalkomitee der Berliner Gewerkschaften“ eingesetzt, in das außer sieben Mitgliedern von Fachvereinen auch zwei christlich-soziale Vertreter gewählt wurden. Die Petition, über die man sich schließlich einigte, umfaßte die bekannten Arbeiterschutzforderungen bezüglich der Sonntags-, Frauen- und Kinderarbeit, Ueberwachung der Betriebe und Einführung eines gesetzlichen Maximalarbeitstages von neun Stunden. Aber wichtiger, als dieses formelle Ergebnis, war das durch diese Anregung und die zahlreichen Versammlungen in die gewerkschaftliche Bewegung hineingetragene neue Leben, dessen Bedeutung daraus ersichtlich ist, daß die[Pg 212] Zahl der Fachvereine am Schlusse des Jahres 1883 von 18 auf 50 gestiegen war. Die Polizei ging schließlich freilich gegen Ewald und das neugegründete Gewerkschaftskomitee mit Strafen und Schließung vor, doch wurde die letztere von den Gerichten nicht bestätigt.

Die hierdurch gegebene Anregung wirkte im übrigen Deutschland fort. Zunächst begannen solche Arbeiterklassen, die, wie die Buchdrucker, stets im Gegensatze zur Sozialdemokratie gestanden und trotzdem die Wucht des Sozialistengesetzes gefühlt hatten, eine neue Organisation ins Leben zu rufen. Dann folgten andere, die sich in dem Verhältnisse zur Sozialdemokratie einigermaßen neutral gehalten hatten, wie die Hutmacher und Bildhauer, bis dann mit dem auf dem Tischlerkongresse Weihnachten 1883 begründeten Zentralverbande der Tischler unter dem Vorsitze von Kloß eine Arbeiterschaft folgte, in der sozialdemokratische Anschauungen unzweifelhaft vertreten waren. Den Genannten folgten dann bis 1884 einschließlich nach: die Zimmerer, die Manufakturarbeiter, die Schneider, die Steinmetzen, die Schuhmacher und die Tabakarbeiter.

Als Aufgaben bezeichnete man in den Statuten: Arbeitslosenunterstützung, Reisegeld, unentgeltlichen Rechtsschutz, Stellenvermittelung und im allgemeinen Erringung günstigerer Arbeitsbedingungen auf gesetzlichem Wege. Am schwierigsten war die Stellung zu Streiks; einzelne Verbände beschränkten die Unterstützung auf Abwehrstreiks, andere schieden sie ganz aus oder überwiesen sie besonderen Organisationen.

Gerade die Lohnbewegung führte dann noch zu einer Form der Verbindung, die man nicht als eigentliche Organisation bezeichnen kann, die aber praktisch große Bedeutung gewann. Bei einer Arbeitseinstellung mußte es von äußerster Bedeutung sein, alle Berufsgenossen für dieselbe zu gewinnen. Dies war nur möglich durch allgemeine Versammlungen, in denen dann auch die betreffenden Streik- oder Kontrollkommissionen gewählt und die bindenden Beschlüsse gefaßt wurden. Obgleich die Aufgabe dieser Kommissionen zunächst auf einen einzelnen Streik beschränkt war, behielten sie häufig doch ihre Funktionen als eine allgemeine Leitung bei, indem sie nicht allein von Zeit zu Zeit je nach Bedürfnis Versammlungen einberiefen, sondern auch regelmäßige Sammlungen durch „Sammellisten“ und „Quittungsmarken“ in die Hand nahmen, ja häufig erhielten die Kommissionsmitglieder sogar gewisse Besoldungen, wogegen ihnen dauernde Aufgaben, wie die Kontrolle der Werkstätten, Errichtung von Arbeitsnachweisen, Ausarbeitung von Statistiken, übertragen wurden.

Eine ähnliche Stellung hatten die sog. Vertrauensmänner, die zuweilen für eine bestimmte einzelne Aufgabe bestellt wurden, zuweilen aber auch die vorbezeichnete Thätigkeit der Kommissionen übernahmen. Die eine oder[Pg 213] die andere Art dieser losen Organisation hat sich nach und nach in fast allen den Berufen entwickelt, in denen man zu festeren Formen nicht gelangte.

Nun haben offenbar beide Firmen der Organisation, die feste und die lose, ihre Vorteile, und es ist das Verdienst des vielgenannten Regierungsbaumeisters a. D. Keßler, daß er in einer Folge von Nummern des von ihm herausgegebenen „Bauhandwerkers“ (Februar und März 1887) einen umfassenden Plan entwickelte, der es ermöglichen sollte, beide miteinander zu kombinieren. Sein Grundgedanke ist der, daß es gewisse Angelegenheiten gebe, auf deren Beeinflussung nun einmal die Arbeiterschaft nicht verzichten könne, da sie ihre wichtigsten Lebensinteressen berührten, wie insbesondere die Aufklärung und Schulung der Mitglieder und die Beeinflussung der Gesetzgebung im arbeiterfreundlichen Sinn, daß aber diese Angelegenheiten unter den Begriff der politischen fielen, und da zu ihrer Besorgung feste Verbände unentbehrlich seien, so ergebe sich daraus die notwendige Folge, daß die Vereine auf Politik nicht verzichten könnten, dafür aber davon absehen müßten, miteinander in Verbindung zu treten. Andererseits ließen sich umgekehrt gewisse andere Aufgaben, insbesondere die Durchführung von Lohnbewegungen, nur erreichen durch gemeinsames Vorgehen der Gewerbsgenossen an verschiedenen Orten. Daraus ergebe sich, daß eine Teilung der Geschäfte nötig sei, indem neben die Vereine, die politischen Karakter haben müßten, öffentliche Generalversammlungen des ganzen Gewerbes träten, denen die Besorgung aller derjenigen Angelegenheiten anheimfalle, die einen breiteren Rahmen, als die Mitgliedschaft des Vereins, erforderten. Als Organe dieser Generalversammlungen sollen endlich Lohnkommissionen bestehen. Diese werden allerdings in der Rechtsprechung ebenfalls als Vereine betrachtet und dürfen deshalb sich nicht mit Politik beschäftigen, können aber für nicht-politische Zwecke miteinander in Verbindung treten.

So scharfsinnig der Gedanke ausgedacht war, so ist doch seine Ausführung gescheitert, wobei wohl die Abneigung der Vereinsleiter, sich einen wesentlichen Teil ihrer Befugnisse entziehen zu lassen, mitgewirkt haben mag, doch liegt auch ein berechtigtes Bedenken in dem Gesichtspunkte, daß der Plan die Bedeutung der festen Vereinsbildung stark zurücktreten läßt, während doch gerade in ihr der beste Weg gesehen werden muß, zu einer befriedigenden Gestaltung unserer sozialen Verhältnisse zu gelangen.

Für die Stellung der Verwaltungsbehörden gegenüber der gewerkschaftlichen Bewegung ist karakteristisch der sogen. Puttkamer'sche Streikerlaß vom 11. April 1886. In demselben wird zunächst die Unanfechtbarkeit des Koalitionsrechts und insbesondere der aus § 152 der Gewerbeordnung sich ergebenden Befugnis zur Arbeitseinstellung betont, dann[Pg 214] aber ausgeführt, daß sich dies nur auf solche Vereinigungen und Bestrebungen beziehe, bei denen die Erringung besserer Arbeitsbedingungen in der That das eigentliche und wahre Ziel sei, nicht aber auf solche, bei denen der Lohnkampf nicht Mittel zur Erringung eines an sich legitimen Erfolges, sondern Selbstzweck sei, indem es den Führern lediglich darauf ankomme, die nach ihren falschen Theoremen mit Naturnotwendigkeit aus der heutigen Form des Arbeitsverhältnisses sich ergebende Kluft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einer unüberbrückbaren zu erweitern, in den letzteren den Haß gegen die Gesamtheit unserer politischen und gesellschaftlichen Zustände anzufachen und zu unterhalten und so die Gemüter der ihren Verführungskünsten anheimgefallenen Arbeitermassen allmählich auf einen gewaltsamen Losbruch vorzubereiten. Arbeitseinstellungen, die unter diese Gesichtspunkte fielen, von welchen also anzunehmen sei, daß sie durch die sozialdemokratische Agitation vergiftet oder auch nur in ihrem weiteren Fortgange der Leitung derselben verfallen, hätten ihren wirtschaftlichen Karakter abgestreift und seien zu revolutionären Bestrebungen geworden, die unter das Gesetz vom 21. Oktober 1878 zu stellen seien.

Hiernach war also jeder Streik verboten, bei dessen Leitung sozialdemokratische Elemente beteiligt waren; es ist begreiflich, daß damit die Thätigkeit der Gewerkschaften völlig lahm gelegt war.

Einen anderen Angriffspunkt entnahm man aus der Versicherungsgesetzgebung, indem man die sämtlichen von den Gewerkschaften eingerichteten Kassen für Versicherungen erklärte und der für diese bestehenden staatlichen Aufsicht unterwarf. Die Gewerkschaften suchten sich dem dadurch zu entziehen, daß sie durch eine Aenderung der Statuten ausdrücklich den Mitgliedern jeden Rechtsanspruch entzogen und die Gewährung von Unterstützung in das freie Ermessen des Vorstandes stellten. Hierin sahen aber die Behörden eine einfache Umgehung des Gesetzes und hielten auch in solchen Fällen an dem Erfordernis der Genehmigung fest. Es liegt auf der Hand, daß dies dem Gesetze zuwiderläuft, da der Grund der staatlichen Ueberwachungspflicht lediglich in dem Zwecke beruht, die Versicherten bei dem durch die Versicherung übernommenen Risiko zu schützen, indem die Beurteilung der Sicherheit des Unternehmens und des angemessenen Verhältnisses zwischen Prämie und Versicherungssumme für das Verständnis der großen Masse zu schwierig ist. Dieser, und nicht der Gesichtspunkt der Gefährdung der Staatssicherheit ist der Grund des staatlichen Aufsichtsrechtes, das also nicht Platz greifen kann, wenn die Beteiligten auf irgend welches Recht ausdrücklich verzichten oder wenn auch nur die Gefahr einer Leistungsunfähigkeit der Kasse, wie es bei bloßen Unterstützungen der Fall ist, nicht eintreten kann.

[Pg 215]

In Preußen suchte man außerdem noch die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts II, Tit. 6, § 2–21 über die erlaubten Gesellschaften herbeizuziehen, indem man die Gewerkschaften unter diesen Begriff stellte und dann das über sie zugelassene staatliche Aufsichtsrecht in Anspruch nahm.

Endlich wurde kein Mittel unversucht gelassen, die verschiedenen Vereinsgesetze zur Bekämpfung aller gewerkschaftlichen Bestrebungen heranzuziehen, indem man nicht allein jede Thätigkeit von mehreren Menschen unter den Begriff des Vereins stellte, sondern zugleich den Begriff der politischen Angelegenheiten so weit ausdehnte, daß neben ihnen für gewerkschaftliche Aufgaben kaum noch irgend ein Raum blieb.

Erwiesen sich nun auch die Gerichte diesen Bestrebungen gegenüber teilweise ablehnend, so ist doch nicht zu verkennen, daß auch ihre Urteilssprüche durch die allgemeine Stimmung beeinflußt wurden, so daß Schmöle[77] das harte Urteil fällt, die Polizeibehörden und die Mehrheit der Gerichte hätten der Ansicht Vorschub geleistet, daß sie in ausschließlicher Parteinahme für die Interessen des Unternehmertums vor keiner Beugung des Rechtes zurückschreckten, sobald die Arbeiter die mindesten Anstalten träfen, sich einer weiteren Verkümmerung ihrer Lebenshaltung zu erwehren oder eine günstigere Gestaltung der Arbeitsverträge herbeizuführen. Diese Auffassung war um so begreiflicher, als niemals etwas davon verlautet hat, daß man die Vereinsgesetze auch einmal gegen Innungen, landwirtschaftliche und Fabrikanten-Vereine angewendet hätte, obgleich diese sehr häufig staatliche Maßnahmen in den Kreis ihrer Erörterungen zogen.

Ganz besonders unverständig war dabei die Bekämpfung des Kassenwesens der Arbeiter, denn es ist klar, daß gerade hier ein konservativer Zug liegt, der eine feste Verbindung mit der bestehenden Ordnung herstellt, wie denn umgekehrt die radikale Richtung innerhalb der Sozialdemokratie stets gerade gegen die „Kassensimpelei“ ihre schärfsten Angriffe gerichtet hat, indem sie behauptete, daß dadurch die Gewerkschaften übertrieben ängstlich und vorsichtig gemacht würden. Als ein Uebel konnten diese Kassen nur erscheinen von einem ganz engherzigen, egoistischen Unternehmerstandpunkte, der die durch sie ermöglichte Hebung der Lebenshaltung der Arbeiterklasse grundsätzlich verwirft, um in einer niedrig stehenden Masse jedes Widerstandes unfähige Sklaven zu haben. Das Vorgehen der staatlichen Behörden hätte also nur Sinn gehabt, wenn sie beabsichtigt hätten, sich auf diesen Standpunkt zu stellen. Da hiervon keine Rede sein kann, so bleibt nur die auch von Schmöle[78] gegebene Erklärung übrig, daß[Pg 216] unter der damaligen Zeitrichtung, die aber leider auch heute noch leider die weitaus überwiegende ist, die meisten Angehörigen der oberen Klassen mit einem unklaren Vorurteil auf alles herabsehen, was zu der Sozialdemokratie in irgend welcher Beziehung steht und außerdem von dem Unterschiede zwischen ihr und der Gewerkschaftsbewegung keine Spur eines Verständnisses haben.

Offenbar mußte die Auffassung der Arbeiterschaft, daß ihr gegenüber die staatlichen Behörden alle Mittel und Kniffe anwendeten, um sie zu schädigen, ungemein verbitternd wirken, und es ist das Zeichen eines fast unerklärlichen Vertrauens, wenn man dennoch stets an der bestehenden Rechtsordnung festhielt und es versuchte, sich ihr gegenüber so gut als möglich einzurichten.

H. Die neueste Entwicklung.

Nachdem durch Ablauf des Sozialistengesetzes die Bahn für eine kräftigere Entwickelung des Gewerkschaftswesens frei gemacht war, glaubte man vor allem auf die Schaffung einer einheitlichen Leitung und obersten Spitze bedacht sein zu sollen.

Man berief deshalb eine aus den Vertretern der einzelnen Vereinigungen bestehende Gewerkschaftskonferenz zusammen, die am 16. und 17. November 1890 in Berlin tagte und als provisorischen Zentralausschuß die Generalkommission einsetzte mit dem Auftrage, einen allgemeinen Gewerkschaftskongreß einzuberufen und eine Vorlage für die Organisation der deutschen Gewerkschaften auszuarbeiten. Daneben sollte die Kommission den bestehenden Organisationen ihre Hülfe gewähren, insbesondere alle Abwehrstreiks unterstützen und für die Agitation zur weiteren Verbreitung der Organisation Sorge tragen.

Die Generalkommission, welche aus sieben Mitgliedern besteht, hat ihren Sitz in Hamburg. Vorsitzender ist Reichstagsabgeordneter Legien. Sie hat ausweislich ihres für die Zeit vom 17. November 1890 bis 1. März 1892 erstatteten Berichtes sich zunächst mit einer Statistik der bestehenden Gewerkschaften beschäftigt, nach welcher im Jahre 1890 in Deutschland 53 Zentralvereine mit 3150 Zweigvereinen und 227733 Mitgliedern bestanden. Außerdem gab es fünf Organisationen nach dem Vertrauensmännersystem mit 73467 Mitgliedern, so daß einschließlich der lokalen Fachvereine die Gesamtzahl aller gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auf rund 350000 geschätzt wurde. Ein Versuch, eine gleiche Statistik über die vorgekommenen Streiks aufzustellen, ist an dem mangelnden Entgegenkommen der bestehenden Vereinigungen gescheitert. Dagegen hat die Kommission die ausgebrochenen Ausstände, soweit es sich um Abwehrstreiks handelt, unterstützt. Dieser Karakter wurde von 37 angemeldeten Streiks bei 31 anerkannt und für diese insgesamt 184396 Mk. ausgegeben. Nach dem Beschlusse der Berliner Konferenz sollten diese Auslagen[Pg 217] von sämtlichen Gewerkschaften nach dem Verhältnis ihrer Mitgliederzahl aufgebracht werden, da aber die Beiträge nicht in ausreichendem Maße eingingen, so sah sich die Kommission gezwungen, ein Anlehen von 106950 Mk. aufzunehmen, worüber sie nachher lebhafte Vorwürfe zu hören gehabt hat.

Da sich übrigens die Ansicht geltend machte, daß die Kommission in der Unterstützung von Ausständen zu freigebig sei, so wurden auf einer am 7. und 8. September 1891 in Halberstadt abgehaltenen Zusammenkunft von Gewerkschaftsvertretern hierfür bestimmte einschränkende Grundsätze aufgestellt.

Auch mit dem Auslande suchte die Kommission Verbindungen anzuknüpfen, insbesondere wurden zwei Mitglieder nach England geschickt, um von den dortigen Gewerkschaften Unterstützung für die ausgebrochenen Streiks zu erhalten. Der Erfolg war freilich nicht erheblich. Um für den genannten Zweck im voraus größere Mittel bereit zu halten, wurden Sammlungen für den sog. Maifonds ausgeschrieben, indem man zu diesem Zwecke am 1. Mai, dem durch den Pariser internationalen Arbeiterkongreß 1889 eingeführten allgemeinen Arbeiterfeiertage, gewisse Abzeichen verkaufte. Aber auch hier entsprach der Erfolg nicht den Erwartungen, und die eingegangenen Summen reichten nicht einmal aus, um das aufgenommene Darlehen vollständig zurückzuzahlen. Endlich schuf sich die Kommission in dem „Correspondenzblatte der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ ein eigenes Organ, welches nach Bedarf, regelmäßig aber wöchentlich in etwa 400 Exemplaren, an die Vertrauensleute der Gewerkschaften und die Redaktionen der Arbeiterzeitungen unentgeltlich versandt wird.

Um die endgültige Organisation zu schaffen, wurde dann der ersteKongreß deutscher Gewerkschaften“ einberufen, der vom 14. bis 18. März 1892 in Halberstadt tagte und als Beginn eines neuen Abschnittes in der Gewerkschaftsbewegung von der größten Bedeutung gewesen ist.

Der Schwerpunkt der Aufgabe bestand in der Schaffung einer einheitlichen Organisation, und zwar handelte es sich dabei um erheblich mehr als eine praktisch-formelle Frage, denn die Stellung zu den vorgeschlagenen Formen war wesentlich beeinflußt durch die prinzipielle Auffassung über Zweck und Wesen der Gewerkschaften. Nach den weitaus meisten deutschen Vereinsgesetzen ist es Vereinen, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere mit Politik im engeren Sinne befassen, verboten, mit anderen Vereinen gleicher Art in der Weise in Verbindung zu treten, daß sie unter einem gemeinsamen Organe vereinigt werden. Da nun eine solche Vereinigung für die rein gewerkschaftlichen Aufgaben, also die Vertretung der Arbeiterinteressen gegenüber den Unternehmern von dem höchsten Werte ist, so kann es für diejenigen Gewerkschaften,[Pg 218] die wirklich auf diesem Boden stehen, keinem Zweifel unterliegen, daß sie diesen Verhältnissen Rechnung tragen und zur Erreichung ihres Zweckes auf die politische Thätigkeit verzichten müssen. Anders müssen sich dagegen diejenigen Vereinigungen stellen, die umgekehrt die politischen Aufgaben als das Wesentliche ansehen und die Maske der Gewerkschaft nur vorgebunden haben, um sich dadurch leichter in den Arbeiterkreisen Eingang zu verschaffen.

Aber der Gegensatz greift noch tiefer, denn ob man die politische oder die gewerkschaftliche Seite der Arbeiterbewegung als die wichtigere ansehen soll, ist durchaus davon abhängig, ob man glaubt, mit den Mitteln der gewerkschaftlichen Thätigkeit eine wesentliche Besserung der Lage des Arbeiterstandes erreichen zu können, oder ob man der Ansicht ist, daß dies ausgeschlossen und ein Erfolg lediglich durch grundlegende Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse zu erzielen sei, m. a. W. ob man sich grundsätzlich auf den Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung stellt oder diesen verläßt. Wir werden diesen Gedankengang an anderer Stelle noch eingehender zu verfolgen haben, einstweilen wird das Gesagte ausreichen, um zu zeigen, daß der Streit um die Organisation zugleich die Stellungnahme der Gewerkschaften zu den Grundfragen der Arbeiterbewegung wiederspiegelt.

Auf dem Kongresse standen sich übrigens nicht 2 sondern 3 Gruppen und Systeme gegenüber, indem die Vertreter der zentralen Organisation in 2 Gruppen zerfielen, nämlich die Anhänger der Branchenorganisation und der Industrieverbände. Die letzteren wollten zur Grundlage der Organisation die Gliederung nicht nach Einzelberufen, sondern nach ganzen Industrien machen, so daß z. B. nicht die Tischler, Zimmerleute, Drechsler, Stellmacher u. s. w. je eine selbständige Vereinigung, sondern alle Arbeiter der Holzindustrie einen gemeinsamen Verband bilden sollten. Als Vorteil dieser Organisationsform, die bis dahin insbesondere unter den Metallarbeitern bestand, wurde die Kostenersparung geltend gemacht, indem es bei ihr insbesondere möglich sein würde, die jetzt bestehenden 58 Gewerkschaftsblätter auf 12 bis 15 zu beschränken. Von der Gegenseite wurde dem entgegengehalten, daß das Gefühl der Zusammengehörigkeit in den Berufs- oder Branchenorganisationen sich stärker entwickele, als in den Industrieverbänden, und daß die Rücksicht auf diese Auffassung der Verwischung der Grenze zwischen den einzelnen Berufen im Wege stehe, daß diese Verbände außerdem nicht im stande sein würden, den Verschiedenheiten der einzelnen Berufe, die sich z. B. darin zeigten, daß die wöchentlichen Beiträge der Mitglieder zwischen 7½ und 35 Pf. schwankten, ausreichend Rechnung zu tragen, und daß deshalb der Industrieverband vielleicht für eine spätere Zukunft, aber nicht für die Gegenwart die richtige Form sei. Die Anhänger der Industrieverbände konnten die Thatsache[Pg 219] des erwähnten engeren Zusammengehörigkeitsgefühls innerhalb der einzelnen Gewerbe nicht bestreiten, bekämpften sie aber als „Berufsdünkel“ und „Kastengeist“, den man ausrotten müsse und wollten ihm deshalb einen Einfluß auf die Form der Organisation nicht zugestehen.

Neben den genannten 3 Organisationsformen wurde endlich noch von einigen Seiten empfohlen, von der Bildung geschlossener Vereine überhaupt abzusehen und sich mit dem Vertrauensmännersystem zu begnügen, und auf den Vorzug desselben als Brücke zu den nicht organisierten Arbeitern hingewiesen, indem den letzteren Gelegenheit geboten sei, bei öffentlichen, für alle Arbeiter des betreffenden Gewerbes bestimmten Versammlungen sich an diesen zu beteiligen und so die Gedanken der Arbeiterbewegung allmählich in sich aufzunehmen, während Vereinsversammlungen sich auf die bereits zum Verständnis der Notwendigkeit einer Organisation gelangten Arbeiter beschränkten.

Aber die Vertreter dieser Anschauung vermochten gegenüber den offenbaren Vorteilen eines geregelten Vereinswesens nicht durchzudringen, so daß man es auf dem Kongresse im wesentlichen mit den Auseinandersetzungen zwischen den angeführten 3 Organisationsformen zu thun hatte, und zwar stand im Vordergrunde des Interesses der Gegensatz zwischen der lokalen und der zentralen Organisation, da es sich hier um die bereits bezeichnete prinzipielle Stellungnahme handelte. Diese bildete denn auch den roten Faden in den von beiden Seiten vorgebrachten Gründen. Die Vertreter der Lokalorganisation sprachen ganz offen aus, daß man die Arbeiter nicht zu der Anschauung bringen dürfe, als ob auf dem Boden der bestehenden Wirtschaftsordnung eine wesentliche Besserung zu erreichen wäre, daß die Möglichkeit des Erfolges und deshalb der Schwerpunkt der ganzen Arbeiterbewegung auf politischem Gebiete liege, daß die gewerkschaftliche Thätigkeit nur eine Vorschule bedeute und man deshalb, ohne das eigentliche Ziel zu verlieren, nicht auf die Beschäftigung mit der Politik verzichten könne, während ihnen von den Gegnern entgegengehalten wurde, daß der Grundgedanke der ganzen Gewerkschaftsbewegung darin bestehe, das auf dem Boden der bestehenden Verhältnisse Mögliche zu erreichen und sich von politischer Thätigkeit völlig fern zu halten.

Die Generalkommission hatte sich für die Zentralorganisation entschieden, und von Anfang an unterlag es keinem Zweifel, daß die Vertreter der Lokalorganisation sich in erheblicher Minderheit befanden, hatte doch die Berliner Gewerkschaftskonferenz sogar die Frage offen gelassen, ob man ihnen überhaupt die Teilnahme an dem Kongreß gestatten sollte. Diese wurde ihnen nun freilich durch Beschluß des Kongresses eingeräumt, aber eine Reihe von Vereinigungen hatte schon vorher durch Proteste ihre Teilnahme abgelehnt, und nachdem nach einer 4 Sitzungen ausfüllenden Verhandlung, in der man sich[Pg 220] recht scharfe Dinge gesagt hatte, die von den Vertretern der Lokalorganisation eingebrachte Resolution „mit bedeutender Mehrheit“, wie der offizielle Bericht sagt, abgelehnt war, verließen diese mit einer Protesterklärung den Kongreß.

So standen denn nur noch die Vertreter der Organisation nach Berufen (Branchen) und Industrieen sich gegenüber. Uebrigens wollten auch die ersteren einen weiteren Zusammenschluß der Berufsverbände zu sog. Unionen, und die Generalkommission, die den Standpunkt der Berufsorganisation vertrat, hatte einen Entwurf vorgelegt, nach welchem die verwandten Gewerkschaften zu solchen Unionen verbunden werden sollten. Zwischen ihnen und den Industrieverbänden bestand nur der Unterschied, daß die ersteren die einzelnen Mitglieder zunächst zu selbständigen Berufsgruppen vereinigen und erst diese Gruppen wiederum zu den Unionen zusammenfassen, während die Industrieverbände jene Zwischenstufe fallen lassen und die Mitglieder in einen unmittelbaren Zusammenschluß bringen würden. Die Union bedeutet allerdings eine feste Organisation, welche die Zentralverbände der verwandten Berufe zu einer höheren Einheit zusammenfaßt, aber diese läßt die Einzelverbände doch als solche mit einer relativen Selbständigkeit bestehen, während der Industrieverband dieselben auflöst und sich an deren Stelle setzt. Mitglieder der Union sind die Zentralverbände, Mitglied des Industrieverbandes sind die einzelnen Arbeiter. Die letztere Form des Zusammenschlusses ist deshalb die engere, sie schafft einerseits eine größere Kraftkonzentration, setzt aber andererseits auch eine höhere Stufe des Solidaritätsgefühls voraus und tritt dem „Kastengeiste und Berufsdünkel“, über den auf dem Kongreß allseitig geklagt wurde, am schärfsten entgegen.

Endlich wurde eine noch losere Verbindung der Berufsgruppen dahin vorgeschlagen, daß dieselben sich nicht zu Unionen, also festen Organisationen, vereinigen, sondern sich auf die Abschließung sog. Kartellverträge beschränken sollten, in denen lediglich für gewisse gemeinsame Zwecke Vereinbarungen der im übrigen in ihrer Selbständigkeit nicht beeinträchtigten Gewerkschaften getroffen würden.

Der Kongreß nahm mit 148 gegen 37 Stimmen eine von den Holzarbeitern vorgeschlagene Resolution an, welche insofern einen Mittelstandpunkt vertrat, als sie einerseits die völlige Vereinigung zu Industrieverbänden als letztes Ziel anerkennt und deren Bildung schon jetzt überall da empfiehlt, wo die Verhältnisse es zulassen, andererseits aber hinter die Unionen zurückgeht und sich auf bloße Kartellverträge beschränkt, indem „die Frage, ob die späteren Vereinigungen der Berufsorganisationen zu Unionen oder Industrieverbänden stattzufinden hat, der weiteren Entwickelung der Organisationen infolge der Kartellverträge überlassen wird“. Das Vertrauensmännersystem[Pg 221] soll nur da stattfinden, wo der zentralen Organisation gesetzliche Hindernisse im Wege stehen.

Die Generalkommission wurde als ständige Einrichtung beibehalten, deren Thätigkeit aber insofern eingeschränkt, als sie sich künftig mit der Unterstützung von Ausständen nicht mehr zu befassen haben soll, diese vielmehr zu einer Angelegenheit der einzelnen Zentralorganisationen erklärt ist, wobei lediglich eine gegenseitige Unterstützung auf Grund der Kartellverträge stattfinden soll. Der Grund für diese Aenderung bestand in der Befürchtung, daß die einzelnen Gewerkschaften in ungleicher Weise unterstützt werden möchten, je nachdem in der Generalkommission die Interessen derselben vertreten wären.

Um die letztere möglichst unabhängig zu stellen, wurde auch der von den Metallarbeitern gemachte Vorschlag, an ihre Stelle einen aus je einem Vertreter jeder Gewerkschaft bestehenden Gewerkschaftsrat mit einem von diesem zu bildenden Exekutivausschusse von 5 Mitgliedern zu setzen, abgelehnt und vielmehr beschlossen, daß die Generalkommission aus 7 Mitgliedern nebst 3 Ersatzmännern bestehen und auf dem jedesmaligen Gewerkschaftskongreß gewählt werden soll. Als Sitz wurde Hamburg beibehalten.

Die Aufgaben der Generalkommission bestehen

1. in der Betreibung der Agitation;
2. in der Führung einer einheitlichen Gewerkschaftsstatistik;
3. in der Streikstatistik;
4. in der Herausgabe eines Blattes, welches insbesondere die Verbindung sämtlicher Gewerkschaften unterhalten soll;
5. in der Anknüpfung und Unterhaltung internationaler Beziehungen.

Jede zentralisierte Gewerkschaft hat für jedes Mitglied vierteljährlich 5 Pf. an die Generalkommission abzuführen; der von der letzteren vorgeschlagene Satz von 10 Pf. wurde auf die Hälfte herabgesetzt, nachdem man die Streikunterstützung gestrichen hatte. Gewerkschaften, welche ihre Beiträge nicht zahlen, verlieren Sitz und Stimme auf dem Gewerkschaftskongreß. Dieser ist von der Generalkommission unter Zustimmung der Mehrheit der Zentralvorstände einzuberufen. Den einzelnen Verbänden ist die Erhöhung der Mitgliederbeiträge zur Ansammlung ausreichender Fonds zur Pflicht gemacht.

Als Gegenstände der Kartellverträge sind empfohlen:

1. die gegenseitige Unterstützung bei Ausständen und Aussperrungen;
2. die gegenseitige Unterstützung reisender Mitglieder;
3. die gemeinschaftliche Betreibung der Agitation;
4. die gemeinschaftliche Veranstaltung statistischer Erhebungen;
5. die Zentralisierung von Herbergen und Arbeitsnachweisen;[Pg 222]
6. die Schaffung eines gemeinsamen Organes;
7. die Erleichterung des Uebertrittes von einer Organisation in die andere, insbesondere ohne Eintrittsgeld bei Ortswechsel.

Von den übrigen Beschlüssen des Kongresses ist noch folgendes hervorzuheben:

Die der bisherigen Generalkommission gemachten Vorwürfe richteten sich vorzugsweise gegen die Aufnahme des Darlehns von 106950 Mk. und die Verwendung der Mai-Sammlungen zu dessen Deckung, gegen die Begünstigung der Hamburger Gewerkschaften, insbesondere die zu weit gehende Unterstützung des dortigen Tabakarbeiterausstandes, gegen die Herausgabe des „Korrespondenzblattes“ und die unzureichende Pflege der internationalen Beziehungen. Es gelang jedoch den Mitgliedern, diese Vorwürfe, die vorzugsweise von der grundsätzlichen Opposition, nämlich den Vertretern der Lokalorganisationen, ausgingen, im wesentlichen zu widerlegen und einem Tadelsvotum zu entgehen.

Hinsichtlich der weiblichen Arbeiter, von denen eine Vertreterin in die Generalkommission aufgenommen wurde, beschloß man, den bestehenden Organisationen zu empfehlen, auch Frauen als gleichberechtigte Mitglieder aufzunehmen und von der Bildung besonderer Gewerkschaften für Arbeiterinnen abzusehen.

Die bisher schon übliche Einrichtung der Kontrollmarken, d. h. eines an den Fabrikaten angebrachten Zeichens dafür, daß der Fabrikant in seinem Geschäfte die von den Gewerkschaften geforderten Arbeitsbedingungen eingeführt habe, ohne welches die Arbeiter die Ware nicht kaufen dürfen, wurde ohne Debatte zur allgemeinen Nachahmung empfohlen.

Ebenso fand einstimmige Annahme eine Resolution, welche die Forderung möglichster Beseitigung der Akkordarbeit mit der Begründung erhebt, daß dadurch die Erreichung eines Maximalarbeitstages und eines für alle Arbeiter gleichen oder wenigstens eines Minimallohnes vorbereitet werde.

Die große Streitfrage, ob die bei Gelegenheit der Maifeier aufkommenden Gelder der politischen oder der gewerkschaftlichen Bewegung zufließen sollten, wurde dahin erledigt, daß von einer allgemeinen Maisammlung für gewerkschaftliche Zwecke Abstand genommen, den einzelnen Orten und Gewerben aber überlassen wurde, in ihren Kreisen Sammlungen zu veranstalten.

Um das Defizit der Generalkommission, das insbesondere durch Unterstützung des Buchdruckerausstandes herbeigeführt war, zu decken, wurde eine freiwillige Sammlung durch Ausgabe von 10-Pf.-Marken beschlossen.

Von der American Federation of Labor war an den Kongreß der Vorschlag gerichtet, den bei Gelegenheit der Weltausstellung in Chicago zu veranstaltenden internationalen Kongreß durch Delegierte zu beschicken. Man beschloß[Pg 223] jedoch mit Rücksicht auf die damit verbundenen erheblichen Kosten hiervon abzusehen.

Das Ergebnis dieses ersten Deutschen Gewerkschaftskongresses können wir kurz dahin zusammenfassen, daß die Organisationsfrage zu einem vorläufigen Abschlusse gelangt ist, und zwar im Sinne der Zentralisation. Allerdings giebt es auch künftig noch lokale Vereinigungen, aber dieselben werden seitens des Gewerkschaftsverbandes nur dann anerkannt, wenn für sie ein Zentralverband nicht besteht. Diese Zentralverbände, welche nach Gewerben (Berufen, Branchen) abgegrenzt sind, bilden die Einheit und die Grundform der Organisation, aber dieselben gliedern sich einerseits nach unten zu örtlichen Zweigvereinen und suchen andererseits untereinander einen weiteren Zusammenschluß anzubahnen.

Der Kongreß hat, wie mitgeteilt, den Industrieverband in erster Linie empfohlen, und demgemäß sind seitdem außer dem Metallarbeiterverbande, der bereits bestand, noch ferner der „Verband der Deutschen Holzarbeiter“ auf dem ersten Holzarbeiterkongresse, der vom 4. bis 7. April 1893 in Kassel tagte, und der „Verband der Lederarbeiter Deutschlands“ ins Leben getreten, indem die am 2./3. April 1893 in Altona abgehaltene Generalversammlung des Zentralvereins Deutscher Gerber und Lederzurichter dem von dem Deutschen Weißgerberverbande in seiner Generalversammlung vom 8. August 1892 in Altenburg gefaßten Beschlusse beitrat.

Während es sich bei diesen Formen um Verbindungen der Zentralorganisationen handelt, hat man dem Zwecke der gegenseitigen Annäherung und Unterstützung außerdem, entsprechend dem Kongreßbeschlusse, durch Kartelle unter den lokalen Vereinen Rechnung getragen, indem die am Orte vertretenen Gruppen der einzelnen Berufe je nach ihrer Stärke Delegierte wählen, welche zusammen das Kartell bilden, das seinerseits einen Vorstand unter dem Namen einer „Kartellkommission“ wählt. Hierbei hatte man aber sich mit der Vereinsgesetzgebung auseinander zu setzen, welche einerseits für politische Vereine die gegenseitige Verbindung verbietet und andererseits für alle Vereine, die sich mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen, die Einreichung der Statuten und der Mitgliederliste sowie aller Veränderungen derselben vorschreibt. Zur Umgehung dieser Schwierigkeit benutzt man zwei Wege. Der eine ist der, daß man die Delegierten von den einzelnen Vereinen in der Weise wählen läßt, daß sie lediglich als Vertreter dieser Vereine auftreten, nicht aber selbst einen Verein bilden; aber dann ist die Einrichtung eine Verbindung der Vereine untereinander, und es muß dann die Politik ausgeschlossen werden. Der andere Weg besteht darin, daß man die Delegierten nicht von den Vereinen, sondern in öffentlichen Versammlungen der betreffenden Berufsgenossen wählen[Pg 224] läßt, dann ist von einer Verbindung von Vereinen nicht die Rede, das Kartell darf sich mit Politik beschäftigen, ist aber nun seinerseits ein Verein, der Statut und Mitgliederliste einreichen muß. Die Generalkommission hat für beide Formen Musterstatute ausgearbeitet und bekannt gemacht, ja denselben noch eine dritte Form hinzugefügt, nach welcher die in öffentlichen Versammlungen gewählten Delegierten sich gar nicht als Verein organisieren, sondern wenn sie beraten wollen, hierfür eine öffentliche Versammlung einberufen; in diesem Falle besteht dann auch keine Kartellkommission, sondern es wird lediglich ein Vertrauensmann mit weitgehenden Befugnissen gewählt. Es muß dahingestellt bleiben, ob diese dritte Form wirklich den beabsichtigten Zweck erreicht, jedenfalls wird sie als ganz lose Verbindung der Berufsgenossen ihrer Hauptaufgabe nur in unvollkommener Weise gerecht.

Die Thätigkeit der Kartelle ist in dem Kongreßbeschlusse im allgemeinen bezeichnet. Der Schwerpunkt liegt in der Regelung der Streiks. Diese werden von dem Kartell nur dann unterstützt, wenn sie von dem Zentralverbande des betreffenden Berufes oder in dessen Ermangelung von der Kartellkommission gebilligt sind. Boykotts können nur von dem Kartell mit zwei Drittel Mehrheit beschlossen werden. Regelmäßig soll die Kartellkommission vorher eine gütliche Verständigung mit den Arbeitgebern versuchen. Zur Deckung der Ausgaben sind für jedes Mitglied vierteljährlich 5 Pf. in die Kartellkasse einzuzahlen. Aus derselben werden die Kosten der Agitation, des Herbergswesens, des Arbeitsnachweises, der Statistik u. s. w., nicht aber diejenigen der Streiks bestritten, hierfür sind vielmehr freiwillige Sammlungen zu veranstalten; mit drei Viertel Mehrheit darf das Kartell auch die Aufnahme von Darlehen beschließen.

In neuerer Zeit ist den Gewerkschaften durch eine Aenderung der Rechtsprechung in Preußen eine erhebliche Schwierigkeit erwachsen. Bisher hatte man, um der polizeilichen Aufsicht zu entgehen, von der Bildung eigentlicher Zweigvereine abgesehen, alle Mitglieder gehören unmittelbar dem Zentralverbande an, und an den einzelnen Orten bestehen lediglich „Zahlstellen“ zur Einsammlung der Beiträge, Annahme von Mitgliederanmeldungen und Verteilung der Fachzeitschrift. Der Gedankenaustausch wird in öffentlichen, nicht auf die Mitglieder beschränkten Versammlungen vorgenommen. Nun hat jedoch das Kammergericht durch Entscheidung vom 3. Oktober 1892 ausgesprochen, daß diese Zahlstellen als Vereine anzusehen seien. Dadurch ist, solange die Politik fern gehalten wird, eine Schwierigkeit für die Verbindung mit der Zentralleitung einstweilen noch nicht geschaffen, wohl aber ist die polizeiliche Anmeldung der Mitglieder erforderlich.

[Pg 225]

Eine Wiederholung des in Halberstadt abgehaltenen Gewerkschaftskongresses in Zwischenräumen von etwa 3 Jahren lag wohl von Anfang an in der Absicht der Generalkommission, ging doch deren Ziel zweifellos auf einen selbstständigen organischen Ausbau des Gewerkschaftsverbandes neben dem Verbande der politischen Partei. Aber hatte die letztere schon den Halberstädter Kongreß mit offen kundgegebenem Mißtrauen empfangen, so trat diese Abneigung noch entschiedener hervor, als es sich darum handelte, durch eine Wiederholung den Weg der Erhebung der Kongresse zu einer ständigen Einrichtung zu betreten. Man benutzte deshalb Andeutungen über gewisse „dunkele Pläne“, die angeblich von der Generalkommission verfolgt würden und auf die unten zurückzukommen sein wird, um die Gewerkschaften gegen ihre Leitung aufzuhetzen, indem der „Vorwärts“ einen Artikel des „Handschuhmacher“, der von Plänen sprach, die geheim gehalten werden müßten, aber geeignet wären, eine Zersplitterung in der Arbeiterbewegung herbeizuführen, abdruckte und die Frage stellte: „Was geht vor?“ Der Zweck wurde auch insofern erreicht, als die Generalkommission nach einer Umfrage bei den Zentralvorständen ihren Plan für das Jahr 1895 fallen ließ. Die Folge dieser Aufhetzung war dann ferner, daß sowohl die Hutmacher als auch die Tabakarbeiter beschlossen, ihre Beitragsleistung an die Generalkommission einzustellen. Von den Tabakarbeitern war dies um so rücksichtsloser, als gerade das zu ihrer Unterstützung von der Generalkommission aufgenommene Darlehen von 106950 Mk. den Hauptgrund der gegen diese erhobenen Vorwürfe bildete.

Für das Jahr 1896 dagegen wurde die Absicht, einen Kongreß in Berlin und zwar am 4. Mai abzuhalten, von der Generalkommission bereits am 25. November 1895 bekannt gegeben. Dabei wurde der Vorschlag gemacht, auch die Delegierten derjenigen Zentralverbände, die keine Beiträge an die Generalkommission gezahlt hätten, sowie die Handelsangestellten, Handelshülfsarbeiter und Gastwirtsgehülfen und endlich Lokalorganisationen derjenigen Berufe zuzulassen, für welche Zentralverbände nicht bestehen. Diese Vorschläge wurden angenommen. Die Generalkommission hatte sich an das Gewerkschaftskartell in Berlin mit dem Antrage gewandt, die Vorbereitung für den Kongreß zu übernehmen, doch war dies, wie zu erwarten, abgelehnt, da in Berlin die Lokalorganisationen überwiegen. So mußte von den Berliner Zentralorganisationen ein besonderes Lokalkomitee gebildet werden, um die Vorarbeiten zu erledigen.

Vom 4. bis 8. Mai 1896 hat nun der „zweite Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands“ in Berlin stattgefunden. Auf demselben waren 48 Zentralorganisationen durch 129 Abgeordnete, 6 lokal organisierte Verbände durch 8 Abgeordnete und 11 Zweigvereine der Tabakarbeiter durch 2 Abgeordnete, insgesamt 271141 Mitglieder durch 139 Abgeordnete vertreten. Die[Pg 226] Hutmacher und Tabakarbeiter fehlten, letztere mit Ausnahme der 11 Zweigvereine.

Aus dem vom Vorsitzenden Legien erstatteten Berichte ist folgendes hervorzuheben.

Seit dem Halberstädter Kongresse sind eine Anzahl Organisationen gebildet, die sich später wieder aufgelöst haben, nämlich die Fabrikarbeiterinnen, die Näherinnen, die Porzellan- und Glasmaler und die Posamentiere. Der Zentralverein der Frauen und Mädchen wird nach Aenderung seiner Statuten nicht mehr als Gewerkschaft betrachtet. Dagegen ist der 1891 aus dem Hirsch-Duncker'schen Verbande ausgeschiedene Gewerkverein der Porzellanarbeiter, dessen Mitgliederzahl sich seitdem von 4000 auf 7300 gehoben hat, dem Verbande der Gewerkschaften am 1. Januar 1893 beigetreten. Die Weißgerber und die Lohgerber haben sich Anfang 1893 zu einem Verbande der Lederarbeiter vereinigt. Am 1. April 1894 haben die Maler ihren Anschluß an die Generalkommission erklärt. Die Agitation ist hauptsächlich auf die östlichen Provinzen Preußens gerichtet, wo Organisationen mit insgesamt 2168 Mitgliedern gegründet sind. Dagegen ist die Agitation unter den Lippe'schen Zieglern erfolglos geblieben; ein ins Leben gerufener Verband hat sich wieder aufgelöst.

Ueber die zur Kenntnis der Generalkommission gelangten Streiks giebt der Bericht folgende Tabelle.

Jahr Anzahl der Gewerbe,
in denen Streiks
vorkamen
Anzahl der
Streiks
Zahl der beteiligten
Personen
Dauer des Streiks
in Wochen
Gesamtausgabe
1890/91 27 226 38536 1348 2094922 Mk.
1892      21   73   3022   507     84638
1893      26 116   9356   568   172001
1894      27 131   7328   879   354297

Der Bericht schätzt, daß zu diesen Zahlen noch etwa 6000 Streikende und 900000 Mk. Ausgabe hinzukommen, sodaß in den 5 Jahren 64000 Personen mit einer Gesamtausgabe von 3600000 Mk. an Streiks beteiligt waren.

Das Korrespondenzblatt erscheint in einer Auflage von 5300. Außerdem sind verschiedene Agitationsschriften vertrieben.

Der Bericht erwähnt, daß ein Vertreter der Generalkommission an dem vom Freien deutschen Hochstift einberufenen am 8. Oktober 1893 in Frankfurt a. M. abgehaltenen Sozialen Kongreß zur Beratung der Frage der Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittelung teilgenommen, daß man es aber abgelehnt habe, sich bei der Einladung zu einer Konferenz der bei der Arbeitsvermittelung praktisch thätigen Personen im März 1894 beteiligen.

[Pg 227]

Auch die internationalen Beziehungen sind gepflegt. Mit der Gewerkschaftskommission in Oesterreich, dem Schweizerischen Gewerkschaftsbunde, der Fédération nationale des Bourses du travail in Paris und den Syndicats et groupes corporatifs de France in Troyes, mit dem Board of Trade und dem Trades Union Congress Parliamentary Committee in England, der American Federation of Labor sind Nachrichten ausgetauscht, zu den Kongressen der österreichischen Gewerkschaften und des schweizerischen Gewerkschaftsbundes wurden Vertreter geschickt.

Der in dem Berichte vorherrschende Grundzug einer gewissen Resignation tritt besonders hervor in den Schlußworten: „Arbeitsfreudigkeit und thätiges Eingreifen in alle die Gewerkschaften berührenden Angelegenheiten wird nicht erzeugt, wenn zu befürchten steht, daß diese oder jene Unternehmung auf Widerstand stoßen und neue Angriffe hervorrufen wird. Nur durch einmütiges Zusammenwirken aller denselben Ziele Zustrebenden kann Großes erreicht werden.“

Der Schwerpunkt der Verhandlungen lag in den gegen die Generalkommission und ihre bisherige Wirksamkeit gerichteten und auf ihre Beseitigung abzielenden Angriffen, in denen sich teils allgemeine Oppositionslust und Partikularismus, teils die Anschauung geltend macht, daß die Generalkommission auf eine gegnerische Stellung der Gewerkschaften zu der politischen Partei hin arbeite. Träger der Opposition waren insbesondere die Metallarbeiter, die einfach die Aufhebung der Generalkommission beantragten. Andere Anträge bezweckten, sie durch einen bloßen Generalsekretär oder einen aus den Vorsitzenden der einzelnen Gewerkschaften bestehenden Verein (Gewerkschaftsbund) zu ersetzen, oder nur die Beiträge zu ermäßigen. Umgekehrt wurde auch die Wiederausdehnung der Thätigkeit der Generalkommission auf das ihr in Halberstadt entzogene Gebiet der Streikunterstützung und eine Erhöhung der Beiträge beantragt.

Die Angriffe richteten sich in erster Linie gegen die bereits erwähnten „dunklen Pläne“. Der Hauptwortführer der Opposition, Schlicke-Stuttgart, äußerte: „Ich kann die Entrüstung der einzelnen Gewerkschaften sehr wohl begreifen. In der Generalkommission glaubt man jetzt das Gegengewicht gegen den Parteivorstand zu besitzen, dem die Gewerkschaftsbewegung ein Dorn im Auge sein soll.“ Daneben wurde geltend gemacht, die Kommission habe nichts geleistet; die Statistik sei bei dem gegenwärtigen Stande der Bewegung nur von zweifelhaftem Werte; die Kosten des Korrespondenzblattes von jährlich 14000 M. seien überflüssig; nötig sei vor allem eine Verschmelzung der kleineren Organisationen mit größeren, während gerade die Generalkommission den „Kastendünkel“ Vorschub geleistet habe.

Der Vorsitzende Legien erklärte, die viel besprochenen „dunklen Pläne“ seien lediglich dahin gegangen, neben dem Kongresse der Gewerkschaften einen[Pg 228] solchen von dem Lokalkomitee des Kongreßortes einberufen zu lassen, zu dem die Vertreter in öffentlichen Versammlungen gewählt würden. Dieser Kongreß habe sich mit den Fragen der Vereinsgesetzgebung, den Arbeiterschutzgesetzen, der Fabrikinspektion u. s. w. beschäftigen sollen. Dieser Plan sei den 300 Vorstandsmitgliedern der Gewerkschaften bekannt gewesen, also durchaus nicht geheim gehalten, auch der „Vorwärts“ habe nicht, um ihn zu erfahren, eine öffentliche Anfrage nötig gehabt, sondern, da ebensowohl seine Redakteure wie 2 Mitglieder der Generalkommission im Reichstage säßen, sich nur bei diesen zu erkundigen brauchen. Wenn man übrigens der Kommission die Mittel beschneide und sie so wenig unterstütze, so sei es unberechtigt, sich gleichzeitig über ihre zu geringe Wirksamkeit zu beklagen.

Auch von anderen Seiten wurden die Angriffe scharf abgewiesen und die Kommission energisch verteidigt. Faber (Goldarbeiter) erklärte, ein Gegensatz zwischen Partei und Gewerkschaftsbewegung bestehe nicht, der Streit zwischen Auer und Legien gehe nur diese beiden persönlich an. Fricke (Maler) meinte, Legien hätte Auer ganz anders abführen sollen für seine Liebenswürdigkeiten. Lehrich (Maler) will für die Gewerkschaften eine Spitze haben, die es verhindert, daß die Gewerkschaften zum politischen Hausknecht degradiert werden; wenn beschlossen werden sollte, daß der politische Weg eingeschlagen werde, so seien sowohl die Generalkommission als die Zentralverbände überflüssig. Besonders die Buchdrucker stellten sich auf diese Seite. Ihre Redner, Massini und Döblin, erklärten: „Wir Gewerkschaften dürfen keineswegs unter die Botmäßigkeit der Partei kommen; wir sind ein souveränes Volk und brauchen keinen Rat und keine Bevormundung von anderer Seite.“ „Von der politischen Partei dürfen wir uns nicht abhängig machen, und es wäre schon ein Erfolg, wenn man im politischen Lager die Berechtigung der Gewerkschaftsbewegung voll anerkennen würde.“ Massini äußerte auch: „Ich habe nicht viel im Sinn mit der Internationalität; deshalb lege ich auch keinen so großen Wert auf die Anknüpfung internationaler Beziehungen.“

Der Erfolg der zweitägigen zum Teil recht erregten Verhandlungen war, daß auch die Gegner der Kommission, nachdem sie ihrem Aerger Luft gemacht hatten, friedlicher wurden und selbst die Notwendigkeit einer Zusammenfassung betonten. Es war logisch berechtigt und taktisch geschickt, daß man zunächst über die Grundfrage abstimmte, ob man überhaupt prinzipiell eine zusammenschließende Vertretung sämtlicher Gewerkschaften wolle. Nachdem diese Frage durch 133 Vertreter von 262926[79] Mitgliedern gegen 5 Vertreter von 8215 Mitgliedern bejaht war, handelte es sich ferner um die weitere Ausgestaltung, insbesondere die[Pg 229] Befugnisse des Zentralorganes. Der Antrag der Generalkommission auf Errichtung eines gemeinsamen Streikfonds wurde mit 104 gegen 18 Stimmen abgelehnt, darauf aber der Antrag, die zu bildende Zusammenfassung „Gewerkschaftsausschuß“ zu nennen, mit Stimmengleichheit abgelehnt und die Bezeichnung „Generalkommission“ beibehalten.

Die Organisation und Aufgabe derselben ergiebt sich aus folgender vom Kongresse angenommene Resolution:

„Der Gewerkschaftskongreß wählt eine aus 5 Mitgliedern bestehende Generalkommission. Zur Unterstützung derselben werden von den Zentralvorständen der Gewerkschaften, die am Sitze der Kommission eine Verwaltungsstelle haben und regelmäßige Beiträge an den Ausschuß zahlen, je ein Vertreter ernannt. Die Zuziehung dieser Vertreter zu den Versammlungen der Kommission hat nach Bedarf mindestens aber allvierteljährlich einmal zu erfolgen. Am Anfang einer Geschäftsperiode der Generalkommission sind in einer gemeinsamen Sitzung eine Geschäftsordnung für die Generalkommission, die Verteilung der Aemter und eventuelle Besoldungen und Remunerationen festzusetzen. Auch die berechtigten Lokalorganisationen haben Stimme in der obenbezeichneten Vertretung.

Die Aufgaben der Generalkommission sind:

1. Die gewerkschaftliche Agitation namentlich in denjenigen Gegenden, Industrien und Berufen, deren Arbeiter nicht oder nicht genügend organisiert sind, zu fördern und den Zusammenschluß der kleinen Verbände und Lokalorganisationen zu Industrieverbänden anzustreben.

2. Die von den Gewerkschaften aufgenommenen Statistiken, soweit sie allgemeines Interesse haben, zusammenzustellen und solche über Stärke, Leistungen und Entwickelung der Gewerkschaften, sowie solche über sämtliche Streiks selbstständig aufzunehmen.

3. Das „Korrespondenzblatt“ erscheint in der bisherigen Weise weiter. Es soll den Vorständen der Gewerkschaften, den Vorsitzenden der Gewerkschaftskartelle, den Vorsitzenden der Agitationskomitees und der Parteipresse unentgeltlich übersandt werden. Kurze, wichtige Publikationen sollen allen Gewerkschaftsblättern zum Abdruck zugehen.

(Anträge auf Vergrößerung des „Korrespondenzblatt“ wurden abgelehnt. Ebenso fiel der Antrag der Kommission, welcher den Buchdrucker-„Korrespondent“ als Publikationsorgan vorschlug.)

4. Die Generalkommission hat internationale Beziehungen zu den Gewerkschaften anderer Länder zu pflegen.

5. Die Generalkommission hat die allgemeinen deutschen Gewerkschaftskongresse einzuberufen und die hierzu nötigen Vorarbeiten zu erledigen.

[Pg 230]

Diese Kongresse sind nach Bedürfnis, mindestens jedoch alle drei Jahre einzuberufen.

Zur Teilnahme an diesen Kongressen sind sämtliche Zentralorganisationen und Lokalorganisationen berechtigt, die verhindert sind, sich zentral zu organisieren. In Zweifelsfällen entscheidet die Gesamtkommission. Ausgeschlossen von der Teilnahme an den Kongressen sind alle Gewerkschaften, welche ohne genügende Entschuldigung mit drei Quartalsbeiträgen im Rückstande sind.

Auf Antrag der Hälfte der bei der Generalkommission beteiligten Gewerkschaften ist die Generalkommission verpflichtet, einen Kongreß einzuberufen.

Die Kommission kann zu denjenigen Berufskongressen, wo es nötig erscheint, einen Vertreter entsenden.

Die Gewerkschaften sind berechtigt, für je 3000 Mitglieder einen Delegierten zu wählen. Die Zahl der Delegierten einer Gewerkschaft darf 6 nicht überschreiten. Kleinere Gewerkschaften wählen einen Delegierten. Wichtige Anträge entscheidet die Zahl der durch die Delegierten vertretenen Mitglieder.“

Die Annahme dieser Anträge erfolgte mit 86 gegen 43 Stimmen (152763 gegen 99738 Mitglieder). Darauf drohte jedoch ein großer Streit, indem die beiden großen Verbände der Holzarbeiter und Metallarbeiter erklärten, wegen der durch Beschränkung der Vertreterzahl auf sechs ihnen zugefügten Benachteiligung auf die Vertretung in der Kommission ganz zu verzichten; derselbe wurde dadurch beigelegt, daß man diese Bestimmung mit 79 gegen 29 Stimmen wieder beseitigte. Das Verhältnis bei der nunmehr vorgenommenen neuen Abstimmung war, daß die Resolution von 113 Vertretern von 214502 Mitgliedern gegen 16 Vertreter von 37999 Mitgliedern angenommen wurde.

Auch Hamburg wurde gegen mehrfachen Widerspruch wieder als Sitz der Kommission bestimmt und Legien als Vorsitzender wiedergewählt. Dagegen wurde der Beitrag, den die Gewerkschaften vierteljährlich für jedes Mitglied zu zahlen haben, von 5 Pf. auf 3 Pf. herabgesetzt, indem 65 Vertreter von 113548 Mitgliedern für 5 Pf., aber 58 Vertreter von 131373 Mitgliedern für 3 Pf. stimmten.

Ein Beratungsgegenstand, bei dem es sich gleichfalls um eine Verschiedenheit des grundsätzlichen Standpunktes handelte, war die Frage der Arbeitslosenunterstützung. Der Referent Eichler (Buchdrucker) begründet diese Einrichtung, die bei den Buchdruckern und bei den englischen Gewerkschaften schon lange besteht, mit dem Hinweise darauf, daß sie geeignet sei, die Mitglieder, die erfahrungsgemäß nach ihrem Beitritte bald wieder der Organisation den Rücken kehrten, bei derselben zu erhalten. Die Buchdrucker hätten es gerade dieser Einrichtung zu danken, daß nach dem verlorenen großen Streik ihr Mitgliederstand nicht herabgegangen sei, sondern sich sogar gehoben habe.[Pg 231] Außerdem sei es auch für die Lohnfrage von höchster Wichtigkeit, zu hindern, daß nicht die Arbeitslosen den Lohn drückten.

Der Korreferent Fricke (Maler) bekämpft die Arbeitslosenunterstützung als eine kapitalistische Einrichtung, die dem Klassenkarakter der modernen Arbeiterbewegung zuwiderlaufe, indem sie den Arbeitern ein Interesse am modernen Kapitalismus einflöße, und daß keine Veranlassung vorliege, dem Staate seine Pflichten für das Volk abzunehmen, derselbe vielmehr zu zwingen sei, die erforderliche Fürsorge seinerseits zu übernehmen. Es sei auf die freien Hülfskassen zu verweisen, an denen man sehe, wohin das Unterstützungssystem führe; mit ganz wenigen Ausnahmen seien diejenigen, die in den Krankenkassen Verwaltungsämter inne hätten, nicht mehr zu bewegen, sich praktisch an der Verwirklichung dessen, was die moderne Arbeiterbewegung erstrebe, zu beteiligen. Man müsse prinzipiell die Arbeitslosenunterstützung ablehnen, weil man damit die Arbeiter nur von dem Ziele der endgültigen Befreiung der Arbeiterklasse ablenke.

Trotz dieser Einwendungen wurde mit großer Mehrheit folgende Resolution angenommen:

„In der Erwägung, daß die Arbeitslosenunterstützung — abgesehen von deren humanitärem Karakter — die Stabilität des Mitgliederstandes in den einzelnen Organisationen in hohem Maße garantiert und in der weiteren Erwägung, daß durch diese Unterstützung auf die Lohn- und Arbeitsverhältnisse verbessernd eingewirkt werden kann, indem das Angebot der arbeitslosen Hände unter den jeweilig geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen wenn auch nicht vollständig beseitigt, so doch ganz bedeutend vermindert wird, erkennt der zweite deutsche Gewerkschaftskongreß in diesem Unterstützungszweige einen bedeutenden, ja notwendigen Förderer der gewerkschaftlichen Organisationen, der keineswegs geeignet ist, den Klassen- und Kampfeskarakter der Organisationen zu verwischen.

Der Kongreß empfiehlt deshalb den deutschen Gewerkschaften überall da, wo sich der Einführung der Arbeitslosenunterstützung keine Schwierigkeiten bieten, eine solche einzuführen.“

Im Zusammenhange hiermit stand das fernere Thema der Arbeitsvermittelung. Gegen einzelne Stimmen, welche sich zu Gunsten kommunaler Arbeitsnachweise aussprachen, wurde eine Resolution angenommen, welche nicht allein jede Arbeitsvermittlung durch gemeinsame Thätigkeit der Arbeiter und Arbeitgeber, als dem unausgleichbaren Gegensatze zwischen Kapital und Arbeit zuwiderlaufend, verwirft, sondern auch wegen des Uebergewichts der kapitalistischen Interessen in der Gemeindeverwaltung deren Eingreifen ablehnt, den Arbeitsnachweis ausschließlich den Gewerkschaften vorbehält, wobei der Staat oder die Gemeinde die pekuniären Mittel wie bei den Handelsbörsen zu gewähren[Pg 232] habe und deshalb „die Arbeiter aller Orte vor jeglichem Experimente auf einer anderen Grundlage als der alleinigen Leitung von Arbeitsnachweisen durch die Organisationen der Arbeiter warnt“. Die Arbeitsvermittelung gegen Entgelt soll gesetzlich als Wucher behandelt und verboten werden.

Nachdem endlich noch Resolutionen gegen das Schwitzsystem zu Gunsten der Konfektionsarbeiter und der Einführung von Betriebswerkstätten, gegen die Ausführungsvorschriften zur Ausführung des Arbeiterschutzgesetzes im Müllergewerbe, sowie zur Bekämpfung von Mißständen im Baugewerbe und wegen der Agitation unter den Arbeiterinnen angenommen waren, wurde der Kongreß von dem Vorsitzenden geschlossen mit dem Ausdrucke der Hoffnung, daß nach den jetzigen Beschlüssen der Bestand der Generalkommission gesichert sei und die späteren Kongresse sich eingehender mit anderen gewerkschaftlichen Fragen beschäftigen könnten, sowie mit dem Hinweise darauf, daß die politische Freiheit ohne die wirtschaftliche Gleichstellung leerer Schall sei und mit einem Hoch auf die Gewerkschaftsbewegung, die Befreiung der Arbeit und auf eine schönere Zukunft.

Die Bedeutung dieses zweiten Kongresses liegt hauptsächlich in der Auseinandersetzung der Anhänger einer kräftigen zentralisierten Gewerkschaftsbewegung mit den föderalistischen Elementen[80]. Im ganzen waren die letzteren zugleich Vertreter der radikaleren Richtung, die das Heil der Zukunft wesentlich nur von der Erringung der politischen Macht erhofft und deshalb die gewerkschaftliche durchaus in engem Anschlusse an die politische Bewegung zu halten sucht, während ihre Gegner, obgleich sie aus taktischen Gründen Vorsicht üben müssen, sich doch thatsächlich immer mehr zu dem entwickeln, was man als „Nur-Gewerkschaftler“ oder „Nichts-als-Gewerkschaftler“ bezeichnet. In Berlin erfolgte nicht wie in Halberstadt durch den Ausschluß der Lokalorganisierten eine Spaltung, sondern im ganzen siegte die konservativere Richtung, denn wenn auch die Entziehung der Streikunterstützung und die Ermäßigung des Beitrages von 5 auf 3 Pf. eine Schwächung der Generalkommission bedeutet, auch in der Herabsetzung der Mitgliederzahl von 7 auf 5 und in der Beifügung der Vorsitzenden der Zentralverbände als außerordentlicher Mitglieder eine Maßregel gegen allzugroße Selbständigkeitsgelüste zu sehen ist, so sind doch nicht allein die gegen die Existenz der Kommission gerichteten Angriffe abgeschlagen, sondern es ist doch auch im wesentlichen beim alten geblieben, ja in der Annahme des Grundsatzes der Arbeitslosenunterstützung liegt ein prinzipiell sehr wichtiger Schritt zur Annäherung an den englischen Trade-Unionismus der älteren Richtung und ein Bekenntnis zur praktischen Arbeit auf[Pg 233] dem Boden der bestehenden Verhältnisse im Gegensatze zu fruchtlosen doktrinären Phrasen. Eine wertvolle Unterstützung hat hierbei zweifellos die gemäßigte Richtung durch den Beitritt der Buchdrucker erhalten, und unter diesem Gesichtspunkte gewinnen die im folgenden Abschnitte darzustellenden Verhältnisse der letzteren in ihrer jüngsten Entwickelung ein doppeltes Interesse.

Seit dem Schlusse des Kongresses hat sich übrigens in der Haltung des, wie bemerkt, aus dem Verbande ausgeschiedenen Unterstützungsvereins deutscher Tabakarbeiter insofern ein Umschwung vollzogen, als derselbe auf seiner am 12. bis 17. Juli 1896 in Stuttgart abgehaltenen Generalversammlung beschlossen hat, zwar die bisherige Haltung seines Vorstandes zu billigen, aber von jetzt ab sich der Generalkommission wieder anzuschließen.

Der dritte Gewerkschaftskongreß ist vom 8.–13. Mai 1899 in Frankfurt a. M. unter Beteiligung von 130 Abgeordneten als Vertretern von 495138 Mitgliedern abgehalten. Auch die dänischen und österreichischen Gewerkschaften sowie das Schweizerische Arbeitersekretariat waren vertreten.

Aus dem Geschäftsberichte der Generalkommission ist zu erwähnen, daß dieselbe eine Erhebung über die Lage der graphischen Arbeiterinnen durchgeführt, dagegen den ihr erteilten Auftrag wegen einer solchen bezüglich der Hausindustrie und des Schwitzsystems noch nicht erledigt hat. Noch der aufgenommenen Streikstatistik kommen auf 1000 organisierte Arbeiter nur 3,3 Bestrafte. Die Höhe der monatlichen Beiträge beläuft sich auf 2913 Mk. Die Generalkommission hat zum Zweck der Agitation in Triest und Trient italienische Sekretäre eingesetzt, auch ein besonderes Blatt „L'Operaio Italiano“ ins Leben gerufen, welches seit dem 18. Juni 1898 erscheint. Im übrigen ist die Agitation wirksam insbesondere in Ost- und Westpreußen, Posen und Oberschlesien unter den Landarbeitern betrieben, außerdem unter den Seeleuten, unter denen man einen Seemannsverband errichtet hat, dagegen ist sie unter den Zieglern „ohne nennenswerten Erfolg geblieben“.

Der karakteristische Moment des Kongresses das am deutlichsten die ihn beherrschende Grundauffassung erkennen läßt, trat am schärfsten hervor bei der Stellungnahme gegenüber den unter den Buchdruckern ausgebrochenen Streitigkeiten. Wie an anderer Stelle[81] eingehender zu erwähnen ist, hat die im Jahre 1896 wieder begründete Tarifgemeinschaft mit den Prinzipalen zu den erbittertsten Kämpfen im Lager der Gehülfen geführt, Kämpfe, die sich freilich formell um die Einzelheiten des getroffenen Abkommens, insbesondere dessen fünfjährige Dauer drehten, in Wahrheit aber die Stellung zu der Sozialdemokratie[Pg 234] zur Unterlage hatten. Gasch, der Führer der Opposition, der aus dem Buchdruckerverbande ausgeschlossen war und eine „Gewerkschaft der Buchdrucker“ begründet hatte, machte dem ersteren vor allem den Vorwurf, daß er nicht „auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehe“.

Der Streitpunkt wurde gleich bei der Prüfung der Mandate berührt, indem es sich darum handelte, ob der Vertreter der Buchdruckergewerkschaft, Pollender, zu den Verhandlungen des Kongresses zuzulassen sei. Die Vertreter des Verbandes bekämpften diese Forderung auf das entschiedenste und brachten mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck, daß der Verband von der zu betreffenden Entscheidung seine fernere Teilnahme abhängig mache. Die nach erregten Verhandlungen eingesetzte Kommission beschloß mit vier gegen drei Stimmen, den Verband als die einzige rechtmäßige Organisation der Buchdrucker anzuerkennen und nur deren Vertreter zum Kongresse zuzulassen, dagegen das Mandat von Pollender als ungültig zurückzuweisen. Dieser Antrag wurde schließlich mit großer Mehrheit angenommen, indem 96 Abgeordnete, die 347034 Mitglieder vertraten, dafür und nur 26, die 116323 Mitglieder vertraten, dagegen stimmten.

Hatte bei dieser Frage der Kongreß eine inhaltliche Stellungnahme zu der unter den Buchdruckern hervorgetretenen Meinungsverschiedenheit insofern noch nicht nötig gehabt und sogar ausdrücklich vermieden, als er seine Entscheidung lediglich auf den Gesichtspunkt stützte, daß jede Organisation nach eigenem Ermessen über ihre Angelegenheit zu bestimmen und die Minderheit sich der Mehrheit zu fügen habe, so war dies dagegen bei dem ferneren Punkte der Tagesordnung: „Tarife und Tarifgemeinschaften“ nicht möglich, vielmehr mußte die grundsätzliche Haltung gegenüber dem Unternehmertume zur Entscheidung gebracht werden. Aber hier ergab sich die bedeutungsvolle Thatsache, daß die Tarifgemeinschaft als solche, die doch dem Grundsatze von der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit der Interessen zwischen Arbeitern und Unternehmern offen ins Gesicht schlägt, Gegner auf dem Kongresse so gut wie gar nicht hatte, denn selbst Pollender, den man freilich als Korreferent abgelehnt, aber als Redner zum Worte gelassen hatte, bekämpfte nur die Bedingungen, die von dem Buchdruckerverbande den Prinzipalen zugestanden waren. Schließlich wurde mit allen gegen 4 Stimmen folgender Beschluß angenommen.

„Tarifliche Vereinbarungen, welche die Lohn- und Arbeitsbedingungen für eine bestimmte Zeit regeln, sind als Beweis der Gleichberechtigung der Arbeiter seitens der Unternehmer bei Festsetzung der Arbeitsbedingungen zu erachten und in den Berufen erstrebenswert, in welchen sowohl eine starke Organisation der Unternehmer, wie auch der Arbeiter vorhanden ist, welche eine Gewähr für Aufrechterhaltung und Durchführung des Vereinbarten bieten. Dauer und[Pg 235] Umfang der jeweiligen Vereinbarungen lassen sich nicht schematisieren, sondern hängen von den Eigenarten des betreffenden Berufes ab.“

Auch die übrigen Gegenstände der Verhandlungen hatten fast ausnahmslos die Bedeutung grundsätzlicher Entscheidungen für die Auffassung der gewerkschaftlichen Aufgabe und insbesondere die Stellung zu der Politik und der sozialdemokratischen Partei. Dies gilt in erster Linie für den Antrag wegen Errichtung einer Zentralstelle für Arbeiterversicherung und Arbeiterschutz. Wie früher erwähnt, war der Vorschlag, das Interesse der Arbeiter an den Gewerkschaften dadurch zu heben, daß diese sich mit Arbeiterschutzfragen beschäftigen sollten, zuerst von Quarck gemacht, hatte aber einen großen Entrüstungssturm hervorgerufen. Trotzdem hatte eine von den Redakteuren der Gewerkschaftspresse am 17. August 1898 in Gotha abgehaltene Konferenz den Beschluß gefaßt, dem Kongresse etwas ganz Aehnliches zu empfehlen, nämlich zu beantragen, daß in Verbindung mit der Generalkommission eine Zentralstelle errichtet werde, welche die Arbeiterversicherungs- und Arbeiterschutzgesetze in gemeinverständlicher Weise für die Gewerkschaftspresse bearbeiten und dadurch eine nutzbringende Beeinflussung der Ausgestaltung und Handhabung herbeiführen, sowie endlich die Wahlen der Arbeitervertreter zu den Versicherungskörperschaften organisieren sollte. Wie begreiflich stieß dieser von dem bestellten Referenten Bringmann befürwortete Antrag auf den entschiedensten Widerspruch derjenigen Richtung, welche ängstlich darüber wachen zu müssen glaubt, daß die Gewerkschaften sich nicht etwa zu Konkurrenten der sozialdemokratischen Partei entwickeln und ihrer Oberleitung entziehen könnten. Der Hauptwortführer dieser Anschauung, der Redakteur des „Vorwärts“, Pötzsch sah in dem Antrage ein Mißtrauen gegenüber der Reichstagsfraktion, und obgleich insbesondere von den Buchdruckern betont wurde, daß die Gewerkschaften „nicht ein Anhängsel irgend einer politischen Partei, sondern vollkommen „selbstständige Institutionen“ seien, welche die Verpflichtung hätten, je nach ihrer Stärke und ihrem Einfluße auf dem Wirtschaftsgebiete die höchsten Probleme wirtschaftlicher und sozialer Fragen praktisch in Angriff zu nehmen und zu beeinflussen“, so gelang es doch nicht, diesen Standpunkt zur völligen Anerkennung zu bringen, vielmehr beschränkte man sich schließlich darauf, unter die später zu erwähnenden Aufgaben der Generalkommission auch die Aufklärung der Arbeiter über die Bedeutung der Arbeiterversicherung und eine Einflußnahme auf die betreffenden Wahlen aufzunehmen.

Von nicht geringerer prinzipieller Bedeutung waren die Verhandlungen über die Frage der Arbeitsvermittlung. Es kann nicht wohl zweifelhaft sein und ist auch eigentlich niemals bestritten, daß diese, rein technisch betrachtet, d. h. lediglich mit Rücksicht auf ihren Zweck eines Ausgleiches zwischen[Pg 236] Angebot und Nachfrage, am besten wirken wird, wenn die beiden beteiligten wirtschaftlichen Gruppen, Unternehmer und Arbeiter, an ihr gleichmäßig beteiligt sind und jede Nebenabsicht, insbesondere die Verwendung im einseitigen Interesse einer von beiden Parteien fern gehalten wird. Aber bisher haben beide Teile sich noch nicht entschließen können, die Arbeitsvermittlung auf ihre angegebene natürliche Aufgabe zu beschränken und auf ihre Verwendung als wirtschaftlichen Kampfmittels zu verzichten.

Anfangs hatten in erster Linie die Arbeiter und insbesondere die Gewerkschaften sich auf diesen Standpunkt gestellt und z. B. auf dem von dem Freien deutschen Hochstift berufenen, am 8. Oktober 1893 in Frankfurt a. M. abgehaltenen Kongresse zur Verhandlung über Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung die von neutraler Seite gemachten Vorschläge der Uebertragung dieser Aufgabe auf staatliche und gemeindliche Organe entschieden bekämpft. Auch der Berliner Gewerkschaftskongreß hatte die gleiche Stellung eingenommen und beschlossen, daß „jede Erwägung der Möglichkeit einer gemeinsam geführten Arbeitsvermittlung zwischen Arbeitern und Arbeitgebern grundsätzlich abzulehnen“ sei. Inzwischen hatten auch die meisten Unternehmerorganisationen diese Auffassung sich zu eigen gemacht und auf der am 5. September 1898 in Leipzig abgehaltenen, von dem Arbeitgeberbunde Hamburg-Altona einberufenen Arbeitsnachweiskonferenz im Gegensatz zu der von dem Verbande der deutschen Arbeitsnachweise veranstalteten gleichartigen Versammlung in München vom 27. bis 28. September 1898 beschlossen, den Arbeitsnachweis ausschließlich für die Unternehmer in Anspruch zu nehmen. Auf dem Gewerkschaftskongresse waren die Ansichten geteilt. Von dem Referenten Leipart (Holzarbeiter) wurde der in Berlin gefaßte Beschluß als ein „übertriebener Radikalismus“ bezeichnet, „der unserer Gewerkschaftsbewegung ganz und gar nicht ansteht“ und an der Hand umfaßenden Materials bewiesen, daß nicht allein schon viele Gewerkschaften gemeinsam mit den Unternehmern Arbeitsnachweise eingerichtet, sondern daß sogar die sozialdemokratische Fraktion durch ihre Anträge auf Schaffung von Arbeitskammern und Arbeitsämtern diese Forderung aufgenommen habe; deshalb seien in erster Linie kommunale Anstalten zu empfehlen. Von der Gegenseite, insbesondere von Pötzsch wurde nicht allein dieser letztere Vorschlag unter Hinweis darauf bekämpft, daß nach der bestehenden Gesetzgebung in den Gemeindeverwaltungen der überwiegende Einfluß in den Händen der Unternehmer liege, sondern überhaupt daran festgehalten, daß grundsätzlich die Arbeitsvermittlung in die Hände der Arbeiter gehöre.

Das Ergebnis der ausgedehnten Verhandlungen war ein Beschluß, der freilich prinzipiell den radikalen Standpunkt billigt, aber doch sowohl paritätische wie kommunale Arbeitsnachweise zuläßt. Der Wortlaut ist folgender:

[Pg 237]

„Die gewerkschaftliche Arbeitsvermittlung ist ein wertvolles Mittel zu Hebung der Lage der Arbeiter und zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Der Kongreß hält deshalb nach wie vor an dem grundsätzlichen Standpunkt fest, daß der Arbeitsnachweis den Arbeiterorganisationen gebührt.

Die Mitwirkung von Staat und Gemeinde bei der Arbeitsvermittlung kann deshalb nur darauf beschränkt sein, die Mittel für die dazu notwendigen Einrichtungen und deren Erhaltung zur Verfügung zu stellen.

Der Kongreß erkennt dagegen an, daß es unter den gegenwärtig bestehenden Verhältnissen an manchen Orten für eine Reihe von Berufen von Vorteil sein kann, sich an kommunalen Arbeitsnachweisen zu beteiligen. Dieselben sind jedoch nach folgenden Grundsätzen auszugestalten:

a) Verwaltung durch eine von in gleicher Zahl von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern je in freier Wohl gewählten direkten Vertretern, zusammengesetzte Kommission, unter Leitung eines unparteiischen Vorsitzenden;

b) Führung der Geschäfte durch aus den Reihen der Arbeiter hervorgegangene Beamte; Wahl derselben durch die Verwaltungskommission;

c) Ablehnung der Vermittlung von Arbeitskräften an solche Arbeitgeber und Dienstherren, welche notorisch ihre Pflichten als Arbeitgeber nicht erfüllen, sowie an solche Arbeitgeber, welche bei ausbrechenden Differenzen mit ihren Arbeitern in keine Verhandlungen zur Beilegung derselben mit der zuständigen Arbeiterorganisation eintreten wollen;

d) genaue Feststellungen über die Lohnbedingungen und Veröffentlichung derselben mit den übrigen Ergebnissen der Arbeitsnachweisstatistik;

e) vertragsmäßige Verpflichtung der Arbeitgeber, die vor dem Arbeitsamt angegebenen Arbeits- und Lohnbedingungen noch erfolgter Anstellung auch zu erfüllen, um den Arbeiter oder Dienstboten vor Täuschung oder Benachteiligung zu schützen;

f) vollständige Gebührenfreiheit und Uebernahme der gesamten Kosten auf die Gemeinde- oder Staatskasse.

Wo kommunale Arbeitsämter errichtet werden, hat die organisierte Arbeiterschaft ihren berechtigten Einfluß geltend zu machen und für die Durchführung vorstehender Forderungen einzutreten, ohne daß die einzelne Gewerkschaft verpflichtet werden kann, den etwa bestehenden, gut funktionierenden Facharbeitsnachweis ohne besonderen Grund aufzuheben. Derartige Facharbeitsnachweise sind jedoch möglichst mit dem städtischen Arbeitsamt in Verbindung zu bringen, um eine vollständige Arbeitsnachweisstatistik zu ermöglichen.

Paritätische Arbeitsnachweise sind nicht zu verwerfen, wenn es dadurch den Arbeitern gelingt, zugleich ihre Lohn- und Arbeitsverhältnisse günstiger und stabiler zu gestalten.

[Pg 238]

In den Arbeitsnachweisen der Innungen fällt den gewerkschaftlich organisierten Arbeiten ebenfalls die Aufgabe zu, diese, wenn sie einmal geschaffen, nach Möglichkeit im Interesse der Arbeiter auszugestalten.“

Auch bei dem ferneren Beratungsgegenstande, der Stellung der Gewerkschaftskartelle, handelte es sich um den Gegensatz zwischen der radikalen und der gemäßigten Richtung. Die Kartelle, d. h. die örtlichen Vereinigungen aller dort vertretenen Gewerkschaften bilden offenbar einen Ansatz zu der Verschmelzung der Arbeiter zu einer umfassenden Organisation ohne Unterschied des Berufes, wie sie in England R. Owen in seiner Consolidated trades union[82] angestrebt hatte, wie sie den „Internationalen Gewerksgenossenschaften“[83] zu Grunde lag, wie man sie in Amerika in der National labour union[84] versucht hatte und wie sie auch auf dem Halberstädter Gewerkschaftskongresse als Ideal empfohlen war, das man unter Ueberwindung des „Berufsdünkels und Kastengeistes“ erreichen müsse[85]. Aber ferner ist es eine längst beobachtete Thatsache der praktischen Erfahrung, daß bei Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern ein Ausgleich leichter möglich ist, solange der Streik auf die unmittelbar Beteiligten beschränkt bleibt, als wenn Berufsfremde sich einmischen[86]. So hatten auch die Gewerkschaftskartelle schon wiederholt die Fortsetzung von Streiks durchgesetzt, die von den Nächstbeteiligten längst als aussichtslos erkannt waren. War schon aus diesem Grunde die gemäßigte Richtung ihnen nicht günstig gesinnt, so hatten sie sich eine weitere Gegnerschaft dadurch geschaffen, daß sie in einer Art Rivalitätsstellung gegen die Vorstände der Zentralorganisationen getreten waren. Am schärfsten zugespitzt hatte sich dieser Gegensatz in der seitens der Kartelle erhobenen Forderung, auf dem Kongresse eine besondere Vertretung zu erhalten, die sie, nachdem die Generalkommission dies verweigert hatte, durch die Drohung durchzusetzen suchten, einen eigenen Sonderkongreß zu berufen. Auf dem Kongresse bezeichnete die insbesondere durch den Referenten Päplow (Maurer) vertretene gemäßigte Richtung die Kartelle geradezu als ein „notwendiges Uebel“ und betonte, daß es zwecklos, ja schädlich sei, innerlich bereits verlorene Streiks noch künstlich halten zu wollen, daß überhaupt ein Streik nur dann berechtigt sei, wenn die Organisation die erforderlichen Mittel besitze, um ihn aus eigener Kraft durchzuführen, und daß nicht[Pg 239] stets der Klingelbeutel umhergehen dürfe, daß aber die jetzigen Zustände gerade durch die mit dem Eingreifen der Kartelle verbundene Regellosigkeit der Streikunterstützung herbeigeführt seien. Demgemäß forderte man vor Allem, daß den Kartellen jeder Einfluß auf die Streiks entzogen werde, was insofern mit einer gewissen Schwierigkeit verknüpft war, als jene sich wesentlich um die Beschaffung der Streikgelder bemüht hatten und es deshalb der Billigkeit zu entsprechen schien, ihnen auch einen Einfluß auf den Verlauf der Streiks einzuräumen. Trotzdem stellte sich schließlich der Kongreß im wesentlichen auf diesen Standpunkt, indem er folgenden Beschluß einstimmig annahm:

„Die Gewerkschaftskartelle haben die gemeinsamen gewerkschaftlichen Interessen ihres Ortes zu vertreten, wie Regelung des Arbeitsnachweises und des Herbergswesens, der Statistik, Bibliotheken, Errichtung von Arbeitersekretariaten &c. Sie haben die Arbeiterinteressen gegenüber den Behörden: Gewerbeinspektion, Gemeindeverwaltung &c. und bei Wahlen zu Gewerbegerichten und Versicherungsanstalten zu wahren. Sie haben weiter im Einverständniß mit den betr. Organisationsleitungen die Agitation unter den Berufen, deren Organisation aus eigener Kraft dazu nicht im Stande sind, zu unterstützen.

Die Beschlußfassung über Streiks ist ausschließlich Aufgabe der Vorstände der Zentralverbände.

Die Kartelle sind verpflichtet, dem Zentralvorstand der Organisation, die am Orte in einen Streik eintreten will oder sich im Streik befindet, auf Erfordern einen Situationsbericht zu geben. Materielle Unterstützung für Streiks wird seitens des Kartells nur dann gewährt, wenn der Zentralvorstand, der im Streik befindlichen Organisation dies beantragt oder seine Zustimmung erteilt hat. Ueber die Taktik bei Lohnbewegungen und bei auftauchenden Fragen innerhalb ihres Gewerbes entscheidet die betreffende Gewerkschaft selbstständig.“

Von je her hat das Kassenwesen einen Prüfstein dafür geboten, ob Arbeiterorganisationen sich auf den gemäßigten, rein gewerkschaftlichen oder auf den politisch-revolutionären Standpunkt stellen. Sind auch in der deutschen Gewerkschaftsbewegung die Angriffe auf „Kassensimpelei“ allmählich fast verstummt, indem man den Wert der Kassen für einen festen und gleichmäßigen Mitgliederbestand zu schätzen gelernt hat, so hat doch noch bis in die neueste Zeit der Radikalismus an einem Punkte den Kampf fortgesetzt, nämlich hinsichtlich der Arbeitslosenunterstützung. Hier glaubte man geltend machen zu können, daß es Pflicht des Staates sei, für die Arbeitslosen zu sorgen, und daß die Arbeiterklasse gar keine Veranlassung habe, dem Staate diese Last abzunehmen. Aber obgleich auch bürgerliche Sozialreformer[87] aus diesem Grunde die staatliche[Pg 240] Arbeitslosenversicherung gefordert haben, so hat doch in gewerkschaftlichen Kreisen immer mehr die Ansicht die Oberhand gewonnen, daß gerade die Arbeitslosenunterstützung ein unentbehrliches Mittel sei, um die Organisationen stark und leistungsfähig zu machen; und nachdem schließlich auch die Metallarbeiter auf ihrem 1898 in Braunschweig abgehaltenen Kongresse ihren früheren abweichenden Standpunkt aufgegeben hatten, konnte man von einer Streitfrage kaum mehr sprechen. Immerhin ist es von Interesse, daß der Gewerkschaftskongreß die Generalkommission beauftragte, bei den einzelnen gewerkschaftlichen Organisationen auf die Durchführung der Arbeitslosenunterstützung hinzuwirken.

Nach einem Referate von Legien über das Koalitionsrecht beschloß der Kongreß einstimmig, gegen jede Beeinträchtigung desselben zu protestieren, wobei darauf hingewiesen wurde, daß den heutigen Verhältnissen nicht mehr der individuelle, sondern nur noch der kollektive Abschluß des Arbeitsvertrages durch die beiderseitigen Organisationen entspreche, daß auch die organisierten Arbeiter stets eine friedliche Vereinbarung gesucht hätten, bevor sie zum Streik griffen, daß aber, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Unternehmer es rücksichtslos zurückgewiesen hätten, die Organisation der Arbeiter als berechtigten Faktor bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen anzuerkennen, dadurch aber jede friedliche Verständigung abgelehnt und die Arbeiter zum Streik gezwungen hätten.

Hinsichtlich der Gewerbeinspektion wurde beschlossen, den Arbeitern die Bildung von Beschwerdekommissionen in Anschluß an die Gewerkschaftskartelle zu empfehlen, um durch diese mit den Aufsichtsbeamten mündlich in Beziehung zu treten, „wobei die mancherlei Eigentümlichkeiten jener Beamten in Kauf zu nehmen sind“. Sehr gerühmt wurde dabei die in Württemberg bestehende Einrichtung, daß jährlich ein Mal eine Konferenz zwischen sämtlichen Gewerbeaufsichtsbeamten und den Vertretern der Arbeiterorganisationen stattfindet. Man forderte übrigens die Ausdehnung der Gewerbeinspektion auf Handwerk, Klein- und Hausindustrie, Handel, Transport und Verkehr, Vermehrung der Beamten unter Zuziehung von Gehülfen und Gehülfinnen aus Arbeiterkreisen, Ausstattung der Beamten mit eigenem Vollzugsrecht und voller Unabhängigkeit sowie Zentralisierung in einer Reichsinspektion.

Die Arbeitersekretariate wurden als ein bedeutsamer Fortschritt der Arbeiterorganisation anerkannt, gleichwohl aber von Ueberhastung bei deren Gründung gewarnt, so lange nicht die erforderlichen erheblichen Geldmittel sichergestellt seien.

Die Lage der Gewerkschaftsbeamten, zu denen vor allem auch die Redakteure der Fachblätter gehören, war bisher eine sehr unbefriedigende gewesen, indem nicht allein ihre Gehälter sehr gering bemessen, sondern insbesondere[Pg 241] ein Recht auf Pension nicht anerkannt war. Von dem Referenten Rexhäuser (Buchdrucker) wurde unter Berufung auf die Ausführung von S. u. B. Webb[88] darauf hingewiesen, daß die englischen Gewerkvereine nicht eher zu durchgreifender Bedeutung gelangt seien, als bis sie durch Anstellung ständiger und gut bezahlter Beamten sich Personen von einer höheren Bildung geschaffen hätten, als sie ein gewöhnlicher Arbeiter besitzen könne. Es sei nicht mehr angängig, gemaßregelte Arbeiter ohne Rücksicht auf ihre Fähigkeiten durch solche Stellungen zu versorgen, und wenn von gegnerischer Seite der Einwand erhoben sei, daß Beamten dieser Art „das proletarische Gefühl verloren gehe,“ so sei dies nicht als maßgebend anzusehen. In der That fand auf dem Kongresse der Standpunkt des Referenten keinen Widerspruch, vielmehr wurde mit allen gegen vier Stimmen beschlossen, den Gewerkschaften die Befolgung dieser Grundsätze, insbesondere die bessere Bezahlung und demnächstige Pensionierung ihrer Beamten zur Pflicht zu machen.

Den letzten Gegenstand der Tagesordnung bildeten die Aufgaben der Generalkommission. Während 1876 in Berlin die Existenzberechtigung einer solchen Zentralinstanz stark in Frage gestellt und schließlich nur mit einer geringen Mehrheit anerkannt wurde, war jetzt von einem solchen Zweifel keine Rede mehr, vielmehr wurde deren Wirkungskreis nicht unerheblich erweitert, indem man ihr die Aufgabe zuwies, in dem zu vergrößernden „Correspondenzblatte“ ein Zentralorgan für die ganze Organisationsbewegung zu schaffen, insbesondere nicht nur alles auf die deutschen Gewerkschaften bezügliche Material zu sammeln, sondern ebenso die Unternehmerorganisationen und die ausländische Entwickelung, sowie endlich die internationalen Beziehungen zu verfolgen[89]. Zu diesem Zwecke wurde beschlossen, außer den bisherigen beiden besoldeten Beamten der Generalkommission noch einen dritten fest anzustellen. Die Zahl der Mitglieder wurde von fünf auf sieben erhöht. Der Gewerkschaftsausschuß wurde beibehalten, ebenso der Beitrag von 3 Pf. Ueber einen Antrag der Hamburger Buchbinder auf Gründung eines Gewerkschaftsbundes- und einer Streik-Reservekasse, wurde zur Tagesordnung übergegangen. Der ablehnende Standpunkt gegenüber den Lokalorganisationen wurde von neuem festgelegt durch den Beschluß, dieselben nur insoweit zu den Gewerkschaftskongressen zuzulassen, wie sie verhindert sind, sich zentral zu organisieren.

Der Wortlaut des gefaßten Beschlusses ist folgender:

„Der Gewerkschaftskongreß wählt die aus sieben Mitgliedern bestehende[Pg 242] „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands.“ Zur Unterstützung derselben wird von den Zentralvorständen der Gewerkschaften, die regelmäßig Beiträge an die Generalkommission zahlen, und den dazu berechtigten Lokalorganisationen je ein Vertreter ernannt. Diese Vertretung führt den Namen „Gewerkschaftsausschuß.“ Der Zusammentritt dieses Ausschusses hat nach Bedarf, mindestens aber vierteljährlich einmal, zu erfolgen.

Jede Gewerkschaft hat vierteljährlich an die Generalkommission einen Beitrag von 3 Pf. pro Kopf ihrer Mitglieder zu zahlen.

Am Anfang einer Geschäftsperiode der Generalkommission sind in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Gewerkschaftsausschuß eine Geschäftsordnung für den Ausschuß, die Verteilung der Aemter der Generalkommission und eventuelle Besoldungen und Remunerationen festzusetzen.

Die Aufgaben der Generalkommission sind:

1. Die gewerkschaftliche Agitation namentlich in denjenigen Gegenden, Industrien und Berufen, deren Arbeiter nicht oder nicht genügend organisiert sind, zu fördern und den Zusammenschluß kleiner, existenzunfähiger Verbände und Lokalorganisationen zu leistungsfähigen Zentralverbänden anzustreben.

2. Die von den Gewerkschaften aufgenommenen Statistiken, soweit sie allgemeines Interesse haben, zusammenzustellen und solche über Stärke, Leistungen und Entwickelung der Gewerkschaften, sowie solche über sämtliche Streiks selbstständig aufzunehmen.

3. Ein Blatt herauszugeben und den Vorständen der Zentralvereine in genügender Zahl zur Versendung an deren Zahlstellen, sowie den Gewerkschaftskartellen und Agitationskomissionen zuzusenden, welches die Verbindung sämtlicher Gewerkschaften mit ihr zu unterhalten, die nötigen Bekanntmachungen zu veröffentlichen und, soweit geboten, deren rechtzeitige Bekanntmachung in der Tagespresse herbeizuführen hat. Kurze Publikationen sind der Arbeiterpresse zur Veröffentlichung direkt zuzusenden.

4. Pflege der internationalen Beziehungen zu den Gewerkschaften anderer Länder, sowie Sammlungen und Nutzbarmachung des über Entstehung und Entwickelung dieser Beziehungen in den einzelnen Gewerkschaften vorhandenen Materials.

5. Soweit die der Generalkommission zur Verfügung stehenden Mittel hierzu ausreichen und die Gewinnung geeigneter Personen hierfür möglich:

a) Sammlung und Nutzbarmachung des in den amtlichen Publikationen des Reiches, der Einzelstaaten und Gemeinden (als Statistik des Deutschen Reiches, Jahresberichte der Fabrikinspektoren, der statistischen Landes- und städtischen Aemter &c.), ferner in den Berichten der Handels- und Gewerbekammern, der Versicherungsbehörden, Krankenkassen &c., sowie in Zeitschriften[Pg 243] und sonstigen Druckwerken sich immer mehr anhäufenden Agitationsmaterials speziell für die Gewerkschaftsbewegung.

b) Erweiterung des „Correspondenzblattes,“ so daß dasselbe eine regelmäßige Uebersicht über alle Vorgänge in den deutschen wie auch ausländischen Gewerkschaften, über die Streikbewegung, über die innere Einrichtung und Verwaltung der verschiedenen Organisationen, über wichtigere Diskussionen in den Fachblättern, besondere Eigentümlichkeiten einzelner Berufe und deren Einwirkung auf die Organisation, Auszüge aus den regelmäßigen Abrechnungen der einzelnen Verbände, Berichte über die Geschäftslage, über die Unternehmerorganisationen, über wichtige Prozesse etc., sowie auch das nach der Aufgabe unter a) bearbeitete Material enthält.

c) Herausgabe eines Jahresberichtes der Generalkommission, welcher als Handbuch für alle wichtigeren Vorkommnisse im Geschäftsleben von den Gewerkschaftsbeamten, Redakteuren, Rednern, wie von allen Mitgliedern und sonstigen Interessenten benutzt werden kann. In dem Jahresberichte sind die jährlichen statistischen Ausweise über die Zahl und Stärke der deutschen Gewerkschaften und deren Einnahmen und Ausgaben nebst der Streikstatistik zu veröffentlichen.

d) Die Aufklärung der Arbeiter durch geeignete Publikationen über die Bedeutung der staatlichen Arbeiterversicherung und die Wahl der Arbeitervertreter zu den hier in Betracht kommenden Körperschaften; ferner: Leitung aller diesbezüglichen Wahlen, welche die Einwirkung von einer Zentralstelle aus erfordern.

6. Die allgemeinen deutschen Gewerkschaftskongresse einzuberufen und die hierzu nötigen Vorarbeiten zu erledigen.

Diese Kongresse sind nach Bedürfnis, mindestens jedoch alle drei Jahre, einzuberufen. Auf Antrag der Hälfte der bei der Generalkommission angeschlossenen Gewerkschaften ist die Generalkommission verpflichtet, einen Kongreß einzuberufen.

Zur Teilnahme an diesen Kongressen sind sämtliche Zentralorganisationen und solche Lokalorganisationen berechtigt, welche verhindert sind, sich zentral zu organisieren. Ausgeschlossen von der Teilnahme an den Kongressen sind alle Gewerkschaften, welche ohne genügende Entschuldigung mit drei Quartalsbeiträgen im Rückstande sind.

Die Gewerkschaften sind berechtigt, für je 3000 Mitglieder einen Delegierten zu wählen. Kleinere Gewerkschaften wählen einen Delegierten. Wichtige Anträge entscheidet die Zahl der durch die Delegierten vertretenen Mitglieder. Die Generalkommission kann zu denjenigen Berufskongressen, wo es nötig erscheint, einen Vertreter entsenden.“

[Pg 244]

Für die prinzipielle Bedeutung des Kongresses ist von großem Interesse das Schlußwort des Vorsitzenden Bömelburg. Er betonte den ungemeinen Fortschritt, den die Gewerkschaftsbewegung seit den früheren beiden Kongressen gemacht habe; die damals erörterten Streitfragen hätten längst aufgehört, solche zu sein, insbesondere werde die Notwendigkeit, die Macht der deutschen Gewerkschaftsbewegung in einer einheitlichen Spitze zum Ausdruck zu bringen, von keiner Seite mehr beanstandet, ja die „dunkeln Pläne“ der Generalkommission, die damals so heftige Angriffe erfahren hätten[90], seien auf diesem Kongresse verwirklicht. Die Gegner der Arbeiterbewegung suchten zwischen der gewerkschaftlichen und der politischen einen Gegensatz zu konstruieren. Das Verhältnis beider sei so zu bezeichnen, daß die Gewerkschaften keinerlei Zwang hinsichtlich der politischen und religiösen Ueberzeugung auszuüben versuchten, daß sie konservative freisinnige, ultramontane, protestantische, katholische und atheistische Mitglieder willkommen hießen, daß aber bisher in der deutschen gewerkschaftlichen Bewegung die Sozialdemokratie als die beste Vertreterin der arbeitenden Bevölkerung betrachtet sei und dies auch für die Folgezeit wohl so bleiben werde. Deshalb seien auch die Mitglieder der Gewerkschaften zum größten Teile Sozialdemokraten und erhofften die Herbeiführung einer durchgreifenden Verbesserung der Lage des arbeitenden Volkes von der Ersetzung der bisherigen kapitalistischen durch die kollektivistische Wirtschaftsordnung.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Frankfurter Kongreß einen großen äußeren und inneren Fortschritt der deutschen Gewerkschaftsbewegung bedeutet. Man hat sich von vielen Vorurteilen der früheren Zeit losgesagt und mit der Macht der Phrase, insbesondere der revolutionären Phrase endgültig gebrochen, indem man sich klar und offen auf den allein möglichen Boden aller gewerkschaftlichen Thätigkeit stellte, nämlich im Rahmen der bestehenden Verhältnisse und ohne Rücksicht auf deren Berechtigung oder Nichtberechtigung durch Zusammenfassung der Kräfte eine möglichst weitgehende Besserung in der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse herbeizuführen. Man ist sich dabei des naturgemäßen Gegensatzes gegen das Unternehmertum voll bewußt geblieben, hat aber ebensowenig verkannt, daß gemeinsame Interessen bestehen, zu deren Förderung ein Zusammenwirken mit den Arbeitgebern das innerlich berechtigte Mittel ist. Man hat endlich auch offen zum Ausdrucke gebracht, daß die aufstrebende Arbeiterschaft in denjenigen bürgerlichen Elementen, die dies als naturnotwendig und vollberechtigt anerkennen und ihrerseits zu fördern versuchen, einen wertvollen Bundesgenossen besitzt, dessen Hülfe man nicht in rauhbeinigem Selbstgefühl abweisen soll. Kurz der 3. Gewerkschaftskongreß bedeutet eine erhebliche und hoch erfreuliche Annäherung an das gewerkschaftliche[Pg 245] Ideal, und es ist zu hoffen, daß durch ihn die Richtung auf dieses hin endgültig und dauernd festgelegt ist. —

Die Statistik der Gewerkschaften ist, wie oben mitgeteilt, Aufgabe der Generalkommission. Diese hat sich denn auch seit ihrem Bestehen die Sammlung möglichst genauer Ziffern angelegen sein lassen, allein erst für das Jahr 1892 ist es ihr gelungen, die erforderte Auskunft von den einzelnen Verbänden bis auf einige Ausnahmen zu erhalten. Aus den früheren Jahren sind meist nur dürftige Anhaltspunkte vorhanden, mit einziger Ausnahme der bereits oben (S. 209) erwähnten Privatarbeit des Hamburger Buchhändlers A. Geib aus dem Jahre 1877, die in Nr. 4 des „Pionier“ am 26. Januar 1878 veröffentlicht ist und auf gute Quellen gegründet zu sein scheint.

Nach dieser Zusammenstellung gab es 1877 30 Organisationen, darunter 25 Zentralverbände mit 1266 Zweigvereinen und 5 Lokalvereinen. Die Mitgliederzahl betrug 49055, die durchschnittliche Monatseinnahme 33551 Mk. Von dem monatlichen Ueberschusse zu rund 8000 Mk. entfielen allein 3538 Mk. auf die Buchdrucker. Es erschienen 15 Gewerkschaftsblätter mit 37025 Abonnenten. Die damalige Anzahl der in den betreffenden Berufen vorhandenen Arbeiter wird auf 2000000 angegeben, so daß etwa 2½% organisiert waren. Nur die Buchdrucker und die Schiffszimmerer erreichten eine Beteiligung von etwa der Hälfte aller Beschäftigten. Die absolut stärkste Vereinigung war die der Tabakarbeiter mit 8100 Mitgliedern in 170 Orten.

Nach Zacher soll die Anzahl der unter sozialdemokratischem Einflusse organisierten Arbeiter im Jahre 1886: 81200, im Jahre 1888: 89700 und im Jahre 1889: 121647 betragen haben.

Oldenberg hat in seinem Artikel „Gewerkvereine“ im Ergänzungsbande des Handw. d. St.-W. S. 384 ff. aus den an den Minister erstatteten Berichten der Polizeibehörden geschöpft, die zum Teil von den Angaben der Generalkommission abweichen und zwar meist höher sind, da sie auch die lokalorganisierten Arbeiter umfassen. Oldenberg berechnet nach diesen beiden Quellen folgende Durchschnittszahlen:

1885/86 100356   Frühjahr 1892 300815
1887/88 103330   März 1892 279594
Frühjahr 1889 135353   Ende 1892 236516
1890 277098   Frühjahr 1893 242555
Ende 1890 320213   Ende 1893 249985
Frühjahr 1891 277474   Frühjahr 1894 255622
Ende 1891 269988   Letztes Datum 273451

Die erste Aufzeichnung der Generalkommission ist für das Jahr 1890 gemacht und berechnet 301200 Mitglieder in 58 Organisationen. Auf dem[Pg 246] Halberstädter Gewerkschaftskongresse waren nach Ausweis des Berichtes 305519 Arbeiter durch 208 Delegierte vertreten. Aber die Zahlen sind offenbar in den einzelnen Gruppen nach oben abgerundet und deshalb erheblich zu hoch.

Für die folgenden Jahre ist die Aufzeichnung genauer und giebt folgende Zahlen:

Es bestanden 1891 65 Zentralorganisationen — wovon 4 durch Vertrauensmänner zentralisiert — von denen 55 die erforderten Angaben machten. Diese umfaßten 176664 Arbeiter. Die Mitgliederzahl der fehlenden 10 Organisationen wird nach den entsprechenden Angaben für 1892 auf 101365 berechnet, wozu auch die Mitglieder der Lokalvereine kommen, die auf 10000 geschätzt werden, so daß die Gesamtzahl der in den Gewerkschaften organisierten Arbeiter sich auf etwa 288000 berechnet. Die jährliche Einnahme betrug 1116588 Mk., die Anzahl der Fachorgane 44, deren Kosten sich auf 154015 Mk. beliefen. Für Streiks wurden 1037789 Mk., für Reiseunterstützung 144338 Mk. für Arbeitslosenunterstützung 64290 Mk., an Verwaltungskosten 155676 Mk. ausgegeben. Der Vermögensbestand betrug 427058 Mk.

Im Jahre 1892 gab es 57 Zentralorganisationen, von denen 52 mit 3959 Zweigvereinen und 227023 Mitgliedern berichteten. Die fehlenden 5 hatten nach den Angaben früherer Jahre 10271 Mitglieder, wozu 6 Lokalvereinigungen mit einem von den Zentralvorständen auf 7640 ermittelten Bestande kommen, so daß die Gesamtzahl der organisierten Arbeiter 244934 betrug. Das bedeutet also eine Abnahme von 43000 gegen 1891, die wesentlich auf die Bergarbeiter entfällt; den Hauptanteil dieses Rückganges hatte der Bergarbeiterverband für Westfalen aufzuweisen, dessen Bestand von 45000 auf 15300 zurückgegangen war. Die Verminderung der Zentralorganisationen war die Folge der Vereinigung verwandter Verbände.

Die Jahreseinnahme betrug 2031922 Mk., die Ausgabe für die Fachorgane 285475 Mk., für Streiks 44943 Mk., für Reiseunterstützung 382607 Mk., für Arbeitslosenunterstützung 357087 Mk., für Verwaltungskosten 204427 Mk. Der Vermögensbestand belief sich auf 646415 Mk.

Im Jahr 1893 vereinigten sich, wie schon erwähnt, auf dem vom 4. bis 7. April in Cassel abgehaltenen Kongresse die Bürstenmacher, Drechsler, Stellmacher und Tischler zu dem deutschen Holzarbeiterverbande. Da sich außerdem der Gasarbeiterverband und der Verband der Posamentiere auflöste, so ergiebt sich, indem man den Zentralverein der Frauen und Mädchen, weil er nur Bildungszwecken dient, jetzt als Gewerkschaft nicht mehr mitzählt, für Ende 1893 eine Zahl von 51 Zentralorganisationen, von denen 50 Angaben gemacht haben. Nach diesen betrug die Mitgliederzahl 221530. Rechnet man dazu die fehlende eine Organisation der Steinmetzen mit 2000 und den auf 6280 geschätzten[Pg 247] Bestand der Lokalorganisationen, so ergiebt sich eine Gesamtzahl der in Gewerkschaften organisierten Arbeiter von 229810. Die Bergarbeiter in Westfalen sind gegen 1892 mit 15300 noch weiter auf 11174 zurückgegangen, der Rechtsschutzverein der Bergleute des Saargebietes mit 22400 Mitgliedern ist aufgelöst, dagegen haben 26 andere Organisationen um insgesamt 19739 zugenommen.

Die Jahreseinnahme betrug 2224367 Mk., die Ausgabe für die Fachorgane 292158 Mk., für Streiks 65356 Mk., für Reiseunterstützung 328748 Mk., für Arbeitslosenunterstützung 220926 Mk., für Verwaltungskosten 227129 Mk. Der Vermögensbestand belief sich auf 607033 Mk.

Im Jahre 1894 ist der sächsische Bergarbeiterverband aufgelöst, dagegen sind Verbände der Schlachter, der süddeutschen Mühlenarbeiter, der Bureauangestellten, der Flößer und der Binnenschiffer neu gegründet, so daß, indem die Organisation der Steinarbeiter, die keine Zweigvereine, sondern nur Vertrauensmänner in den einzelnen Orten besitzt, nicht mehr mitgezählt ist, sich Ende 1894 54 Zentralverbände ergaben. Von diesen haben 46 mit 4217 Zweigvereinen und 230225 Mitgliedern sowie 2 durch Vertrauensmänner zentralisierte Organisationen mit 133 Zweigvereinen und 8388 Mitgliedern Angaben gemacht. Rechnet man für die fehlenden Verbände und 2 fernere Vertrauensmännerorganisationen deren nach den Angaben für 1893 ermittelte Ziffern mit 8615 bezw. 3888 und endlich 5550 Mitglieder der Lokalorganisationen hinzu, so ergiebt sich ein Gesamtbestand der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter von 256666[91]. Dabei ist allerdings zu bemerken, daß die Ziffern für 1891, 1892 und 1893 den Bestand am Schlusse des Jahres wiedergeben, während diejenigen für 1894 den Durchschnitt aus den Vierteljahrsziffern darstellen, doch hat diese Verschiedenheit auf die Vergleichbarkeit keinen in Betracht kommenden Einfluß. Die Jahreseinnahme der 40 Organisationen, deren Angaben vorliegen, betrug 2685564 Mk., die Ausgabe für die Verbandsorgane 265957 Mk., für Streiks 188980 Mk., für Reiseunterstützung 350455 Mk., für Arbeitslosenunterstützung 239750 Mk., für Verwaltungskosten 154408 Mk. Der Vermögensbestand belief sich auf 1148020 Mk. Der Bericht der Generalkommission für 1894 weist zur Entkräftung der Behauptung, daß die Gewerkschaften Streikvereine wären, darauf hin, daß, während die Ausgaben der aufgeführten Verbände für Rechtsschutz, Gemaßregelten-, Reise-, Arbeitslosen-, Kranken- und Invalidenunterstützung, Umzugskosten und Beihilfe in Not- und Sterbefällen sich auf 1078455,90 Mk. belaufen, die Streikunterstützung nur 179703,76 Mk. betrage.

[Pg 248]

Auch der Bericht für 1895 erhebt die alte Klage über mangelhafte und verspätete Angaben der Verbandsleitungen. Die Ziffern der Müller, Seiler, Tabakarbeiter und Steinarbeiter haben deshalb aus 1894 übernommen werden müssen. Als Gesamtergebnis des Berichtsjahres wird bezeichnet eine erhebliche Zunahme des Mitgliederbestandes, aber eine Verringerung des Vermögensbestandes infolge großer und andauernder Lohnkämpfe. Die Zahl der Zentralorganisationen hat sich um 5 verringert. Die Verbände der Kürschner und Plätterinnen haben sich infolge geringer Beteiligung aufgelöst; der Verband der Schlachter wird in Ermangelung von Lebenszeichen als tot betrachtet. Die Formenstecher haben sich den Lithographen, die Korbmacher den Holzarbeitern, die süddeutschen Müller dem allgemeinen Müllerverbande angeschlossen. Dagegen ist Anfang 1896 der Verband der Werftarbeiter neu gegründet.

Danach bestanden 1895 — abgesehen von den noch nicht berücksichtigten Werftarbeitern — 49 Zentralverbände und 4 durch Vertrauensmänner zentralisierte Organisationen mit insgesamt 259175 Mitgliedern nebst 10781 in den Lokalorganisationen. Der Bericht führt jedoch aus, daß hierin die volle Zunahme nicht zum Ausdruck gelange, weil der sächsische Bergarbeiterverband mit 8821 Mitgliedern durch die Behörden aufgelöst sei, während diese Mitglieder deshalb der Bewegung nicht verloren gegangen seien. Der Bericht betont wiederholt die Unsicherheit der angegebenen Zahlen und ihre Unvergleichbarkeit mit anderen Jahren, da viele Vorstände, insbesondere der Lokalorganisationen überhaupt, keine Angaben gemacht hätten und diejenigen Zahlen, die auf Grund solcher Angaben eingestellt wären, sich zum Teil auf andere Verbände, als in den Vorjahren, bezögen.

Der Bericht bemerkt, daß die Gesamtzahl der Mitglieder 1889/90 größer gewesen sei, als 1894/95, wie denn stets bei aufsteigender Konjunktur ein Wachstum, bei niedergehender ein Sinken stattfinde, daß aber seit 1894 ein Aufschwung beginne, der sich voraussichtlich noch fortsetzen werde. Sehr nachdrücklich wird die Herbeiziehung der Frauen zur Organisation empfohlen.

Die Jahreseinnahme hat sich von 2643015 Mk. bei 40 Organisationen im Jahre 1894 auf 2745617 Mk. in 44 Organisationen gehoben, doch beziehen sich auch hier die Ziffern nicht auf dieselben Verbände. Der Löwenanteil entfällt auf die Buchdrucker mit 1032460 Mk., dann folgen die Metallarbeiter mit 280262 Mk., die Holzarbeiter mit 205498 Mk., die Porzellanarbeiter mit 195739 Mk., die Maurer mit 109848 Mk. u. s. w.

Die Gesamtausgabe der 43 Organisationen im Jahre 1894 von 2135609 Mk. war bei 44 Organisationen im Jahre 1895 auf 2140985 Mk., der Kassenbestand am Ende beider Jahre von 1319295 Mk. (bei 41) auf 1640438 Mk. (bei 44) gestiegen. Derselbe betrug auf den Kopf des Mitgliedes[Pg 249] bei den Buchdruckern 49,12 Mk., den Hutmachern 34,80 Mk., den Zigarrensortierern 18,69 Mk., den Bildhauern 15,06 Mk., den Handschuhmachern 14,47 Mk., den Buchbindern 11,49 Mk., bei den übrigen unter 10 Mk. Der Bericht weist zum Schlusse darauf hin, daß bisher in Deutschland von 100 Industriearbeitern nur 5 organisiert seien und daß die meisten Organisationen es scheuten, durch höhere Beiträge die Füllung der Kassen zu erreichen, ohne die ein kräftiger Widerstand im Falle des Kampfes unmöglich sei.

Der Bericht für 1896 erklärt, daß zum erstenmale die Beschaffung des statistischen Materials wenigstens hinsichtlich der wichtigsten Zahlen für alle Organisationen erreicht sei. Von den am Schlusse des Jahres 1895 vorhandenen 49 Zentralverbänden hat sich 1896 der Verband der Seiler dem Textilarbeiterverbande angeschlossen. Dagegen wurde der Verband der Gasarbeiter neu begründet, so daß am Schlusse des Jahres 1896 48 Zentralverbände bestanden. Daneben gab es 2 durch Vertrauensmänner zentralisierte Organisationen.

Die Mitgliederzahl hat sich, wie schon der Bericht für 1895 vorausgesagt hatte, 1896 sehr bedeutend, nämlich von 259175 auf 329230, also um 70055, gehoben. Dazu kommen noch 5873 Lokalorganisierte.

Die Gesamteinnahme von 49 Organisationen betrug 3616444 Mk., dazu ist noch zu rechnen die Einnahme der Tabakarbeiter, die keine Angabe gemacht hatten und in dem Berichte auf 140000 Mk. geschätzt wird. Für die Gasarbeiter, die noch nicht ein volles Jahr bestanden, lagen ebenfalls noch keine Angaben vor. Uebrigens entfallen von der obigen Einnahme allein 1115163 Mk. auf die Buchdrucker. Die Jahresausgabe betrug in 50 Organisationen (ausschließlich der Gasarbeiter) 3323713 Mk., wovon auf das Verbandsorgan bei 44 Verbänden 362708 Mk., auf Agitation 86676 Mk., auf Rechtsschutz 18349 Mk., auf Reiseunterstützung in 31 Verbänden 310000 Mk., auf Arbeitslosenunterstützung in 13 Verbänden 243201 Mk., auf Krankenunterstützung in 9 Verbänden 430038 Mk. und auf Verwaltungskosten 187599 Mk. entfielen. Für Streiks waren 944344 Mk. verausgabt gegen 704528 Mk. im Jahre 1895. Der Kassenbestand betrug bei 47 Verbänden 2323677 Mk., woran die Buchdrucker mit 1265297 Mk. beteiligt waren.

Im Jahre 1897 sind 5 neue Verbände gegründet, die sämtlich auf einem Zusammenschluß von Lokalvereinen beruhen, deren Mitglieder deshalb zum Teil in den früheren statistischen Ziffern mit enthalten sind. Es sind dies die Verbände der Gastwirtsgehülfen, der Graveure, der Handlungsgehülfen, der Handelshülfsarbeiter und der Seeleute. Damit ist die Zahl der Zentralverbände auf 52 und unter Zurechnung von 4 durch Vertrauensmänner zentralisierten Organisationen auf 56 gestiegen. Die Mitgliederzahl ist um 83129 = 25,2 %[Pg 250] gewachsen und betrug Ende 1897 412359, wovon 14644 Frauen waren. Unter Hinzurechnung der von den Zentralverbänden auf 6803 angegebenen Lokalorganisationen ergiebt sich mithin eine Gesamtzahl von 419162. Von den nach der Berufszählung vom 14. Juni 1895 in den betreffenden Gewerben beschäftigten 5064034 männlichen und 1101701 weiblichen Arbeitern waren mithin 7,53 % bezw. 1,05 %, im Durchschnitt 6,66 % in den sozialistischen Gewerkschaften organisiert.

Im Jahre 1898 hat sich die Zahl der Organisationen auf 59, diejenigen der Mitglieder auf 491955 (also um 79596) vermehrt. Darunter befanden sich 13009 weibliche. Die Zahl der Lokalorganisierten wird auf 15792 geschätzt.

Der Bericht der Generalkommission bemerkt zu diesen Ziffern, daß sie ungünstiger schienen, als sie in Wahrheit seien, denn man müsse berücksichtigen, daß die Organisation auf dem Lande gegen die in den Städten sehr zurückgeblieben sei und daß deshalb bei einer Stadt und Land nicht sondernden Durchschnittsberechnung die städtischen Ziffern durch die ländlichen herabgedrückt würden; in den Städten aber liege der Schwerpunkt der Bewegung und die dort errungenen Vorteile kämen schließlich auch den ländlichen Arbeitern zu statten, in den Städten aber sei die Organisation so weit vorgeschritten, daß in einzelnen Orten fast zwei Drittel aller Arbeiter organisiert seien.

Ebenso erwähnt der Bericht, daß, abgesehen von den Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereinen, auch noch andere Arbeiterorganisationen vorhanden seien, die nicht „auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung“ ständen. Solche Vereine beständen nach Ermittelungen der Zentralverbände

bei den Brauern 28 Vereine mit 3200 Mitgliedern
Buchdruckern   2 2000
Gärtnern   1   800
Hafenarbeitern   1   140
Konditoren   2   700
Porzellanarbeiter 21   518
Steinsetzern   3   300
    zusammen 58 Vereine mit 7758 Mitgliedern.

Endlich kommen noch die später[92] zu erwähnenden Organisationen in Betracht, die nur zum Teil einen ausgesprochenen gewerkschaftlichen Karakter haben, so daß sie den Uebergang bilden zu Vereinen, die diesen ganz vermissen lassen.

Die Verteilung der Mitglieder, der Einnahmen, Ausgaben und der Kassenbestände auf die einzelnen Berufe ergiebt die folgende Tabelle:

[Pg 251]

Nr. Verband[93] Zweigvereine Mitglieder der Organisation Berufsangehörige Prozentsatz der Organisation Lokalorganisierte Jahreseinnahme in Mark Jahresausgabe in Mark Vermögensbestand in Mark
1. Bäcker     42     1635   129527   1,27     80     14555,11     12542,40       2012,71
2. Barbiere     21       588     30789   1,91       1690,28       1393,17         297,11
3. Bauarbeiter     82     4339   371762   1,16 ?     21051,56     27239,69     10270,72
4. Bergarbeiter   190   18000   534157   3,36     48847,70     29923,03     15554,35
5. Bergarbeiter     88     3327       6000 55,45     83785,55     75612,17     61635,97
6. Bötticher     89     4150     31483 13,22     33169,73     26071,04     12280,48
7. Brauer   106     8133     71482 11,37     57630,24     49970,69     19804,14
8. Buchbinder     59     6258     46280 13,52     30     89039,20     63963,61     62779,54
9. Buchdrucker   899   22865     37000 61,80   200 1212694,10   840811,71 1636007,34
10. Bureauangestellte       3       260 ? ?       1716,59       1726,74           34,20
11. Dachdecker     76     1800     21844   8,23     4800        5806            650,12
12. Fabrikarbeiter   127   15639   208737   7,50 ?   52977,13   26673,74
13. Former     90     4853     70804   6,85   200     41848,99     44974,58     22201,04
14. Gärtner     18       350     79001   0,45       2677,62       2588,85           88,77
15. Gasarbeiter     10       924     12113   7,62       3614,50       4024,64         847,10
16. Glasarbeiter     18     4024     47528   8,47     28858,52     39042,40     10479,09
17. Glaser     64     1195     11033 10,83       9142,39       8999,13     13416,56
18. Graveure     17       752       9519   7,95     40       9269,17       2385,99       4236,40
19. Hafenarbeiter     39   11000     28981 37,95     25803,86     44856,19     12216,96
20. Handelshülfsarbeiter     32     2703   175336   1,53 1800     17465,92     13998,32       3467,60
21. Handlungsgehülfen     13       225   270053   0,08   350       1406,61       1142,58         264,03
22. Handschuhmacher     39     2970       9381 31,66     51573,79     38209,32     48388,66
23. Holzarb. (Verband)   475   40876   372635 10,91 ?   377927,79   303534,15   123263,24
24. (Hülfsarb.)       8       921     66047   1,39       3021,36       2009,09       1739,74
25. Hutmacher     44     2688     15521 17,34     40     63303,32     82417,92     86327,01
26. Konditoren     12       452     20418   2,21       3411,45       2202,58       1645     
27. Kupferschmiede     57     3284       9769 33,51     83988,61     25646,69     58351,92
28. Kupferschmiede       267       2346,26       1262,15       1084,11
29. Lederarbeiter     90     4136     42015   9,84   150     51420,43     29451,91     31524,39
30. Lithographen     95     5189     23781 21,80   100     42651,58     37167,71       5483,87
31. Maler   167     6861     95419   7,19     44720,78     40375,38     20159,45
32. Maurer   530   42652   372416 11,45 2312   371654,20   372727,63     69987,96
33. Metallarbeiter   427   59890   645536   9,27 ?   479522,47   366893,59   176291,25
34. Müller     42     1072     66849   1,60       6027,10       5556,86       1716,84
35. Porzellanarbeiter   128     8668     41141 21,06   566   127192,82   106662,32   143910,01
36. Sattler u. Tapezierer     57     2151     41914   5,10     50     12966,81       8739,51       9477,57
37. Seeleute ?     2444     15294 16,00     16637,80     16129,10       2772,10
38. Schiffszimmerer     11     1259       7910,45       6915,25       4599,91
39. Schmiede     27     2190   130768   1,67     14229,25     12285,46       4706,83
40. Schneider   215     9041   328931   2,74 ?     62496,70     45782,87     38772,39
41. Schuhmacher   233   14935   162931   9,18     91667,13     97549,14     10165,49
42. Steinarbeiter   160   11500   125195   9,19     55134          41338,90     13795,88
43. Steinsetzer     95     2980     17053 17,52   220     22247,45     21210,29       5319,47
44. Stukkateure     34     1325     12089 10,95 ?       7885,24       5190,44       7139,24
45. Textilarbeiter   194   22648   697523   3,25   114306,58     84276,43     23913,72
46. Töpfer   127     4416     36891 11,96     95     35934,62     41828,91       9926,95
47. Vergolder     18     1029     15957   6,44       9228,80       8319,43       8881,54
48. Werftarbeiter     13     2526     20116 12,56   200     21103,27     16523,76       6593     
49. Xylographen       3       132       3782,10       4530,71     16068,46
50. Zigarrensortierer     25       685 15,43     14623,70       8890,95     20105,44
51. Zimmerer   306   17620   155475 11,33 ?   175703,46   161164,77     84095,22
52. Gastwirtsgehülfen[94]     11     1108   258152   0,43
53. Gold- u. Silberarb.[94]     14     1401     31764   4,40   150
54. Tabakarbeiter[94]   375   17951   120767 15,43   197963,63
55. Tapeziere[94]     36     1344     20558   6,53   150
Insgesamt 6151 410864 6165735   6,66 6803 4083696,96 3542807,87 2951424,63

[Pg 252]

In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Posten der Ausgabe, nämlich die Arbeitslosen-, Kranken-, Invaliden- und Reiseunterstützung, die Kosten des Verbandsorganes und die für Streiks verausgabten Beträge nach ihrer absoluten wie nach ihrer relativen Höhe nachgewiesen.

Nr. Verband Arbeitslosenunterstützung Kranken- u. Invalidenunterstützung, Sterbegeld Reiseunterstützung Verbandsorgan Streikunterstützung
Ueberhaupt Mark Auf den Kopf Mark Ueberhaupt Mark Auf den Kopf Mark Ueberhaupt Mark Auf den Kopf Mark Ueberhaupt Mark Auf den Kopf Mark Ueberhaupt Mark Auf den Kopf Mark
1. Bäcker       388 0,30     3055   1,86       547 0,33
2. Barbiere       634   1,08         12 0,02
3. Bauarbeiter       461 0,10     4848   1,12   10665 2,45
4. Bergarbeiter   13727   0,76     2270 0,13
5. Bildhauer   33430 10,04     9722   2,91     7610 2,28     6800   2,04     4189 1,25
6. Bötticher       284   0,07     3373 0,81     8680   2,09     1950 0,46
7. Brauer     4007   0,49       864   0,10     3070 0,38   10083   1,24     4980 0,61
8. Buchbinder   14284   2,28   12916   2,06     7605 1,21
9. Buchdrucker 132779   5,81 428787 11,74 137388 6,01   81507 3,56
10. Bureauangestellte       812   3,12
11. Dachdecker     2226   1,23     2190 1,21
12. Fabrikarbeiter       665   0,04     2983 0,19     6477   0,41   13269 0,85
13. Former       283   0,05         15     4835 0,99     8292   1,71   14041 2,89
14. Gärtner     1150   3,18
15. Gasarbeiter       613   0,66       298   0,32         34 0,04
16. Glasarbeiter     4440   1,10     4820   1,19         22     6845   1,70     1170 0,28
17. Glaser       721   0,60       965 0,80     3457   2,89     1054 0,88
18. Graveure       475   0,63       445 0,59       816   1,08
19. Hafenarbeiter       781   0,07   12492 1,13
20. Handelshülfsarbeiter       852   0,31     1610   0,59       229 0,08
21. Handlungsgehülfen       453   2,01
22. Handschuhmacher     5128   1,72       225   0,07     1567 0,53     4396   1,48   17923 6,03
23. Holzarbeiter (Verband)     4736   0,11   19676 0,48   51951   1,27   96643 2,36
24. (Hülfsarb.)       705 0,78
25. Hutmacher   19015   7,07   40028 14,88     2736 1,01     5589   2,08     9152 3,40
26. Konditoren       247   0,54       949   2,10
27. Kupferschmiede     6018   1,83       465   0,14     5068 1,54     3894   1,18       750 0,23
28. Lagerhalter       250 0,94
29. Lederarbeiter     1163   0,28     1607   0,39   10493 2,53     3692   0,89     5559 1,34
30. Lithographen       464   0,09     7254 1,40     7750   1,49   11253 2,17
31. Maler       215   0,03       779 0,11   10382   1,51     3420 0,50
32. Maurer     3309 0,08   48850   1,12 192477 4,49
33. Metallarbeiter     1236   0,02     5611   0,11   21965 0,36   61400   1,02 110966 1,82
34. Müller       873   0,81     2323   2,16         92 0,08
35. Porzellanarbeiter   33552   3,87   34175   3,96     7964   0,92   11060 1,27
36. Sattler       640   0,30       882 0,41     2899   1,35       700 0,32
37. Schiffszimmerer     2002   1,59       450 0,36
38. Schmiede       538 0,24     5442   2,48       550 0,25
39. Schneider       289   0,03     7361 0,81   14109   1,56     2906 0,32
40. Schuhmacher     2481   0,16     5358 0,36   14840   0,99   51864 3,47
41. Steinarbeiter   23324 2,28
42. Steinsetzer       728   0,24       466 0,15     3355   1,12     9082 3,05
43. Stukkateure         50   0,04 —    275 0,21     1953   1,47     1458 1,09
44. Tabakarbeiter   43361   2,41   27718 1,54   26467   1,42   55410 3,09
45. Textilarbeiter     7112 0,31   25587   1,13   43215 1,20
46. Töpfer     3299 0,74     4391   0,99   18709 4,22
47. Vergolder       149   0,14       134 0,13     1136   1,10       600 0,57
48. Werftarbeiter   14927 5,90
49. Xylographen       801   6,07         40   0,30           6 0,04     2215 16,79       138 1,05
50. Zigarrensortierer     2697   3,91     3282   4,79       556 0,81         65   0,09
51. Zimmerer         944 0,05   31698   1,80   36971 2,10
Insgesamt 289036   587488   289036   439259   881758  

[Pg 253]

Aus diesen Zahlen ergiebt sich, daß es durchaus unberechtigt ist, die Gewerkschaften als reine oder auch nur überwiegend als Streikvereine darzustellen, wie es Graf Posadowsky im Reichstage that. Allerdings haben 1897 die Zentralverbände 881758 Mk. für Streiks ausgegeben, und die Gesamtsumme, die die Streiks erfordert haben, beläuft sich sogar auf 1267308 Mk., indem nicht alle Streikgelder durch die Zentralkassen laufen. Aber dem stehen 1197960 Mk. an Unterstützungen gegenüber, nämlich

Rechtsschutz in 37 Verbänden     30147 Mk.
Gemaßregeltenunterstützung 25     30973
Reiseunterstützung 33   289036
Arbeitslosenunterstützung 18   260316
Krankenunterstützung 14   454494
Invalidenunterstützung   3     68688
Beihülfe in Not- und Sterbefällen 21     64906
  1197960 Mk.

Noch günstiger stellt sich die Rechnung, wenn man den Unterstützungsbeträgen noch die Kosten für das Verbandsorgan (439259 Mk.) hinzurechnet; dann stehen den 881758 Mk. oder auch 1267308 Mk. für Streiks 1637219 Mk. gegenüber.

Die Beiträge schwankten zwischen 6,9 Pf. und 1 Mk. 10 Pf. wöchentlich. Sie betrugen bei den Buchdruckern 1 Mk. 10 Pf., den Bildhauern 50 Pf., den Hafenarbeitern 9,2 Pf., den Kupferschmieden 25–30 Pf., den Handschuhmachern 35 Pf., den Lithographen 20 Pf., den Porzellanarbeitern 10–35 Pf., den Steinsetzern 10,11 Pf., den Hutmachern 25–45 Pf., den Seeleuten 19 Pf., den Tabakarbeitern 10–20 Pf., den Zigarrensortierern 25–75 Pf., den Schiffszimmerern 15 Pf., den Werftarbeitern 10 Pf., den Buchbindern 35 Pf., den Böttchern 11,5 Pf., den Töpfern 15–20 Pf., den Maurern 15–20 Pf., den Brauern 20 Pf., den Zimmerern 10–30 Pf., den Stuckateuren 10 bis 20 Pf., den Holzarbeitern (Verband) 20 Pf., den Glasern 15 Pf., den Lederarbeitern 25 Pf., den Metallarbeitern 20 Pf., den Steinarbeitern 10–50 Pf., den Schuhmachern 15 Pf., den Glasarbeitern 30 Pf., den Dachdeckern 10,4 Pf., den Graveuren 30 Pf., den Gasarbeitern 15 Pf., den Fabrikarbeitern 10 Pf., den Malern 10–20 Pf., den Formern 20 Pf., den Tapezierern 15 Pf., den Vergoldern 20 Pf., den Sattlern 15 Pf., den Gold- und Silberarbeitern 20 Pf., den Bergarbeitern 6,9 Pf., den Textilarbeitern 10 Pf., den Schneidern 15 Pf., den Konditoren 30 Pf., den Barbierern 20 Pf., den Schmieden 20 Pf., den Müllern 13,8 Pf., den Handelshülfsarbeitern 20 Pf., den Holzarbeitern (Hülfsarbeiter) 15 Pf., den Bäckern 18,11 Pf., den Bauarbeitern 15 Pf., den Gärtnern[Pg 254] 15–20 Pf., den Gastwirtsgehülfen 30 Pf., den Handlungsgehülfen 23 Pf. und den Lagerhaltern 11,5 Pf.

Es hat Interesse, auch die Entwickelung der Gewerkschaften in den letzten Jahren in Ziffern zu verfolgen. Diese ist, was den Mitgliederbestand betrifft, ersichtlich aus folgender Zusammenstellung:

Jahr Zentral-Organisationen Zweigvereine Mitglieder Darunter weibliche In Lokalvereinen Zusammen
1891 62 277659 10000 287659
1892 56 3959 237094   4355   7640 244734
1893 51 4133 223530   5384   6280 229810
1894 54 4350 246494   5251   5550 252044
1895 53 4819 259175   6697 10781 269956
1896 51 5430 329230 15265   5858 335088
1897 56 6151 412359 14644   6803 419162
1898 59 491955 13009 15792 507747

Das Verhältnis der verschiedenen Ausgabeposten in den einzelnen Jahren und das Wachstum der Leistungen zeigt folgende Uebersicht:

Im Jahre Rechtsschutz
Mk.
Gemaßregelten-
unterstützung
Mk.
Reise-
unterstützung
Mk.
Arbeitslosen-
unterstützung
Mk.
Kranken-
unterstützung
Mk.
Invaliden-
unterstützung
Mk.
Beihülfe
in Not- und
Sterbefällen
Mk.
Zusammen
Mk.
Streik-
unterstützung
Mk.
Verbands-
organ
Mk.
1891   10843   14737   144338     [95]64290      [95]—      [95]—      [95]—        234298 1037789   154015
1892     9705 236964   382607   357087   21972   25284 1033619     44943   285475
1893   12542   28321   328748   220926   304648 [95]—        41762   936947     65356   292157
1894   12902   14630   350455   239750   425489 [95]—        41744 1084970   188980   265957
1895   15871   40307   302603   196912   454114 [95]—        42080 1051887   253589   274398
1896   18349   37346   310000   243201   430038   57947   53837 1150718   944372   362708
1897   30147   30973   289036   260316   454494   68088   64906 1197960   881758   439259
Summa 110359 403278 2107787 1582482 2068783 148007 269613 6690309 3416787 2073969

Auch hier tritt hervor, daß der Schwerpunkt der Thätigkeit nicht auf dem Gebiete der Arbeitseinstellungen liegt, denn in den Jahren 1891–1897 steht den für Streikunterstützung verausgabten 3416787 Mk. eine Gesamtsumme für Unterstützungen von 6690309 Mk. gegenüber, die sich unter Hinzurechnung der Ausgabe für das Verbandsorgan sogar auf 8764278 Mk. erhöht.

[Pg 255]

I. Die Lokalorganisierten.

In den vorstehenden statistischen Uebersichten sind auch Zahlen für die lokalorganisierten Arbeiter angegeben, die danach 1891 10000, 1892 7640, 1893 6280, 1894 5550, 1895 10781, 1896 5858, 1897 6803 und 1898 15792 betragen haben. Diese Angaben stützen sich auf Schätzungen der Vorstände der Zentralorganisationen, werden aber von der Generalkommission selbst als „höchst unzuverlässig“ bezeichnet, indem darauf hingewiesen wird, daß allein der nicht berücksichtigte Berliner Lokalverband der Metallarbeiter angeblich 10000 Mitglieder zählen solle. Auf der vom 20. bis 24. April 1897 in Braunschweig abgehaltenen dritten Generalversammlung des deutschen Metallarbeiterverbandes ist nun aber der Anschluß des Berliner Lokalverbandes, dessen Mitgliederzahl dabei auf 9000 angegeben wurde, zu stande gekommen, sodaß die Metallarbeiter jetzt aus der Reihe der Lokalorganisationen ausscheiden. Auf dem I. Gewerkschaftskongresse in Halberstadt waren angeblich 32805 lokalorganisierte Arbeiter vertreten, doch scheint diese Ziffer viel zu hoch gegriffen.

Obgleich hiernach die lokal organisierten Arbeiter keine große Zahl darstellen, haben sie doch schon mehrere eigene Kongresse veranstaltet. Der erste derselben wurde vom 17. bis 19. Mai 1897 in Halle a. S. unter Leitung des Regierungsbaumeisters a. D. Keßler abgehalten. Es waren 38 Abgeordnete aus 13 Orten und für 14 verschiedene Berufe vertreten, aber über den Umfang der Lokalorganisation ist auch hier kein Anhaltspunkt geschaffen, vielmehr erklärte man, daß die Mitgliederzahl noch nicht ermittelt werden könne, ein Eingeständnis, das hinreicht, um die offenbare Schwäche zu verraten[96]. Wenn die Generalkommission in Nr. 22 des Korrespondenzblattes vom 31. Mai 1897 die Zahl von 10000 für sicher zu hoch gegriffen erklärt, so ist das ganz gewiß richtig. Ein anderer Berichterstatter[97] schätzt dieselbe auf 4–5000.

Der Grundgedanke der Lokalorganisation ist, wie schon früher betont, die Auffassung, daß die Gewerkschaften die Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten nicht entbehren könnten und deshalb, da die Vereinsgesetze in diesem Falle das In-Verbindung-Treten mehrerer Vereine nicht gestatten, besser thäten, hierauf zu verzichten; außerdem aber würden die Zentralverbände durch die Nichtbeschäftigung mit Politik zur Vereins- und Verbandssimpelei und Züchtung einer Gewerkschaftsbureaukratie geführt. Diese Auffassung fand ihren Ausdruck in folgender Resolution:

[Pg 256]

  In Erwägung
1. daß der sogenannte gewerkschaftliche Kampf um Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Boden der heute bestehenden Ordnung nicht geführt werden kann, ohne das Verhältnis der Arbeiter zu dem heutigen Staate und seinen Organen der Gesetzgebung und Verwaltung scharf und bestimmt zu berühren;
2. daß der gewerkschaftliche Kampf also von dem politischen Kampfe um die politische Macht und deren Erweiterung nicht zu trennen ist;
3. daß weder eine wesentliche Verbesserung der Lage der Arbeiter noch eine Vermehrung ihrer Rechte von der Humanität oder von dem guten Willen der heutigen Gesellschaft zu erwarten ist, sondern anerkanntermaßen nur der Kampf ums Recht das Recht bildet;
4. daß dieser Kampf aber nur dann mit dem nötigen Nachdruck und der nötigen Einheitlichkeit von den Arbeitern geführt werden kann, wenn er in seinem Karakter als Klassenkampf der Arbeiterklasse gegen ihre Ausbeuter erkannt und geführt wird;
5. daß dieser notwendige und unvermeidliche Klassenkampf nur unter engem und bewußtem Anschlusse an die Grundsätze und Taktik der sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit Aussicht auf Erfolg geführt werden kann,

erklärt der zu Halle a. S. tagende erste Kongreß der lokalorganisierten, nur auf dem Boden des Vertrauensmännersystems zentralisierten Gewerkschaften Deutschlands:

I. Eine Trennung der gewerkschaftlichen Bewegung von der bewußten sozialdemokratischen Politik ist unmöglich, ohne den Kampf um die Verbesserung der Lage der Arbeiter auf den Boden der heutigen Ordnung aussichtslos zu machen und zu lähmen.
II. Daß die Bemühungen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, den Zusammenhang mit der Sozialdemokratie zu lockern oder zu durchbrechen, als arbeiterfeindliche zu betrachten sind.
III. Daß Organisationsformen der gewerkschaftlichen Bewegung, die sie in dem Kampfe um die politischen Ziele hindern, als fehlerhaft und verwerflich zu betrachten sind. Der Kongreß sieht in der Form der Organisation, die sich die sozialdemokratische Partei Deutschlands auf den Kongreß zu Halle a. S. 1890 gegeben hat, mit Rücksicht auf die bestehende Vereinsgesetzgebung auch für die gewerkschaftliche Organisation die zweckmäßigste und beste Einrichtung zur Verfolgung aller Ziele der Gewerkschaftsbewegung.

[Pg 257]

Die Teilnehmer waren in ihren Angriffen gegen die Zentralorganisation und insbesondere die Generalkommission so scharf, daß selbst die der Lokalorganisation sympathisch gegenüberstehenden sozialdemokratischen Blätter dies tadelten. Dementsprechend ist denn andererseits auch der oben erwähnte Bericht der Generalkommission gehalten, indem den lokal Organisierten der Vorwurf gemacht wird, daß sie mit ihren Begriffsvermögen zu kurz gekommen seien, und daß ihre Führer sich durch egoistische Gründe leiten ließen. Uebrigens waren auch nicht sozialdemokratische Arbeiter vertreten, denn ein Abgeordneter aus Solingen erklärte, daß die gefaßten Beschlüsse 300 der durch ihn vertretenen 400 Mitglieder zum Ausscheiden zwingen würden, da sie von der Sozialdemokratie nichts wissen wollten.

Aus den übrigen Beschlüssen ist zu erwähnen, daß eine „Geschäftskommission“ aus 5 Personen mit dem Sitze in Berlin geschaffen wurde um die planmäßige Agitation zu betreiben. Jede Lokalorganisation soll an jedem Orte einen Vertrauensmann wählen, der die Sammlungen zum Agitationsfonds zu leiten und sämtliche Verhältnisse nach den Beschlüssen des Kongresses zu regeln hat. Der Kongreß proklamiert die unbedingte Solidarität der Lokalorganisierten mit allen Arbeitern ohne Rücksicht auf die Organisation und die politische Anschauung, soweit sie auf den Boden des Klassenkampfes stehen. Es soll eine Broschüre über Wesen und Form der Lokalorganisation und ein wöchentliches Organ herausgegeben werden.

Vom 12.–14. April 1898 hat dann der zweite Kongreß der „lokalorganisierten und durch Vertrauensmänner zentralisirten Gewerkschaften Deutschlands“ in Berlin stattgefunden. Der Erfolg des verflossenen Jahres war ein höchst geringer gewesen. Der Bericht der Geschäftskommission klagt darüber, daß ihre Thätigkeit gehemmt war, da sie von den Delegierten des ersten Kongresses nicht unterstützt sei, die Anerbietungen der Kommission, Redner zu schicken und Versammlungen abzuhalten, seien in verschiedenen Orten nicht angenommen, an andern Orten seien ihre Mitglieder nicht eingeladen um zu belehren, sondern um sie in langen Reden, auf die sie nichts erwidern durften, todt zu reden. Auch an Geld habe es gefehlt und die Kommission habe stets betteln müssen; die Einführung des unter dem Titel „Einigkeit“ ins Leben gerufenen Blattes sei auf Schwierigkeiten gestoßen, sodaß fortwährend Geld habe zugeschossen werden müssen; deshalb hätten auch die Agitationsreisen nicht in der nötigen Ausdehnung gemacht werden können.

Auf dem Kongresse waren 28 Vertreter aus 16 Orten anwesend, doch sind dabei die Vororte von Berlin als selbständige Orte gezählt. Außer Berlin waren vertreten Königsberg, Halle, Solingen, Jüterbogk, Brandenburg, Braunschweig und Breslau. Die Zahl der Mitglieder wurde auch dieses Mal[Pg 258] nicht angegeben, sodaß die Annahme nahe liegt, daß diese Zahl zurückgegangen ist, zumal einige Vertreter dies aus ihren Vereinen berichteten. Auch über Einnahmen und Ausgaben hat man jede Angabe vermieden. Die Thätigkeit der Vereine hat sich wesentlich auf Kampf gegen die Zentralverbände und die Generalkommission beschränkt, wenigstens wird von einer weiteren Wirksamkeit nicht berichtet. Auch in den Verhandlungen bildeten die Anklagen gegen diese den Hauptbestandteil und es wurde beschlossen, den Kampf rücksichtslos fortzusetzen. Man erklärte sich gegen Arbeitslosenunterstützung, da man damit nur dem Staate eine ihm obliegende Aufgabe abnehme und die Gewerkschaften durch Unterstützungseinrichtungen versumpften. Doch soll Reiseunterstützung an die beteiligten Vereine gezahlt werden. Bei Streiks sollen diese sich gegenseitig helfen, indem über die Aufbringung der Mittel jeder Ort und Beruf selbständig bestimmt. An die Geschäftskommission, deren Sitz in Berlin verbleibt, hat jeder Verein vierteljährlich für jedes Mitglied 5 Pf. abzuführen.

Der dritte Kongreß ist vom 4. bis 6. April 1899 in Braunschweig abgehalten unter Beteiligung von 29 Delegierten aus 18 Orten und 13 Berufen. Die Anzahl der Mitglieder ist in Zeitungsberichten auf 5000 bezeichnet, doch wurden auf dem Kongresse Angaben nur über einzelne Vereine gemacht. Die Einnahmen haben einschließlich eines bis auf 100 Mk. zurückbezahlten Darlehens von 5200 Mk. 7345 Mk., die Ausgaben 6876 Mk. betragen. Der Preßfonds hatte eine Einnahme von 11129 Mk. gegen 10200 Mk. Ausgabe. Das Organ „Die Einigkeit“ erscheint in einer Auflage von 5140; es wurde beschlossen, den Vereinen die obligatorische Einführung zu empfehlen. An die Geschäftskommission haben die Vereine für jedes Mitglied vierteljährlich 5 Pf. abzuführen. Der Schwerpunkt der Verhandlungen lag wieder in den Angriffen gegen die Zentralorganisationen; es wurde beschlossen, „für die Zukunft jede Rücksicht auf ein friedliches Zusammenarbeiten fallen zu lassen“.

4. Der deutsche Buchdruckerverband[98].

Zu dem Verbande der sozialdemokratischen Gewerkschaften gehört seit einigen Jahren eine Vereinigung, die aus dem Grunde unser ganz besonderes[Pg 259] Interesse und eine gesonderte Darstellung beanspruchen darf, weil sie am meisten sich nicht allein den für Deutschland als Vorbild anzuerkennenden englischen trade unions, sondern sogar dem Ideal nähert, welches man für eine Lösung der sozialen Frage im friedlichen Sinne als Ziel der Zukunft aufstellen muß. Dies ist der deutsche Buchdruckerverband.

Das Buchdruckgewerbe hat von je her insofern eine bevorzugte Stellung eingenommen, als der Beruf sich in den an seine Mitglieder zu stellenden Anforderungen weit über das gewöhnliche Niveau erhebt und deshalb eine führende Rolle in der Arbeiterbewegung in Anspruch nehmen darf. Andererseits hat dieser Umstand stets einen starken Zufluß von Arbeitskräften zur Folge gehabt, der dazu zwang, auf Schutzmittel gegen Ueberfüllung Bedacht zu nehmen.

Die älteste Form der Organisation war das sog. Postulat, so bezeichnet von dem Aufnahmeakte der Gesellen, von dem man den Ausdruck auf die ganze Einrichtung als solche übertrug. Durch diesen Akt wurde der in 5 Jahren ausgelernte Lehrling zum Gesellen und zugleich zum Mitgliede der Gesellenbruderschaft. Die letztere stand unter Aufsicht der Innung und sorgte für ihre Angehörigen durch Unterstützung bei Krankheiten, Unglücksfällen, Alter und Arbeitsunfähigkeit, insbesondere aber bei Reisen und sonstiger Arbeitslosigkeit durch das sog. Viatikum. Das Verhältnis zu den „Herren“ war durch die Buchdruckerordnung geregelt, die insbesondere genaue Vorschriften über Arbeitslohn und Arbeitszeit enthielt. Mit dem Beginne des jetzigen Jahrhunderts begann die Gesetzgebung diesen Gesellenverbindungen grundsätzlich feindlich gegenüber zu treten, man verbot größtenteils die Gesellenläden, legte die Unterstützungskassen und den Arbeitsnachweis in die Hände der Prinzipale, deren Vereine unangetastet bestehen blieben, und hob schließlich das ganze Postulat mit allen Einrichtungen auf. Seit im Jahre 1826 die Ersetzung der Handpresse durch die Maschinenschnellpresse begann, blieben auch die allgemeinen Folgen der Ersparnis von Arbeitskräften nicht aus, und um den sinkenden Preisen Rechnung zu tragen, nahm man seine Zuflucht zu einer stets wachsenden Einstellung von Lehrlingen, die man nicht völlig, sondern nur in einzelnen Zweigen der Thätigkeit ausbildete, um sie nach Ablauf ihrer Lehrzeit durch andere zu ersetzen.

[Pg 260]

Das Jahr 1848 gab dem schon lange gehegten Wunsche eines „nationalen Postulates“ d. h. einer über ganz Deutschland erstreckten Organisation Gelegenheit zur Verwirklichung, und nach manchen lokalen Versuchen gelangte auf der von dem Heidelberger Gehülfenvereine auf den 11. Juni 1848 nach Mainz berufenen Versammlung, auf welcher 10000 Gehülfen durch 44 Abgeordnete vertreten waren, der „Deutsche Nationalbuchdruckerverein“ zur Existenz. Derselbe war sowohl für Gehülfen als für Prinzipale bestimmt, und durch genaue Vorschriften über die Organisation, über Schiedsgerichte, Lehrlingswesen, Lohnberechnung, Unterstützungskassen und ein gemeinsames Organ war die Unterlage für eine wirksame Thätigkeit geschaffen. Während der neu gebildete Verein unter den Gehülfen überall begeisterte Zustimmung fand, war die Aufnahme unter den Prinzipalen geteilt und überwiegend ablehnend. Immerhin gelang es auf einer am 27. August 1848 in Frankfurt zusammengetretenen von beiden Parteien beschickten Versammlung, den Plan eines allgemeinen deutschen Buchdruckervereins aufrecht zu erhalten, indem man die Mainzer Beschlüsse etwas zu Gunsten der Prinzipale umgestaltete. Aber leider gelang es nicht für dieses Ergebnis die Zustimmung der Mehrheit der Prinzipale zu gewinnen, und als man um zu einer Verständigung zu gelangen, Ende September 1848 in Berlin von neuem zu einer gemeinsamen Versammlung zusammentrat, wurde dieselbe plötzlich seitens der Polizei aufgelöst. Die folgenden Jahre der politischen Reaktion haben dann sehr bald den letzten Rest der vorhandenen Organisationsansätze vernichtet. Nur der 1849 gegründete „Thüringische Buchdruckerverein“, dem Gehülfen und Prinzipale angehörten, und der verschiedene Unterstützungskassen besaß, erhielt sich bis in die neueste Zeit und neben den späteren Organisationen.

Erst nach Beginn der „Neuen Aera“ nahm man seitens der Gehülfen den Gedanken eines, jedoch zunächst auf Gehülfen beschränkten, allgemeinen deutschen Verbandes wieder auf. Anfang 1862 bildete sich in Leipzig der „Fortbildungsverein für Buchdrucker“, der vom 1. Januar 1863 ab ein eigenes Organ, den „Correspondent, Wochenschrift für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer“ herausgab und die allgemeine Gewerkschaftsorganisation unter den Buchdruckern energisch in die Hand nahm. Im März 1866 erließ der Fortbildungsverein mit Genehmigung der sächsischen Regierung einen Aufruf zur Beschickung eines zu Pfingsten 1866 nach Leipzig berufenen deutschen Buchdruckertages, der dann vom 20. bis 22. Mai unter der Beteiligung von 34 Abgeordneten, die 3187 Gehülfen aus 185 Städten vertraten, stattfand. Der Kongreß beschloß die Gründung des deutschen Buchdruckerverbandes, dem jeder ausgelernte Buchdrucker oder Schriftgießer beitreten konnte.

[Pg 261]

Wegen des inzwischen ausgebrochenen Krieges trat der Verband erst mit dem 1. Januar 1867 ins Leben. Auf dem vom 11. bis 14. April 1868 in Berlin tagenden zweiten deutschen Buchdruckertage waren 5000 Mitglieder durch 43 Abgeordnete vertreten, während der vom 9. bis 12. September 1871 in Frankfurt a. M. abgehaltene dritte Buchdruckertag bei 50 Delegierten 6227 Mitgliedern in 38 Gauverbänden und 167 Lokalvereinen aufwies.

Die folgenden Verbandstage fanden statt: der IV. vom 21. bis 26. Juni 1874 in Dresden, der V. vom 24. bis 27. Mai 1876 in Leipzig.

Am 21. November 1878 wurde mit Rücksicht auf das Sozialistengesetz der Verband aufgelöst und gleichzeitig der Unterstützungsverein deutscher Buchdrucker gegründet. Derselbe hat folgende Generalversammlungen abgehalten:

1. vom 2. bis 5. September 1879 in Hannover;

2. vom 30. August bis 2. September 1882 in Stuttgart;

3. vom 28. bis 31. Mai 1885 in Berlin;

4. vom 15. bis 17. Februar 1886 in Gotha;

5. vom 13. bis 15. März 1888 in Hamburg;

6. vom 23. bis 25. Juni 1891 in Berlin;

7. vom 28. Juni bis 2. Juli 1892 in Stuttgart.

Aus dem auf dem II. Verbandstage in Berlin beschlossenen Verbandsstatute ist folgendes hervorzuheben. Als Zweck wird bezeichnet die materielle Besserung und geistige Hebung der Mitglieder und als Mittel:

1. die Vereinigung der Gehülfen, event. mit den Prinzipalen, zur Hebung und Förderung des Berufes, Feststellung und Aufrechterhaltung der entsprechenden Arbeitspreise, Sicherstellung gegen unbefugte und maßlose Konkurrenz, Abschaffung aller regelmäßigen Sonntagsarbeit;
2. gründliche Regelung bezw. Besserung des Lehrlingswesens;
3. Errichtung und Erweiterung von Kranken-, Invaliden- und Viatikumskassen, Regelung der weiteren Unterstützungskassen, Förderung von Produktivgenossenschaften;
4. Hebung und Förderung der geistigen Fähigkeiten, würdige Pflege der Kollegialität, Hebung der Moral, Anschaffung von Bibliotheken, Einführung von Unterrichtsstunden, wissenschaftlichen und technischen Vorträgen u. s. w., festes Zusammenhalten in allen Lagen und Gefahren des Berufes; gegenseitige Unterstützung.

An der Spitze des Verbandes stand eine fünfgliedrige Kommission und der Präsident. Organ ist der „Correspondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer“.

[Pg 262]

Der Verband hat das so abgegrenzte Gebiet später ausgebaut. Zunächst wurde schon 1868 in Berlin die Gründung einer Zentral-Invalidenkasse beschlossen, deren Mitgliedschaft seit dem 1. Januar 1876 obligatorisch ist. Da später der Betrieb der Geschäfte in Bayern verboten wurde, so errichtete man dort eine besondere Invalidenkasse für Bayern. Mit dem 1. Oktober 1875 trat eine Reisekasse ins Leben, aus welcher reisende Mitglieder täglich 1 Mk. 25 Pf. erhalten. Die Arbeitslosenunterstützung am Orte war schon 1875 von einer dazu bestellten Kommission, die vom 11. bis 15. April in Gotha tagte, beschlossen, wurde dann aber bei vorgenommener Urabstimmung abgelehnt. Auf dem vom 24. bis 27. Mai 1876 in Leipzig abgehaltenen V. Verbandstage wurde die Arbeitslosenunterstützung im Prinzip genehmigt und dieser Beschluß auf der vom 2. bis 5. September 1879 in Hannover abgehaltenen ersten Generalversammlung des „Unterstützungsvereins deutscher Buchdrucker“ wiederholt, indem zugleich die baldige Gründung einer Zentralkrankenkasse beschlossen wurde. Die Arbeitslosenunterstützung trat darauf mit dem 1. Januar 1880, die Zentralkrankenkasse mit dem 3. Juli 1881 in Thätigkeit. Auf der vom 28. bis 30. Mai 1885 in Berlin abgehaltenen III. Generalversammlung wurde dann auch die Einführung des Rechtsschutzes beschlossen. Am 22. März 1873 wurde die Leipziger Produktivgenossenschaft gegründet, doch wurde am 2. September 1879 deren Liquidation beschlossen und das Unternehmen im Oktober 1879 verkauft.

Die notwendige Ergänzung des Gehülfenverbandes war ein Prinzipalverein, der auf einer am 15. August 1889 in Mainz tagenden Versammlung unter dem Namen „Deutscher Buchdruckerverein“[99] von 85 Prinzipalen gegründet wurde. Der Vorstand aus 9 Mitgliedern hat seinen Sitz in Leipzig, mit einem besoldeten Sekretär. Das Organ waren zunächst die „Annalen der Typographie“, dann von 1875–1888 die „Mitteilungen des Deutschen Buchdruckervereins“ und seit 1889 die „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“.

Als Zweck bezeichnete der Verein neben einer „geordneten Organisation“ auch „die thunlichste Förderung der materiellen und geistigen Interessen der Gehülfen, worin der Verein sowohl eine zeitgemäße Berechtigung, als auch das eigene Interesse seiner Mitglieder erkennt“; aber die zu diesen Zwecken zu gründenden Kassen für Kranken-, Begräbnis-, Witwen-, Invaliden- und Reise-Unterstützung sollen allen Gehülfen zu Gute kommen, und der Verein will deshalb „mit aller Energie den Bestrebungen der Gehülfen-Vereine entgegentreten,[Pg 263] die die Unterstützung aus solchen Kassen, namentlich die Gewährung des Reisegeldes nur ihren eigenen Mitgliedern gewähren wollen“.

Diese feindliche Haltung gegen den Gehülfenverband zeigte sich denn auch sofort darin, daß der Vorstand sich im Oktober 1889 nicht an diesen, sondern an alle Gehülfenvereine Deutschlands mit der Aufforderung wandte, „sich darüber zu äußern, in welcher Weise der Deutsche Buchdruckerverein nach ihrer Ansicht das Interesse der Gehülfen fördern könne“. Aber der Gehülfenverband erreichte es, daß diese Anfragen mit der einzigen Ausnahme des Leipziger Buchdruckervereins unbeantwortet blieben. Der Hamburger Gehülfenverein gab der herrschenden Stimmung Ausdruck durch die Antwort seines Vorsitzenden: „Wünsche, die die Gehülfenschaft bei Beratung der Statuten Ihres Vereins geltend machen möchte, kann ich mich nicht veranlaßt fühlen zu deklarieren, denn nach meiner Ueberzeugung ist die Zeit vorüber, wo man in patriarchalischer Weise Wünsche an den Stufen des Thrones niederlegte, sondern jetzt verständigt man sich auf der Grundlage, daß alle Menschen gleichberechtigt sind, ob Arbeitgeber und -nehmer“.

Die gegenseitigen Streitigkeiten setzten sich ununterbrochen fort, insbesondere als die wichtige Frage der Lohnregulierung immer brennender wurde. Man bezahlte den Lohn einerseits in dem „gewissen Gelde“, d. h. einem festen Wochensatze, andererseits aber nach der Arbeitsleistung als Akkordlohn. Die Gehülfen forderten nun nicht nur eine Erhöhung des Lohnes, sondern eine ihnen günstigere Art der Berechnung, indem an die Stelle des „1000 n-Tarifes“, nach welchem der Raum nach dem Normalmaße des n gemessen wird, der „Alphabet-Tarif“, bei welchem die Gesamtheit der Buchstaben des Alphabetes die Einheit bildet, treten sollte. Der Prinzipalverein war nun zu einem Entgegenkommen an sich bereit, lehnte aber jede Verhandlung mit dem Gehülfenverbande, obgleich demselben die Mehrheit aller Gehülfen angehörte, ab und forderte die gesamte Gehülfenschaft auf, Vertreter zu wählen. Diese Wahl wurde aber fast überall abgelehnt, und nachdem der von dem Gehülfenverbande aufgeteilte Tarif von dem Prinzipalvereine verworfen war, kündigten zunächst in Leipzig die große Mehrzahl der Gehülfen zum 1. Februar 1873. Die Leipziger Prinzipale wandten sich hierauf an den Prinzipalverein mit dem Antrage, gemäß des Vereinsstatutes nunmehr die Entlassung aller Mitglieder des Gehülfenverbandes herbeizuführen. Der Vereinsvorstand stimmte auch diesem Verlangen zu, aber thatsächlich wurde ihm nur sehr lässig Folge gegeben, so daß die Aussperrung nur etwa 2000 Gehülfen umfaßte. Angesichts dieser Verhältnisse sah sich der Prinzipalverein zum Rückzuge gezwungen und nachdem man im wesentlichen den Forderungen des Gehülfenverbandes hatte nachgeben müssen, die eine Lohnerhöhung um etwa 20–25% darstellten, wurde am 21. April 1873 die Arbeitseinstellung[Pg 264] und Aussperrung für beendigt erklärt. Der neue Normaltarif wurde, nachdem eine vom 1.–5. Mai 1873 in Leipzig abgehaltene gemeinsame Versammlung ihn endgültig festgestellt hatte, am 9. Mai 1873 allgemein eingeführt.

Der Tarif wurde zunächst für die Zeit bis zum 1. Juli 1876 vereinbart, doch sollte er, falls nicht von einer der beiden Parteien bis zum 1. April 1876 die Kündigung erfolgt wäre, fortbestehen und nur durch vierteljährliche Kündigung aufgehoben werden können. Um Streitigkeiten zu entscheiden wurde für jeden der 12 Kreise, in welche man das deutsche Reich einteilte, ein Schiedsamt eingerichtet, bestehend aus 3 Prinzipalen und 3 Gehülfen; den Vorsitz führt ein Prinzipal, falls die Klage von einem Gehülfen ausgeht, und umgekehrt. Auch Nichtverbandsmitglieder dürfen sich an das Schiedsamt wenden. Als Berufungsinstanz gilt das aus je einem von den Kreisen gewählten Prinzipal- und Gehülfenvertreter gebildete Einigungsamt in Leipzig. Falls von einer der beiden Parteien eine Abänderung des Tarifes verlangt wird, tritt das Einigungsamt als Tarif-Revisionskommission in Thätigkeit, doch sind deren Beschlüsse der Abstimmung seitens der Kreise zu unterwerfen.

Aber hatte man auf diese Weise der Entstehung von Streitigkeiten theoretisch auf das Beste vorgebeugt, so scheiterte doch die Sache bald daran, daß der Prinzipalverein nicht allein zu wenig Mitglieder besaß, um seinen Beschlüssen den erforderlichen Nachdruck zu geben, sondern sich nicht einmal imstande zeigte, seine eigenen Mitglieder zur Anerkennung seiner Abmachungen zu zwingen. Dazu kam die in den nächsten Jahren ungünstige allgemeine Geschäftslage, und obgleich die Gehülfen sich sowohl 1876 als 1878 den von den Prinzipalen beantragten und von der Tarifrevisionskommission beschlossenen Lohnherabsetzungen fügten, wobei insbesondere der Verbandsvorstand Ehrlichkeit und Einfluß genug bewies, um selbst einzelne Widerstände zu beseitigen, ließ man doch 1878 die Schiedsämter und das Einigungsamt wieder fallen und übertrug die Verhandlung über Tarifänderungsanträge einer besonderen Tarifrevisionskommission aus 24 Mitgliedern. Der neue Tarif trat mit dem 1. Oktober 1878 in Kraft, nachdem er in Urabstimmung von 254 Prinzipalen gegen 16 und von 2832 Gehülfen gegen 537 angenommen war, aber thatsächlich wurde er nur in der Minderzahl der Geschäfte eingeführt, und eine 1879 vorgenommene Umfrage ergab, daß er unter 2715 Prinzipalen nur von 654 beobachtet wurde, ja an verschiedenen Orten z. B. Berlin hatten sich besondere Prinzipalvereine gebildet, die sich in Gegensatz zu dem Hauptverein stellten.

Eine schwere Krisis und bedauerliche Unterbrechung des bisherigen erfreulichen Fortschrittes brachte die Zeit des Sozialistengesetzes. Wie die sächsischen Behörden sich überhaupt vor fast allen übrigen dadurch nicht zu[Pg 265] ihrem Ruhme ausgezeichnet haben, daß sie unter der Herrschaft des Gesetzes Alles unterdrückten, was irgendwie nach Arbeiterorganisation und Arbeiterbewegung aussah, so glaubten sie auch hier die Sozialdemokratie dadurch zu schädigen, daß sie ihren gefährlichsten Gegner vernichteten. Um derartigen Angriffen und dem Verdachte, daß politische Zwecke verfolgt würden, thunlichst vorzubeugen, beschloß, wie schon erwähnt, der Verband am 21. November 1878 seine Auflösung, indem gleichzeitig der lediglich die Unterstützung seiner Mitglieder bezweckender „Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker“ mit dem Sitze in Leipzig gegründet wurde. Aber dieser Vorsicht ungeachtet wurde der neue Verein am 5. März 1879 polizeilich aufgelöst. Derselbe verlegte deshalb seinen Sitz nach Stuttgart, wo man mehr sozialpolitisches Verständnis zeigte. Auch in Bayern wurde jetzt plötzlich der Verband für einen solchen politischen Karakters erklärt und den bayrischen Vereinen die Beteiligung untersagt, bis man sie 1889 wieder gestattete. Aehnliches bereitete man 1885 in Preußen vor, sah aber merkwürdigerweise von weiteren Schritten ab, als der Verband seinen Sitz nach Berlin verlegte; nur die dem Verbande angehörige Invalidenkasse blieb in Stuttgart.

Die neue Sozialversicherungsgesetzgebung bot zunächst erhebliche Schwierigkeiten für das Kassenwesen des Verbandes, doch gelang es sich derselben anzupassen und daraufhin war die Wirkung ähnlich wie bei den Hirsch-Duncker'schen Vereinen, daß die Arbeiter sich um so stärker beteiligten, um den Zwangskassen zu entgehen.

Nachdem man einige Jahre ohne schiedsgerichtliche Instanz gelebt hatte, machte sich deren Notwendigkeit von neuem zwingend geltend, und nach einer seitens der Gehülfen Anfang 1886 erfolgten Kündigung des Tarifes trat man am 16. August 1886 in Leipzig zu Verhandlungen zusammen, die neben einer geringen Lohnerhöhung und anderen Aenderungen zu einer Wiederherstellung der lokalen Schiedsgerichte und des Einigungsamtes als Berufungsinstanz führten, doch sollten bei den Wahlen nur diejenigen Prinzipale und Gehülfen stimmberechtigt sein, die den Tarif anerkannten und nach demselben arbeiteten. Hierdurch wurde ein ganz neues Organ geschaffen, nämlich die Tarifgemeinschaft, eine Vereinigung von Prinzipalen und Gehülfen, die den beiderseitigen Vereinen mit einer gewissen Selbständigkeit gegenübersteht.

Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Verhandlungen bestand in der Festsetzung einer Skala über das Verhältnis der Lehrlinge zu den Gehülfen, die innerhalb 6 Jahren durchgeführt werden sollte[100].

[Pg 266]

In noch höherem Grade, als bei den Gehülfen, führte die Einführung der staatlichen Zwangsversicherung für den Prinzipalverein eine Stärkung herbei, indem dessen Mitgliederzahl von 277 im Jahre 1885 sich 1886 plötzlich auf 1104 erhob. Aber man that jetzt einen verhängnisvollen Schritt. Durch das Unfallversicherungsgesetz waren die sämtlichen Prinzipale zu einer neuen Zwangsvereinigung, der Berufsgenossenschaft, zusammengeschlossen und so mochte der Gedanke nahe liegen, den bestehenden Verein an diese anzuschließen. In der That ging man diesen Weg, indem man in Anlehnung an die 9 Sektionen der Berufsgenossenschaft auch 9 Sektionen des Vereins bildete und beide örtlich zusammenfallen ließ, ja man machte die Sektionsvorstände der ersteren zugleich zu solchen des letzteren. Das war aber ein schwerer Fehler, denn auf diese Weise legte man wichtige Aufgaben zum Teil in die Hände von Personen, die zu ihrer Erfüllung durchaus nicht geneigt waren und dem Vereine und seiner verständigen sozialpolitischen Tendenz völlig ablehnend, ja feindlich gegenüberstanden.

Das sollte sich sofort zeigen bei der Ausführung der getroffenen Vereinbarungen. Wie auf allen Gebieten der Sozialpolitik die Industriellen in Rheinland-Westfalen sich stets als Vertreter des engherzigsten Unternehmerstandpunktes erwiesen haben, so fand auch hier die auf Verständigung mit den Gehülfen gerichtete Haltung des Prinzipalvereins bei den Prinzipalen in Rheinland-Westfalen die entschiedenste Mißbilligung, und da sie in der rheinisch-westfälischen Sektion der Berufsgenossenschaft die Mehrheit hatten, so war es begreiflich, daß deren Vorstand sich zum Organ der Opposition machte, ja dieser Widerstand ging so weit, daß die Sektion nicht allein auf ihrer Weigerung, den vereinbarten Tarif einzuführen, selbst dann verharrte, als der Prinzipalverein ihn in formgerechter Abstimmung mit 214 gegen 93 Stimmen angenommen hatte, sondern sogar eine regelrechte Agitation gegen denselben einleitete. Der Vereinsvorstand war außer stande, diesen Widerstand zu brechen und die getroffene Vereinbarung bei seinen Mitgliedern zur Anerkennung zu bringen. Es war deshalb ein Beweis großer Selbstverleugnung, daß der Gehülfenverband sich in neue Unterhandlungen einließ, die dahin führte, daß man sich über einen neuen Tarif einigte, der mit dem 1. Januar 1889 in Kraft trat.

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Aber dieser wurde bald von den Gehülfen gekündigt, und erst nach langen Verhandlungen, die vom 11.–14. September 1889 in Stettin stattfanden, gelangte man endlich zu einem Abkommen, welches vom 1. Oktober 1890 ob gelten sollte und insbesondere den wichtigen Beschluß enthielt, daß die tariftreuen Prinzipale nur solche Gehülfen beschäftigen sollten, die nachweislich zu tarifmäßigen Bedingungen gearbeitet haben und in tariftreuen Geschäften ausgebildet sind, wie man es ebenso den Gehülfen zur Pflicht machte, nur bei tariftreuen Prinzipalen in Arbeit zu treten. Man hatte nämlich längst eingesehen, daß der Interessengegensatz nicht bestehe zwischen Prinzipalen und Gehülfen, sondern zwischen diesen beiden Klassen, soweit sie ihr wahres Interesse im Auge haben, auf der einen, und den Tarifgegnern unter Prinzipalen und Gehülfen auf der andern Seite. Der schlimmste Feind der gemeinsamen Interessen ist die Schmutzkonkurrenz, welche die Preise drückt; ihr kann man nur durch gemeinsame Thätigkeit entgegentreten.

Um Tarifverhandlungen leichter zum Abschluß bringen zu können, wurde von den Gehülfen eine Aenderung dahin beantragt, daß an Stelle der Gesamtheit der Prinzipale und Gehülfen vielmehr die beiderseitigen Organisationen als vertragschließende Teile treten sollten, doch wurde der Antrag von den Prinzipalen abgelehnt. Dagegen wurde ein ganz neues Prinzip in den Stettiner Tarif eingeführt, indem es dort in § 32 heißt: „Der Prinzipal ist verbunden, die bei ihm konditionierenden Gehülfen voll zu beschäftigen und dieselben bei unzureichender Arbeit für etwaige Zeitversäumnis nach dem Durchschnittsverdienste der letzten 30 Arbeitstage zu entschädigen.“

Den lokalen Schiedsgerichten hat man an einzelnen Orten, so z. B. in Leipzig, einen gemeinsamen Arbeitsnachweis angeschlossen, der unter einem vom Schiedsgerichte gewählten, aus einem Prinzipal und einem Gehülfen bestehenden Vorstande durch einen Gehülfen besorgt wird, wobei die Reihenfolge der Anmeldungen entscheidet; für jede erfolgreiche Anmeldung sind 50 Pf. zu entrichten. Leider haben die Leipziger Gehülfen diesen gemeinsamen Arbeitsnachweis nach einiger Zeit gekündigt und einen solchen einseitig eingerichtet, doch sind sie hierbei von dem Einigungsamte nachdrücklich bekämpft. Abgesehen von diesem Falle haben sich die Gehülfen regelmäßig durchaus den getroffenen Abmachungen gefügt, während es dem Prinzipalverein nur selten gelungen ist, seine Mitglieder zur Befolgung derselben anzuhalten.

Hatte sich bisher die Entwickelung im Buchdruckergewerbe durchaus in einer Richtung vollzogen, welche die besten Hoffnungen für die Zukunft gestattete, so wurde dieselbe leider durch den großen Streik von 1891 in höchst bedauerlicher Weise unterbrochen. Angesichts der großen und immer mehr[Pg 268] steigenden Arbeitslosigkeit[101] und der zunehmenden Lehrlingszüchterei[102] hatte die in Berlin vom 23. bis 25. Juni 1891 abgehaltene VI. Generalversammlung des U. V. D. B. beschlossen, an der schon früher angeregten Forderung einer Herabsetzung der bis dahin üblichen Arbeitszeit von 10 auf 9 Stunden, sowie der energischen Durchführung des Tarifs seitens der Prinzipale mit Nachdruck festzuhalten. In Ausführung dieser Beschlüsse hatte man am 1. Juli 1891 den Tarif gekündigt, so daß dessen Gültigkeit am 1. Januar 1892 ablief[103].

Die Tarifkommission, die nach den bestehenden Vereinbarungen nunmehr die Feststellung eines neuen Tarifes zu betreiben hatte, tagte vom 6. bis 8. Oktober 1891 in Leipzig. Die Gehülfen forderten einerseits Herabsetzung der Arbeitszeit auf 9 Stunden und andererseits, um den dadurch entstehenden Ausfall auszugleichen, eine Lohnerhöhung von 10%. Die Prinzipale waren zu einer Lohnerhöhung von 7½% bereit, lehnten aber die Verkürzung der Arbeitszeit entschieden ab. Da nun aber die Gehülfen aus dem angegebenen Grunde, nämlich um der Arbeitslosigkeit zu steuern, gerade auf den letzteren Punkt das Hauptgewicht legten und deshalb glaubten, mindestens eine Herabsetzung auf 9½ Stunden bei Erhöhung der Grundpositionen um 5% festhalten zu müssen, während die Prinzipale hierauf nicht eingehen wollten, so mußten die Verhandlungen abgebrochen werden, indem zugleich die Gehülfenmitglieder der Tarifkommission ihr Mandat für erloschen erklärten.

Auf Veranlassung des U. V. D. B. fanden am 22. Oktober 1891 an allen Orten Buchdruckerversammlungen statt, welche beschlossen, überall da, wo die Forderungen nicht bewilligt würden, am 24. desselben Monats die Arbeit zu kündigen. Dies wurde denn auch ausgeführt, und da dem Beschlusse fast[Pg 269] überall Folge gegeben wurde, so konnte der Vorstand am 28. Oktober bekannt machen, daß mehr als 12000 Gehülfen in Kündigung ständen, während etwa 3000 die Forderungen bewilligt erhalten hätten.

Aber die Gehülfen hatten sich zu sehr auf ihre wohlgefüllten Kassen verlassen und im übrigen die Zeit des Kampfes ungünstig gewählt. Bald machte eine Anzahl von Gehülfen in den kleinen Druckorten die Kündigung rückgängig, so daß nur etwa 8 bis 9000 den Streik durchführten. Ebenso war die anfangs gezahlte Unterstützung von täglich 2 Mk. zu hoch, als daß sie nicht bald zu einer Erschöpfung der Kasse hätte führen müssen. Allerdings erhielten die Gehülfen Unterstützung aus Arbeiterkreisen aller Länder, insbesondere von den englischen trade unions 3520 Pfd. St., außerdem aber aus fast allen Staaten Europas, sowie aus Amerika und Australien, so daß der Rechenschaftsbericht für die Zeit vom 1. April 1891/92 als Ergebnis der „freiwilligen Sammlungen“ 270361 Mk. aufführen konnte. Aber diese Anlehnung an die internationale Arbeiterbewegung, ja geradezu eine Hinneigung zu einem Anschlusse an die Sozialdemokratie[104], wie sie je länger um so entschiedener in dem Organe der Gehülfenschaft, dem „Korrespondent“, hervortrat, trug dazu bei, den Gehülfen die Sympathien in der öffentlichen Meinung und bei den Regierungen zu rauben. Insbesondere die letzteren nahmen eine feindselige Haltung ein und haben dadurch wesentlich dazu beigetragen, den Ausstand zum Scheitern zu bringen. So wurde in Stuttgart, wo der Sitz der Verbandsinvalidenkasse sich befand, in Anlaß eines Beschlusses, derselben 24000 Mk. zu Unterstützungszwecken zu entnehmen, die Sequestrierung der Kasse verfügt. Vor allem aber nahm die preußische Polizei den Kampf auf. Auf eine Eingabe des Prinzipalvereins au den Minister des Innern vom 4. Dezember 1891, in welcher die Auszahlung von Streikgeldern als statutenwidrig angefochten wurde, erhielt derselbe am 12. desselben Monats eine zustimmende Antwort, und am 30. desselben Monats wurde dem Vorstande des U. V. durch Verfügung des Polizeipräsidenten in Berlin die weitere Gewährung von Unterstützungen aus Vereinsmitteln an Streikende, zugleich aber auch die fernere Erhebung von Extrasteuern verboten. Dabei stützte man sich auf eine Bestimmung des Statuts, deren Aenderung bereits durch die Generalversammlung beschlossen war. Die Genehmigung dieser Aenderung war auch schon beim Minister nachgesucht und von diesem in einem Reskripte vom 6. Oktober 1891 insofern in Aussicht gestellt, als nur noch geringfügige redaktionelle Aenderungen erfordert wurden. Jetzt wurde die Genehmigung[Pg 270] zunächst hinausgezögert und dann gänzlich verweigert[105]. Das ganze Verfahren des Polizeipräsidenten ist später auf erhobene Verwaltungsklage durch die Urteile des Bezirksausschusses vom 29. März 1892 und des Oberverwaltungsgerichts vom 5. Januar 1893 für ungesetzlich erklärt, aber damit konnte natürlich die einmal eingetretene Schädigung nicht wieder beseitigt werden.

Das Verfahren des Ministers des Innern stand hierbei in einem wunderbaren Gegensatze zu demjenigen des Handelsministers Freiherrn von Berlepsch, der sich durch Vermittelung des Privatdozenten Dr. v. Schultze-Gävernitz in Leipzig bereit erklärte, unter der Voraussetzung der Zustimmung beider Teile eine Vermittelung zu übernehmen. Aber ebenso, wie die schon vorher von privater Seite (Freund und Böhmert) angebotene Vermittelung, scheiterte auch dieser Versuch daran, daß die Prinzipale erklärten, von ihrem Standpunkte nicht abgehen zu können.

Unter diesen Umständen blieb den Gehülfen nichts übrig, als nachzugeben, und nachdem am 10. Januar 1892 eine Konferenz von Vertretern der bedeutendsten Druckorte die Notwendigkeit einer Beendigung des Streiks anerkannt hatte, wurde am 13. desselben Monats von einer gemeinsamen Versammlung der beiderseitigen Vertreter ein Abkommen geschlossen, welches nach den beiden Hauptunterhändlern Döblin und Büxenstein benannt wird. Von denselben wurde die Wiederaufnahme der Arbeit unter den Bedingungen des alten Tarifs vereinbart. Nachdem die der Form halber noch vorbehaltene Zustimmung der einzuberufenden Gehülfenversammlungen am 16. Januar erteilt war, wurde am 18. desselben Monats der Streik von beiden Seiten formell für beendigt erklärt.

Der durch 10 Wochen fortgesetzte Ausstand, der übrigens von den Gehülfen unter strenge Fernhaltung aller Gesetzwidrigkeiten geführt ist, hat denselben außerordentlich hohe Opfer gekostet. Allerdings scheint die im „Korrespondent“ (Nr. 117 von 1893) angegebene Nummer von 2741119 Mk. sehr hoch zu sein, aber immerhin ergeben die Rechnungsablagen eine Gesamtausgabe der Verbandskasse von 999610 Mk., wobei die lokalen Aufwendungen nicht einbegriffen sind[106].

[Pg 271]

Das bisherige günstige Verhältnis zwischen Prinzipalen und Gehülfen war naturgemäß jetzt völlig zerstört. Allerdings wollte der Prinzipalverein die frühere Tarifgemeinschaft fortsetzen und forderte am 8. April 1892 die Gehülfen auf, an Stelle der früheren Vertreter, die wie erwähnt, ihre Aemter am 22. Oktober 1891 niedergelegt hatten, andere zu wählen. Nachdem man sich zunächst dieser Wahl zu entziehen gesucht hatte, empfahl man dann, überall die Wiederwahl der früheren Vertreter, die dann auch fast überall mit großer Mehrheit erfolgte. Obgleich die Gehülfenschaft hierbei offenbar durchaus in ihrem Rechte war, erklärte der Vorstand des Prinzipalvereins diese Wahl für eine Ablehnung der Tarifgemeinschaft und lösten die Tarifkommission einseitig auf.

Auf der am 19. Juni 1892 in Breslau abgehaltenen Generalversammlung wurde dieses Vorgehen des Vorstandes vielfach angegriffen, dann aber doch beschlossen, sich auf den Boden der geschaffenen Thatsachen zu stellen und unter Vorbehalt späterer Vereinbarungen mit der Gehülfenschaft zunächst selbständig gewisse Aenderungen des alten Tarifes vorzunehmen, von dem später die Gehülfen behaupteten, daß sie eine durchschnittliche Herabsetzung um 10–15% bedeuteten. Doch ist das Inkrafttreten dieses Tarifs bisher hauptsächlich durch den Widerstand der Berliner und Stuttgarter Prinzipale gehindert. Außerdem beschloß man die Begründung einer Unterstützungskasse für arbeitslose Gehülfen, zu der die Gehülfen wie die Prinzipale je 10 Pfennig wöchentlich beizusteuern haben. Dafür wird ein Tagegeld von 1 Mk. bis zu 140 Tagen gewährt, doch ist den Gehülfen keine beschließende Mitwirkung bei der Verwaltung eingeräumt. Trotz des Widerspruches der Gehülfen ist diese Kasse am 1. Januar 1893 ins Leben getreten und mit derselben zugleich eine Invalidenzuschußkasse in der Art verbunden, daß die Mitgliedschaft der einen Kasse die der anderen nach sich zieht.

[Pg 272]

Nach den Erfahrungen, welche die Gehülfenschaft hinsichtlich des Eingreifens der staatlichen Behörden gemacht hatte, war es ihr nicht zu verdenken, daß sie versuchte, eine dieser Störung weniger ausgesetzte Organisation zu schaffen. Der bisherige Unterstützungsverein hatte die juristische Form einer eingeschriebenen Hülfskasse gehabt und war deßhalb den Bestimmungen des Gesetzes vom 7. April 1876 insbesondere auch hinsichtlich der obrigkeitlichen Bestätigung der Statuten (§ 4) unterworfen gewesen. Um dem zu entgehen, beschloß man auf der 7. Generalversammlung, die vom 28. Juni bis 2. Juli 1892 in Stuttgart stattfand, die Auflösung des Unterstützungsvereins und die Neugründung des „Verbandes deutscher Buchdrucker“, indem man damit an die frühere Entwicklung bis zum Jahre 1878 anknüpfte. Bei der statutengemäß über diesen Beschluß vorgenommenen Urabstimmung in den Tagen vom 17. bis 21. November 1892 wurde derselbe mit 13085 von 13722 abgegebenen Stimmen genehmigt.

Gleichzeitig beschloß man die bisher bestehenden einzelnen Kassen aufzulösen und deren Leistungen alle auf die einzige allgemeine Verbandskasse zu übernehmen. Um staatlichen Eingriffen sich zu entziehen, wurde zugleich beschlossen, die Unterstützungen künftig in das diskretionäre Ermessen des Vorstandes zu stellen und ihnen dadurch den Karakter eines Rechtsanspruches zu nehmen, eine höchst bedenkliche Maßregel, die nur durch den äußern Zwang entschuldigt werden kann.

Ausgeführt wurde dieser Auflösungsbeschluß zunächst nur hinsichtlich der Kranken- und Begräbniskasse, die ihn in ihrer am 13. November 1892 in Berlin abgehaltenen Generalversammlung bestätigte. Man wollte dabei zugleich den Erschwerungen des neuen Krankenversicherungsgesetzes entgehen und faßte ins Auge, den Mitgliedern zu den aus den Zwangskassen bezogenen Krankengeldern einen Zuschuß zu geben, und zwar in Höhe von wöchentlich 7 Mk. bei einem Wochenbeitrage von 30 Pfennig. Die dem Vorstande übertragene Liquidation der bisherigen Kasse war am 20. Juni 1894 beendigt, und da mit verschiedenen Ausnahmen die Mitglieder auf den ihnen statutengemäß zustehenden Rest des verbleibenden Vermögens zu Gunsten des Verbandes verzichteten — wobei die Einzelnen Beträge von 60–80 Mk. aufgaben — so konnte demselben der Betrag von 276923 Mk. 51 Pfennig zugeführt werden. Ein Beispiel anerkennenswerther Opferwilligkeit!

Hinsichtlich der Zentral-Invalidenkasse, deren Sequestration durch einen am 18. März 1892 abgeschlossenen Vergleich beendigt war, beschloß man, die Kasse zwar einstweilen fortbestehen zu lassen, solange nicht von den Behörden weitere Schwierigkeiten gemacht würden, im letzteren Falle aber gleichfalls die Auflösung herbeizuführen. Die Prinzipale suchten dann durchzusetzen, daß auch[Pg 273] die aus dem Verbande ausgeschiedenen Buchdrucker an der Kasse teilnehmen dürften, und da ein gerichtliches Urteil dieser Auffassung beitrat, die Verbandsmitglieder aber die Vorteile der Kasse den nicht organisierten Gehülfen nicht zukommen lassen wollten, so beschloß die am 3. Juli 1893 in Weimar abgehaltene außerordentliche Generalversammlung die Liquidation der Kasse. Aehnlich erging es der Invalidenkasse, welche der Gau Bayern für sich gegründet hatte; auch hier erfolgte wegen des gleichen Grundes in der Ostern 1893 in München abgehaltenen Generalversammlung die Liquidation. Die Aufgaben beider Kosten wurden auf die Verbandskasse übernommen.

Hinsichtlich des Tarifs protestirte der Verband gegen dessen einseitige Festsetzung durch die Prinzipale, bevollmächtigte aber seinen Vorstand, mit den letzteren eine Vereinbarung zu treffen.

Ebenso erhielt der Vorstand den Auftrag, mit den übrigen graphischen Arbeiterorganisationen (Schriftschneiderei, Holzschneiderei, Messinglinienfabrikation, Stein-, Metall- und Farbdruckerei), zum Zweck der Abschließung eines Vertrages über gegenseitige Unterstützung in Streikfällen in Verhandlungen zu treten.

Wie schon an anderer Stelle erwähnt, hat sich der Verein auch auf dem vom 13. bis 18. März 1892 in Halberstadt abgehaltenen ersten deutschen Gewerkschaftskongresse beteiligt und ist damit völlig in den Verband der durch die Generalkommission in Hamburg vertretenen Gewerkschaften eingetreten.

Aus den Verhandlungen der vom 17. bis 21. Juni 1895 in Breslau abgehaltenen ersten Generalversammlung des neuen Verbandes und dem dort erstatteten Berichte ist folgendes zu erwähnen:

Ueber den Tarif war mit den Prinzipalen eine Einigung noch nicht erzielt. Der Vorschlag der letzteren, zum Zwecke der Verständigung eine Kommission von je 9 Gehülfen und Prinzipalen niederzusetzen, wobei von den Gehülfenvertretern nur 5 durch den Verband, die übrigen aber durch die nicht zum Verbände gehörigen Gehülfen gewählt werden sollten, wurde mit Entrüstung abgelehnt, indem zugleich darauf hingewiesen wurde, daß auch der Prinzipalverein nur ein Viertel sämtlicher Prinzipale vereinige und trotzdem die Vertretung des gesamten Gewerbes beanspruche.

Die Verhandlung mit den übrigen graphischen Gewerben über den Abschluß eines Kartells hatte ergeben, daß man zu einer gegenseitigen Unterstützung bereit ist, aber von der Sammlung eines gemeinsamen Fonds zunächst noch absehen will.

Der Beitrag der Mitglieder ist auf wöchentlich 1 Mk. 10 Pf. festgesetzt, doch sind Arbeitslose befreit. Arbeitslose Mitglieder können, je nachdem ihre Mitgliedschaft 100, 150 oder 750 Wochen gedauert hat, Unterstützung bis zu 10, 20 oder 40 Wochen erhalten; dieselbe beträgt täglich 1 Mk. Der[Pg 274] Krankengeldzuschuß ist auf täglich 1 Mk. 40 Pf. festgesetzt und wird je nach der Dauer der Mitgliedschaft für 13, 26 oder 52 Wochen gewährt. Die Invalidenbeihülfe beträgt 1 Mk. täglich, das Begräbnisgeld 50 bis 100 Mk.

Die Organisation des Verbandes hat Deutschland in 22 Gaue[107] eingeteilt, die in Breslau durch 64 Abgeordnete vertreten waren. —

Das Verhältnis zwischen den Prinzipalen und Gehülfen blieb zunächst ein sehr gespanntes; die Tarifgemeinschaft, sowie Schiedsgericht und Einigungsamt waren aufgelöst und es fehlte mithin an allen Formen, auftauchende Schwierigkeiten beizulegen. Die Gehülfen waren großenteils gezwungen, den von den Prinzipalen geschaffenen Unterstützungskassen beizutreten und deren Arbeitsnachweis zu benutzen. Die Lehrlingszüchterei wurde immer stärker betrieben und ein Bericht des Gehülfenverbandes stellte fest, daß 5000 Lehrlinge über die vereinbarte Zahl beschäftigt würden. Durch den Unmut über diese Zustände, denen man einstweilen machtlos gegenüberstand, wurden die Gehülfen immer mehr in eine Stimmung hineingetrieben, die jede spätere gemeinsame Thätigkeit mit den Prinzipalen auszuschließen drohte. Unter diesen Umständen machte sich auf beiden Seiten allmählich die Ueberzeugung geltend, daß der Versuch, zu geregelten Verhältnissen zu gelangen, von neuem unternommen werden müsse. Der Gehülfenvorstand hat sich später gegenüber Angriffen, die ihm zu weitgehendes Entgegenkommen vorwarfen, darauf berufen, daß er zunächst dafür eingetreten sei, die bei dem großen Streik aufgestellten Forderungen von neuem aufzunehmen und es auf einen neuen Kampf ankommen zu lassen, daß aber nicht allein die Gau- und Bezirksvorstände angesichts der durch den Streik geschwächten Kräfte gegen diesen Plan sich erklärt hätten, sondern daß auch die Stimmung in den Gehülfenkreisen durchgängig gegen denselben gewesen sei.

Der äußere Verlauf der Verhandlungen war folgender:

Schon im Herbst 1894 hatten an verschiedenen Orten Gehülfenversammlungen stattgefunden, in denen man beschlossen hatte, mit den örtlichen Vereinen der Prinzipale Fühlung zu nehmen, da man in dem Prinzipalverein einen widerstrebenden Faktor sah. Demgegenüber sah sich der Vorstand des letzteren veranlaßt, am 26. November 1894 eine öffentliche Erklärung dahin zu erlassen, daß der mit dem 1. Januar 1893 in Kraft getretene Prinzipaltarif nach seiner ausdrücklichen Bestimmung so lange in Kraft stehe, bis durch eine Verständigung[Pg 275] zwischen den beiderseitigen Gesamtheiten eine Abänderung herbeigeführt und daß es deshalb unzulässig sei, in örtliche Sonderverhandlungen einzutreten. Unter diesen Umständen wandte sich der Verbandsvorstand am 11. Dezember 1894 an den Vorstand des Prinzipalvereins mit der Frage, unter welchen Bedingungen hinsichtlich der beiderseitigen Vertretung Verhandlungen mit der Gehülfenschaft in Aussicht genommen seien. Die am 28. desselben Monats erfolgte Antwort ging dahin, daß um bestimmte Vorschläge gebeten wurde. Der Verbandsvorstand schlug darauf am 5. Januar 1895 vor, daß in Verfolg des früher getroffenen Büxenstein-Döblin'schen Abkommens zwischen je 12 Vertretern der Prinzipalität und der Gehülfenschaft Verhandlungen über Schaffung eines neuen Tarifes stattfinden sollten. Der Vereinsvorstand antwortete am 6. März 1895, daß freilich der am 1. Januar 1893 eingeführte Tarif in Kraft bestehe, daß er aber bereit sei, Wünsche auf Abänderung entgegenzunehmen und vorschlage, für Verhandlungen mit dem aus 9 Mitgliedern bestehenden Tarifausschusse des Vereins 5 Verbandsmitglieder zu bestimmen, während der Vorstand sich vorbehalte, fernere 4 Gehilfen aus dem Kreise der Nichtverbändler zu ernennen bezw. wählen zu lassen. Der Verbandsvorstand erklärte hierauf am 18. März 1895, daß er die beiderseitige Vertretung von 9 Mitgliedern annehme, aber die Art der Wahl beanstande. Nachdem der Vereinsvorstand am 9. April sich nochmals dahin geäußert hatte, daß er die Urabstimmung seitens der ganzen Gehülfenschaft vorschlage, erklärte der Verbandsvorstand am 24. desselben Monats, daß er bei der Wichtigkeit der Sache die Entscheidung der am 11. Juni stattfindenden Generalversammlung des Verbandes vorbehalten müsse. In dieser wurde dann der Vorschlag des Prinzipalvereins als die Würde der Gehülfenschaft verletzend energisch zurückgewiesen, und die Verhandlungen waren somit vorläufig gescheitert.

Da jedoch die Mißstimmung unter den Gehülfen immer drohender und die Neigung zu einem neuen Streik immer größer wurde, zumal nicht allein die allgemeine Geschäftslage hierfür günstig zu sein schien, sondern auch die Vereinbarung eines Normallohntarifs mit neunstündiger Arbeitszeit zwischen den Prinzipalen und Gehülfen in Oesterreich einen unmittelbaren Anstoß gab, machte sich auch in Prinzipalskreisen öffentlich die Ansicht geltend, daß es erforderlich sei, durch Entgegenkommen gegen die Wünsche der Gehülfen ein neues Vertragsverhältnis anzubahnen, um den agitatorischen Elementen unter den letzteren den Boden zu entziehen. Es war wohl eine Folge dieser Ermunterung, daß Ende Februar und Anfang März 1896 an den verschiedensten Orten große Gehülfenversammlungen stattfanden, in denen ein neuer Tarif gefordert wurde. Insbesondere eine am 21. Februar in Leipzig abgehaltene Versammlung, in welcher der Verbandsvorsitzende Döblin Bericht erstattete,[Pg 276] erklärte sich in diesem Sinne. Bereits am 24. desselben Monats beantragte der Verbandsvorstand, dem in der Versammlung erhaltenen Auftrage entsprechend, bei dem Vereinsvorstande die Anberaumung einer gemeinsamen Verhandlung, indem er als Forderungen der Gehülfen geltend machte: 1. möglichste Verkürzung der Arbeitszeit, 2. eine dementsprechende Lohnerhöhung, 3. Präzisierung der durch die Praxis als streitig empfundenen Paragraphen des Tarifs. Versammlungen, die an andern Orten abgehalten wurden, schlossen sich fast überall den Leipziger Beschlüssen an und bezeichneten als Forderungen: Arbeitszeit von 9 Stunden, Lohnerhöhung bei Berechnung um 5%, bei dem gewissen Gelde um 15%.

Der Vorstand des Prinzipalvereins ging, nachdem am 3. März eine persönliche Besprechung der beiden Vorsitzenden stattgefunden hatte, auf den Vorschlag ein, und so traten am 11. März 1896 zum ersten Male seit 4 Jahren wieder Vertreter des Gehülfenverbandes mit denjenigen der Prinzipale zu gemeinsamer Beratung zusammen. Die schwierigen Verhandlungen, bei denen beide Teile große Mäßigung und weitgehendes Entgegenkommen bewiesen, endeten mit Annahme folgenden Beschlusses:

„Der Vorstand des Deutschen Buchdrucker-Vereins erklärt sich bereit, dem Antrage der Gehülfenschaft auf Zusammentritt beiderseitiger Tarifvertreter zu entsprechen, und werden zu den vorzunehmenden Wahlen, Beratungen und Beschlußfassungen mit den Gehülfenvertretern die folgenden Termine vereinbart:

1. Die erforderlichen Gehülfenvertreterwahlen werden durch das Einigungsamt des Gewerbegerichtes der Stadt Leipzig ausgeschrieben und sind durch Urwahlen bis zum 25. März zu erledigen;
2. Anträge für den Tarifausschuß sind bis zum 8. April bei dem Einigungsamte des Gewerbegerichtes zu Leipzig einzureichen und hat die Veröffentlichung in der „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“ und im „Correspondent“ durch die in Leipzig ansässigen Prinzipals- bezw. Gehülfenmitglieder des Tarifausschusses zu erfolgen;
3. am 15. April tritt der Tarifausschuß der Prinzipale mit den gewählten Tarifvertretern unter Zulassung von je zwei Vorstandsmitgliedern des Deutschen Buchdrucker-Vereins und des Verbandes der Deutschen Buchdrucker und zwei Nichtverbandsgehülfen, letztere sechs mit beratender Stimme, zu Verhandlungen in Leipzig zusammen;
4. der Vorstand des Deutschen Buchdrucker-Vereins erklärt, den vereinbarten Tarif der Hauptversammlung des Deutschen Buchdrucker-Vereins zur Annahme zu unterbreiten, und soll der Tarif spätestens am 15. Mai d. J. in Kraft treten.

[Pg 277]

Die anwesenden Prinzipalsvertreter erklären für sich persönlich, in ihren Kreisen für eine mäßige Verkürzung der Arbeitszeit und eine Aufbesserung der Grundpositionen des Tarifs wirken zu wollen. Auch erklären sie sich bereit, die Prinzipalität von diesen Beschlüssen sofort in Kenntniß zu setzen und an dieselbe eindringlich das Ersuchen zu richten, den gegenwärtigen Zustand bis zum Abschlusse der Verhandlungen als Friedensstand zu betrachten und keinerlei Maßnahmen an den Personalen vorzunehmen. Anderseits erklären die Gehülfenvertreter, dafür sorgen zu wollen, daß bis zu dem oben erwähnten Schlußtermin Ausstände oder sonstige gewaltsame Auseinandersetzungen nicht stattfinden.“

Man wollte auf Seiten der Gehülfen nicht eine Verhandlung zwischen den beiderseitigen Verbänden, sondern zwischen Vertretern der Gesamtheit; auf Seite der Prinzipale hielt man dagegen an dem Standpunkte fest, daß der Prinzipalverein zur Vertretung der Gesamtheit befugt sei. Schließlich gaben die Gehülfen in diesem Punkte nach. Interessant war, daß in einer ganz Deutschland berührenden Angelegenheit eine lokale Behörde, das Leipziger Einigungsamt, eine Thätigkeit übernahm, die von allen Seiten anerkannt wurde.

Die vom Einigungsamte ausgeschriebenen Wahlen zum Tarifausschusse fanden vom 20. bis 25. März statt und ergaben ausschließlich Verbandsmitglieder; der von den Prinzipalen begünstigte „Gutenbergbund“ erwies sich als völlig machtlos. Schon noch dem Ausfalle der Wahlen konnte man beurteilen, daß die grundsätzlich der Schaffung der Tarifgemeinschaft günstige Stimmung gesiegt hatte. Immerhin machte die Verständigung große Schwierigkeiten und in den durch 3 Tage vom 15. bis 17. April fortgesetzten Verhandlungen drohte häufig die Einigung zu scheitern. Schließlich aber gelang diese, indem man einstimmig folgende Beschlüsse faßte:

1. Die Grundpreise für Berechnung werden um 2 Pfennig für 1000 Buchstaben erhöht;
2. das gewisse Geld wird von 20 Mk. 50 Pf. auf 21 Mk. erhöht;
3. die tägliche Arbeitszeit beträgt 9 Stunden mit Ausnahme der Pausen und hat innerhalb der Zeit von 6 Uhr morgens bis 9 Uhr Abends stattzufinden und zwar in der Weise, daß z. B. beim Arbeitsbeginn um 6 Uhr morgens die Arbeit bis spätestens 5 Uhr abends beendigt sein muß. An Pausen sind zu gewähren je ¼ Stunde für Frühstück und Vesper und mindestens 1 Stunde für Mittag. Bei durchgehender Arbeitszeit soll die effektive Arbeitszeit ¼ Stunde kürzer sein. Die Lohnsätze bleiben jedoch dieselben. Bei dieser Arbeitszeit fällt die Vesperpause fort. Die Mittagspause soll zwischen dem betr. Prinzipal und seinen Gehülfen vereinbart werden; als Willensäußerung der Gehülfen gilt die Ansicht der Mehrheit.

[Pg 278]

Hierbei waren jedoch 2 Klauseln gemacht, nämlich

1. Hinsichtlich der Maschinenmeister und Drucker die Herabsetzung der Arbeitszeit in anderer Form, als täglich ½ Stunde, insbesondere in der Farm zu verwirklichen, daß an 3 Tagen je 10 Stunden und an 3 Tagen je 9 Stunden gearbeitet wird.
2. hinsichtlich der Städte unter 20000 Einwohner, in denen auf Antrag der Mehrheit beider Parteien die bisherige Arbeitszeit einstweilen beibehalten werden darf.

Der Tarif soll mindestens 3 Jahre gelten, doch ist eine Verlängerung auf 5 Jahre in Aussicht genommen.

Zur Regelung der noch offen gelassenen Punkte fand dann vom 15. bis 19. Mai eine Fortsetzung der Verhandlungen in Berlin statt, als deren Ergebnis folgendes zu erwähnen ist:

1. Der Tarif gilt für die Zeit vom 1. Juli 1896 bis 1. Juli 1901. Sollte jedoch nach Ablauf von 3 Jahren, also bis 1. Juli 1899 festgestellt werden, daß die Zahl der den Tarif anerkennenden Prinzipale und der nach demselben arbeitenden Gehülfen nicht fortgesetzt größer geworden ist, so kann er bereits vom 1. Juli 1899 für den 1. Oktober 1899 gekündigt werden. Obige Feststellung geschieht durch das Tarifamt. Wird der Tarif nicht mindestens 3 Monate vor Ablauf von mindestens 4 Prinzipalen oder 4 Gehülfenvertretern im Auftrage ihrer Kreise gekündigt, so verlängert er sich stets um ein Jahr.
2. Anträge auf Abänderung einzelner Teile des Tarifs sind bis zum 1. Juli jedes Jahres von mindestens 4 Prinzipalen oder Gehülfenvertretern im Auftrage ihrer Kreise beim Tarifamte einzubringen und von diesem sofort zu veröffentlichen. Ueber die eingegangenen Anträge muß bis zum 1. Oktober des betreffenden Jahres vom Tarifausschusse Beschluß gefaßt werden; die beschlossenen Aenderungen treten am folgenden 1. Januar in Kraft.
3. Als Organ zur Festsetzung des Tarifs wird der aus je 9 Prinzipalen und Gehülfen bestehenden „Tarifausschuß der deutschen Buchdrucker“ gewählt. Jeder der 9 Kreise der Buchdruckergenossenschaft wählt einen Prinzipal und einen Gehülfen. Wahlberechtigt sind nur diejenigen Prinzipale, welche den Tarif anerkannt haben und diejenigen Gehülfen, welche in tariftreuen Druckereien arbeiten. Die Thätigkeit des Ausschusses erstreckt sich auf Beratung und Festsetzung des Tarifs sowie Maßnahmen zu dessen Durchführung. Die Beschlüsse werden mit absoluter Mehrheit gefaßt, in welcher jedoch von jeder Seite mindestens 3 Vertreter zugestimmt haben müssen.[Pg 279]
4. Zur Ausführung seiner Beschlüsse sowie zur Vermittelung des Verkehrs der Tarifkontrahenten unter einander behufs Aufrechterhaltung und Durchführung des Tarifs errichtet der Tarifausschuß ein Organ, welches an dem Vororte eines Kreises seinen Sitz hat und den Namen „Tarifamt der deutschen Buchdrucker“ führt. Dasselbe besteht aus je 3 Prinzipalen und Gehülfen. Das Tarifamt hat folgende Obliegenheiten:
  a) Die Ausführung der Beschlüsse des Tarifausschusses;
  b) die Aufstellung und alljährliche Veröffentlichung eines Verzeichnisses der den Tarif zahlende Firmen;
  c) die Vornahme statistischer Erhebungen über die Lohn-, Lehrlings- und Lebensverhältnisse;
  d) die Vermittelung zwischen Prinzipalen und Gehülfen in allen Tarifangelegenheiten, soweit nicht die Schiedsgerichte in Betracht kommen, nachdem die Thätigkeit der am Vororte der betreffenden Kreise ansässigen Mitglieder des Tarifausschusses erfolglos war;
  e) die Schaffung und Fortführung eines Tarifkommentars;
  f) die Errichtung von Schiedsgerichten und Aufstellung einer Geschäftsordnung;
  g) Errichtung von Arbeitsnachweisen;
  h) Ausschreibung der Wahlen der Vertreter zum Tarifausschuß;
  i) Entgegennahmen der Abänderungsanträge zum Tarif, die Einberufung des Tarifausschusses und Erledigung aller den Tarif betreffenden Angelegenheiten.
5. Zur Schlichtung von Streitigkeiten in Bezug auf Auslegung des Tarifs sind an allen Kreisvororten oder sonst auf Antrag Schiedsgerichte zu errichten. Falls die Beschlüsse nicht mit mindestens 2/3 Mehrheit gefaßt sind, findet Berufung gegen die Schiedsgerichte an das Tarifamt statt.
6. Die bestehenden Arbeitsnachweise müssen sich verpflichten, nur tariftreue Gehülfen in tariftreuen Druckereien unterzubringen und auf Anweisung des Tarifamtes in erster Linie den durch ihr Eintreten für tarifmäßige Bezahlung arbeitslos gewordenen Gehülfen Arbeit nachzuweisen.

Nachdem auch die Generalversammlung des Prinzipalvereins am 10. Juni die Abmachungen anerkannt hatte, wurde der Einführungstermin für den neuen Tarif auf den 1. Juli 1896 festgesetzt, wogegen die übrigen Einrichtungen, Tarifamt, Tarifkasse, Schiedsgerichte und Arbeitsnachweise erst im September in Kraft treten sollten.

[Pg 280]

So war also das große Werk gelungen in dem Betriebszweige, der sich schon immer durch das fortgeschrittenste sozialpolitische Verständnis von allen übrigen ausgezeichnet hatte, im Buchdruckergewerbe war wieder eine organische Verbindung von Arbeitern und Arbeitgebern hergestellt, eine Tarifgemeinschaft, die über den beiderseitigen getrennten Gruppen die höhere Einheit bildet, um die über den gegensätzlichen stehenden gemeinsamen Interessen zu vertreten, eine Gemeinschaft, die nicht zusammenfällt mit der Zusammenfassung der beiden Gruppen, sondern ein neues selbständiges Wesen ist, welches in beiden Gruppen diejenigen Elemente bekämpft, die sich noch nicht auf die Stufe ausreichenden Verständnisses erhoben haben, um die in Wahrheit höheren Interessen auch thatsächlich über die untergeordneten Sondervorteile der einzelnen Gruppen zu stellen.

Eine Reihe von Bestimmungen, z. B. über die Lohnzahlung, die Kündigung und vor allem eine Lehrlingsskala, die bei den Verhandlungen nicht ausdrücklich erwähnt wurden, sind einfach aus der früheren Tarifgemeinschaft übernommen; es wird sich jetzt darum handeln, ob insbesondere die Bestimmungen über die Lehrlingszahl von den Prinzipalen streng zur Durchführung gebracht werden, was damit zusammenfällt, ob überhaupt die besseren, tariftreuen Elemente unter den Prinzipalen imstande sein werden, die Herrschaft über die schlechten zu behaupten. Dazu ist vor allem das Verständnis dafür erforderlich, daß sie in diesen in höherem Grade, als in den Gehülfen ihren Gegner zu sehen haben, den sie deshalb in erster Linie mit aller Kraft zu bekämpfen und zu besiegen haben, wenn es gelingen soll, dem Buchdruckergewerbe seine vorbildliche Stellung und erzieherische Bedeutung für unsere ganze soziale Entwickelung zu wahren und zu erhalten.

Ein Nachspiel fanden die Tarifverhandlungen noch in der außerordentlichen Generalversammlung des Buchdruckerverbandes, die vom 13. bis 18. Juli 1896 in Halle a. S. stattfand. Allerdings handelte es sich nicht mehr darum, über den Tarif zu beschließen, denn der war seitens der Gesamtheit der Buchdrucker durch die in allgemeinen Wahlen gewählten Vertreter mit den Prinzipalen endgültig festgesetzt. Aber es war noch über die Stellung zu beraten, die der Verband als solcher zu der bisherigen Entwickelung der Dinge und insbesondere zu der dabei von seinem Vorstande beobachteten Haltung einnehmen wollte. Im Verbande bestand eine Gegenströmung gegen den Vorstand, die von dem bisherigen Redakteur des Verbandsorganes, Gasch, geführt wurde und aus dem Grunde besonderes Interesse bietet, weil sie auf einer prinzipiellen Verschiedenheit des Standpunktes beruhte und nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als den Gegensatz zwischen Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie. Den Hauptvorwurf, den Gasch gegen[Pg 281] den Vorstand und insbesondere gegen dessen Vorsitzenden Döblin erhob, ging dahin, daß der Vorstand „nicht auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehe“, daß er in „Harmonieduselei“ versunken sei und mit den „Rückschrittlern“ zusammengehe. Döblin habe sogar offen ausgesprochen, daß er nichts von der Sozialdemokratie wissen wolle. Dem gegenüber erklärte es Gasch für erforderlich, einen Systemwechsel vorzunehmen und sich auf die politische Partei zu stützen. Er verfolgte dies Ziel mit Aufwand aller Kräfte, insbesondere durch Flugblätter[108] und Agitationsreisen, vor allem aber durch das seiner Leitung unterstellte Organ. Schon am 5./6. Juni hatte auf Berufung des Vorstandes eine Konferenz der Gauvorsteher in Berlin stattgefunden und einstimmig ihre Verurteilung über Gasch ausgesprochen. In der Generalversammlung wurde dieses Urteil bestätigt und Gasch mit allen 65 Stimmen bei einer Enthaltung seines Amtes enthoben. Sein Nachfolger als Redakteur des „Correspondenten“ würde Rexhäuser. Durchschlagend war für dieses Vorgehen nicht in erster Linie der von Gasch vertretene Standpunkt, der vielmehr von einigen Seiten Verteidiger fand, sondern die Art seines Auftretens, insbesondere daß er nach einem zur Verlesung gebrachten Briefe beabsichtigt hatte, den Verband zu sprengen, sich mit einigen tausend Mitgliedern zu trennen und ein Gegenorgan ins Leben zu rufen.

Aber auch in der Sache selbst stellte sich die Versammlung auf den Standpunkt des Vorstandes, indem sie mit 45 gegen 22 Stimmen die Tarifgemeinschaft billigte und einstimmig beschloß, daß der bisherige Vorstand bis zum Jahre 1899 im Amte bleiben solle.

Die Verhandlungen waren für die Auffassung der Verhältnisse zur Sozialdemokratie von großem Interesse, indem von der Mehrzahl der Stimmen die völlige Unabhängigkeit dieser Partei gegenüber betont wurde. Der Referent Rexhäuser spottete über das „Kirchturmswettrennen in radikalen Phrasen“, das im „Correspondent“ stattgefunden habe, Döblin erklärte, wenn er geäußert habe, ein Gegner der Sozialdemokratie zu sein, so gehe das den Verband gar nichts an, da derselbe als Gewerkschaft auf dem Boden der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung stehe. „Ich habe mich Ihnen nicht als Sozialdemokrat vermietet: vor allem bin ich ein Feind jeder Phrase.“

Auch die sozialdemokratische Presse, insbesondere die „Leipziger Volkszeitung“ und das Parteiorgan, der „Vorwärts“, hatten gegen den Vorstand und die Tarifgemeinschaft Stellung genommen und setzten ihre Angriffe nach[Pg 282] der Generalversammlung noch fort, so daß Döblin sich veranlaßt sah, im „Correspondent“[109] sich hiergegen zu verteidigen und zu erklären: „Herr Auer mag sein Feld beackern und die Austragung interner Angelegenheiten dem betreffenden Berufe überlassen. Die Buchdrucker sind selbst Mannes genug, um zu entscheiden, was ihrem Interesse entspricht, sie verzichten sicher gern auf die Auer'schen Vorschläge. Wir respektieren das Thätigkeitsfeld der politischen Partei und bitten uns aus, daß Letztere uns in unserer gewerkschaftlichen Thätigkeit ungeschoren läßt.“

Der Kampf beider Richtungen innerhalb der organisierten Buchdrucker ist aber noch keineswegs beendet. Gasch hat eine Gefolgschaft um sich gesammelt, die auf Schritt und Tritt den Verbandsvorstand bekämpft und sehr rührig ist. Seit dem 15. August 1896 redigiert Gasch die von einem freien Komitee herausgegebene „Buchdruckerwacht“, die an Gehässigkeit gegen den Verbandsvorstand das denkbar Möglichste leistet. Seit dem 1. Oktober 1897 erschien sie zunächst 2 Mal wöchentlich, doch ist sie bald auf 1 Mal zurückgegangen.

Auf den Einfluß dieser Kreise ist es wohl auch zurückzuführen, daß das Leipziger Gewerkschaftskartell sich in den Kampf einmischte, indem es in seiner Sitzung vom 5. April 1897 mit allen gegen 2 Stimmen die am 26. März 1897 in einer öffentlichen Buchdruckerversammlung gewählten 6 Vertreter mit der Begründung zurückwies, daß sie nicht auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung ständen, da die Tarifgemeinschaft deren Grundsätzen zuwiderlaufe. Obwohl die Wahl mit mehr als 1000 Stimmen Mehrheit erfolgt war, ließ man statt dieser andere 6 Vertreter zu, die in einer kleinen Versammlung der Tarifgegner von etwa 150 Anwesenden gewählt waren. Dieser Beschluß hat jedoch in der gesamten sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftspresse mit einziger Ausnahme der von Schönlank geleiteten „Leipziger Volkszeitung“ allgemeine Mißbilligung gefunden, und auch die Generalkommission ist energisch dagegen aufgetreten mit der Begründung, daß das Gewerkschaftskartell seine Befugnisse überschreite, wenn es sich in die Angelegenheiten der Zentralvorstände einmische; übrigens sei auch die Tarifgemeinschaft sachlich zu billigen.

Die Opposition hat auch bereits zwei eigene Kongresse abgehalten. Der erste fand statt am 7. Juni 1897 in Leipzig und war von 22 Vertretern besucht. Es wurde beschlossen, die Tarifgemeinschaft auf jede Weise zu bekämpfen und dazu einen Fonds zu gründen, zu welchem jeder der Opposition angehörige Kollege wöchentlich 10 Pf. beizutragen habe. Dagegen wurde ein Antrag, sozialdemokratische Buchdruckervereine zu bilden, gegen 8 Stimmen abgelehnt.[Pg 283] Das Organ der Opposition ist die „Buchdruckerwacht“, deren Redakteur Gasch wieder gewählt wurde. Die Zahl der Abonnenten wurde auf 1520 am Ende des I. Quartals angegeben.

Unter diesen Umständen blieb dem Verbandsvorstande nichts übrig, als auf eine formelle Ausschließung der oppositionellen Elemente hinzuarbeiten. Obgleich nach § 15 des Statuts der Vorstand das Recht hat, für dessen Aufrechterhaltung Sorge zu tragen und notorische Verbandsschädiger auszuschließen, so wollte er doch dies nicht selbständig thun, sondern veranstaltete eine Urabstimmung sämtlicher Verbandsmitglieder über die beiden Fragen, 1. ob die auf Grund der Beschlüsse des Leipziger Pfingstkongresses entwickelte Thätigkeit der Opposition gegen das Verbandsinteresse gerichtet sei, und 2. ob gegen die Verbandsschädiger auf Grund des Statutes vorgegangen werden solle. Bei der Anfang September vorgenommenen Abstimmung wurde die erste Frage mit 13759 gegen 4601, die zweite mit 13251 gegen 5164 Stimmen bejaht. Der Vorstand hat darauf eine Bekanntmachung erlassen, in der er die Absicht erklärt, diejenigen, die diese Willenskundgebung des Verbandes nicht achten und künftig „die in der „Buchdruckerwacht“ zu Tage tretenden Bestrebungen von Gasch durch Ausübung von Vertrauensämtern in der gegnerischen Vereinigung, Abhaltung von Sonderzusammenkünften zwecks Förderung dieser Bestrebungen oder sonstige von der Oppositionsleitung veranlaßte zur Schädigung des Verbandes führende Maßnahmen unterstützen“ würden, aus dem Verbande zu entfernen.

Da die Opposition nicht auf ihre Bestrebungen verzichten wollte, so war sie jetzt gezwungen, sich zu einem selbständigen Vereine zusammenzuschließen. Sie hat dies gethan, indem sie am 30. Oktober 1897 die „Gewerkschaft der Buchdrucker, Schriftgießer und verwandter Berufsgenossen“ mit dem Sitze in Leipzig gründete. Neben Rechtsschutz und Unterstützung bei Tarifkonflikten will die Gewerkschaft Arbeitslosen-, Reise-, Kranken- und Invalidenunterstützung, sowie Umzugskosten und Beihülfe in Sterbefällen gewähren. Das Eintrittsgeld wurde auf 1 Mk., der wöchentliche Beitrag auf 1 Mk. 20 Pf. festgesetzt. Das Fachorgan, die „Buchdruckerwacht“, erhalten die Mitglieder unentgeltlich. Die Leitung wurde einem provisorischen Komitee aus 7 Personen übertragen. In einem an die organisierte Arbeiterschaft Deutschlands gerichteten Aufrufe suchte dieses Komitee die Notwendigkeit des gethanen Schrittes damit zu begründen, daß nach den Vorgängen im Verbande „die sozialdemokratischen Mitglieder fortwährend mit dem Ausschlusse bedroht sind, was bei jeder Gelegenheit den betreffenden Mitgliedern fühlbar gemacht wird.“

Am 10. April 1898 hat dann in Halle a. S. der zweite Kongreß der Opposition stattgefunden, auf dem die Neugründung endgültig beschlossen wurde.[Pg 284] Nach Angabe der der Bewegung günstigen „Leipziger Volkszeitung“ waren Vertreter aus 21 Orten erschienen, doch wird die Zahl nicht mitgeteilt. Der „Correspondent“ dagegen behauptet, es seien außer 30 Vertretern aus Leipzig und den Vororten nur sechs bis sieben Personen aus anderen Orten anwesend gewesen. Der Schwerpunkt der Verhandlungen lag in der Festlegung des Verhältnisses zum Verbande, doch wurde folgender Antrag

„Eine Einigung der Buchdrucker ist herzustellen, insofern der Verband

1. sich von der jetzigen Tarifgemeinschaft lossagt, der Tarif von Jahr zu Jahr festgestellt wird und nur die Gehülfenorganisation den Tarif festsetzt. Sämtliche Anhängsel des Tarifs müssen fallen;
2. Eine Revision des Verbandsstatutes vornimmt, wodurch
  a) die Mitgliederrechte gesichert werden,
  b) die persönliche Freiheit sichergestellt wird und
  c) die Machtbefugnisse der leitenden Personen beschränkt werden;
3. Wird Einigung erreicht, dann treten alle ausgeschlossenen Mitglieder wieder in ihre alten Rechte ein;
4. esgleichen findet dann eine Neuwahl des Verbandsvorstandes statt“

von der Mehrheit abgelehnt und statt dessen folgender Beschluß angenommen:

„In Erwägung, daß es Sache des Verbandes ist, Vorschläge über Herstellung des Friedens unter den Buchdruckern zu machen, weil der Verband durch die vielen Ausschlüsse die Spaltung verschuldet hat, geht der Kongreß über die vorgeschlagenen Friedensbedingungen zur Tagesordnung über.“

Auch der von der Preßkommission gestellte fernere Antrag, die „Buchdrucker-Wacht“ mit Rücksicht auf das bei ihr zu Tage getretene Defizit von 220 Mk. künftig nur einmal wöchentlich erscheinen zu lassen, wurde abgelehnt und dagegen wurde der Vorschlag des „Bundes der Lithographen“ in Stuttgart, die Buchdrucker-Wacht als sein Organ zu benutzen, angenommen. Der genannte Verein ist eine wenig Mitglieder zählende Abzweigung von dem „Verbande der graphischen Arbeiter“, dem wegen Streitigkeiten die Benutzung des Verbandsorgans, die „Graphische Presse“, untersagt ist.

An diesen Kongreß schloß sich am folgenden Tage die erste Generalversammlung der neu gegründeten „Gewerkschaft der Buchdrucker, Schriftgießer und verwandter Berufsgenossen“, die ebenfalls in Halle tagte und auf der nach den Berichten 220 Mitglieder durch 9 Abgeordnete vertreten waren.

Ueber den finanziellen Stand der Gewerkschaft gab der Kassierer folgende Abrechnung: Einnahme der Gewerkschaft 2287,20 Mk., des Unterstützungsfonds der Minderjährigen 246,45 Mk., des Witwenunterstützungsfonds 192 Mk., Summa 2725,65 Mk. Ausgabe der Gewerkschaft 1069,70 Mk., des Unterstützungsfonds[Pg 285] der Minderjährigen 42,75 Mk., des Witwenunterstützungsfonds —,—Mk., bleibt Bestand 1613,20 Mk. Die Ausgaben der Gewerkschaft verteilten sich auf Arbeitslosenunterstützung mit 272,50 Mk., Krankenunterstützung 180,60 Mk., Agitation 348,50 Mk., Druckkosten 62 Mk., Abonnement der „Buchdrucker-Wacht“ 45 Mk., Porti 38,15 Mk., Utensilien 29,15 Mk., Unkosten-Conto 58,80 Mk., Diverse 35 Mk. Mitgliederzahl 196.

In der Diskussion wurde das Verhalten des „Vorwärts“ gegenüber der neuen Gewerkschaft getadelt. Der „Buchdrucker-Wacht“ wurden 200 Mk. zur Deckung des Defizits überwiesen. Der Sitz der Gewerkschaft bleibt in Leipzig, es wurden sieben Personen in das Zentralkomitee gewählt. Außerdem wurden fünf Kontrolleure, die an verschiedenen Orten wohnen, eingesetzt.

Die Generalkommission wurde gleichfalls wegen ihrer Stellungnahme zur Gewerkschaft scharf verurteilt, aber beschlossen, daß diese an die Generalkommission angeschlossen werden soll.

Die angenommene Resolution lautet: „Die Gewerkschaft der Buchdrucker ist daselbst anzumelden und der Generalkommission schriftlich wegen ihrer Stellungnahme zur Gewerkschaft der Tadel auszudrücken, event. auch dahin zu wirken, daß die Generalkommission durch andere Personen ersetzt wird.“

Es wurde dann noch eine Protestresolution gegen das Rundschreiben des Staatssekretärs Grafen v. Posadowsky angenommen und ein Referat gehalten über die Bestrebungen der bürgerlichen Sozialpolitiker, durch die Gewerkschaftsbewegung als „staatserhaltenden Faktor“ einen Keil in die allgemeine Arbeiterbewegung zu treiben und diese zu zerstückeln. Der alte Buchdruckervorstand verfahre nach diesen Tendenzen und die Generalkommission habe auch die Exklusivität der Berufsorganisationen anerkannt, eine Selbständigkeit der einzelnen Berufe, die die Gegner dem einheitlichen Vorgehen der Sozialdemokratie entgegensetzen wollen. Der Kongreß schließt sich dem Wunsche an, daß die Arbeiterschaft ein scharfes Auge auf die Quertreibereien werfen solle.

Die Generalkommission hat sich diesen Tadel nicht sehr zu Herzen genommen und sogar den beantragten Anschluß mit Berufung darauf, daß bei ihr nicht zwei Organisationen desselben Gewerbes vertreten sein könnten, abgelehnt. Sie faßt im „Correspondenzblatt“[110] ihr Urteil dahin zusammen: „Ein kleines Häuflein mit revolutionären Phrasen um sich werfender Leute bemüht sich heute in dem Berufe, in welchem eine völlige Einmütigkeit in der Organisation noch nicht erreicht ist, die Zersplitterungsversuche fortzusetzen. Noch kurze Zeit ruhiger Entwickelung, und auch sie werden einsehen, daß die Arbeiter Besseres zu thun haben, als sich zum eigenen Schaden zum Nutzen der Ausbeuter zu bekämpfen.“

[Pg 286]

Nach einer privaten Mitteilung des Verbandsvorstandes belief sich die Mitgliederzahl der neuen Gewerkschaft im September 1898 auf 270 und ist anzunehmen, daß die leitenden Personen nur beabsichtigen, dieselbe noch bis zu der 1899 stattfindenden Generalversammlung des Verbandes über Wasser zu halten, in der Hoffnung, daß dieser den Abtrünnigen den Wiederanschluß gestatten werde, eine Hoffnung, auf deren Erfüllung kaum zu rechnen sei.

Auch in den letzten Jahren hat in diesem Kampfe zwischen dem Verbande und der Opposition die sozialdemokratische Presse überwiegend gegen den Verband Partei genommen. Daß dieser nicht gewillt ist, sich dies gefallen zu lassen, ergiebt eine Reihe von Artikeln des „Korrespondent“, die in dessen Nummern vom November 1898 erschienen sind und eine sehr deutliche Sprache reden. So heißt es: „Selbst wenn die Auffassung der Mehrheit der sozialdemokratischen Blätter richtig wäre, daß der größte Teil der Buchdrucker nichts von der Sozialdemokratie wissen wollte, so könnten wir uns keine verkehrtere Taktik denken, als mit wüsten und blöden Schimpfereien die Buchdrucker zu Sozialdemokraten „erziehen“ zu wollen. Und dann noch eine Frage: Wie kommt es, daß fast ausschließlich in sozialdemokratischen Druckereien jene Kollegen zu finden sind, welche mit allen Mitteln die Organisation der Buchdruckergehilfen zu vernichten und die übrigen Arbeiter gegen dieselbe aufzuhetzen bemüht sind, wie kommt es, daß sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, Redakteure, Gewerkschaftsvorsitzende und ähnliche Arbeiterführer ihr Mandat mißbraucht haben und noch mißbrauchen, um durch Verdächtigungen unseres Verbandes, dessen Leitung wie seines Organs, und Förderung einer Gegenorganisation den Verband lahmzulegen oder den Unternehmern gegenüber zu schwächen und dann die Folgen dieser demoralisierenden Thätigkeit aufs Konto der Tarifgemeinschaft zusetzen? Wir sind jederzeit objektiv genug gewesen, nicht die Partei als solche für die Dinge verantwortlich zu machen, wenn es aber in derselben schon so weit gekommen sein sollte, daß jeder von persönlichen Leidenschaften oder Gehässigkeiten erfüllte Mensch namens der Partei die Bekämpfung von Arbeitern oder deren Organisationen zum „Prinzip“ erklären kann, wenn eine Abwehr persönlicher Angriffe und Gehässigkeiten mit dem Ausschluß aus der Partei geahndet und damit zur Parteisache gemacht wird, dann verzweifeln wir an dem Glauben, in der sozialdemokratischen Partei die Vertreterin unserer Interessen zu erblicken“. „Wir müßten ja geradezu feige Hunde sein, wenn wir uns auf die Dauer eine solche Behandlung gefallen ließen.“ Es könnte hiernach kaum unerwartet kommen, wenn der Buchdruckerverband demnächst sich in offnem Gegensatz zur Sozialdemokratie setzen sollte. —

Die Entwickelung des Buchdruckerverbandes hinsichtlich seines äußeren Umfanges und seiner inneren Wirksamkeit zeigt folgende Tabelle:

[Pg 287]

Jahr Mitgliederzahl im Jahresmittel Unterstützung z. Aufrechterhalt. des Tarifs
Mk.
Arbeitslosenunterstützung
Mk.
Reiseunterstützung
Mk.
Invalidenunterstützung
Mk.
Krankenunterstützung einschl. Sterbegeld
Mk.
1867   3192
1868   5000     8751
1869   6589     2529
1870 ?     7952
1871   6227     1042
1872   7471   21946
1873   7030 124746
1874   7325   43090
1875   7276   45082   28737
1876   6386     5617 120250
1877   5511   66711   44017
1878   5696     6963   47871
1879   5724     1038   62005
1880   6278     9590   16806   52500       102
1881   8762     1605   14156   64974       829   13351
1882   9021     9035   24619 114651     2314 147932
1883 10116   22024   28532 132191     8882 226947
1884 10648   34252   34832 125584   15404 239145
1885 11423   18355   35763 107081   22231 271813
1886 12824   21874   56448   92237   50670 320942
1887 11856 266344 130816 147418   75349 329396
1888 11643   26282   76687   83496   68957 305399
1889 12792   17664   56512   62421   78648 300377
1890 15377   39514   56394   86190   83661 347424
1891 16921       835679[111]   51333   90482   97285 377574
1892 15188       218042[111]       235528[111] 121164 116330       455303[111]
1893 15749     9143   92906 100712 124232       316820[112]
1894 17334   16920 101562 114914 131123 318484
1895 19188   22782   97702 110843 127260 326447
1896 21437   74689       127342[113]       138491[113] 129529 327918
1897 22854   63044 132779 137388 138942 365152
1898       24942[114]   49154 141688 115177   67949       391336[115]

Um die Bedeutung der mitgeteilten Mitgliederzahlen zu würdigen, bedarf es einer Vergleichung mit der Gesamtzahl der im Buchdruckgewerbe beschäftigten Personen, da sich hieraus das Verhältnis der in dem Verbande organisierten Gehülfen zu den übrigen und die Berechtigung des Anspruches auf Vertretung[Pg 288] der gesamten Gehülfenschaft ergiebt. Dies ist dadurch erschwert, daß die bisherigen Berufszählungen von 1875, 1882 und 1895 zwar die Anzahl der Betriebe sowie der Geschäftsleiter und der Hülfspersonen angeben, nicht aber die einzelnen Klassen der letzteren ersehen lassen. Nach der Zählung vom 14. Juni 1895 waren in Deutschland in 6303 Buchdruckereibetrieben 80942 Personen beschäftigt. Davon waren Geschäftsleiter 6034, Verwaltungspersonal 4946, technisches Aufsichtspersonal 1820, 43183 männliche und 10249 weibliche Gehülfen und 14512 Lehrlinge. Die Ende 1897 vorhandenen 22854 Verbandsmitglieder entsprechen mithin 53% aller Gehülfen[116].

Im Jahre 1887 hat die Buchdruckerberufsgenossenschaft eine Statistik veranstaltet, nach der in 3863 versicherungspflichtigen Betrieben 58000 Hülfspersonen beschäftigt waren, doch beschränkt sich diese Zählung auf den Umfang der Berufsgenossenschaft, der die Stein-, Metall- und Farbdruckereien und alle die nicht unfallversicherungspflichtigen Betriebe nicht angehören.

Von dem Herausgeber des Klimsch'schen Adreßbuches sind 1886 und 1890 ebenfalls Zählungen veranstaltet[117]. Diejenige von 1886 giebt folgende Zahlen:

I. Setzerei: 1480 Faktoren, 841 Korrektoren, 19872 Setzer, 184 Setzerinnen, 7118 Lehrlinge.
II. Buchdruckerei: 3645 Maschinenmeister, 1031 Schweizerdegen, 667 Handpressendrucker, 1681 Druckerlehrlinge, 1518 Einleger, 3454 Einlegerinnen.
III. Lithographie: 3507 Lithographen, 1559 Lehrlinge.
IV. Steindruckerei: 1429 Maschinenmeister, 5079 Handpressendrucker, 2168 Lehrlinge, 680 Einleger, 1451 Einlegerinnen.
V. 299 Präger, 4126 Comptoiristen, 370 Materialienverwalter.

Dieses Personal war beschäftigt in 3453 Buchdruckereien, 1295 Steindruckereien, 834 Buch- und Steindruckereien.

Die Zählung von 1889 erstreckt sich auf 5300 Druckereien und giebt an:

1647 Faktoren, 1028 Korrektoren, 21922 Setzer, 4382 Drucker und Maschinenmeister, 1056 Schweizerdegen, 10253 Setzerlehrlinge, 2519 Druckerlehrlinge.

Auch die Gehülfen haben Erhebungen veranstaltet. Die erste aus dem Jahre 1885 umfaßte nur 2408 Druckereien mit 2708 Prinzipalen (1618 gelernten und 1090 Nicht-Buchdruckern) und ergab 923 Faktoren, 485 Korrektoren,[Pg 289] 13929 Setzer, 2916 Drucker und Maschinenmeister, 570 Gießer und 6699 Lehrlinge. Die zweite vom 15. Oktober 1894 umfaßte 4152 Druckereien und ergab 1309 Faktoren, 759 Korrektoren, 21922 Setzer, 4382 Drucker und Maschinenmeister, 1056 Schweizerdegen, 548 Stereotypeure, mithin insgesamt 30022 Hülfspersonen, von denen 14517 dem Verbande angehörten, während 14464 demselben fern standen. Diesen Gehülfen standen 10253 Setzerlehrlinge und 2519 Druckerlehrlinge gegenüber. Die neueste Zählung vom Dezember 1898 erstreckte sich auf 3826 Druckereien und ergab: 1589 Faktoren, 902 Korrektoren, 26481 Setzer, 5393 Drucker, 1060 Schweizerdegen, 277 Stereotypeure und 168 Maschinensetzer. Von der Gesamtziffer zu 35870 waren 21217 Mitglieder des Verbandes, während 14653 ihm nicht angehörten. Außerdem gab es 8189 Setzerlehrlinge und 2371 Druckerlehrlinge.

Obgleich der große Streik die Mittel des Verbandes sehr geschwächt hatte, so daß der Vermögensbestand der Allgemeinen Kasse, der am 31. März 1891 412411,92 Mk. betragen hatte, am 31. März 1892 auf 3025,25 Mk. gesunken war, ist derselbe doch rasch wieder gestiegen, indem er betrug: am 31. März 1893 20769,35 Mk., am 31. März 1894 56567,53 Mk., am 31. März 1895 578197,13 Mk., am 31. März 1896 931082,18 Mk., am 31. März 1897 1204141,28 Mk., am 31. März 1898 1594201,26 Mk. und am 31. März 1899 2106822,89 Mk. Allerdings sind die drei zuletzt genannten Zahlen mit den früheren nicht unmittelbar vergleichbar; wie erwähnt, sind die beiden früher selbständigen Kassen, die Verbands-, Kranken- und Begräbniskasse und die Zentralinvalidenkasse 1892 und 1893 aufgelöst; dabei ist das Vermögen der Ersteren, wie oben hervorgehoben, infolge Verzichts der Berechtigten im Betrage von 276923,51 Mk. ohne Gegenleistung auf die Verbandskasse übergegangen. Die Invalidenkasse wird freilich zunächst noch fortgeführt, aber nur zu dem Zwecke, die bestehenden Verpflichtungen abzuwickeln. Der Vermögensbestand derselben betrug am 31. März 1896 947835,75 Mk., am 31. März 1897 883423,94 Mk., am 31. März 1898 825383,27 Mk. und am 31. März 1899 769365,16 Mk. Die Gesamtausgabe hatte im Jahre 1895/6 111573,35 Mk., im Jahre 1896/7 97978,01 Mk., im Jahre 1897/8 88742,81 Mk. und 1898/99 82660,60 Mk. betragen. Die Gesamtzahl der Invaliden war Ende Dezember 1895 auf 262, Ende Dezember 1896 auf 239, Ende Dezember 1897 auf 220 und Ende Dezember 1898 auf 199 herabgegangen. Seit Auflösung der Invalidenkasse fließen die Invaliditätsbeiträge in die Verbandskasse.

Schon die Stuttgarter Generalversammlung 1894 hatte den Vorstand beauftragt, ein graphisches Kartell d. h. eine Verbindung der Buchdrucker mit den Lithographen, Steindruckern, Buchbindern u. s. w. herbeizuführen. Die Verhandlungen hatten zunächst Schwierigkeiten darin gefunden, daß die übrigen[Pg 290] Berufe die Zahlung eines Beitrages zu einer Reservekasse beanstandeten. Am 9. Mai 1896 wurde jedoch von den betreffenden Bevollmächtigten die Bildung eines Kartells beschlossen. Zur Bestreitung größerer Kämpfe sollte jedes Mitglied der beteiligten Organisationen vierteljährlich 30 Pf. in den Reservefonds einzahlen. Die Verwaltung desselben sollte gemeinsam durch Bevollmächtigte der einzelnen Berufe besorgt, Unterstützungen aber erst bezahlt werden, wenn der Fonds auf 30000 Mk. angewachsen ist; die Höhe derselben wird von der Verwaltung in Verbindung mit den Verbandsvorständen bestimmt. Bei Streiks einzelner Berufe in einzelnen Anstalten haben die kartellierten Berufsgenossen, die in derselben Anstalt beschäftigt sind, nach erfolgter Zustimmung ihrer Verbandsvorstände ebenfalls die Arbeit niederzulegen, sobald damit voraussichtlich ein Erfolg erzielt wird. Trotz dieses Beschlusses ist aber das Kartell nicht zustande gekommen und auch keine Aussicht eines besseren Erfolges für die Zukunft vorhanden. Der Grund liegt teils darin, daß die Lithographen und Steindrucker nicht imstande sind, die erforderlichen Beiträge aufzubringen, teils darin, daß insbesondere die Buchbinder sich der Auffassung der Buchdrucker, die dem Kartell lediglich praktische Aufgaben zuweisen wollten, widersetzen.


Die Streitigkeiten, welche zum Ausbruche des Streiks von 1891 führten, gaben zugleich Anlaß zur Gründung einer zweiten Gehülfenorganisation, die der Erwähnung bedarf, nämlich des „Gutenbergbundes[118]. Schon längere Zeit hatte unter den nicht zum Verbande gehörigen Gehülfen eine „Freie Vereinigung“ bestanden; ebenso gab es eine Reihe von örtlichen Unterstützungskassen. Die Einleitung des Streiks hatte zur Folge, daß auch eine Anzahl Mitglieder des Verbandes, die den Streik mißbilligten, austraten. Diese Nichtverbändler hatten nun einen Kampf nach zwei Seiten zu führen, nämlich einerseits gegen die schlecht zahlenden Prinzipale, andererseits gegen den Verband, von welchem gegen sie die schärfsten Angriffe gerichtet wurden. Das Bedürfnis, diesen doppelten Kampf mit Erfolg zu führen, hatte bereits die Schaffung eines besonderen Blattes für Nichtverbändler, des „Typograph“ in Stuttgart, zur Folge gehabt, und ebenso führte er im Herbst 1892 zur Gründung des „Berliner Buchdruckervereins“. Aber die Verhältnisse drängten dazu, eine feste Organisation für ganz Deutschland ins Leben zu rufen, und so trat am 3. September 1893 in Erfurt eine Anzahl Gehülfen zu dem „Gutenbergbunde[Pg 291] zusammen, dessen Statuten mit dem 1. April 1894 in Kraft traten. Die Schwierigkeiten, die aus dem Verhältnisse zu der früheren „Freien Vereinigung“ sowie daraus erwuchsen, daß die bestehenden örtlichen Unterstützungskassen nicht geneigt waren, sich zu Gunsten des Bundes aufzulösen, hatten zur Folge, daß derselbe eine eigentliche Wirksamkeit erst seit dem 1. April 1895 entfalten konnte.

Die Statuten in der durch die Generalversammlung von 29./31. August 1897 festgesetzten Form bezeichnen die Aufgabe des Bundes in folgender Weise:

„Der Gutenbergbund bezweckt den Zusammenschluß derjenigen Buchdrucker Deutschlands, welche dem „Verbande Deutscher Buchdrucker“ oder der „Gewerkschaft Deutscher Buchdrucker und Schriftgießer“ nicht angehören.

Dieser Zweck wird erstrebt durch:

a) Gewährung von Unterstützung an arbeitslose und erwerbsunfähige (kranke) Mitglieder;
b) Gewährung von Unterstützung an dauernd erwerbsunfähige (invalide) Mitglieder;
c) Gewährung von Umzugskosten;
d) Vertretung der gemeinsamen materiellen und Berufsinteressen;
e) Vermittelung von Arbeitsgelegenheit durch Errichtung von Arbeitsnachweisen;
f) Herausgabe eines Organs: „Der Typograph“;
g) Pflege der Kollegialität.

Die Kassen des Bundes stehen Lohnkämpfen gegenüber auf völlig neutralem Boden; es darf die Bezugsberechtigung der Mitglieder von der Beteiligung oder Nichtbeteiligung an solchen nicht abhängig gemacht werden.

Der Abschluß der Gegenseitigkeit mit außerdeutschen Vereinen gleicher Richtung wird angestrebt und werden dementsprechende Abschlüsse durch den Hauptvorstand bezw. durch die Generalversammlung vollzogen.“

Der Beitritt zu dem Verbande oder der Gewerkschaft hat das Ausscheiden aus dem Bunde zur Folge. Der Bund gewährt Unterstützungen an Arbeitslose auf der Reise und am Orte, bei Krankheit (seit 1898) und Invalidität (seit 1895), sowie einen Zuschuß zu den Umzugskosten, jedoch haben die Mitglieder kein klagbares Recht auf dieselben, sie werden vielmehr nach dem jeweiligen Vermögen des Bundes festgesetzt. Nur für die Invalidenunterstützung wird ein besonderes Entgelt von wöchentlich 20 Pf. erhoben, die übrigen Unterstützungen werden durch den Bundesbeitrag gedeckt, der 1894 und 1895 25 Pf., 1896 und 1897 55 Pf. betrug und seit 1898 auf 65 Pf. erhöht ist. Der Sitz des Bundes ist Berlin; das Organ desselben ist der „Typograph“, der den Mitgliedern unentgeltlich geliefert wird.

[Pg 292]

Die bisherige Entwickelung des Bundes ergiebt sich aus folgender Tabelle.

Es ergaben sich am Schlusse des

Jahres Ortsvereine Mitglieder Einnahmen aus Beiträgen
Mk.
Geleistete Unterstützungen
Mk.
Vermögensbestand
Mk.
1894 27 1200   9222   7400
1895 34 1420 15176   2314 17495
1896 40 1570 36899 14033 29919
1897 57 1925 46283 24109 40909
1898 69 2800 64000 28000 63000

Der seitens des Verbandes erhobene Vorwurf, der Bund stehe im Solde der Prinzipale und seine Mitglieder gäben sich zu Streikbrechern her, wird von ihm mit Entrüstung zurückgewiesen mit der Behauptung, daß auch seine Arbeitsnachweise Arbeit nur in tariftreuen Geschäften vermitteln und daß der Bund das Interesse der Gehülfen nicht minder wirksam wahre als der Verband, daß er vielmehr lediglich dem Terrorismus des letzteren entgegentreten und die freie Selbstbestimmung der Gehülfen bei etwaigen vom Verbande beschlossenen Streiks wahren wolle. Deshalb dürfe kein Mitglied wegen Teilnahme oder Nichtteilnahme an Lohnbewegungen aus dem Bunde und von der Beteiligung an dessen Kassen ausgeschlossen werden.

Es ist bei den widersprechenden gegenseitigen Darstellungen schwer, in dem zwischen Verband und Bund geführten verbitterten und gehässigen Streite ein unbefangenes Urteil zu gewinnen. Daß seitens des Verbandes ein starker Druck zum Eintritte auf die Gehülfen ausgeübt wird, ist nicht zu bezweifeln, und ebenso wird vom Standpunkte der persönlichen Freiheit aus das an die Mitglieder gestellte Verlangen, sich einem Beschlusse des Verbandes wegen Einleitung eines Streiks auch da zu fügen, wo sie ihn für unberechtigt halten, verwerflich erscheinen. Aber es ist zu bedenken, daß Ziele, die einer größeren Gruppe gemeinsam sind, sich einfach nicht anders erreichen lassen, als wenn eine solche Gruppe sich zu einer straffen Organisation zusammenschließt und der Einzelne sich den Beschlüssen der Mehrheit unterordnet. Insofern liegt auch dem heute so viel angeschuldigten „Terrorismus“ im wirtschaftlichen Kampfe, mag er auf Seiten der Arbeiter oder der Unternehmer geübt werden, eine gewisse geschichtliche Notwendigkeit und ein soziales Recht zu Grunde, das allerdings mit unserem gesetzlich anerkannten Rechte in Widerspruch steht, aber wesentlich deshalb, weil dieses auf dem Boden der die letzten 100 Jahre beherrschenden individualistischen Anschauung erwachsen ist. Die letztere steht zur Zeit im[Pg 293] Begriffe, durch eine andere, die soziale, abgelöst zu werden, und von dieser aus betrachtet, muß Manches als Recht erscheinen, was wir bisher gewohnt waren, als Unrecht zu betrachten.

5. Die Bergarbeiter[119].

Die Bergarbeiter haben sich von jeher durch eine gewisse konservative Anschauung von den meisten Gruppen der Industriearbeiter unterschieden, wobei die durch ihren Beruf geförderte Neigung zu ernster Lebensauffassung und religiöser Stimmung wesentlich ins Gewicht fielen; ist es doch meist üblich, daß der Bergmann vor seiner Einfahrt in den Schacht ein kurzes Gebet spricht. In vielen Gegenden sind die Bergleute auch regelmäßig im Besitze eines eigenen Hauses. Die mit dem Berufe verknüpften Gefahren haben früh zu der Ausbildung von Unterstützungskassen geführt, die meist unter der Aufsicht der Behörden stehen, an denen aber den Arbeitern (Knappen) ein wesentliches Mitbestimmungsrecht eingeräumt ist. Dieses sog. Knappschaftswesen[120] ist der erste Ansatz zu einer Organisation gewesen. In neuerer Zeit haben sich aber daneben noch Bergarbeitervereine gebildet, in denen begreiflicherweise die verschiedenen Richtungen einander den Vorrang abzugewinnen suchen.

Die älteste Organisation dieser Art bestand im Königreich Sachsen, wo schon 1868 die „Zwickauer Gruben- und Tagearbeitergenossenschaft“ 3000 Mitglieder zählte, die sich 1870 auf 6000 vermehrt hatten. Nachdem die Genossenschaft unter dem Einflusse des deutsch-französischen Krieges sich aufgelöst hatte, bildete sich im Mai 1876 der „Sächsische Berg- und Hüttenarbeiterverband,“ der am 10. September 1876 seine erste Generalversammlung abhielt und am 9. Oktober 1877 die Rechte der juristischen Persönlichkeit erlangte. Die Mitgliederzahl betrug 1879 1502, 1880 1331, 1885 3332, 1886 3669, 1888 4224, 1889 5661, 1890 6976, 1891 7226, 1892 7731, 1893 8013, 1894 9225. Der Verband besaß, neben der Verbandskasse eine Beerdigungskasse und ein eigenes Organ unter dem Titel „Glück auf“. Aber nachdem derselbe sich der Gewerkschaftskommission angeschlossen hatte und angeblich sozialdemokratische Bestrebungen in ihm hervorgetreten waren, wurde er auf Veranlassung[Pg 294] der sächsischen Regierung durch Beschluß des Amtsgerichts Zwickau vom 2. Februar 1895 auf Grund des sächsischen Vereinsgesetzes aufgelöst.

In Schlesien hatte 1868 Max Hirsch eine erfolgreiche Agitation entfaltet, aber nach dem unglücklichen Waldenburger Streik lösten sich die Vereine fast sämtlich auf. In den 1880er Jahren entstand im Waldenburger Revier unter den Bergarbeitern eine Bewegung, die den Zweck hatte, durch öffentliche Versammlungen auf eine Verbesserung des Knappschaftswesens hinzuwirken. Bald zog dieselbe aber auch die Lohnverhältnisse, die Behandlung der Arbeiter und andere Punkte in ihren Bereich, und da in den mehrfach begründeten Knappenvereinen bald sozialdemokratischer Einfluß sich geltend machte, so suchte man von anderer Seite ein Gegengewicht zu schaffen. So bildete sich zuerst im Mai 1891 in Hermsdorf ein „Reichstreuer Bergarbeiterverein“, der nach seinem Statute den Zweck verfolgt, „die Kameradschaftlichkeit unter seinen Mitgliedern zu erwecken und zu pflegen, auf der Grundlage der bestehenden gesetzlichen Ordnung die Berufsinteressen der Mitglieder in friedlichem Einverständnis mit den Arbeitgebern und deren Beamten zu fördern und durch Vorträge über Gegenstände, welche den Interessenkreis der Mitglieder berühren, belehrend zu wirken“. „Insofern es sich um die Förderung christlicher Bildung und Sitte, sowie um Kundgebungen politischen Sinnes handelt, dürfen auch ausnahmsweise Religion und Politik in die Vorträge hineingezogen werden, dagegen sind Debatten über Religion und Politik ausgeschlossen.“

Dem Beispiel von Hermsdorf folgten andere Orte, und so entstanden reichstreue Bergarbeitervereine in Altwasser, Charlottenbrunn, Dittersbach, Fellhammer, Waldenburg und Weißstein. Diese Vereine hielten untereinander rege Fühlung und im Oktober 1896 wurde ein „Verband der reichstreuen Bergarbeitervereine im Bezirke des niederschlesischen Bergreviers“ begründet, der seinen Sitz in Waldenburg hat und den Beitritt allen Vereinen freistellt, die den oben bezeichneten Zweck verfolgen; ergiebt sich, daß ein Verein von diesen Grundsätzen abweicht, so kann er durch den Verbandsvorstand ausgeschlossen werden. Dem Verbande ist außer den genannten Vereinen auch der auf ähnlicher Grundlage beruhende ältere Knappenverein in Rothenbach beigetreten. Dem Vorstande steht ein Ehrenbeirat zur Seite, dessen Mitglieder von den Einzelvereinen aus den Reihen der Werksbesitzer, der höheren Beamten, der Vorsteher von Kriegervereinen und anderer Gönner der Sache gewählt werden. Die Vereine erhalten von den Werksverwaltungen Zuwendungen, mit deren Hülfe sie humanitäre Bestrebungen, z. B. Weihnachtsbescheerungen veranstalten. Die Mitgliederzahl des Verbandes betrug[121] am 8. Septbr. 1898 1138.

[Pg 295]

Im Saargebiete bestand bis 1889 keine eigentliche Organisation. Der große rheinisch-westfälische Streik von 1889 zog auch die Saarbergleute, von denen sich ihm 13000 anschlossen, in seinen Stromkreis, und nach dessen Beendigung versuchte man die einmal angeregte Bewegung in einer festen Verbindung der Arbeiter festzuhalten. Diese war der Rechtsschutzverein, der im November 1889 ins Leben gerufen wurde, damals 24000 Mitglieder zählte und unter dem Namen „Schlägel und Eisen“ ein eigenes Organ besaß. Der Verein stand anfangs durchaus unter geistlichem Einflusse, aber bald begann auch die Sozialdemokratie Boden zu fassen, und der Streit zwischen beiden Richtungen zog sich lange hin, bis Mitte 1892 der Sieg der sozialdemokratischen Elemente endgültig entschieden war. Anfangs verfügte der Verein über erhebliche Mittel und erbaute sogar mit diesen einen eigenen Versammlungssaal in Bildstock, aber vielleicht war gerade dies ein Fehler und ein Grund für den späteren Mißerfolg, da es die Mittel zu stark erschöpfte. Nachdem man nämlich zu Gunsten der in der Versammlung vom 4. Mai 1890 in Völklingen gefaßten Beschlüsse, unter denen neben einer Lohnerhöhung der wichtigste Punkt die Achtstundenschicht war, eine umfassende Agitation eingeleitet hatte, kam es endlich am 29. Dezember 1892 zum Streik, wobei die Handhabung der Wahlen zu den Arbeiterausschüssen, die Maßregelung von Arbeiterführern, die Häufung der Feierschichten und die Kürzung der Gedinge die Hauptrolle spielten. Am 2. Januar 1893 hatten von den 30000 Bergarbeitern des Saargebietes etwa 5/6 die Arbeit niedergelegt, aber eine Aussicht auf Erfolg war in Ermangelung ausreichender Mittel von Anfang an ausgeschlossen, und schon nach kurzer Zeit war der Streik verloren. Die Folge war, daß überall nicht allein seitens der Behörden, sondern auch seitens der Kriegervereine, evangelischen Arbeitervereine u. s. w. gegen den Verein vorgegangen wurde, und, nachdem schon seit dem Streik keine Beiträge mehr gezahlt waren, mußte er sich im Juli 1893 auflösen.

Der größte und wichtigste Bezirk des Kohlenbergbaues in Deutschland ist Rheinland-Westfalen und insbesondere das Ruhrgebiet. Hier bestehen auch in erster Linie die im Eingange erwähnten Verhältnisse, und so hatten sich die Knappenvereine zunächst unter Führung der Geistlichen beider Bekenntnisse entwickelt. Allerdings gab es neben katholischen und evangelischen auch gemischte Vereine, in denen an Stelle des religiösen Elementes mehr die Förderung der Berufsinteressen in den Vordergrund trat; doch abgesehen von einem freilich umfaßenden oder kurzlebigen Verbande, der 1878 von sozialdemokratischer Seite ins Leben gerufen war, hatte sich eine eigentlich gewerkschaftliche Bewegung bis zum Jahre 1886 nicht entwickelt. Damals gründete der Redakteur der „Westdeutschen Volkszeitung“, der jetzige Reichtagsabgeordnete[Pg 296] Fußangel in Bochum den „Rechtsschutzverein“, der aber bald an Einfluß verlor und 1888 nur noch 4000 Mitglieder zählte.

Eine völlige Verschiebung der Verhältnisse brachte der große Streik vom Jahre 1889. Derselbe ist durchaus den Kreisen der Bergarbeiter selbst entsprungen, Einflüsse politischer Parteien sind dabei nicht nachzuweisen. Schon seit Anfang April bestand ein westfälisches Komitee zur Vertretung gewisser Forderungen der Bergarbeiter, unter denen neben einer Lohnerhöhung von 15 bis 25% die wichtigste die war, daß in die achtstündige Schicht die Zeit der Ein- und Ausfahrt eingerechnet werden sollte. Obgleich man anfangs eine Arbeitseinstellung nicht plante, vielmehr auf den 2. Juni eine allgemeine Delegiertenversammlung einberufen hatte, in der die erforderlichen Maßnahmen beraten werden sollten, brach doch infolge der Ungeduld der jüngeren Elemente schon in den ersten Tagen des Mai an verschiedenen Orten, insbesondere in Gelsenkirchen, der Streik aus und riß dann die Masse auch der älteren Arbeiter mit, so daß am 8. Mai 40000, am 10. Mai 70000 und am 14. Mai 100000 Bergleute die Arbeit, und zwar ohne Kündigung, niedergelegt hatten. Nachdem die in einer Versammlung in Essen am 12. Mai gewählten sog. Kaiserdelegierten Schröder, Bunte und Siegel am 14. Mai vom Kaiser empfangen und unter Zusicherung arbeiterfreundlicher Reformen aufgefordert waren, die Arbeit wieder aufzunehmen, führten die mit dem Vorstande des bergbaulichen Vereins eröffneten Verhandlungen am 19. Mai zu einem Abkommen, auf Grund dessen die große Mehrzahl der Streikenden zur Arbeit zurückkehrte. Einem Wiederausbruche des Streiks, der infolge der mißverständlichen Fassung des Abkommens vom 27. Mai drohte, wurde durch Verhaftung des Streikkomitees vorgebeugt, und so war am Ende des Monats die Arbeit überall wieder aufgenommen.

So wenig bei der Einleitung des Streiks ein Einfluß der Sozialdemokratie festzustellen ist, so hatte doch während dessen Dauer dieselben erheblich an Boden gewonnen, und vor allem wußte sie sich den Erfolg zu sichern, indem sie den „Verband zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen im Rheinland und Westfalen“ ins Leben rief, der freilich keinen ausgesprochenen politischen Karakter trug, in dem aber von Anfang an der sozialdemokratische Einfluß überwog. Der Verband war sogar bestrebt, sich über ganz Deutschland auszudehnen und berief deshalb den ersten deutschen Bergarbeitertag, der Mitte September 1890 in Halle a. S. tagte. In der That gelang es dort, einen „Verband deutscher Bergleute“ ins Leben zu rufen, der 1892 beschloß, auch Hüttenarbeiter aufzunehmen und dementsprechend seinen Namen änderte und in der „Berg- und Hüttenarbeiterzeitung“ sich ein eigenes Organ schuf; aber obgleich in dem „Glück auf“ vom 4. Januar[Pg 297] 1891 die Mitgliederzahl für das Königreich Sachsen auf 4000 angegeben wird und auch in Oberschlesien ein Zweigverein ins Leben gerufen wurde, so blieb doch die Bedeutung des Verbandes im wesentlichen auf Rheinland-Westfalen beschränkt. Von Anfang an war derselbe natürlich für die Bergwerksbesitzer der Gegenstand der schärfsten Angriffe, und in der That war die bei der Gründung vorhandene Mitgliederzahl von 58000 bald wesentlich vermindert.

Bald nach dem Streik war auch katholischerseits der Versuch gemacht, die vorhandene Erregung auszunutzen, und im Mai 1890 wurde der „Rheinisch-westfälische Bergarbeiterverein Glück auf“ begründet, der aber nicht zu irgendwelcher Bedeutung zu gelangen vermochte und sich bald mit dem „Rechtsschutzverein“ verschmolz.

Der Erfolg des ersten Streiks in Verbindung mit der Fortdauer vieler Beschwerdepunkte bewirkte, daß unter den Bergleuten die Neigung Boden fand, eine neue Kraftprobe zu unternehmen, und so brachen denn im Winter 1890/91 in verschiedenen Orten Unruhen aus. Auf einem am 15. Februar 1891 in Bochum abgehaltenen Delegiertentage, auf dem sowohl die sozialdemokratischen wie die katholischen Elemente vertreten waren, wurde ein aus beiden Richtungen zusammengesetzter Ausschuß gewählt, um bestimmt formulierte 5 Forderungen, insbesondere Lohnerhöhung und Achtstundenschicht einschließlich Ein- und Ausfahrt durchzuführen. Wie das erste Mal, so brach auch jetzt der Streik aus, ohne daß ein entsprechender Beschluß gefaßt wäre, aber nicht allein erreichte er nicht den früheren Umfang, indem die genau zu verfolgende Zahl der Streikenden niemals über 18122 stieg, sondern er hatte auch keinerlei Erfolg und mußte, nachdem er vom 16. April bis 5. Mai gedauert hatte, wieder aufgehoben werden.

Die Schuld an dem Mißerfolge suchten die beiden Richtungen sich gegenseitig zuzuschieben, thatsächlich hatte der sozialdemokratische „alte Verband“, wie er meist genannt wird, den Nutzen davon, denn seine Mitgliederzahl stieg erheblich über ihre frühere Höhe und wird am 19. April auf 100000 angegeben. Aber der Aufschwung war von kurzer Dauer, und bald machte sich ein starker Rückgang geltend. Dazu trug bei einerseits ein völlig mißglückter Sympathiestreik zu Gunsten der streikenden Saarbergleute, der am 8. Januar 1893 ausbrach und an dem sich 11000 Mitglieder beteiligten, und andererseits der Verlust des größten Teils des Verbandsvermögens in Höhe von 16000 Mk., die in dem Konkurse eines gegründeten bergmännischen Konsumvereins verloren gingen. Auf der am 25. August 1895 in Bochum abgehaltenen 5. Generalversammlung wurde die Zahl der Mitglieder auf 11000 angegeben, bei einer Einnahme für das Jahr vom 1. Juli 1894/5 zu 11796 Mk. und einer Ausgabe von 14765 Mk., mithin einem Fehlbetrage von 2968 Mk. und einem Vermögensbestande von 3777 Mk. Auf dem Berliner Gewerkschaftskongresse[Pg 298] wurden nur noch 9500 Mitglieder gezählt, in der Statistik der Generalkommission für 1895 nur 8000 und von gegnerischer Seite wurde auch diese Zahl als erheblich zu hoch bezeichnet. Auf der 8. Generalversammlung in Helmstedt am 18. April 1897 wurde ohne nähere Ziffernangabe erwähnt, daß die Zahl der Mitglieder erheblich gestiegen sei; die Jahreseinnahme wurde auf 15704 Mk., die Ausgabe auf 13304 Mk., der Kassenbestand auf 7685 Mk. angegeben. Die letzte Statistik der Generalkommission Vom 1. August 1898 verzeichnet 18000 Mitglieder, 48847 Mk. 70 Pf. Jahreseinnahme, 29923 Mk. 3 Pf. Jahresausgabe und 15554 Mk. 35 Pf. Kassenbestand[122]. Der Verband hat sich der Generalkommission angeschlossen. Der Vorsitzende ist der Bergmann H. Möller in Bochum, Redakteur des Verbandsorganes ist Hué in Essen.

In den letzten Jahren ist unter den Bergarbeitern eine neue Art der Organisation entstanden. War bis dahin das religiöse Element der Grund eines scharfen Gegensatzes unter den nicht sozialdemokratisch beeinflußten Bergleuten, so hat man jetzt den Versuch unternommen, die beiden Bekenntnisse zu gemeinsamem Vorgehen zu vereinigen, indem man dabei im Anfange besonders den Gegensatz gegen die Sozialdemokratie betonte. Als nämlich der 1894 abgehaltene internationale Bergarbeiterkongreß in Berlin aus dem Ruhrgebiete von 6 sozialdemokratischen Abgeordneten beschickt wurde, die sich als Vertreter der dortigen Bergarbeiter ausgaben, protestirte eine am 3. Mai 1894 in Essen abgehaltene Delegiertenversammlung der christlichen Knappen- und Arbeitervereine des Kreises Essen hiergegen und erklärte gleichzeitig, daß die Aufgabe der christlichen Vereine darin bestehe, gleichfalls die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder zu wahren. Eine niedergesetzte Kommission berief dann auf den 26. August 1894 nach der Rotenburg bei Essen eine von 424 Abgeordneten[Pg 299] als Vertretern von 182 Vereinen besuchte Delegiertenversammlung, auf der eine Resolution gefaßt wurde, welche die gewerkschaftliche Organisation der christlichen Bergarbeiter des niederrheinisch-westfälischen Kohlenreviers für erforderlich erklärte und ein vorläufiges Statut annahm. In der am 28. Oktober 1894 in Essen abgehaltenen konstituierenden Versammlung wurde dann der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter für den Oberbergamtsbezirk Dortmund endgültig begründet.[123]

In der Versammlung war auch die Bergbehörde und die Knappschaftsdirektion vertreten, ohne sich jedoch an den Verhandlungen zu beteiligen. Ein in der Versammlung vom 26. August 1894 an den Kaiser gerichtetes Huldigungstelegramm war freundlich beantwortet. Der Hauptgrund der Unzufriedenheit der Bergleute lag in ihrer ungenügenden Beteiligung an der Verwaltung der durch ihre Beiträge unterstützten Knappschaftskassen. Nach einer gehaltenen Umfrage hatten von 88 Zechen des Oberbergamtsbezirkes Dortmund nur 26 entsprechende Bestimmungen; auf 34 Zechen geschah die Verwaltung und die Verteilung der Gelder ganz nach dem Ermessen der Grubenverwaltungen. Das Statut des neugegründeten Gewerkvereins betont deshalb diese Forderung, stellt aber neben sie noch einige andere Punkte. Als allgemeiner Zweck wird bezeichnet „die Hebung der moralischen und sozialen Lage der Bergarbeiter auf christlicher und gesetzlicher Grundlage und Anbahnung und Erhaltung einer friedlichen Uebereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitern“. Insbesondere wird erstrebt: „1. Die Herbeiführung eines gerechten Lohnes, welcher dem Werte der geleisteten Arbeit und der durch diese Arbeit bedingten Lebenshaltung entspricht, 2. die Einschränkung der Schichtdauer, soweit solche zum Schutze von Gesundheit, Leben und Familie geboten ist, 3. ein Mitbestimmungsrecht über die Verwendung der in die Zechenunterstützungskassen fließenden Beiträge, 4. eine Vermehrung der Kontrollorgane zur Ueberwachung der Durchführung der bergpolizeilichen Vorschriften unter Hinzuziehung praktisch erfahrener Bergleute, 5. eine zeitgemäße Reform des Knappschaftswesens“.

Als Mittel zur Erreichung dieser Zwecke sind bezeichnet „Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Lohnfragen und bei berechtigten Wünschen und Beschwerden, Eingaben und Petitionen an die Werkverwaltungen, Bergbehörden, Regierung, Parlamente, belehrende und bildende Vorträge auf dem Gebiete der Berggesetzgebung, des Bergbaues und der Bestrebungen der Bergarbeiter in anderen Revieren und Ländern“.

Der Verein steht treu zu Kaiser und Reich und schließt im übrigen die Erörterung konfessioneller und politischer Parteiangelegenheiten aus. Durch[Pg 300] den Eintritt bekennt sich jedes Mitglied als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen.

Jeder Bezirk wählt auf je 100 Mitglieder ein Ausschußmitglied; die Gesamtheit der letzteren bildet die Generalversammlung und wählt den Zentralvorstand, der aus 16 Mitgliedern besteht, und zwar je 8 aus den beiden Konfessionen. Daneben besteht ein Ehrenrat, dem außer Bergarbeitern auch Geistliche beider Bekenntnisse als Ehrenmitglieder angehören. Im Vorstande wie im Ehrenrate findet Parität der Bekenntnisse statt. Neben einem Eintrittsgelde von 50 Pf. wird ein vierteljährlicher Beitrag von 25 Pf. bezahlt. Diejenigen Mitglieder, die wegen ihres Eintretens für die Interessen des Gewerkvereins ohne sonstigen Grund von der Zechenverwaltung entlassen werden, haben Anspruch auf Unterstützung aus der Vereinskasse, über deren Höhe der Vorstand nach den Mitteln derselben und dem Grade der Bedürftigkeit entscheidet. Das Organ des Vereins ist der „Bergknappe“, der anfangs monatlich einmal, jetzt monatlich zweimal erscheint. Der Vorsitzende des Vereins, Bergmann August Brust in Altenessen, ist zugleich Redakteur des „Bergknappen“. Seit Januar 1898 hat er seine Thätigkeit im Bergbau aufgegeben, um sich ganz dem Vereine zu widmen und bezieht ein Gehalt von monatlich 150 Mk.

Obgleich der Verein, wie bemerkt, durchaus auf dem Boden friedlichen Zusammenwirkens mit den Arbeitgebern steht, so fand er doch in deren Kreisen die erbittertste Feindschaft, und da er gleichzeitig gegen die Sozialdemokratie den Kampf aufgenommen hat, so hat er große Schwierigkeiten zu überwinden. So ist es denn auch erklärlich, daß, obgleich die 182 Vereine, welche am 26. August 1894 in Essen vertreten waren, angeblich über 30000 Mitglieder zählen sollten, und obgleich am 28. Oktober 1894 noch 137 Vereine teilnahmen, in der am 31. März 1895 in Essen abgehaltenen außerordentlichen Generalversammlung nur die Errichtung von 100 Meldestellen berichtet werden konnte, von denen 68 Listen mit insgesamt etwa 4000 Mitgliedern eingesandt hatten. Die Einnahme betrug bis dahin 1553 Mk. 75 Pf., das Vermögen 865 Mk.

In der am 16. Dezember 1895 in Altenessen abgehaltenen ersten ordentlichen Generalversammlung wurde mitgeteilt, daß die Mitgliederzahl sich inzwischen auf 5400 gehoben habe. Ein Sekretär im Nebenamte mit einer Vergütung von monatlich 30 Mk. ist angestellt. Die Einnahme hat 4261 Mk., die Ausgabe 3929 Mk. betragen, letztere einschließlich eines belegten Betrages von 1400 Mk.

Der Verein hat sich seitdem günstig entwickelt. In der am 1. Februar 1897 in Bochum abgehaltenen zweiten ordentlichen Generalversammlung betrug die Mitgliederzahl bereits 8270 mit 80 Anmeldestellen und einem Kassenbestande[Pg 301] von 6000 Mk. Die am 26. Juni 1897 in Essen stattgehabte außerordentliche Generalversammlung konnte sogar auf eine Zahl von 15000 Mitgliedern mit 113 Anmeldestellen und einen Kassenbestand von 6300 Mk. zurücksehen. Am 1. Januar 1898 war die Zahl der Mitglieder auf 21439 und der Vermögensbestand auf 12682 Mk. gestiegen. Die dritte ordentliche Generalversammlung wurde am 16. Januar 1898 in Gelsenkirchen unter Anwesenheit von 286 Ausschußmitgliedern als Vertretern von 103 Zahlstellen abgehalten. Nach einer Notiz im „Bergknappen“ vom 15. Dezember 1898 betrug am 27. November 1898 der Mitgliederbestand 27983 und das Vermögen 14014 Mk. 15 Pf. In der vierten ordentlichen Generalversammlung, die am 8. Januar 1899 in Essen stattfand, waren 400 Vertreter anwesend. Nach dem Rechenschaftsberichte betrug die Mitgliederzahl 27983 und der Kassenbestand 16771 Mk.

In dieser gedachten Generalversammlung wurde übrigens von mehreren Seiten das schroffe Auftreten des Vorsitzenden Brust gegenüber dem alten Verbande getadelt. Brust hatte im Oktober 1868 seinen Rücktritt von seinem Posten erklärt, und man hatte dies vielfach auf den Gegensatz zwischen ihm und anderen Vorstandsmitgliedern hinsichtlich dieses Punktes zurückgeführt, doch hatte er seine Erklärung schon vor der Generalversammlung wieder zurückgenommen. In der letzteren wurde die Erhöhung des monatlichen Beitrages von 10 auf 20 Pf. und zugleich das wöchentliche Erscheinen des „Bergknappen“ vom 1. April 1899 ab beschlossen. Außerdem forderte man in einer Resolution: 1. Erweiterung der Zuständigkeit der Gewerbegerichte als Einigungsämter und Zulassung von Arbeitervertretern als Rechtsbeistände. 2. Abänderung des Unfallversicherungsgesetzes, insbesondere Erhöhung der Renten. 3. Abänderung des Berggesetzes, insbesondere Zuziehung von Arbeitervertretern zu der Bergaufsicht. 4. Verleihung von Korporationsrechten an die eingetragenen Berufsvereine. 5. Errichtung von Arbeiterkammern. Auch erklärte man, daß die bisher eingetretene Erhöhung der Löhne den zu stellenden billigen Anforderungen noch nicht entspreche, war aber darüber einig, daß ein Lohnstreik zur Zeit nicht aussichtsvoll sei.

Aus der Thätigkeit des Verbandes sind insbesondere hervorzuheben die Bestrebungen wegen Reform des Knappschaftswesens in dem oben bereits bezeichneten Sinne; man ist dabei in scharfen Gegensatz zu der bisherigen Leitung der Knappschaftskassen getreten und hat ziemlich dieselben Forderungen gestellt, die auch von dem alten Verbande erhoben wurden. Da die Knappschaftskassen für Krankheit, Invalidität, Alter und Todesfall sowie für die Witwen- und Waisen Sorge tragen, so hatte der Verband keine Veranlassung, das Unterstützungswesen in dem Maße auszubilden, wie es bei[Pg 302] anderen Arbeiterklassen geboten war. Immerhin hat er 2 Kassen errichtet, an denen die Beteiligung freilich freiwillig ist, den Mitgliedern aber dringend ans Herz gelegt wird. Die erste ist eine Krankengeldzuschußkasse, deren Zweck, wie der Name besagt, darin besteht, zu dem durch die Knappschaftskasse gesicherten Krankengelde noch einen Zuschuß zu gewähren, die andere ist eine Spar- und Sterbekasse, deren Aufgabe es ist, einerseits im Falle des Todes, der Invalidität oder sonstigen Bedürftigkeit durch die angesammelten Spargelder zu helfen, andererseits aber auch eine Vorsorge für Streikfälle zu treffen, indem bei solchen ebenfalls die Mitglieder in der Lage sind, ihr Guthaben anzugreifen. Die letztere Absicht ist bei den einschlägigen Beratungen ausdrücklich betont, wie denn auch in den Statuten der Kasse als deren Zweck „die Stärkung der Organisation“ bezeichnet wird. Uebrigens sind beide Kassen noch nicht in Kraft getreten, da, wie in der Generalversammlung am 8. Januar 1899 mitgeteilt wurde, das am 9. August 1897 eingereichte Statut noch immer nicht genehmigt ist.

Mehrfach hat der Verein in Eingaben an die Behörden und insbesondere den Reichstag und Landtag die Interessen der Arbeiter zu fördern gesucht, z. B. durch Vorschläge zur Reform der Unfallversicherung und Erweiterung der Rechte der Gewerbegerichte, insbesondere Einräumung der Befugnis, auch auf Anrufen nur eines Teiles einzugreifen und Ausdehnung der Einrichtung auf den Bergbau, endlich durch die Forderung von Arbeiterausschüssen und Beteiligung von Bergleuten an der Aufsicht im Betriebe, zu welchem Zwecke die Unabhängigstellung der hierzu berufenen Personen von der Werksverwaltung verlangt wird.

Die Stellung der Grubenbesitzer zu dem Vereine ist von Anfang an kaum weniger schroff ablehnend gewesen, als wenn es sich um ein sozialdemokratisches Unternehmen handelte, ja selbst die auch von unternehmerfreundlichen Blättern als durchaus berechtigt anerkannte Beteiligung der Bergleute an der Grubenaufsicht ist vom „Bergbaulichen Verein“ mit dem Bemerken abgelehnt, daß dazu kein Bedürfnis vorliege. Noch schlimmer ist es dem Gewerkverein mit seinen Bestrebungen um Erhöhung der Löhne ergangen. Auf die schon in Bochum am 1. Februar 1897 beschlossene Eingabe wegen einer allgemeinen Lohnerhöhung von mindestens 10% und eines Minimallohnes für die Hauer von jährlich 1500 Mk., die unter Ablehnung weitergehender Wünsche gefordert und durch ausführliches Material über die gestiegenen Kohlenpreise gerechtfertigt wurde, erteilte der „Bergbauliche Verein“ die Antwort, daß die Bergleute mit den einzelnen Zechen verhandeln mögen, lehnte also die Befugnis des Gewerkvereins zur Einmischung ab. Spätere Eingaben wurden überhaupt keiner Antwort gewürdigt.

[Pg 303]

Die Bergbehörde hat anfangs dem Vereine eine entgegenkommende Haltung bewiesen, der Berghauptmann Täglichsbeck hat regelmäßig persönlich an den Verhandlungen teilgenommen und über einzelne Beschwerdepunkte Auskunft gegeben, was von den Bergleuten stets anerkannt und durch öffentliche Aussprache des Dankes erwidert ist. In neuester Zeit freilich, wo der Wind in den Regierungskreisen in die gegen früher gerade entgegengesetzte Richtung umgeschlagen ist, hat sich auch die Haltung der Bergbehörden etwas geändert.

Ueber die Stellungnahme gegenüber dem alten Verbande hat in dem Gewerkvereine seit seinem Bestehen ein Widerstreit der Ansichten geherrscht. Schon bei der Gründung vertrat der auf katholischer Seite in erster Linie beteiligte Kaplan Dr. Oberdörffer den Standpunkt, daß man bei aller Betonung des christlichen Karakters und bei entschiedener Bekämpfung sozialdemokratischer Bestrebungen doch in praktischen Fragen mit dem Verbande zusammengehen müsse und dadurch am besten dahin wirken werde, Jenen von dem Einfluße der Sozialdemokratie zu befreien. Damals erlangte aber die von dem evangelischen Pfarrer Weber empfohlene Politik schroffster Ablehnung jeder Berührung mit der Sozialdemokratie die Oberhand, was wohl der Grund dafür war, daß Oberdörffer aus dem Ehrenrate ausschied. An seine Stelle trat der bekannte Zentrumsabgeordnete Hitze. Auch im Kreise der Vereinsmitglieder selbst fand die Neigung zur Anbahnung eines guten Verhältnisses zum alten Verbande Vertreter, insbesondere an dem zweiten Vorsitzenden Wahl-Wattenscheid, während der erste Vorsitzende Brust-Altenessen den Weberschen Standpunkt vertrat. Da Wahl evangelisch und Brust katholisch ist, so ergiebt sich, daß der Gegensatz mit dem Bekenntnisse nichts zu thun hat. Die Meinungsverschiedenheit fand schließlich in der Generalversammlung in Gelsenkirchen am 16. Januar 1898 ihren Abschluß dadurch, daß eine Resolution angenommen wurde, die jedes Paktieren mit dem alten Verbande verwarf und das Auftreten Wahls entschieden mißbilligte, infolge wovon er aus dem Vereine ausschied. In neuester Zeit hat übrigens auch hier das schroffe Auftreten der Grubenbesitzer seine einigende Wirkung auf die Arbeiterkreise dahin geäußert, daß in dem „Bergknappen“[124] mehrfach erklärt ist, es bleibe schließlich doch nichts übrig, als auf praktischen Gebiete gelegentlich mit dem „alten Verbande“ Hand in Hand zu gehen.

Seitens der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine haben anfangs Annäherungsversuche stattgefunden, die aber ziemlich kühle Aufnahme fanden, und noch in neuester Zeit hat der Vorsitzende Brust mit Nachdruck erklärt, daß der Verein jede Berührung mit politischen Parteien, zu denen auch jener Verein zu[Pg 304] rechnen sei, durchaus vermeiden müsse; daß Hitze in dem Ehrenrate sei, rechtfertige sich nur durch seine Stellung als hervorragender Sozialpolitiker.

Mit der Stellung gegenüber dem alten Verbande hängt diejenige zu der Frage der Streiks auf das engste zusammen. Das Vereinsstatut betont, wie oben angegeben, die „Anbahnung und Erhaltung einer friedlichen Uebereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitern.“ Hiernach und nach der Persönlichkeit der leitenden Personen kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß die Absicht eines Gegensatzes gegen die Grubenbesitzer anfangs völlig ausgeschlossen war, wurde doch gerade darin von den Vertretern einer entschiedeneren Haltung der Hauptmangel des Vereins gesehen, indem man sogar so weit ging, die führenden Personen zu verdächtigen, daß sie unter dem Einfluße der Regierung ständen und beabsichtigten, die Bergarbeiter in deren Lager überzuführen. Aber die Verhältnisse erwiesen sich stärker als die Menschen. Schon in Bochum sprachen selbst diejenigen, die für die möglichste Mäßigung eintraten, sich dahin aus, daß man, falls die Grubenbesitzer auf ihrer Politik der schroffen Ablehnung auch der gemäßigtsten Forderungen beständen, sich mit der Möglichkeit eines Streiks vertraut machen müsse, auch gut thun werde, die Einrichtung einer Streikkasse ins Auge zu fassen, „um gegebenenfalls, wenn man den berechtigten Wünschen der Arbeiter nicht entspricht und alle sonstigen Mittel vergeblich sind, durch den gesetzlichen Ausstand eine Besserung der Lage zu erzwingen[125].“ Trotzdem bewahrte man selbst harten Zumutungen gegenüber die Ruhe und ging sogar so weit, daß man, als im Frühjahr 1897 auf der Zeche Osterfeld einige Mitglieder wegen ihrer Zugehörigkeit zum Vereine entlassen wurden, also dem Vereine in schroffster Form der Fehdehandschuh hingeworfen und eine Provokation ausgesprochen war, die nur den Zweck haben konnte, diesen zu einer Unbesonnenheit zu verleiten und dann zu vernichten, desungeachtet von einem Streik absah und sich darauf beschränkte, die Entlassenen zu unterstützen.

Aber es ist begreiflich, daß solche und ähnliche Vorgänge allmählich auch in den Vertretern der Mäßigung das Blut in Wallung brachten, und es liegt eine eigentümliche Ironie des Schicksals darin, daß gerade der Vorsitzende Brust, der z. B. die Befreiung des internationalen Gewerkschaftskongresses (1896) mit äußerster Energie bekämpfte und die Aufhebung eines schon gefaßten, für Beteiligung eintretenden Beschlusses erzwungen, der ferner, als auf dem Kongresse in Bochum am 2. Februar 1897 Naumann die gemeinsame gewerkschaftliche Thätigkeit mit dem alten Verbande empfahl, dies in der schroffsten Weise abgelehnt, der endlich aus der gleichen Veranlassung die Ausschließung Wahls durchgesetzt hatte, — daß dieser selbe Brust zum Führer einer großen Streikbewegung[Pg 305] werden mußte, die ihn in scharfen Gegensatz zu Weber brachte und dessen Ausscheiden aus dem Ehrenrate zur Folge hatte. Das Ereignis, um das es sich handelt und das für die weitere Entwickelung der Dinge in der Bergarbeiterbewegung von der größten Bedeutung sein muß, ist der Streik am Piesberge.

Der Piesberg ist ein dem „Georg- und Marien-Bergwerks- und Hüttenverein“ gehöriges, in der Nähe von Osnabrück gelegenes Bergwerk. Bei dessen Betriebe wurde seit Jahrhunderten an den sog. sieben kleinen katholischen Feiertagen nicht gearbeitet. Da seit November 1896 erhebliche Wassereinbrüche in die Gruben stattgefunden hatten, wünschte die Verwaltung, vom 1. Januar 1898 ab eine Beseitigung dieser Einrichtung und erhielt nicht allein die erforderliche polizeiliche Genehmigung, sondern auch unterm 27. November 1897 den bischöflichen Dispens gegen die Zusicherung, die mit Einrichtung eines Frühgottesdienstes verbundenen Kosten zu übernehmen. Aber die Bergleute sahen in der Entziehung der Festtage, soweit sie nicht nur zur Beseitigung einer augenblicklichen Notlage, sondern für die Dauer erfolgte, eine ungerechtfertigte Maßregel, indem sie geltend machten, daß sie vor einer anstrengenden Tagesarbeit nicht in der Lage seien, noch einen Frühgottesdienst zu besuchen, daß sie aber, abgesehen von diesem religiösen Gesichtspunkte, auch nicht geneigt seien, im Interesse einer Erhöhung der Dividenden auf die ihnen erforderlichen Ruhetage zu verzichten. Die Ortsgeistlichen stellten sich von Anfang an auf die Seite der Arbeiter, und schließlich hat auch der Bischof von Osnabrück unterm 29. Januar bezw. 24. Februar 1898 seinen Dispens zurückgezogen. Die Werkverwaltung hatte den ersten Festtag, den 6. Januar, vorübergehen lassen, ohne die Arbeit zu verlangen, hatte dann freilich für den 2. Februar 1898 eine Aufforderung zur Einfahrt an die Arbeiter erlassen, aber, als derselben keine Folge gegeben wurde, einstweilen von weiteren Schritten abgesehen. Als aber an dem folgenden Festtage, dem 25. März, eine unter Androhung der Entlassung erneute Aufforderung ebenfalls keinen Erfolg hatte, wurde am folgenden Tage 500 Arbeitern gekündigt. Am 30. März kündigten dann mehrere hundert Arbeiter ihrerseits, aber nicht allein war nach dem Statute eine Gesamtkündigung nur der Werkverwaltung, nicht den Arbeitern erlaubt, sondern am 12. April wurde auch von einer großen Anzahl Arbeiter die Arbeit ohne Kündigung niedergelegt. Obgleich am 17. Mai auf Grund einer von der Zentrumsfraktion gestellten Interpellation eine Verhandlung der Angelegenheit im Reichstage stattfand, bei der der Handelsminister Brefeld erklärte, die Grubenverwaltung solle die ihr erteilte polizeiliche Erlaubnis nur so lange behalten, bis die durch den Wassereinbruch hervorgerufene Notlage beseitigt sei und die Arbeiter sollten deshalb im Vertrauen hierauf die Arbeit wieder aufnehmen, wurde doch eine Verständigung nicht erzielt, da die[Pg 306] Werkverwaltung auf bedingungsloser Aufnahme bestand, was von den Arbeitern in ihren Versammlungen vom 3. und 4. Juni abgelehnt wurde, und so fand schließlich der Streik erst dadurch seine Erledigung, daß die am 8. Juni tagende Generalversammlung der Aktiengesellschaft beschloß, die Gruben am Piesberge stillzulegen, d. h. den Betrieb aufzugeben. So hat keine Partei den Sieg davon getragen; die durch die Betriebseinstellung beschäftigungslos gewordenen Bergleute haben ohne Mühe an anderen Orten Arbeit erhalten.

In diesen Streik hat auch der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter durch seinen Vorsitzenden Brust in einer Weise eingegriffen, die ihm heftige Vorwürfe zugezogen hat; insbesondere hat Pfarrer Weber in einer öffentlichen Erklärung das Vorgehen Brust's, als im Widerspruche mit den Statuten und Beschlüssen des Ehrenrates stehend, angegriffen und ist, nachdem in der einberufenen gemeinsamen Sitzung des Vorstandes und Ehrenrates vom 17. April nur noch ein Mitglied auf seine Seite getreten war, die übrigen aber das Verhalten Brust's gebilligt hatten, aus dem Ehrenrate ausgeschieden. Der Verlauf der Dinge ist nach dem „Bergknappen“ folgender gewesen.

Als am 2. Februar (Mariä Lichtmeß) trotz der ergangenen Aufforderung 2/3 der Arbeiter nicht eingefahren waren und die Ergreifung von Zwangsmaßregeln zu erwarten stand, wandte man sich seitens der beteiligten Bergleute, obgleich bis dahin der Gewerkverein in dem dortigen Bezirke noch keine Mitglieder hatte, an diesen und ersuchte Brust, in einer Versammlung zu erscheinen. Diese fand am 27. Februar statt und hatte zur Folge, daß sofort 500 Bergleute dem Gewerkvereine beitraten. Brust forderte in ihr die Bergleute auf, sich die Feiertage nicht rauben zu lassen, stellte auch in Aussicht, daß der Gewerkverein eine Vermittelung versuchen werde. Diese erfolgte dann durch ein seitens des Vorstandes an die Zechenverwaltung gerichtetes Schreiben vom 17. März, in welchem unter Bezugnahme darauf, daß 500 der beteiligten Bergleute dem Gewerkvereine angehörten, um Zurücknahme der Anordnung ersucht und gleichzeitig um eine mündliche Besprechung des Generaldirektors Hermann mit Brust gebeten wurde. Diese fand am 19. März statt, hatte aber keinen Erfolg. In einer am folgenden Tage in Osnabrück abgehaltenen Versammlung berichtete Brust über die Lage, enthielt sich aber hinsichtlich der Frage, ob man am 25. März arbeiten solle, der eigenen Stellungnahme und erklärte vielmehr, die Entscheidung jedem einzelnen Bergmanne überlassen zu müssen. Als dann am 26. März infolge Nichteinfahrens gegen 333 Arbeiter die Kündigung ausgesprochen war, wurde Brust telegraphisch aufgefordert, am folgenden Tage in einer in Wallenhorst abzuhaltenden Versammlung zu erscheinen. Er that dies und trug nach Kräften dazu bei, die vorhandene Aufregung zu beschwichtigen, mahnte vor allem eindringlich, sich vor Kontraktbruch zu hüten und die gesetzliche[Pg 307] Kündigungsfrist inne zu halten. Inzwischen hatte der Vorstand des Gewerkvereins in einer an den Handelsminister gerichteten Eingabe vom 24. März den Vorschlag gemacht, den Streik dadurch beizulegen, daß die Arbeiter sich nur insoweit zur Arbeit an Festtagen verpflichten sollten, wie die Wassergefahr es erfordere, doch wurde am 7. April durch das Oberbergamt im Namen des Ministers dem Vorstande eröffnet, daß ihm eine Befugnis zur Vertretung der beteiligten Arbeiter überhaupt nicht eingeräumt werde. Brust, der zum Zwecke einer persönlichen Audienz bei dem Handelsminister nach Berlin fuhr, erhielt die Antwort, daß dieselbe nicht bewilligt werden könne. Auch ein von dem Vorstande am 6. April an die Zechenverwaltung gerichtetes Schreiben gleichen Inhalts und eine Unterredung Brust's mit dem Generalsekretär Stumpf, in der er sogar versprach, sich dafür verwenden zu wollen, daß die Bergleute bedingungslos an den Festtagen arbeiten sollten, bis die im Bau begriffenen neuen Wasserhaltungsmaschinen fertig sein würden, hatten keinen Erfolg. Nachdem dann die Verhandlungen im Reichstage stattgefunden hatten, richtete der Vorstand am 23. Mai nochmals ein Schreiben an die Zechenverwaltung mit dem Vergleichsvorschlage, es sollten bis zum Mai 1899, wo die beiden Wasserhaltungsmaschinen eingebaut sein würden, die Bergleute an den Festtagen arbeiten, von da ab aber die Festtage frei bleiben. Auf dieses Schreiben, in dem zugleich um eine mündliche Unterredung gebeten war, erfolgte überhaupt keine Antwort. Unter diesen Umständen hielt es der Vorstand für seine Pflicht, sich der Streikenden nach Kräften anzunehmen, und es gelang ihm, insgesamt 54267,04 Mk. zur Verteilung zu bringen.

Es erschien gerechtfertigt, den Piesberger Streik etwas eingehender darzustellen, da er ein ganz besonderes Interesse verdient, wie ja auch die Verhandlung im Reichstage beweist. Zum erstenmale ist ein Gewerkverein, der nicht allein die Förderung des guten Verhältnisses zu den Arbeitgebern anstrebt, sondern zugleich auf ausgesprochen christlichem Boden und unter dem Einflusse der Geistlichen beider Bekenntnisse steht, in die Lage gekommen, einen Streik durchzuführen, und, wie schon bemerkt, wird dieser Vorgang nicht allein für die weitere Entwicklung dieses einzelnen Vereins von maßgebender Bedeutung sein, sondern es handelt sich auch zugleich um die Frage, welche Rolle diese neue Art von Gewerkvereinen in der sozialen Bewegung der Gegenwart spielen werden. Es kann ja keinem Zweifel unterliegen, daß gegen die streikenden Bergleute und deshalb auch gegen den sich ihrer annehmenden Gewerkverein erhebliche Vorwürfe zu erheben sind. Dazu gehört nicht allein die Nichtinnehaltung der Kündigungsfrist, sondern es war auch der Gegenstand des Streites von der Art, daß man nicht ohne weiteres den Bergleuten Recht geben kann. Religiöse Bedenken waren durch den bischöflichen Dispens erledigt und sind auch wohl[Pg 308] kaum das treibende Motiv gewesen. Obgleich man nun die Bestrebungen auf Herabsetzung der Arbeitszeit grundsätzlich durchaus zu billigen hat, so ist doch der eingeschlagene Weg, 7 Feiertage, die nur in einem ganz beschränkten Gebiete bestehen, aufrecht zu erhalten, wenig glücklich, und wenn die hohen Dividenden der Aktionäre ins Feld geführt wurden, so ist durch die Reichstagsverhandlungen erwiesen, daß dieselben seit 20 Jahren nicht mehr als 3% betragen haben.

Wenn man trotzdem das Verhalten der Zechenverwaltung und noch mehr dasjenige der Regierung mißbilligen muß, so liegt der Grund hierfür darin, daß beide sich nicht darauf beschränkt haben, die Forderung der Arbeiter zurückzuweisen, sondern sich auf den Standpunkt des hochmütigen Unternehmertums gestellt haben. Inhaltlich war der Streit von dem Augenblicke ab erledigt, daß beiderseits erklärt war, bis zur Fertigstellung der Wasserhaltungsmaschinen solle an den Feiertagen gearbeitet werden, von da ab aber nicht mehr. Weshalb war trotzdem eine Einigung nicht möglich? Nun lediglich deshalb, weil die Grubenbesitzer es ablehnten, dieses Zugeständnis in die Form eines Vergleiches zu kleiden; bedingungslos sollten die Arbeiter sich unterwerfen, dann wurde ihnen Gnade für Recht in Aussicht gestellt. Die Begründung dieses Vorgehens war die oft gehörte, daß die Disziplin und das Recht, Herr im eigenen Hause zu bleiben, eine andere Erledigung ausschließe; der Arbeiter soll eben in dem Arbeitgeber seinen Herrn sehen, der, wenn er artig ist, ihn gut behandelt, der aber sich niemals so weit erniedrigt, sich mit ihm auf dieselbe Bank zu setzen. Aber noch zweifelloser ist das Unrecht der Grubenverwaltung hinsichtlich der Ablehnung der von dem Vorstande des Gewerkvereins angebotenen Vermittelung. Ein großer Teil der beteiligten Bergleute waren dessen Mitglieder; wenn also dessen Legitimation trotzdem bestritten wurde, so bedeutet dies nichts weiter, als eine grundsätzliche Stellungnahme gegen die gewerkschaftliche Organisation überhaupt und findet seine Erklärung lediglich in dem Gesichtspunkte, daß natürlich die Stellung des Arbeitgebers dem einzelnen Arbeiter gegenüber stärker ist, als gegenüber einer Vereinigung derselben. Dieses Uebergewicht wollten sich die Grubenbesitzer nicht nehmen lassen, wie ja auch aus der bereits erwähnten Bestimmung des Statuts hervorgeht, die den Arbeitern eine gemeinschaftliche Kündigung verbietet, während sie der Zechenverwaltung gestattet ist. Der Arbeiter soll vereinzelt bleiben, um seine Kraft zu schwächen. Auf denselben engherzigen und ungerechten Standpunkt stellte sich auch der Handelsminister, indem er die Einmischung des Gewerkvereins ablehnte; wir leben eben in der Zeit der sozialen Reaktion.

In neuester Zeit hat übrigens der Gewerkverein zum zweitenmal Gelegenheit gehabt, einen Streik zu unterstützen, indem er auf der am 8. Januar[Pg 309] 1899 in Essen abgehaltenen Generalversammlung dem Niederrheinischen Gewerkverein christlicher Textilarbeiter in Krefeld als Beihülfe in dem von ihm unternommenen Streik[126] 1000 Mk. bewilligte. Selbst einen Streik in die Hand zu nehmen, hat der Verein bisher abgelehnt, obgleich er wiederholt für eine Erhöhung der Löhne bei der augenblicklich günstigen Geschäftslage eingetreten ist; der Grund ist aber lediglich der, daß man einen Streik zur Zeit als aussichtslos ansieht.

Wie bereits erwähnt, hat der Piesberger Streik innerhalb des Christlichen Bergarbeitervereins insofern eine Sezession zur Folge gehabt, als Pfarrer Weber und mit ihm das zweite evangelische Mitglied, Kaufmann Legewitt, aus dem Ehrenrathe ausschieden, weil sie die Beteiligung am Streik mißbilligten. Brust hat sich gegen die von Weber veröffentlichte Erklärung dahin verteidigt, daß Weber sich nicht auf einen Rath beschränkt, sondern sich ein Recht der Oberleitung angemaßt habe, das ihm nicht zukomme. In neuester Zeit hat dieser Streit eine weitere Folge gehabt durch den Versuch, eine Gegenorganisation in's Leben zu rufen. Am 7. April 1899 veröffentlichte nämlich ein Bergmann Fürkötter, der seit einem Jahre eine „Evangelische Berg- und Hüttenarbeiterzeitung“ herausgiebt, eine Erklärung, durch welche mit der Begründung, daß viele Bergarbeiter weder in dem alten Verbande wegen dessen sozialdemokratischer Richtung, noch in dem christlichen Gewerkvereine wegen dessen „ultramontaner Allüren“ ihre Befriedigung fänden, zur Gründung einer großen evangelischen Organisation aufgefordert wurde. In einer Versammlung des Evangelischen Arbeitervereins Mönchen-Gladbach vom 10. April in welcher Pfarrer Weber den Plan befürwortete, wurde dessen Unterstützung beschlossen. Aber in der zum Zwecke der Gründung auf den 7. Mai nach Bochum einberufenen Versammlung, in der sich nur 30 Personen als Vertreter von 15 Vereinen eingefunden hatten, mußte man sich überzeugen, daß der Gedanke einer Gegenorganisation keinen Boden fand, hatten doch am 16. April die 9 evangelischen Vorstandsmitglieder desselben einen Protest erlassen, in welchem sie die Behauptung, daß innerhalb des Vereins ultramontane Propaganda getrieben werde, für völlig unberechtigt erklärten. So beschränkte man sich denn nach einem Referate des Pfarrers Weber auf den Beschluß, der auch von dem anwesenden Vertreter des Gewerkvereins unterstützt wurde, einen lediglich zur Belebung des religiösen Bewußtseins bestimmten „evangelischen Knappenbund“ in's Leben zu rufen. —

Das Beispiel des Christlichen Bergarbeitervereins im Ruhrgebiete hat zur[Pg 310] Folge gehabt, daß auch im Siegerlande[127] eine ähnliche Organisation ins Leben gerufen ist. Am 1. Juli 1897 wurde nämlich nach mehreren Vorverhandlungen der „Verein christlicher Berg-, Eisen- und Metallarbeiter, im Sieg-Haller Industriebezirk“ mit 8 Anmeldestellen und 400 Mitgliedern begründet.

Der Zweck des Vereins ist die Hebung der moralischen und sozialen Lage der Arbeiter auf christlicher und gesetzlicher Grundlage und Anbahnung und Erhaltung einer friedlichen Uebereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Insbesondere erstrebt der Verein: a) die Herbeiführung eines gerechten Lohnes, welcher dem Werte der geleisteten Arbeit und der durch diese Arbeit bedingten Lebenshaltung entspricht; b) die Arbeitsdauer, soweit solche zum Schutze von Gesundheit, Leben und Familie geboten ist; c) eine Vermehrung der Kontrollorgane zur Ueberwachung der Durchführung der berg- und gewerbepolizeilichen Vorschriften unter Hinzuziehung praktisch erfahrener Arbeiter; d) eine zeitgemäße Reform des Krankenkassenwesens.

Der Verein steht treu zu Kaiser und Reich. Im übrigen schließt er die Erörterung konfessioneller und politischer Parteiangelegenheiten aus.

Die Mittel zur Erreichung des Zwecks sind: Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Lohnfragen und bei berechtigten Wünschen und Beschwerden, Eingaben und Petitionen an die Werksverwaltungen, Bergbehörden, Regierung, Parlamente, belehrende und bildende Vorträge auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung.

Durch den Eintritt in den Verein bekennt sich jedes Mitglied als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen. Der Zentralvorstand ist aus Vertretern beider christlicher Bekenntnisse in gleicher Anzahl zusammengesetzt; dabei sollen Berg- und Industriearbeiter möglichst gleichmäßig berücksichtigt werden. Mitglieder, die wegen ihres Eintretens für die Interessen des Vereins entlassen werden, haben Anspruch auf Unterstützung aus der Vereinskasse. Nach dem Statute soll auch ein Ehrenrat bestehen, doch ist ein solcher bisher noch nicht errichtet, wie denn überhaupt der Verein sich mehr, wie andere ähnlicher Art, allein auf die eigene Kraft der Arbeiterschaft verläßt und Elemente aus anderen Klassen fernhält.

Der Verein hatte sofort Gelegenheit, das Wohlwollen der Werksbesitzer kennen zu lernen. Der zum Vorsitzenden gewählte Bergmann Arnold Utsch in Mudersbach hatte nämlich in der am 5. September 1897 in Niederndorf abgehaltenen Generalversammlung die Aeußerung gethan, es sei richtiger, zu[Pg 311] Knappschaftsältesten Bergleute und nicht, wie bisher, Beamte zu wählen, da diese weniger unabhängig seien, als die Arbeiter. Die Folge dieser staatsgefährlichen Aeußerung war, daß Utsch am 9. September 1897 gekündigt wurde. Der Grubenbesitzer Kommerzienrat Siebel in Kirchen, an den sich Utsch mit der Bitte um Rücknahme der Kündigung wandte, stellte als Bedingung, daß derselbe die Stellung als Vorsitzender des Vereins niederlege, nirgends mehr Versammlungen abhalte und die mißbilligte Aeußerung öffentlich widerrufe. Utsch lehnte diese Bedingungen ab und wandte sich um Vermittelung zunächst an das Oberbergamt in Bonn und dann an die Regierung in Arnsberg, doch beides ohne Erfolg. Natürlich hatte dieses Ereignis eine große Erregung der Bergarbeiter zur Folge, die in mehreren großen Protestversammlungen, u. a. am 3. Oktober in Gosenbach, am 14. November in Siegen unter Teilnahme des Hofpredigers Stöcker, des Vikars Brauns und des Bergmanns Wahl als zweiter Vorsitzender des christlichen Bergarbeitervereins im Ruhrgebiete und am 28. November in Mudersbach ihren Ausdruck fand. In der Letzteren wurde mitgetheilt, daß der Verein bereits 32 Anmeldestellen mit 2136 Mitgliedern besitze. Dem Vorsitzenden Utsch wurde für die Dauer seiner Beschäftigungslosigkeit eine Unterstützung von monatlich 100 Mk. bewilligt. Es wurde zugleich über den Anschluß an den christlichen Gewerkverein, dessen Vorsitzender Brust hiefür warm eintrat, verhandelt, doch wurde dagegen geltend gemacht, daß die Verhältnisse in beiden Bezirken wesentlich verschieden seien, da im Siegreviere der Kohlenbergbau zurücktritt und die Eisenförderung überwiegt. Man vertagte die Entscheidung auf eine andere Versammlung, die am 2. Januar 1898 in Siegen stattfand, in der aber beschlossen wurde, von dem Anschlusse abzusehen, auch ein eigenes Vereinsorgan zu gründen und das Statut dahin zu ändern, daß der Verein den ganzen Oberbergamtsbezirk umfaßt. Dementsprechend wurde der neue Name „Gewerkverein der christlichen Berg-, Eisen- und Metallarbeiter für den Oberbergamtsbezirk Bonn“ angenommen.

Das beschlossene eigene Organ ist unter dem Titel „Christliche Arbeiterzeitung“ mit dem 15. März 1898 ins Leben getreten.

Die erste ordentliche Generalversammlung des Vereins hat am 17. Juli 1898 in Betzdorf stattgefunden. Es wurde mitgeteilt, daß die Mitgliederzahl bereits 4000 bei 50 Anmeldestellen betrage und daß sich die Jahreseinnahme auf 4010 Mk., die Ausgabe auf 2220 Mk. und der Kassenbestand auf 1790 Mk. belaufe. Der Vorsitzende Utsch legte sein Amt nieder und wurde durch Breidebach ersetzt. Es wurde beschlossen, daß der Verein seinen Mitgliedern in Unfallsachen Erstattung von Reisekosten und ärztliche Gutachten gewähren soll. Ein Antrag, die Bekämpfung der Sozialdemokratie[Pg 312] als besondere Aufgabe in das Statut aufzunehmen, wurde abgelehnt. Dasselbe Schicksal hatte der Vorschlag des Vorstandes wegen Errichtung einer Krankengeldzuschußkasse, doch ist man seitdem der Ausführung von neuem nahe getreten. Der Verein hat sich auch an dem Piesberger Streik durch Sammlung von Unterstützungsgeldern beteiligt. Bisher erhalten die Mitglieder des Vorstandes keine Vergütung, doch beabsichtigt man, demnächst einen besoldeten Sekretär anzustellen.

In einer am 27. November 1898 in Siegen abgehaltenen außerordentlichen Generalversammlung wurde beschlossen, den monatlichen Beitrag von 10 auf 20 Pf. zu erhöhen und die „Christliche Arbeiterzeitung“ zweimal monatlich erscheinen zu lassen. Außerdem richtete man eine Eingabe an den Handelsminister, in der um Errichtung eines Berggewerbegerichts gebeten wird. Die Mitgliederzahl betrug am 1. April 1899 6500. —

Der Versuch, eine alle Bergleute in ganz Deutschland umfassende Organisation ohne Unterschied der religiösen und politischen Stellung ins Leben zu rufen, ist bis jetzt erfolglos gewesen. Allerdings hatte der „Alte Verband“ zu diesem Zwecke den ersten nationalen Bergarbeiterkongreß berufen, der am 26. und 27. Dezember 1894 in Essen unter Beteiligung von 87 Abgeordneten tagte. Die letzteren waren jedoch fast ausschließlich aus Rheinland-Westphalen, nur drei aus dem Königreich Sachsen, einer aus Brandenburg, einer aus Ober- und einer aus Niederschlesien. Der christliche Bergarbeiterverband war zur Beteiligung eingeladen, aber nicht vertreten. Aus den Beschlüssen ist hervorzuheben: die achtstündige Arbeitsschicht einschließlich Ein- und Ausfahrt, einheitliches Berggesetz und Arbeitsordnung für ganz Deutschland, Wahl der Bergaufsichtsbeamten durch die Arbeiter. Der Antrag auf Nationalisierung der Bergwerke wurde abgelehnt, die Religion mit keinem Worte berührt, wie man überhaupt alles that, um den rein gewerkschaftlichen Karakter streng zu wahren und Anschluß allen Richtungen und Anschauungen offen zu halten.

Obgleich man beschloß, solche Kongresse jährlich stattfinden zu lassen, so vergingen doch zunächst über 2 Jahre, und erst am 19. und 20. April 1897 wurde in Helmstedt der zweite nationale Bergmannskongreß abgehalten, der von 57 Abgeordneten, und zwar 28 aus dem Ruhrgebiete, 7 aus dem Königreich Sachsen, 8 aus der Provinz Sachsen, 4 aus Sachsen-Altenburg, 4 aus Braunschweig, 1 aus Oberbayern, 2 aus Niederschlesien und 1 aus dem Saarbezirke besucht war. Man behandelte die Reform des Knappschaftswesens und der staatlichen Versicherung und forderte neben einem Maximalarbeitstage von 8 Stunden einschließlich Ein- und Ausfahrt einen einheitlichen Mindestlohn von 4 Mk. für ganz Deutschland, unter Ablehnung der weitergehenden Forderung[Pg 313] von 5 Mk. Der Kongreß sprach sich ferner dafür aus, daß die gewerkschaftlichen Organisationen einen rein wirtschaftlichen Karakter haben müßten, so daß jedem Arbeiter ohne Rücksicht auf seine religiösen oder politischen Ansichten der Eintritt offen stehe. Deshalb seien einseitige religiöse oder politische Arbeiterverbindungen hierzu nicht geeignet.

Der dritte Kongreß hat vom 2. bis 4. April 1899 in Halle a. S. stattgefunden unter Beteiligung von 74 Abgeordneten. Gegenstände der Verhandlungen waren der Arbeiterschutz und die ungenügenden sanitären Einrichtungen in den Gruben, insbesondere die mangelhaften Reinigungsvorrichtungen, sowie endlich die Lohn- und Arbeitsverhältnisse; man forderte den achtstündigen Arbeitstag und einen Durchschnittslohn von täglich 5 Mk., sowie Regelung des Knappschaftswesens durch Reichsgesetz.

Der christliche Bergarbeiterverein für den Oberbergamtsbezirk Dortmund hat sich, wie bemerkt, an diesen Versammlungen nicht beteiligt, dagegen seinerseits den Plan ins Auge gefaßt, auf christlicher Grundlage eine Organisation über ganz Deutschland herbeizuführen. Der Verein hatte auf den 31. Januar, 1. und 2. Februar 1897 einen „Delegiertentag christlicher Bergarbeitervereine Deutschlands“ nach Bochum einberufen, an dem außer den Vertretern des Vereins noch 2 Abgeordnete aus Niederschlesien, 2 aus Oberschlesien, 6 aus dem Sauerlande, 5 aus dem Siegerlande und einer aus dem Sulzthale erschienen waren. Die Gründung eines christlichen Bergarbeitervereins für ganz Deutschland scheiterte vorläufig an dem Umstande, daß die einzelnen Vereine erhebliches Vermögen angesammelt haben, das sie nicht einfach aufgeben wollten, während die Bildung eines die einzelnen Vereine in ihrer Selbständigkeit nicht antastenden Verbandes derselben durch das Vereinsgesetz zur Zeit verboten ist, da die von den Vereinen geübte Thätigkeit von den Behörden als eine politische aufgefaßt wird. Doch wurde die Anbahnung engerer Fühlungnahme ins Auge gefaßt.

Die übrigen Verhandlungsgegenstände betrafen: 1. Arbeitszeit, 2. Sonntagsruhe, 3. Frauenarbeit, 4. Schutz für Leben und Gesundheit der Arbeiter, 5. Arbeiterausschüsse, 6. das Kassenwesen der Bergleute, 7. die Lohnfrage.

An den Verhandlungen nahmen auch als eingeladene Gäste neben dem Professor Hitze als Mitglied des Ehrenrates der Geheimrat A. Wagner und der Verfasser dieses Buches teil, indem sie Vorträge über ihnen gestellte Themata hielten. Sie alle, insbesondere aber A. Wagner, sind deshalb von der antisozialen Presse lebhaft angegriffen, ja gegen letzteren wurde sogar von dem Freiherrn v. Stumm bei dem Kultusminister die Einleitung eines Disziplinarverfahrens beantragt, doch hat dieser ein solches abgelehnt. —

Die Bergarbeiterbewegung befindet sich zweifellos noch in einem Zustande der Gärung und der Unklarheit, und es ist schwer, über ihre wahrscheinliche[Pg 314] Entwickelung eine Vermutung auszusprechen. Daß die vorhandene Zersplitterung der erfolgreichen Wirksamkeit nachteilig sein muß, liegt auf der Hand, und es sind dem Christlichen Bergarbeiterverbande wegen seiner Haltung von beachtenswerter Seite ernsthafte Vorwürfe gemacht, ja die ganze Schöpfung ist wegen ihrer ausschließenden Tendenz für ein totgeborenes Kind erklärt und behauptet, daß die heutigen Leiter des „alten Verbandes“ obgleich sie sich persönlich zur sozialdemokratischen Partei zählen, Selbstverleugnung genug besitzen würden, zurückzutreten und einer durchaus neutralen Leitung Platz zu machen, sobald Aussicht vorhanden sei, einen wirklich lebenskräftigen Verband zum thatkräftigen Schutze der Bergarbeiterinteressen zustande zu bringen. Es ist für den Fernstehenden schwer, die Berechtigung dieser Anschauungen zu prüfen. Wie oben dargelegt, besteht innerhalb des christlichen Gewerkvereins hinsichtlich der Grundanschauung und insbesondere des Verhaltens gegenüber der Sozialdemokratie eine wesentliche Meinungsverschiedenheit, wobei der weiterblickende und vorurteilslose Standpunkt als der richtigere anerkannt werden muß. Es ist ja gewiß berechtigt, den in der Sozialdemokratie herrschenden religionsfeindlichen und auf Verbitterung des Klassengegensatzes abzielenden Bestrebungen entschieden entgegenzutreten, aber den Schwerpunkt einer Arbeitervereinigung in diese Bekämpfung zu legen, ist verkehrt. Nicht allein ist ein solches bloß negatives Ziel nicht geeignet, einen Sammelpunkt für praktische Besserungsbestrebungen zu bieten, sondern unter der Flagge der Sozialdemokratie segeln auch sehr wertvolle Elemente der Arbeiterschaft, mit denen man wegen dieses einzigen Trennungspunktes die Verbindung nicht abbrechen sollte. Daß wenigstens zunächst die weitere Spaltung der christlichen Bergarbeiter durch Gründung einer evangelischen Gegenorganisation gescheitert ist, ist jedenfalls hocherfreulich als Beweis dafür, daß die Bergleute die Gefahr der Zersplitterung einsehen. Da auch der „alte Verband“ in den letzten Jahren in die gemäßigte und rein gewerkschaftliche Richtung eingelenkt hat, so ist die Hoffnung nicht aufzugeben, daß allmählich eine gegenseitige Annäherung stattfinden und die Möglichkeit gegeben sein wird, daß in rein praktisch-gewerkschaftlichen Fragen alle Bergarbeiter geschlossen vorgehen.

An sich sind ja offenbar Gewerkvereine auf religiöser Grundlage etwas Widersinniges, denn die Berufsinteressen sind von der Stellung zur Religion durchaus unabhängig. Sie erhalten ein relatives Recht nur als Reaktion gegen einen anderen Fehler. Genau so widersinnig wie religiöse Gewerkschaften sind politische, denn auch das politische Glaubensbekenntnis ist für die Verfolgung praktischer Berufsinteressen ohne Bedeutung. Solange also die in der Generalkommission vertretenen Gewerkschaften sich als Anhängsel der Sozialdemokratie betrachten, ist es eine natürliche Reaktion, daß sich antisozialdemokratische Gewerkvereine[Pg 315] bilden, und da der gegen die Sozialdemokratie zu erhebende Vorwurf sich vor allem auf ihre Stellung zur Religion und die Monarchie richtet, müssen die hiergegen reagierenden Gewerkvereine gerade diese beiden Punkte zum Gegenstande ihres Gegensatzes nehmen. Da es nun aber bis jetzt außer der Sozialdemokratie eine Arbeiterpartei nicht giebt und deshalb die Arbeiterschaft sich gewöhnt hat, in ihr nicht die Sozialdemokratie, sondern die Arbeiterpartei zu sehen, so ist es begreiflich, daß gewerkschaftliche Vereinigungen, die sich zur Sozialdemokratie in Gegensatz stellen, dem Mißtrauen begegnen, daß sie überhaupt nicht oder wenigstens nicht mit dem erforderlichen Nachdruck die Vertretung der Arbeiterinteressen beabsichtigten. Diesem Mißtrauen können sie nur durch entschiedenes Auftreten die Spitze abbrechen. Setzte sich deshalb der christliche Gewerkverein, indem er für die vertragsbrüchigen Arbeiter von Piesberg Partei ergriff, ins Unrecht, so mußte er doch, falls er es nicht that, befürchten, dem bezeichneten Mißtrauen neue Nahrung zu geben, und es ist möglich, daß von den beiden Uebeln, zwischen denen er zu wählen hatte, die moralische Mitverantwortung für den Vertragsbruch als das geringere anzusehen war.

Aber die Schwierigkeiten, die sich für die Stellung des Vereins ergeben, sind hiermit noch nicht erschöpft. Wird er einerseits von kapitalistischer Seite der agitatorischen Verhetzung der Arbeiter beschuldigt, während, wie schon bemerkt, von anderer Seite gewünscht wird, daß er in praktischen Dingen mehr, wie bisher, sich dem alten Verbande nähern möge, so kommt dazu endlich noch die aus der Beteiligung von Arbeitern beider Bekenntnisse sich ergebende Schwierigkeit, die dadurch gesteigert ist, daß seit dem Ausscheiden Webers der evangelischen Seite eine rechte Vertretung fehlt, woraus bereits die Behauptung hergeleitet ist, daß in dem Vereine das katholische Element stark überwiege. Es kann als sicher angenommen werden, daß eine solche Einseitigkeit von der Leitung des Vereins nicht beabsichtigt wird. Daß die Haltung gegenüber dem alten Verbande unnötig schroff ist, muß als Mangel anerkannt werden, denn gerade jetzt, wo der Gewerkverein dem alten Verbande gegenüber der stärkere Teil ist, würde ein Zusammenwirken mit ihm auf praktischem Gebiete nur zur Folge haben, die spezifisch sozialdemokratischen Elemente in den Hintergrund zu drängen und den Verband auf die Bahn einer rein gewerkschaftlichen Thätigkeit zu leiten.

Es muß auch als durchaus wahrscheinlich angesehen werden, daß die Entwicklung sich in dieser Richtung vollziehen wird, denn die Verhältnisse sind nun einmal stärker als die Menschen, und in der That ist der christliche Gewerkverein trotz seines Gegensatzes gegen die Sozialdemokratie seit dem Piesberger Streik immer mehr in die entschiedenere Haltung hineingedrängt; manche Aeußerungen gegen das Unternehmertum, die der antisozialistische Brust[Pg 316] in dem „Bergknappen“ anwendet, würden einem sozialdemokratischen Blatte keine Schande machen. Offenbar findet aber die entschiedenere Haltung den Beifall der Bergarbeiter und hat dazu gedient, das anfängliche Mißtrauen gegen den christlichen Verein zu zerstreuen, wie dessen steigende Mitgliederzahlen beweisen. Es bewahrheitet sich auch hier die oft beobachtete Erfahrung, daß Einseitigkeit auf der einen Seite stets als Reaktion die Einseitigkeit auf der andern hervorruft. Daraus läßt sich aber zugleich die weitere Entwicklung beurteilen. Der kurzsichtige Unternehmerhochmut, der in jeder Regung des Selbständigkeitsdranges unter der Arbeiterschaft sofort eine Gefahr der Staats- und Gesellschaftsordnung erblickt und gewerkschaftliche mit sozialdemokratischen Bestrebungen ohne weiteres in denselben Topf wirft, wird schon das Seinige dazu beitragen, die verschiedenen Gruppen in der Arbeiterbewegung Schulter an Schulter zu reihen; und die Ereignisse des letzten Jahres zeigen deutlich die Richtung, in der die Dinge in der nächsten Zukunft sich gestalten werden.

6. Die Postbeamten.

a) Allgemeines.

Die staatlichen Beamten befinden sich gegenüber ihrem Arbeitgeber, dem Staate, in einer wesentlich anderen Stellung, als die im Dienste von Privaten stehenden Beamten und Arbeiter. Insbesondere liegt dies daran, daß der Staat eben nicht nur Arbeitgeber und Unternehmer, sondern zugleich die Zusammenfassung der Gesamtheit ist. Freilich sollte man zwischen den aus beiden Eigenschaften sich ergebenden Befugnissen, den privatrechtlichen des Arbeitgebers und den öffentlich rechtlichen des Staates, streng unterscheiden. Aber das ist aus dem Grunde unmöglich, weil die Beamten vielfach Hoheitsrechte des Staates zur Geltung zu bringen haben und in dieser Eigenschaft eine Stellung einnehmen, die nur nach staatsrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen ist, während in anderen Fällen die Thätigkeit keine grundsätzlich andere ist, als bei Privatangestellten.

Nun ist freilich durch diese Sonderstellung der staatlichen Beamten an sich kein Umstand gegeben, der ihre Zusammenfassung zu Berufsvereinen hinderte, denn diese verfolgen nach ihrem Begriffe kein anderes Ziel, als die Vertretung der gemeinsamen Interessen aller Berufsangehörigen, und solche sind vorhanden, mag das Wirkungsgebiet dem öffentlichen oder dem Privatrechte angehören. Aber trotzdem wäre es nicht unerklärlich, wenn das Bedürfnis zur Bildung von Berufsvereinen unter den staatlichen Beamten entweder gar nicht oder in geringerem Grade hervorträte, denn die Behörde, der gegenüber sie die Interessen der Mitglieder zu vertreten haben, steht diesen anders gegenüber als der Privatunternehmer[Pg 317] seinen Beamten und Arbeitern. Läßt sich in letzterem Falle ein gewisser Gegensatz der Interessen nicht bestreiten, und mag man ihn auch hinsichtlich der verschiedenen Beamtenklassen gegeneinander und deshalb die Berechtigung eines sog. Ressortpartikularismus zugeben, so sollte doch bei verständiger Auffassung ein Gegensatz zwischen den Interessen der Beamten und denen ihrer Vorgesetzten nicht bestehen. Aber ein solcher Gedankengang hat nicht mit der psychologischen Thatsache des „Willens zur Macht“ gerechnet, der es mit sich bringt, daß der Durchschnittsmensch, wenn er in die Lage kommt, einen Untergebenen zu haben, eine Befriedigung darin findet, dieses Unterordnungsverhältnis in der Weise zum Ausdruck zu bringen, daß er ihn seine Gewalt fühlen läßt und selbst berechtigte Wünsche nicht erfüllt, um zu beweisen, daß eben er derjenige ist, dem die Entscheidung zusteht.

Aus dem Gesagten ergiebt sich ein doppeltes: einerseits, daß auch unter den staatlichen Beamten die Bildung von Berufsvereinen zum Schutze der gemeinsamen Interessen, also kurz gesagt von Gewerkvereinen, eine Notwendigkeit ist, die je nach der in den Kreisen der obersten Leitung herrschenden Richtung mehr oder weniger scharf hervortritt; andererseits aber auch, daß gerade da, wo die Notwendigkeit am stärksten ist, diese Bestrebungen bei den Oberbehörden den entschiedensten Widerstand finden werden. Notwendigkeit und Widerstand stehen, wie der Mathematiker sagt, im geraden Verhältnisse. Es ist deshalb begreiflich, daß bis jetzt die Gewerkschaftsbewegung in den Staatsbetrieben nur da hervorgetreten ist, wo die Leitung, am sozialen Maßstabe gemessen, die schlechteste war, wo insbesondere Bureaukratismus und Fiskalismus am stärksten sich geltend machte.

Nun ist aber, wie schon bemerkt, in Staatsbetrieben die Bildung solcher Vereine schwierig, da die Behörde, gegen deren Willen sie ins Leben gerufen werden, den Beamten mit ganz anderen Machtmitteln gegenübersteht, als sie der Privatunternehmer gegen seine Angestellten besitzt. Und zwar aus einem doppelten Grunde. Einerseits macht sich bei den meisten Staatsbetrieben die Monopolstellung des Staates geltend, d. h. ein anderer ähnlicher Betrieb, in dem der entlassene Beamte Arbeit finden könnte, ist nicht vorhanden. Andererseits verfügt die Behörde nicht nur über die privaten Machtmittel des Arbeitgebers, sondern zugleich über die öffentlich-rechtlichen des Staates. Wird durch diese Umstände die Lage der Beamten erschwert, so kommt ihnen dagegen allerdings als ein gewisser Ausgleich zu statten, daß die Handlungsweise der staatlichen Behörden in höherem Maße, als die der Privatunternehmer, der öffentlichen Kritik untersteht und es deshalb leichter ist, durch die Macht politischer Faktoren einen Einfluß geltend zu machen. —

[Pg 318]

Die oben bezeichnete Voraussetzung für die Notwendigkeit von Berufsvereinen trifft in erster Linie zu für die Reichs-Postverwaltung. Hat zwar von Stephan sich zweifellos um das Postwesen außerordentliche Verdienste erworben, so hatte doch nicht allein in seinen letzteren Jahren die frühere Elastizität des Geistes einer bureaukratischen Verknöcherung Platz gemacht, sondern selbst in seinen besten Jahren hat in der Fürsorge für seine Beamten nicht der Schwerpunkt seiner Thätigkeit gelegen. Es ist deshalb ebenso verständlich, daß diese den Versuch unternahmen, ihre Interessen durch Berufsvereine zu schützen, als daß diese den heftigsten Zorn des Chefs erregten und daß ihre Mitglieder in jeder Weise gemaßregelt wurden. Daß diese Verfolgungen nicht im stande waren, die Vereine zu vernichten, ist ein ehrenvolles Zeichen karakterfester Gesinnung.

Der jetzige Staatssekretär des Reichspostamtes v. Podbielsky zeigte im Anfange seiner Amtsthätigkeit einen wesentlich freieren Blick, als sein Vorgänger und schien insbesondere hinsichtlich der Organisation der Postbeamten eine vorurteilslose Auffassung zu verfolgen. Aber die Luft des Bureaus und der Staub der Akten übt einen Einfluß, dem selbst die besten Nerven nicht standhalten, und so scheint auch unter dem neuen Regimente die Furcht, daß durch eine Organisation der Beamten die Disziplin untergraben werde, das Uebergewicht erlangt zu haben.

Es giebt naturgemäß unter den Postbeamten eine Reihe von Abstufungen und Klassen, zwischen denen sogar zum Teil eine gewisse Rivalität besteht. Uns interessiert nur folgende Abstufung:

1. die oberen Beamten bis einschließlich der Sekretäre,

2. die Assistenten und Oberassistenten,

3. die Unterbeamten.

Die erste dieser 3 Gruppen kommt für unsere Frage nicht in Betracht. Allerdings bestehen an den meisten größeren Orten Postbeamtenvereine, deren Vorsitzende meist der Postdirektor ist, aber diese haben einen lediglich geselligen Karakter; Aufgaben, wie die Wahrung der gemeinsamen Berufsinteressen oder auch nur die Förderung fachwissenschaftlicher Kenntnisse liegen ihnen fern. Solche Ziele werden nur von den Klassen 2 und 3 verfolgt. Die einzige Ausnahme bildet der Bayrische Verkehrsbeamtenverein, in welchem auch die höchsten Beamten vertreten sind; er verdient deshalb eine besondere Darstellung.

b) Der Bayrische Verkehrsbeamten-Verein[128].

In Bayern wurden seitens der Beamten der Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamten schon in den 70er Jahren Versuche zu einer Organisation[Pg 319] gemacht, die sich allerdings zunächst auf die einzelnen Verkehrsgruppen und einzelnen Orte und Bezirke beschränkten. So entstand im Januar 1874 ein „Verein Münchener Telegraphenbeamten“ und Ende 1875 unter dem Namen „Postalia“ ein solcher der Münchener Postbeamten, der sich am 2. Januar 1876 zu dem „Verein Münchener Verkehrsbeamten“ erweiterte. Auch in Ingolstadt, Augsburg, Nürnberg und der Rheinpfalz bildeten sich ähnliche Vereine, die alle zunächst überwiegend geselligen Zwecken dienten, bald aber sich höhere Ziele steckten. Bald brach sich auch der Gedanke Bahn, daß eine Verschmelzung aller dieser Einzelvereine erforderlich sei, und so erfolgte am 13. Juni 1883 die Gründung des „Bayrischen Verkehrsbeamten-Vereins“, indem zunächst der Münchener Telegraphenverein und der Verein Münchener Verkehrsbeamten sich verschmolzen, doch konnte schon am 19. August 1883 eine von 80 Abgesandten aus ganz Bayern besuchte konstituierende Generalversammlung zusammentreten, die die Ausdehnung auf das ganze Königreich beschloß, indem ein Statut angenommen, ein Vorstand gewählt und ein Verbandsorgan geschaffen wurde, zugleich übernahm man die von dem Verein Münchener Verkehrsbeamten gegründete Spar- und Vorschußkasse auf den neuen Verein; schon 1884 wurde auch eine Witwen- und Waisenunterstützungskasse ins Leben gerufen.

Der neue Verein erfreute sich ebenso, wie seine Vorläufer, der Gunst der Regierung, die nicht allein den Mitgliedern zu den Versammlungen freie Fahrt, sondern zugleich für das Vereinsorgan und Geldsendungen Portofreiheit bewilligte. Aber bald erfolgte ein Umschwung, hervorgerufen durch einige Artikel des Vereinsorganes über Personal- und Dienstverhältnisse, in denen nach Auffassung der Behörde das zulässige Maß freier Aussprache überschritten war. Zunächst wurde dem Verein die Zulassung als „anerkannter Verein“[129] verweigert, und am 17. Januar 1885 wurde derselbe von der Polizeidirektion München als politischer Verein erklärt; am folgenden Tage wurde auch die Portofreiheit entzogen. Diese Maßregeln hatten den Austritt vieler Mitglieder zur Folge, viele der Spar- und Vorschußkasse gegebene Kapitalien wurden zurückgezogen, und der Verein kam so stark in Rückgang, daß das Vereinsorgan aufhören mußte, zu erscheinen. Unter diesen Umständen schien nur der Weg der Unterwerfung übrig zu bleiben, und er wurde gewählt. Der Vorstand trat zurück und im April 1885 löste der Verein sich auf, um sich dann sofort von neuem zu bilden; andere Personen wurden zur Leitung berufen, die das gute[Pg 320] Einvernehmen mit der Regierung als obersten Grundsatz betrachteten, und so begann jetzt die Zeit der Blüte, die noch heute andauert. Die Portofreiheit wurde wieder bewilligt, der Verein als „anerkannter Verein“ eingetragen und der Generaldirektor Schnorr v. Carolsfeld trat demselben als ordentliches Mitglied bei.

Die Mitgliederzahl ist seitdem ständig gestiegen. Sie betrug 1885 etwa 1400; 1888: 1865; 1889: 2160; 1890: 2789; 1891: 3867; 1892: 4429; 1893: 4960; 1894: 5207; 1895: 5568; 1896: 5742; 1897: 5772.

An Stelle des 1884 eingegangenen Vereinsorganes traten zunächst Vereinsberichte in zwangloser Folge, aus denen 1888 die „Monatsschrift des Bayrischen Verkehrsbeamten-Vereins“ entstand, die endlich vom 1. Juli 1892 ab den Titel „Bayrische Verkehrsblätter“ erhielt. Die Auflage betrug 1897 6800.

Die „Spar- und Vorschußkasse“ sowie die „Witwen- und Waisenkasse“ wurden 1893 von dem Verein formell getrennt und zu selbständigen „anerkannten Vereinen“ umgebildet, doch ist der Beitritt zu der letzteren Kasse für jedes Vereinsmitglied obligatorisch.

Seit 1895 hat der Verein auch Fachunterrichtskurse eingeführt, ebenso gibt er Fachwerke heraus und stiftet Preise für die Lösung von Fachaufgaben unter seinen Mitgliedern. Am 1. Juli 1897 hat er ein eigenes Vereinshaus mit Bibliotheks- und Unterrichtsräumen, in dem auch die Verwaltungen der beiden Kassen untergebracht sind, errichtet.

In den Statuten ist als Zweck des Vereins bezeichnet: „Die Förderung und Pflege der geistigen und materiellen Interessen seiner Mitglieder“ und als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes u. a. die Herausgabe eines Fach- und Vereinsorganes, die Schaffung von Einrichtungen, um den Mitgliedern bei ihrer beruflichen Fortbildung behülflich zu sein, die Anlegung einer Bibliothek, die Zirkulation von Fachzeitschriften, die Veranstaltung von Vorträgen und Diskussionen sachlichen und wissenschaftlichen Inhalts, die Pflege des geselligen Lebens und der Kollegialität, die Errichtung eines Unterstützungsfonds, Vermittelung von Versicherungsverträgen.

Als ordentliche Mitglieder können dem Verein beitreten alle im Dienste der bayrischen Verkehrsanstalten sowie der pfälzischen Bahnen stehenden Beamten, Aspiranten und Bahnärzte. Unterbeamte und Arbeiter werden nicht aufgenommen. Der Jahresbeitrag ist 8 Mk.

Wie die vorstehende Darstellung ersehen läßt, ist der gewerkschaftliche Karakter, der also auch die Vertretung der Interessen der Mitglieder gegenüber der Verwaltung erfordert, seit der Katastrophe im Jahre 1884 fast ganz zurückgetreten.

[Pg 321]

c) Verband deutscher Post- und Telegraphenassistenten.

Der Verband wurde am 6. Juni 1890 gegründet und bezweckt nach seinen Satzungen, „unter seinen Mitgliedern allgemeine und Berufsbildung zu fördern, Vaterlandsliebe, Geselligkeit und Kollegialität, wirtschaftliche Vorteile für die Mitglieder herbeizuführen und die Interessen des Post- und Telegraphenassistentenstandes zu vertreten“. Aufnahmefähig ist jeder Angehörige des Post- und Telegraphenassistentenstandes. Außer Unterstützungen, die nach freier Entschließung des Vorstandes an bedürftige Hinterbliebene verstorbener Mitglieder gegeben werden, gewährt der Verband seinen Mitgliedern günstigere als die allgemeinen Bedingungen bei verschiedenen Versicherungsgesellschaften. Außerdem ist in jedem Bezirke ein Familienbeirat errichtet, der den Zweck hat, bei Sterbefällen von Mitgliedern dessen Hinterbliebenen mit Rat und That zur Seite zu stehen, insbesondere besorgt derselbe die Abwickelung der für die Beerdigung erforderlichen Geschäfte, die Flüssigmachung der Gnadenbezüge, der Sterbekassen-, Lebensversicherungs-, Witwen- und Waisengelder, die Vermögensregulierung, die Einleitung der Vormundschaft, nötigenfalls die Erwirkung von Unterstützungen, Stipendien, Erziehungsbeihülfen und ähnlichen Zuwendungen.

In dieser Beziehung liegen dem Familienbeirat namentlich folgende Geschäfte ob:

Anmeldung der Beerdigung bei dem Geistlichen, Besorgung der Traueranzeigen, Beschaffung des Sarges, Bestellung des Leichenwagens und der Wagen für das Trauergefolge, Besorgung der Auszüge aus dem Sterberegister, des ärztlichen Totenscheines, der Heiratsurkunde, der standesamtlichen Geburtsurkunden der Kinder unter 18 Jahren, Wahrnehmung des Schriftwechsels mit den Lebensversicherungsgesellschaften, Stellung des Antrages auf gerichtliche Eröffnung eines etwaigen Testaments, Erstattung einer Anzeige an die Einkommensteuer-Veranlagungskommission behufs Herabsetzung der Steuern und einer Anzeige an das Vormundschaftsgericht, Unterstützung bei Anfertigung von Gesuchen u. s. w.

Von besonderer Bedeutung ist die vom Verbande errichtete Warenkasse nebst Warenhaus. In die Kasse muß jedes Mitglied monatlich mindestens 3 Mk. einzahlen, bis ein Bestand von 60 Mk. erreicht ist. Bei Bezügen aus dem Warenhause wird zunächst das Guthaben angerechnet; sonst wird es mit 4% verzinst. Das Warenhaus, das jetzt einen wesentlichen Teil der Einrichtungen des Verbandes ausmacht, verdankt seine Gründung dem Umstande, daß im Jahre 1891 der damalige Verbandsvorsitzende Funk, durch dessen Einfluß überhaupt der Verband ins Leben gerufen war, wegen dieser Thätigkeit von der Postbehörde seines Amtes enthoben wurde und der Verband[Pg 322] den Wunsch hatte, ihm eine mit entsprechendem Einkommen verbundene Stellung zu verschaffen. Das Warenhaus hat jetzt eine erhebliche Bedeutung erreicht, es hat nach dem Abschlusse vom 31. Dezember 1895 während seines 4½ jährigen Bestehens für 920000 Mk. Waren umgesetzt. Die Waren sind ganz überwiegend Bekleidungsgegenstände; so entfielen auf diese im Jahre 1894/95 bei einem Gesamtumsatze von 360000 Mk. volle 320000 Mk., und den Vorwürfen gegenüber, daß der Verband durch sein Warenhaus die Kleingewerbetreibenden schädige, hat sich derselbe stets darauf berufen, daß diejenigen, denen er Konkurrenz mache, nicht diese, sondern etwa 40 große Konfektionsversandtgeschäfte seien, in deren Hände die jungen Leute bei Beschaffung ihrer Uniform fielen und die infolge des gewährten und selten wieder völlig getilgten Vorschusses den Betreffenden regelmäßig jahrelang zum weiteren Bezuge zwängen.

Das äußere Wachstum des Verbandes ist trotz aller Verfolgungen sehr rasch vor sich gegangen. Die Mitgliederzahl betrug Ende 1890: 1840; Februar 1892: 2197; Ende 1892: 2766; Ende 1893: 3923; Ende 1894: 5610; Ende 1895: 7703; am 6. Juni 1896: 8846; Ende 1896: 9710; Ende 1897: 12289; am 17. Oktober 1898: 14000 in 41 Bezirksvereinen und 87 Ortsvereinen. Da die Gesamtzahl der Assistenten 24000 und die der Gehülfen 10000 beträgt, so sind jetzt etwa 40% organisiert.

Der Umsatz der Warenkasse, die 11 Zweiggeschäfte besitzt, belief sich im Jahre 1897 auf 606939 Mk. Das Vermögen betrug Ende 1894: 77290 Mk., Ende 1895: 100776 Mk., Ende 1897: 136194 Mk. 60 Pf.

Der Vorsitzende des Verbandes ist Oberpostassistent Kahsnitz in Berlin. Das Vereinsorgan ist die „Deutsche Postzeitung“ die im 8. Jahrgange erscheint mit einer Auflage von 15800.

Der Verband hat bei den Beratungen des Reichstages über den Postetat im Frühjahr 1898 einen großen Erfolg erzielt, indem er durch seinen Einfluß auf die Abgeordneten es durchsetzte, daß bei der allgemeinen Gehaltserhöhung die in der Vorlage der Regierung gar nicht berücksichtigten Assistenten durch einstimmigen Beschluß des Reichstages mit einem Höchstgehalte von 3000 Mk. eingefügt wurden, obgleich die Regierung sich dem lebhaft widersetzte.

Im allgemeinen freilich ist an Stelle der früheren Verfolgung des Verbandes und Maßregelung seiner Mitglieder, die früher regelmäßig im Reichstage zu lebhaften Verhandlungen führte, jetzt das System der stillschweigenden Duldung getreten.

Um den grundsätzlichen Standpunkt des viel angegriffenen Verbandes authentisch darzulegen, mögen hier die „Leitsätze für die Mitglieder des Verbandes Deutscher Post- und Telegraphenassistenten“ abgedruckt werden, in denen die Grundauffassung desselben insbesondere auch hinsichtlich seiner Stellung zu[Pg 323] den Behörden mit ausreichender Klarheit zum Ausdrucke gelangt ist. Dieselben lauten mit Auslassung eines hierfür nicht in Betracht kommenden Absatzes:

1. Der Verband Deutscher Post- und Telegraphenassistenten ist eine Vereinigung, die auf gesetzlicher Grundlage beruht und deren Wirken als ein staatserhaltendes und fortschrittförderndes bezeichnet werden muß.

2. Der Verband verfolgt die Hebung des Assistentenstandes der Reichspost- und Telegraphenverwaltung in dienstlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Beziehung. Er wirkt damit im Interesse sowohl seiner Mitglieder, als auch zum Wohle der Gesamtheit, letzterer insofern, als er ihr Kräfte nutzbar zu machen sucht, die unter den gegenwärtigen Verhältnissen gebunden sind. Die Besserung der dienstlichen und gesellschaftlichen Stellung des genannten Standes wird angestrebt durch sachgemäße und offenherzige, sich in angemessenen Bahnen bewegende Besprechung vorhandener Mißstände und durch dauerndes Hinweisen auf nicht mehr zeitgemäße Einrichtungen und Bestimmungen. Die wirtschaftliche Besserstellung des Assistentenstandes wird, soweit sie aus eigener Kraft erfolgen kann, erreicht durch gemeinschaftliche Einrichtungen, wie das Verbandswarenhaus, die Zweiggeschäfte des Verbandswarenhauses, die Warenkasse u. s. w.

3. Die Zugehörigkeit zum Verbande bringt die Mitglieder in keiner Weise mit ihren Pflichten als Beamte in Widerspruch, sie ist im Gegenteil geeignet, anregend auf den Einzelnen zu wirken, seinen Gesichtskreis zu erweitern und so, mittelbar, auch den Dienst zu fördern.

4. Es ist Ehrenpflicht eines jeden Verbandsmitgliedes, in dienstlicher Beziehung alles zu vermeiden, was ihn in Konflikt mit Vorgesetzten bringen könnte, damit aus vereinzelten Vorfällen nicht der Schluß gezogen werde, daß die Zugehörigkeit zum Verbande die Neigung zur Unbotmäßigkeit fördere oder den Wunsch erzeuge, den geordneten Organen der Verwaltung Schwierigkeiten zu machen. Ganz im Gegenteil liegt es durchaus im Sinne der Verbandsbestrebungen und entspricht nur der von der Verbandsleitung bisher stets beobachteten und empfohlenen Haltung, daß jedes Mitglied für seinen Teil danach trachte, den Vorgesetzten, und unseren Gegnern durch ernstes, pflichttreues Verhalten die höchste Achtung abzunötigen. Es muß dahin gestrebt werden, daß die Zugehörigkeit zum Verbande als eine Empfehlung, nicht als ein Nachteil gilt.

5. Wenn einerseits tadellose Dienstführung und angemessenes Benehmen gegen Vorgesetzte und Untergebene jedem Verbandsmitgliede zur Ehrenpflicht gemacht wird, so muß ihm andererseits empfohlen werden, auch seine staatsbürgerlichen Rechte in jeder Beziehung zu wahren, jeden Versuch einer Beschränkung derselben mit Festigkeit zurückzuweisen und Uebergriffen von Vorgesetzten in geziemender, aber nachdrücklicher Weise zu begegnen. Es suche ein[Pg 324] jeder, dem Unrecht gethan worden ist, sein Recht noch bis zur höchsten Instanz, damit nicht, wie es geschehen ist, aus dem Fehlen berechtigter Beschwerden der Beweis für die Behauptung hergeleitet werde, daß Uebergriffe und Maßregelungen nicht vorkommen.

6. Es ist mit allen gesetzlich und moralisch erlaubten Mitteln der Agitation, soweit der Dienst dadurch nicht beeinträchtigt wird, die Gewinnung neuer Mitglieder zu betreiben. Es muß der Beweis geliefert werden, daß der Verband, sobald ihm freie Bahn zu seiner Entwickelung gelassen wird, mit großer Schnelligkeit wächst.

7. Die Mitgliedschaft ist stets und überall offen zu bekennen; schwache Gemüter mögen es sich gesagt sein lassen, daß zaghafte, schwankende Haltung oder gar Leugnen das letzte ist, was Achtung einflößen kann, und daß ein solches Verhalten ganz gewiß keinen besseren Schutz gewährt, als freimütiges Bekennen eines als richtig erkannten Standpunktes und offenes, in angemessener Form sich äußerndes Vertreten einer gewonnenen Ueberzeugung.

8. Jedes Mitglied möge sich stets bewußt sein, daß unser Heil in uns selbst, in unserer eigenen Kraft und Einigkeit liegt. Fremde Hülfe ist uns stets willkommen, wird dankbar angenommen und kann unseren Weg uns ebnen, finden aber und beschreiten müssen wir ihn selbst. „Selbst ist der Mann!“ Können wir uns selbst nicht helfen, so hilft uns auch sonst niemand.

9. Der Verband hat sich von jedem, auch dem leisesten Versuch einer politischen Stellungnahme auf das Peinlichste fern zu halten. Er beansprucht keinerlei Einfluß auf die politische Meinung seiner Mitglieder und überläßt es jedem derselben, sich eine solche selbst zu bilden nach seiner eigenen Ueberzeugung.

Daß man einen Verband, der solche Ansichten vertritt, der ungeachtet der bis an die Grenze des Möglichen gehenden Ausnutzung der Arbeitskraft bei kärglicher Bezahlung, wie sie im Postdienste stattfindet, so entschieden die Ehrenpflicht seiner Mitglieder betont, durch pflichttreues Verhalten sich die Achtung der Vorgesetzten zu erringen, — daß man einen solchen Verband mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln verfolgte und ihm noch jetzt ablehnend gegenübersteht, ist ein Beweis, daß unsere Reichsbehörden sich noch auf einer unglaublich tiefen Stufe sozialpolitischen Verständnisses befinden. Weiß man denn gar nicht, daß die Sozialdemokratie unter dem niederen Beamtentum reißende Fortschritte macht? Hat man die Absicht, diese Thatsache dadurch zu rechtfertigen, daß man den Beteiligten den Weg, im gesetzlichen Rahmen ihre Interessen zu vertreten, gewaltsam versperrt? Und welchen Grund hat man für dieses Verfahren? Es scheint keine andere Erklärung dafür zu geben, als ein auf die äußerste Spitze getriebener Bureaukratismus, der so weit geht,[Pg 325] daß er schon in den bloßer Vereinigung der Beamten ohne Rücksicht auf deren Zwecke einen Akt der Auflehnung sieht, der die Beamten wie Maschinen oder wenigstens wie Kinder behandeln will, für deren Interessen nicht sie selbst, sondern ihre Vorgesetzten zu sorgen haben.

Daß unter dem Verbande tüchtige Kräfte enthalten sind, von deren Wirksamkeit sich ein weiteres Gedeihen erwarten läßt, beweisen gewisse Reformgedanken, die in neuester Zeit in dem Verbandsorgan[130] von einem Postassistenten unter dem Pseudonym Lohe erörtert werden; danach will man eine grundsätzliche Erweiterung des gewerkschaftlichen Rahmens durch Einbeziehung derjenigen Thätigkeit, die man bisher als genossenschaftliche zu bezeichnen pflegt. Insbesondere ist vorgeschlagen, die Thätigkeit des Warenhauses nicht, wie bisher, auf das Gebiet der Konsumtion zu beschränken, sondern auch die Produktion einzubeziehen und z. B. die Herstellung von Kleidungsstücken in eigenen Werkstätten, die Einrichtung einer Verbandsdruckerei und -buchhandlung, die Herstellung von Wohnungen für die Mitglieder u. dgl. seitens des Verbandes in Angriff zu nehmen. Aber die genossenschaftliche Thätigkeit soll nicht auf das wirtschaftliche Gebiet beschränkt bleiben, sondern auch das Bildungs- und Geselligkeitsleben z. B. durch Einrichtung von Verbandsschulen, Veranstaltung von Vorträgen, Einrichtung von Lesezirkeln und Anschluß an die Bestrebungen sozialreformerischer Vereinigungen, wie des evangelisch-sozialen Kongresses u. dgl., in seinen Bereich ziehen, um so zu der mittelalterlichen Form einer den ganzen Menschen umfassenden Personalgenossenschaft zurückzukehren. — Solche Pläne beweisen nicht allein die in dem Verbande enthaltene geistige Triebkraft, sondern sind in der That interessant als Ausblicke auf eine mögliche Zukunftsentwickelung des ganzen Gewerkschaftswesens. Allerdings passen sie nicht in das Schema der allgemeinen Dienstanweisung und werden deshalb die Sympathieen für den Verband in den Kreisen des Postregimentes nicht vermehren.

In neuester Zeit hat sich in dem Verhältnisse des Verbandes zu dem Staatssekretär des Reichspostamtes eine eigenartige Umgestaltung vollzogen. Der Letztere berief auf dem 25. März drei Vorstandsmitglieder zu sich um ihnen mitzuteilen, daß der jetzige Zustand nicht bestehen bleiben könne. Der Verband bilde einen Staat im Staate, da er die Interessen einer einzelnen Beamtenklasse vertreten wolle, während seine Mitglieder sich vielmehr als Teile der ganzen Verwaltung zu fühlen hätten. Dadurch werde die Neigung[Pg 326] zur Unbotmäßigkeit gereizt. Er, der Staatssekretär, vertrete die Interessen der Assistenten ebenso, wie die der andern Beamten und müsse verlangen, daß dieselben volles Vertrauen zu ihm hätten. Der Kaiser wolle zufriedene Beamte haben, und er sei bestrebt, solche zu schaffen. Die auf diese Auseinandersetzung gestützte Forderung ging dahin, daß aus den Statuten die „Vertretung der Interessen des Postassistentenstandes“ als Aufgabe des Verbandes gestrichen werde. Die Entfernung des gegenwärtigen Redakteurs des Verbandsorganes wurde nicht verlangt, wohl aber, daß der Vorstand für dasselbe die Verantwortung übernehme. Eine maßvolle Kritik solle nicht untersagt sein, aber die Spitze derselben dürfe sich nicht gegen die Verwaltung kehren.

Der Vorstand, ebenso wie die auf den 7. Mai einberufene außerordentliche Generalversammlung, in der übrigens mitgeteilt wurde, daß der Mitgliederbestand auf 14600 in 94 Ortsvereinen gestiegen sei, nahm den gemachten Friedensvorschlag mit Dank und ohne Widerspruch an. In den Satzungen wurde die „Vertretung der Interessen des Assistentenstandes“ als Aufgabe des Verbandes gestrichen und durch die „Pflege der Kameradschaft“ ersetzt; ebenso wurde das Verbandsorgan der Durchsicht des Verbandsvorsitzenden unterteilt.

Es mag sein, daß dem Verbande kaum etwas anderes übrig blieb, als die von dem Staatssekretär gebotene Hand anzunehmen, zumal Jener für den Fall des Widerstandes die entschiedensten Maßregeln in Aussicht gestellt hatte. Aber eine andere Frage ist es, ob der Staatssekretär sozialpolitisches Verständnis beweist, wenn er den Grundsatz aufstellt, daß, weil er die Interessen der Beamten vertrete, eine Organisation derselben zu gleichen Zwecke entbehrlich und schädlich sei. Offenbar ist es der Geist des patriarchalischen Bureaukratismus, der aus dieser Auffassung spricht und sich in den schärfsten Gegensatz stellt zu der modernen Anschauung, daß auch der Beamte Staatsbürger ist und alle Rechte desselben ausüben darf, soweit er nicht zu den Pflichten seines Amtes in Widerspruch tritt. Diese Pflichten verbieten ihm aber nicht, Wünsche auf Verbesserung seiner Lage auf gesetzlichem Wege geltend zu machen, und der Umstand, daß die Beamten dies gemeinsam thun, kann die an sich berechtigte Handlungsweise nicht zu einer unberechtigten machen.

Jedenfalls hat der Postassistentenverband durch seinen jüngsten Schritt seinen gewerkschaftlichen Karakter im wesentlichen verloren und damit auch das hohe sozialpolitische Interesse, das er vorher verdiente.

d) Die Postunterbeamten[131].

Bis zum Jahre 1895 gab es in den größeren Städten eine Anzahl Unterbeamtenvereine, die aber rein geselligen Karakter hatten. Gewöhnlich war[Pg 327] der Postdirektor oder ein anderer Vorgesetzter ihr Ehrenmitglied. In einigen Städten, z. B. Breslau, Hannover, Bremen, Hamburg, Köln, Dresden, Leipzig hatte man auch Sterbeunterstützungskassen, welche mit den Vereinen in Verbindung standen. In Berlin gab es zwei große Sterbekassen, die zusammen von den 10000 Unterbeamten etwa 9500 umfaßten. Endlich bestand auch noch für ganz Preußen die 1827 gegründete amtliche Sterbekasse für Postunterbeamte, der aber nur 2900 Mitglieder angehörten.

Die Versuche, eine Gesamtorganisation der Postunterbeamten für das Reichspostgebiet zu schaffen, gingen von zwei verschiedenen Seiten aus. Die erste war der „Deutsche Postbote“, der am 1. Dezember 1895 ins Leben gerufen wurde und nach kurzer Zeit über 20000 Abonnenten zählte. Sein Begründer und Eigentümer ist der frühere Postassistent Remmers, der aber in der Zeit der gegen den Assistentenverband gerichteten Verfolgungen seine Stellung verlor und, nachdem er eine Zeit lang in der Leitung des Verbandes und an der „Deutschen Postzeitung“ beschäftigt gewesen war, den Plan faßte, ein Organ zur Förderung der Interessen der Unterbeamten zu schaffen.

Die Gründung des „Postboten“ gab den Anstoß, auch eine eigentliche Organisation ins Auge zu fassen, und zwar war der Urheber dieser Bestrebungen der langjährige Vorsitzende der „Sterbekasse der Briefträger“, der größten der beiden oben erwähnten Berliner Sterbekassen, Postpackmeister a. D. Allert. Er hatte schon früher die Gründung einer großen freien Sterbekasse der Postunterbeamten Deutschlands ins Auge gefaßt, aber das Preußische Ministerium des Innern verweigerte die hierzu erforderliche Genehmigung mit der Begründung, daß die Uebersicht zu schwierig und die Organisation zu teuer werden würde. Immerhin gelang es, in Dresden, Dortmund und Hannover Bezirkssterbekassen ins Leben zu rufen, obgleich die Postbehörde sich dazu feindlich stellte und vielmehr versuchte, die alte amtliche Sterbekasse von 1827 wieder zu beleben.

Als sich der Gedanke einer allgemeinen Sterbekasse nicht zur Ausführung bringen ließ, faßte Allert den Plan, einen Unterstützungsverband und eine Witwen- und Waisenkasse zu schaffen. Dieser Plan ist in dem „Verbande der deutschen Post- und Telegraphen-Unterbeamten“ verwirklicht, der am 30. Januar 1898 gegründet wurde und im Oktober 1898 bereits 6000 Mitglieder zählte, wovon allein auf Berlin und Hamburg 3000 entfallen. Insbesondere in Hamburg hat die Bewegung fruchtbaren Boden gefunden, und eine von den Post- und Eisenbahnunterbeamten auf den 15. Februar 1898 einberufene gemeinsame öffentliche Versammlung erklärte sich für die Notwendigkeit einer selbständigen gewerkschaftlichen Organisation der in staatlichen Betrieben beschäftigten unteren Beamten und empfahl deshalb allen Beteiligten[Pg 328] den Beitritt zu dem Postunterbeamtenverbande bezw. dem Verbande der Eisenbahner.

Der Verband hat nach seinen Statuten den Zweck: A. durch Gewährung einmaliger Unterstützungen an die Mitglieder, welche durch Schicksalsschläge und andere unvorhergesehene Unglücksfälle in Bedrängnis geraten sind, B. durch Errichtung einer Witwen- und Waisenunterstützungskasse, welche nach Maßgabe der verfügbaren Mittel den Witwen und Waisen der dieser Kasse angehörenden Mitglieder eine fortlaufende Unterstützung gewährleistet — die wirtschaftliche Lage der Unterbeamten zu verbessern.

Ein klagbares Recht erwächst den gedachten Personen aus den hiernach in Aussicht gestellten Unterstützungen gegen den Verband nicht, sondern die Unterstützungen werden nur gewährt, soweit die Mittel reichen.

Der Verband stellt sich ferner die Aufgabe: sonstigen geeigneten, auf die Hebung des Unterbeamtenstandes hinzielenden Einrichtungen oder Veranstaltungen, sowie dem auf die Pflege von Treue zu Kaiser und Reich, Vaterlandsliebe, Kollegialität und Geselligkeit gerichteten Streben der angeschlossenen Vereine seine Unterstützung angedeihen zu lassen.

Der Beitrag beläuft sich für die Unterstützungen unter A auf 10 Pf., für die unter B auf 25 Pf. monatlich. Der ersteren werden in Höhe von 25–100 Mk., der letzteren je nach der Dauer der Mitgliedschaft von 48–72 Mk. jährlich gewährt. Daneben hat der Verband in Uebereinstimmung mit dem Assistentenverbande die Einrichtung des Familienbeirates.

Der Verband überläßt dem „Postboten“ die Vertretung der eigentlichen Berufsinteressen und benutzt ihn lediglich als Organ für seine Veröffentlichungen.

Die Postbehörde, die unter Stephan den „Postboten“ nicht behelligte, hat jetzt gegen ihn ein Unterdrückungssystem ins Werk gesetzt, das die kleinlichsten Mittel nicht verschmäht. Nicht allein werden die Unterbeamten, die man als Besteller des Blattes ermittelt, von dem Postdirektor vorgeladen und unter entsprechenden Androhungen veranlaßt, dasselbe aufzugeben, ja in Hameln ist 19 Beamten wegen des Haltens des Blattes der Dienst gekündigt, sondern selbst die in dem Blatte aufgenommenen Familienanzeigen werden durchgesehen und die betreffenden Beamten auf Weisung der Oberpostdirektion hierüber zur Verantwortung gezogen[132]. Die Wirkung dieser Verfolgungen ist gewesen, daß die Abonnentenzahl des Blattes zunächst von 20000 auf 15000 herabging, doch beginnt sie schon wieder zu steigen, indem man statt des Postbezuges andere Wege findet. Gegen den Verband als solchen ist man bisher nicht eingeschritten,[Pg 329] vielmehr sucht man auf seine Leiter einzuwirken, um ihn von dem Blatte zu trennen und dieses dadurch zu isolieren; bisher ist dies nicht gelungen.

Fragt man nach dem Grunde dieser Maßregelungen, so ist er nur in der grundsätzlichen Bekämpfung aller Organisationsbestrebungen unter den Beamten zu finden. Der Beamte soll bedingungslos in der Behörde seinen Vormund sehen, dem er einzeln demüthig seine Bitten vortragen darf, aber jeder Zusammenschluß bedeutet schon die „Hydra der Revolution“. In der Reichstagssitzung vom 4. Februar 1899 wußte der Staatssekretär des Reichspostamtes gegen den „Deutschen Postboten“ keinen anderen Vorwurf zu erheben, als daß er für die Postunterbeamten Gehälter fordern, die unmöglich gezahlt werden könnten. Also das ist ein Verbrechen einer Fachzeitung, das mit deren Tode gesühnt werden muß. Noch in den letzten Nummern schreibt das Blatt u. a.: „Die Entfernung derjenigen Elemente, die sozialdemokratischen Anschauungen Ausdruck geben, aus unsern Reihen, ist uns sehr lieb; ausgeschlossen aber sollte sein, daß jemand, der seine Rechte energisch verteidigt, zum Sozialdemokraten gestempelt und entlassen wird. Ein dergestalt Entlassener wird erst nach der Entlassung ein echter Staatsfeind und führt lediglich einige Dutzend neue Genossen dem Umsturz zu. —— Wir sind patriotische deutsche Männer, wir verfolgen keine unerlaubten Ziele, da sollte man uns bei unserer loyalen Haltung nicht in den Weg treten. Strengste Pflichterfüllung, unbedingte Unterordnung unter die Disziplin der Postverwaltung, treues Festhalten an Kaiser und Reich! In diesem Sinne werden wir unsere Thätigkeit fortsetzen. —— Unser Bestreben soll es sein, zu beweisen, daß wir loyale Männer sind, die nichts weiter wünschen, als die Vertretung der Berufsinteressen, wie sie jedem anderen Stande zugestanden wird.“ — Das sind jedenfalls für ein „sozialdemokratisches“ Blatt recht ungewöhnliche Erklärungen.

Die Wirkungen des Vorgehens der Postverwaltung auf die Stimmung der Beamten konnten natürlich nicht ausbleiben. In einem Briefe schreibt mir die Redaktion des „Postboten“: „Die Unterbeamten hingen mit geradezu kindlicher Liebe an dem neuen Staatssekretär, sind aber durch die falschen Maßnahmen der Behörde wieder so hochgradig erbittert, daß ein großer Teil wieder der Sozialdemokratie Material liefern wird, was fast ganz aufgehört hatte, solange der „Deutsche Postbote“ sich wirklich in energischer Weise ihrer Interessen annehmen konnte. Herr v. Podbielsky war schlecht beraten, als er eine nationalgesinnte, wenn auch dem Unterbeamtenstande entsprechend in etwas sehr freimütiger Weise geleitete Fachzeitschrift in der Weise angriff. Ein Teil Furchtsamer wird eingeschüchtert, ein großer Teil geht weiter links. Das sind die Folgen!“

[Pg 330]

Und dabei ist das derselbe Staatssekretär, der bei Antritt seiner Stellung erklärte, er verlange von seinen Beamten nur, daß sie ihre Schuldigkeit thäten; ihre persönlichen Angelegenheiten gingen ihn nichts an! Es muß wohl auch einem von Natur aus verständigen Menschen schwer werden, sich dem Einfluße der heute in den Regierungskreisen herrschenden antisozial-bureaukratischen Strömung zu entziehen.

Um den „Postboten“ zu unterdrücken hat die Postbehörde zugleich ein neues Konkurrenzblatt ins Leben gerufen, das unter dem Namen „Neue Post“ seit Oktober 1898 erscheint. Dasselbe will nach seiner Probenummer die Angelegenheiten der Postunterbeamten „in einer deren Interessen dienlichen Weise“ zur Erörterung bringen. Er will „kraftvolle Förderung des Wohles der Unterbeamten, aber mit der Verwaltung, nicht gegen sie.“ Auch die „deutsche Verkehrszeitung“ begrüßt das neue Unternehmen, für dessen Verbreitung auf amtlichem Wege lebhaft Propaganda gemacht wird. Man wird abwarten müssen, ob die Postunterbeamten das Urteil über die „ihren Interessen dienliche Weise“ der Erörterung ihrer Angelegenheiten ihren Vorgesetzten überlassen oder für sich selbst in Anspruch nehmen wollen.

Uebrigens sucht die Postbehörde auch ihrerseits an verschiedenen Orten Postunterbeamtenvereine ins Leben zu rufen, offenbar um dem Verbande Konkurrenz zu machen; auch hat man bereits Beamte gemaßregelt, die für den Verband agitiert hatten. In neuester Zeit ist der Kampf gegen ihn in aller Form aufgenommen durch einen Erlaß des Staatssekretärs vom 30. Mai 1899 in dem es heißt, daß Postunterbeamtenvereine, welche sich der Pflege kameradschaftlicher Geselligkeit und der Hebung der wirtschaftlichen Lage ihrer Mitglieder widmen, in vielen Fällen segensreich wirken können, aber nur insofern sie sich auf einzelne Orte und deren Umgebung beschränken, daß aber „bei der Verschiedenartigkeit der Verhältnisse in den einzelnen Bezirken und in Hinblick auf die Größe des Reichspostgebietes die Ausdehnung solcher Vereine auf mehrere Oberpostdirektionsbezirke für unrichtig zu erachten“ sei. Zugleich wird bestimmt, daß „als Vorstände und in sonstige leitende Stellen nur solche Mitglieder gewählt werden dürfen, die noch in Dienst stehen“. Die Begründung mit der Verschiedenheit der Verhältnisse und der Größe des Reichspostgebietes ist das Muster einer Verlegenheitsphrase; weshalb sagt man nicht offen, daß solche Vereine nur solange geduldet werden sollen wie sie klein und machtlos sind und ihre Leiter der jederzeitigen Maßregelung ausgesetzt sind? Es wäre übrigens interessant, wenn sich einmal ein Vertreter dieses politischen Systems der Aufgabe unterziehen wollte, nachzuweisen, daß diese Beschränkung des Vereinsrechtes der Beamten, die doch auch sozusagen Staatsbürger sind, nicht in Widerspruch stehe mit dem Vereinsgesetze und der Verfassung, in welchen die Vereinsfreiheit aller[Pg 331] Staatsbürger insoweit gewährleistet wird, wie sie nicht durch das Gesetz selbst beschränkt ist.

7. Die Eisenbahnbediensteten.
A. Beamte[133].

Dadurch, daß die Eisenbahnen in Deutschland in den letzten 3 Jahrzehnten ganz überwiegend in den Besitz des Staates übergegangen sind, haben sich auch die Verhältnisse des Personals verschoben, insbesondere hat sich ein gewisser Gegensatz zwischen den angestellten höheren und mittleren Beamten einerseits und den auf Kündigung angenommenen Arbeitern und Unterbeamten andererseits entwickelt.

Wie schon oben bei den Postbeamten bemerkt wurde, ist der staatliche Karakter des Arbeitgebers für die Beamten kein ausreichender Schutz, um die gewerkschaftliche Organisation überflüssig zu machen, obgleich solche Bestrebungen gerade da, wo sie nötig werden, auch den Widerstand und die Verfolgungssucht der oberen Behörden hervorzurufen pflegen. Ein Beispiel hierfür bieten auch die Eisenbahnbeamten, nur daß hier die Maßregelungen den Erfolg gehabt haben, der ihnen bei den Postbeamten zum Teil versagt geblieben ist, nämlich die oppositionellen Tendenzen völlig zu unterdrücken.

[Pg 332]

a) Deutscher Eisenbahnbeamtenverein.

Das Gesagte tritt, abgesehen von dem bereits oben behandelten bayrischen Verkehrsbeamtenvereine, der, wie dort bemerkt, Post- und Eisenbahnbeamte gemeinsam umfaßt, insbesondere hervor bei der einzigen Vereinigung der Eisenbahnbeamten, die nach ihrem Zwecke alle Klassen derselben umfaßt, nämlich dem „deutschen Eisenbahnbeamtenvereine“ in Hannover[134].

Anfang 1892 entstand in Hannover der „Rechtsschutzverein deutscher Eisenbahn-Verkehrsbeamten“, dessen Zweck darin bestand, „seinen Mitgliedern in allen auf den Eisenbahndienst bezüglichen Strafsachen, sowie in denjenigen Zivilprozessen, welche aus dem Eisenbahndienste heraus entstehen, den nötigen Rechtsschutz angedeihen zu lassen“, außerdem auf Verhütung von Eisenbahnunfällen hinzuwirken, die Einrichtung besonderer Eisenbahngerichte zur Untersuchung der Betriebsunfälle anzustreben und Wohlfahrtseinrichtungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Vereinsmitglieder in die Hand zu nehmen. Zum Beitritte waren berechtigt „alle dauernd angestellten Eisenbahnbediensteten von deutschen Lokomotiveisenbahnen mit Ausschluß der selbständig betriebenen Bergwerks-, Industrie- u. dgl. Bahnen, soweit sie zum Betriebe oder zur Bahnbewachung in irgend welcher Beziehung stehen“, und zwar sowohl die aktiven als die pensionierten.

Der Verein stand anfangs in Oppositionsstellung zu den Behörden, wurde von ihnen verfolgt und war im Begriffe der Auflösung, als man im September 1892 sich entschloß, diese Haltung zu ändern und an die Stelle des Oppositionsprinzipes das Loyalitätsprinzip zu setzen und die unruhigen Elemente zu entfernen. Man erweiterte den „Rechtsschutzverein“ zu dem „deutschen Eisenbahnbeamtenverein“, dessen Zweck nach dem am 8. Juli 1894 beschlossenen Statute dahin geht, „die wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Mitglieder zu fördern und die kollegialen und idealen Interessen, sowie den Sinn für Patriotismus und Pflichttreue derselben zu pflegen“.

Diese Bestimmungen sind auch in dem neuen Statut vom 15. Mai 1898 beibehalten, in dem überhaupt nur untergeordnete Punkte geändert sind. Der Verein hat wiederholt energische Beschlüsse gefaßt, um das Eindringen der Sozialdemokratie in seine Reihen zu verhindern und seine strenge Loyalität zu betonen; mehrere Eisenbahndirektionspräsidenten sind seine Ehrenmitglieder. Die ordentlichen Mitglieder zerfallen in aktive und passive, je nachdem sie noch im Dienst sind oder nicht. Der vierteljährliche Beitrag beträgt für die ersteren 50 Pf., für die letzteren 25 Pf.

[Pg 333]

Der Schwerpunkt der Vereinsthätigkeit liegt auch jetzt noch in der Rechtshülfe, insbesondere der Uebernahme der Verteidigung bei Anklagen gegen Vereinsmitglieder wegen Betriebsgefährdung. Solche Fälle wurden im Jahre 1898 90 erledigt. Daneben wird eine „allgemeine Interessenvertretung“ bezweckt, die sich auch auf das Verhältnis zu den vorgesetzten Behörden, Gehalt, Dienstwohnung, Pensionierung, Umzugskosten u. dgl. bezieht. Im Jahre 1898 wurden 130 solcher Fälle erledigt. Außerdem besitzt der Verein eine Unterstützungskasse, eine Spar- und Darlehenskasse und gewährt seinen Mitgliedern bei Unfallversicherung durch vertragsmäßige Uebereinkunft mit einer Versicherungsgesellschaft besondere Vorzüge. Die 1895 beschlossene Sterbegeldkasse hat wegen ungenügender Beteiligung noch nicht errichtet werden können.

Bis Ende 1896 hatte der Verein mit den Vereinen von Sachsen, Baden, Württemberg und Darmstadt hinsichtlich der Rechtshülfe eine gemeinsame Organisation, die aber seit 1897 aus dem Grunde aufgelöst ist, weil angeblich die Behandlung von Betriebsunfällen in den anderen Ländern eine viel mildere ist, als in Preußen, so daß durch die gemeinsame Rechtshülfe die außerpreußischen Mitglieder überlastet wurden. Auch die Zugehörigkeit des Vereins zu dem Verbande der deutschen und österreichischen Eisenbahnbeamtenvereine ist nach dem Beschlusse der am 16. Oktober 1898 abgehaltenen außerordentlichen Generalversammlung gelöst, dagegen wird die Errichtung eines Bundes mit allen Preußischen Eisenbahnbeamtenvereinen angestrebt.

Die Mitgliederzahl betrug Ende 1896 8146 in 217 Vertrauensmännerbezirken, aber obgleich 1897 1100 neue Mitglieder beitraten, ging die Zahl dennoch durch Bildung besonderer Vereine, insbesondere des Landesvereins für Elsaß-Lothringen, wodurch 2388 Mitglieder austraten, Ende 1897 auf 6858 herunter, doch war sie Ende 1898 wieder auf 7752 und am 1. Juli 1899 auf über 9000 gestiegen. In die Spar- und Darlehenskasse des Vereins waren bis Ende 1898 10120 Mk. eingezahlt. Vereinsorgan sind die „Deutschen Verkehrsblätter“.

b) Verein deutscher Lokomotivführer[135].

Der Verein ist im Jahre 1866 in Ludwigshafen von dem jetzigen Ehrenmitgliede desselben, Scotti, gegründet und zählte bei der letzten Generalversammlung am 14. Juni 1897 13640 Mitglieder. Aufnahmefähig ist jeder Lokomotivführer und zur selbständigen Führung einer Lokomotive Berechtigte, soweit ihm die Eigenschaft eines öffentlichen Beamten beigemessen ist, sowie höhere Betriebsbeamte solcher Bahnen, welche die deutsche Sprache als Geschäftssprache[Pg 334] führen. Zweck des Vereins ist nach den Statuten die Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen, insbesondere aber die Fortbildung und Belehrung in gemeinnützig wirkender Weise und die Unterstützung der Mitglieder. Demgemäß steht die Förderung der Fachbildung durch Zeitschriften, Lesezirkel, Bibliotheken und Bezirksversammlungen, sowie die Unterstützungseinrichtungen im Vordergrunde, obgleich der Verein gelegentlich auch Eingaben an Behörden und Parlamente gerichtet hat, z. B. wegen Aenderung des Strafverfahrens und des Strafvollzuges.

Die Unterstützungen bestehen einerseits in Geldzahlungen an die Mitglieder in Notfällen, die teils zurückgezahlt werden müssen, teils nicht, und andererseits in Unterstützungen an Hinterbliebene, insbesondere Witwen und Waisen, bis zum Betrage von 50 Mk. Der Schwerpunkt des Vereins aber liegt in dem seinen Mitgliedern insbesondere im Falle ihrer strafrechtlichen Verfolgung wegen fahrlässig herbeigeführter Eisenbahnunfälle gewährten Rechtsschutze, der in einem Geldzuschusse für die Verteidigung bis zu 300 Mk. besteht. Auch die Vorträge in den Vereinsversammlungen behandeln meist diesen Punkt.

Der Verein besitzt eine eigene „Zeitschrift für Lokomotivführer“, daneben ist Vereinsorgan die „Deutsche Eisenbahnzeitung“.

Die Haltung des Vereins ist bisher eine streng loyale gewesen, und als die „Zeitschrift“ in einigen Aufsätzen Maßregeln der Behörden abfällig beurteilt hatte, wurde in der letzten Generalversammlung von einem Bezirksverein beantragt, die Mißbilligung der Versammlung darüber auszusprechen, daß neuerdings das Vereinsorgan Artikel aufgenommen habe, die geeignet seien, das Wohlwollen der Dienstbehörden in Frage zu stellen. Man ging freilich über den Antrag zur Tagesordnung über, aber nur, nachdem von allen Seiten betont war, daß solche Artikel verhindert werden müßten, und daß es die Aufgabe des Vorstandes sei, für das gute Einvernehmen mit den Behörden zu sorgen, da der Verein ohne deren Protektion nicht vorwärts komme.

B. Arbeiter.

Unter den Vereinen der Eisenbahnarbeiter sind zwei entgegengesetzte Richtungen zu unterscheiden, nämlich einerseits eine mehr loyale, die hauptsächlich von der Zentrumspartei begünstigt wird, und eine oppositionelle, die mit der Sozialdemokratie Fühlung sucht. In neuester Zeit haben auch die Eisenbahnbehörden die Bildung von Vereinen in die Hand genommen, sodaß man im ganzen 3 Gruppen unterscheiden kann. Da aber die letztgedachten Vereine Beamte und Arbeiter gemeinschaftlich umfassen, so sollen sie gesondert behandelt werden.

[Pg 335]

a) Verband deutscher Eisenbahnhandwerker und Arbeiter[136].

Der Verband ist am 1. Mai 1884 unter dem Namen: Verband deutscher Eisenbahnhandwerker gegründet, da aber nach dem Statut die Mitgliedschaft jedem bei den Eisenbahnen Deutschlands beschäftigten Handwerker und ständig beschäftigten Arbeiter offen steht, so war dieser Name zu eng; derselbe ist deshalb in der am 28./29. Mai 1897 in Kassel abgehaltenen III. Delegiertenversammlung in der aus der Ueberschrift ersichtlichen Weise geändert, doch gehören ungelernte Arbeiter dem Verbande nicht an.

Zweck des Verbandes ist: 1. Pflege und Förderung treuer vaterländischer Gesinnung sowie des Einvernehmens mit allen obrigkeitlichen Behörden. 2. Unterstützung für kranke, invalide, verunglückte und durch Alter erwerbsunfähige Mitglieder und deren Angehörige. 3. Unterstützung der Mitglieder im Sterbefalle der Ehefrauen. 4. Unterstützung der Hinterbliebenen, besonders der Witwen und Waisen. 5. Unterstützung in außerordentlichen Notfällen. 6. Hebung des Standesbewußtseins und Förderung des Handwerkerstandes durch geeignete Einrichtungen, Vorträge und Belehrungen aller Art. 7. Unterstützung arbeitslos gewordener Mitglieder zur Erlangung einer neuen Stelle. 8. Hülfe und Rat in allen unverschuldeten Notfällen und bei Fragen des öffentlichen Rechts. 9. Vertretung der Interessen des Handwerkerstandes in jeder Hinsicht. 10. Reger Verkehr der Mitglieder unter sich sowie unter deren Familienangehörigen zu diesen Zwecken. Ein Rechtsanspruch auf bestimmte Unterstützungen steht den Mitgliedern nicht zu; deren Bewilligung steht im Ermessen des Vorstandes.

Eine hauptsächliche Forderung ist die feste Anstellung nach 10jähriger regelmäßiger Arbeit.

Wie die mitgeteilte Aeußerung des Statutes ergiebt, steht der Verband in Gegensatze zu der Sozialdemokratie, wie denn durch §3 den Mitgliedern ausdrücklich zur Pflicht gemacht ist, „alle staatsfeindlichen Bestrebungen zu meiden und abzuwehren“. Deshalb ist er auch zu dem unten zu erwähnenden Verbande der Eisenbahner Deutschlands von Anfang an in scharfen Gegensatz getreten, der auf der Generalversammlung in Kassel nur von einzelnen Seiten getadelt wurde. Der Sitz des Verbandes, der eine Reihe von Ortsvereinen umfaßt, ist Trier, wo auch der bisher gewählte Vorsitzende Sattler Peter Molz wohnt. Das Organ des Verbandes ist die „Zeitung des Verbandes deutscher Eisenbahnhandwerker“. Die Mitgliederzahl betrug im Oktober 1898 20000.

[Pg 336]

b) Der Bayrische Eisenbahnerverband[137].

Schon seit mehreren Jahren hatte unter den bayrischen Eisenbahnarbeitern der Gedanke der Organisation Anhänger gefunden, und insbesondere der frühere Eisenbahnarbeiter Moritz Schmid hatte für denselben mit Erfolg gewirkt. So wurde, nachdem an allen größeren Orten in lebhaft besuchten Versammlungen Vertreter gewählt waren, Weihnachten 1896 in Regensburg ein Delegiertentag veranstaltet, an dem 17 Abgeordnete teilnahmen und auf dem der „Bayrische Eisenbahnerverband“ gegründet wurde. Der Zweck des Verbandes ist nach den Statuten, eine Verbesserung der Lage der Eisenbahnbediensteten und Arbeiter auf dem Boden der bestehenden Staatsverfassung mit allen gesetzlichen Mitteln herbeizuführen. Der Verband soll sich um religiöse und politische Streitfragen nicht kümmern und alle Eisenbahnbedienstete und Arbeiter aufnehmen, die mit treuer Pflichterfüllung das zielbewußte Streben verbinden, ihre materielle und geistige Lage zu verbessern.

Obgleich hiernach das Unternehmen gewiß nicht als ein „staatsgefährliches“ anzusehen war, so wurde es doch seitens der liberalen Zeitungen als solches bezeichnet, während es andererseits zugleich von sozialdemokratischer Seite heftig angegriffen wurde. Lediglich seitens der Zentrumspartei fand der Verband Unterstützung, und so ist es begreiflich, daß er an sie sich anlehnte, obgleich er nach seinen Statuten sich von allen Einflüssen der politischen Parteien fern halten will. Auch die Regierung stellte sich auf einen sehr vorsichtigen Standpunkt und forderte in dem sehr gemäßigten Statutenentwurfe bei Strafe des Verbotes mehrere Aenderungen, die den Zweck hatten, noch größere Sicherheit dagegen zu bieten, daß der Verband niemals versuchen werde, in Gegensatz zu den Behörden zu treten. Obgleich von sozialdemokratischer Seite versucht wurde, eine Ablehnung dieser Forderungen herbeizuführen und den Verband in die Oppositionsstellung zu drängen, gab derselbe doch der Regierung nach und beschloß auf seiner Ostern 1897 abgehaltenen Generalversammlung die verlangten Aenderungen. Das entsprechend abgeänderte Statut erhielt die Genehmigung des Eisenbahnministers. Nach demselben ist der Zweck des Verbandes:

a) Erzielung möglichst günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen;
b) Hebung des Standesbewußtseins, Pflege der geistigen Ausbildung und des geselligen Verkehrs der Mitglieder;
c) Schaffung von Unterstützungskassen.

Es heißt dann weiter: „Der Verein steht treu zu König und Vaterland.

Die Mitglieder sind sich bewußt, daß zu einem geregelten Betriebe Disziplin notwendig ist, daß Unterordnung und strenge Pflichterfüllung die wichtigste[Pg 337] Aufgabe eines jeden Eisenbahnbediensteten ist. Deshalb wird jedes Mitglied des Vereins seine Arbeit, seinen Dienst pünktlich, treu und gewissenhaft erfüllen, denn nur treue Pflichterfüllung giebt ein Recht, Verbesserung seiner Lage zu fordern. Der Verein will aber die Lage seiner Mitglieder nicht verbessern durch ständigen Kampf mit den vorgesetzten Stellen, sondern durch Pflege des Einvernehmens mit allen Eisenbahnbehörden. Nicht Umwälzung, sondern soziale Reform ist das Ziel des Vereins. Deshalb bekennt sich jeder Eisenbahnbedienstete durch seinen Eintritt in den Verein als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen und verpflichtet sich getreu nach den im Statut niedergelegten Grundsätzen zu handeln.

Die Erörterung konfessioneller und politischer Parteiangelegenheiten schließt der Verein aus.

Die Mittel zur Erreichung des Vereinszweckes sind:

Eingaben und Petitionen an die Eisenbahnbehörden, an die Regierung und die Parlamente; Verhandlungen mit den Behörden in Lohnfragen und bei berechtigten Wünschen und Beschwerden; belehrende und bildende Vorträge auf dem Gebiete der Arbeiterschutzgesetzgebung in ihrer besonderen Beziehung zum Eisenbahnbetrieb, Vorträge über den Eisenbahnbetrieb und die Bestrebungen der Eisenbahner anderer Länder.“

Die eingeleitete lebhafte Agitation hatte zur Folge, daß dem Verbande schon Ende 1897 9500 Mitglieder in 48 Obmannschaften angehörten. Im September 1898 betrug die Zahl 11000, am 31. Dezember 1898 15919 und am 1. Juli 1899 17500 in 84 Obmannschaften.

Die Wirksamkeit des Verbandes hat sich bisher hauptsächlich auf das Gebiet der Lohnerhöhung beschränkt. Um eine in dieser Richtung unternommene Petition zu unterstützen, wurde eine umfassende Erhebung durch Fragebogen veranstaltet. Der Erfolg war nicht unerheblich, vor allem wurden 3000 Tagelohnarbeiter „in den Status aufgenommen“ d. h. fest angestellt und die Zahl der den Militäranwärtern vorbehaltenen Stellen auf 800 beschränkt. Auch sonst sind Lohnerhöhungen zugesichert. Die Leistungen der Krankenkassen sind erhöht; die Errichtung von Arbeiterausschüssen an allen Oberämtern ist zugesagt, die bei allen wichtigeren Anordnungen gehört werden sollten. Daneben erstrebt der Verband Herabsetzung der Arbeitszeit und Besserung der Wohnungsverhältnisse. Der Verband ist dem Volksbureau beigetreten und gewährt dadurch seinen Mitgliedern unentgeltlichen Rechtsschutz. Eine auf der Generalversammlung Ostern 1897 beschlossene Kranken-, Invaliden- und Sterbeunterstützungskasse ist am 1. Oktober 1897 ins Leben getreten und zählte im Juli 1898 3000, im Juli 1899 9000 Mitglieder. Daneben hat man Bau- und Sparvereine gegründet, von denen im Juli 1899 10 bestanden; auch hat man einen gemeinsamen[Pg 338] Bezug von Steinkohlen eingerichtet. Man bemüht sich endlich, das jetzt bei dem Kohlenladegeschäft bestehende Zwischenmeistersystem abzuschaffen. Den anfänglich zu niedrigen Beitrag von monatlich 5 Pf. hat man auf 10 Pf. erhöht. Die Abrechnung für 1898 ergab 11081 Mk. an Einnahmen und 8982 Mk. an Ausgaben; das Baarvermögen betrug am 1. Februar 1899 2098 Mk.

Anfangs hatte man als Verbandsorgan den „Arbeiter“, das Organ der katholischen Arbeitervereine Süddeutschlands, gewählt, doch ist seit 6. Oktober 1898 in dem „Eisenbahner“ ein eigenes Organ ins Leben gerufen, das im Juli 1899 eine Auflage von 12500 hatte. Das Blatt will nach seiner Probenummer vom 29. September 1898 „ein gewerkschaftliches Organ sein, das für die Hebung und für die wirtschaftliche Besserstellung der Bahnbediensteten und der Bahnarbeiter eintritt“. Es will nur Standesinteressen und wirtschaftliche Ziele verfolgen, aber keine Politik treiben, auch auf die Unterstützung einsichtiger Männer aller Parteien zählen, aber „im Geiste der christlichen Weltanschauung gehalten sein“.

c) Verband bayrischer Eisenbahnwerkstätten- und Betriebs-Arbeiter[138].

Der Umstand, daß der „Bayrische Eisenbahnerverband“, wie erwähnt, von der Zentrumspartei unterstützt wird, hat die Gründung einer Gegenorganisation zur Folge gehabt, die auf dem Grundgedanken beruht, die gewerkschaftlichen Ziele unabhängig von jeder politischen oder religiösen Richtung zu verfolgen. Die Anregung ging aus von dem Monteur Heinrich Winkler in Schweinfurt, der am 13. August 1898 einen Aufruf erließ, einen Verein auf dieser Grundlage zu errichten, der außerdem ausschließlich gelernte Arbeiter, also Handwerker aufnehmen sollte. In dem Aufrufe ist gesagt: „Wir wollen nicht den Umsturz, sondern soziale Reformen und das gute Einvernehmen gegenüber unseren vorgesetzten Behörden“; aber eine gewerkschaftliche Organisation sei erforderlich, um die bisher nicht erfüllten berechtigten Wünsche durchzusetzen. Nach längeren Vorbereitungen gelang es, auf der am 23. Oktober 1898 in Nürnberg abgehaltenen Versammlung, den in der Ueberschrift genannten Verein ins Leben zu rufen. Nach dem Statut hat derselbe den Zweck, alle Handwerker und handwerksmäßig beschäftigten Arbeiter der bayrischen Staatsbahnen in einer großen Verbindung zu vereinigen, die Angehörigen derselben gemeinsam zu vertreten.

Das Bestreben des Verbandes ist insbesondere darauf gerichtet:

1. Die Erzielung möglichst günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, sowie das gute Einvernehmen mit allen obrigkeitlichen Staatsbehörden zu unterhalten.[Pg 339]
2. Durch Eingaben und Petitionen an die Eisenbahnbehörden, an die Regierung und die Parlamente, Verhandlungen mit den Behörden in Lohnfragen bei berechtigten Wünschen und Beschwerden zu vertreten und überhaupt die Interessen seiner Mitglieder wahrzunehmen.
3. Einrichtungen von Unterstützungskassen, um erkrankten Mitgliedern ein Krankengeld, Hinterbliebenen Verheirateter im Sterbefall ein Begräbnisgeld und in außergewöhnlichen Notfällen eine Unterstützung zukommen zu lassen.
4. Gründung eines Verbandsorgans nebst Beschaffung von Fachlitteratur.

Der Verband und sein Organ dürfen sich nicht mit öffentlichen, religiösen oder kommunalen Angelegenheit beschäftigen.

Mitglied des Verbandes kann jeder bei der kgl. bayer. Staatsbahn beschäftigter Werkstättenarbeiter, sowie Handwerker und handwerksmäßige Gehülfen des Betriebes werden. Den Mitgliedern, welche in statutsmäßige Stellen eintreten, kann bei Fortzahlung der Beiträge ihre Mitgliedschaft gewahrt bleiben.

Durch Reskript der Generaldirektion der Eisenbahnen vom 10. Januar 1899 wurde dem Vereine auf Vorlegung seiner Statuten erklärt, daß gegen die Teilnahme des Eisenbahnpersonals vom Standpunkte der Dienstaufsicht im allgemeinen keine Einwendung zu erheben sei, doch sei zu dem mitgeteilten Punkte 2 zu bemerken, daß das Arbeiterpersonal Wünsche und Gesuche auf dem Dienstwege und unter Umständen durch die Arbeiterausschüsse vorbringen könne, die Eisenbahnverwaltung jedoch nicht in der Lage sei, mit Ausschüssen bestimmter Vereine über Petitionen des Personals in Verhandlung zu treten. Die hieran geknüpfte Aufforderung, die Ziffer 2 entsprechend abzuändern, ist aber in der Vorstandssitzung vom 22. Januar 1899 abgelehnt, da die Arbeiterausschüsse ihren Zweck nicht erfüllten und in vielen Werkstätten gar nicht vorhanden seien.

Der Verband erhebt einen Beitrag von monatlich 30 Pf. und hat auf seinem am 21./22. Mai 1899 in Nürnberg abgehaltenen außerordentlichen Verbandstage die Gründung einer Unterstützungskasse für Krankheit, Tod und außerordentliche Notfälle, sowie die Herausgabe eines eigenen Organs beschlossen; das Letztere erscheint seit dem 25. Mai 1899 unter dem Titel „Verbandszeitung bayrischer Eisenbahnwerkstätten- und Betriebsarbeiter.“ Der Verband zählt etwa 1000 Mitglieder, = 25% der Personen, auf die er berechnet ist.

d) Verband badischer Eisenbahnbediensteter[139].

Nach dem Vorbilde des bayrischen ist auf seiner am 25. September 1898 in Karlsruhe abgehaltenen und von 24 Vertretern aus acht Orten besuchten Delegiertenversammlung der Verband badischer Eisenbahnbediensteter[Pg 340] gegründet, der am 17. November 1898 1300 Mitglieder in neun Obmannschaften zählte.

Der Zweck des Vereins ist in den Statuten wörtlich übereinstimmend mit dem oben mitgeteilten Statute des bayrischen Verbandes bezeichnet. Ebenso ist die prinzipielle Stellung wörtlich ebenso, wie dort formuliert, mit der einzigen Ausnahme, daß der Satz fehlt, daß die Mitglieder sich ausdrücklich als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen bekennen.

Die Mitglieder eines Oberamtsbezirkes wählen jährlich einen Obmann; diese Obmänner bilden die Generalversammlung.

Organ des Verbandes ist ebenfalls der „Eisenbahner“.

Die Thätigkeit des Verbandes hat sich bisher auf die Agitation zum Beitritte beschränkt.

e) Der Verband der deutschen Eisenbahner[140].

Die zweite der oben bezeichneten Gruppen, d. h. die oppositionelle Richtung, vertritt der „Verband der deutschen Eisenbahner“, über dessen Verfolgung seitens der Eisenbahnbehörden die Tageszeitungen in den letzten Jahren eingehend berichtet haben. Nachdem einige im Jahre 1890 in Hamburg, Halle, Magdeburg und Berlin gebildete Vereine, obgleich sie in erster Linie Unterstützungszwecke verfolgten, durch Maßregelungen der leitenden Personen ein rasches Ende gefunden hatten, begann im Winter 1896/97 in vielen Orten Deutschlands, sowie in Oesterreich gleichzeitig und unabhängig von einander eine umfassende Organisationsbewegung der „Eisenbahner“, die zuerst in Hamburg zu einem greifbaren Erfolge führte, indem dort auf Grund des Beschlusses einer am 8. Dezember 1896 stattgehabten Versammlung in einer ferneren auf den 13. Januar 1897 einberufenen die Bildung eines Verbandes erfolgte, der sich später mit den gleichartigen in Sachsen, Bayern u. s. w. gegründeten Vereinigungen zu einem einheitlichen Verbande verschmolz. Der Sitz desselben ist Hamburg; Vorsitzender und Seele des ganzen Unternehmens ist Heinrich Bürger.

Der Verband umfaßt nach dem Statute die Personale sämtlicher staatlichen und privaten Eisenbahnbetriebe ohne Unterschied der Dienststellung. Als Zwecke werden aufgeführt: 1. Erzielung möglichst günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen; 2. Pflege der Berufsstatistik; 3. Hebung des Standesbewußtseins und Förderung der geistigen Interessen durch Errichtung einer Bibliothek und Abhaltung von Vorträgen beruflicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art, sowie Gründung einer in diesem Sinne geleiteten Zeitschrift; der Verband soll[Pg 341] eine Pflegestätte des geselligen Verkehrs der Mitglieder sein; 4. Schaffung von Unterstützungseinrichtungen, die den Mitgliedern nach Maßgabe einschlägiger Bestimmungen Schutz und Beistand in den verschiedenen Lebenslagen gewähren.

Der Verband besitzt in dem „Weckruf der Eisenbahner“ ein eigenes Organ, das seit 1. Juli 1897 zweimal im Monate erscheint und nach der eigenen Erklärung seines Herausgebers Bürger eine „keineswegs zahme Sprache“ führt. Der Verband hat sich den unter der „Generalkommission“ vereinigten sozialistischen Gewerkschaften angeschlossen, lehnt es aber durchaus ab, sozialdemokratische oder überhaupt parteipolitische Bestrebungen zu verfolgen, behauptet vielmehr, ausschließlich sich den wirtschaftlichen und sozialen Interessen der unteren Eisenbahner zu widmen.

Seit 15. April 1898 ist eine Zuschußkasse in Kraft getreten, die Krankengeldzuschuß von wöchentlich 4 Mk. und Zuschuß zu dem beim Tode eines Mitgliedes gezahlten Sterbegelde bis zu 40 Mk., außerdem beim Tode der Ehefrau eine Unterstützung von 25 Mk. und für Wochenbett 10 Mk. gewährt. Der Beitrag beträgt wöchentlich 15 Pf., doch kann durch Zahlung des doppelten Beitrages bei dem Kranken- und Sterbegeld, sowie der Unterstützung beim Tode der Ehefrau eine Steigerung der Leistungen auf das Doppelte herbeigeführt werden. Auch eine Gemaßregelten-Unterstützung sowie eine Unterstützung bei Krankheiten und Unfällen ist seit 1. Januar 1899 in Kraft getreten; eine Waisen- und Altersunterstützung wird geplant.

Ueber die Mitgliederzahlen und die Leistungen lehnt der Vorstand alle Erklärungen mit der Begründung ab, daß man „angesichts der verwaltungsseitig ins Werk gesetzten Unterdrückungsmaßnahmen und Maßregelungen mit Angaben in der Oeffentlichkeit sehr vorsichtig sein müsse“. Es ist in der That ein Zeichen des heute in den Kreisen der Regierung vorhandenen Maßes sozialpolitischen Verständnisses, daß man die Mitgliedschaft des Verbandes mit Entlassung bedroht und das Verbandsorgan verbietet, als ob die Unterdrückung aller Aeußerungen der Unzufriedenheit diese selbst beseitigen könnte, wobei es ganz ohne Bedeutung bleibt, ob sie begründet ist oder nicht. Wenn der Staat Arbeiter wegen ihrer politischen Gesinnung entläßt, so handelt es sich natürlich nicht um Ausübung seines Hoheitsrechtes, sondern um einen Akt der privaten Unternehmerthätigkeit, und wenn er hierbei sich den engherzigsten Unternehmern an die Seite stellt, so ist das ein Hohn auf die Forderung des kaiserlichen Erlasses, daß die Staatsbetriebe soziale Musteranstalten sein sollten. Gerade der Staat sollte doch in der Ausübung des gesetzlich gewährten Koalitionsrechtes eine Einrichtung sehen, die er nicht auf dem Wege der Verwaltung wieder hinfällig und inhaltlos machen darf.

[Pg 342]

Der Verband hat, wie es scheint, durch sein bloßes Bestehen und die dadurch bei den Eisenbahnbehörden begründete Furcht vor einer umfassenden sozialdemokratischen oder wenigstens oppositionellen Bewegung, sehr segensreich gewirkt, indem verschiedentlich Verbesserungen eingeführt sind und den Wünschen des Personals mehr, wie früher, Entgegenkommen bewiesen ist. Auch haben die Behörden mehrfach als Gegengift die Bildung „königstreuer Eisenbahnvereine“ in die Hand genommen, z. B. sind in dem Direktionsbezirke Altona im Frühjahr 1898 ein Verein der Rangiermeister und ein solcher der Weichensteller ins Leben gerufen, die nach ihren Statuten den Zweck haben „allzeit Ehre und Achtung vor König und Vaterland, sowie vor der vorgesetzten Dienstbehörde zu bekunden und ein festes Zusammenhalten der Kollegen herbeizuführen, um etwa unter ihnen sich einschleichenden, für Kaiser und Reich nicht wohlgesinnten Elementen energisch entgegenzutreten und so einen Stand von Beamten in jeder Hinsicht ohne Makel heranzubilden und Standesinteresse, gute Sitte, Bildung und Moral zu fördern und zu pflegen, sowie das dienstliche Wissen derselben durch Erörterung besonderer Vorkommnisse im Dienstbetriebe zu wahren“. Religiöse und politische Angelegenheiten sind strengstens ausgeschlossen. Der offizielle Karakter ist bei dem Rangiermeisterverein sogar durch den Titel: „Königlich Preußischer Eisenbahn-Rangiermeisterverein für den Direktionsbezirk Altona“ zum Ausdruck gebracht.

C. Gemischte Vereine.

Wie der Wunsch, oppositionellen Regungen durch Vereinigung der Arbeiter unter Leitung der Behörden entgegenzuwirken, zu der vorstehend erwähnten Bildung königstreuer Vereine geführt hat, so hat die gleiche Absicht zur Folge gehabt, daß an einzelnen Orten der Versuch unternommen ist, das gesamte Eisenbahnpersonal eines Bezirkes ohne Unterschied zwischen Beamten und Arbeitern in einem einheitlichen Verbande zusammenzuschließen. Naturgemäß muß dabei der gewerkschaftliche Karakter zurück und der bloß gesellige Zweck in den Vordergrund treten.

Der erste Versuch dieser Art ist von dem Eisenbahndirektionspräsidenten Ulrich in Cassel ausgegangen, auf dessen Anregung am 1. Januar 1897 der „Eisenbahnverein zu Kassel“ ins Leben getreten ist[141].

Derselbe ist nach dem Statut eine Vereinigung der bei der Staatseisenbahnverwaltung in Cassel beschäftigten Beamten und Arbeiter zu gemeinnützigen[Pg 343] und geselligen Zwecken. Andere Zwecke insbesondere solche politischer oder religiöser Art, sind ausgeschlossen.

Demgemäß hat der Verein folgende Einrichtungen geschaffen:

1. Einen Vereinsbeirat, der den Mitgliedern und den Hinterbliebenen in Fragen rechtlicher und wirtschaftlicher Art Rat erteilt.
2. Eine Bibliothek nebst Lesezimmer.
3. Gemeinsame gesellige Vergnügungen.
4. Eine Spar- und Darlehnskasse.

Daneben besteht ein Eisenbahn-Haushaltungsverein. Er sowie die Spar- und Darlehnskasse sind selbständige Einrichtungen, an denen die Beteiligung den Mitgliedern frei steht.

Da die Zahl der am Vereine beteiligten Beamten und der Arbeiter annähernd gleich ist, so sind der Vorstand und die verschiedenen Ausschüsse je zur Hälfte durch beide Gruppen gebildet.

Die Mitgliederzahl war schon im ersten Jahre auf 1800 gestiegen und betrug am 1. Juli 1899 1856; sie umfaßt ziemlich das gesamte in Kassel stationierte Personal. Der Spar- und Darlehnskasse waren am 1. Oktober 1898 964 Mitglieder mit 1079 Geschäftsanteilen und einer Spareinlage von 7169 Mk. beigetreten: am 1. Juli 1899 war die Mitgliederzahl auf 1310 gestiegen. Die Kasse hatte im ersten Geschäftsjahre 31130 Mk. an Darlehen gewährt. Die Bibliothek umfaßte 1500 Bände.

Auch in Arnsberg, Göttingen, Paderborn und Soest haben sich gleiche Vereine gebildet, deren Mitgliederbestand am 1. Juli 1899 500 bezw. 1015, 600 und 700 betrug und die mit dem Kasseler Vereine insofern in einem festen Zusammenhange stehen, als sie mit ihm die Bücher der Bibliothek austauschen. Auch der Anschluß an die Spar- und Darlehnskasse wird vorbereitet. In Nordhausen und Holzminden sind gleiche Vereine in der Bildung begriffen.

Seitens der vorgesetzten Behörden ist das Beispiel von Kassel den anderen Direktionen zur Nachahmung empfohlen und ist demgemäß auch bereits in Breslau ein ähnlicher Verein gegründet, der in jeder Beziehung seinem Vorbilde entspricht.

8. Der deutsche Privatbeamtenverein[142].

Handelte es sich bei den Beamten der Post und der Eisenbahn um staatliche Betriebe, bei denen, wie oben[143] ausgeführt, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer stark mit staatsrechtlichen Elementen durchsetzt ist, so[Pg 344] trifft dies nicht zu bei den Privatbeamten, da ihre Stellung ausschließlich auf privatrechtlichen Grundlagen beruht. Immerhin ist ihr Verhältnis zu den Arbeitgebern ein wesentlich anderes, als das der eigentlichen Arbeiter. Kann auch in Privatbetrieben von Hoheitsrechten im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein, so hat sich doch das Verhältnis zwischen Arbeiter und Arbeitgeber weit über den rein privatrechtlichen Rahmen hinaus zu einem solchen der Ueber- und Unterordnung entwickelt, das mit demjenigen des Staates zu seinen Unterthanen eine erhebliche äußere Verwandtschaft zeigt. Dies beschränkt sich auch nicht auf Aeußerlichkeiten, wie die Formen des Verkehrs, die auf eine Höherstellung des Arbeitgebers hindeuten, zu der es in den rein vertragsmäßigen Beziehungen an jeder inneren Grundlage fehlt, sondern es findet auch in dem seitens der Gesetzgebung anerkannten Rechte des Arbeitgebers zur Verhängung von Strafen, die sich unter dem Gesichtspunkte der reinen Vertragsstrafe nicht erklären lassen, da sie ohne Richterspruch vollzogen werden, seine Bestätigung. Ruht nun die Fülle dieser gewissermaßen abgeleiteten obrigkeitlichen Macht selbstverständlich in den Händen des „Herren“, d. h. des Unternehmers selbst, so ist doch der Beamte in dem Verhältnisse zu den Arbeitern sein Vertreter, ein Abglanz der Herrscherstellung fällt auch auf ihn, und so ist es erklärlich, daß er nicht allein in der eignen Auffassung und derjenigen der Gesellschaft sozial weit über den Arbeitern steht, sondern auch bei einem Gegensatze zwischen diesen und ihrem Arbeitgeber ausnahmslos auf der Seite des letzteren steht. Gewährt diese Stellung dem Selbstgefühl Befriedigung, so hat sie freilich auch ihre Kehrseite. Naturgemäß können auch zwischen dem Geschäftsinhaber und seinen Beamten Interessengegensätze nicht ausbleiben, und bei ihnen sind die Beamten, da sie mit den Arbeitern nichts gemein haben wollen, auf sich selbst und ihre eigne Kraft angewiesen. Diese eigne Kraft kann aber, da in jedem Geschäfte naturgemäß nur eine geringe Anzahl von Beamten angestellt ist, nur gering sein, und so ist bei einem Streite mit dem Prinzipal der Beamte fast immer der schwächere und zum Nachgeben gezwungene Teil.

Es läge nahe, diesen Mangel dadurch auszugleichen, daß die Beamten umfassende Vereine bildeten, die das Interesse ihrer Mitglieder gegenüber den Geschäftsinhabern wahrzunehmen in der Lage wären. Aber das wäre nur zu erzielen, wenn die Vereine einen sehr großen Teil aller Beamten in sich schlössen, denn da die Thätigkeit der meisten von ihnen eine sehr ähnliche ist, so können sie sich gegenseitig verhältnismäßig leicht ersetzen. Bis jetzt ist ein solcher weitgreifender Zusammenschluß noch nicht erreicht, und deshalb haben auch die bestehenden Vereine die uns interessierende Seite ihrer Thätigkeit, die Vertretung der Interessen der Mitglieder gegenüber den Prinzipalen, also die gewerkschaftliche[Pg 345] Aufgabe, stark vernachlässigt und sich überwiegend mit geselligen, Bildungs- und Unterstützungszwecken beschäftigt.

Dies gilt auch von dem größten derartigen Vereine, dem Deutschen Privatbeamtenvereine in Magdeburg. Er steckt sich hinsichtlich des zugehörigen Personenkreises sehr weite Grenzen, indem er „alle in Privatanstalten, Gesellschaften und bei Einzelnen in kaufmännischer, industrieller, landwirtschaftlicher und ähnlicher Thätigkeit stehenden Privatbeamten, als Direktoren, Inspektoren, Buchhalter, Expedienten, Fabrik- und Werkmeister, Chemiker, Ingenieure, Lehrer u. s. w.“ umfassen will. Ja er geht selbst über diesen erweiterten Kreis noch hinaus und gestattet nicht allein öffentlichen Beamten, sondern auch „Kaufleuten und Privatleuten“ den Beitritt als vollberechtigten Mitgliedern. Indem er hiermit jede Grenze fallen läßt, verliert er eigentlich das für eine gewerkschaftliche Bildung erforderliche Moment des Klassenkarakters. Immerhin ist dies gewissermaßen nur ein wilder Zweig, der Schwerpunkt liegt in der Vertretung der Interessen der bei Privatleuten angestellten Beamten.

Als Zweck des Vereins ist im Statute bezeichnet: „die Förderung der Sicherstellung der Zukunft der Mitglieder und ihrer Familien.“ In dem jährlich ausgegebenen Kalender wird die Aufgabe, die der Verein verfolgt, noch genauer umschrieben, indem es dort heißt:

„Der Deutsche Privat-Beamtenverein hat es sich zur Aufgabe gestellt, den Privatbeamten, d. h. denjenigen in den verschiedensten Zweigen und Stellungen des privatwirtschaftlichen Erwerbslebens (Industrie, Handel, Verkehrswesen, Forstfach, Bergwesen, Schulfach u. s. w.) Angestellten, welche sich durch die Art ihrer Stellung und den Grad ihrer Bildung von den nur physisch Arbeitenden unterscheiden, zur Vertretung und Verfolgung ihrer gemeinsamen Interessen einen Mittelpunkt zu schaffen und namentlich dafür einzutreten, daß ihnen — ohne staatlichen Zwang auf dem Wege der Selbsthülfe vielleicht mit verständnisvoller Unterstützung der Arbeitgeber — diejenigen Sicherungen für die eigene Zukunft und die ihrer Familien bestellt werden, wie sie die Staatsbeamten und die Mehrzahl aller öffentlichen Beamten durch die Alters- und Invaliditätspension, durch die Witwen und Waisenversorgung bereits genießen.“

Daß kein Gegensatz gegen die Prinzipale beabsichtigt ist, wird mehrfach hervorgehoben durch den Hinweis, daß auch die letzteren ein eigenes Interesse daran haben, ihre Beamten in der bezeichneten Weise sichergestellt zu sehen. Es heißt dann wörtlich:

„Kein Privatbeamter und kein Arbeitgeber, auf welchem Gebiete privatwirtschaftlicher Thätigkeit er auch sein Geschäft betreibt, wird zwischen den Bestrebungen und Endzielen des deutschen Privat-Beamtenvereins und den Interessen der „Arbeitgeber“ (dieses Wort immer im weitesten volkswirtschaftlichen[Pg 346] Sinne gebraucht) einen Gegensatz zu finden vermögen, der ihn abhalten könnte, diese Bestrebungen zu unterstützen, sondern nur eine Gemeinschaft der Interessen, die jedem die Unterstützung dieser Bestrebungen zur Pflicht macht.“

Hauptsächlich wird beklagt, daß die besser gestellten Privatbeamten kein Bedürfnis empfinden, dem Vereine beizutreten und an ihr Solidaritätsgefühl appelliert, da ohne ihre Mitwirkung das verfolgte Ziel nicht zu erreichen sei.

Die bezeichneten Zwecke erstrebt der Verein durch Unterstützung in Notfällen, insbesondere bei Krankheit, Tod und Stellenlosigkeit, durch Stellenvermittelung, Rechtsrat und gewisse Vergünstigungen. Während diese Vorteile unmittelbar mit der Mitgliedschaft verknüpft sind und keine besonderen Leistungen erfordern, andererseits aber die Unterstützungen in das Ermessen der Vereinsorgane gestellt sind, hat der Verein noch ferner eine Pensionskasse, eine Witwenkasse, eine Krankenkasse und eine Begräbniskasse, zu denen der Beitritt frei gelassen ist und die gegen gewisse Beiträge feste Rechtsansprüche gewähren. Auch mit Vertretung der Interessen der Privatbeamten im öffentlichen Leben beschäftigt sich der Verein, so mit der Frage der Kündigungsfristen, der Arbeitszeiten, des Lehrlingswesens, des unlauteren Wettbewerbes u. s. w., indem er zu denselben durch Beratungen und Beschlüsse, sowie Eingaben und Petitionen Stellung nimmt.

Das Recht auf die meisten Leistungen des Vereins, insbesondere auf Unterstützung in Notfällen, auf Rechtsrat und Rechtsschutz, auf Stellenvermittelung und Bezug des Vereinsorganes, sowie Rabattanteile in verschiedenen Geschäften und Begünstigung bei dem Abschlusse von Versicherungen erhält das Mitglied schon durch den Jahresbeitrag von 6 Mk. Die Pensions-, Witwen-, Begräbnis- und Krankenkasse sind auf versicherungstechnischen Grundlagen aufgebaut.

Die Mitgliederzahl betrug am 1. Oktober 1897 im Vereine 14201, in der Witwenkasse 1574, in der Pensionskasse 2763, der Begräbniskasse 2668 und der Krankenkasse 7362. Das Vermögen des Vereins belief sich am 1. Oktober 1897 auf 2435082 Mk. 38 Pf. Ende 1898 zählte der Verein 15234 Mitglieder, die sich auf 137 Zweigvereine und 86 Verwaltungsgruppen verteilen. Neben der Mitgliederzahl ist im verflossenen Jahre auch die Zahl derjenigen Firmen und Verbände erheblich gewachsen, welche ihre Angestellten — namentlich durch die Pensionskasse — versichern. Das Vermögen des Vereins und seiner Kassen belief sich Ende 1898 auf nahezu 3 Millionen Mk., wovon 286811 Mk. auf den Verein, 69646 Mk. auf die demselben gehörige Kaiser Wilhelm-Waisenstiftung, 1689851 Mk. auf die Pensionskasse, 635167 Mk. auf die Witwenkasse, 268900 Mk. auf die Begräbniskasse und 6277 Mk. auf die Krankenkasse entfallen. Direkt an die Mitglieder und deren Angehörige sind im[Pg 347] Laufe des Jahres gezahlt: 14563 Mk. Unterstützungen an 144 Mitglieder, 2480 Mk. Waisengelder an 49 Witwen mit 112 Waisen, 20050 Mk. laufende Pensionen an 101 Rentenempfänger (31 Invaliditäts-, 70 Alterspensionäre), 14551 Mk. laufende Witwenrente an 113 Witwen, 26176 Mk. Begräbnisgeld in 49 Sterbefällen, ferner 61297 Mk. bares Krankengeld und 22735 Mk. Erstattung für Arzt und Arznei u. s. w. in 1293 Krankheitsfällen, zusammen 161856 Mk.

Das Vereinsorgan ist die „Privatbeamtenzeitung“, die 1899 im XV. Jahrgange erscheint.

Der Verein hat die Rechte der juristischen Persönlichkeit.

9. Der Deutsche Werkmeisterverband[144].

Beschränkte sich der Privatbeamtenverein auf „Beamte“ im Gegensatze zu „Arbeitern“, so bildet der im Jahre 1884 gegründete Deutsche Werkmeisterverband in Düsseldorf hier einen Uebergang, indem er auch solche Personen aufnimmt, die nach dem Sprachgebrauche zu den Arbeitern gerechnet werden. In der That ist die Unterscheidung zwischen beiden Klassen nicht mit irgend welcher Schärfe durchzuführen. Daß nicht etwa die Lebenslänglichkeit oder Kündbarkeit der Stellung eine Verschiedenheit begründet, ergiebt sich daraus, daß weitaus die meisten Privatbeamten auf Kündigung angestellt sind, ja selbst bei Staatsbeamten ist dies nicht selten. Gewöhnlich betrachtet man als maßgebend die Art der Zahlung der Arbeitsvergütung, die man in dem einen Falle als Gehalt, in dem andern als Lohn bezeichnet. Nun mag bei Beamten die monatliche Zahlung allgemein üblich sein; aber bildet auch bei Arbeitern die wöchentliche Zahlung die Regel, so sind doch vierzehntägige und auch monatliche Fristen durchaus nicht selten. Auch die Art der Beschäftigung bildet kein durchgreifendes Unterscheidungsmoment. Hat auch, wie oben hervorgehoben, der Beamte häufig gegenüber dem Arbeiter eine gewisse Aufsichtsstellung, so giebt es doch nicht allein viele Beamte, die, wie z. B. Buchhalter, niemand etwas zu befehlen haben, sondern ebenso haben vielfach Arbeiter in der Stellung als Vorarbeiter eine Aufsicht auszuüben und eine gewisse Verfügungsgewalt.

Nach dem Statut des Deutschen Werkmeisterverbandes ist aufnahmefähig „jeder Betriebs-Fachbeamte eines gewerblichen oder industriellen Etablissements, gleichviel ob dies Privat-, Kommunal- oder Staatsunternehmen ist“. Das Statut giebt dann eine umfassende Aufzählung derjenigen Personen, die als Werkmeister zu gelten haben und bezeichnet als solche:

[Pg 348]

1. Meister, welche in der Industrie oder einem Gewerbe einer oder mehreren Werkstätten selbständig als Werkmeister, Werkführer oder Fachmeister vorstehen. Als Fachmeister sind auch die Eisenbahnwerkstätten-Vorarbeiter anzusehen.
2. Vorsteher, Betriebsführer oder Obermeister, welche in den neueren Produktionsfächern als Leiter von Werkstätten, Werksälen, Werkplätzen, Werkhallen, Werften, Depots, Gießhallen, Laboratorien oder Bergwerken als Betriebsbeamte thätig sind.
3. Bezüglich der Aufnahmefähigkeit derjenigen Meister, welche in Absatz 1 und 2 nicht angeführt sind, entscheiden die Vereinsvorstände den örtlichen Verhältnissen entsprechend; in streitigen Fällen der Zentralvorstand.

Für die Aufnahmefähigkeit sollen folgende Grundsätze maßgebend sein:

Als Werkmeister sind stets Betriebsbeamte im Sinne des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes zu betrachten, welche einen Teil des Betriebes oder den ganzen Betrieb selbständig leiten. Hierbei ist stets vorausgesetzt, daß sie das Handwerk, welches in der Werkstatt betrieben wird, erlernt haben, oder daß sie die sonst in dem von ihnen geleiteten Betriebe oder Betriebsteile erforderliche fachmännische Bildung durchaus besitzen. Lediglich in der Spedition der produzierten Güter angestellte Betriebsbeamte, als Platzmeister, Packmeister, Expedienten oder im kaufmännischen Betriebe Angestellte sind ebenso wie Arbeiteraufseher ohne fachmännische Vorbildung nicht aufnahmefähig. Die Eigenschaft als selbständiger Meister setzt dann ferner voraus, daß demselben eine größere Anzahl von Arbeitern unterstellt ist, für deren Arbeiten er selbständig verantwortlich ist und deren Beaufsichtigung seine Hauptaufgabe ist.

Der Verband hat den Zweck, alle deutschen Werkmeister innerhalb einer großen Verbindung zu vereinigen, um die Interessen der Mitglieder dieser Vereinigung sowie der Angehörigen derselben gemeinsam zu vertreten, und zwar nicht allein in materieller Hinsicht, sondern auch in idealer Beziehung, indem er die geistige Bildung der Berufsgenossen durch Bibliotheken, Unterricht und Belehrung, sowie eine eigene Zeitschrift, die „deutsche Werkmeisterzeitung“, zu heben sucht. Die Förderung der wirtschaftlichen Interessen erreicht der Verband insbesondere durch Stellenvermittelung, Rechtsschutz und Unterstützung bei Stellenlosigkeit, Invalidität, Alter, Tod und in außerordentlichen Notfällen, sowie Witwen- und Waisengeld. Seit 1895 besteht eine besondere Pensionskasse. Unabhängig vom Verein ist eine eigene Sterbekasse, der aber alle Mitglieder bis auf 16 angehören.

Das Wachstum des Vereins ergiebt sich aus folgenden Zahlen: Es gab

[Pg 349]

  1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891
Bezirksvereine       48     100     230     289     348     402     459     504
Mitglieder   2350   4800   8725 12650 14260 16268 18240 20364
                 
  1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 31./III.
1899
Bezirksvereine     520     550     550     577     585     602     614     620
Mitglieder 21800 25300 26427 28087 29871 31803 34380 34962

Der Verein hat 1898 gezahlt: Sterbegeld 305400 Mk., Wittwen- und Waisengeld 144055 Mk., Invalidengeld 103305 Mk., Unterstützung von Fall zu Fall 25705 Mk. Während der 15 Jahre seines Bestehens hat der Verein insgesamt geleistet: an Sterbegeld 2501050 Mk. und an Unterstützungen 1282414 Mk. Der Verband besaß Ende 1898 ein Vermögen von 1231000 Mk., die Sterbekasse ein solches von 706000 Mk.

Der Jahresbericht für 1898 bemerkt, daß das gute Verhältnis zu den Behörden und der Prinzipalität erhalten geblieben sei und die letzteren nachgerade den Bestrebungen des Vereins Verständnis und Wohlwollen entgegenzubringen beginnen. Ob man versuchen solle, Beiträge der Prinzipale zu der Invalidenkasse des Vereins zu erlangen, wird die nächste Generalversammlung entscheiden, die Ostern 1899 in Eisenach stattfindet. Bisher sei reine Selbsthülfe das Bestreben des Vereins gewesen, wobei man allerdings manches Hemmnis durch gesetzliche Bestimmungen kennen gelernt habe.

10. Die kaufmännischen Vereinigungen.

Bildete der Privatbeamtenverein und der Werkmeisterverband einen Uebergang von den Beamten zu den Arbeitern, so stehen auch noch die kaufmännischen Vereinigungen im allgemeinen auf dieser Uebergangsstufe, indem sich ihre Mitglieder nicht zu den Arbeitern gerechnet wissen wollen. In der gesellschaftlichen Auffassung mag ein solcher Unterschied bestehen, und gerade darin, daß der Handlungsgehülfe sich sozial höher stehend betrachtet als der Arbeiter, ist der Grund zu suchen, weshalb die kaufmännischen Hülfskräfte sich der modernen Arbeiterbewegung, der politischen wie der gewerkschaftlichen, im allgemeinen fern gehalten haben. Volkswirtschaftlich ist ein Unterschied zwischen dem Handlungsgehilfen und dem gelernten gewerblichen Arbeiter nicht anzuerkennen; daß die Stellung des einen im Handelsgesetzbuche, die des andern in[Pg 350] der Gewerbeordnung geregelt ist, bedeutet eine Willkürlichkeit, für die es keinen inneren Grund gibt, wie auch im übrigen zwischen beiden Gesetzbüchern kaum eine scharfe Grenze zu ziehen ist.

Kaufmännische Vereine, welche den Zweck verfolgten, die Interessen des Gewerbes und der Mitglieder zu vertreten, hat es schon seit langer Zeit gegeben. Als ältester ist eine kaufmännische Vereinigung in Stettin anzusehen, die bereits 1687 erwähnt wird. Im 18. Jahrhundert finden wir nur drei ähnliche Gründungen, und erst mit dem Wachsen des Verkehrs scheint das Bedürfnis reger geworden zu sein, so daß erst das jetzige Jahrhundert einen stärkeren Aufschwung zeigt. Ende der 60 er Jahre gab es im norddeutschen Bunde 70, in Bayern 6, in Baden 4, in Oesterreich 1, in der Schweiz 16 kaufmännische Vereine, die zusammen aber nur etwa 9000 Mitglieder hatten und 33 Bibliotheken mit 10000 Bänden, 23 Lesekabinetts mit 300 Blättern besaßen; 46 dieser Vereine hatten ein Vermögen von zusammen 160000 Thalern.[145]

Verfolgten die kaufmännischen Vereine früher überwiegend Bildungszwecke, so mag in dem bereits bezeichneten Umstande, daß der Gehülfe sich nicht als Arbeiter betrachtet wissen will, der Hauptgrund dafür liegen, daß die soziale Entwickelung auf kaufmännischem Gebiete noch einigermaßen rückständig ist. Die älteren der bestehenden Vereine umfassen nicht allein Prinzipale und Gehülfen und können schon deshalb sich nicht die Aufgabe stellen, die zwischen beiden Gruppen auftauchenden Interessenfragen zum Austrage zu bringen, sondern sie verfolgten anfangs grundsätzlich andere Zwecke, insbesondere solche der Geselligkeit, der allgemeinen wie der fachlichen Bildung, der Stellenvermittelung und der Unterstützung. Erst in neuester Zeit hat eine Bewegung begonnen, die auch die soziale Seite ins Auge faßt, sich der nun einmal vorhandenen selbständigen Interessensphäre des Gehülfen gegenüber dem Prinzipale bewußt wird und deren Vertretung zu ihrer Aufgabe macht. Dabei sind naturgemäß verschiedene Stufen vertreten, je nachdem man die bezeichneten gegensätzlichen Momente schärfer oder weniger entschieden betont und demgemäß die Regelung mehr im feindlichen Sinne oder im Wege des freundlichen Uebereinkommens anstrebt. Es ist begreiflich, daß zwischen dieser neuen Richtung und der älteren sich ein mehr oder weniger scharfer Gegensatz entwickeln mußte, der auch in offener Feindseligkeit hervortritt. Trotzdem haben unter dem Drucke der sozialreformerischen Elemente auch die älteren Vereine den von jenen aufgeworfenen Fragen ein größeres Interesse als früher widmen müssen, und so ist denn die[Pg 351] ganze Klasse der Handlungsgehülfen in einem gegen früher wesentlich verstärkten Maße in die soziale Bewegung hineingezogen.

In der folgenden Darstellung sind die bestehenden Vereine nach dem vorstehend erörterten Gesichtspunkte gruppiert.

A. Die ältere Richtung.

a) Deutscher Verband kaufmännischer Vereine[146].

Die meisten Vereine der älteren Richtung haben sich seit 1890 zu dem „Deutschen Verbande kaufmännischer Vereine“ zusammengeschlossen. Hervorgegangen ist derselbe aus dem „Deutschen Verbande von Vereinen für öffentliche Vorträge“[147], der auf seiner Generalversammlung 1889 eine „kaufmännische Abteilung“ mit vorläufigen Satzungen ins Leben rief; diese Abteilung hat dann in der Versammlung vom 9. Juni 1890 in Frankfurt a. M. den in der Ueberschrift bezeichneten Namen angenommen und sich zu einem eigenen Verbande ausgestaltet. Der Grund für die Bildung eines solchen wurde von dem Vorsitzenden dahin bezeichnet, daß das frühere Verhältnis, nach welchem die Stellung der Handlungsgehülfen nur ein Uebergang vom Lehrling zum Prinzipal gewesen sei, nicht mehr zutreffe, viele Gehülfen zeitlebens in dieser Stellung blieben und deshalb ein eigener Handlungsgehülfenstand mit eigenen Interessen sich gebildet habe, so daß es angezeigt sei, eine eigene Standesbewegung ins Leben zu rufen, zumal die kaiserlichen Februarerlasse mit Recht die Notwendigkeit sozialer Reformen in den Vordergrund des politischen Lebens gerückt hätten.

Nach den Statuten ist der Zweck des Verbandes die Beratung und Förderung der Interessen der deutschen kaufmännischen Vereine, der Handlungsgehülfen sowie des gesamten Handelsstandes. Mitglied kann jeder kaufmännische Verein werden, der seinen Sitz im Deutschen Reiche hat, statutengemäß die Förderung kaufmännischer Interessen bezweckt und sich selbständig verwaltet. Versammlungen haben bisher stattgefunden 1. vom 7.–9. Juni 1890 in Frankfurt, 2. am 8. Juni 1891 in Braunschweig, 3. am 12. Juni 1892 in Köln, 4. am 4. Juni 1893 in Görlitz, 5. am 11. Juni 1894 in München, 6. am 10./11. Juni 1895 in Mainz, 7. am 8. Juni 1896 in Berlin, 8. am 14./15. Juni 1897 in Leipzig, 9. am 6./7. Juni 1898 in Hamburg, 10. am 5. /6. Juni 1899 in Eisenach.

[Pg 352]

Der Verband ist für die Ausdehnung der Krankenversicherung auf die Handlungsgehülfen und Lehrlinge, für statistische Erhebungen über die Arbeitsverhältnisse im Handelsgewerbe, für umfassende Sonntagsruhe, Regelung des Lehrlingswesens, für kaufmännische Fortbildungs- und Handelshochschulen eingetreten und hat sowohl in diesen Angelegenheiten, wie hinsichtlich der Regelung der Kündigungsvorschriften, der Konkurrenzklausel, des Zeugniszwanges u. s. w. wiederholt Eingaben an die Regierung und den Reichstag gemacht, wie er auch bei den Vorarbeiten für das neue Handelsgesetzbuch gutachtlich gehört ist. Die Fragen der Maximalarbeitszeit im Handelsgewerbe, der kaufmännischen Schiedsgerichte, der Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes, der Versicherung gegen Stellenlosigkeit, der Stellenvermittelung, der Invaliditäts- und Altersversicherung für Handlungsgehülfen, der Frauenarbeit im Handelsgewerbe u. a. sind in den Verbandsversammlungen wiederholt behandelt, wobei naturgemäß starke Meinungsverschiedenheiten hervortraten, doch hat der Verband, gemäß seinem föderalistischen Karakter, stets Gewicht darauf gelegt, die Selbständigkeit der einzelnen Vereine nicht zu beeinträchtigen. Bei Aufnahme von Vereinen hat der Verband den Grundsatz befolgt, solche mit politischen oder konfessionellen Tendenzen abzulehnen; ein Verein mit angeblich sozialdemokratischer Richtung wurde ausgeschlossen und dem „deutsch-nationalen Handlungsgehülfenverbande“ wegen angeblich antisemitischer Richtung die Aufnahme verweigert.

Aus dem Schoße des Verbandes hat sich ein von ihm unabhängiger „Stellenvermittelungsbund kaufmännischer Vereine“ entwickelt der am 26. Januar 1890 gegründet wurde und dem sich die Mehrzahl der Verbandsvereine angeschlossen hat.

Dem Verbande gehören ausweislich des letzten im Mai 1899 ausgegebenen Verzeichnisses 98 Vereine mit insgesamt 127115 Mitgliedern an, unter denen sich 2 österreichische (Wien und Brünn) befinden. Von den Mitgliedern sind 24832 Prinzipale, 95528 Gehülfen, 4893 Lehrlinge und 1862 Nichtkaufleute.

Es ist nicht möglich, alle 98 Vereine hier näher zu behandeln, auch ist dies um so weniger erforderlich, als die Verhältnisse in denselben im wesentlichen gleichartig sind. Unter diesen Umständen muß es genügen, nur über die größeren und zwar diejenigen mit mehr als 2000 Mitgliedern nähere Angaben zu machen [148].

[Pg 353]

b) Verein für Handlungskommis von 1858[149].

Der älteste und zugleich der größte aller kaufmännischen Vereine ist der in der Ueberschrift genannte, der jetzt auf ein Alter von 41 Jahren zurücksieht. Die Mitgliederzahl betrug am 31. Dezember 1897 53951, am 31. Dezember 1898 56149, und im Juli 1899 über 58000 in 215 Bezirksvereinen, darunter 7500 Prinzipale und 363 unterstützende Mitglieder (z. B. Handelskammern) sowie 2500 Lehrlinge. Im Jahre 1898 betrugen die Einnahmen 313670 Mk. 2 Pf., die Ausgaben 313025 Mk. 31 Pf., das Gesamtvermögen 181394 Mk. 62 Pf.

Die Hauptaufgabe des Vereins ist die Stellenvermittelung; im Jahre 1898 wurden 6037, insgesamt bereits über 74000 Stellen vermittelt. Die Pensionskasse für Alters-, Invaliden-, Witwen- und Waisenversorgung umfaßte Ende 1898 7355 Mitglieder, einschließlich 1851 Ehefrauen; das Kassenvermögen betrug 4824023 Mk. 91 Pf. Die Kranken- und Begräbniskasse hatte 6943 Mitglieder; die Einnahmen betrugen 229162 Mk. 93 Pf., die Ausgaben 212272 Mk. 96 Pf., der Vermögensbestand 185960 Mk. 21 Pf. Daneben besteht eine Unterstützungskommission für Bedürftige, die 1898 5301 Mk. 35 Pf. auszahlte. Außerdem besitzt der Verein eine Abteilung für Fortbildung und eine solche für Geselligkeit.

In den letzten Jahren ist auch die Beschäftigung mit Fragen der Sozialpolitik mehr in den Vordergrund getreten. Zu der Frauenarbeit im Handelsgewerbe hat der Verein die Stellung eingenommen, daß er freilich die darin liegende schwere Schädigung der männlichen Handlungsgehülfen anerkennt, jedoch eine Beschränkung der weiblichen Arbeit als ungerecht verwirft und eine teilweise Abhülfe nur darin findet, daß die Frauen denselben Grundsätzen hinsichtlich[Pg 354] der Ausbildung und des Gehaltes wie die Männer unterworfen und daß die Schutzbestimmungen der Gewerbeordnung für jugendliche und weibliche Arbeiter auch auf die Handelslehrlinge und Handlungsgehülfinnen ausgedehnt werden. Dagegen wird die Organisation der Gehülfinnen nicht begünstigt.

Für Errichtung kaufmännischer Schiedsgerichte ist der Verein eingetreten, indem er das dagegen geltend gemachte Bedenken einer Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Prinzipal und Gehülfen nicht als zutreffend anerkannte, doch lehnte er den Anschluß an die gewerblichen Schiedsgerichte wegen der damit verbundenen Agitation und Verschärfung der Gegensätze ab und forderte vielmehr eine Verbindung mit den Amtsgerichten, indem das Gericht aus dem Amtsrichter als Obmann und je einem Prinzipal und Gehülfen gebildet werden soll.

Der Verein ist dem Verbande für das kaufmännische Unterrichtswesen beigetreten und hat sich für Gründung von Handelshochschulen ausgesprochen.

Auch für den Acht-Uhr-Ladenschluß und den Beginn der Sonntagsruhe um 1 Uhr mittags ist der Verein eingetreten. In Eingaben an den Bundesrat hat er bei Beratung des neuen Handelsgesetzbuches für bessere Regelung der Kündigungsbestimmungen und der Gehaltszahlung, für Schutzbestimmungen hinsichtlich der Wohnungs-, Schlaf- und Geschäftsräume und für Einschränkung der Konkurrenzklausel gewirkt.

Obgleich der Verein in diesen Angelegenheiten die staatliche Regelung fordert, so steht er doch grundsätzlich auf dem Boden der Selbsthülfe, verfolgt sogar, wie hinsichtlich der Frage des Zwanges zum Besuche der Fortbildungsschulen, eine etwas manchnerliche Auffassung. Daneben betont er die Notwendigkeit des Zusammengehens mit den Prinzipalen.

Der Verein besitzt in dem „Hamburger Vereinsblatt“ ein eigenes Organ.

c) Kaufmännischer Verein in Frankfurt a. M.[150].

Derselbe ist am 19. Dezember 1864 gegründet und ist mit den am 31. Dezember 1898 vorhandenen 15787 Mitgliedern, worunter sich 14777 ordentliche, 535 außerordentliche und unterstützende Mitglieder und 474 Lehrlinge befanden, der zweitgrößte Verein des Verbandes.

Der Verein bezweckt Verbreitung kaufmännischer und allgemeiner Kenntnisse bei seinen Mitgliedern, Förderung der gemeinsamen Interessen des Kaufmannsstandes, insbesondere der Handlungsgehülfen, sowie Unterstützung von Bestrebungen, um deren wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage zu verbessern, ferner Pflege des genossenschaftlichen Sinnes und des Bewußtseins der Zusammengehörigkeit[Pg 355] unter den Mitgliedern und endlich deren Unterstützung in Fällen der Hülfsbedürftigkeit. Als Mittel sind u. a. bezeichnet Vorträge nebst Besprechung über kaufmännische und volkswirtschaftliche Gegenstände, Studienzirkel, Bibliothek, Stellenvermittelung, unentgeltliche Rechtsbelehrung, eine Kranken- und Begräbniskasse, sowie sonstige ähnliche Einrichtungen.

Im Vordergrunde steht thatsächlich die Stellenvermittelung, die Bildung und die Geselligkeit. Von den 1898 veranstalteten 22 Vorträgen behandelten nur drei volkswirtschaftliche Gegenstände; auch die „Diskussionsabteilung“, die stark besucht war, hat sich mit solchen Fragen nicht beschäftigt. Der Verein besitzt eine Fachschule und ein Lehrlingsheim, ist auch Mitglied des Verbandes für das kaufmännische Fortbildungsschulwesen. Er gewährt seinen Mitgliedern Rechtsauskunft und eine Reihe von Vergünstigungen in Geschäften; er besitzt ein eigenes Vereinshaus mit Bibliothek. Der mit dem Vereine verbundenen Kranken- und Begräbniskasse gehören 1368 Mitglieder an. Das Vereinsvermögen betrug am 31. Dezember 1897 107240 Mk. 65 Pf.

d) Kaufmännischer Verein in Mannheim[151].

Der am 11. Februar 1867 gegründete Verein verfolgt nach seinen Statuten als Zwecke: 1. Fortbildung und Hebung kaufmännischen und allgemeinen Wissens; 2. wirtschaftliche und gesellschaftliche Förderung des kaufmännischen Gehülfenstandes; 3. Pflege des gesellschaftlichen Sinnes und der Zusammengehörigkeit der Mitglieder. Er will diese Zwecke erreichen durch Unterrichtskurse, Vorträge, Bibliothek, Zeitschriften und Diskussionen, ferner durch Stellungnahme zur Gesetzgebung und Einwirkung auf dieselbe, soweit sie den kaufmännischen Gehülfenstand betrifft, durch Stellenvermittelung, eine Krankenkasse, eine Pensionskasse, durch Unterstützung hülfsbedürftiger Standesgenossen und unentgeltliche Rechtsberatung. Religiöse und parteipolitische Bestrebungen sind ausgeschlossen.

Ordentliche Mitglieder sind nur männliche Personen, die dem Handelsstande als Gehülfen, Beamte, Bevollmächtigte und Prokuristen angehören oder in gewerblichen Unternehmungen beschäftigt sind. Als außerordentliche Mitglieder können andere Personen, insbesondere selbständige Kaufleute aufgenommen werden; auch Lehrlinge können beitreten.

Am 1. April 1899 hatte der Verein 2896 Mitglieder, worunter 692 außerordentliche und 443 Lehrlinge. Das Vereinsvermögen betrug 41782 Mk. 39 Pf. Die Krankenkasse hatte 842 Mitglieder und 19771 Mk. 93 Pf. Vermögen. Neben ihr besitzt der Verein noch einen Unterstützungsfonds von[Pg 356] 23349 Mk. 81 Pf. Der Verein gewährt Rechtsberatung und hat ein Uebersetzungsbureau, bietet auch Vorzüge bei Versicherungen. Die veranstalteten Vorträge haben sich überwiegend mit volkswirtschaftlichen Gegenständen beschäftigt, insbesondere haben die Professoren Max Weber und v. Schultze-Gävernitz Vortragscyklen über die wirtschaftliche Entwickelung und die Handelspolitik abgehalten.

e) Kaufmännischer Verein Union in Bremen[152].

Seine Erwähnung in diesem Zusammenhange verdankt der Verein nur dem Umstande, daß er dem „Deutschen Verbände kaufmännischer Vereine“ angehört und über 2000 Mitglieder zählt. Im übrigen ist er der Typus eines Vereins der alten Richtung, dessen Bedeutung auf dem Gebiete der Geselligkeit liegt. Nach den Statuten hat der Verein den Zweck, „seinen Mitgliedern einen Vereinigungsplatz zu bieten, auf dem sie Gelegenheit finden zur wissenschaftlichen Fortbildung durch Unterricht, Vorträge und Lektüre, sowie zur geselligen Unterhaltung“, doch nimmt die letztere in Wirklichkeit den ersten Platz ein. Selbst die Vorträge, die der Verein nach seinem Jahresberichte für 1897 gehalten hat, vermeiden durchaus volkswirtschaftliche Fragen und auch die Unterrichtskurse, die sich auf Sprachen, Buchhaltung, Schönschreiben, Rechnen, Geographie und Stenographie beschränkten, sind unvollkommen besucht gewesen. Die Stellenvermittelung hat 273 Stellen besetzt. Der Verein besitzt ein eigenes Haus nebst Bibliothek und Lesezimmer. Im Jahre 1897 ist eine kostenlose Rechtsauskunft eingerichtet, dagegen ist der Versuch, eine Unfallversicherung zu schaffen, gescheitert. Gegenüber der Handelshochschul-Bewegung hat sich der Verein ablehnend verhalten. Der Mitgliederbestand betrug am 1. Januar 1898 2369, wovon 1088 etabliert und 1281 Gehülfen waren.

f) Kaufmännischer Verein München[153].

Der am 9. Oktober 1873 gegründete Verein zählte am 1. Oktober 1898 2760 Mitglieder. Er bezweckt: 1. kaufmännische und wissenschaftliche Fortbildung, 2. Förderung der Interessen des Handelsstandes im allgemeinen und der Mitglieder im besonderen, 3. Pflege des kollegialen Sinnes. Als Mittel werden bezeichnet: Stellenvermittelung, Unterrichtskurse für fremde Sprachen und Fachwissenschaften, Bibliothek und Lesezimmer, Besprechungen von kaufmännischen und allgemein wissenschaftlichen Gegenständen, Vorträge, Unterstützung stellenloser Mitglieder, Rechtsschutz und gesellige Unterhaltungen. Gegenstände[Pg 357] politischer und religiöser Natur sind von der Vereinsthätigkeit ausgeschlossen. Neben den ordentlichen giebt es auch unterstützende Mitglieder.

Der Schwerpunkt der Thätigkeit liegt in der Stellenvermittelung und der Förderung von Bildungszwecken durch die Unterrichtskurse und Vorträge. Diese zerfallen in populärwissenschaftliche und fachwissenschaftliche, doch sind auch unter den letzteren solche, welche sich mit sozialen Fragen beschäftigen, ziemlich spärlich vertreten. Der Verein besitzt außer einer Abteilung für Rechtsschutz nur eine Unterstützungskasse, deren Jahresausgabe aber nicht über 300 Mk. steigt, sowie eine Krankenkasse, auch ein Uebersetzungsbureau, dessen Benutzung auch Nichtmitgliedern offen steht.

g) Verein junger Kaufleute in Berlin[154].

Der Verein ist einer der ältesten, die in Deutschland bestehen. Im Jahre 1839 wurde gleichzeitig und unabhängig von einander, von einigen Handlungsgehülfen und von den Aeltesten der Kaufmannschaft der Plan gefaßt, einen Unterstützungsverein zu begründen, und nachdem die letzteren ein Grundkapital von 1500 Thalern zur Verfügung gestellt hatten, konnte die Vereinigung unter dem Namen: „Verein zur Unterstützung hülfsbedürftiger Handlungsdiener“ am 24. Juni 1840 mit 180 Mitgliedern ins Leben treten. Schon bald erweiterte derselbe sein Wirkungsgebiet über die bloßen Unterstützungszwecke hinaus, indem 1844 beschlossen wurde, handelswissenschaftliche Vorträge zu veranstalten. Die hierfür geschaffene und anfangs selbständige Handelslehranstalt wurde am 5. Februar 1846 mit dem Vereine verschmolzen. Dieser, dessen Mitgliederzahl bereits auf 450 gestiegen war, nahm dann am 8. Februar 1847 den jetzigen Namen an, um den erweiterten Wirkungskreis auch äußerlich zu bezeichnen. Am 21. September 1872 erhielt der Verein die Rechte der juristischen Persönlichkeit und erwarb ein eigenes Grundstück.

Nach dem Statute ist auch jetzt noch der Hauptzweck des Vereins die Unterstützung seiner Mitglieder, welche durch unverschuldeten Mangel, Krankheit oder Alter in eine hülfsbedürftige Lage gekommen sind.

Nur soweit die Mittel des Vereins hierfür nicht beansprucht werden, dürfen sie für die übrigen Zwecke: Fortbildung der Mitglieder in kaufmännischen und anderen Wissenschaften, Förderung der Kollegialität und Geselligkeit und Fürsorge für die Witwen und Waisen der Mitglieder verwandt werden. Ordentliche Mitglieder sind die in Berlin wohnenden Handlungsdiener, Handlungsbevollmächtigten und Prokuristen; als außerordentliche Mitglieder können selbstständige Kaufleute aufgenommen werden. Die Unterstützungsberechtigung der[Pg 358] ordentlichen Mitglieder tritt ein, wenn sie nicht imstande sind, sich ohne Beihülfe des Vereins angemessen zu erhalten und zwar bei Krankheit, Stellenlosigkeit und bei Alter oder Gebrechen. Die Beerdigung bedürftiger Mitglieder geschieht auf Kosten des Vereins. Daneben wird durch eine Deputation von 2 Mitgliedern Leichenfolge geleistet. Außerordentliche Mitglieder erhalten Unterstützung, wenn sie 5 Jahre lang ordentliche Mitglieder waren; ausnahmsweise können auch Nichtmitglieder unterstützt werden.

Der Verein veranstaltet wissenschaftliche Vorträge, von denen aber ebenso wie von den Vereinsversammlungen staatspolitische und religiöse Gegenstände ausgeschlossen sind. Zur Verbreitung von Fachkenntnissen finden Unterrichtskurse statt. Daneben besteht eine Bibliothek. Für Vereinsmitglieder und ausnahmsweise auch für Fremde übernimmt der Verein die Stellenvermittelung.

Der Mitgliederbestand betrug am 1. Januar 1898 3537. Die Gesamtsumme der bisher verausgabten Unterstützungen belief sich auf 427182 Mk. für Mitglieder und 141174 Mk. für Hinterbliebene.

h) Kaufmännischer und gewerblicher Hülfsverein für weibliche Angestellte[155].

Der am 19. Mai 1889 gegründete Verein ist den Bestrebungen wohlmeinender Leute entsprungen, die das Bedürfnis einsahen, den vielfach hülflosen und schutzbedürftigen in kaufmännischen Geschäften verwendeten weiblichen Personen zur Seite zu stehen. Diese zunächst rein humane Aufgabe findet auch in den Statuten ihren Ausdruck. Danach bezweckt der Verein, seinen Mitgliedern, welche durch Krankheit, Stellenlosigkeit und unverschuldete Not in eine hülfsbedürftige Lage gekommen sind, mit Rat und That zur Seite zu stehen, ferner durch Unterrichtskurse, Vorträge und ähnliche Veranstaltungen die Mitglieder in ihrer Ausbildung zu fördern und in der Ausübung ihres Berufes zu unterstützen. Auch die Wirksamkeit der ersten Jahren entsprach dieser Auffassung. Man schuf einen Stellennachweis, eine Rechtshülfe-, Rat- und Auskunfterteilung, sowie eine gewerbliche und eine kaufmännische Handelsschule nebst einer Schreibmaschinenschule, Bibliothek und Lesezimmer, eine Krankenunterstützung neben einer besonderen als eingeschriebene Hülfskasse eingerichteten Krankenkasse, einen Darlehnsfonds, man veranstaltet Vorträge und Unterhaltungsabende, vermittelt Ferienaufenthalte und Sommerfrischen; auch hat der Verein einen Turnzirkel und einen Sängerbund.

Aber der Verein ist bei diesen humanitären Bestrebungen nicht stehen geblieben, sondern hat auch das soziale und insbesondere gewerkschaftliche[Pg 359] Gebiet betreten, indem er durch Eingabe an Behörden und auf andere Weise für die Interessen des weiblichen Handelshülfspersonales eingetreten ist. Insbesondere hat er sich an den Bestrebungen zu Gunsten einer Ermäßigung der Arbeitszeit und Einführung des Achtuhr-Ladenschlusses, sowie der Einführung kaufmännischer Schiedsgerichte beteiligt.

Seit 1. Juli 1896 besitzt der Verein ein eigenes Organ, in den „Mitteilungen für weibliche Angestellte“. Die Mitgliederzahl, die bei der Gründung nur 500, jedoch am Jahresschlusse schon 1600 betrug, ist seitdem stetig gewachsen und belief sich am 31. Dezember 1897 auf 10423, Ende Dezember 1898 sogar auf 11362, wovon 10700 Handlungs- und Gewerbegehülfinnen, 275 Geschäftsinhaber und die übrigen Privatpersonen waren: Ordentliche Mitglieder können nämlich nur sein: „unter Ausschluß der eigentlichen Arbeiterinnen Mädchen und Frauen, die als Handlungsgehülfinnen bezw. Lehrlinge oder als solche Gewerbegehülfinnen angestellt sind, deren Beruf eine höhere Vorbildung oder eine besondere längere Ausbildung erfordert.“ Der Beitrag beläuft sich auf jährlich 3 Mk. Das Vermögen des Vereins betrug am 31. Dezember 1897 77769 Mk. 38 Pf. Für Unterstützung seiner Mitglieder hat der Verein im Jahre 1898 4439 Mk. aufgewandt; die Gesamtausgabe hat sich auf 232000 Mk. belaufen.

Der Verein steht mit den übrigen 11 zur Zeit in Deutschland vorhandenen Vereinen für Handlungsgehülfinnen, nämlich in Augsburg, Barmen, Breslau, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Kassel, Köln, Königsberg, Leipzig und München in freundschaftlichem Verkehr.


Die bisher erwähnten Vereine gehören sämtlich zu dem deutschen Verbande kaufmännischer Vereine. Aber es giebt noch einige bedeutendere Vereine, die sich diesem Verbande nicht angeschlossen haben und doch zu der im Eingange bezeichneten älteren Richtung zu zählen sind; von ihnen sollen die wichtigsten hier genannt sein.

i) Verband deutscher Handlungsgehülfen[156].

Er ist im Jahre 1881 gegründet und nächst dem Hamburger Verein von 1858 der größeste kaufmännische Verein, denn seine Mitgliederzahl betrug am 1. Januar 1898 47208 und am 1. Januar 1899 49406, wovon 356 stiftende und außerordentliche Mitglieder und 689 Lehrlinge waren.

Der Verband, der seinen Sitz in Leipzig hat, ist nach seinen Satzungen „eine Vereinigung von Kaufleuten zu gegenseitiger Hülfe und Hebung des[Pg 360] Kaufmannsstandes“ und verfolgt als Zweck die Sicherung seiner Mitglieder in den Notfällen des Lebens durch Stellenvermittelung, Unterstützung bei Stellenlosigkeit, Rechtsschutz, Kranken-, Begräbnis-, Wittwen- und Waisen-, Alters- und Invaliditätsversorgung; will aber daneben auf Hebung des Kaufmannsstandes in sittlicher und sozialer Beziehung hinwirken und die Interessen der Handlungsgehülfen im allgemeinen und seiner Mitglieder im besonderen vertreten. Alle politischen und religiösen Bestrebungen sind ausgeschlossen. Der Verein hat das Recht der juristischen Persönlichkeit und besitzt ein eigenes Vereinshaus.

Eine wesentliche Aufgabe des Verbandes ist die Stellenvermittelung und die Unterstützung bei Stellenlosigkeit. Ferner besitzt er eine Witwen- und Waisenkasse und eine Altersversorgungs- und Invaliditätskasse, von denen am 30. September 1898 die erstere ein Vermögen von 360674 Mk. 59 Pf., die letztere ein solches von 249005 Mk. 71 Pf. besaß. Eine besondere Kranken- und Begräbniskasse hatte am 1. Januar 1898 17376 Mitglieder. Eine besondere Stiftung, deren Vermögen am 30. September 1898 auf 82977 Mk. 33 Pf. angewachsen war, bezweckte die Gründung eines Genesungsheimes, dessen Benutzung den Mitgliedern unentgeltlich gestattet ist. Der Verein gewährt Rechtsschutz und Vorzüge bei Versicherungen. Er besitzt in den „Verbandsblättern — Kaufmännische Reform“ ein eigenes Organ.

Der Verband hat in den neuesten Jahren bei der Beratung der für die Handelsgehülfen wichtigen Gesetze, insbesondere des neuen Handelsgesetzbuches und des Gesetzes über den unlautern Wettbewerb die Wünsche und Interessen seiner Mitglieder durch mehrfache Eingaben an den Reichstag und Bundesrat zu wahren gesucht; ebenso hat er über diese und andere sozialpolitische Gegenstände z. B. die Frage der kaufmännischen Schiedsgerichte, Regelung der Geschäftszeit, Lehrlingswesen und Frauenarbeit eine Reihe von Vorträgen veranstaltet.

k) Verband reisender Kaufleute Deutschlands[157].

Der Verband, der seinen Sitz ebenfalls in Leipzig hat, ist nach seiner rechtlichen Form eine Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht. Er bezweckt: 1. Pflege der Standesehre und Förderung der Standesinteressen, 2. Vermittelung gegenseitiger geschäftlicher Unterstützung durch Auskunft und Empfehlung; 3. Stellenvermittelung; 4. Gewährung von Rat und Belehrung bei geschäftlichen Rechtsfragen und Streitigkeiten; 5. Unterstützung der Mitglieder in Krankheitsfällen und für Fälle vorübergehender Notlage, sowie Gewährung einer Begräbnisunterstützung beim Tode eines Mitgliedes; 6. Unterstützung der[Pg 361] Witwen und Waisen verstorbener Mitglieder; 7. Unterstützung altersschwacher und invalider Mitglieder; 8. Unterstützung der durch geleistete Kriegsdienste in Not geratener Mitglieder oder deren Familien; 9. Unterhaltung eines eigenen Preßorganes.

Neben den erwähnten Unterstützungen, die von dem Ermessen der Verbandsorgane abhängig sind und deshalb auch besondere Beiträge nicht erfordern, hat der Verband seit 1. Januar 1891 eine Kranken- und Begräbniskasse in der Form einer eingeschriebenen Hülfskasse, der jedes Mitglied beitreten kann.

Aufnahmefähig als ordentliches Mitglied ist jeder unbescholtene Kaufmann, welcher reist, gereist hat oder reisen läßt, die Handlung erlernt hat, in Deutschland wohnt und zwischen dem 21. und 40. Lebensjahre steht. Der Verband sucht bei Streitigkeiten zwischen Mitgliedern und deren Prinzipalen zu vermitteln, und hat das anfängliche Vorurteil der letzteren überwunden, wie sich daraus ergiebt, daß ihm 664 außerordentliche Mitglieder, darunter 33 Handelskammern beigetreten sind.

Die Zahl der ordentlichen Mitglieder betrug am 31. Dezember 1898 8337 unter Einschluß von 28 stiftenden Mitgliedern in 69 Sektionen. Das Gesamtvermögen belief sich auf 1358331 Mk. 68 Pf. Davon entfielen 802025 Mk. 61 Pf. auf den Witwen- und Waisenfonds, 262490 Mk. 56 Pf. auf den allgemeinen Unterstützungsfonds, 194143 Mk. 88 Pf. auf den Altersunterstützungsfonds, 19146 Mk. 95 Pf. auf den Kriegsreservefonds. Der Verein gewährt Stellenvermittelung, Rechtsschutz und Vergünstigungen bei Versicherungen. Derselbe hat auch gelegentlich, z. B. bei der Neugestaltung des Handelsgesetzbuches, sowie bei den Versuchen einer Eisenbahntarifreform die Interessen seiner Mitglieder durch Eingaben an die Behörden zu fördern gesucht. Das Vereinsorgan ist die „Post reisender Kaufleute Deutschlands“ mit einer Auflage von 10200.

l) Kaufmännischer Hülfsverein in Berlin[158].

Der am 29. Oktober 1880 gegründete Verein verfolgt den Zweck, Handlungsgehülfen auf Ansuchen nach Maßgabe der Vereinsmittel einmalige oder zeitweilige Unterstützungen zu gewähren. Daneben erhalten die Mitglieder für ihren Jahresbeitrag von 6 Mk. unentgeltliche Krankenhülfe, Rechtsrat und Stellenvermittelung, während sie einer Sterbekasse mittels eines besonderen Beitrags von jährlich 4 Mk. beitreten können. Die Zahl der ordentlichen Mitglieder, die nur aus Handlungsgehülfen bestehen, betrug am 31. Dezember 1897 8467, die der außerordentlichen (Prinzipale) 951, das Vereinsvermögen 92668 Mk. 42 Pf. Der Verein hat in den „Nachrichten des kaufmännischen[Pg 362] Hülfsvereins in Berlin“ ein eigenes Organ, das in einer Auflage von 9400 erscheint.

B. Die neuere Richtung.

Das gemeinsame Merkmal der neueren Richtung ist die stärkere Betonung der sozialen Fragen vor solchen der Geselligkeit, der Bildung und der Unterstützung. Damit steht im Zusammenhange eine entschiedenere Vertretung des Interesses der Handlungsgehülfen auch da, wo es sich mit demjenigen der Prinzipale nicht deckt oder gar zu ihm in Gegensatz tritt.

Hinsichtlich des Grades, in dem diesen Gesichtspunkten Rechnung getragen wird, können die hierher gehörigen Vereine in einer gewissen Reihenfolge geordnet werden, und diese ist in der folgenden Darstellung innegehalten:

a) Verein der deutschen Kaufleute[159].

Derselbe ist ein Gewerkverein der Hirsch-Duncker'schen Richtung und gehört zu deren Verbande. Er steht deshalb auch auf deren grundsätzlichen Standpunkte und will die Interessen seiner Mitglieder thunlichst im guten Einvernehmen mit den Prinzipalen verfolgen. Noch den Statuten bezweckt der Verein „den Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder auf gesetzlichem Wege“.

Dieser Zweck soll hauptsächlich erreicht werden:

1. durch Vertretung der Mitglieder gegenüber dem Publikum, den Behörden und den Prinzipalen bei allen berechtigten Forderungen und Beschwerden event. durch Führung der Prozesse auf Vereinskosten, gemäß anhängendem Rechtschutzreglement;
2. durch Unterstützung derjenigen Mitglieder, welche unverschuldeter Weise ohne Stellung sind, laut den Bestimmungen über die Unterstützung der Stellenlosen, soweit die Kassenverhältnisse es gestatten, ohne klagbares Recht der Mitglieder;
3. durch kostenfreie nationale Stellenvermittelung;
4. durch Beförderung des handelswissenschaftlichen und volkswirtschaftlichen Unterrichts, besonders durch Unterstützung von kaufmännischen Fortbildungsschulen und sonstigen Bildungsbestrebungen;
5. durch Unterstützung in besonderen Notfällen;
6. durch Hinwirkung auf gerechte, zeitgemäße Regelung der Arbeitsbedingungen, in möglichster Verständigung mit den Prinzipalen und Beschränkung der Sonntagsarbeit auf das unerläßlich Notwendigste;[Pg 363]
7. durch Hinwirkung auf Unterstellung der Handlungsgehülfen unter besondere oder allgemeine Gewerbegerichte, sowie Errichtung von Einigungsämtern;
8. durch Unterstützung von wirtschaftlichen Genossenschaften, insbesondere Produktiv- und Handelsgenossenschaften;
9. durch Verbindung mit den deutschen Gewerkvereinen zur gegenseitigen Förderung und Unterstützung;
10. durch Errichtung einer Kranken- und Begräbniskasse, sowie einer Kasse zur Unterstützung gegen Stellenlosigkeit;
11. durch Führung einer Arbeitsstatistik.

Als besondere Aufgaben sind in den Statuten hervorgehoben die Förderung der humanen Bildung durch Errichtung kaufmännischer Fortbildungsschulen verbunden mit volkswirtschaftlichem Unterricht und Gesetzeskunde, die Verbesserung des Lehrlingswesens insbesondere dadurch, daß Lehrlinge nur von solchen Prinzipalen gehalten werden dürfen, die eine kaufmännische Ausbildung besitzen und daß die Lehrlinge zum Besuche der obligatorischen Fortbildungsschulen verpflichtet sind, ferner die Förderung des Genossenschaftswesens und die Erledigung aller begründeten Beschwerden der Mitglieder gegen Prinzipale, Behörden und Publikum durch den Verein, wobei dieser selbst die Prozeßführung übernimmt; thunlichst soll hierbei ein schiedsgerichtliches Verfahren stattfinden. Der Verein hat neben einer seit 1885 bestehenden Versicherung gegen Stellenlosigkeit, in der gegen Zahlung von monatlich 1 Mk. bezw. 1 Mk. 50 Pf. eine monatliche Unterstützung von 30 Mk. bezw. 45 Mk. bis zur Dauer von 6 Monaten erworben wird, noch ferner eine Unterstützung gegen Stellenlosigkeit in Höhe von monatlich 30 Mk. bis zu 3 Monaten, für die außer den monatlichen Vereinsbeiträgen von 90 Pf. nichts bezahlt wird. Endlich besteht eine Stellenvermittelung. Neben dem Vereine besteht in der Form einer eingeschriebenen Hülfskasse eine selbständige Kranken- und Begräbniskasse.

Der Verein hat sich mehrfach mit der Agitation für gesetzgeberische Aufgaben befaßt, insbesondere bei Beratung des neuen Handelsgesetzbuches und des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb, wo er gegen die Konkurrenzklausel und für erweiterte Sonntagsruhe, sowie Ausdehnung der Arbeiterschutzbestimmungen der Gewerbeordnung und der Gewerbegerichte auf die Handlungsgehülfen, für den Achtuhr-Ladenschluß und gegen das Verbot des Detailreisens, eintrat; ferner kämpft er seit Jahren für die gesetzliche Anerkennung der Berufsvereine.

Das Vereinsorgan ist die „Kaufmännische Rundschau“. Die Mitgliederzahl betrug am 31. Dezember 1895: 3849 in 46 Ortsvereinen; am 31. Dezember 1896 4229 Mitglieder in 58 Ortsvereinen, am 31. Dezember 1897 4409 Mitglieder[Pg 364] in 57 Ortsvereinen und am 31. Dezember 1898 4382 Mitglieder. Im Jahre 1898 erhielten auf Grund der Versicherung gegen Stellenlosigkeit 33 Mitglieder 2761 Mk. 50 Pf., daneben erhielten Stellenlosenunterstützung 113 Mitglieder 5322 Mk. 97 Pf. Die Stellenvermittelung besetzte 776 Stellen bei 870 Bewerbern. Für Bildungszwecke wurden 2269 Mk. 37 Pf., für das Vereinsorgan 5340 Mk. 5 Pf. ausgegeben. Die Kranken- und Begräbniskasse zahlte 66564 Mk. 38 Pf. Das Gesamtvermögen betrug 149323 Mk. 32 Pf.

b) Deutschnationaler Handlungsgehülfenverband[160].

Der Verband ist insofern aus dem Vereine für Handlungskommis von 1858 hervorgegangen, als einige im Herbst 1893 aus diesem ausgeschlossene Mitglieder einen neuen Verband zu gründen unternahmen, sodaß schon wegen dieses persönlichen Verhältnisses der neue Verband in einem scharfen Gegensatze zu dem alten Vereine sich befand. Dazu kam aber auch eine andere grundsätzliche Auffassung. Der Verband betont mit Nachdruck die Notwendigkeit einer Vertretung der sozialpolitischen Interessen der Handlungsgehülfen und macht den älteren Vereinen zum Vorwurf, daß sie durch ungenügende Vertretung derselben den Rückgang des Standes verschuldet hätten.

Infolge hiervon ist auch das äußere Auftreten ein verschiedenes. Anklagen gegen den Geist des Mammonismus, und die daraus folgende soziale Zerklüftung, über den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital und die Gefahr der Herabdrückung der Handlungsgehülfen in das Proletariat geben den öffentlichen Erklärungen des Verbandes ein ganz anderes, moderneres Gesicht, als den älteren Vereinen; der Sozialdemokratie steht es durchaus fern, scheint aber im Gegenteil die Elemente, die sonst vielleicht für sie zu haben sein würden, an sich zu ziehen, weshalb er von ihr heftig bekämpft wird. Einen einseitigen Karakter erhält der Verband durch die Bestimmung des Statutes, daß Juden von der Mitgliedschaft ausgeschlossen sind, wie denn auch die antisemitische Partei ihm ihre Unterstützung leiht, obgleich eine verletzende Form der Geltendmachung dieses Standpunktes bisher nicht hervorgetreten ist. Immerhin ist er der Grund gewesen, weshalb die Anmeldung des Verbandes zum Beitritte in den „Deutschen Verband kaufmännischer Vereine“ in dessen Generalversammlung vom Sommer 1896 zurückgewiesen wurde.

Aus den Statuten ist Folgendes zu erwähnen:

Der Verband steht treu zu Kaiser und Reich. Er hat den Zweck, durch Zusammenschluß der Berufsgenossen die soziale Lage derselben zu heben, deren Interessen überall, wo es notwendig ist und sie bedroht sind, thatkräftig zu vertreten[Pg 365] und durch geeignete Maßnahmen für die Erhaltung des Ansehens des gesamten Handelsstandes zu wirken.

Der Verband erachtet es als seine besondere Aufgabe, in diesem Sinne auf Behörden und gesetzgebende Körperschaften einzuwirken.

Parteipolitische und religiöse Bestrebungen innerhalb des Verbandes sind ausgeschlossen.

Mittel zum Zweck sind dem Verbande ferner die Selbsthülfe zur Schaffung wirtschaftlicher Vorteile für die Mitglieder durch seine Abteilungen und seine Bestrebungen zur Durchführung sozialer Reformen im Handelsstande, und zwar:

1. Festlegung eines Maximal-Arbeitstages nach Eigenart der Geschäftszweige,
2. Einführung einer ununterbrochenen Sonntagsruhe von 36 Stunden.
3. Festlegung einer einheitlichen Geschäfts- und Ladenschlußstunde für die Gehülfen.
4. Einführung einer Kündigungsfrist von sechs Wochen vor jedem Kalendervierteljahre, welche nicht durch Sonderabmachungen zwischen Prinzipal und Gehülfen verkürzt werden kann.
5. Eine vereinbarte längere Kündigungsfrist muß für beide Teile gleich sein.
6. Vereinbarungen mit Prinzipalen, die sich auf die Thätigkeit der Gehülfen nach Austritt aus dem Geschäfte erstrecken, sind als ungültig anzusehen.
7. Stellung der Streitigkeiten zwischen Prinzipalen und Gehülfen unter besondere kaufmännische Schiedsgerichte, die nach Art der bestehenden Gewerbegerichte einzurichten und diesen anzugliedern sind.
8. Schaffung eines bestimmten Verhältnisses zwischen der Zahl der Gehülfen und Lehrlinge in einzelnen Geschäften.
9. Obligatorischer Fortbildungs-Unterricht während der Tagesstunden in staatlichen Fachschulen für alle Lehrlinge und Handlungsgehilfen unter 18 Jahren.
10. Beschränkung der Verwendung weiblicher Arbeitskräfte auf solche Geschäftszweige, für welche besondere weibliche Fähigkeiten unumgänglich erforderlich sind.

Der Sitz des Verbandes ist Hamburg. Er zerfällt in Ortsgruppen und Gauverbände. Organ desselben ist die aus den ursprünglich begründeten „Mitteilungen des Deutschen Handlungsgehülfenverbandes“ hervorgegangene 2mal monatlich erscheinende „Deutsche Handelswacht.“

[Pg 366]

Die Mitgliederzahl ist von 76 am 1. Januar 1895 auf 570 am 1. Januar 1896, auf 2350 am 1. Januar 1897, auf 7735 am 1. Januar 1898, auf 18277 am 1. Januar 1899 und auf 28992 am 10. Juli 1899 in 367 Ortsgruppen gestiegen.

Der Verband betont in seiner hauptsächlich gegen die alten Vereine, insbesondere der Hamburger Vereine von 1858 und der Leipziger Verband gerichteten Agitation in erster Linie, daß diese das Uebel nicht an der Wurzel angefaßt hätten. Er legt deshalb das Hauptgewicht auf Beschränkung der Arbeitszeit durch die Einführung eines Maximalarbeitstages nach der Art der Geschäfte, des Achtuhr-Ladenschlusses und völliger Sonntagsruhe von Sonnabend Abend bis Montag Morgen. Daneben fordert man Beschränkung der Frauenarbeit auf solche Beschäftigungen, in denen diese aus Rücksichten des Anstandes geboten ist. Neben obligatorischen Fortbildungsschulen für die Lehrlinge soll die Zulassung zum Gehülfen von einer Prüfung vor einer Kommission abhängig gemacht und eine bestimmte Skala für das Verhältnis der in denselben Geschäfte zulässigen Gehülfen und Lehrlinge eingeführt werden, daneben ist der Verband für das Verbot der Konkurrenzklausel, für Aufrechterhaltung der bisherigen gesetzlichen Kündigungsfrist von 6 Wochen und für kaufmännische Schiedsgerichte eingetreten.

Obgleich der Verband hiernach die schärfere Interessenvertretung auch gegenüber den Prinzipalen betont, hat er doch 1026 derselben als unterstützende Mitglieder d. h. ohne Stimmrecht aufgenommen. Auch Stellenvermittelung und Rechtsschutz gewährt der Verband, wie die älteren Vereine.

Aus dem Geschäftsberichte für 1898 ist hervorzuheben, daß der Verband neben der Errichtung kaufmännischer Fortbildungsschulen, insbesondere Einführung des Schulzwanges und für Handlungsgehülfenkammern, auch für eine Umsatzsteuer auf Warenhäuser und Ramschlager eingetreten ist und auf dem zweiten vom 10–11. April 1898 in Leipzig abgehaltenen Verbandstage die Errichtung einer eigenen Verbandskrankenkasse beschlossen hat. Der Verband hat 18 besoldete Beamte und eine Versicherung gegen Stellenlosigkeit; er ist dem deutschen Verbande für das kaufmännische Unterrichtswesen, dem Verbande deutscher Arbeitsnachweise, dem deutschen Sprachvereine und dem alldeutschen Verbande beigetreten. Der Verbandsvorsitzende Schack hat bei den letzten Reichstagswahlen in 2 Bezirken kandidiert und 5106 bezw. 5065 Stimmen erhalten; 20 Abgeordnete haben sich als Kandidaten verpflichtet, für seine Forderungen einzutreten. Die Stellenvermittelung hat 1898 nur 214 Stellen vermittelt, doch betont der Bericht, daß eben der Verband den Grundsatz der alten Vereine, nur immer Hand in Hand mit den Prinzipalen zu gehen, um die Stellenvermittelung nicht zu schädigen, nicht anerkenne, daß er auch Stellen in[Pg 367] jüdischen Geschäften, Stellen mit Konkurrenzklauseln, kurzer Kündigungsfrist u. dergl. nicht vermittele.

Der Verband hat auch die Schaffung einer Gesamtvertretung der deutschen Handlungsgehülfen in die Hand genommen durch Berufung von Handlungsgehülfentagen, von denen der erste am 6. April 1896 in Hamburg, der zweite am 19. April 1897 in Berlin, der dritte am 11. April 1898 in Leipzig und der vierte am 3. April 1898 in Kassel stattgefunden hat. Auf dem ersten waren 31, auf dem zweiten 185, auf dem dritten 326 und auf dem vierten 738 Städte durch etwa 800 Abgesandte vertreten. Gegen den Vorwurf antisemitischer Richtung wurde protestiert, auch waren in Kassel alle nationalen Parteien des Reichstages eingeladen, jedoch war nur die deutsch-soziale Reformpartei durch Abgeordnete vertreten. Man faßte Beschlüße zu Gunsten des gesetzlichen Achtuhr-Ladenschlußes, der Einführung kaufmännischer Schiedsgerichte unabhängig von den Gewerbegerichten und der Bekämpfung der Warenhäuser. Ebenso forderte man im Gegensatz zu dem Verbande kaufmännischer Vereine, der sich für Befreiung der Handlungsgehülfen von der Invaliditäts- und Altersversicherung ausgesprochen hatte, die Beibehaltung des Versicherungszwanges unter Ausdehnung auf alle Handlungsgehülfen ohne Rücksicht auf die Höhe des Gehaltes, ferner Einführung höherer Lohnklassen mit höheren Beiträgen und Renten und möglichste Herabsetzung der Altersgrenze sowie Zulassung der Selbstversicherung für selbständige Kaufleute. Endlich befürwortete man, daß die Handlungsgehülfen versuchen möchten, aus ihren Reihen Abgeordnete in den Reichstag zu wählen, daß sie aber jedenfalls ohne Unterschied der Parteistellung nur solche Kandidaten unterstützen sollten, die sich verpflichten, für die Forderungen des Standes einzutreten. Während man an den ersten drei Tagen Huldigungstelegramme an den Kaiser gesandt hatte, wurde in Kassel hiervon mit der Begründung Abstand genommen, daß man bisher niemals einer Antwort gewürdigt sei und man nicht den Schein der Aufdringlichkeit auf sich laden wolle. Der Vorsitzende erklärte unter stürmischen Beifalle, die deutsch-nationalen Handlungsgehülfen pflegten nicht zu antichambrieren, sondern würden mit aller Kraft den Augenblick zu erkämpfen versuchen, wo die Großen der Erde gezwungen seien, mit der Bewegung zu rechnen.

c) Verein für kaufmännische Angestellte[161]).

Der Verein ist hervorgegangen aus dem kaufmännischen Verein in Frankfurt a. M. Derselbe besaß die „Kaufmännische Presse“ als Vereinsorgan, das sich unter Leitung des bekannten sozialdemokratischen Redakteurs Dr. Quarck[Pg 368] befand. Zwischen ihm und dem Vereinsvorsitzenden Schäfer war es wegen der Haltung des Blattes mehrfach zu Reibungen gekommen, die dazu führten, daß der Verein beschloß, das Blatt am 1. Juli 1894 eingehen zu lassen. Unter diesen Umständen thaten sich die Anhänger Quarck's zusammen, gründeten einen eigenen „Verein für kaufmännische Angestellte“ und beschlossen, die „Kaufmännische Presse“ unter Leitung Dr. Ouarck's als ihr Organ fortzuführen. Der neue Verein beantragte seine Zulassung zu dem „Deutschen Verbande kaufmännischer Vereine“, die auch in der Generalversammlung in München mit 44 gegen 41 Stimmen gegen den Widerspruch des „Kaufmännischen Vereins“ beschlossen wurde. Aber schon in der Generalversammlung vom 8./9. Juni 1896 in Berlin wurde der Antrag auf Ausschluß mit 78 gegen 27 Stimmen angenommen.

Der Verein wollte nicht als sozialdemokratisch gelten, aber es machte sich doch von Anfang an ein gewisser Gegensatz zwischen den sozialdemokratischen und den übrigen Mitgliedern geltend, insbesondere wurde von den letzteren gegen Quarck der Vorwurf eines zu radikalen Vorgehens erhoben. Dies führte dahin, daß in der Vereinsversammlung am 23. Juli 1896 der Beschluß gefaßt wurde, zu erklären, daß die Versammlung mit Ton und Haltung, wie sie in dem Vereinsorgane in der letzten Zeit zum Ausdruck gekommen seien, nicht einverstanden sei. Die Folge dieses Beschlusses war, daß Quarck seine Redaktion niederlegte, daß aber auch eine Anzahl seiner Gesinnungsgenossen mit ihm aus dem Vereine austrat. Da andrerseits zu Beginn des Jahres eine größere Anzahl Mitglieder wegen der von ihnen mißbilligten durch Quarck verfolgten Politik ausgetreten waren, so war das Ergebnis eine doppelte Schwächung des Vereins und ein Herabgehen der Mitgliederzahl von 439 auf 319.

Nach seinen Statuten ist der Zweck des Vereins „die Hebung der sozialen Lage der Handlungsgehülfen durch Zusammenschluß und Fortbildung derselben, sowie durch Einwirkung auf Behörden und Gesetzgebung“. Parteipolitische und religiöse Zwecke sind ausgeschlossen. Als Mittel hierzu sollen dienen: öffentliche Versammlungen, Herausgabe der „Kaufmännischen Presse“, kostenlose Stellenvermittelung, fach- und wissenschaftliche Vorträge, Unterhaltung einer Bibliothek, Erteilung von Rechtsauskunft und Vertretung vor Gericht, sowie Pflege der Geselligkeit. Mitglied kann werden, wer die Zwecke des Vereins anerkennt.

Daß der Verein eine größere äußere Bedeutung nicht gewonnen hat, mag die Folge seiner Stellung sein. Einerseits bekämpft er die alten Vereine, insbesondere den Hamburger und den Leipziger, denen er zum Vorwurfe macht, daß sie nur Geselligkeit und Unterstützungswesen betrieben, während er die energische Vertretung der sozialen Interessen des Gehülfenstandes sich zur Aufgabe[Pg 369] gestellt habe, anderseits befindet er sich in Gegensatz nicht allein zu der Sozialdemokratie, sondern auch zu dem deutsch-nationalen Verbande, dem er zünftlerische Bestrebungen vorwirft. Die Wirksamkeit des Vereins hat sich deshalb bisher wesentlich auf Abhaltung von Agitationsversammlungen und Eingaben an Behörden beschränkt. Eine besondere von ihm erhobene Forderung ist neben den kaufmännischen Schiedsgerichten, der vollständigen Sonntagsruhe und dem Acht-Uhr-Ladenschlusse noch ferner die Anstellung von Handelsinspektoren. Die von dem Vereine veranstalteten Vorträge, zu denen er u. a. auch dem Pfarrer Naumann herangezogen hat, behandeln überwiegend sozialpolitische Gegenstände; schönwissenschaftliche Themata sind ausgeschlossen.

d) Zentralverband der Handlungsgehülfen und -Gehülfinnen Deutschlands.

Bis Ende der 80er Jahre hatten die sozialdemokratischen Anschauungen unter den Handlungsgehülfen wenig Boden gefunden, und nur in Berlin hatte sich Ende 1889 eine „Freie Vereinigung der Kaufleute“ gebildet. Nach ihrem Vorbilde wurden in den nächsten Jahren in Leipzig, Hamburg, Dresden, München, Stuttgart, Hannover, Elberfeld und Krefeld ähnliche „freie Vereinigungen“ ins Leben gerufen. Dieselben waren ausschließlich lokal organisiert und hatten zunächst keine Verbindung untereinander. Eine solche wurde erst hergestellt durch die Gründung des Blattes „Der Handelsangestellte“ in Berlin, dessen erste Nummer am 1. Oktober 1892 erschien. Dasselbe stellte sich auf den Boden der „modernen Arbeiterbewegung“ und trat offen für die sozialdemokratische Partei ein.

Gegenüber dieser Organisation entstand eine neue Bewegung, die freilich ebenfalls „auf dem Boden des Klassenkampfes“ stand und die Harmonie der Interessen zwischen Prinzipalen und Gehülfen bestritt, sich deshalb an die „klassenbewußten Handlungsgehülfen“ wandte und gegen den „Standesdünkel“ auftrat, der bisher die Handlungsgehülfen gehindert habe, sich als Lohnarbeiter zu fühlen, die aber die formelle Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei ablehnte. Die Anhänger dieser Richtung traten am 7. Juni 1897 in Leipzig zu einer freien Konferenz zusammen, auf der man nach Entgegennahme der Mitteilung, daß eine Verständigung mit den Berlinern ebenso wie mit den freien Vereinigungen in Stuttgart, München und Dresden nicht zu erreichen gewesen sei, den „Zentralverband der Handlungsgehülfen und -Gehülfinnen Deutschlands“ ins Leben rief, an dem sich zunächst nur die Gehülfen aus Chemnitz, Frankfurt a. M., Fürth, Hamburg und Leipzig beteiligten. Nach dem angenommenen Programm ist der Zweck des Verbandes die Erzielung möglichst günstiger Anstellungsbedingungen und gesetzlicher Beschränkung der[Pg 370] Arbeitszeit, berufsstatistische Ermittelungen, Rechtsschutz und Stellennachweis. Parteipolitische Bestrebungen sind ausgeschlossen. Die Einführung einer Unterstützung für Stellenlose wurde vorläufig noch zurückgestellt. Der Verband trat mit dem 1. Juli 1897 ins Leben und hat sich der „Generalkommission für die Gewerkschaften Deutschlands“ angeschlossen. Er besitzt ein eigenes Organ in dem „Handlungsgehülfenblatte“, dessen erste Nummer am 5. Juli 1897 erschien.

In der am 30. Mai 1898 in Frankfurt abgehaltenen ersten Generalversammlung wurde berichtet, daß sich in Elberfeld, Krefeld und Breslau neue Ortsvereine gebildet hätten und die Mitgliederzahl 337, darunter 54 weibliche, beträge. Man nahm eine Resolution an, die den grundsätzlichen Standpunkt festlegen soll und folgenden Wortlaut hat.

„Der Zentralverband der Handlungsgehülfen und -Gehülfinnen Deutschlands erkennt, daß im Handelsgewerbe eine wirtschaftliche Entwickelung wirksam ist, welche dahin geht, einerseits durch immer kapitalkräftigere Verkaufsgeschäfte für die verschiedensten Artikel an den Mittelpunkten des Verkehrs (Bazare, Warenhäuser) die kleineren Geschäfte und damit auch die Möglichkeit zu vernichten, daß die Mehrzahl der Gehülfen selbständig werden kann, andererseits durch immer größere Arbeitsteilung in den Engros- und Bankgeschäften, sowie durch umfassende Heranziehung weiblicher Kräfte die Stellung der Handlungsgehülfen immer unsicherer und weniger lohnend zu machen.

Diese Entwickelung entspricht in vielen Punkten derjenigen in anderen modernen Gewerben und ist vom Standpunkt der von ihr nachteilig Betroffenen zu bedauern, aber durch keine Mittel aufzuhalten und nur durch schließliche Beseitigung des jetzigen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zu überwinden.

Für die nächste Zeit erscheint dem Z.-V. d. H. u. -G. D. der Schutz der in bezahlter Arbeit bei den Handelskapitalisten stehenden männlichen und weiblichen Kräfte durch einheitliche Organisation als das einzige Mittel, diese Kräfte vor dem Herunterdrücken auf eine immer tiefere Kulturstufe zu bewahren. Er empfiehlt deshalb allen männlichen und weiblichen Handlungsgehülfen Deutschlands das Eintreten für folgende Forderungen:

1. Einführung des gesetzlichen Achtuhr-Ladenschlusses; Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden unter Festsetzung eines Uebergangsstadiums.
2. Obligatorischer Fortbildungsschulunterricht während täglich zwei Stunden des Vormittags für Angestellte unter 18 Jahren.
3. Vollständige Sonntagsruhe von mindestens 36 Stunden.
4. Gesetzliches Verbot aller Abzüge vom Gehalt, außer derjenigen für Versicherung. Bessere Anpassung der Versicherungsgesetze an die Bedürfnisse der Handlungsgehülfen.[Pg 371]
5. Errichtung kaufmännischer Schiedsgerichte im Anschluß an die Gewerbegerichte unter Hinzuziehung von Gehülfen.
6. Handelsinspektion nach Art der Gewerbeinspektion und im Anschluß an dieselbe.
7. Verbot der Konkurrenzklausel.
6. Gesetzliche Verpflichtung des Prinzipals, das Gehalt während militärischer Uebung des Gehülfen diesem bis zu sechs Wochen weiter zu bezahlen.

Damit diese Forderungen mit viel größerem Nachdruck als bisher vertreten werden können, ist es nötig, daß alle gesetzlichen und polizeilichen Beschränkungen des Vereins- und Versammlungsrechts fallen und daß die bezahlten Kräfte im Handelsgewerbe sich einheitlicher als bisher ohne Unterschied der Konfession, der Geschäftsstellung und des Geschlechts im Z.-V. d. H. u. -G. D. organisieren.“

Es wurde mitgeteilt, daß die Einigungsversuche mit den Vertretern des „Handelsangestellten“ wegen Aussichtslosigkeit aufgegeben seien.

Trotzdem ist eine Verschmelzung auf der am 2. Oktober 1898 in Berlin abgehaltenen Konferenz zustande gekommen, und zwar dahin, daß die beiden Fachblätter vereinigt werden und das neue Organ unter dem Titel „Handlungsgehülfenblatt“ in Berlin erscheint. Die „freie Vereinigung der Kaufleute“ in Berlin hat dann an einer an demselben Tage abgehaltenen Generalversammlung mit 37 gegen 12 Stimmen sich zu Gunsten des Zentralverbandes aufgelöst, wobei in den Verhandlungen die Ansichten darüber auseinandergingen, ob der bisherige Gegensatz nur ein taktischer oder ein prinzipieller sei. Auch die freien Vereinigungen in München und Dresden sind diesem Beispiele gefolgt. Die Mitgliederzahl des Zentralverbandes ist dadurch auf etwa 1000 gestiegen.

Der Verband führt einen lebhaften Kampf nicht nur gegen die alten Vereine, sondern auch gegen den deutsch-nationalen Verband, dem er vorwirft, sich durch seine zünftlerischen Bestrebungen in den Dienst der Prinzipale und der antisemitischen Partei gestellt zu haben, insbesondere habe er dies durch sein Eintreten für eine Umsatzsteuer auf Warenhäuser bewiesen. Auch gegen den „Verein für kaufmännische Angestellte“ nimmt der Zentralverband eine unfreundliche Haltung ein. Er beruft sich mit Nachdruck darauf, daß er die einzige Vereinigung sei, die Prinzipale nicht aufnehme und deshalb in der Lage sei, die Interessen der Gehülfen nachdrücklich zu vertreten.

[Pg 372]

11. Konfessionelle Arbeitervereine.
A. Evangelische[162].

Die evangelischen Arbeitervereine[163] bestanden in Bayern schon seit dem 50er Jahren, hatten dort aber wesentlich den Karakter der Männer- und Jünglingsvereine ohne soziale Ziele. Die Anregung, Vereine mit sozialpolitischen Zwecken zu schaffen, wurde erst dadurch geboten, daß in den bestehenden christlich-sozialen Vereinen, obgleich sie konfessionslos sein wollten, der katholische Einfluß sich in einer den evangelischen Interessen zuwiderlaufenden Weise geltend machte. Der erste Verein dieser Art wurde am 2. Pfingsttage des Jahres 1882 in Gelsenkirchen insbesondere unter der Führung des Bergmanns Fischer mit 57 Mitgliedern gegründet. Obgleich bei dem Beginne der Bewegung die evangelische Geistlichkeit nicht unmittelbar beteiligt war, hat sie sich bald derselben lebhaft angenommen und meist die geistige Führerschaft erhalten, obgleich man daran festhielt, die formelle Leitung den Arbeitern selbst zu überlassen. Im Jahre 1885 gab es schon 25 Vereine mit 11700 Mitgliedern, 1887 44 Vereine mit 17000 und 1890 95 Vereine mit 28000 Mitgliedern.

Während bis dahin die Bewegung vorzugsweise auf Rheinland-Westfalen beschränkt geblieben war, wo auch die Vereine 1885 sich zu einem Provinzialverbande zusammengeschlossen hatten, begann seit 1888 auch in dem übrigen Deutschland die Bildung von Vereinen und Verbänden, und am 6. August 1890 wurde endlich in Erfurt der Gesamtverband evangelischer Arbeitervereine Deutschlands begründet. Schon 1885 hatte man sich in dem „Evangelischen Arbeiterboten“, der in Hattingen a. Ruhr erscheint, ein Organ geschaffen, das demnächst von dem Gesamtverbande übernommen wurde.

Ganz genaue Mitgliederzahlen sind nicht zu erhalten. Nach Angaben der Beteiligten gab es 1893 230 Vereine mit 73000 Mitgliedern. Eine möglichst genaue Statistik, deren Zuverlässigkeit freilich von anderer Seite bestritten ist, hat im Winter 1895/96 der Redakteur des Evangelischen Arbeiterboten Holthoff durch Umfrage bei den einzelnen Vereinen unternommen und in Nr. 13–22 seines Blattes von 1896 veröffentlicht. Danach gab es damals folgende Verbände:

[Pg 373]

1. Rheinland-Westfalen mit 118 Vereinen und 28245 Mitglieder
2. Saargebiet   17   3114
3. Rheinpfalz   15   2338
4. Kurhessen     6   1250
5. Mittelrhein   14   2896
6. Mitteldeutschland   21   5196
7. Baden   18   2697
8. Württemberg   22   2358
9. Schleswig-Holstein     5   1123
10. Plauenscher Grund     2     254
Außerdem gehörten zum
Gesamtverbande als einzeln
stehend, d. h. nicht den
Landesverbänden
angeschlossen
  19   4240
Der Gesamtverb. umf. also 257 53721
Außerhalb desselben standen
noch Vereine in Bayern, Sachsen,
Schlesien und an einzelnen
andern Orten. Die Statistik
zählt
           
in Bayern   22   4788
Sachsen   15   3936
Sachlesien     5     689
an andern Orten     9   1312
insgesamt   51 10725

so daß sich die Zahl aller Vereine auf 308 mit 64446 Mitgliedern belaufen würde, doch ist die Statistik aus Bayern unvollständig; die Mitgliederzahl des Bayrischen Verbandes wurde in der Generalversammlung von 1896 auf 8000 angegeben. Sachsen und Schlesien sind seit 1897 dem Gesamtverbande beigetreten.

Die neuesten Ziffern bietet ein von dem Vorsitzenden des Gesamtverbandes Pfarrer lic. Weber in Mönchen-Gladbach im Frühling 1898 gehaltener Vortrag. Danach gab es: in Ostpreußen 8 Vereine mit 2000 Mitgliedern, in Westpreußen 1 Verein mit 450 Mitgliedern, in Schlesien 8 Vereine mit 2854 Mitgliedern, in Pommern 6 Vereine mit 548 Mitgliedern, in Brandenburg 10 Vereine mit 2100 Mitgliedern, in der Provinz Sachsen 16 Vereine mit 4436 Mitgliedern, in Hannover 3 Vereine, in Schleswig-Holstein 7 Vereine mit 1186, in der Provinz Hessen 12 Vereine mit 3156 Mitgliedern, im Saargebiete[Pg 374] 19 Vereine mit 3000 Mitgliedern, im übrigen Rheinland und Westfalen 116 Vereine mit 26641 Mitgliedern die in dem Provinzialverbande zusammengefaßt waren und daneben noch im Rheinland 18 Vereine mit 6135 Mitgliedern und in Westfalen 10 Vereine mit 1000 Mitgliedern, im Königreich Sachsen 16 Vereine mit 9000 Mitgliedern, in Braunschweig 1 Verein mit 106 Mitgliedern, im Großherzogtum Hessen 5 Vereine mit 1300 Mitgliedern, in Baden 20 Vereine mit 2400 Mitgliedern, in Württemberg 35 Vereine mit 2915 Mitgliedern, in der Rheinpfalz 23 Vereine mit 2889 Mitgliedern, im übrigen Bayern 23 Vereine mit 4988 Mitgliedern. Das giebt eine Gesamtzahl von 359 Vereinen mit 76998 Mitgliedern, von denen allein auf Rheinland-Westfalen 36776 Mitglieder entfallen. Da viele Vereine dem Verbande nicht angehören, so kann man die Gesamtzahl der Mitglieder auf eben 90 000 veranschlagen. Außer dem Evangelischen Arbeiterboten bestehen noch die „Württembergische Arbeiterzeitung“ und das „Sächsische Evangelische Arbeiterblatt“. Das frühere „Hamburger Volksblatt“ ist seit Herbst 1895 eingegangen. Ebenso hat die „Christlich-soziale Volkszeitung“ in Erfurt, die an die Stelle der mit dem 1. April 1896 eingegangenen „Erfurter Arbeiterzeitung“ getreten war, seit Anfang 1898 ihr Erscheinen eingestellt. Im Gesamtverbande bestehen 96 Bibliotheken. Die Vereine haben zusammen ein Vermögen von 152233 Mk. in baren Gelde, wozu noch Mobilien im Werte von 62858 Mk. und Immobilien im Werte von 337500 Mk. kommen.

Die Statuten der Vereine sind meist demjenigen des Gelsenkirchener Vereins genau nachgebildet und lauten in den wesentlichen Punkten:

Der Verein steht auf dem Boden des evangelischen Bekenntnisses und hat den Zweck:

1. unter den Glaubensgenossen das evangelische Bewußtsein zu wecken und zu fördern,
2. sittliche Hebung und allgemeine Bildung seiner Mitglieder,
3. Wahrung und Pflege eines friedlichen Verhältnisses zwischen Arbeiter und Arbeitgeber,
4. Unterstützung seiner Mitglieder in Krankheits- und Todesfällen.

Diese Zwecke sollen erreicht werden durch Verbreitung nützlicher Schriften, durch Vorträge und durch Gründung einer Kranken- und einer Sterbekasse. Mitglied kann jeder evangelische Berg-, Hütten- und Tagearbeiter, sowie jeder Handarbeiter des betreffenden Bezirks werden, der sich im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindet und eines unbescholtenen Rufes erfreut. Mitglieder, die das Versprechen katholischer Kindererziehung geben, werden ausgeschlossen.

In den Satzungen des Gesamtverbandes heißt es ferner:

[Pg 375]

§ 1. „Die deutschen evangelischen Arbeitervereine und ähnliche auf christliche patriotischem Grunde stehenden Bürger-, Volks- und soziale Vereine, deren Grundkarakter evangelisch ist, bilden auf Grund der nachfolgenden Satzungen einen Gesamtverband mit einer einheitlichen Spitze. Ueber die Aufnahme von Vereinen entscheidet das geschäftsführende Komitee unter Vorbehalt der nachträglichen Genehmigung des Ausschusses. Vereine mit politischem Karakter sind ausgeschlossen.
§ 2. „Der Zweck des Gesamtverbandes ist:
  a) den Zusammenschluß der Vereine nach Provinzial- und Landesverbindungen ins Werk zu setzen, um so die schwächeren Vereine durch Zusammenschluß mit den größeren zu stärken,
  b) die Bildung neuer Vereine zu fördern,
  c) die Presse zu beeinflussen,
  d) über Maßregeln zur Hebung der wirtschaftlichen Lage und der sittlich religiösen Haltung der arbeitenden Brüder zu beraten und zu beschließen,
  e) den Kampf gegen die Irrlehren der Sozialdemokratie durch Volksversammlungen, Flugblätter und dgl. gemeinsam und planmäßig zu führen.“
  Vereine mit politischem Karakter sind ausgeschlossen.

Um diese Aufgaben zu erfüllen, sind wiederholt von den leitenden Personen empfohlen: freie Diskussionen und die Errichtung einer Rednerbildungsanstalt, sowie die Gründung einer Arbeiterzeitung in großem Stile, Bildung von Hülfs-, Kranken- und Begräbniskassen, sowie von Arbeitervereinshäusern, gemeinsame Anschaffung von Lebensmitteln, Auskunftserteilung in wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen und Gründung von Berufsabteilungen; doch ist von diesen Vorschlägen nicht viel verwirklicht. Immerhin haben die Vereine nach dieser Richtung, sowie zur Begründung von Spar- und Bauvereinen, Arbeitsnachweis, Volksbureaus, Aerztekassen und durch Eingaben an die Behörden und den Reichstag vielfach in sozialem Sinne anregend gewirkt. Die einzige gemeinsame Einrichtung ist die „Kranken- und Sterbekasse evangelischer Arbeitervereine, eingeschriebene Hülfskasse“ in Mönchen-Gladbach; neben ihr besteht eine besondere Sterbekasse des evangelischen Arbeitervereins von Dresden und Umgegend. Eine am 10. Oktober 1898 in Nürnberg abgehaltene und von 65 Vereinen beschickte Bundeskonferenz der Bayrischen Evangelischen Arbeitervereine hat beschlossen, eine Zentralkasse für Unterstützung bei Krankheit und unverschuldeter Arbeitslosigkeit zu gründen.

Was den sozialpolitischen Standpunkt der Vereine betrifft, so läßt sich derselbe nicht für alle gemeinsam bezeichnen, vielmehr besteht in dieser Beziehung[Pg 376] eine so große Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit der Anschauungen, das dadurch sogar der Bestand des Gesamtverbandes ernstlich in Frage gestellt ist. Man kann im wesentlichen drei Richtungen unterscheiden.

Die erste stützt sich auf die Bestimmung des Statutes, die das friedliche Einvernehmen mit den Arbeitgebern betont; sie will alle sozialreformerischen Bestrebungen, soweit sie über bloße Unterstützungszwecke hinausgehen, möglichst fern halten und kleidet dieses Verlangen in die Form einer Betonung der religiösen Aufgabe. Die Hauptvertreter dieser Richtung sind der Redakteur Quandel und der Fabrikant Franken in Bochum; sie wird deshalb meistens als die „Bochumer Richtung“ bezeichnet. Der „Evangelische Arbeiterbote“ wird im wesentlichen in ihrem Sinne geleitet.

In scharfem Gegensatze zu ihr steht die zweite durch Naumann vertretene Richtung, die eine entschiedene sozialreformerische Haltung der Vereine fordert. Sie findet im allgemeinen ihre Anhängerschaft im Süden und wird durch die „Württembergische Arbeiterzeitung“ unterstützt. In neuester Zeit ist Dr. Maurenbrecher in einem Aufsatze der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ für eine völlige Umgestaltung der Vereine im Sinne dieser Anschauungen und offene Loslösung von der älteren Tradition eingetreten; der Aufsatz hat viel Aufmerksamkeit erregt, aber in den sächsischen Vereinen überwiegend Ablehnung gefunden.

Diese folgen nämlich, ebenso wie die „Sächsische Arbeiterzeitung“ selbst im allgemeinen der durch den zeitigen Vorsitzenden des Gesamtverbandes lic. Weber vertretenen dritten Richtung, die einen Mittelweg zu gehen sucht, indem sie freilich die sozialreformerischen Aufgaben betont wissen will, aber nicht allein ein möglichstes Hand-in-Hand-Gehen mit den Arbeitgebern wünscht, sondern vor allem gegen die Sozialdemokratie den Kampf bis aufs Messer führen will und jedes Zusammenarbeiten mit ihr auch auf rein praktischem Gebiete grundsätzlich ablehnt. Die einzige Ausnahme hat Weber neuerdings für Baugenossenschaften zugestanden.

Der Standpunkt des Gesamtverbandes ist niedergelegt in dem sog. evangelisch-sozialen Programm vom 31. Mai 1893, das folgenden Wortlaut hat:

„A. Grundlinien für ein evangelisch-soziales Programm als Anhalt für Vorträge und Diskussionen in den Evangelischen Arbeitervereinen.“

Wir stehen auf dem Grunde des evangelischen Christentums. Wir bekämpfen darum die materialistische Weltanschauung, wie sie sowohl zu den Ausgangspunkten als zu den Agitationsmitteln der Sozialdemokraten gehört, aber auch die Ansicht, daß das Christentum es ausschließlich mit dem Jenseits zu[Pg 377] thun habe. Das Ziel unserer Arbeit sehen wir vielmehr in der Entfaltung seiner welterneuernden Kräfte in dem Wirtschaftsleben der Gegenwart. Wir sind der Ueberzeugung, daß dieses Ziel nicht schon erreicht werden kann durch eine nur zufällige Verknüpfung von allerhand christlichen und sozialen Gedanken, sondern allein durch eine organische, geschichtlich vermittelte Umgestaltung unserer Verhältnisse gemäß den im Evangelium enthaltenen und daraus zu entwickelnden sittlichen Ideen. In diesen finden wir auch den unverrückbaren Maßstab rückhaltloser Kritik an den heutigen Zuständen, wie kraftvolle Handhaben, um bestimmte Neuorganisationen im wirtschaftlichen Leben zu fordern. Wir werden danach streben, daß diese Organisationen bei ihrer Durchführung in gleichem Maße sittlich erzieherisch wirken, wie technisch leistungsfähig und für alle Beteiligten nach dem Maße ihrer Leistung wirtschaftlich rentabel sind. Wir vermeiden es, unsere Forderungen aus irgend einer einzelnen nationalökonomischen Theorie herzuleiten. Dagegen erkennen wir eine unserer Hauptaufgaben darin, unsere Freunde vollständig und vorurteilslos über die schwebenden wirtschaftlichen Probleme aufzuklären. Wir erblicken in der wachsenden Konzentration des Kapitals in wenigen Händen einen schweren wirtschaftlichen Uebelstand, wir fordern daher vom Staate, daß er dieselbe nicht befördere, sondern ihr auf alle gesetzliche Weise entgegenwirke, auch auf dem Wege der Steuergesetzgebung. Unsere Forderungen werden wir formulieren von Fall zu Fall, nach dem Maße der wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnis des Wirtschaftslebens.

Zur Zeit stellen wir im einzelnen folgende auf:

I. Für den Großbetrieb:

Wir erkennen die hauptsächlich durch die Fortschritte der Technik hervorgerufene Großindustrie als wirtschaftliche Notwendigkeit an, halten es aber für unsere Pflicht, die im Großbetrieb beschäftigten Arbeiter im Streben nach Erhöhung und Veredelung ihrer Lebenshaltung, um größere ökonomische Sicherheit und den Schutz ihrer persönlichen Güter in Leben und Gesundheit, Sittlichkeit und Familienleben zu unterstützen.

Als Stärkungsmittel sehen wir an:

1. die bisherige staatliche Arbeiterversicherung, deren Vereinfachung und Ausdehnung wir wünschen;

2. die bisherige staatliche Arbeiterschutzgesetzgebung, deren Ausgestaltung wir fordern in Bezug auf:

a) angemessene Kürzung der Arbeitszeit (Maximal-Arbeitstag),

b) Einführung einer Sonntagsruhe von mindestens 36 Stunden,

c) gesunde Arbeitsräume,

[Pg 378]

d) Einschränkung aller dem Familienleben, der Gesundheit und Sittlichkeit schädlicher Frauen- und Kinderarbeit,

e) Verbot der Nachtarbeit außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach oder aus Gründen der öffentlichen Wohlfahrt einen fortlaufenden Betrieb nötig machen;

3. die Einführung obligatorischer Fachgenossenschaften, bezw. gesetzlich anerkannter Gewerkschaften;

4. die Sicherheit des vollen Koalitionsrechtes der Arbeiter;

5. die Einführung von Arbeitervertretungen oder Aeltestenkollegien in den einzelnen Fabriken;

6. die Umgestaltung der Staatsbetriebe in Musterbetriebe bei Gewährleistung der vollen persönlichen Freiheit der Arbeiter und Angestellten.

II. Für den Kleinbetrieb, sowie Handel und Gewerbe:

Die Vereine sind nicht der Meinung, daß der gesamte Kleinbetrieb dem Untergange verfallen ist. Sie treten daher für ihn ein, soweit er sich durch Ansätze energischer Selbsthilfe als lebensfähig erweist. Sie fordern:

1. für das Handwerk die Einführung einer korporativen Organisation und die Begründung und Förderung genossenschaftlicher Vereinigungen;

2. für den redlichen Handel und Gewerbebetrieb Schutz durch Beschränkung und Beaufsichtigung des Hausierhandels und der Abzahlungsgeschäfte, sowie durch Beseitigung der Wanderlager und Schleuderbazare;

3. eine Börsenordnung, durch die alle Börsengeschäfte soweit als möglich wirksamer staatlicher Aufsicht unterstellt werden und durch die besonders dem Mißbrauch der Zeitgeschäfte als Spielgeschäfte, namentlich in den für die Volksernährung wichtigen Artikeln entgegengetreten wird.

B. Arbeitsprogramm für die Evangelischen Arbeitervereine.

1. Die Vereine suchen die religiöse, geistige und sittliche Bildung ihrer Mitglieder zu heben.

2. Die Vereine fördern mit aller Kraft die Anhänglichkeit an Kaiser und Reich, Fürst und Vaterland.

3. Die Vereine suchen mit allen Kräften das Familienleben zu fördern, an dessen gottgewollter Ordnung sie festhalten. Sie treten darum nachdrücklich für Schaffung ausreichend großer, freundlicher, gesunder und billiger Wohnungen ein. Sie hoffen insbesondere die Unterstützung von Arbeiterbaugenossenschaften durch die Mittel des Staates (oder Altersversicherung), der Kommunen und reicher Kirchengemeinden.

[Pg 379]

4. Die Vereine nehmen sich auch der zeitweiligen wirtschaftlichen Notstände ihrer Mitglieder an durch Einführung von Darlehenskassen, Unterstützungskassen in Krankheits- und Sterbefällen, Arbeitsnachweisung, Arbeitslosen-Versicherung u. s. w. Diese Einrichtungen werden möglichst von Arbeitern selbst geleitet und sollen zugleich als Mittel dienen, sie in ihrem wirtschaftlichen Urteil zu schulen.

5. Sie wollen eine edle Geselligkeit und treue Kameradschaft unter ihren Mitgliedern pflegen.“

Als dieses Programm beschlossen wurde, standen die Beteiligten noch stark unter dem Einflusse der durch die kaiserlichen Februarerlasse eingeleiteten sozialpolitischen Strömung, die damals im wesentlichen noch als die herrschende anzusehen war. Es gab damals innerhalb der Evangelischen Arbeitervereine nur die beiden Richtungen, die man im allgemeinen als sozialkonserative und sozialliberale bezeichnen kann: die erstere war vertreten durch Weber, die zweite durch Naumann; auf einem zwischen jenen beschlossenen Kompromisse beruht das Berliner Programm. Die oben bezeichnete dritte, nationalliberale Richtung war noch nicht vorhanden oder wenigstens nicht öffentlich hervorgetreten. Aber je mehr der soziale Wind abflaute, kam sie zur Geltung und bald fühlte sie sich stark genug den Kampf aufzunehmen.

Bis zum Jahre 1896 war der Pfarrer Werth in Schalke, ein Mann der Vermittelung, Vorsitzender sowohl des Rheinisch-westfälischen Provinzialverbandes als auch des Gesamtverbandes gewesen. Bei seinem Tode trat im Provinzialverbande an seine Stelle der Fabrikant Franken. Im Gesamtverbande hätte die Besetzung des Postens eines ersten Vorsitzenden Anlaß zur Entfesselung des Streites geben müssen, allein das wurde verhindert durch die eigentümliche Stellung des Pfarrers Weber, der als stellvertretender Vorsitzender der gegebene Nachfolger zu sein schien. War er nämlich einerseits der Bochumer Richtung nicht willkommen, weil er ihr zu „sozial“ erschien, so galt er andererseits den sozialreformerischen Elementen schon deshalb als verdächtig, weil er in Anlaß des im Frühjahr 1896 erfolgten Ausscheidens Stöcker's aus dem evangelisch-sozialen Kongresse sich mit Stöcker solidarisch erklärt hatte und dadurch zum Kongresse und insbesondere zu der Naumann'schen Gruppe in einen ziemlich scharfen Gegensatz getreten war.

Die Folge dieser unklaren Verhältnisse war es, daß man auf dem Delegiertentage, der am 26./27. Mai 1896 in Frankfurt a. M. gleichzeitig mit dem evangelisch-sozialen Kongresse abgehalten wurde, von der Neuwahl eines ersten Vorsitzenden vorläufig absah. Daß übrigens die „soziale“ Richtung die Mehrheit hatte, ergab sich daraus, daß der von Weber eingebrachte und aus dessen angegebener Stellung zu erklärende Antrag, den nächsten Delegiertentag[Pg 380] unabhängig vom evangelisch-sozialen Kongreß abzuhalten, auf erfolgten lebhaften Widerspruch zurückgezogen wurde.

Aus den übrigen Verhandlungen des Delegiertentages ist zu erwähnen, daß beschlossen wurde, vom 15. August 1896 ab die Wanderunterstützung einzuführen die allen Mitgliedern gezahlt werden soll, welche dem Vereine mindestens 6 Monate angehören. Den Vereinen wurde ferner empfohlen Diskussionsabende zu veranstalten und in den Gemeinden auf Errichtung sozialer Kommissionen hinzuwirken, welche alle auf die Verhältnisse der städtischen Arbeiter, die Vergebung von Arbeiten, die Bau-, Wohnungs- und Mietverhältnisse, Fortbildungsschulen, Volks- und Wohlfahrtseinrichtungen und dgl. bezüglichen Vorlagen der städtischen Kollegien nach sozial-ethischen Gesichtspunkten prüfen oder denselben Gutachten zugehen lassen sollen, auch durch das Gewerbegericht mit Arbeitgebern und Arbeitern Fühlung zu halten und sich durch andere geeignete Persönlichkeiten, sowie durch Vertrauensmänner der verschiedenen Arbeiterorganisationen zu ergänzen haben. Hinsichtlich der Wohnungsfrage wurde nach ausführlicher Erörterung des Lechler-Schäffle'schen Wohnungsreformplanes beschlossen, in dieser Richtung bei dem Ministerium und den Volksvertretungen vorstellig zu werden, auch bei den Behörden auf eine energische polizeiliche Kontrolle der Arbeiterverherungen hinzuwirken. Endlich wurde beschlossen, die Anstellung weiblicher Hülfskräfte bei der Fabrikinspektion und die Verwendung der Gelder der Invaliditätsversicherungsanstalten für ausgedehnte Krankenfürsorge insbesondere in Genesungshäusern warm zu unterstützen, sowie eine Vereinfachung der bisherigen Sozialversicherung zu fördern. Auf die an die Vertreter aus Bayern gerichtete Anregung, den Anschluß ihrer Vereine an den Gesamtverband herbeizuführen, erwiderten diese, daß ihre Vereine dann als politische betrachtet und ihnen die Veranstaltung der bisher sehr beliebten Familienabende verboten werden würde. Ein Protest, der das Vorgehen des Freiherrn v. Stumm gegen die evangelischen Geistlichen im Saargebiete entschieden verurteilte, wurde unter lebhaftem Beifall einstimmig angenommen.

Die Bochumer Richtung glaubte aber unter der Gunst der immer mehr herrschend gewordenen antisozialen Strömung ihren Kampf weiter führen zu sollen. Das von dem Redakteur Quandel geleitete „Rheinisch-westfälische Tageblatt“ brachte mehrfache Artikel, in denen nicht allein im allgemeinen die Ansicht vertreten wurde, daß „die ganze Oeffentlichkeit bewußt oder unbewußt, absichtlich oder unabsichtlich, freiwillig oder gezwungen um das große Kalb des Sozialismus tanze,“ sondern geradezu die Behauptung aufgestellt wurde, das evangelische Vereinswesen drohe in der fortgesetzten Behandlung uferloser Doktrinen zu versanden und durch seine kathedersozialistischen Neigungen die vorhandenen Gegensätze zu erweitern; „alle die sozialpolitischen Vorträge, Debatten, Resolutionen,[Pg 381] Beschlüsse, Proteste, Berichtigungen, das ehrliche Bestreben, auf dem verführerischen Tanzboden sozialer Ideen sich mit ultramontanen, antisemitischen und anderen salonfähigen Sozialpolitikern in gleichem Tanze zu bewegen“, hätten aber bisher wenig Erfolg gehabt. Als Gegenmaßregel wurde in einem Aufrufe des Vorstandes des Bochumer Kreisverbandes am 17. Februar 1897 der Vorschlag gemacht, eine große humanitäre Verbandsanstalt zu begründen, die den greifbaren Mittelpunkt der gesamten sozialpolitischen Bestrebungen des Verbandes bilden und insbesondere den Zweck haben sollte, Feierabendhäuser für alte Arbeiter beiderlei Geschlechts, Rekonvaleszentenhäuser für erhaltungsbedürftige Mitglieder, Haushaltungsschulen für deren Töchter, Zusammenkunftsorte für Jünglinge, Erziehung der Waisen, Spar-, Kredit- und Lebensversicherungsanstalten, Arbeiterwohnungen u. s. w. in die Hand zu nehmen.

Gegen diesen Vorschlag wandte sich nicht nur Naumann, der ihn als den Versuch bezeichnete, die evangelischen Arbeitervereine zu Kleinkinderbewahranstalten zu machen, sondern auch Weber, der einerseits finanzielle und fachliche Gründe gegen denselben geltend machte, andererseits aber auch die Befürchtung aussprach, daß die Arbeitervereine dadurch von ihrer eigentlichen sozialen Thätigkeit abgelenkt werden sollten. Wie es scheint, war Weber durch die von der Stumm'schen Richtung gegen ihn erhobenen gehässigen Angriffe allmählich in eine schärfere Gegenstellung gegen den Unternehmerstandpunkt gedrängt, als früher, wie insbesondere darin hervortrat, daß er nicht allein sich an der Gründung des Christlichen Bergarbeitergewerkvereins beteiligt, sondern insbesondere gemeinschaftlich mit Hitze die Veranstaltung des am 1. Februar 1897 in Bochum abgehaltenen Bergarbeiterkongresses in die Hand genommen hatte.

Diese neue Gruppierung mußte natürlich in der nächsten Delegiertenversammlung ihren Ausdruck finden, ja er trat schon bei deren Vorbereitung hervor. Als nämlich der Ausschuß in seiner Sitzung in Kassel am 5. März 1897 den Beschluß, den Verbandstag am 20. April 1897 in Bochum abzuhalten, gefaßt und bereits die entsprechende öffentliche Bekanntmachung erlassen hatte, lehnte der Bochumer Kreisverein dies ab, so daß statt dessen Elberfeld gewählt werden mußte.

In seiner Eröffnungsrede betonte Weber, daß gegenüber dem kalten Winde der sozialen Reaktion der Verband sein soziales Programm nach oben und nach unten, nach rechts und links vertreten müsse und daß kein Unterschied der sozialen Richtungen, mögen sie christlich-sozial, evangelisch-sozial oder national-sozial sein, bestehen dürfe. Er erwähnte, daß aus dem Saarverbande zwei Vereine aus dem Grunde mit der Begründung ausgetreten seien, daß der Delegiertentag in Frankfurt „gegen den um die soziale Frage hochverdienten Freiherrn v. Stumm ein Mißtrauensvotum beschlossen habe“, eine[Pg 382] Mitteilung, die mit großer Heiterkeit aufgenommen wurde. Ebenso hatte der Verein in Hersfeld seinen Austritt angezeigt, nachdem sein Antrag, die Nationalsozialen aus dem Verbande auszuschließen, abgelehnt war. Der Redakteur Quandel erhob scharfe Vorwürfe nicht allein gegen den von Professor A. Wagner auf dem Bergarbeiterkongreß gehaltenen Vortrag, durch den er angeblich zum Streik angereizt habe, sondern auch gegen Weber, der den Krieg gegen das Kapital erklärt habe. Es gelang mit Mühe, die hochgehenden Wogen der hierdurch verursachten Debatte wieder soweit zu glätten, daß die Referate über Gründung eines Unterstützungsfonds für die Verbandsmitglieder im Falle unverschuldeter Arbeitslosigkeit, über Einführung von Arbeitsämtern, die Sonntagsruhe der Post- und Eisenbahnbeamten, städtische soziale Kommissionen, Zentralisation des Arbeitsnachweises, Unterhaltungsabende und Aenderung der Unfallgesetzgebung angehört werden konnten.

Man beschloß, durch freiwillige Beiträge einen Fonds zur Unterstützung bei Arbeitslosigkeit zu gründen. Hinsichtlich der Arbeitsämter forderte man Instanzen zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern mit folgendem Zusatz: »Insbesondere erkennen wir zur Verhütung von Streiks als notwendig an einerseits die getrennten Berufsorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch gesetzliche Anerkennung zu fördern, andererseits schon jetzt eine gemeinsame Organisation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in's Auge zu fassen und durch gesetzliche Bestimmungen Garantie dafür zu schaffen, 1., daß beide Teile stets in engster Fühlung bleiben und 2., daß bei ausbrechenden Streitigkeiten Instanzen vorhanden sind, die das Vertrauen beider Teile genießen und zu Ausgleichsversuchen nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind.

Hinsichtlich des Arbeitsnachweises wurde eine ausführliche Resolution angenommen, in der die Schaffung eines zusammenhängenden Netzes von Nachweisstellen gefordert wird; diese sollen unter gemeinsamer Verwaltung von Arbeitgebern und Arbeitern stehen und sich in Lohnstreitigkeiten nicht einmischen, deshalb auch in solchen Fällen ihre Thätigkeit nicht einstellen. In betreff der sozialen Kommissionen wurde der Beschluß des vorigen Delegiertentages in mehrfachen Punkten ergänzt. Der von Naumann geäußerten Ansicht, man solle nicht neben den bestehenden sozialistischen Gewerkschaften besondere christliche gründen, sondern durch Eintritt der religiös und vaterländisch gesinnten Arbeiter in jene Einfluß zu gewinnen suchen, trat Weber entgegen und vertrat den Standpunkt, daß grundsätzlich ein Zusammenarbeiten mit der Sozialdemokratie zu verwerfen sei.

Daß auf dem Delegiertentage die Bochumer Richtung in der Minderheit war, ist schon daraus zu ersehen, daß die Wahl des Redakteurs Quandel in[Pg 383] den Ausschuß abgelehnt wurde; Franken war nicht einmal vorgeschlagen. In der nächsten Ausschußsitzung, die am 28. Juni 1897 in Kassel stattfand, wurde sogar auf Antrag Weber's beschlossen: „Der Ausschuß erklärt, daß er jedem Versuche, die Rechtsbeständigkeit und Verbindlichkeit des evangelisch-sozialen Programmes der evangelischen Arbeitervereine (Berlin 1893) für die Mitglieder des Gesamtverbandes anzutasten, auf das allerentschiedenste entgegentreten wird und daß er diejenigen Verbände und Vereine, welche sich von diesem Programm lossagen sollten, nicht mehr als Glieder des Gesamtverbandes anerkennen kann.“ Dieser Beschluß wandte sich insofern gegen die Bochumer Richtung, weil aus deren Kreisen mehrfach das Berliner Programm und insbesondere die in demselben geforderte „Umgestaltung der Verhältnisse“ angegriffen und dessen Revision gefordert war.

Daß die Bochumer Richtung übrigens nicht einmal innerhalb des rheinisch-westfälischen Provinzialverbandes die Mehrheit hatte, zeigte sich auf dessen Verbandstage in Essen am 6. Februar 1898, indem hier bei der Neuwahl der bisherige Vorsitzende Franken und sein Gegenkanditat Niemeyer je 68 Stimmen erhielt. Nachdem Franken, zu dessen Gunsten das Los entschieden hatte, trotzdem zurückgetreten war, wurde Niemeyer gewählt. Auch Quandel lehnte die auf ihn gefallene Wahl ab.

Trotzdem setzten die Kreisverbände Bochum und Gelsenkirchen, die zusammen 27 Vereine umfassen, ihre Agitation fort und beschlossen auf einer Zusammenkunft in Bochum am 20. Februar 1898 das sog. Ultimatum, in welchem sie erklärten, fernerhin nur dann noch dem Verbande angehören zu können, wenn:

1. Die Bochumer Richtung eine genügende Vertretung in der Verbandsleitung erhalte,
2. der Kasseler Beschluß vom 28. Juni 1897 (wegen Verbindlichkeit des Berliner Programmes) in aller Form zurückgenommen werde,
3. der Verbandsagent Fischer nach seiner freien Ueberzeugung im Verbande thätig sein dürfe,
4. in spätestens 6 Wochen eine Verband-Vorstandssitzung zur Ordnung dieser Angelegenheiten berufen werde.

Punkt 3 bezieht sich darauf, daß gegen Fischer der Vorwurf erhoben war, daß er sich mehrfach in seiner Stellung als Verbandsagent in die Parteistreitigkeiten im Verbande eingemischt habe.

Um zu diesen Ultimatum Stellung zu nehmen, wurde am 9. März 1898 in Witten eine Ausschußsitzung des Provinzialverbandes abgehalten, in der man den aufgestellten Forderungen weit entgegen kam. Zu 1) wurde mit allen gegen 4 Stimmen (aus Bochum und Gelsenkirchen) erklärt, daß die letzten[Pg 384] Wahlen nicht im Gegensatze zu Bochum und Gelsenkirchen gethätigt seien und man bereit sei, den genannten Kreisverbänden bei künftigen Wahlen entgegenzukommen sowie dahin zu wirken, daß sie im Ausschusse des Gesamtverbandes vertreten seien. Der Antrag, Weber möge zu Gunsten eines Vertreters aus Bochum zurücktreten, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Zu 2) wurde den Vertretern aus Bochum und Gelsenkirchen anheimgestellt, entsprechende Anträge auf Aenderung des evangelisch-sozialen Programmes einzubringen und dabei erklärt, daß dasselbe überhaupt niemals als bindende Norm für die gesamte Thätigkeit der Vereine, sondern nur als Grundlinie und Grenzlinie für soziale Verträge und Diskussionen aufgefaßt sei. Zu 3) wurde dem Agenten Fischer zugesichert, daß er nach wie vor ungehemmt und unbeschränkt nach seiner freien Ueberzeugung im Verbande thätig sein dürfe, auch betont, daß ihm dies niemals bestritten sei. Nach der Beschlußfassung zu 2) hatten 4 Mitglieder aus Bochum und Gelsenkirchen die Sitzung verlassen, während 4 andere geblieben waren.

Da die Bochumer sich hiermit nicht für befriedigt erklärten, so fand am 1. April 1898 in Bochum nochmals eine Ausschußsitzung statt in der es nach scharfen Auseinandersetzungen und nachdem innerhalb der Opposition selbst verschiedentlich die Gefahr einer Spaltung betont war, gelang, eine Einigung dahin zustande zu bringen, daß, nachdem Quandel erklärt hatte, daß er das soziale Programm durchaus anerkenne, der Verbandsvorstand seinerseits die Gegenerklärung abgab, die Bochumer Richtung als voll und ganz berechtigt anzuerkennen. An die Stelle von Fischer, der auf sein Amt als erster Schriftführer freiwillig verzichtete, wurde Quandel gewählt.

Nachdem so die Einigung herbeigeführt war, erhielt sie auf dem am 12./13. April 1898 in Kassel abgehaltenen Delegiertentage des Gesamtverbandes noch dadurch, daß man Franken in den Verbandsausschuß wählte, ihre Bestätigung. Andererseits wurde Weber jetzt endlich zum ersten Vorsitzenden gewählt und erhielt außerdem noch dadurch eine Stärkung seiner Stellung, daß auch Stöcker als Vertreter des in Berlin neu gegründeten evangelischen Arbeitervereins in den Ausschuß aufgenommen wurde. In den Verhandlungen trat freilich der Gegensatz der Anschauungen noch mehrfach hervor, insbesondere bei den Erörterungen der Stellung des „evangelischen Arbeiterboten“, gegen dessen Leitung von Naumann ein Vorwurf daraus hergeleitet wurde, daß er bei der Reichstagswahl für den nationalliberalen Kandidaten in Bochum eingetreten war. Naumann betonte dabei, die evangelischen Arbeitervereine trenne von den Ultramontanen ihre evangelische, von den Sozialdemokraten ihre nationale, von den Nationalliberalen ihre soziale Gesinnung. Nach erregten Auseinandersetzungen würde ein Vermittelungsantrag Weber angenommen, daß die Vereine für keine bestimmte Parteirichtung eintreten, aber von ihren Mitglieder voraussetzen, daß[Pg 385] sie als evangelische, patriotische und soziale Männer sich an den Wahlen beteiligen. Der Antrag, daß der Verbandstag künftig wieder in Verbindung mit dem evangelisch-sozialen Kongreß stattfinden sollen, wurde gegen den Widerspruch Quandel's angenommen.

Die übrigen Verhandlungen betrafen 1. die Wohnungsfrage, 2. Koalitionsfreiheit und Berufsvereine, 3. die Bekämpfung des Alkoholismus, 4. die Einberufung eines nationalen Schutzkongresses und, 5. die Ausdehnung der Wanderunterstützung. Die hinsichtlich des zweiten Punktes angenommene Resolution lautet: »Der Gesamtverband evangelischer Arbeitervereine hält es im Interesse des sozialen Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und Kultur- und Machtstellung unseres Verbandes für dringend geboten, daß 1. in Ausführung der kaiserlichen Februarerlasse endlich gesetzliche Bestimmungen über die Formen getroffen werden, in denen die Arbeiter durch Vertreter, die ihr Vertrauen besitzen, zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern befähigt werden, und 2, daß auch dementsprechend die Arbeiter in der Ausübung ihres Koalitionsrechtes geschützt werden, indem a) den Berufsvereinen unter der Voraussetzung der staatlichen Einführung gemeinsamer Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Rechtsfähigkeit nicht länger vorenthalten bleibt, und b) die Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen nicht durch Anwendung des politischen Vereinsgesetzes erschwert wird. Denn solange berechtigte Forderungen der Arbeiter unerfüllt bleiben, ist an eine erfolgreiche Bekämpfung der Sozialdemokratie nicht zu denken. Der Zusatz bezüglich der gemeinsamen Organisation beruht auf einem von dem Pastor Rahlenbeck gestellter Antrage.

Schließlich wurde noch ein Protest gegen die von Freiherrn v. Stumm im Reichstage gegen die evangelischen Arbeitervereine erhobenen Angriffe einstimmig angenommen. Der von Naumann gestellte Antrag, den Jahresbeitrag zur Verbandskasse auf den Kopf der Mitglieder von 3 auf 10 Pf. zu erhöhen, wurde späterer Beschlußfassung vorbehalten. Es ist bemerkenswert, daß sowohl der Oberpräsident wie der Regierungspräsident und der Konsistorialpräsident dem Verbandstage beiwohnten.

Auch die Verhandlungen der am 19./20. September 1898 in Wittenberg abgehaltenen Ausschußsitzung verliefen in demselben Geiste. Auf Antrag Weber's wurde folgender Beschluß gefaßt:

»Der Ausschuß sieht die in der Aeußerung seiner Majestät des Kaisers vom 6. Oktober 1889 betonte Notwendigkeit, „den Arbeitern die Ueberzeugung zu verschaffen, daß sie ein gleichberechtigter Stand sind und als solcher allseitig anerkannt werden,“ noch nicht als erfüllt an. Eine weitere Fortführung der sozialen Reform ist eine unabweisbare Notwendigkeit. Insbesondere hat diese Fortführung der Sozialreform sich zu erstrecken auf die Schaffung[Pg 386] gesetzlicher Bestimmungen, welche eine wirksame Vertretung der Standesinteressen der Arbeiter durch Arbeiterausschüsse und Arbeiterkammern ermöglichen, auf die Begründung gemeinsamer Organisationen der Arbeitgeber und Arbeiter, auf die obligatorische Einführung von Einigungsämtern und Schiedsgerichten mit Urteilsprechung und eventuell mit exekutorischer Gewalt, auf ein arbeitsstatistisches Amt, auf strengere Beaufsichtigung der Hausindustrie, auf angemessene Kürzung der Arbeitszeit, soweit sie im Interesse der Gesundheit und des Familienlebens notwendig erscheint, auf weitere Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit und auf geregelte Durchführung der Sonntags- und Nachtruhe für die Arbeiter.

Hinsichtlich des nationalen Arbeiterschutzkongresses wurde beschlossen, sich an demselben, falls er zustande kommen sollte, zu beteiligen. Die Forderung eines Reichswohnungsgesetzes und wegen Einrichtung sozialer Kommissionen wurde wiederholt und daneben die Gründung von Baugenossenschaften empfohlen. Die Schaffung eines arbeitsstatistischen Reichsamtes und die Verbesserung der Invaliditätsversicherung im Sinne einer Herabsetzung der Altersrente und der Rentenzahlung bei teilweiser Invalidität soll angestrebt werden. Die Zentralisation des Arbeitsnachweises ist festzuhalten, doch soll er weder in den Händen der Arbeiter noch in denen der Arbeitgeber liegen, sondern unter gemeinsamer oder neutraler Leitung stehen.

Die am 23./24. Mai 1899 in Kiel abgehaltene Delegiertenversammlung bot noch einige Nachklänge der vorangegangenen Streitigkeiten, insbesondere erhob Naumann von neuem Angriffe gegen die Haltung des „Evangelischen Arbeiterboten,“ die durch die offizielle Erklärung ihre Erledigung fanden, daß das Blatt nicht Organ des Gesamtverbandes, sondern nur dessen Anzeigenblatt sei. Daraufhin hat der badische und württembergische Verband die frühere Verpflichtung seiner Vereine, den „Arbeiterboten“ zu halten, aufgehoben mit der ausdrücklichen Begründung, daß man mit dessen sozialpolitischer Haltung nicht einverstanden sei. Auf den Antrag Naumanns wurde übrigens in Kiel beschlossen zu erklären, „daß die evangelischen Arbeitervereine nicht bloß religiösen, sondern ebenso sozialen Karakter haben.“ Bei der Stellungnahme zu der „Zuchthausvorlage“ trat der Gegensatz der Auffassungen scharf hervor, doch blieb der von Franken vertretene, dem Gesetze günstige Standpunkt in der Minderheit, und es wurde beschlossen, daß freilich der Terrorismus, möge er von Arbeitern oder von Arbeitgebern ausgehen, zu mißbilligen sei, daß aber „die bestehenden Gesetze eine vollständig genügende Abhülfe böten und in ihrer Verschärfung eine bedenkliche Bedrohung der freiheitlichen Rechte der Arbeiter und eine Gefahr für unser Volksleben zu erblicken“ sei. Hinsichtlich der Errichtung von Arbeiterkammern begrüßte die Versammlung die von dem Abgeordneten Hitze und v. Hehl im Reichstage eingebrachten Anträge „als[Pg 387] einen ernsten Versuch, die Frage einer gemeinsamen, der Verständigung dienenden und nach Berufen gegliederten Organisation der Arbeiter und Arbeitgeber der Lösung näher zu bringen.“ Die übrigen Gegenstände der Tagesordnung betrafen die alttestamentlichen Propheten, die katholischen Männerorden und das Krankenkassenwesen; in letzterer Beziehung wünschte man Aufhebung der freien Hülfskassen und Verallgemeinerung der Ortskrankenkassen unter fest angestellten beeidigten Beamten. —

Die Grundlage der evangelischen Arbeitervereine ist eine dreifache und wird dies bleiben müssen, nämlich 1. die religiöse, 2. die vaterländische, 3. die soziale. Damit ist gegeben, daß eine einseitige Betonung einer dieser Punkte dem Karakter der Vereine widerspricht, und dies gilt auch hinsichtlich der sozialen Stellung. Die Vereine zu reinen Arbeiterinteressenvertretungen umzugestalten, würde ihrem Wesen widersprechen, womit völlig vereinbar ist, daß sie das Menschenmaterial liefern, um Vereinigungen rein sozialer Art ins Leben zu rufen. Auch der Umstand, daß in den Vereinen sehr verschiedene Elemente gemischt sind, daß ihnen insbesondere auch kleinere und größere Arbeitgeber angehören, kommt hierbei in Betracht. Zweifellos ist dies eine Schwäche der Vereine, aber sie bieten dafür den Vorteil eines gewissen Ausgleiches und gegenseitiger Annäherung. Man kann sie in sozialer Beziehung als eine Schule bezeichnen, und das trifft zugleich insofern zu, als die Mitglieder sich ganz überwiegend noch auf der Stufe von Lernenden und Geleiteten befinden. Nicht allein bilden die treibende Kraft regelmäßig die Geistlichen, sondern auch die Anregungen sind stets von oben gekommen, nicht aber aus den eigenen Reihen der Mitglieder hervorgegangen. Die Ausschußsitzungen und Verbandstage sind die Gelegenheiten, wo von den leitenden Personen die in ihnen entsprungenen oder im Austausch mit anderen Kreisen gewonnenen Ideen den übrigen Teilnehmern als Anregungen geboten werden, um sie ihrerseits wieder in den einzelnen Vereinen weiterzugeben. Der Gang ist von oben noch unten, nicht umgekehrt. Die Vereinsmitglieder pflegen sogar solchen Anregungen gegenüber nicht einmal sonderlich empfänglich zu sein, wie sich darin zeigt, daß Versammlungen, die lediglich geselligen oder patriotischen Zwecken dienen, viel lebhafter besucht sind, als solche, in denen Vorträge und Diskussionen stattfinden.

Diese niedrige Entwickelungsstufe hat naturgemäß zur Folge, daß die intelligenteren und im besten Sinne zielbewußten Arbeiter auf die Vereine mit einem gewissen Gefühle der Ueberlegenheit herabblicken, in ihnen ihre Befriedigung nicht finden und sich ihnen fernhalten, was dann umgekehrt wieder ein Hindernis bietet, zu einer Besserung zu gelangen. Es ist deshalb heute noch nicht möglich, die evangelischen Arbeitervereine als Faktor des sozialen Fortschrittes sehr hoch einzuschätzen, aber es ist nicht zu verkennen, daß sie sich in aufsteigender[Pg 388] Richtung bewegen, und es ist zu hoffen, daß ihnen noch eine Zukunft beschieden ist.

B. Katholische[164].

Die katholische Kirche hat von jeher ihre gewaltige äußere Macht aufgebaut auf einer Anpassung an die Verhältnisse des Lebens, wie sie die protestantische niemals erreicht hat und vielleicht nach ihrer Grundauffassung niemals erreichen kann. Dazu gehört einerseits die kluge Ausnutzung weltgeschichtlicher Entwickelungen und andererseits die enge Fühlung mit dem Volksleben. Beide Gesichtspunkte treffen zusammen bei der Stellung der katholischen Kirche zur sozialen Frage: sie hat früh erkannt, daß in der sozialen Bewegung der Gegenwart ein Machtfaktor allerersten Ranges geboten ist, und indem sie sich auf ihn stützt, macht sie sich ihn selbst dienstbar; sie kann dies aber um so eher, als die Fühlung mit dem Volksleben, die Fürsorge für die breiten Volksschichten und eine gewisse zwischen Leiten und Nachgeben gegen die Volksströmungen gemischte Haltung ihrem Wesen und ihrer geschichtlichen Entwicklung entspricht.

Von besonderer Bedeutung sind hierbei zwei Vereine geworden, die sich zu geistigen Mittelpunkten der katholisch-sozialen Bestrebungen entwickelt haben. Der erste ist der 1880 gegründete Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde, der die Förderung der religiösen, sittlichen und materiellen Interessen der Arbeiter verfolgt; die Mitgliederzahl betrug 1897: 1205. Vorsitzender ist der bekannte sozialreformerische Fabrikant Landesrat Brandts in Mönchen-Gladbach, Generalsekretär ist Professor Dr. Hitze. Die vom Vereine herausgegebene Zeitschrift „Arbeiterwohl“ mit 2400 Auflage ist ein wertvolles Organ für sozialpolitische Studien. Während dieser Verein sich mehr an die gebildeten Kreise wendet, hat der zweite Verein, der am 20. November 1890[Pg 389] gegründete „Volksverein für das katholische Deutschland“, die Masse des Volkes ins Auge gefaßt; auch sein Vorsitzender ist der genannte Fabrikant Brandts; er zählte Ende 1891 108000, Anfang 1898 schon 185000 Mitglieder, die Einnahmen betrugen 1895 142000 Mk., die Ausgaben 111000 Mk. Der Zweck des Vereins ist die Bekämpfung der Sozialdemokratie und die Verteidigung der christlichen Ordnung. Er besitzt eine „Soziale Auskunftsstelle“ in Mönchen-Gladbach, sowie eine ganze Anzahl von Volksbureaus und wirkt hauptsächlich durch Schriftenverbreitung, insbesondere durch die alle 14 Tage unentgeltlich an 240 katholische Zeitungen versandte „sozialpolitische Korrespondenz“.

Die ersten Versuche zu einer Organisation der Arbeiterklasse sind ausgegangen von dem „Vater Kolping“, der bereits Ende der 1840er Jahre die katholischen Gesellenvereine ins Leben rief. Dieselben erreichten bald eine große Ausdehnung und zählten 1891 974 Zweigvereine in allen Ländern mit 75000 Mitglieder und 190 eigenen Hospizen. Mitglieder können nur ledige katholische Handwerksgesellen sein. Vorsitzender ist kraft seines Amtes der Diözesangeistliche. Politik und religiöse Polemik sind von den Verhandlungen ausgeschlossen. An der Spitze des ganzen Verbandes steht der Generalpräses in Köln. Das Organ sind die „Rheinischen Volksblätter“.

Daneben giebt es etwa 110 Lehrlingsvereine mit 1000 Lehrlingen, die möglichst noch an die Gesellenvereine angeschlossen werden.

Die ersten katholischen Arbeitervereine sind aus den in den 60er Jahren von dem Bischof v. Ketteler gegründeten christlich-sozialen Vereinen hervorgegangen. Eine umfassende Statistik derselben ist 1897 von Benefiziat L. Huber in München veröffentlicht[165]. Danach giebt es insgesamt in Deutschland 790 Vereine mit 152969 Mitglieder, wovon auf die Rheinprovinz 231 V. mit 58800 M., auf Westfalen 161 V. mit 30400 M., Hessen-Nassau 11 V. mit 2200 M., Hannover 16 V. mit 1500 M., Provinz Sachsen 23 V. mit 1650 M., Brandenburg 19 V. mit 2220 M., Pommern 1 V. mit 145 M., Schlesien 35 V. mit 11000 M., Posen 1 V. mit 270 M., Westpreußen 3 V. mit 1000 M., Ostpreußen 2 V. mit 650 M., Bayern 122 V. mit 25362 M., Württemberg 29 V. mit 4371 M., Sachsen 2 V. mit 100 M., Baden 56 V. mit 7636 M., Hessen 58 V. mit 9500 M., Elsaß-Lothringen 23 V. mit 5800 M., Oldenburg 1 V. mit 100 M., Anhalt 1 V. mit 45 M. und Hamburg 1 V. mit 120 M. entfielen. Die Vereine Süddeutschlands bilden einen besonderen „Verband der katholischen Arbeitervereine Süddeutschlands“, der Ende 1898 281 Vereine mit 46535 ordentlichen und 6184 außerordentlichen Mitgliedern[Pg 390] umfaßte und regelmäßige jährliche Verbandstage abhält. Außerhalb desselben stehen in Bayern noch 31 Vereine mit 4000 Mitgliedern, in Elsaß-Lothringen 22 Vereine mit 5000 Mitgliedern. Die hessischen Vereine bilden einen besonderen Verband. Rechnet man alle diese Vereine zusammen, so ergeben sich für Süddeutschland 340 Vereine mit rund 60000 ordentlichen Mitgliedern. Von den Vereinen besitzen 102 eigne Sterbekassen mit 22454 Mitgliedern, die 1898 25784 Mk. Sterbegeld auszahlten. In 105 Vereinen bestehen Krankenkassen mit 14597 Mitgliedern, die 1898 an Krankengeld 89835 Mk. verteilten. Sechs Vereine haben Häuser mit Wohnungen für die Mitglieder im Gesamtwerte von fast 2 Millionen Mark. Die in den Sparkassen der Vereine hinterlassenen Guthaben der Mitglieder betragen 430962 Mk. bei 3357 Einlegern. Das Vermögen aller Vereine einschließlich des Reservefonds der Kranken- und Sterbekassen beläuft sich auf 396750 Mk.

Das Hauptgewicht wird in den meisten Vereinen neben der Pflege religiöser Gesinnung und Vorträgen belehrender und unterhaltender Natur auf die Kasseneinrichtungen gelegt. In 79 Vereinen bestehen Sterbekassen, in denen 17407 Mitglieder versichert sind; 88 Vereine haben Krankenkassen mit 12197 Mitgliedern.

Der Gesamtverband besitzt eine „Zentralkrankengeldzuschußkasse der katholischen Arbeitervereine Deutschlands“ mit dem Sitze in Düsseldorf, der 28 Vereine mit 1923 Mitgliedern, und eine Sterbekasse, der 29 Vereine mit 2281 Mitglieder angehören.

Viele Vereine haben Spar-, Darlehns-, Mietzins- und Invalidenkassen, Kassen für Arbeitslose, Arbeitsnachweisestellen, Volksbureaus, Bibliotheken und Konsumvereine, 5 Vereine besitzen eigene Häuser. Das Vermögen aller Vereine beträgt 327504 Mk.

Außer den eigentlichen Arbeitervereinen bestehen schon seit den 50er Jahren noch zahlreiche Vereine junger Kaufleute, die sich im September 1897 in Mainz zu einem „Verbande der kaufmännischen Kongregationen und katholischen kaufmännischen Vereine Deutschlands“ zusammengeschlossen haben. Der Verband besteht aus 78 Vereinen und 9 Kongregationen mit 82000 Mitgliedern und besitzt in der „Mercuria“ ein eigenes Organ.

Sämtliche Vereinigungen dieser Art stehen untereinander in Verbindung durch die jährlichen Generalversammlungen der Präsides, durch ein ständiges Zentralkomitee und die von Dr. Oberdörffer herausgegebenen Kölner „Korrespondenz für die geistlichen Präsides katholischer Vereinigungen der arbeitenden Stände.“

[Pg 391]

C. Fachabteilungen.

Die evangelischen wie die katholischen Arbeitervereine sind nicht als wirkliche Gewerkvereine anzusehen, und zwar schon aus dem Grunde, weil sie keinen Unterschied nach der Berufsthätigkeit machen; außerdem pflegen sie auch mehr allgemeine Zwecke als die eigentlich gewerkschaftlichen Aufgaben zu fördern. Trotzdem kommen die Arbeitervereine als Vorstufen der gewerkschaftlichen Entwickelung in Betracht, da sie das Zusammengehörigkeitsgefühl der Mitglieder ausbilden und im guten Sinn das Klassenbewußtsein entwickeln.

In neuester Zeit ist man im Lager beider Religionsbekenntnisse sich dieser Stellung der Arbeitervereine immer mehr bewußt geworden und hat als bestes Mittel, jene Entwickelung zu befördern, die Errichtung von Fachabteilungen oder Fachsektionen erkannt. Dieselben bilden, wie der Name besagt, nur Abteilungen innerhalb des Vereins und unterscheiden sich dadurch von wirklichen Gewerkvereinen. Alle Mitglieder der Abteilung sind auch solche des Vereines. Inventar und Vermögen gehört dem letzteren. Dagegen hat die Ableitung einen besonderen Vorstand, und die Fühlung mit dem Vereine beruht nur darauf, daß dessen Vorsitzender befugt ist, den Sitzungen der Abteilung beizuwohnen. Der verfolgte Zweck ist in erster Linie die fachliche und die allgemeine Ausbildung der Mitglieder; Lohnkämpfe sollen möglichst durch gütlichen Ausgleich vermieden werden, ist aber dieser nicht möglich, so soll auch vor Streiks nicht zurückgeschreckt werden. Gesellige Vergnügungen sind ausgeschlossen und bleiben dem Vereine vorbehalten.

Die Gründung von Fachabteilungen ist zuerst auf katholischer Seite ins Auge gefaßt und durch einen von Dr. Oberdörffer in der Kölner Korrespondenz von 1891, Nr. 1 und 2, veröffentlichten Entwurf vorbereitet. Durch den Beschluß des 1893 in Regensburg abgehaltenen Verbandstages wurde sie allen katholischen Arbeitervereinen warm empfohlen.

Ziele und Organisation der Fachabteilungen lassen sich am besten ersehen aus den von Dr. Hitze aufgestellten Leitsätzen, welche sowohl auf der Generalversammlung der Präsides der katholischen Gesellenvereine in Würzburg am 24. September 1894 als von dem Gesamtverbande der evangelischen Arbeitervereine in der Sitzung vom 11. Oktober 1894 in Köln angenommen sind und deshalb jetzt deren gemeinsames Programm bilden. Dieselben lauten:

I. Die Arbeiter haben ebensogut, wie andere Berufsgruppen, das Recht wie das Bedürfnis, sich zur Wahrung und Förderung ihrer Berufsinteressen zusammenzuschließen.
II. Die bestehenden Berufsvereine (Gewerk- und Fachvereine) stehen fast[Pg 392] ausnahmslos unter sozialdemokratischem und liberalem Einfluß, sind so eine bedrohliche Gefahr für die christlichen Arbeiter.
III. Diese Gefahr kann nur dadurch beseitigt werden, daß entweder christliche Gewerkvereine gegründet werden, oder aber daß die christlichen Arbeiter so geschult werden, daß sie den sozialdemokratischen bezw. liberalen Einfluß zu paralysieren vermögen.
IV. Der beste und sicherste Weg zur Erreichung einer gesunden, erfolgreichen Organisation unserer Arbeiter — sei es selbständig, sei es im Rahmen der bestehenden Organisationen — ist die Bildung von Fachabteilungen in den bestehenden katholischen (evangelischen) Arbeitervereinen.
V. Die Ziele dieser Fachabteilungen sind:
1. Förderung der Fachbildung durch:
  a) Unterrichte, Vorträge, Ausstellungen u. s. w.;
  b) Beschaffung einer Fachbibliothek;
  c) Besprechungen, Vermittelung von entsprechenden Arbeitsstellen.
2. Gründliche Unterweisung bezüglich der bestehenden sozialen Gesetze und Veranstaltungen; praktische Anleitung zu zweckmäßiger Mitwirkung bei Ausführung bezw. Verwaltung derselben.
3. Besprechungen und Erhebungen bezüglich der bestehenden Arbeiterverhältnisse, Klarlegung der Mißstände und der Wege zur Abhülfe; Mitteilung und Anregung entsprechender Verbesserungen und Einrichtungen bei den berufenen Instanzen. Diese Anregungen werden in der Regel und zunächst von den einzelnen Mitgliedern an zuständiger Stelle (beim einzelnen Arbeitgeber in bescheidener, vertrauensvoller, bestimmter Aussprache, im Arbeiterausschuß, im Vorstande der Krankenkasse, im Gewerbegerichte u. s. w. angebracht, während in anderen Fällen schriftliche oder mündliche Vorstellungen von Seiten der Fachabteilung als solcher sich empfehlen. Diese können gerichtet werden:
  a) an die Vorstände der Krankenkassen, der Unfallversicherungsgenossenschaften u. s. w.;
  b) an die Handelskammer oder Arbeitgeber- und gemeinnützige Verbände (Aktien-Baugesellschaften, Vereine für Haushaltungsschulen, Ferienkolonieen, für Wöchnerinnenfürsorge, Volkskaffeehäufer, Badeanstalten u. s. w.;
  c) an das Gewerbegericht, welches nicht nur in Lohn- &c. Streitigkeiten entscheidet, sondern auch berufen ist, Vorschläge und Anregungen den Behörden und gesetzgebenden Faktoren zu unterbreiten;
  d) an die Gewerbe-Aufsichtsbeamten (Fabrikinspektoren);[Pg 393]
  e) an die Gemeindebehörden (z. B. betr. ortsstatutarische Regelung der Lohnzahlung (§ 119a der Gewerbeordnung) oder die Ortspolizeibehörde (z. B. Verpflichtung zur Einrichtung von Wasch- und Umkleideräumen, von Eßsälen in Fabriken u. s. w. (§ 120d der Gewerbeordnung). Endlich kann in gegebenen Fällen auch
  f) an die öffentliche Meinung appelliert werden durch ruhige, wohl überlegte, maßvolle Darstellung der Mißstände und praktische, wohlbegründete Vorschläge zur Abhülfe in Zeitungen und Vorträgen. Gewiß kann und soll auch das letzte Mittel zur Erreichung berechtigter Wünsche und Forderungen — der Streik — den Arbeitern nicht beschränkt werden, aber schon die lokale und konfessionelle Beschränkung der Organisation wird die selbständige Aufnahme und Durchführung eines solchen kaum möglich erscheinen lassen. Jedenfalls wird der (geistliche) Präses und Vorstand des Vereins mit Erfolg dahin wirken, daß
1. erst alle Mittel friedlicher Begleichung versucht werden;
2. nicht bloß die Gesichtspunkte und Gründe der Arbeiter, sondern auch die Gegengründe der Arbeitgeber, die Schwierigkeiten und Gefahren des Streiks zur vollen Erwägung kommen, daß
3. neben den Gegensätzen auch der Solidarität der Interessen, sowie der Gesetze der Ordnung und Gerechtigkeit nicht vergessen werde; daß
4. der Friede immer das bewußte Ziel bleibt. Jedenfalls müssen von dieser Erwägung aus auch die Arbeitgeber und Behörden die selbstständige Fachorganisation der katholischen bezw. christlichen Arbeiter — als einziges Mittel, sie den sozialdemokratischen Organisationen und deren Einflüssen fernzuhalten und denselben auch im Augenblick des Streiks eine mäßigende Macht an die Seite zu stellen — freudig begrüßen;
5. Errichtung von Zuschuß-Krankenkassen, Sterbekassen u. s. w., Vermittelung guter Arbeitsstellen u. s. w.
VI. Die Fachabteilung wird von einem selbstgewählten Vorstande (Vorsitzenden, Stellvertreter, Kassierer, Beisitzern) geleitet. — Erfolg und Geist hängt wesentlich vom Vorsitzenden ab; deshalb empfiehlt es sich, für die Wahl die Bestätigung des (geistlichen) Präses vorzusehen. — Der Vereinspräses ist als solcher Mitglied des Vorstandes mit beratender Stimme.
VII. Die Thätigkeit der Fachabteilung beschränkt sich auf die Verfolgung der materiellen Berufsinteressen. Feste, gesellige Vergnügungen u. s. w.[Pg 394] sind ausgeschlossen. Nur Vereinsmitglieder können in die Fachabteilung aufgenommen werden, andernfalls bedarf es der ausdrücklichen Genehmigung des Präses des Vereins.
VIII. Die Fachabteilung soll die Arbeiter mit den zu ihrem Besten geschaffenen Gesetzen, Veranstaltungen und Einrichtungen bekannt machen, soll sie anleiten, nicht bloß zu raisonnieren, sondern positive, praktische Vorschläge zu machen, soll sie auf die Wege zur friedlichen Begleichung ihrer Klagen, zur vertrauensvollen Aussprache ihrer Anschauungen und Wünsche bei Vorständen, Arbeitgebern und Behörden hinführen, soll nicht der Verhetzung, sondern dem sozialen Frieden dienen.

Auf evangelischer Seite hat man sich dieser Anregung angeschlossen und, wie bereits erwähnt, in der Ausschußsitzung in Köln am 11. Oktober 1894 die Hitze'schen Leitsätze auch für die evangelischen Arbeitervereine angenommen. Aber der Beschluß scheint praktische Folgen bisher noch kaum gehabt zu haben, denn die einzigen Unternehmungen dieser Art, die durch Anfrage bei den bestorientierten Stellen zu ermitteln waren, sind in Erfurt vorhanden, wo sich im dortigen Evangelischen Arbeitervereine 1894 ein Gewerkverein der Schneider und 1895 ein solcher der Schuhmacher gebildet hat. Beide haben sich dem Hirsch-Duncker'schen Verbande angeschlossen, doch gehören ihre Mitglieder zugleich dem Evangelischen Arbeitervereine an.

Mit mehr Erfolg hat man die Sache auf katholischer Seite aufgegriffen. Insbesondere die beiden Vereine „Arbeiterschutz“ in Berlin und München verfolgen dieses Ziel. Nach den Statuten haben sie den Zweck, die materiellen Interessen der Mitglieder zu fördern, insbesondere

1. die geistige Ausbildung der Mitglieder zu pflegen und in allen wirtschaftlichen Fragen Aufklärung zu verschaffen, ganz besonders aber auf Abstellung von etwa bestehenden Mißständen in Fabriken, Werkstätten u. s. w. energisch zu dringen;
2. die Gründung von Fachsektionen zu fördern;
3. das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf den Boden des christlichen Rechts und der christlichen Liebe zu Stellen und eine gewerkschaftliche Gestaltung der einzelnen Gewerbe anzustreben;
4. in Rechtsfragen, welche die Berufsangelegenheiten betreffen, Beistand zu gewähren;
5. wenn es die Mittel erlauben, zureisenden Arbeitervereinsmitgliedern Reiseunterstützung zu gewähren, bezw. für billige Unterkunft zu sorgen.

Mitglied kann jeder unbescholtene Arbeiter über 17 Jahre werden. Die Fachsektionen wählen je einen Obmann, einen Kassierer und einen Schriftführer. Diese Personen sind zugleich Ausschußmitglieder des Vereins „Arbeiterschutz“.

[Pg 395]

In beiden Vereinen haben sich mehrfach Fachsektionen gebildet. So wurde in der von dem Berliner Vereine im Januar 1898 abgehaltenen zweiten Generalversammlung erwähnt, daß die Mitgliederzahl über 700 betrage und 5 Fachsektionen umfasse, nämlich Bau-, Holz- und Metallarbeiter, Schlachter, Schneider und Schneiderinnen. Die Sektion der Holzarbeiter und der Metallarbeiter haben die Arbeitslosenunterstützung eingeführt. Der Verein selbst hat jetzt die vorbereitenden Schritte gethan, um die gewerkschaftliche Organisierung der östlichen Provinzen Preußens anzubahnen. In München sind Fachsektionen gebildet für die Schuhmacher, die Schneider und Konfektionsarbeiter, die Bauhandwerker, die Schreiner, die Säger und an Holzbearbeitungsmaschinen beschäftigten Arbeiter, die städtischen Arbeiter, die Hafner, die Metallarbeiter und die nicht gewerblichen Arbeiter. Die Statuten fast aller dieser Sektionen sind wörtlich übereinstimmend und bezeichnen als Zweck, im Einvernehmen und mit Hülfe des Vereins „Arbeiterschutz“, 1. die materiellen Interessen der Mitglieder zu fördern und zu schützen; 2. die geistige Ausbildung derselben zu pflegen und in wirtschaftlichen Fragen Aufklärung zu schaffen; 3. bei Berufsstreitigkeiten Beistand zu gewähren. Die monatlichen Beiträge sind 20 Pf.

Auch das katholische Arbeitersekretariat in Stuttgart hat sich der Bildung von Fachabteilungen unterzogen. Es bestehen solche in Stuttgart für Bauhandwerker, Textil-, Metall- und Holzarbeiter in Rehberg für Bauhandwerker, in Ailingen für landwirtschaftliche Arbeiter. Die Statuten sind wörtlich übereinstimmend und bezeichnen als Zweck, 1. die Förderung der Fachbildung durch Unterricht, Vorträge, Bibliothek; 2. Unterweisung bezüglich der bestehenden sozialen Gesetze und Anleitung zur Mitwirkung bei deren Ausführung; 3. Erhebungen über die Arbeiterverhältnisse, die Mißstände und deren Abhülfe; 4. Beistand in Berufsstreitigkeiten; 5. Vermittelung von Arbeitsstellen und Unterstützung gemaßregelter arbeitsloser und durchreisender Mitglieder. Gesellige Unterhaltung ist ausgeschlossen. Bei Streiks und Aussperrungen sollen mit Hülfe des Arbeitervereins Mittel gesammelt werden.

Uebrigens bestehen auch innerhalb der katholischen Gesellenvereine (z. B. in Köln) Fachgenossenschaften. Sie bezwecken 1. Hebung des Standesbewußtseins und Pflege des Gemeinsinns; 2. die gewerbliche Fortbildung der Mitglieder; 3. die Vertretung der Interessen der Gehülfenschaft. Als Mittel werden bezeichnet: 1. wöchentliche Versammlungen zur Erörterung gewerblicher Fragen, insbesondere des Genossenschaftswesens; 2. Unterrichtskurse und Fachschriften; 3. Anregung und Vorschläge zur Abschaffung bestehender Mißstände im Wege friedlicher Vorstellungen bei den maßgebenden Stellen (Arbeitgeber, Innungsvorstand, Gewerbeinspektor), äußerstenfalls besonnene Anrufung der öffentlichen Meinung. Gesellige Veranstaltungen bleiben den Vereinen vorbehalten.

[Pg 396]

D. Christlich-soziale Gewerkvereine.

Es ist wunderbar, daß, nachdem zunächst beide christliche Bekenntnisse in der Begründung von Arbeitervereinen nicht allein getrennt vorgegangen, sondern bei ihrem Vorgehen geradezu durch einen konfessionell-propagandistischen Zweck geleitet waren, es möglich geworden ist, daß sie sich zur gemeinsamer sozialpolitischer Thätigkeit verbinden, ja daß von beiden Seiten und insbesondere auch von den Führern der Zentrumspartei, die doch zur Verteidigung der spezifisch katholischen Interessen begründet ist, offen die Parole ausgegeben wird, die „konfessionellen Zänkereien zu unterdrücken“. Auf dem IV. Delegiertentage der katholischen Arbeitervereine der Erzdiözese Köln in Essen am 23. Oktober 1898 wurde in einer Resolution ausdrücklich die Gründung von Arbeiterberufsvereinen auf christlich-interkonfessioneller Grundlage für dringend erforderlich erklärt. Es zeigt sich eben, daß in jeder Zeitperiode ein einziges, ihren Karakter bestimmendes Moment alle anderen überragt und zurückdrängt. Heute ist dies das soziale, hinter dem zeitweilig sogar das religiöse in den Schatten tritt.

Der Versuch, christlich-soziale Gewerkvereine zu gründen, in denen der Gegensatz des Bekenntnisses zu Gunsten paritätischer Behandlung zurücktritt, ist erst in den letzten Jahren gemacht. Das erfolgreichste Unternehmen dieser Art ist der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter, der wegen der engen Verbindung mit der allgemeinen Bergarbeiterbewegung in diesem Zusammenhange bereits oben[166] behandelt ist. Den Bergarbeitern sind die Eisenbahnarbeiter gefolgt, deren Vereine, und zwar sowohl der Verein Deutscher Eisenbahnhandwerker, wie der Bayrische und Badische Eisenbahnerverband ebenfalls bereits oben[167] ihre Darstellung gefunden haben. Der Gewerkverein der Ziegler, die einzige bisher von evangelischer Seite ausgegangene Gründung, ist später noch zu behandeln[168]. Die übrigen Bildungen dieser Art sind bis jetzt von geringerer Bedeutung, aber da es sich um eine erst jetzt neu einsetzende Bewegung handelt, so ist daraus nicht zu schließen, daß sie nicht die Aussicht habe, sich in größerem Maßstabe zu entwickeln.

Die bisherigen Vereine sind fast ausschließlich von katholischer Seite begründet und es ist deshalb begreiflich, daß in ihnen der Einfluß dieses Ursprunges sich geltend macht. Es liegt aber kein Grund vor, der Erklärung zu mißtrauen, daß eine einseitige Leitung nicht beabsichtigt sei; wie weit auch die evangelischen Kreise den bezeichneten Weg betreten werden, muß erst die Zukunft lehren.

[Pg 397]

Im folgenden werde ich dasjenige Material zusammenstellen, dessen Beschaffung mir gelungen ist; ich darf übrigens annehmen, daß dasselbe ziemlich vollständig ist. Die besten Quellen sind die christlich-sozialen Arbeiterblätter, insbesondere der in München erscheinende „Arbeiter“, das Organ des Verbandes katholischer Arbeitervereine Süddeutschlands und zugleich der meisten zu erwähnenden Einzelvereine, das 1899 im 10. Jahrgange und in einer Auflage 21000 erscheint.

a) Textilarbeiterverband Aachen, Burtscheid[169].

Am erfolgreichsten ist bis jetzt die Schaffung christlich-sozialer Gewerkschaften unter den Textilarbeitern gewesen. Der älteste Verein dieser Art ist der am 27. Dezember 1896 gegründete „christlich-soziale Textilarbeiterverband von Aachen, Burtscheid und Umgegend“. Er umfaßt die Arbeiter der Weberei und der verwandten Betriebe, Spinner, Wirker, Scherer, Walker, Färber, Rauher, Presser, Dekatierer, Appretierer u. s. w. und hat seinen Sitz in Aachen. Der Verband steht auf christlich-gläubigem und monarchischem Boden und verfolgt im Sinne der Zentrumspartei auf der Grundlage des Rechtes und des Gesetzes soziale Zwecke zur Förderung der Lage und der geistigen, moralischen und materiellen Interessen der christlich-sozialen Textilarbeiter in Aachen, Burtscheid und Umgegend.

Insbesondere erstrebt und bezweckt derselbe:

1. die Erhaltung und Befestigung friedlicher Verhältnisse zwischen allen Faktoren des gewerblichen Lebens, vornehmlich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft;
2. die Regelung der Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft, die Erhebung und Erhaltung derselben auf einer Höhe, die dem Arbeiter und seiner Familie ein auskömmliches, geordnetes und sicheres Dasein garantiert;
3. die Besserung der Verhältnisse in den Fabriken und Werkstätten selbst, die Herstellung von ausreichenden Schutzvorrichtungen, die Mehrung der Lüftungs- und anderer die Gesundheit erhaltender Vorrichtungen, die Begrenzung der Arbeitszeit auf ein erträgliches Maß, die Trennung der Geschlechter in den Fabriken, die Einrichtung besonderer Ankleidungs- und Waschräume für beide Geschlechter, die Zulassung von Arbeiterausschüssen &c.
4. die Einsetzung einer Vermittelungsinstanz für die Fälle von Lohndifferenzen und Streiks, mit welcher zur Erzielung eines Ausgleichs die streitenden Parteien gegebenen Falles zusammentreten;[Pg 398]
5. die Besserung der Wohnungsverhältnisse der Arbeiterschaft;
6. die Arbeitsvermittelung für die Mitglieder des Verbandes;
7. die Begründung einer Hülfskasse für besondere Notfälle jener Mitglieder des Verbandes, welche sich einer solchen Hülfskasse anschließen;
8. die Leistung von Rechtsschutz und die Vertretung der Mitglieder in Klagefällen, welche aus dem Arbeitsverhältnis erwachsen und nicht der Kompetenz des Gewerbegerichtes unterstehen;
9. die Erstattung von Gutachten und Eingaben über besondere, das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber betreffende Fragen, Rechte und strittige Interessen an die zuständigen Behörden &c. wie an die Parlamente;
10. die Vorbereitung und Durchführung der Gewerbegerichts- und Ortskrankenkassen wie die eventuelle Beteiligung an den Fabrikausschuß- und anderen Wahlen im christlich-sozialen Sinne.

Ausgeschlossen aus den Verhandlungen des Verbandes ist die Besprechung rein-politischer und konfessioneller Fragen.

Der Verband steht im Gegensatze zur Sozialdemokratie. Nach den Statuten hat sich jedes Mitglied bei seiner Aufnahme auf Ehrenwort auf die Statuten zu verpflichten und sich dadurch „feierlich und öffentlich als Gegner der Umsturzparteien aller Art zu bekennen“. Ebenso erlischt die Mitgliedschaft, wenn der Betreffende „als Genosse einer der Umsturzparteien erkannt wird“. Eine Anlehnung an alle zünftlerischen Einrichtungen tritt hervor in der Bestimmung der Statuten, daß einem verstorbenen Mitgliede bei dessen Beerdigung seitens des Verbandes die letzten Ehren zu erweisen sind. Gehört der Verstorbene der katholischen Konfession an, so wird für seine Seelenruhe auf Kosten des Verbandes eine Messe gelesen. Den Hinterbliebenen nichtkatholischer Mitglieder wird der Betrag von 2 Mk. überwiesen.

Neben dem Vorstande besteht ein Ehrenrat, dem 15 Verbands- und 5 Ehrenmitglieder angehören.

Der Verband hat eine Kommission gebildet, welche bei Gefahr eines ausbrechenden Streiks denselben prüft und eine Vermittelung versucht, aber, falls diese nicht zu erreichen ist und der Streik als berechtigt befunden wird, mit aller Entschiedenheit zu Gunsten der Arbeiter einzutreten hat. Bisher sind auf diese Weise bereits zwei Streiks beigelegt Die Mitgliederzahl betrug im April 1899 etwa 4000.

Neben dem Verbände der Textilarbeiter ist im Sommer 1898 auch ein solcher der Textilarbeiterinnen unter dem Namen „Verband der christlich-sozialen Textilarbeiterinnen von Aachen, Burtscheid und Umgegend“ gebildet, der im April 1899 300 Mitglieder zählte. Die Gründung[Pg 399] eines besonderen Verbandes ist lediglich die Folge einer Rücksicht auf das Vereinsgesetz; beide Verbände wollen durchaus Hand in Hand gehen.

b) Textilarbeiterverein Eupen[170].

Gleichzeitig mit dem Aachener Verbande, Ende Dezember 1896, wurde in unmittelbarem Anschluß an ihn der „christlich-soziale Textilarbeiterverband von Eupen und Umgegend“ gegründet. Die Statuten stimmen wörtlich mit denjenigen von Aachen überein. Die Mitgliederzahl ist von den zunächst beigetretenen 350 bis zum April 1899 auf 500 gestiegen. Die unmittelbare Veranlassung des Verbandes war ein Streit der Arbeiter mit einer der dortigen Firmen über die Einführung des englischen Zweistuhlsystems, das die Arbeiter um so mehr ablehnten, als ohnehin schon 30% arbeitslos sind. Der Verband hat bis jetzt einen hierdurch verursachten Streik glücklich durchgeführt. Im übrigen hat seine Wirksamkeit sich auf eine bisher erfolglose Agitation zu Gunsten der Einführung eines Gewerbegerichts beschränkt; die Fabrikanten verhalten sich ihm gegenüber ablehnend und auch in der Bürgerschaft findet er wenig Entgegenkommen, dagegen hat der Verband nach der Mitteilung seines Vorstandes bei der letzten Reichstagswahl in Verbindung mit dem Verbande in Aachen es durchgesetzt, an Stelle des früheren Abgeordneten einen tüchtigen Sozialpolitiker durchzubringen.

Auch hier ist im Anschluß an den Verband ein solcher der Textilarbeiterinnen begründet, der im April 1899 150 Mitglieder zählte.

c) Textilarbeiterverein Düren[171].

Auch in Düren hat sich im Januar 1898 nach dem Vorbilde des Aachener ein christlicher Textilarbeiterverein gebildet, dem April 1899 800 Mitglieder angehörten. Die äußere Veranlassung bestand in der Absicht, Mißhelligkeiten zwischen den beiden vorhandenen Vereinen, einem Weberverein und einem Arbeiterverein, die beide vorwiegend die Geselligkeit pflegten, zu beseitigen und gleichzeitig ernstere Aufgaben zu fördern. Die Anregung zur Gründung ging aus von dem katholischen Volksverein in Mönchen-Gladbach und dem Bayrischen Textilarbeiterverbande, doch würde sie kaum gelungen sein ohne Mithülfe des Kaplans Küpper in Düren, der sich dadurch allerdings lebhafte Angriffe der dortigen Fabrikanten zuzog.

Die Statuten entsprechen denjenigen von Aachen-Burtscheid und bezeichnen als Zweck die Abwehr von Uebergriffen seitens der Arbeitgeber, Durchführung[Pg 400] der Arbeiterschutzgesetze, Verbesserung der Lage der Mitglieder insbesondere bezüglich der Löhne und der Arbeitszeit; auch soll eine Krankenkasse und erforderlichenfalls eine Streikkasse ins Leben gerufen werden. Besprechung politischer und religiöser Fragen, sowie gesellige Vergnügungen sind ausgeschlossen. Personen, die einem sozialdemokratischen Vereine angehören oder sozialdemokratische Bestrebungen beförden, ist die Mitgliedschaft verboten. Neben dem Vorstande besteht ein Ehrenrat, dem u. a. der Vorsitzende des Webervereins sowie derjenige des christlich-sozialen Arbeitervereins angehören. Die Thätigkeit des Vereins hat sich bisher auf Versammlungen und Verhandlungen mit dem Landrat und dem Fabrikinspektor beschränkt. Organ des Vereins ist der „Christliche Arbeiterfreund“.

d) Niederrheinischer Verband christlicher Textilarbeiter.

In der Krefelder Weberindustrie war man bereits 1848 infolge von Verhandlungen zwischen den Webermeistern, den Fabrikanten, der Handelskammer und dem Gemeinderate zur Aufstellung einer einheitlichen Lohnliste gelangt, die am 27. März 1848 in Kraft trat, eingehende Bestimmungen zur Abstellung eingerissener Mißbräuche enthielt und vor allem die gleichmäßige Bezahlung nach einem festen Tarife sicherte. Aber schon nach einigen Jahren war sie außer Uebung gekommen, und dies hatte zur Folge gehabt, daß eine Lohndrückerei Platz griff, die auch von den wohlmeinenderen Fabrikanten als unerträglich anerkannt wurde.

Bis Anfang 1898 bestanden in Krefeld 6 Weberorganisationen, nämlich je eine Fachabteilung des katholischen und des evangelischen Arbeitervereins, die „Weberunion“, die Weberinnung, ein Hirsch-Duncker'scher Gewerkverein und eine sozialistische Gewerkschaft. Die erstgedachten 5 Organisationen hatten sich seit einigen Jahren zu der „Krefelder Webervereinigung“ zusammengeschlossen, die insbesondere auch der Lohnfrage ihre Aufmerksamkeit zuwandte und am 9. Dezember 1897 unter Vermittelung der seitens des Gemeinderates niedergesetzten „sozialen Kommission“ in Verhandlungen mit den Fabrikanten eingetreten war. Dieselben schienen aber wenig Erfolg zu versprechen und dies war wohl der Grund, weshalb die Weberinnung ohne Rücksicht auf diese Verhandlungen eigene Wege einschlug und unter Beteiligung vieler Mitglieder der übrigen Korporationen im März 1898 den „Niederrheinischen Weberverband“ gründete, der Ende 1898 etwa 3000 Mitglieder zählte und gewöhnlich nach seinem Gründer Lüttger benannt wird.

Von der katholischen wie von der evangelischen Fachabteilung wurde die Beteiligung abgelehnt, ja die erstere beschloß am 13. März 1898, mit der Begründung, daß die alte Vereinigung thatsächlich aufgelöst sei, nunmehr die Gründung eines[Pg 401] allgemeinen niederrheinischen Textilarbeiterverbandes auf christlicher Grundlage in die Hand zu nehmen. Am 24. April 1898 wurde darauf in einer von 161 Vertretern aus 27 Orten besuchten Versammlung der in der Ueberschrift genannte Verband gegründet, der im April 1899 in 44 Ortsgruppen 6400 Mitglieder zählte.

Da die übrigen der genannten Organisationen sich aufgelöst hatten, so gab es also jetzt 3 Weberverbände, nämlich: 1. den christlichen Verband; 2. den sozialistischen „deutschen Textilarbeiterverband“; 3. den Niederrheinischen Weberverband (sog. Lüttger Verband).

Der christliche Verband hat nach seinem Statut den Zweck, auf dem Boden der christlichen Sozialpolitik und der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung auf gesetzlichem Wege die sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder zu fördern. Die Erörterung konfessioneller und parteipolitischer Fragen ist ausgeschlossen. Als Mittel zur Erreichung werden bezeichnet: 1. Statistische Erhebungen über Lohn- und Arbeitsverhältnisse; 2. Verhandlungen mit den Arbeitgebern zur Herbeiführung eines gerechten und angemessenen Lohnes, welcher auch zum standesmäßigen Unterhalte einer normalen Familie hinreicht, sowie zur Beseitigung begründeter Beschwerden und Durchführung berechtigter Wünsche in allen Fabrik- und Arbeitsverhältnissen; 3. Eingaben und Petitionen an Arbeitgeber, Behörden, Regierungen und Parlamente; 4. Errichtung von Unterstützungs- und anderen nützlichen Kassen; 5. Regelung des Arbeitsnachweises und Raterteilung in Fragen des Arbeitsverhältnisses; 6. Versammlungen mit belehrenden und bildenden Vorträgen und Beratungen, besonders über praktische Fach- und Arbeitsfragen und über die soziale Gesetzgebung; 7. Herausgabe eines Verbandsorganes zur Besprechung von Fachfragen und Verbandsangelegenheiten.

Als Mitglieder können aufgenommen werden alle gelernten Arbeiter und Hülfsarbeiter der Seiden- und jeder anderen Textilindustrie, wenn sie auf positiv christlichem Boden und in ehrenhaftem Rufe stehen. Durch den Eintritt bekennt sich jedes Mitglied als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen. Neben Vorstand, Ausschuß und Generalversammlung besteht ein Ehrenrat aus 5 Ausschuß- und 4 Ehrenmitgliedern. Derselbe hat die Aufgabe, die Thätigkeit des Vorstandes zu überwachen.

Der Verband, der seit dem 15. Juli 1898 unter dem Titel „Der christliche Textilarbeiter“ ein eigenes, monatlich erscheinendes Organ herausgiebt, umfaßt sowohl Handweber, wie die Arbeiter in den mechanischen Webereien, Stoff- und Sammtweber und hat zugleich die Hülfsarbeiter, Färber und Appreteure einbezogen.

Die Hauptaufgabe des Verbandes war neben der Agitation vor allem die Stellungnahme zu den zwischen den Webern und den Fabrikanten bestehenden[Pg 402] Streitpunkten, insbesondere die Herstellung einer festen Lohnliste. Da auch seitens eines der Fabrikanten (v. Beckerrath) die Gründung des Verbandes gerade aus dem Grunde öffentlich empfohlen wurde, weil nur so die Fabrikanten veranlaßt werden würden, zu einer Lohnerhöhung zu gelangen, so schienen die durch Vermittelung der Handelskammer und der „sozialen Kommission“ eingeleiteten Verhandlungen guten Erfolg zu versprechen. Allerdings erklärte die Handelskammer es für aussichtslos, die Bildung eines Fabrikantenvereins zu versuchen, wie es von den Arbeitern unter Berufung auf das Beispiel der Bielefelder Bandfabrikanten[172] gewünscht wurde. Trotzdem gelang es, einige im November 1898 ausgebrochene Lohnstreitigkeiten mit Erfolg für die Arbeiter beizulegen.

Aber inzwischen hatten sich 46 Firmen der Stoff-(Seiden-)Weberei zusammengeschlossen und veröffentlichten am 6. Dezember 1898 eine Erklärung, daß sie, um den wachsenden agitatorischen Bestrebungen nachdrücklich entgegenzutreten, beschlossen hätten, sobald eine von ihnen eingesetzte Kommission einen bei einer einzelnen Firma ausgebrochenen Streik für unberechtigt erklären würde, sofort den Arbeitern sämtlicher Firmen zu kündigen. Am 10. Dezember wurde mit der Begründung, daß ein schon früher in einer Firma ausgebrochener Streik als unberechtigt anzusehen sei, diese Drohung verwirklicht, was von den Arbeitern mit sofortiger Niederlegung der Arbeit beantwortet wurde. Schließlich gelang es aber doch der „sozialen Kommission“, eine Verständigung dahin herbeizuführen, daß eine „gemischte Kommission“, bestehend aus drei Fabrikanten und je einem Vertreter der drei Weberorganisationen (christlicher Verband, niederrheinischer Weberverband und sozialistische Gewerkschaft) versuchen sollte, eine gemeinsame Lohnliste aufzustellen und daß innerhalb der nächsten 3 Monate weder Arbeitseinstellungen noch Entlassungen vorgenommen werden dürften. Diese gemischte Kommission ist dann am 2. Januar 1899 unter der Abänderung in Kraft getreten, daß jeder der 3 Weberverbände 3 Vertreter gewählt hat.

Nachdem so die Streitigkeiten in der Stoffweberei ihren Abschluß gefunden hatten, schien die Hoffnung eines gleichen Ausganges auch für die innerhalb der Sammetweberei bestehenden Streitfragen berechtigt, aber diese Hoffnung wurde getäuscht. Die Fabrikanten (13 an der Zahl), die sich auch hier zu einem gemeinsamen Vorgehen verbunden hatten, veröffentlichten eine Lohnliste, die sie am 15. Januar einführen wollten, die aber nach Ansicht der Arbeiter Lohnherabsetzungen von 15–20% enthielt. Von dem christlichen Verbande wurde auch hier eine gemischte Kommission, von den beiden anderen Organisationen eine Anrufung des Gewerbegerichtes empfohlen, aber beide Vorschläge[Pg 403] wurden von den Fabrikanten, die es offenbar auf eine Kraftprobe abgesehen hatten, abgelehnt und so trat denn am 16. Januar 1899 eine allgemeine Aussperrung ein, die etwa 3000 Arbeiter umfaßte. Auch die mehrfach gemachten Versuche gütlicher Einigung scheiterten anfangs daran, daß die Fabrikanten freilich verschiedene der seitens der Weber gegen die Lohnliste erhobene Angriffe anerkannten, aber deren Beseitigung künftigen Verhandlungen vorbehalten wollten und zunächst bedingungslose Annahme der Lohnliste forderten. Die Führer des christlichen Verbandes glaubten ihren Mitgliedern vorschlagen zu sollen, hierauf einzugehen und die Lohnliste probeweise einzuführen, doch wurde dieser Vorschlag in der Versammlung des Verbandes fast einstimmig abgelehnt. Von den beiden anderen Verbänden wurde die Sonderverhandlung des christlichen Verbandes scharf getadelt, der letztere wollte aber seine selbstständige Stellung wahren und hat deshalb auch die Teilnahme seiner Mitglieder an den gesammelten Streikgeldern abgelehnt. Endlich Ende April 1899 ist es gelungen, den Streik dadurch beizulegen, daß die Fabrikanten sich zu einer Erhöhung der in ihrer Liste festgesetzten Löhne um 10 Pf. entschlossen.

e) Textilarbeiterverband in Mönchen-Gladbach[173].

Seit dem 20. November 1898 hat sich auch für Mönchen-Gladbach und Umgegend ein christlich-sozialer Textilarbeiterverband gebildet. Zweck des Verbandes ist die Hebung der wirtschaftlichen Lage der Textilarbeiter auf christlicher und gesetzlicher Grundlage. Als Mittel werden im Statut bezeichnet: 1. Erhaltung und Förderung eines friedlichen Einvernehmens mit den Arbeitgebern; 2. zahlenmäßige Erhebungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Textilindustrie am Niederrhein; 3. Mitteilung an die Arbeitgeber von Beschwerden und Wünschen von Mitgliedern und gemeinsame Verhandlung hierüber; 4. Eingaben an die Behörden, Regierungen und Parlamente zur Erreichung des erforderlichen gesetzlichen Schutzes der Arbeiter; 5. Gegenseitige Selbsthülfe der Mitglieder in allen Angelegenheiten ihres Lohn- und Arbeitsverhältnisses besonders durch Einrichtung von Unterstützungskassen, der Arbeitsvermittelung und Unterstützung bei Arbeitslosigkeit und Arbeitseinstellung; 6. Belehrung über alle den Arbeiterstand betreffenden wirtschaftlichen Fragen durch Vorträge in Versammlungen und Haltung eines Fachorganes.

In dem Verbande, der im April 1899 etwa 3000 Mitglieder zählte, sind katholische und evangelische Arbeiter vertreten, doch bilden die ersteren die große Mehrzahl. Der Vorstand besteht aus 15 katholischen und 5 evangelischen Mitgliedern. Der Verband hat sich bis jetzt auf friedliche Beilegung einiger[Pg 404] Lohnstreitigkeiten beschränkt. Verbandsorgan ist der „Christliche Textilarbeiter“ in Krefeld.

f) Bayrischer Textilarbeiterverband[174].

Auch in Bayern ist die Organisation in die Hand genommen und im Jahre 1897 der „Verband der Textilarbeiter und -arbeiterinnen in Bayern“ gegründet, dem im April 1899 etwa 4000 Mitglieder in 17 Industrieorten angehörten. Der Verband hat seinen Sitz in Augsburg. Sein Zweck ist nach den Statuten „die geistige Ausbildung und die Verbesserung der materiellen Lage der Mitglieder auf christlicher und gesetzlicher Grundlage“. Als Mittel hierzu werden bezeichnet: 1. statistische Erhebungen, 2. Verhandlungen mit den Arbeitgebern in Lohnfragen, sowie bei berechtigten Beschwerden und Wünschen der Mitglieder, 3. Eingaben und Petitionen an die Staatsverwaltungen, Behörden, Regierungen und Parlamente, 4. Einrichtung von Unterstützungskassen, 5. Einrichtung einer Bibliothek, 6. belehrende und bildende Vorträge. Dabei ist jedoch die Erörterung konfessioneller und politischer Fragen ausgeschlossen. Für Orte und Bezirke werden Obmänner gewählt, die die Generalversammlung bilden. Organ des Verbandes ist der „Arbeiter“. Der Beitrag ist monatlich 10 Pf.

Der Verband hat im September 1898 eine Krankenunterstützungskasse gebildet, der die Mitglieder beizutreten berechtigt, oder nicht verpflichtet sind. Daneben hat mit Rücksicht auf die Anfeindungen, denen die Mitglieder seitens der Fabrikanten ausgesetzt waren, die Generalversammlung im Mai 1898 beschlossen, eine Gemaßregeltenunterstützung von wöchentlich 9 Mk. zu zahlen. Eine Bibliothek ist ins Leben gerufen, auch erteilt der Sekretär Auskunft in Versicherungssachen und sucht Klagen der Mitglieder entweder persönlich oder durch Vermittelung des Fabrikinspektors zu erledigen. Der Verband hat im November 1897 eine Petition wegen Einführung eines Maximalarbeitstages für die einzelnen Industrien an den Reichstag gerichtet, auch mittels Fragebogen eine Erhebung über die Lage der Textilarbeiter veranstaltet. Die treibende Kraft im Verbande ist der Sekretär Schirmer, der zugleich Redakteur des „Arbeiters“ ist, ein früherer Schlosser.

Der Verband hat große Schwierigkeiten zu überwinden, da er gleichzeitig von den Fabrikanten und der Sozialdemokratie bekämpft wird und bei der gedrückten Lage der Textilarbeiter mit höchst beschränkten Mitteln arbeiten muß. Nach Ansicht des Sekretärs ist es sicher, daß „wenn mehr Mittel vorhanden wären und die bürgerlichen Kreise der christlichen Gewerkschaftsbewegung mehr[Pg 405] Verständnis entgegenbrächten, die Sozialdemokratie sich bald nicht mehr als Vertreterin der Arbeiter aufspielen könnte“.

g) Gewerkverein der Maurer[175].

Im Herbst 1897 bildete sich in Köln eine Konferenz aus Geistlichen und Laien, die es sich zur Aufgabe machte, die christlichen Arbeiter zur Gründung eigener Gewerkvereine neben bezw. gegenüber den alten unter sozialdemokratischem Einflusse stehenden zu vereinigen. Die Konferenz arbeitete unter Zuziehung einzelner intelligenter Arbeiter ein Statut aus für einen Gewerkverein der Maurer, Steinmetzen, Stukkateure, Bau- und Grundarbeiter Kanal-, Ziegelei-, Tiefbauarbeiter, Töpfer, Kalkbrenner und verwandter Berufe, das auch für alle weiter zu gründenden Gewerkvereine das Normalstatut bilden sollte. Nachdem eine im Februar 1898 abgehaltene erste öffentliche Versammlung durch Streitigkeiten mit den erschienenen Sozialdemokraten vereitelt war, wurde in einer zweiten, in der nur gegen Eintrittskarten der Zutritt gestattet war, die Gründung des Gewerkvereins vollzogen. Derselbe ist als Zentralverband gedacht mit dem Sitze in Köln; die daneben bestehenden „Verwaltungsstellen“ haben keine eigne Kassenverwaltung, sondern besorgen nur die Aufnahme von Mitgliedern, die Erhebung der Beiträge und die Auszahlung der Unterstützungen. Solche Verwaltungsstellen gab es im April 1899 13 mit etwa 500 Mitgliedern. Der Beitrag beläuft sich auf monatlich 25 Pf.

Nach dem Statut bezweckt der Verein den Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder nach christlichen Grundsätzen auf gesetzlichem Wege. Als Aufgaben werden bezeichnet:

1. Erzielung eines gerechten zur standesmäßigen Lebenshaltung des Arbeiters und seiner Familie ausreichenden Lohnes;
2. Herbeiführung einer angemessenen Arbeitsdauer, die dem Arbeiter die nötige geistige und körperliche Erholung, sowie die Pflege eines gesunden Familienlebens ermöglicht;
3. Schutz des Arbeiters nach Maßgabe der entsprechenden Unfallverhütungsvorschriften und der Forderungen von Sittlichkeit und Gesundheit;
4. Vertretung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder, Unternehmern, Behörden und gesetzlichen Körperschaften gegenüber;
5. Unterstützung in Fällen der Not, soweit dieselbe innerhalb des Vereinszweckes liegt;
6. Geistige Hebung seiner Mitglieder durch Fortbildung der Fachkenntnisse, sowie Bekanntmachung mit allen das Gewerbe betreffenden gesetzlichen Bestimmungen und Vorschriften.

[Pg 406]

Diese Zwecke sucht der Verband zu erreichen

1. durch Errichtung von Arbeiterausschüssen, die bezüglich der Lohnfrage, der Arbeitszeit und des Arbeiterschutzes mit den zuständigen Organen in Verbindung treten und bei etwaigen Differenzen oder Streiks die Vermittlung übernehmen;
2. durch Regelung des Arbeitsnachweises bezw. Pflege der Berufsstatistik;
3. durch Besserung der Wohnungsverhältnisse;
4. durch Leistung von Rechtschutz bei Streitigkeiten, welche aus dem Arbeitsverhältnis erwachsen und nicht zur Kompetenz der Gewerbegerichte gehören, zumal durch Vermittlung der Volksbureaus;
5. durch Erstattung von Gutachten und Eingaben an die zuständigen Behörden bezw. Parlamente;
6. durch Vorbereitung und Durchführung der Gewerbegerichtswahlen im christlich-sozialen Sinne;
7. durch Errichtung einer Hülfskasse für alle besondere Fälle, die innerhalb des Zweckes des Verbandes liegen, bezw. Vermittlung des Anschlusses an andere bereits bestehende ähnliche Kassen;
8. durch Versammlungen und belehrende Vorträge unter Ausschluß jeglicher konfessionellen oder politischen Erörterung, sowie durch kostenfreie Zustellung des Verbandsorganes.

Der Verein bestreitet durchaus, in irgend welcher Beziehung zur Zentrumspartei zu stehen, sondern will parteilos sein. Er fordert von seinen Mitgliedern keine Erklärung über ihre Stellung zur Sozialdemokratie, betrachtet auch ein Zusammengehen mit dieser in rein wirtschaftlichen Fragen nicht als ausgeschlossen. Bei der Lohnbewegung der Maurer in Köln im Januar 1898 hat der Verband zusammen mit dem sozialistischen „Alten Verbande“ eine gemeinschaftliche Lohnkommission gewählt, die gemeinsam die erhobenen Forderungen gegenüber den Unternehmern vertrat. Die Bewegung ist friedlich verlaufen und hat teilweise Erfolg gehabt. In Kalk sind die Mitglieder beider Organisationen gemeinschaftlich in den Ausstand getreten, der ebenfalls teilweise Erfolg hatte.

Unterstützungskassen bestehen zur Zeit noch nicht, sind aber beabsichtigt. Auch ein eigenes Verbandsorgan ist noch nicht geschaffen, vielmehr bedient der Verein sich des „Christlichen Arbeiterfreundes“ der in Köln-Ehrenfeld erscheint und von einer aus 3 Präsidenten der Arbeitervereine bestehenden Kommission redigiert wird. Dem Kölner Vereine sollen die in Rheinland bestehenden kleineren Berufsvereine angeschlossen werden; ein in Aussicht genommener Delegiertentag der christlichen Gewerkvereine soll die Organisation weiter ausbauen.

In der am 16. April 1899 in Köln abgehaltenen ersten Generalversammlung wurde die Ausdehnung der Mitgliedschaft auf alle Bauhandwerker, einschließlich[Pg 407] der Hülfsarbeiter, beschlossen und deshalb der Name „Gewerkverein christlicher Bauhandwerker und verwandter Berufe“ angenommen.

h) Gewerkverein der Metallarbeiter.

Aus der Thätigkeit der bereits genannten sozialen Konferenz ist auch der „Gewerkverein christlicher Metallarbeiter“ in Köln hervorgegangen. Derselbe bezweckt den „Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder nach christlichen Grundsätzen auf gesetzlichem Wege“. Die Mittel zur Erreichung dieses Zweckes sind im Statut wörtlich gleichlautend bezeichnet mit denjenigen des Gewerkvereins der Maurer. Der Verein ist erst im Sommer 1898 gegründet und hat deshalb eine Geschichte noch nicht aufzuweisen. Die Mitgliederzahl beträgt 80–100. Vereinsorgan ist ebenfalls der „Christliche Arbeiterfreund“.

i) Gewerkverein der Gastwirtsgehülfen.

Eine erfolgreiche weitere Gründung der mehrgedachten Konferenz ist der am 13. Oktober 1898 gegründete „Berufsverein christlicher Gastwirtsgehülfen“. Der Verein, dessen Sitz in Köln ist, der aber die Organisation der Kellner für ganz Deutschland anstrebt, bezweckt nach seinen Statuten den Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder nach christlichen Grundsätzen auf gesetzlichem Wege. Er setzt sich zur Aufgabe: 1. Erzielung geregelter Arbeits- und Gehaltsbedingungen; 2. Herbeiführung einer angemessenen Arbeitsdauer; 3. Rechtsschutz der Mitglieder; 4. Unterstützung in Fällen der Not; 5. geistige Hebung seiner Mitglieder durch Fortbildung der Fachkenntnisse; 6. Ermahnung zur Pflichttreue im Berufe und im bürgerlichen Leben, zu ehrenhafter Gesinnungs- und Handlungsweise im allgemeinen. Diese Zwecke sucht der Verein zu erreichen: 1. durch Regelung der Stellenvermittelung mittels eines unentgeltlichen Arbeitsnachweisebureaus im Anschluß an kommunale oder behördliche Einrichtungen; 2. durch Leistung von Rechtsschutz mittels der Volksbureaus; 3. durch Erstattung von Gutachten und Eingaben an die Behörden bezw. Parlamente; 4. durch Verbreitung und Durchführung der Gewerbegerichtswahlen in christlich-sozialem Sinne; 5. durch Errichtung einer Hülfskasse; 6. durch Versammlungen und Vorträge unter Ausschluß jeglicher konfessioneller und parteipolitischer Erörterungen.

Der Verein ist als Zentralverein mit Verwaltungsstellen beabsichtigt. Die Mitgliederzahl betrug am 7. November 1898 etwa 200. Auf Veranlassung der Arbeitsstatistischen Kommission hat der Verein zwei Vertreter zum Zwecke der Erhebungen über die Lage der Gastwirtsangestellten entsendet. Vereinsorgan ist der „Christliche Arbeiterfreund“.

[Pg 408]

k) Gewerkverein kaufmännischer Hülfsarbeiter.

Von geringerer Bedeutung ist die letzte Gründung der Konferenz, der „Verband der Arbeiter im kaufmännischen Gewerbe“, der insbesondere die Packer, Hausknechte, Faktoren, Lagerarbeiter u. s. w., also ungelernte Arbeiter umfassen will. Das Statut ist demjenigen des Maurervereins nachgebildet, doch ist der Verband zunächst nur als ein Lokalverband für Köln beabsichtigt. Er ist hervorgegangen aus dem Kampfe um die Verwaltung der Ortskrankenkassen und ist deshalb auch von deren christlich-sozialen Mitgliedern ins Leben gerufen, um ein Gegengewicht gegen die Sozialdemokratie zu schaffen. Der Zweck des Verbandes ist hauptsächlich gegenseitige Unterstützung; der gewerkschaftliche Karakter tritt zurück. Auch dieser Verband hat als Organ den „Christlichen Arbeiterfreund“.

l) Schwarzwälder Uhrenindustriearbeiter.

Am 4. Dezember 1898 hat sich ein „Christlicher Uhrenindustriearbeiterverband Schwarzwald“ mit dem Sitze in Villingen gebildet, der alle Schwarzwälder Uhrenarbeiter und die Arbeiter verwandter Gewerbe umfaßt. Der Verband „steht auf christlich-gläubigem Boden und verfolgt auf der Grundlage des Rechtes und des Gesetzes soziale Zwecke zur Förderung der Lage und der geistigen, moralischen und materiellen Interessen der christlichen Uhrenarbeiterschaft (männlich und weiblich)“.

Insbesondere erstrebt und bezweckt derselbe:

1. die Erhaltung und Befestigung friedlicher Verhältnisse zwischen allen am gewerblichen Leben Beteiligten, vornehmlich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft;

2. die Regelung der Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft, die Erhebung und Erhaltung derselben auf einer Höhe, die dem Arbeiter und seiner Familie ein auskömmliches, geordnetes und sicheres Dasein gewährleistet. Vereinbarung von Lohntarifen, soweit möglich;

3. die Besserung der Verhältnisse in den Fabriken und Werkstätten selbst, die Herstellung und Erhaltung von ausreichenden Schutzvorrichtungen, die Mehrung der Lüftungs- und anderer die Gesundheit erhaltender Vorrichtungen, die gerechte Regelung der Arbeitszeit, die Trennung der Geschlechter in den Fabriken, Einrichtung besonderer Ankleidungs- und Waschräume für beide Geschlechter, die Zulassung von Arbeiterausschüssen &c.;

4. die Einsetzung einer Vermittelungsinstanz bei etwaigen Lohndifferenzen und Streiks zur Erzielung eines Ausgleichs zwischen den streitenden Parteien;

[Pg 409]

5. die Besserung der Wohnungsverhältnisse der Arbeiterschaft;

6. die Herausgabe eines den Verbandsmitgliedern unentgeltlich zu stellenden Fachblattes (namentlich zur Arbeitsvermittlung und Hebung der Fachkenntnisse);

7. Einrichtung von Unterstützungs- und anderen Kassen, je nach Bedürfniß

8. Raterteilung, Leistung von Rechtsschutz, sowie Vertretung der Mitglieder in Klagefällen, welche aus dem Arbeitsverhältnis erwachsen und worin das Gewerbegericht nicht zuständig ist;

9. die Erstattung von Gutachten und Eingaben über besondere, das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber betreffende Fragen, Rechte und strittige Interessen an die zuständigen Behörden &c., sowie Parlamente;

10. die Vorbereitung und Durchführung der Gewerbegerichts- und Ortskrankenkassen-, wie die etwaige Beteiligung an anderen Wahlen, soweit der Verband dabei interessiert ist.

Als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes wurden bezeichnet: Statistische Erhebungen über Arbeiterverhältnisse, Versammlungen und Vorträge über praktische Arbeiterfragen und die soziale Gesetzgebung, sowie Diskussionsabende und Unterrichtskurse. Durch den Eintritt in den Verband bekennt sich das Mitglied als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen. Mitgliedern, die durch das Eintreten für die Interessen des Verbandes arbeitslos werden, kann aus der Verbandskasse eine Unterstützung bewilligt werden, über die der Vorstand entscheidet. Dieser hat alle Beschwerden der Mitglieder zu prüfen und geeignetenfalls die Schritte zur friedlichen Beilegung zu thun. Sind diese erfolglos, so hat eine sofort einzuberufende Generalversammlung über die weiteren Maßregeln zu beraten, die für alle Mitglieder bindend sind. Neben dem Vorstande steht ein Ehrenrat.

m) Christliche Gewerkschaft in Frankfurt a. M.[176].

Aus dem Grunde, weil in den meisten Gewerkschaften gelegentlich die Neigung hervortritt, sozialdemokratische Parteipolitik zu treiben, hat sich im Februar 1899 in Frankfurt a. M. eine „christliche Gewerkschaft“ gebildet, um denjenigen Arbeitern eine Stätte zu bieten, die hiermit nicht einverstanden sind. Der Zusatz „christlich“ soll nur in diesem Sinne verstanden werden; die Gewerkschaft will sich nicht mit religiösen, sondern ausschließlich mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigen.

Nach den Statuten bezweckt die Gewerkschaft die Hebung der moralischen und sozialen Lage der Arbeiter auf christlicher und gesetzlicher Grundlage und[Pg 410] Anbahnung und Erhaltung einer friedlichen Uebereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Insbesondere wird angestrebt: a) Herbeiführung eines gerechten Lohnes, welcher dem Werte der geleisteten Arbeit und der durch diese Arbeit bedingten Lebenshaltung entspricht; b) die Einschränkung der Arbeitszeit, soweit solche zum Schutze von Leben, Gesundheit und Familie geboten ist; c) eine Vermehrung der staatlichen Aufsichtsbeamten unter Hinzuziehung praktisch erfahrener Arbeiter. Als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks werden angegeben: Errichtung von Fachsektionen, die je unter einem Obmann gebildet werden, sobald innerhalb der Gewerkschaft eine genügende Anzahl Mitglieder eines Faches vorhanden sind, ferner Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bei Lohn- und anderen Fragen, Eingaben an Behörden, Parlamente u. s. w., belehrende und bildende Vorträge, unentgeltlicher Rechtsschutz in allen gewerblichen Streitfällen, Arbeitsnachweis, Auskunft und Vertretung bei Klagesachen. Die Mitglieder der Gewerkschaft bekennen sich als Gegner aller Grundsätze und Bestrebungen, die mit dem christlichen Geiste im Widerspruch stehen; wer dagegen handelt, wird ausgeschlossen. Die Leitung der Gewerkschaft untersteht einem Zentralvorstand, der je zur Hälfte aus Mitgliedern der beiden christlichen Konfessionen zu wählen ist. Außerdem wechselt der Vorsitz alljährlich zwischen den beiden Konfessionen. Der Beitrag beläuft sich auf wöchentlich 15 Pf. Die Mitglieder erhalten bei Krankheit eine Unterstützung von wöchentlich 3 Mk. Organ ist das Frankfurter Volksblatt und der Nassauische Volksbote.

Die Anregung zur Gründung der Gewerkschaft ist von dem katholischen Arbeiterverein ausgegangen, doch hat sich auch der evangelische Arbeiterverein daran beteiligt. Die Zahl der Mitglieder betrug Mitte Mai 1899 etwa 400.

n) Gesamtverband christlicher Gewerkvereine[177].

So jung noch bis jetzt die Bewegung ist, so ist doch bereits der Gedanke aufgetaucht, in gleicher Weise, wie bei den Hirsch-Duncker'schen Vereinen und den sozialistischen Gewerkschaften einen Gesamtverband christlicher Gewerkvereine ins Leben zu rufen. Schon auf die Tage vom 4.–7. September 1898 hatte der Gewerkverein christlicher Textilarbeiter in Aachen-Burtscheid einen gemeinsamen Delegiertentag einberufen, aber eine vorher zusammengetretene Konferenz hielt es für nötig, ein solches Unternehmen erst noch besser vorzubereiten und zu diesem Zwecke Vorkonferenzen, und zwar getrennt für Süd- und Norddeutschland stattfinden zu lassen. Auf diesen sollten die zu behandelnden Themata und bestimmte Leitsätze festgestellt werden, um den Verbänden Gelegenheit zu bieten, zu ihnen Stellung zu nehmen.

[Pg 411]

Diese Vorkonferenzen haben am 8. Dezember 1898 in Köln und am 8. dess. Mon. in Ulm stattgefunden und sich über eine Reihe von Leitsätzen geeinigt, die hier auszugsweise mitgeteilt werden sollen:

1. Die Gewerkschaften sollen interkonfessionell sein, d. h. beide christliche Bekenntnisse umfassen, aber auf dem Boden des Christentums stehen. Die Erörterung konfessioneller Fragen ist strengstens auszuschließen.
2. Die Vereine sollen ferner unpolitisch sein, d. h. sich keiner bestimmten politischen Partei anschließen. Die Erörterung parteipolitischer Fragen ist fern zu halten, doch sind gesetzliche Reformen auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung anzustreben.
3. Es sind thunlichst für die einzelnen Berufszweige und für geschlossene Industriebezirke Gewerkschaften zu gründen. Zur Durchführung der verfolgten Ziele ist die Verbindung gleichartiger Gewerkschaften zu empfehlen. Die Gewerkschaften setzen sich zusammen aus Ortsgruppen, deren Vertreter die Generalversammlungen bilden. Diese wählen die Zentralleitung, nämlich 2 Vorsitzende, 2 Schriftführer und 2 Kassierer. Den einzelnen Gewerkschaften bleibt überlassen, ob sie auch einen Ehrenrat unter Zuziehung von Nichtmitgliedern einrichten wollen. Bei allen Wahlen sind die beiden Bekenntnisse angemessen zu berücksichtigen.
4. Aufgabe der Gewerkschaften ist die Hebung der leiblichen und geistigen Lage der Berufsgenossen. Im Programm ist zu den wichtigsten Fragen des Gewerbes, insbesondere denjenigen des Lohnes und der Arbeitszeit, Stellung zu nehmen. In Ermangelung ausreichender gesetzlicher Versicherung gegen Krankheit, Unfälle, Arbeitslosigkeit und Invalidität, sowie der Regelung des Arbeitsnachweises haben die Gewerkschaften hier einzugreifen, insbesondere durch Kassen das Fehlende zu ersetzen. Ebenso ist durch Spar- und Konsumkassen der Sparsinn der Arbeiter zu fördern. Eine besondere Aufgabe ist, die Durchführung der zum Schutze von Sittlichkeit, Leben und Gesundheit der Arbeiter erlassenen gesetzlichen und gewerbepolizeilichen Bestimmungen zu überwachen und den Mitgliedern Rechtsschutz zu gewähren. Auch sollen die Vereine für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, Arbeiterausschüsse, Gewerbegerichte u. s. w. eintreten.
5. Mittel zur Durchführung dieser Aufgaben sind Erhebungen über Arbeiterverhältnisse, Vorträge über die sozialen und gewerblichen Fragen des Berufes und ein eigenes Fachblatt. Die Erhebungen haben den Zweck, Material zu sammeln, um dieses bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern und bei Eingaben an Behörden, Parlamente u. s. w. zu benutzen. In den Vorträgen sind insbesondere die sozialen Versicherungsgesetze[Pg 412] und die Arbeiterschutzbestimmungen, sowie die Lage des Gewerbes und die Bestrebungen der Berufsgenossen in anderen Gegenden und Ländern zu behandeln. Aus dem Vereinsorgan sind konfessionelle und parteipolitische Fragen fernzuhalten. Die Leitung ist einem praktisch erfahrenen Berufsgenossen zu übertragen, wobei sozialpolitisch und volkswirtschaftlich geschulte Kräfte als Mitarbeiter zu gewinnen sind.
6. Der prinzipielle Standpunkt ist niedergelegt in folgenden Schlußsätzen: „Es ist nicht zu vergessen, daß Arbeiter und Unternehmer gemeinsame Interessen haben, darauf beruhend, daß beide Teile nicht allein als zusammenhängende Faktoren der Arbeit der letzteren Recht auf angemessene Entlohnung gegenüber dem Kapital, sondern vor allem die Interessen der Erzeugung von Gütern gegenüber dem Verbrauche derselben zu vertreten haben. Beide Teile beanspruchen das Recht einer größtmöglichen Verzinsung ihres in der Erzeugung von Gütern enthaltenen Kapitales, der Unternehmer seines Kapitales und der Arbeiter seiner Arbeitskraft. Ohne beides, Kapital und Arbeitskraft, keine Produktion. Darum soll die ganze Wirksamkeit der Gewerkschaften von versöhnlichem Geiste durchweht und getragen sein. Die Forderungen müssen maßvoll sein, aber fest und entschieden vertreten werden.“

Bei den Verhandlungen wurde beantragt, zu bestimmen, daß bei Lohnfragen Fühlung mit anderen Gewerkschaften gesucht werden möge, wenn die Möglichkeit geboten erscheine. Doch wurde die Beschlußfassung dem Gewerkschaftskongresse selbst vorbehalten.

Der erste Kongreß christlicher Gewerkschaften Deutschlands hat am 21. und 22. Mai 1899 in Mainz stattgefunden unter Beteiligung von 30 norddeutschen und 18 süddeutschen Abgesandten als Vertreter von 37 Gewerkvereinen bezw. Fachabteilungen, wovon 19 mit 55661 Mitgliedern auf Norddeutschland entfielen[178]. Man war in allen wesentlichen Punkten einverstanden, insbesondere darüber, daß der konfessionelle und parteipolitische Gegensatz mit den gewerkschaftlichen Bestrebungen nichts zu thun habe und von ihm fernzuhalten sei. Die Grundauffassung, über die man einig war, wurde niedergelegt in folgenden Leitsätzen:

1. Die Gewerkvereine sind interkonfessionell und politisch unparteiisch.
2. Es ist die Vereinigung gleichartiger Gewerkvereine in Zentralverbände behufs besserer Durchführung der vorgesteckten Ziele zu erstreben.[Pg 413]
3. Die Aufgabe der christlichen Gewerkvereine besteht in der wirtschaftlichen, geistigen und sittlichen Hebung des Arbeiterstandes. Dieselbe ist zu erstreben durch
  a) Durchführung der bestehenden gesetzlichen Bestimmungen und Förderung des weiteren Ausbaues der Arbeitergesetzgebung;
  b) durch genossenschaftliche Selbsthülfe (Ergänzung der Arbeiterversicherung durch Unterstützungs- u. s. w. Kassen u. s. w.;
  c) Sicherung der Rechte und Freiheit des Arbeiters beim Abschlusse des Arbeitsvertrages.
4. Die gesamte Thätigkeit der christlichen Gewerkvereine ist getragen von der Anerkennung gleicher beiderseitiger Rechte und Pflichten von Arbeitern und Arbeitgebern. Arbeit und Kapital sind die aufeinander angewiesenen Faktoren der Produktion.

Außerdem forderte man Aufhebung aller die Koalitionsfreiheit beschränkenden Gesetze und gesetzliche Anerkennung der Berufsvereine, erklärte auch die Schaffung von Arbeitskammern mit gleichberechtigter Teilnahme von Arbeitgebern und Arbeitern als ein wertvolles Mittel zur Ausgleichung der sozialen Gegensätze.

Es wurde dann ein Zentralausschuß aus sieben norddeutschen und sechs süddeutschen Mitgliedern gewählt, dem folgende Aufgaben zugewiesen wurden:

1. Ausführung der Kongreß-Beschlüsse;
2. Agitation zur Gründung christlicher Gewerkvereine. Die Aufwendung der notwendigen Geldmittel wird durch nähere Vereinbarung der einzelnen Gewerkvereine zu regeln sein;
3. die Wahrnehmung der allgemeinen Interessen der von ihm vertretenen Gewerkvereine, wobei er in besonderen Fallen ein gemeinsames Vorgehen der Arbeiterschaft anzuregen hat;
4. statistische Erhebungen über die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung, sowie über die wirtschaftliche Lage der Arbeiterschaft u. s. w.;
5. Herausgabe eines Gewerkschaftsorgans für die Verbände, welche noch kein eigenes Fachorgan besitzen.

Um die Fühlung und gemeinschaftliche Thätigkeit unter den einzelnen christlichen Gewerkvereinen eines besonderen Industriebezirkes oder Ortes zu fördern, empfahl der Kongreß, unbeschadet der Zentralorganisationen der einzelnen Gewerkschaften die Fachsektionen oder Ortsgruppen der Industriebezirke zu einem Verein „Arbeiterschutz“ zusammenzuschließen.

Die Textilarbeiter haben schon die Organisation in die Hand genommen, indem sie am 11. Juni 1899 in Mönchen-Gladbach eine Konferenz abhielten, in der beschlossen wurde, je eine Zentralstelle für Nord- und Süddeutschland[Pg 414] zu schaffen. Die einzelnen Ortsverbände sollen möglichst selbständig sein, insbesondere auch über Streiks beschließen; nur dann, wenn sie dabei die Unterstützung seitens der Zentralstelle in Anspruch nehmen, müssen sie deren Genehmigung einholen.

Es soll eine gemeinsame Unterstützungskasse gegründet werden, in welche die Vereine für jedes Mitglied jährlich 1 Mk. einzuzahlen haben. Für Norddeutschland soll ein gemeinsames Fachorgan ins Leben gerufen werden.

Fußnoten:

[66] Eine umfassende Darstellung der deutschen Gewerkschaftsbewegung besteht nicht; die Litteratur ist deshalb bei den einzelnen Abschnitten angegeben. Außer den von mir behandelten Vereinigungen erwähnt Oldenberg im Handw. d. St.-W. I. (Ergänz.-Band, S. 395 und in Schmollers Jahrb., Jahrg. XX, S. 253 ff. noch: den Zentralverband deutscher Zuschneidervereine, den Bund deutscher Bierbrauergesellen, die beiden 1888 gegründeten Braumeistervereine, den 1894 entstandenen süddeutschen Bäckerverband, die organisierten Kellner, den deutschen Photographengehülfenverband und den Verein deutscher Versicherungsbeamter, sowie eine Reihe von Berg- und Hüttenarbeitervereinen. Teils schienen mir diese Vereine nicht wichtig genug, um eine eingehendere Berücksichtigung zu verdienen, teils, ist es mir nicht gelungen, Material zu erhalten, indem meine Anfragen unbeantwortet blieben.

[67] Die besten Quellen sind: Karl Walcker: „Die Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker)“ Eisenach 1881 und die in Veranlassung des 25jährigen Jubiläums der G.-V. von dem Verbandsanwalt Dr. Max Hirsch veröffentlichte Festschrift: „Die Arbeiterfrage und die deutschen Gewerkvereine“, Leipzig 1893, sowie das Verbandsorgan „Der Gewerkverein“, das jetzt im 31. Jahrgange erscheint. Vgl. außerdem Max Hirsch: „Die Arbeiterfrage und die deutschen Gewerkvereine“, Leipzig 1893. Eine Vergleichung mit den englischen Gewerkschaften enthält: Max Hirsch: „Die Entwicklung der Arbeiterberufsvereine in Großbritannien und Deutschland“. Berlin 1896.

[68] § 61.

[69] Vgl. unten II. Abschnitt.

[70] Dazu gehören die Reepschläger, Vergolder und Kellner. Die letzteren bilden seit Anfang 1898 einen Gewerkverein.

[71] Das beste zusammenfassende Werk über die sozialistischen Gewerkschaften ist das Buch von Schmöle: Die sozialdemokratischen Gewerkschaften in Deutschland seit dem Erlasse des Sozialistengesetzes, Jena 1896 Fischer, von dem bis jetzt der erste, vorbereitende Teil, der übrigens im Gegensatz zu seinem Titel auch wertvolles Material aus der Zeit von 1878 enthält, und der zweite, den Zimmererverband behandelnde Band erschienen ist. Seit 1891 erscheint das Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Redaktion und Verlag E. Legien Hamburg, als offizielles Organ der Zentralorganisationen. Ueber die drei Gewerkschaftskongresse von 1892, 1896 und 1899 sind im Verlage von E. Legien Hamburg, die offiziellen Verhandlungsberichte erschienen.

[72] Die Verhandlungen sind im Verlage von W. Brocke in Braunschweig im Druck erschienen.

[73] In dem in Aussicht genommenen II. Bande. Vergl. Vorwort.

[74] Schmöle in dem eingangs angeführten Werke; Einleitung S. XVI.

[75] Schmöle im Handw. d. Staatsw. I, S. 22.

[76] Vergl. unten.

[77] a. a. O. S. 144.

[78] a. a. O. S. 151.

[79] Nach Hinzurechnung der Stimmen der Bäcker, deren Vertreter bei der Abstimmung fehlte, aber nachträglich für den Antrag stimmte.

[80] Biermer im Handw. d. Staatsw., II. Erg. Band, S. 388, bezeichnet als Gegner der Generalkommission die auf ihre Selbständigkeit eifersüchtigen örtlichen Gewerkschaftskartelle.

[81] Vgl. unten S. 280 ff.

[82] Siehe oben S. 5.

[83] Siehe oben S. 202.

[84] Siebe oben S. 160.

[85] Siehe oben S. 220.

[86] Ein Beispiel bietet der Hamburger Hafenarbeiterstreik, bei dem die unmittelbar Beteiligten, die Rheder, ihrer Neigung, den Arbeitern entgegenzukommen, nur deshalb nicht folgen konnten, weil sie die Entscheidung in die Hände des Arbeitgeberverbandes gelegt hatten.

[87] Z. B. Leopold Sonnemann und die deutsche Volkspartei. Vgl. „Soziale Praxis“, VI, Nr. 45; VII, Nr. 1.

[88] Vgl. oben S. 12.

[89] Wer, wie ich bei der vorliegenden Arbeit, den bisherigen Mangel ausreichender Litteratur auf allen diesen Gebieten hat schmerzlich empfinden müssen (vgl. oben Vorwort), wird diesen Entschluß besonders freudig begrüßen.

[90] Vgl. oben S. 255.

[91] Der Bericht der Generalkommission giebt als Gesamtzahl nur 252044, doch scheint dies den mitgeteilten Einzelziffern nicht zu entsprechen.

[92] Vergl. unten die unter Ziffer 6–11 aufgeführten Vereinigungen.

[93] Der Verband der Eisenbahnarbeiter ist nicht aufgenommen, da er mit Rücksicht auf die Eisenbahnbehörden glaubt, Angaben nicht veröffentlichen zu dürfen.

[94] Ortsverbände.

[95] Für 1891 sind diese Ausgaben in der Statistik nicht geführt und bis 1896 ist die Invalidenunterstützung nicht getrennt berechnet, sondern in der Ausgabe für Krankenunterstützung enthalten.

[96] Der Reg.-Baumeister Keßler hat mir auf meine briefliche Bitte um nähere Angaben keine Antwort gegeben.

[97] Vgl. „Soziale Praxis“ VI, 874.

[98] Als Quellen und Materialsammlungen sind zu bezeichnen einerseits Karl Klimsch: Adreßbuch der Buch- und Steindruckereien des Deutschen Reiches und andererseits die vom Vorstande des Gehülfenverbandes herausgegebene Schrift: Zur Arbeiterversicherung. Geschichte und Wirken des Unterstützungsvereins Deutscher Buchdrucker von 1866–1881. Daneben kommen die beiderseitigen Organe in Betracht, nämlich einerseits der „Correspondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer“ der seit 1863 in Leipzig, und zwar jetzt dreimal wöchentlich erscheint und andererseits bis 1888 die „Mitteilungen des Deutschen Buchdruckervereines“ und seit 1889 die „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“, welche ebenfalls in Leipzig erscheint. Als litterarische Bearbeitungen sind in erster Linie zu nennen 1. Zahn: Die Organisation der Prinzipale und Gehülfen im deutschen Buchdruckgewerbe im 45. Bande der Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Leipzig, Duncker & Humblot. 2. A. Gerstenberg: Die neuere Entwickelung des deutschen Buchdruckgewerbes in statistischer und sozialer Beziehung, Jena 1892, Gustav Fischer. Die statistischen Angaben sind in erster Linie der zur Feier des 25jährigen Bestehens des Verbandes herausgegebenen Festnummer des „Correspondent für Deutschlands Buchdrucker“ vom 20. Mai 1891 entnommen; die neueren Daten verdanke ich den brieflichen Mitteilungen des Verbandsvorstandes.

[99] Wir werden uns mit dem deutschen Buchdruckerverein noch an anderer Stelle (vgl. unten III. Teil) zu beschäftigen haben; hier ist über denselben nur dasjenige mitzuteilen, was zum Verständnisse seines Verhältnisses zu der Gehülfenorganisation erforderlich ist.

[100] Nach derselben durften gehalten werden:

I. Setzer:   II. Drucker:
auf bis   3 Geh. 1 Lehrl.   auf bis   2 Geh. 1 Lehrl.
  4   7 2     3   5 2
  8 12 3     6   9 3
13 18 4   10 14 4
19 24 5   15 20 5
25 30 6                
auf fernere 8 Geh. 1 Lehrl. mehr.   auf fernere 6 Geh. 1 Lehrl. mehr.

[101] Nach den sehr wertvollen von dem Verbande geführten Tabellen hat die Zahl der Arbeitslosen in den Jahren 1880–1893 zwischen 5 und 9% geschwankt, ist aber im Durchschnitt stets gestiegen. Die an Arbeitslose gewährte Unterstützung belief sich 1890 auf 180000 Mk.

[102] Dieselbe wird vorzugsweise in den kleinen Druckereien betrieben. Nach der Reichsstatistik von 1895, Tab. XIII, kommt in Deutschland ein Lehrling im Großbetriebe auf 5,35, im Kleinbetriebe auf 1,33 Gehülfen. Die späteren Zählungen haben Lehrlinge und Gehülfen nicht getrennt, doch ist das Verhältnis zweifellos nicht günstiger geworden, viele kleine Druckereien arbeiten fast nur mit Lehrlingen. Vergl. hierzu die Seite 265 mitgeteilte Lehrlingsskala.

[103] Seitens der Prinzipale würde dies allerdings bestritten, indem man die §§ 40 und 42 des Tarifs, welche bestimmen, daß derselbe so lange in Gültigkeit bleibe, bis eine Aenderung beschlossen sei, dahin auslegte, daß der Tarif nicht einseitig aufgehoben, sondern nur durch eine beiderseitige Vereinbarung beseitigt werden könne. Diese Auffassung erscheint jedoch unberechtigt, zumal es dem Prinzipalverein keineswegs gelungen war, die Ausführung des Tarifes bei seinen Mitgliedern durchzusetzen. Vergl. Gerstenberg a. a. O., S. 170.

[104] Auf sozialdemokratischer Seite hat man später behauptet, auf das Bedenken der ungünstigen Zeitverhältnisse hingewiesen und vom Streik abgeraten zu haben. Vgl. A. Braun im Sozialpolit. Zentralblatt Nr. 4 vom 25. Januar 1892.

[105] Die vorstehende Darstellung stützt sich auf Gerstenberg a. a. O., S. 175 ff., wo das Nähere nachzulesen ist.

[106] Eine eingehende Darstellung des Streiks und der Verhältnisse, die ihm zu Grunde lagen, giebt Tiedemann in der Zeitschr. f. d. ges. Staatswissenschaft, Jahrg. 53, S. 209 bis 286. Der Verfasser macht den Gehülfen den Vorwurf, daß sie in Stettin ihre übrigen Forderungen aufgegeben hätten zu Gunsten des Zugeständnisses, künftig den Tarif durch Vereinbarungen der beiderseitigen Verbände festzusetzen. Dies sei allerdings ein äußerst wertvolles Prinzip, aber die Entwicklung sei in Deutschland noch nicht so weit vorgeschritten, daß es durchführbar erschiene. So habe denn auch der Erfolg bewiesen, daß die Durchführung seitens des Prinzipalvereins kaum ernsthaft versucht sei. Ferner hätten sie dadurch, daß sie den in Stettin vereinbarten Tarif auf 2 Jahre festgelegt hätten, den Prinzipalen die Möglichkeit gegeben, sich auf den schon damals zu erwartenden Streik in ausgiebigster Weise zu rüsten, was auch dadurch geschehen sei, daß, soweit irgend möglich, alle Aufträge vorher erledigt und so künstlich für die Dauer des Streiks eine Zeit der Geschäftsstille geschaffen sei. Das unbegreifliche Eingreifen des Preußischen Ministers des Innern sei darauf zurückzuführen, daß dort sich die später herrschend gewordene Politik der Bekämpfung aller Arbeiterorganisationen bereits damals geltend gemacht habe. In der That sei durch dieses Vorgehen, obgleich es bei der bereits eingetretenen Erschöpfung der Kasse einen wirklichen Einfluß auf das Ergebnis des Streiks kaum mehr gehabt habe, eine tiefe Erbitterung der bis dahin antisozialistischen Buchdrucker und ihre Ueberführung in das Lager der Sozialdemokratie bewirkt. Der Verband habe jetzt, unter dem Drucke der Verhältnisse, sein früheres und durchaus notwendiges Prinzip, nur solchen Mitgliedern Beitritt zu gestatten, die zu den tarifmäßigen Preisen arbeiteten, fallen gelassen und sei damit dem Ideale eines Gewerkvereins untreu geworden. Das Hauptziel müsse sein, der verhängnisvollen Lehrlingszüchterei entgegen zu wirken.

[107] Die Gaue sind folgende: 1. Bayern. 2. Berlin. 3. Dresden. 4. Erzgebirge-Vogtland. 5. Frankfurt a. M. Hessen. 6. Hamburg-Altona. 7. Hannover. 8. Mecklenburg-Lübeck. 9. Mittelrhein. 10. Nordwest. 11. Oberrhein. 12. Oder. 13. Osterland-Thüringen. 14. Ostpreußen. 15. Posen. 16. Rheinland-Westfalen. 17. An der Saale. 18. Schlesien. 19. Schleswig-Holstein. 20. Westpreußen. 21. Württemberg. Dazu kommt noch die selbständige Mitgliedschaft Leipzig.

[108] Eines derselben trug den viel versprechenden Titel: „Die Leitung des Buchdruckerverbandes während 8 Jahren, dienstbar der Polizei, den Unternehmern und der kapitalistischen Politik“, und gab den Anlaß zu einer von Döblin gegen Gasch erhobenen Privatklage.

[109] Nr. 87 vom 28. Juli 1896.

[110] Nr. 46 vom 15. November 1897.

[111] Die Höhe der Ziffern erklärt sich durch den großen Streik und die nach demselben verbliebenen Opfer.

[112] Die auffällige Abnahme erklärt sich daraus, daß vom 1. Januar 1893 ab das Krankengeld von 2 Mk. auf 1 Mk. 50 Pf. herabgesetzt wurde.

[113] Die Erhöhung gegen das Jahr 1895 hat ihren Grund fast ausschließlich darin, daß nach den Beschlüssen der Breslauer Generalversammlung die Karenzzeit von 150 auf 100 Wochen herabgesetzt und die Reiseunterstützung um täglich 5 Pf. erhöht ist.

[114] Die Mitgliederzahl am 31. Dezember 1898 betrug 26877.

[115] In den hier aufgeführten Beträgen sind auch die Leistungen der in Liquidation befindlichen Zentralinvalidenkasse enthalten.

[116] = 0,84% aller Erwerbsthätigen.

[117] In der neuesten Ausgabe von 1895 erklärt der Herausgeber, für die Zukunft auf die statistischen Mitteilungen verzichten zu müssen, giebt aber an, daß zur Zeit in Deutschland 4859 Buchdruckereien, 1242 Buch- und Steindruckereien, 1165 Steindruckereien und 75 Licht- und Kupferdruckereien beständen.

[118] Das verwandte Material verdanke ich privaten Mitteilungen; meine an den Vorstand des Bundes gerichtete Bitte um Auskunft ist unbeantwortet geblieben.

[119] Außer den im Vorworte bezeichneten allgemeinen Quellen und den an den einzelnen Stellen erwähnten besonderen Nachrichten habe ich die beiden Broschüren von Oldenberg und von Natorp: Der Ausstand der Bergarbeiter 1889 zu Grunde gelegt.

[120] Die Gesamtzahl der Knappschaftsvereine in Deutschland betrug Ende 1894 139 mit 477186 Mitgliedern, einer Jahreseinnahme von 36219972 Mk., einer Ausgabe von 31990215 Mk. und einem Vermögen von 76820206 Mk. Diese Vereine können, da sich ihre Zwecke wesentlich auf Unterstützungen beschränken, zu den gewerkschaftlichen Bildungen nicht gerechnet werden.

[121] Nach einer Mitteilung des Herrn Generaldirektor Dr. Ritter in Waldenburg, dem ich die vorstehenden Angaben verdanke.

[122] Oldenberg im Handw. der Staatsw. I. Erg.-Bd. S. 385 giebt folgende Zahlen:

Frühjahr 1889 162 Vereine mit 16902 Mitgl. und   5278 Mk. Vermögen
1890 200 50000        
Ende 1890       58000        
Frühjahr 1891 187 33983 27682
Ende 1891 291 45000   5517
Frühjahr 1892 287 58778 28040
März 1892 222 50000 28000
Ende 1892 167 15000     955
Frühjahr 1893 184 16906        
Ende 1893 171 11174   1113
Frühjahr 1894 169 14208 21428
31. Juli 1895       11000   3778

Hué, der Redakteur der „Berg- und Hüttenarbeiterzeitung“ behauptet in Nr. 4 des „Correspondenzblattes“ vom 24. Januar 1898, daß 15000 Mitglieder ihre Beiträge gezahlt hätten und berechnet unter Berücksichtigung der Säumigen die Gesamtzahl auf 18–19000.

[123] Die folgende Darstellung beruht auf dem „Bergknappen“ und dem mir außerdem von dem Vorsitzenden Brust zur Verfügung gestellten Material.

[124] Vgl. z. B. Nr. 6 vom 15. März 1899.

[125] Aus dem Berichte über den Bochumer Delegiertentag vom 1. bis 2. Februar 1897.

[126] Vgl. unten S. 401.

[127] Das Material für die nachfolgende Darstellung verdanke ich dem Vorsitzenden Bergmann Richard Breidebach in Eiserfeld.

[128] Das Material verdanke ich den Mitteilungen des Vereinsvorstandes, insbesondere enthält die Festschrift zur XIII. Generalversammlung des Vereins eine Uebersicht über die Entstehungsgeschichte.

[129] Dadurch erwirbt nach dem bayrischen Gesetze ein Verein die Rechte einer juristischen Person.

[130] Vgl. die Nr. 16–20 des Jahrganges 1895 und Nr. 2, 4–7 des Jahrganges 1896. Einen Auszug aus den Ausführungen giebt der „Genossenschaftliche Wegweiser“ in der Nr. 11 vom 30. Mai 1896.

[131] Das benutzte Material verdanke ich der Redaktion des „Deutschen Postboten“.

[132] Ich habe mich aus den mir vorgelegten Originalbriefen von der Wahrheit dieser kaum glaublichen Thatsachen überzeugt.

[133] Außer den hier erwähnten beiden Vereinen, die sich über ganz Deutschland erstrecken, giebt es noch eine Reihe von Landesvereinen, die aber an Bedeutung zurücktreten, sodaß es genügt, hier dieselben kurz anzuführen. Ich stütze mich dabei auf einen von dem Inspektor der österreichischen Nordwestbahn Sigismund Wolf in dem Klub österreichischer Eisenbahnbeamter in Wien am 10. Dezember 1896 gehaltenen und in der „Oesterreichischen Eisenbahnzeitung“ veröffentlichten Vortrag: „Ueber Eisenbahnbeamtenvereine.“ Eine andere Quelle ist der im Verlage von Robert Krause in Leipzig erscheinende „deutsche Eisenbahnkalender.“ Organ der meisten deutschen Eisenbahnbeamtenvereine sind die in demselben Verlage erscheinenden „deutschen Verkehrsblätter. Allgemeine deutsche Eisenbahnzeitung“, die in durchaus antisozialem Sinne geleitet wird. Die hiernach in Betracht kommenden Vereine d. h. unter Ausschluß bloßer Versicherungsvereine, Sparkassen und dergl. sind: 1. Vereine mittlerer Beamter des Stations- und Abfertigungsdienstes Preußischer Staats- sowie der Reichseisenbahnen mit dem Sitze in Berlin gegründet 1893 mit 78 Ortsvereinen und 5875 Mitgliedern. 2. Der Landesverein Württembergischer Verkehrsbeamten in Stuttgart, gegründet 1886 mit 20 Bezirks- und 64 Ortsvereinen und 950 Mitgliedern. 3. Der bayrische Verkehrsbeamtenverein in München, gegründet 1883 mit 5568 Mitgliedern. 4. Der Verein badischer Eisenbahnbeamten in Karlsruhe, gegründet 1890 mit 10 Bezirksvereinen und 900 Mitgliedern. 5. Der Verein der Beamten der Königl. Sächsischen Eisenbahnen in Chemnitz, gegründet 1885 mit 5 Bezirksvereinen, 71 Ortsgruppen und 6900 Mitgliedern. 6. Am 14. Juni 1896 ist auch ein Verein der Reichseisenbahnbeamten in Straßburg begründet, dem bei seiner Gründung 500 Mitglieder beitraten; Ende 1897 belief sich die Zahl auf 1000.

[134] Das benutzte Material verdanke ich dem Geschäftsführer des Vereins Herrn Schirmer in Hannover.

[135] Das benutzte Material verdanke ich dem Verbandsvorsitzenden Herrn Zeughausvorstand Claus in Leipzig.

[136] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorstande.

[137] Das Material verdanke ich dem im Text genannten Verbandssekretär Schmid.

[138] Das Material verdanke ich den im Texte genannten Verbandsvorsitzenden Winkler.

[139] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorsitzenden F. Eisele in Karlsruhe.

[140] Das Material verdanke ich teils den Mitteilungen des Vorstandes, teils habe ich es aus dem Verbandsorgane entnommen.

[141] Eine Darstellung über Entstehung und Wesen des Vereins findet sich in Nr. 10 der „Zeitschrift der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen“. Weiteres Material ist mir vom Herrn Präsidenten Ulrich brieflich geliefert.

[142] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[143] Vgl. S. 316 f.

[144] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorstande.

[145] Diese Angaben sind der Festschrift des kaufm. Vereins München zur Feier seines 25jährigen Bestehens entnommen.

[146] Das Material verdanke ich dem Vorsitzenden Herrn Ludwig Schäfer in Frankfurt a. M.

[147] Derselbe hat später den Namen „Deutscher Vortragsverband“ angenommen und ist von dem Verbande kaufm. Vereine formell unabhängig, obgleich die meisten Mitglieder beiden Verbänden angehören.

[148] Die übrigen Vereine mögen hier wenigstens mit ihren Mitgliederzahlen aufgeführt werden; wo keine Bezeichnung angegeben ist, heißt der Verein einfach „Kaufmännischer Verein“.

Alsfeld 53; Apolda 166; Arnstadt 97; Augsburg 420; Augsburg (kaufm. V. f. weibl. Angest.) 188; Baden-Baden 77; Barmen 760; Berlin (Verein der Bankbeamten) 1590; Biberach 198; Bingen 98; Bochum 264; Braunschweig 520; Bromberg 196; Buchholz 89; Chemnitz 948; Cottbus 253; Crimmitschau 407; Danzig 624; Dresden 68; Eisenach 148; Eisleben 136; Elberfeld 509; Elberfeld (K. V. f. weibl. Angest.) 128; Eßlingen 288; Frankenthal 203; Frankfurt a. M. (K. V. f. weibl. Angest.) 642; Freiberg 146; Freiburg 228; Fürth, 538; Geisenheim 118; Gera 289; Glatz 100; Göppingen 405; Görlitz 534; Hamburg (K. V. f. Damen) 173; Hannover 250; Heilbronn 486; Herford 133; Höchst 125; Hof 172; Iserlohn 382; Karlsruhe 254; Kassel 770; Kassel (K. V. f. w. A.) 137; Köln 431; Königsberg 714: Löbau 82; Ludwigshafen 604; Lübeck 495; Magdeburg 841; Mainz 607; Minden 86; München (K. V. f. w. A.) 250; M.-Gladbach 57; Neisse 180; Nürnberg 148; Offenbach 425; Offenburg 169; Osnabrück 405; Passau 130; Pforzheim 921; Pillkallen 69; Plauen i. V. 679; Posen 853; Rastatt 80; Rathenow 128; Regensburg 100; Remscheid 375; Reutlingen 426; Sonneberg 267; Sorau 150; Stallupönen 84; Stendal 145; Stettin 1103; Stolp 54; Straßburg 155; Stuttgart 1238; Ulm 334; Wernigerode 138; Wetzlar 156; Wiesbaden 319; Wittenberge 60; Worms 326; Würzburg 292; Zwickau 430.

[149] Das Material verdanke ich dem Geschäftsführer des Vereins, Herrn Alwin Helms in Hamburg.

[150] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorsitzenden Herrn L. Schäfer in Frankfurt a. M.

[151] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[152] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[153] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[154] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[155] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[156] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorstande.

[157] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorstande.

[158] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[159] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[160] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorstande.

[161] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[162] Eine litterarische Bearbeitung abgesehen von einzelnen Artikeln in Zeitschriften besteht nicht. Das benutzte Material verdanke ich in erster Linie Herrn Pfarrer lic. Weber in M.-Gladbach, Herrn Pfarrer Niemeyer in Eichlingshofen und Herrn Professor Hüpeden in Kassel. Wertvolle Notizen enthält auch Göhre: Die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und ihre Ziele. Leipzig 1876 Grunow.

[163] Die Jünglings- und Männervereine, von denen 1480 mit etwa 75273 Mitgliedern bestehen sollen, sind als rein erbauliche Vereine hier nicht berücksichtigt.

[164] Eine zusammenhängende Darstellung des katholischen Arbeitervereinswesens giebt es nicht außer dem schon 1879 erschienenen Buche von Bongartz: Das katholisch-soziale Vereinswesen in Deutschland, Würzburg. Ich verdanke das benutzte Material der Vermittelung der Herren Prof. Dr. Hitze, Dr. Pieper, Generalsekretärs des kathol. Volksvereins in M.-Gladbach und des Benefizianten Huber in München, sowie der Redaktion des „Arbeiter“ in München. Die letztere Zeitschrift ist die beste Sammelstelle für die katholische Arbeiterbewegung. Daneben bestehen noch an Zeitschriften: „Der christliche Arbeiter“ in Zell für Baden, der „Christliche Arbeiterfreund“ in Köln-Ehrenfeld für Westdeutschland und „Der Arbeiter“ in Berlin für Nord- und Ostdeutschland. Seit 1. April 1899 erscheint die „Westdeutsche Arbeiterzeitung“ in Mönchen-Gladbach. Sie ist das Organ der katholischen Arbeitervereine der Erzdiözese Köln. Berücksichtigt ist das katholische Vereinswesen auch in der Schrift von L. v. Hammerstein: Das soziale Wirken der Kirche, Trier 1890.

[165] Unter dem Titel „Verzeichnis der katholischen Arbeitervereine Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz.“ München, Verlag des „Arbeiters“, 1897.

[166] S. 299.

[167] S. 335 ff.

[168] Vgl. unten Teil III.

[169] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorstande.

[170] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[171] Das Material verdanke ich Herrn Kaplan Küpper in Düren.

[172] Vgl. unten Teil III.

[173] Das Material verdanke ich der Sozialen Auskunftsstelle in M.-Gladbach.

[174] Das Material verdanke ich dem Verbandsvorstande.

[175] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[176] Das Material verdanke ich Herrn Obermeister J. Bärrn in Frankfurt a. M.

[177] Das Material verdanke ich dem Arbeitersekretär Herrn Erzberger in Stuttgart.

[178] Die Ziffern aus Süddeutschland sind in dem Berichte nicht angeführt.

B. Internationale Beziehungen.

I. Einleitung.

Der Grundgedanke aller gewerkschaftlichen Bestrebungen der Arbeiterklasse ist Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Interesse des Arbeiters. Da nun aber derartige Maßregeln, mögen sie die Erhöhung der Löhne, Verkürzung der Arbeitsdauer, Vorkehrungen gegen Schädigungen im Betriebe, gegen übermäßige Ausbeutung der Arbeitskraft oder sonstige Fragen betreffen, fast ausnahmslos mit einer Verteuerung der Produktionskosten verknüpft sind, so ist ganz zweifellos ihre Durchführung auf allen Produktionsgebieten, bei denen es sich um eine Konkurrenz mit dem Auslande — und zwar sowohl beim Exporte als im eigenen Lande — handelt, erschwert, solange nicht durch dieselbe oder eine ähnliche Veranlassung der ausländischen Produktion gleiche Opfer auferlegt werden. Gewiß ist es unberechtigt, wenn bei jeder, oft unbedeutenden arbeiterfreundlichen Maßregel sofort die Existenzfrage der einheimischen Industrie gestellt wird, denn die natürliche Verschiedenheit der Produktionsbedingungen ist meist so groß, daß eine geringe Verschiebung gar keine Rolle spielt, aber immerhin ist grundsätzlich eine Verteuerung der inländischen Produktion im Gebiete der internationalen Konkurrenz nur insoweit möglich, wie sie in allen beteiligten Ländern übereinstimmend stattfindet. Damit ist der internationale Rahmen der Gewerkschaftsbewegung von selbst gegeben: Die Arbeiter selbst haben im Interesse der praktischen Ausführbarkeit ihrer Bestrebungen sich die Aufgabe zu stellen, auf möglichst gleichmäßige Erhebung ihrer Forderungen in allen Kulturländern hinzuwirken.

Die Sozialdemokratie hat schon früh den internationalen Karakter der Arbeiterfrage erkannt; wenn sie den Grundsatz der Internationalität dahin übertrieb, daß sie die Berechtigung der nationalen Eigenart verkannte, so beeinträchtigt dies nicht die Richtigkeit des Grundgedankens. Die Gewerkschaftsbewegung,[Pg 415] soweit sie selbständig auftritt, ist erst wesentlich später zu diesem Verständnis durchgedrungen. Freilich haben die englischen trade unions schon seit Jahren angefangen, durch besondere Abgesandte die Verhältnisse des Arbeits- und Warenmarktes im Auslande studieren zu lassen, aber diese Reisen bezweckten eben nur Studien, nur Feststellung der Thatsachen, nicht Beeinflussung derselben durch Verbindung mit der ausländischen Arbeiterschaft.

Nun muß aber, wenn es sich darum handelt, die ersten Anfänge internationaler Beziehungen auf gewerkschaftlichem Gebiete festzustellen, mit der Thatsache gerechnet werden, daß auch die Sozialdemokratie von je her Forderungen gewerkschaftlicher Natur erhoben und vertreten hat, daß also insoweit auch ihre Thätigkeit einen gewerkschaftlichen Karakter trägt. Es rechtfertigt sich deshalb unter diesem Gesichtspunkte, auch die früheren, überwiegend auf politischem Gebiete liegenden Bestrebungen zur Herbeiführung einer internationalen Verbindung der Arbeiter kurz zu erwähnen.

II. Die internationale Arbeiterassoziation.

Schon das kommunistische Manifest von 1848 erklärt: „Die Kommunisten arbeiten überall an der Verbindung und Verständigung der demokratischen Parteien aller Länder.“ Aber ein ernsthafter Versuch wurde in dieser Beziehung zuerst unternommen durch die am 28. September 1864 in London erfolgte Gründung der „Internationalen Arbeiterassoziation“. Ein Ausschuß von 50 Personen unter Leitung von Marx entwarf das Programm des 1866 in Genf abgehaltenen ersten internationalen Kongresses, welches als Ziel „die ökonomische Emanzipation der arbeitenden Klassen“ aufstellte, „dem jede politische Bewegung als bloßes Hülfsmittel sich unterordnen sollte“, und in Erwägung, „daß alle auf dies große Ziel gerichteten Anstrengungen bisher an dem Mangel der Solidarität zwischen den vielfachen Zweigen der Arbeit jedes Landes und an dem Nichtvorhandensein eines brüderlichen Bandes der Einheit zwischen den arbeitenden Klassen der verschiedenen Länder gescheitert sind, daß aber die Emanzipation der Arbeit weder ein lokales, noch ein nationales, sondern ein soziales Problem ist, welches alle Länder umfaßt, in der modernen Gesellschaft existiert und dessen Lösung von der praktischen und theoretischen Mitwirkung der fortgeschrittensten Länder abhängt“, „ein unmittelbares Bündnis der noch getrennten Bewegungen“ fordert Die Organisation bestand darin, daß die Delegierten der an den einzelnen Orten bestehenden Lokalsektionen eine Föderation des betreffenden Landes und die Vertreter die Föderationen[Pg 416] einen Kongreß bildeten, der jährlich zusammentreten sollte und das souveräne Vereinsorgan bildete. Das leitende Verwaltungsorgan war der „Generalrat“ in London, dem die Generalsekretäre der einzelnen Länder angehörten.

Die folgenden Kongresse wurden abgehalten: 1867 in Lausanne, 1868 in Brüssel und 1869 in Basel. Neben der Störung der Bewegung durch den deutsch-französischen Krieg machte sich aber bald ein scharfer Gegensatz unter den beiden Richtungen geltend, nämlich der sozialdemokratisch-zentralistischen unter Führung von Marx, und der anarchistisch-föderalistischen unter Leitung des Russen Bakunin. Auf dem vom 2.–9. September 1872 im Haag abgehaltenen Kongresse kam es deshalb zu einer Spaltung indem mit 26 gegen 23 Stimmen die Anarchisten ausgeschlossen wurden. Aber man überzeugte sich zugleich von der Aussichtslosigkeit der Bestrebungen für die nächste Zukunft, und so beschloß man die Auflösung in der Form, daß man den Generalrat nach New York verlegte[179].

Im Jahre 1873 tagten beide Parteien getrennt in Genf und befehdeten sich gegenseitig auf das heftigste. Der Versuch, auf dem Kongresse in Gent (9.–16. September 1877) die Verbindung wieder herzustellen, mißlang. Der Plan, bei Gelegenheit der Pariser Weltausstellung 1878 einen „Internationalen Arbeiterkongreß“ einzuberufen, scheiterte an dem Verbote der französischen Regierung. So war denn die internationale Organisation der Arbeiterschaft endgültig zerstört, und die nächsten Jahre zeigen ein getrenntes Vorgehen der beiden feindlichen Richtungen.

III. Allgemeine Arbeiterkongresse.

Die Anarchisten hielten eine Reihe von Kongressen, u. a. den „Weltkongreß“ vom 14.–19. Juli 1881 in London, ferner am 4. Juni 1882 in Lausanne und am 13. August 1883 in Genf, auf dem sie die „Propaganda der That“ zu organisieren suchten.

Die Sozialisten veranstalteten vom 2.–4. Oktober 1881 einen „Weltkongreß“ in Chur, auf dem man sich aber bald überzeugen mußte, daß der eigentliche Zweck des Kongresses, eine gemeinsame internationale Organisation, noch durchaus unmöglich sei und an der zu großen Ungleichheit der sozialen Entwickelung in den einzelnen Ländern und der nationalen Verbände scheitern müsse. Man begnügte sich deshalb mit einer Verständigung über die gemeinsamen[Pg 417] Ziele, nämlich: „Völlige körperliche und geistige Erziehung der Individuen auf Kosten der Gesamtheit, Ueberführung aller Produktionsmittel in Gesamteigentum, voller Arbeitsertrag für jeden Arbeiter nach Abzug der gesellschaftlichen Unkosten und Gewährleistung vollständigen Lebensunterhaltes seitens der Gesellschaft an alle Arbeitenden und Arbeitsunfähigen.“

Der Kongreß in Chur bedeutet insofern einen Umschwung in dem Auftreten der Sozialdemokratie, als sie sich seitdem von der Theorie zur Praxis gewandt, die sozialistischen Endziele, wie es Singer genannt hat, in den „Silberschrank der guten Stube“ gestellt hat, aus dem sie nur bei besonderen festlichen Gelegenheiten hervorgeholt werden, und dagegen solche Forderungen in den Vordergrund gerückt hat, die nicht allein im Gegenwartsstaate zu erreichen sind, sondern hinsichtlich deren auch unter den verschiedenen Parteien keine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit, sondern nur eine solche in betreff des Umfanges und des Tempos besteht. Dazu gehört vor allem der Arbeiterschutz, der von jetzt ab bei den Bestrebungen zu internationalem Zusammenwirken in den Vordergrund tritt.

Für die weitere Entwickelung der internationalen Beziehungen war es von Bedeutung, daß die 1878 aus Deutschland ausgewiesenen Sozialdemokraten großenteils nach Paris gingen und hier einen Mittelpunkt bildeten. Im Sommer 1882 entstand aus ihrer Mitte der „cercle international“, der sich in mehrere, den verschiedenen Nationalitäten entsprechende Sektionen sonderte und in ähnlicher Weise wie die frühere Internationale, die in Frankreich durch Gesetz vom 14. März 1872 verboten war, die Förderung der internationalen Beziehungen zwischen den sozialistischen Parteien der betreffenden Länder sich als Aufgabe stellte.

Aber hatten bisher die Streitigkeiten zwischen Anarchisten und Sozialisten es zu keiner gemeinsamen internationalen Organisation kommen lassen, so stellte sich dieser jetzt eine Spaltung in dem eigenen Lager der letzteren hemmend in den Weg. Dieselbe bezog sich freilich zunächst nur auf die Verhältnisse in Frankreich, wo sich der oben[180] näher dargestellte Zwiespalt zwischen Marxisten und Possibilisten entwickelt hatte, griff dann aber weiter, indem die Possibilisten bei den englischen trade unions Anschluß suchten und sich so ein weiterer Gegensatz zwischen sozialistischer und rein gewerkschaftlicher Auffassung geltend machte.

Nachdem so schon ein für den Herbst 1883 in Paris geplanter internationaler Kongreß an der Unmöglichkeit gescheitert war, eine Verständigung unter den leitenden Persönlichkeiten herbeizuführen, gingen endlich die Possibilisten (fédération des travailleurs socialistes de France) selbständig vor, indem sie nach Verständigung mit den englischen trade unions an Stelle eines[Pg 418] eigentlichen Kongresses, gegen den sie auch den Einspruch der französischen Regierung fürchteten, eine bloße internationale Konferenz[181] einberiefen, die vom 29. Oktober bis 2. November 1883 in Paris stattfand und an der außer 65 französischen und 10 englischen Abgesandten nur 3 spanische und ein italienischer Vertreter teilnahmen. Trotz der Fernhaltung der Marxisten trat unter den Franzosen und Engländern ein grundsätzlicher Gegensatz der Anschauungen zu Tage, indem die ersteren den Schwerpunkt auf das Eingreifen des Staates legten, während die letzteren dieses verwarfen und den Erfolg durch Ausnutzung des Koalitionsrechtes erreichen wollten. Da es nicht möglich war, sich gegenseitig zu überzeugen, so mußte man sich mit Beschlüssen begnügen, die rein äußerlich den beiden Standpunkten Rechnung trugen und folgenden Wortlaut hatten:

„1. Die Konferenz ist der Ansicht, daß das Hauptziel der Arbeiter darin bestehen muß, die Arbeitszeit zu beschränken und den Arbeitern aller Nationen eine erträgliche Lage zu schaffen. Dies zu erreichen giebt es zwei Mittel: die Gesetzgebung, um diejenigen zu schützen, die zu schwach sind, um sich gegen die Mißbräuche des Systems der Konkurrenz zu verteidigen, und die Organisierung aller einigen und disziplinierten Arbeiter. Da in einigen Ländern die Organisation der Arbeiter durch ungerechte Gesetze gehemmt wird, so liegt den Arbeitern aller Länder die Pflicht ob, alle ihre Bemühungen gegen die Gesetze zu richten, welche die nationale und internationale Gesetzgebung hemmen, vermöge deren das obige Resultat und alle der Arbeiterklasse förderlichen Verbesserungen eingeführt werden können.

2. In betreff der Arbeit, welche von fremden Arbeitern in einem Lande verrichtet wird, empfiehlt die Konferenz diesen Arbeitern, sich den allgemeinen Bedingungen zu fügen, welche in dem betreffenden Lande von nationalen und lokalen Arbeitervereinen aufgestellt worden sind, und den einheimischen Arbeitern nicht gefährliche Konkurrenz zu machen, indem sie Bedingungen annehmen, welche den Arbeitgebern günstiger sind.

3. In Erwägung, daß die Interessen der Arbeiter aller Länder gleiche und gegenseitige sind, daß, um eine gute Verteidigung dieser Interessen zu organisieren, es nötig ist, eines Tages eine dauernde Vereinigung zwischen den Arbeitervereinen aller Industrieländer herstellen zu können, ladet die Konferenz die Arbeiter der Länder, in denen nationale oder internationale Vereinsfreiheit nicht besteht, ein, in Parlamenten und im Volke dafür zu agitieren, daß die Gesetze, die dieser Vereinigung im Wege stehen, abgeschafft werden. Sie wünscht, daß bei der Unmöglichkeit, diese Vereinigung zustande zu bringen, Konferenzen oder Kongresse so oft als möglich die ernsthaft organisierten Arbeiterparteien der verschiedenen Nationen in Verkehr bringen mögen.“

[Pg 419]

Im wesentlichen denselben Verlauf nahm die zweite internationale Konferenz[182], die vom 23.–29. August 1886 ebenfalls in Paris stattfand, doch hatte man sowohl die Tagesordnung wie den Teilnehmerkreis bereits erweitert und so einen Uebergang zu den späteren eigentlichen Kongressen hergestellt. Die äußere Veranlassung hatte die „Erste internationale Industrieausstellung“ geboten, welche die Pariser Gewerkschaften am 6. Juni desselben Jahres eröffnet hatten. Außer den französischen und englischen Gewerkvereinen waren dieses Mal auch die sozialistischen Arbeiterparteien Belgiens, Deutschlands, Oesterreich-Ungarns und Schweden-Norwegens eingeladen und vertreten, so das sich die Gesamtzahl der Abgeordneten auf 170 belief.

Aber diese Erweiterung des Teilnehmerkreises hatte zur Folge, daß der schon auf der ersten Konferenz hervorgetretene Gegensatz zwischen den englischen trade unions auf der einen und den Sozialisten auf der anderen Seite sich noch schärfer geltend machte. Die deutschen Vertreter machten den Engländern den reaktionären Karakter ihrer Haltung zum Vorwurfe und bestritten ihnen das Recht, als eine Vertretung der gesamten Arbeiterschaft zu gelten, da sie nur die gelernten Arbeiter und nur etwa 1/10 der Gesamtheit hinter sich hätten. Die Engländer dagegen beriefen sich auf die von ihnen erzielten praktischen Erfolge im Gegensatze zu dem rein negativen Verhalten der sozialdemokratischen Agitation. Die Engländer waren in der ausgesprochenen Minderheit, beteiligten sich deshalb an den eigentlichen materiellen Verhandlungen insbesondere über die Fabrikgesetzgebung wenig und verließen die Konferenz vor deren Beendigung.

Die von der Konferenz gefaßten Beschlüsse lauteten folgendermaßen:

I. Hinsichtlich der internationalen Fabrikgesetzgebung.

Die Arbeiter der verschiedenen Länder sollen ihre Regierungen auffordern, Unterhandlungen einzuleiten behuf Abschließung internationaler Vorträge und Vereinbarungen über die Arbeitsbedingungen. Die Konferenz empfiehlt in erster Linie folgende Forderungen:

1. Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren.
2. Schutzmaßregeln für jugendliche Arbeiter über 14 Jahre und für Frauen.
3. Festsetzung des achtstündigen Arbeitstages bei einem Ruhetage in der Woche.
4. Verbot der Nachtarbeit außer in gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen.
5. Obligatorische Einführung von Einrichtungen in den Werkstätten zum Schutze der Gesundheit.
6. Verbot gewisser Industriebranchen und Produktionsmethoden, welche für die Gesundheit der Arbeiter besonders schädlich sind.[Pg 420]
7. Zivil- und strafrechtliche Haftbarmachung der Unternehmer bei Unfällen.
8. Ueberwachung der Werkstätten, Fabriken u. s. w. durch von den Arbeitern gewählte Aufsichtsbeamte.
9. Regelung der Gefängnisarbeit derart, daß sie der Privatindustrie keine schädliche Konkurrenz macht.
10. Festsetzung eines Minimallohnes in allen Ländern, welcher dem Arbeiter mit seiner Familie einen auskömmlichen Unterhalt bietet.

II. Hinsichtlich des Fachunterrichtes verlangte die Konferenz die Einrichtung gewerblicher Freischulen unter Aufsicht der Gewerkschaften für Kinder bis zu 16 Jahren nach Absolvierung der Elementarschule und gesetzliche Sicherstellung der Ausbildungskosten in Höhe von 200–300 Franks für solche Kinder deren Eltern weniger als 3000 Franks Einkommen haben.

III. Hinsichtlich der internationalen Koalition erklärte sich die Konferenz von neuem gegen alle Gesetze, die in den verschiedenen Ländern die Arbeiter verhinderten, sich international zu vereinigen und forderte die Abschaffung dieser Gesetze. Es sei notwendig, eine internationale Verbindung unter den Arbeitern aller Länder wiederherzustellen und nationale wie internationale Gewerkschaften zu begründen.

Außerdem wurde beschlossen, zum Juli 1889 aus Anlaß der hundertjährigen Gedenkfeier der französischen Revolution einem internationalen Arbeiterkongreß nach Paris einzuberufen und die französische Arbeiterpartei mit dieser Aufgabe zu betrauen.

Aber bevor dieser Plan zur Ausführung gelangte, beschloß der englische trade unions Kongreß in Swansea am 11. September 1887 für das Jahr 1888 einen internationalen Kongreß nach London einzuberufen und beauftragte das parlamentarische Komitee mit den erforderlichen Vorbereitungen. Nach den schlechten Erfahrungen, die man in Paris mit der Herbeiziehung des politisch-sozialistischen Elementes gemacht hatte, wollte man sich jedoch dessen Mitwirkung nicht wieder aussetzen, und so war beschlossen, nur solche Abgeordnete zuzulassen, die Mitglieder eines Arbeitervereins und auf dessen Kosten abgesandt seien, um dadurch berufsmäßige Agitatoren und Palamentarier auszuschließen. Der „reaktionäre“ Beschluß erregte bei den deutschen und österreichischen Sozialdemokraten große Entrüstung, wobei die ersteren noch einen besonderen Grund hatten, sich um die Angelegenheit zu bekümmern, da sie auf ihrem Parteikongresse in St. Gallen (2.–6. Oktober 1887) ebenfalls die Einberufung eines internationalen Kongresses für das Jahr 1888 beschlossen hatten. Aber vergeblich beriefen sie sich darauf, daß ihnen ihre Gesetze die Erfüllung der englischen Forderung unmöglich machten und daß die internationale Fabrikgesetzgebung ebenso die politischen wie die gewerkschaftlichen Organisationen angehe. Ihre Forderung,[Pg 421] die Parlamentsabgeordneten einer Arbeiterpartei ohne weiteres als Arbeitervertreter zuzulassen und ihr Angebot, ihren eigenen Kongreß zu Gunsten des englischen fallen zu lassen, wurde abgelehnt, und so erließ die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstages am 1. März 1888 einen öffentlichen Aufruf, in dem sie unter Darlegung des Sachverhaltes von einer Beschickung des englischen Kongresses abriet zu Gunsten eines allgemeinen Arbeiterkongresses, den sie mit den Vertretern der Arbeiterklasse der anderen Länder für das Jahr 1889 einberufen werde.

Gleichwohl fand der Kongreß vom 6.–10. November 1888 in London statt[183]. Vertreten war England durch 79 Abgeordnete für 850000 und das Ausland durch 44 Abgeordnete für 250000 Mitglieder. Von den letzteren entfielen 18 auf Frankreich, 13 auf Holland, 10 auf Belgien, 2 auf Dänemark und 1 auf Italien. Von den englischen Vertretern galten 15 als Sozialisten, und da sämtliche Ausländer dieser Richtung zuzurechnen waren, so war die sozialistische Mehrheit um so mehr von vornherein gesichert, als die Abstimmungen nach Nationalitäten erfolgten.

Nachdem man den ersten Punkt der Tagesordnung einstimmig dahin beantwortet hatte, daß die Arbeiterparteien in den verschiedenen Ländern die Abschaffung aller Gesetze, welche das Recht der freien Versammlung und Vereinigung der Arbeiter, sei es national oder international, aufheben oder beschränken, auf ihr Programm setzen und künftig dafür wirken sollten, begann der Gegensatz sich geltend zu machen, und zwar schon bei dem folgenden Punkte der Tagesordnung, der Frage der internationalen Vereinigung. Die Engländer schlugen eine Organisation auf rein gewerkschaftlicher Grundlage vor, derart, daß sämtliche Gewerkvereine eines Landes einen gemeinschaftlichen Vollziehungsausschuß und diese nationalen Ausschüsse einen internationalen Generalausschuß einrichten, daneben aber jährlich nationale und jedes dritte Jahr internationale Gewerkschaftskongresse stattfinden sollten. Dieser Antrag wurde aber nach mehrstündiger erregter Verhandlung mit 5 Nationen gegen eine und 48 gegen 31 Stimmen verworfen und statt dessen folgender Beschluß angenommen:

„In Erwägung der steigenden Konzentration des Kapitals und der numerischen Schwäche der Gewerkschaften im Verhältnis zur Gesamtmasse der Arbeiter drückt der Kongreß die Ueberzeugung aus, daß eine fernere Verringerung der Arbeitszeit ohne Eingreifen des Staates nicht möglich sei, sowie daß der Arbeitstag 8 Stunden nicht überschreiten soll.“

Der von einem französischen Anarchisten gemachte Vorschlag, diese Forderung durch allgemeine Streiks zu erzwingen, wurde allseitig zurückgewiesen.[Pg 422] Der nächste internationale Gewerkschaftskongreß wurde für 1889 in Paris in Aussicht genommen.

So hatte dieser erste wirkliche Gewerkschaftskongreß mit einem völligen Siege des Sozialismus geendet. —

Auf Grund dieses Beschlusses und des von der letzten internationalen Konferenz im Jahre 1886 erhaltenen Auftrages beriefen nun die französischen Possibilisten zum 14. Juli 1889 einen internationalen Arbeiterkongreß nach Paris, hatten aber in der Einladung bestimmt, daß die Prüfung der Mandate nach Nationalitäten erfolgen solle. Hiernach glaubten die Marxisten ihren Ausschluß vom Kongresse befürchten zu müssen, da die Possibilisten, wenigstens in Paris, innerhalb der französischen Arbeiterpartei die Mehrheit bildeten. Sie bestritten deshalb das Einberufungsrecht der Possibilisten und beschlossen ihrerseits einen Gegenkongreß auszuschreiben, wozu sie den Auftrag von zwei französischen Gewerkschaftskongressen erhalten zu haben behaupteten.

Um der Welt das Schauspiel eines solchen Doppelkongresses zu ersparen und den Zwiespalt beizulegen, fand auf Anregung der sozialdemokratischen Fraktion des deutschen Reichstages am 28. Februar 1889 im Haag eine Einigungskonferenz statt, an welcher je zwei Abgesandte für Deutschland, Belgien, Holland, Frankreich und Schweden teilnahmen. Aber die Verhandlungen blieben erfolglos, und so beriefen die Marxisten nun ebenfalls ihren Gegenkongreß auf den 14. Juli 1889.

An diesem Tage wurden beide Kongresse in Paris eröffnet. Beide haben auch bis zum 20. desselben Monats nebeneinander getagt. Freilich wurden von beiden Seiten Versuche gemacht, eine Verschmelzung herbeizuführen, dieselben scheiterten aber daran, daß die Marxisten die Mandatsprüfung dem Kongresse vorbehalten, die Possibilisten dagegen sie von den einzelnen Nationen vornehmen und nur eine Berufung an den Kongreß zulassen wollten.

Der Marxistenkongreß[184] war von insgesamt 391 Abgeordneten besucht, von denen 221 auf Frankreich, 81 auf Deutschland, 23 auf England entfielen. Die trade unions waren nur auf dem Possibilistenkongresse vertreten, dagegen hatten die englischen Sozialisten beide Kongresse beschickt. Die ersten fünf Tage wurden abgesehen von Störungen, die von den Anarchisten hervorgerufen wurden und mit deren gewaltsamer Entfernung endeten, durch die Verhandlungen mit den Possibilisten und Berichte der Abgeordneten über die Verhältnisse in den einzelnen Ländern ausgefüllt, so daß am letzten Tage nichts übrig blieb, als über die eingebrachten Anträge ohne Beratung abzustimmen, was lebhafte Proteste[Pg 423] von den verschiedensten Seiten zur Folge hatte. Der Hauptgegenstand war der internationale Arbeiterschutz; in dem bezüglichen Beschlusse forderte der Kongreß:

1. Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Arbeitstages für jugendliche Arbeiter.
2. Verbot der Arbeit für Kinder unter 14 Jahren, und für Personen von 14–18 Jahren Herabsetzung des Arbeitstages auf 6 Stunden.
3. Verbot der Nachtarbeit, außer für bestimmte Industriezweige, deren Natur einen ununterbrochenen Betrieb erfordert.
4. Verbot der Frauenarbeit in allen Industriezweigen, deren Betriebsweise besonders schädlich auf den Organismus der Frauen einwirkt.
5. Verbot der Nachtarbeit für Frauen und jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren.
6. Ununterbrochene Ruhepause von wenigstens 36 Stunden die Woche für alle Arbeiter.
7. Verbot derjenigen Industriezweige und Betriebsweisen, deren Gesundheitsschädlichkeit für den Arbeiter vorauszusehen ist.
8. Verbot des Trucksystems.
9. Verbot der Lohnzahlung in Lebensmitteln sowie der Unternehmerkramladen, Kantinen u. s. w.
10. Verbot der Zwischenunternehmer (Schwitzsystem).
11. Verbot der privaten Arbeitsnachweisebureaus.
12. Ueberwachung aller Werkstätten und industriellen Etablissements mit Einschluß der Hausindustrie durch vom Staate besoldete und mindestens zur Hälfte von Arbeitern gewählte Fabrikinspektoren.

Zur Durchführung dieser Maßregeln forderte der Kongreß den Abschluß internationaler Verträge, ernannte aber zugleich eine Exekutivkommission aus 5 Mitgliedern, die bei der von der schweizerischen Regierung berufenen internationalen Arbeiterschutzkonferenz im Sinne der Forderungen wirken sollte. Dieselbe erhielt außerdem den Auftrag, die Agitation für den Achtstundentag in die Hand zu nehmen und zu diesem Zwecke ein besonderes wöchentliches Organ unter dem Titel: „Der Achtstundenarbeitstag“ herauszugeben und endlich den nächsten internationalen Arbeiterkongreß einzuberufen. Dagegen wurde die insbesondere von dem Holländer Domela-Nieuwenhuis und der Mehrzahl der Franzosen geforderte Empfehlung des Generalstreiks als Vorbereitung der sozialen Revolution und insbesondere des sog. „Militärstreiks“, d. h. der allgemeinen Weigerung der Arbeiterklasse, bei einem ausbrechenden Kriege die Waffen zu ergreifen, nach sehr erbitterten Verhandlungen mit großer Mehrheit abgelehnt.[Pg 424] Endlich wurde die Einladung der Belgier angenommen, im Jahre 1891 in Brüssel einen ferneren internationalen Arbeiterkongreß abzuhalten.

Die übrigen Beschlüsse betrafen: die Abschaffung der stehenden Heere und Einführung allgemeiner Volksbewaffnung, das uneingeschränkte Vereins- und Koalitionsrecht und gleiche Löhne für die Arbeiter ohne Unterschied des Geschlechts und der Nationalität. In einer Resolution forderte man die Arbeiter auf, die Eroberung der politischen Macht und des politischen Wahlrechts anzustreben und in die Reihen der sozialdemokratischen Partei einzutreten.

Endlich faßte der Kongreß in Bezug auf die Schaffung eines allgemeinen Arbeiterfeiertages folgenden Beschluß:

„Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf 8 Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internationalen Kongresses von Paris zur Ausführung zu bringen«.

In Anbetracht der Thatsache, daß eine solche Kundgebung bereits von der amerikanischen federation of labor auf ihrem im Dezember 1888 zu St. Louis abgehaltenen Kongreß für den 1. Mai 1890 beschlossen worden ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen.

Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebung in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, ins Werk zu setzen.“

Der Possibilistenkongreß[185] war von insgesamt 651 Abgeordneten besucht, wovon 477 aus Frankreich, 42 aus England, 35 aus Oesterreich, 66 aus Ungarn. Die englischen trade unions hatten 17 Vertreter geschickt, obgleich das parlamentarische Komitee von der Beschickung abgeraten hatte. Die Gewerkschaften waren hier stärker vertreten, als bei den Marxisten, insbesondere hatten 136 französische Gewerkschaften Abgeordnete gesandt. Der Hauptgegenstand der Verhandlungen war auch hier die internationale Arbeiterschutzgesetzgebung, insbesondere die Beschränkung der Arbeitszeit, Frauen-, Kinder-, Nacht- und Sonntagsarbeit. Die Beschlüsse waren ganz ähnlich, wie bei den Marxisten, nur forderte man noch außerdem: doppelte Bezahlung der Ueberarbeit und Beschränkung derselben auf täglich höchstens 4 Stunden, Arbeiterwerkstätten mit Staats- oder Gemeindeunterstützung, Regelung der Armenhaus- und Gefangenenarbeit und Ausnutzung derselben für den Bedarf des Staates, Festsetzung eines Minimallohnes durch die Gewerbekammern nach den Existenzbedingungen[Pg 425] des Landes. Außerdem verlangte man Einführung der zivilen und strafrechtlichen Haftbarkeit der Unternehmer bei Unfällen, sowie Alters- und Invaliditätsversicherung. In betreff der internationalen Verbindung faßte man folgenden Beschluß:

„1. Zwischen den sozialistischen Organisationen der verschiedenen Länder sind dauernde Beziehungen herzustellen, doch dürfen diese in keinem Falle und unter keinem Vorwande die Autonomie der nationalen Gruppen gefährden, da letztere die im eigenen Lande zu befolgende Taktik am besten beurteilen können.

2. An alle Gewerkschaften und Berufsverbände soll eine Aufforderung ergehen, sich national und international zu organisieren.

3. Die Schaffung eines internationalen Blattes, das in mehreren Sprachen erscheint, soll für die sozialistischen Parteien der verschiedenen Länder in Aussicht genommen werden.

4. Alle Organisationen sollen für ihre wandernden Mitglieder Karten ausgeben, um sie für ihre Arbeitsbrüder in allen Ländern kenntlich zu machen.

5 Für jedes Land sollen Nationalkommissionen errichtet werden, soweit sie nicht schon bestehen; diese haben dann sowohl auf gewerkschaftlichem wie auf politischem Gebiete die internationalen Beziehungen zu unterhalten. Die Kommissionen haben die Pflicht, alle diejenigen Mitteilungen in Empfang zu nehmen, zu übersetzen und an die interessierten Kreise zu übermitteln, welche an sie über die soziale und wirtschaftliche Lage der Arbeiter gelangen.“

Endlich beschloß der Kongreß, die Arbeiter der einzelnen Länder sollten ihre Regierungen auffordern, auf Grund der bestehenden und zu schaffenden Gesetze allen Koalitionen und Ringen entgegenzutreten, welche den Zweck haben, ein Monopol der Rohstoffe und der Lebensmittel zu schaffen oder die Arbeiter zu vergewaltigen. Auch sollten die Arbeiter ihre eigenen Koalitionen denen der Arbeitgeber entgegenstellen.

Auch hier wurde beschlossen, den nächsten Kongreß 1891 in Brüssel abzuhalten. —

So war der Boden für ein Zusammengehen der beiden Richtungen vorbereitet, und der vom 16. bis 22. August 1891 in Brüssel abgehaltene zweite internationale Arbeiterkongreß[186] konnte deshalb mit Recht den Anspruch erheben, das erste gemeinsame Parlament der Sozialdemokratie zu sein. Anwesend waren 187 belgische und ebensoviele auswärtige Abgeordnete, darunter 65 französische, 28 englische und 40 deutsche. Bei den englischen wird im Protokolle ausdrücklich bemerkt, daß sie sowohl sozialistische wie bloß gewerkschaftliche Organisationen verträten. Ebenso wird hervorgehoben, daß die vertretenen[Pg 426] 17000 dänischen Arbeiter 90 sozialistischen und 140 gewerkschaftlichen Vereinen angehörten; dazu kamen noch 20000 gewerkschaftlich organisierte Arbeiter in Kopenhagen.

Den Hauptgegenstand der Verhandlungen bildete wieder die internationale Arbeiterschutzgesetzgebung. Nachdem die Abgeordneten die Verhältnisse der einzelnen Länder geschildert hatten, brachte man in einer Resolution die Enttäuschung darüber zum Ausdrucke, daß die Berliner Arbeiterschutzkonferenz so geringe Erfolge gehabt habe und forderte die Arbeiter aller Länder auf, fortdauernde Erhebungen anzustellen und sich gegenseitig Mitteilungen zu machen.

Große Meinungsverschiedenheiten machten sich geltend bei der Frage der internationalen Organisation. Am weitesten gingen die Belgier und ein Teil der Franzosen, die verlangten, daß jede Nation ein Komitee einsetzen und diese Komitees zu einer gemeinsamen Verbindung zusammentreten sollten, indem sie diesen Vorschlag damit begründeten, daß die Arbeiter aufhören müßten, französische, deutsche, englische u. s. w. Arbeiter zu sein, sondern Arbeiter der Welt werden müßten. Die Mehrheit der Franzosen und die Engländer stellten sich freilich ebenfalls auf den Boden des Grundgedankens, daß der internationalen Verbindung des Kapitals diejenige der Arbeit entgegengesetzt werden müsse, verlangten deshalb, daß überall Gewerkschaften begründet werden sollten und jeder Arbeiter denselben beitreten müsse, sowie daß auf Abschaffung aller die Koalitionsfreiheit beschränkender Gesetze hingearbeitet werden müsse, wollten aber die internationale Verbindung auf die Einrichtung nationaler Gewerkschaftsekretariate beschränkt sehen, die untereinander in Austausch treten und so die Vorbereitung für die folgende Stufe, die internationalen Gewerkschaftsverbände, bilden sollten. Die Deutschen endlich erklärten, daß ihre Gesetze ihnen auch dies nicht gestatteten und ihnen eine internationale Organisation nur durch Vertrauensmänner möglich sei. Sie wollten sich deshalb darauf beschränken, den Arbeitern die gewerkschaftliche Vereinigung ans Herz zu legen, die Form aber den einzelnen Ländern überlassen. Nachdem sie sich dann jedoch auf Wunsch der Franzosen dazu bereit erklärt hatten, wenigstens die Forderung nationaler Sekretariate aufzunehmen, würde folgende Resolution fast einstimmig angenommen:

„Unter den heutigen ökonomischen Verhältnissen und bei dem Bestreben der herrschenden Klassen, die politischen Rechte und die wirtschaftliche Lage des Arbeiters immer tiefer herabzudrücken, sind Streiks und Boykotts eine unumgängliche Waffe für die Arbeiterklasse, einmal, um die auf ihre materielle und politische Schädigung gerichteten Bestrebungen ihrer Gegner zurückzuweisen, dann aber auch, um ihre soziale und politische Lage nach Möglichkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu verbessern.

[Pg 427]

Da aber Streiks und Boykotts zweischneidige Waffen sind, die, am unrechten Orte und zu unrechter Zeit angewandt, die Interessen der Arbeiterklasse mehr schädigen als fördern können, empfiehlt der Kongreß den Arbeitern sorgfältige Erwägung der Umstände, unter welchen sie von diesen Waffen Gebrauch machen wollen. Insbesondere betrachtet es der Kongreß als zwingende Notwendigkeit, daß die Arbeiterklasse zur Führung solcher Kämpfe sich gewerkschaftlich organisiere, um sowohl durch die Wucht der Zahl wie auch der materiellen Mittel die beabsichtigten Zwecke erreichen zu können.

Von diesen Auffassungen ausgehend empfiehlt der Kongreß den Arbeitern kräftige Unterstützung der gewerkschaftlichen Organisationen. Und da, wie wünschenswert auch eine Zentralorganisation der Kräfte der internationalen Arbeiterschaft wäre, diese im Augenblicke an Schwierigkeiten aller Art scheitert, so beschließt der Kongreß, der Solidarität der Arbeiter in den verschiedenen Ländern ein gemeinschaftliches Mittel an die Hand zu geben, indem in jedem Lande, wo dies möglich ist, die Errichtung nationaler Arbeitersekretariate empfohlen wird, damit, sobald von irgend einer Seite sich ein Konflikt zwischen Kapital und Arbeit entwickelt, die Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten davon benachrichtigt werden können, um ihre Maßnahmen zu treffen.

Zugleich erhebt der Kongreß Protest gegen alle Versuche der Regierungen und der Unternehmerklasse, das Recht der Vereinigungen der Arbeiter irgendwie zu beschränken. Zur Sicherung des Koalitionsrechtes verlangt der Kongreß Beseitigung aller Gesetze, welche geeignet sind, dem Koalitionsrechte irgend welche Schranken zu ziehen, desgleichen Bestrafung aller derjenigen, welche die Arbeiter in der Ausübung dieses Rechtes hindern.“

Wie der Wortlaut des Beschlusses ergiebt, war man darüber einverstanden, bei Anwendung der Kampfmittel des Streiks und des Boykotts den Arbeitern die äußerste Vorsicht zu empfehlen; dies wurde bei den Verhandlungen von allen Seiten hervorgehoben.

Hinsichtlich der Maifeier hatten die deutschen Vertreter auf einer Sonderbesprechung beschlossen, den Antrag zu stellen, dieselbe auf den ersten Sonntag im Mai zu verlegen, falls aber dieser Vorschlag keine Annahme finden sollte, die Verständigung auf der Grundlage zu suchen, daß der Gedanke der allgemeinen Arbeitsruhe nicht obligatorisch mit der Maifeier verbunden werde. Während die Engländer sich dieser Auffassung anschlossen, wollten die Franzosen und die Oesterreicher unbedingt an dem 1. Mai und an dem Gedanken der Arbeitsruhe festhalten. Nachdem ein französischer Antrag, der Feier zugleich die Bedeutung einer Friedensdemonstration zu geben, abgelehnt war, wurde folgender vermittelnde Antrag angenommen:

[Pg 428]

„Um dem 1. Mai seinen bestimmten ökonomischen Karakter der Forderung des Achtstundentages und der Bekundung des Klassenkampfes zu wahren, beschließt der Kongreß:

Der 1. Mai ist ein gemeinsamer Festtag der Arbeiter aller Länder, an dem die Arbeiter die Gemeinsamkeit ihrer Forderungen und ihre Solidarität bekunden sollen. Dieser Festtag soll ein Ruhetag sein, soweit dies durch die Zustände in den einzelnen Ländern nicht unmöglich gemacht wird.“

Nachdem noch eine Resolution gegen den Militarismus unter Ablehnung des von Nieuwenhuis (Holland) gestellten Antrages eines Militärstreiks zur Verhinderung des Krieges angenommen und in einem ferneren Beschlusse die Abschaffung der Stück- und Akkordarbeit und des Schwitzsystems, sowie die Gleichstellung der Frau mit dem Manne auf zivilrechtlichem und politischem Gebiete gefordert war, wurde unter Ablehnung einer Einladung nach Chicago beschlossen, den nächsten Kongreß im Jahre 1893 in der Schweiz abzuhalten. —

Stellte bereits der Brüsseler Kongreß hinsichtlich der Vereinigung aller Arbeiter insofern einen Fortschritt dar, als der Gegensatz unter den sozialistischen Richtungen überwunden war, so versuchte man jetzt, auch die englischen trade unions, die sich bisher offiziell durchaus fern gehalten hatten, für den Anschluß zu gewinnen.

Zunächst schien dies freilich nicht erreichbar. Als nämlich auf Grund des in Brüssel gefaßten Beschlusses, den nächsten Kongreß 1893 in der Schweiz stattfinden zu lassen, am 10. Januar 1892 die Komitees der drei großen schweizerischen Arbeiterverbände: des Grütlivereins, des Gewerkschaftsbundes und der sozialdemokratischen Partei zusammengetreten waren und eine Einladung nach Zürich „an alle Gewerkschaften und sozialistischen Parteien“ erlassen hatten, fanden sie damit bei dem parlamentarischen Komitee der englischen trade unions wenig Gegenliebe. Wie der offizielle Kongreßbericht mitteilt, nahm man von dem Einladungsschreiben keine Notiz, und der Erfolg wiederholter Erinnerungen war lediglich der, daß der Gewerkschaftskongreß in Glasgow das Parlamentarische Komitee beauftragte, seinerseits einen internationalen Kongreß für den Achtstundentag für 1893 nach London einzuberufen. Aber den Bemühungen des schweizerischen Komitees, das sich unmittelbar an die einzelnen englischen Gewerkschaften wandte, gelang es schließlich doch, die Zurücknahme der bereits erlassenen Einladung und den Beschluß herbeizuführen, sich an dem Züricher Kongresse[187] zu beteiligen.

Derselbe fand vom 6.–12. August 1893 statt, nachdem auf einer am 26. März 1893 in Brüssel abgehaltenen und von folgenden Verbänden:

[Pg 429]

1. für Frankreich Comité révolutionaire central, parti ouvrier und bourse du travail,
2. für Deutschland Parteikomitee und Generalkommission der Gewerkschaften,
3. für England Parlamentarisches Komitee, Londoner Gewerkschaftsrat, socialdemocratic federation, independant labour party und einige größere Einzelvereine,
4. für Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Italien und Oesterreich die Zentralvorstände der sozialistischen Parteien,

besuchten Vorkonferenz die Einzelheiten und die Form der Einladung festgesetzt waren.

Obgleich die Einladung gerichtet war: „an alle Gewerkschaften sowie an diejenigen sozialistischen Parteien und Vereine, die die Notwendigkeit der Arbeiterorganisation und der politischen Aktion anerkennen“, hatten sich die Anarchisten und die deutschen „unabhängigen Sozialisten“, die man gerade hierdurch hatte ausschließen wollen, eingefunden und suchten ihre Zulassung zu erzwingen, bis man sie gewaltsam entfernte. Die sozialistischen und die gewerkschaftlichen Vereinigungen waren zum Teil durch besondere Abgeordnete vertreten. Der Bericht erwähnt aus Dänemark 2 Delegierte für 150 sozialdemokratische Vereine mit 17000 und 90 gewerkschaftliche Organisationen mit 20000 Mitgliedern, aus Spanien einen sozialistischen und einen gewerkschaftlichen Abgeordneten, aus Ungarn 9 Vertreter für die politische Partei und 23 Gewerkschaften, aus England 65 Abgeordnete, die 44 politische und gewerkschaftliche Organisationen vertraten. Insgesamt waren anwesend 296 Abgeordnete, darunter 101 aus der Schweiz, 65 aus England, 39 aus Frankreich, 34 aus Oesterreich, 92 aus Deutschland, 21 aus Italien, 17 aus Belgien. Die Verhandlungen zogen sich durch die Streitigkeiten der verschiedenen Richtungen, insbesondere mit den Anarchisten, so lange hin, daß die Engländer erklären ließen, sie seien diese zwecklosen Debatten übersatt; jeder von ihnen wisse bereits, wie er zu stimmen habe; sie hätten wichtige Fragen zu verhandeln und seien es ihren Mandanten schuldig, ihre Pflicht zu erfüllen; würde der Kongreß nicht endlich in seine Tagesordnung eintreten, so wären die englische Delegierten leider gezwungen, den Kongreß zu verlassen.

Der erste Punkt der Tagesordnung betraf die Maßregeln zur internationalen Durchführung des Achtstundentages. Gegenstände der Verhandlung waren insbesondere die Frage des Minimallohnes, die Berufung einer Staatenkonferenz und die Ueberzeitarbeit. Zur Annahme gelangte schließlich einstimmig eine Resolution, in welcher die Bedeutung des Achtstundentages betont und als Mittel zu dessen Durchführung die gewerkschaftliche und politische Organisation der Arbeiterklasse auf nationaler und internationaler Grundlage und die Agitation[Pg 430] und Propaganda durch diese Organisation empfohlen wurde. In derselben wurde ferner bemerkt:

„Die Gewerkschaftsorganisation der Arbeiter hat den außerpolitischen freien Kampf mit dem Unternehmertum für den Achtstundentag zu führen, um dadurch der gesetzlichen Einführung desselben für die ganze Arbeiterklasse den Weg zu bereiten.“

Sehr langwierige Verhandlungen knüpften sich an die beiden Gegenstände der Tagesordnung: „Stellung der Sozialdemokratie im Kriegsfalle“ und „Politische Taktik der Sozialdemokratie“. Bei dem ersteren Punkte handelte es sich wieder um den Antrag der Holländer, den Krieg durch einen allgemeinen Streik unmöglich zu machen, doch wurde derselbe gegen die Stimmen von Holland, Frankreich, Norwegen und Australien durch die übrigen 14 Nationen verworfen. Bei dem zweiten Punkte war man allseits einig über die Notwendigkeit sowohl des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes, so daß eine dementsprechende Resolution mit 18 Stimmen bei einer Stimmenthaltung angenommen wurde.

Bei der Frage der Maifeier kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Deutschen und den Oesterreichern, die den ersteren den Vorwurf machten den Brüsseler Beschluß nicht mit dem erforderlichen Nachdruck und Ernst ausgeführt zu haben. Es wurde deshalb schließlich neben der einstimmigen Wiederholung jenes Beschlusses mit allen gegen die Stimmen von Deutschland, Dänemark, Bulgarien und Rußland ein Zusatz dahin angenommen, daß die Sozialdemokratie jedes Landes die Pflicht habe, die Durchführung der Arbeitsruhe am 1. Mai anzustreben und jeden Versuch zu unterstützen, der an einzelnen Orten und von einzelnen Organisationen in dieser Richtung gemacht werde. Uebrigens wurde in der Begründung, daß die Feier des 1. Mai den festen Willen der Arbeiterschaft bekunden solle, durch die soziale Revolution die Klassenunterschiede zu beseitigen, der Ausdruck „soziale Revolution“ durch „soziale Umgestaltung“ ersetzt.

Ueber die Gewerkschaftsfrage wurde eingehend verhandelt. Es standen sich, wie in Brüssel, zwei Richtungen gegenüber. Der deutsche Referent v. Elm führte aus, in der Kommission habe Uebereinstimmung darüber geherrscht, daß es notwendig sei, die Gewerkschaftsbewegung sowohl auf nationalem, wie auf internationalem Gebiete zu stärken; nur die Frage, wie die Gewerkschaften international am besten zu verbinden seien, habe Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen, wobei insbesondere für Deutschland und Oesterreich die gesetzlichen Hindernisse in Betracht kämen. Nationale Verbände über ganz Deutschland seien heute noch nicht möglich, viel weniger aber festgegliederte internationale Verbände, da sie die deutschen Gewerkschaften sofort mit dem Staatsanwalt in Konflikt bringen[Pg 431] würden. Durch internationale Kartellverträge bezw. Vereinbarungen könne bei gutem Willen dasselbe erreicht werden, wie durch festgegliederte internationale Organisationen, wie dies die Buchdrucker und die Tabakarbeiter bewiesen hätten. Bezüglich der internationalen Arbeitersekretariate halte es die Mehrheit der Kommission für am zweckmäßigsten, zunächst in den verschiedenen Berufen nationale Sekretariate zu bilden; diese könnten alle Nachrichten von Bedeutung gegenseitig austauschen. Einem gemeinschaftlich zu bestimmenden Lande müsse die Aufgabe zugeteilt werden, das gemeinschaftliche internationale Sekretariat zu bilden. In Ländern, wo die Gesetze Schwierigkeiten böten, könnten die nationalen Sekretariate durch in öffentlichen Versammlungen oder auch in internationalen Kongressen zu wählende Vertrauenspersonen gebildet werden. Ein einziges internationales Sekretariat für alle Berufe würde organisatorisch zu schwerfällig arbeiten, hinsichtlich Auskunft- und Raterteilung in allen internationalen Arbeiterangelegenheiten sei dasselbe zu empfehlen.

Was endlich die Arbeitsbörsen betrifft, so war die Kommission darin einig, daß sie notwendig seien, doch müßten die Gewerkschaften selbst deren Leitung in die Hand nehmen.

Die von dem Referenten vorgeschlagene Resolution betonte die Pflicht aller Arbeiter, sich ihren Organisationen anzuschließen und die Pflicht der politischen Parteien, die Organisationen der Arbeiter auf gewerkschaftlichem Gebiete mit aller Energie zu fördern, mit der Begründung, daß die Gewerkschaften berufen seien, die Pfeiler der künftigen Organisation der Gesellschaft zu bilden und daß deren Ausbau deshalb neben der Erringung der politischen Macht der Arbeiterklasse eine absolute Notwendigkeit sei. Sie schloß mit folgenden Forderungen:

„1. Gründung von nationalen Verbänden der gleichen Berufe;
2. Abschluß von internationalen Vereinbarungen zwecks gegenseitiger Hülfeleistung;
3. Errichtung von nationalen Arbeitersekretariaten der einzelnen Arbeitsbranchen, bei denen alle Verbände beteiligt sind; denselben wird es zur Pflicht gemacht, alle Nachrichten von Bedeutung über die Arbeiterbewegung, Streiks und Ausschlüsse, sowie die Jahresberichte der einzelnen Gewerkschaften gegenseitig auszutauschen;
4. zwecks einheitlicher Organisation des Arbeitsnachweises sollen die Gewerkschaften in allen Plätzen die Errichtung von Arbeitsbörsen von den Gemeinden verlangen, deren Leitung einzig und allein den organisierten Gewerkschaften der betreffenden Stadt zu übertragen ist.“

Bei der Abstimmung wurde aber der Antrag des Referenten verworfen und statt dessen folgender von Volders (Belgien) gestellte Gegenantrag angenommen:

[Pg 432]

„Indem der Kongreß die auf die Gewerkschaftsorganisationen bezüglichen Resolutionen, welche in Brüssel angenommen worden waren, aufrecht erhält und indem er für die Arbeiterklasse die Pflicht, sich in Fachvereinen zu organisieren, nachdrücklich betont, erklärt er, daß die Industriearbeiter, die landwirtschaftlichen und maritimen Arbeiter die Obliegenheit haben:

1. Berufsvereine zu bilden, um ihre Berufsinteressen zu verteidigen, ihre Löhne zu schützen und der kapitalistischen Ausbeutung Widerstand leisten zu können;
2. die Gewerkschaften eines und desselben Berufes, deren Interessen identisch sind, überall, wo dies möglich ist, zu Landesverbänden zu vereinigen;
3. durch Verständigung der Landesverbände einen internationalen Verband der organisierten Berufe zu bilden, um die Organisationen der verschiedenen Länder zu einem festen Bande zu vereinigen;
4. die Gewerkschaften aller Berufe, wo dies möglich ist, regional, national und international zu organisieren, damit in den Lohnkämpfen die Arbeiter aller Korporationen geschlossen und im Einverständnis handeln;
5. durch die im Brüsseler Kongreß beschlossenen Arbeitersekretariate, deren Funktionen gesichert werden müssen, von Land zu Land gegenseitig zu verkehren und, wenn nötig, durch internationale, mit der Aufgabe betraute Arbeitersekretariate den Landesverbänden alle die einzelnen Korporationen berührenden Nachrichten zu übermitteln;
6. durch die Initiative der Arbeiter oder Intervention der öffentlichen Gewalten überall, wo keine Arbeitsbörsen bestehen, solche zu gründen, damit die Arbeiter sowohl leichter Beschäftigung finden, als auch leichter den Gewerkschaften beitreten können;
7. für jeden Beruf besondere internationale Kongresse abzuhalten, um daselbst die den verschiedenen Verbänden eigenen Fragen zu behandeln;
8. die Arbeiter oder Organisationen ohne Unterschied der Rasse und der Berufe zu einer kompakten Masse zu gruppieren, um für die politische Thätigkeit im Kampfe gegen den Kapitalismus eine genügende Macht zu besitzen, um die vollständige Emanzipation des Proletariats zu sichern.“

Für den deutschen Antrag stimmten außer Deutschland: Oesterreich, Dänemarck, Schweiz, Ungarn und Polen. Schweden und Rußland enthielten sich der Abstimmung. Die übrigen 12 Nationen stimmten für die holländische Resolution.

Hinsichtlich des Schutzes der Arbeiterinnen wurde ein Antrag einstimmig angenommen, der im wesentlichen den Beschlüssen der früheren Kongresse[Pg 433] entspricht, jedoch die Landarbeiterinnen einbezog und außerdem gleichen Lohn für gleiche Arbeit forderte.

Der letzte Punkt, die Agrarfrage, wurde von der Tagesordnung abgesetzt und dem nächsten Kongresse vorbehalten, dessen Zusammentritt für 1896 in London festgesetzt wurde. —

Dieser Kongreß, der unter dem Namen „Internationaler sozialistischer Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß[188] vom 27. Juli bis 1. August 1896 in London tagte, war der erste, an dem die englischen trade unions offiziell teilnahmen, aber dieser Umstand hat nicht vermocht, ihm einen wesentlich anderen Karakter zu verleihen, als seinen Vorgängern. Auch dieses Mal wurden die ersten drei Verhandlungstage ausgefüllt durch die Redekämpfe mit den Anarchisten, die so heftig wurden, daß die Sitzungen wiederholt unterbrochen werden mußten, bis endlich mit den Stimmen von 18 Nationen gegen 2 (Frankreich und Holland) bei einer Stimmenthaltung (Italien) beschlossen wurde, die Anarchisten von den weiteren Verhandlungen auszuschließen. Mit ihnen verließ dann auch die von Domela Nieuvenhuis geführte Mehrheit der Holländer den Kongreß.

Nach Entfernung der Anarchisten waren auf dem Kongresse folgende Nationen vertreten:

England durch 475 Abgeordnete, wovon 185 den Gewerkschaften, 120 der Socialdemocratic Federation, 115 der Independant Labour Party, 22 der Fabian Society, 5 kleineren sozialistischen Gesellschaften, 3 der Arbeiterkirche, 13 dem parlamentarischen und 12 dem Organisationskomitee angehörten. Außerdem Frankreich (113 Abgeordnete), Deutschland (46)[189], Belgien (19), Schweiz (12), Rußland (7), Italien (7), Polen (14), Oesterreich (7), Dänemark (7), Spanien (8), Holland (15), Rumänien, Bulgarien, Böhmen, Ungarn, Schweden, Amerika, Australien, Portugal. Da die Franzosen sich aus zwei fast gleich starken Gruppen zusammensetzen, so wurde auf ihren Antrag beschlossen, ihnen eine geteilte Vertretung in den Kommissionen zu bewilligen.

Zu dem ersten Gegenstande der Tagesordnung, der Agrarfrage, wurde im Widerspruche zu einem Antrage, der in die Einzelheiten eingehen wollte, eine[Pg 434] Resolution angenommen, die sich darauf beschränkt, neben der Forderung der Ueberführung des Grund und Bodens in Gemeinbesitz das Studium der Agrarfrage zu empfehlen und es als wichtigste Aufgabe zu bezeichnen, das Landproletariat in seinem Kampfe gegen seine Ausbeuter zu organisieren, jedoch die Festsetzung der Mittel bei der Verschiedenheit der Verhältnisse in den einzelnen Ländern diesen selbst überläßt und von der Aufstellung eines sogen. Aktionsprogrammes absieht.

Zu der Frage der politischen Aktion wurde beschlossen, den Arbeitern die Erringung der politischen Macht und des Stimmrechtes sowie den Beitritt zu der internationalen Sozialdemokratie zu empfehlen, und zwar „unabhängig von allen bürgerlichen Parteien“. Der letztere Zusatz wurde von Seiten der englischen trade unions und der Fabian Society bekämpft, jedoch mit großer Mehrheit angenommen.

Unter der Bezeichnung „Erziehung und körperliche Entwicklung“ wurden Fragen der Schule und des Arbeiterschutzes behandelt. Man beschloß in ersterer Beziehung unentgeltlichen Unterricht vom Kindergarten bis zur Universität, dagegen wurde die Forderung der Schulmahlzeiten abgelehnt. Hinsichtlich des Arbeiterschutzes wurden die Forderungen der früheren Kongresse wiederholt und die Wirkungslosigkeit der Berliner internationalen Konferenz betont.

In Bezug auf die „Wirtschaftspolitik der Arbeiterklasse“ wurde die Vergesellschaftung aller Produktions-, Transport- und Verteilungsmittel, sowie die Organisation der Produktion unter demokratischer Kontrolle der ganzen Gesellschaft gefordert und den Arbeitern empfohlen, eine internationale Agentur zu schaffen, welche die Machinationen der kapitalistischen Trusts und Kartelle mittels nationaler und internationaler Gesetzgebung verfolgen soll.

Bei dieser Gelegenheit wurde die Stellung zur Gewerkschaftsfrage in einer ausführlichen Resolution niedergelegt, die folgenden Wortlaut hat:

„Der gewerkschaftliche Kampf der Arbeiter ist unerläßlich, um der wirtschaftlichen Uebermacht des Kapitals zu trotzen und so die Lage der Arbeiter in der Gegenwart zu verbessern. Ohne Gewerkschaften keine auskömmlichen Löhne und keine verkürzte Arbeitszeit. Durch diesen Kampf wird aber die Ausbeutung nur gelindert, nicht beseitigt. Die Ausbeutung der Arbeiter kann nur ein Ende nehmen, wenn die Gesellschaft selbst Besitz ergriffen hat von den Produktionsmitteln einschließlich des Grund und Bodens und der Verkehrsmittel. Das hat zur Voraussetzung ein System gesetzgeberischer Maßnahmen. Um diese vollkommen durchzuführen, muß die Arbeiterklasse die ausschlaggebende politische Macht sein. Sie wird aber zur politischen Macht nur in dem Maße, wie sie organisiert ist. Die Gewerkschaften machen die Arbeiterklasse schon deshalb zur politischen Macht, weil sie die Arbeiter organisieren.

[Pg 435]

Die Organisation der Arbeiterklasse ist ungenügend und unvollständig, wenn sie nur politisch ist. Aber der gewerkschaftliche Kampf erfordert auch die politische Bethätigung der Arbeiterklasse. Was die Arbeiter im freien Kampfe gegen die Ausbeuter erringen, müssen sie oft erst als politische Macht gesetzgeberisch festlegen, um es zu sichern. In anderen Fällen macht die gesetzgeberische Errungenschaft den gewerkschaftlichen Konflikt überflüssig. Ein internationales Zusammenwirken der Arbeiterklasse in Bezug auf den gewerkschaftlichen Kampf, wie insbesondere auch in Bezug auf die Arbeiterschutzgesetzgebung wird desto mehr zur Notwendigkeit, je mehr der wirtschaftliche Zusammenhang des kapitalistischen Weltmarktes und damit zugleich die Konflikte der nationalen Industrien sich entwickeln. Für die nächste Zeit ist ein internationales Vorgehen des Proletariats nach folgenden Richtungen notwendig:

1. Abschaffung der Zölle, Verbrauchssteuern und Ausfuhrprämien.
2. Durchführung einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung. Indem der Kongreß in letzterer Beziehung die Beschlüsse des Pariser Kongresses wiederholt, empfiehlt er, die nächste Agitation hauptsächlich darauf zu konzentrieren:
  a) den gesetzlichen achtstündigen Normalarbeitstag zu erringen;
  b) das Schwitzsystem zu beseitigen und für die Arbeiter der Hausindustrie einen wirksamen Arbeiterschutz zu schaffen;
  c) ein vollständig freies Vereins- und Versammlungsrecht für beide Geschlechter herbeizuführen.

Um dieses durchzuführen, ist ein Zusammenwirken der gewerkschaftlichen und politischen Bethätigung notwendig.

Deshalb erklärt der Kongreß, anschließend an die gleichen Beschlüsse des Brüsseler und Züricher Kongresses, die Organisation der Arbeiter in Gewerkschaften für ein dringendes Erfordernis im Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse und betrachtet es als Pflicht aller Arbeiter, welche die Befreiung der Arbeit von dem Joche des Kapitalismus anstreben, der für ihren Beruf bestehenden Gewerkschaft anzugehören.

Die gewerkschaftlichen Organisationen sollen, um eine wirksame Aktion zu ermöglichen, sich in Verbänden, die sich auf das ganze Land erstrecken, zusammenthun, und ist jede Zersplitterung der Kräfte in Sonderorganisationen zu verwerfen. Die politische Anschauung darf keinen trennenden Grund im wirtschaftlichen Kampfe bilden, es ist aber eine aus dem Wesen des proletarischen Klassenkampfes sich ergebende Pflicht der Arbeiterorganisationen, ihre Mitglieder zu Sozialdemokraten heranzubilden. Es muß als eine Pflicht der Gewerkschaften angesehen werden, die im Berufe beschäftigten Frauen als[Pg 436] Mitglieder aufzunehmen und gleichen Lohn für gleiche Arbeitsleistung für Männer und Frauen anzustreben.

Neben dem Kampfe für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen haben die Gewerkschaften die Ausführung der Arbeiterschutzgesetze zu überwachen, die Beseitigung gesundheitsschädlicher Betriebsformen sowie des Schwitz- und Trucksystems zu erstreben. Der Kongreß hält den Streik und Boykott für ein notwendiges Mittel zur Erreichung der Aufgaben der Gewerkschaften, sieht aber die Möglichkeit für einen internationalen Generalstreik nicht gegeben.

Das nächste Erfordernis ist die gewerkschaftliche Organisation der Arbeitermassen, weil von dem Umfange der Organisation die Frage der Ausdehnung des Streiks auf ganze Länder oder Industrien abhängt.

Um eine einheitliche internationale gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter zu ermöglichen, ist in jedem Lande ein gewerkschaftliches Zentralkomitee einzusetzen. Diese Komitees sollen noch Möglichkeit Statistiken über den Arbeitsmarkt führen und diese sowie die regelmäßigen Berichte gegenseitig austauschen und alle im Lande vorkommenden wichtigen Vorgänge gegenseitig melden.

Besonders wird den Gewerkschaften aller Länder zur Pflicht gemacht, dafür zu sorgen, daß vom Auslande kommende Arbeiter Mitglieder der Landesorganisationen werden, und daß diese Arbeiter nicht zu geringeren Löhnen arbeiten, als die einheimischen. Bei Streiks, Lockouts und Boykotts sind die Gewerkschaften aller Länder verpflichtet, sich gegenseitig nach Kräften zu unterstützen.“

Hinsichtlich der Maifeier schloß sich der Kongreß lediglich den früheren Beschlüssen an mit dem Zusatze: „er erblickt in der Maifeier eine wirksame Demonstration für den Achtstundentag und hält die Arbeitsruhe für die wirksamste Form der Demonstration.“

War bei der Frage der Gewerkschaften bereits die Schaffung einer internationalen Organisation empfohlen, so beschloß man eine solche auch für die politischen Beziehungen und insbesondere zum Zwecke der regelmäßigen Berufung internationaler Kongresse. Indem man die Begründung einer internationalen Zeitung ablehnte, da alle sozialistischen Zeitungen die Hauptthatsachen über die soziale Frage in allen Ländern bereits enthielten, wurde folgender Beschluß gefaßt:

1. „Der Kongreß beschließt, daß ein Versuch gemacht werde, ein ständiges internationales Bureau mit einem verantwortlichen Sekretär zu errichten, welches seinen Sitz in dem hierzu passendsten Lande in Europa haben soll.[Pg 437]
2. Ein kleines Komitee wird von diesem Kongresse ernannt mit dem Auftrage, dem nächsten internationalen Kongresse Vorschläge zur Ausführung des in Ziff. 1 Gewünschten zu unterbreiten.
3. Dieses Komitee soll berechtigt sein, als provisorisches Komitee zu handeln. Jede Nation, die in ihm nicht vertreten ist, hat das Recht, einen Vertreter bis zum nächsten Kongresse zu entsenden.
4. Der Kongreß anerkennt die wachsende Notwendigkeit internationaler wirtschaftlicher Information. Er ersucht deshalb alle Nationen, ihren ganzen Einfluß aufzuwenden, um die Beschlüsse des Brüsseler und Züricher Kongresses betr. die Errichtung eines internationalen Informationsbureaus zur Ausführung zu bringen.“

Gegen 5 Nationen, die für die Schweiz stimmten, wurde mit 15 Nationen beschlossen, daß das internationale Bureau seinen Sitz in London haben soll.

Nachdem man dann noch Beschlüsse über die Abschaffung der Kriege durch internationale Schiedsgerichte, den Schutz der Wöchnerinnen, die Beschäftigung der Arbeitslosen durch Staat und Gemeinde, Freiheit des Gewissens, der Rede, der Presse und der Vereinigungen, sowie über eine Amnestie gefaßt und das Recht der Arbeitsvermittelung ausschließlich für die Arbeitergewerkschaften gefordert hatte, wurde beschlossen, den nächsten Kongreß im Jahre 1899 in Deutschland abzuhalten; sollte sich dies als unmöglich erweisen, so soll er 1900 in Paris stattfinden. Das Bureau des Kongresses wurde beauftragt, die Einladungen zu erlassen und ausschließlich einzuladen:

1. „die Vertreter aller Gruppen, die die Umwandlung der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsordnung in die sozialistische Eigentums- und Produktionsordnung anstreben und die Teilnahme an der Gesetzgebung und parlamentarischer Thätigkeit als ein notwendiges Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ansehen;
2. alle gewerkschaftlichen Organisationen, die, wenn sie sich auch als solche nicht am politischen Kampfe beteiligen, doch die Notwendigkeit politischer und parlamentarischer Thätigkeit anerkennen. Anarchisten sind mithin ausgeschlossen.“

Die Prüfung der Mandate soll durch die nationalen Gruppen selbst geschehen mit Vorbehalt des Rekurses an eine besondere Mandatprüfungskommission, die aus Vertretern aller nationalen Gruppen besteht. Die Mandate der Nationalitäten, die weniger als 5 Delegierte senden, werden von der Mandatprüfungskommission geprüft, ebenso wie die angefochtenen Mandate.

Mit einem Hoch auf die internationale Sozialdemokratie wurde der Kongreß geschlossen. —

[Pg 438]

Werfen wir einen Rückblick auf die bisherigen Ansätze zu einer internationalen gewerkschaftlichen Organisation, so kann der Erfolg noch nicht als erheblich betrachtet werden. Dennoch ist seit der Zeit der alten „Internationale“ ein großer Fortschritt zu verzeichnen, insbesondere sind die seit ihrem Erlöschen abgehaltenen Kongresse nicht mehr Versammlungen von Offizieren ohne Soldaten, sondern wirkliche Arbeitervertretungen, auf denen die unsere Zeit bewegenden großen elementaren Strömungen auf sozialem Gebiete zu ihrem natürlichen Ausdrucke gelangen.

Dagegen beruht ihre Unvollkommenheit hauptsächlich auf der Verknüpfung der gewerkschaftlichen mit der politischen Bewegung. Daß dabei die erstere zurückgedrängt werden muß, hat insbesondere der Londoner Kongreß bewiesen, auf dem die erste offizielle Beteiligung der englischen trade unions, der einzigen Arbeiterorganisation, die sich bisher zu einer wirklichen Macht hat entwickeln können, zu einem Zusammenstoße führte, den man aus Rücksichten der Gastfreundschaft vermied, öffentlich stark hervortreten zu lassen, der aber die Sympathieen der Engländer für die gemeinschaftliche Thätigkeit so abkühlte, daß David Holmes, einer der anerkannten Führer der älteren Gewerkvereinler, öffentlich erklärte, dies sei der letzte Kongreß dieser Art, auf dem die britischen Gewerkvereine vertreten gewesen wären, und daß darauf die 185 Vertreter der trade unions bis auf ganz wenige sich von den Verhandlungen fern hielten. Da nämlich, wie oben bemerkt, diese 185 mit den 120 Abgeordneten der Socialdemocratic Federation, den 115 Delegierten der Independent Labour Party und 55 Vertretern kleiner Gruppen die aus 475 Mitgliedern bestehende Delegation bildeten, so waren die der Zahl noch weitaus einflußreichsten trade unions schon in ihrer eigenen Gruppe in der Minderheit und nicht in der Lage, ihren Standpunkt geltend zu machen. Um so mehr wurden sie im Kongresse selbst überstimmt und hier Beschlüsse gefaßt, die ihren Grundsätzen durchaus zuwiderlaufen. So, wenn die staatliche Besitznahme aller Produktionsmittel einschließlich des Grund und Bodens sowie der Verkehrsmittel und die Bildung einer eigenen Arbeiterpartei „unabhängig von allen bürgerlichen Parteien“ beschlossen wurde. Diese Beschlüsse waren gegen die trade unions um so feindlicher, als gerade in den letzten Jahren in ihrem Kreise, wie an anderer Stelle[190] mitgeteilt, die kollektivistische Richtung stark zurückgedrängt war. Auch die weitere Entwickelung der Dinge und insbesondere der Edinburger Kongreß[191] hat bewiesen, daß die Londoner Verhandlungen die Neigung der trade unions zum ferneren Zusammenarbeiten mit den Sozialisten sehr beeinträchtigt hat.

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Die deutschen Sozialdemokratischen Blätter haben auch diesen Mißerfolg des Londoner Kongresses offen zugegeben. So erklärt z. B. der „Vorwärts“: „es hieße Schönfärberei treiben, wollte man behaupten, daß der eben abgeschlossene Kongreß einen vollkommen befriedigenden Eindruck hinterlassen hätte.“ Das Korrespondenzblatt der Generalkommission schreibt: „Die Hoffnung, die englischen Gewerkschaften durch den Kongreß für die sozialistische Arbeiterbewegung zu gewinnen und den Gewerkschaften des Festlandes näher zu bringen, ist infolge dieser Debatten nicht erfüllt.“ Wenn man dabei alle Schuld auf die Streitigkeiten mit den Anarchisten abwälzen will, so ist das eine einseitige Auffassung. Die „Neue Zeit“, das wissenschaftliche Zentralorgan der Partei, erkennt dies auch ausdrücklich an, denn nachdem sie bemerkt hat, daß der Kongreß einstimmig für einen Fehlschlag erklärt werde, fügt sie hinzu: „Und es ist nicht richtig, den Anarchisten und ihren Gönnern ausschließlich die Schuld daran zuzuschieben.“ Sehr wertvoll ist die dann folgende Ausführung, daß künftig entweder nur sozialistische Kongresse abgehalten, oder, was richtiger sei, die Thore des Kongresses möglichst weit aufgemacht werden müßten. „Denn nur die enge Verbindung mit dem Gros der vorwärts strebenden Arbeiterschaft schützt die Sozialdemokratie vor Verknöcherung, vor dem Verfallen in Sektierertum. Kein Bruchteil der Bewegung hat die Weisheit allein gepachtet; sie kann nur das Ergebnis der Gesamtbewegung sein.“

Sind hiernach die Ansätze zu internationalen Verbindungen zwischen den gewerkschaftlichen Gesamtorganisationen der einzelnen Länder noch auf den ersten Anfangsstufen stehen geblieben, ist man insbesondere bisher auf der Abhängigkeit von der Sozialdemokratie als politischer Partei noch nicht herausgekommen, so haben dagegen die Verbände einzelner Berufszweige bereits mehr erreicht und sind insbesondere zur Abhaltung regelmäßiger internationaler Kongresse gelangt, auf denen die Ansichten ausgetauscht und die angebahnten Beziehungen weiter befestigt werden. Allerdings ist die Entwickelung in dieser Hinsicht bei den überhaupt in Betracht kommenden Berufszweigen eine sehr verschiedene gewesen, und es sind nur wenige, bei denen man bereits von einem ernsthaften Erfolge sprechen kann, während es sich bei den übrigen erst um schwache tastende Versuche handelt und die an der Ausgestaltung beteiligten Personen sich auf das lebhafteste darüber beklagen, daß ihre Bemühungen so geringes Verständnis bei den Arbeitern finden. Aus diesem Grunde ist auch die Sammlung des einschlägigen Materials mit sehr großen Schwierigkeiten verknüpft, und es ist deshalb nicht möglich, für die nachfolgende Darstellung die Garantie absoluter Vollständigkeit zu geben.

[Pg 440]

IV. Die einzelnen Gewerbe.

1. Buchdrucker[192].

Wie die Buchdrucker überhaupt an der Spitze der Arbeiterbewegung marschieren, die höchste Stufe ihrer Intelligenz darstellen und auch auf anderen Gebieten die ausgereifteste Entwicklung zeigen, so haben sie auch die internationalen Beziehungen bereits am besten ausgebildet, so daß dieselben als Vorbild und typisches Muster angesehen werden dürfen und es sich rechtfertigt, sie etwas eingehender, als bei den übrigen darzustellen.

Eine internationale Organisation wurde zuerst im Jahre 1887 von dem Zentralkomitee der französischen Buchdrucker angeregt, das zugleich den ersten Schritt zur praktischen Ausführung dadurch that, das es 1889 in Verbindung mit der Weltausstellung nach Paris den ersten internationalen Buchdruckerkongreß[193], der vom 18. bis 21. Juli in der Bourse du travail tagte, zusammenberief. Auf demselben waren die Buchdruckerverbände folgender Länder mit den dabei gesetzten Mitgliederzahlen vertreten:

Spanien 1130, Italien 3800, Oesterreich 7000, Belgien 1500, romanische Schweiz 400, deutsche Schweiz 1150, Deutschland 13500, England 7500, Ungarn 800, Norwegen 500, Dänemark 750, Frankreich 5500, Nordamerika 30000, zusammen 13 Länder mit 74480 Mitgliedern. Der Kongreß beschloß, daß bei den Abstimmungen jede Nation eine Stimme führen sollte.

Der erste Punkt der Tagesordnung war die Regelung des Viatikums, die dadurch außerordentlich erschwert wurde, daß die Einrichtungen der einzelnen Länder in wesentlichen Punkten voneinander abweichen. In den meisten erhält jedes Mitglied eines Verbandes die gleiche Unterstützung ohne Rücksicht auf die Nationalität. Diese Länder erklärten sich für den Grundsatz der Gegenseitigkeit ohne Rückerstattung. Andere, insbesondere Belgien, die Schweiz und Italien, beriefen sich darauf, daß sie hierzu bei der geringen Leistungsfähigkeit ihrer Kassen um so weniger im stande seien, als gerade diese Länder in besonders großem Umfange von Reisenden besucht würden, ja, es wurde sogar behauptet, daß es[Pg 441] sich vielfach um Vergnügungsreisende handele; die Forderung, die insbesondere von Belgien und Italien erhoben wurde, ging deshalb dahin, daß eine gegenseitige Rückerstattung der geleisteten Zahlungen stattfinden solle. Ferner wird in Deutschland das Viatikum gegeben ohne Rücksicht auf den Grund der Reise, während in Belgien und Frankreich die Bemerkung in dem Verbandsbuche gefordert wird: „abgereist wegen Mangels an Arbeit“. Der romanische Verband zahlt den nicht französisch sprechenden Kollegen ein geringeres Viatikum. In Italien wird die Kenntnis einer der drei Sprachen: italienisch, spanisch und französisch verlangt, andernfalls erhält der Reisende nur eine einmalige Unterstützung von 2 Franken, um sofort wieder die Grenze zu gewinnen. Auch das System der Entschädigung ist verschieden. In Deutschland erhält der Reisende, sobald er eine gewisse Entfernung — in neuester Zeit 20 Kilometer — zurückgelegt hat, für jeden Tag einen festen Satz (75 Pf. bis 1 Mk.). Aehnlich ist es in den übrigen germanischen Ländern. Bei den romanischen Verbänden dagegen besteht das sog. kilometrische System, d. h. die Vergütung richtet sich nach der Länge des zurückgelegten Weges (5 Cent per Kilometer).

Bei den Verhandlungen erklärten zunächst Nordamerika und England, daß sie sich einer internationalen Viatikumskasse mit Rücksicht auf die abweichenden Verhältnisse ihrer Länder nicht anschließen könnten; der englische Vertreter empfahl sogar, das Viatikum ganz fallen zu lassen. Ebenso lehnten Oesterreich und Deutschland eine internationale Kasse ab, weil die Gesetze ihrer Länder ihnen die Beteiligung nicht gestatteten. Auch die Frage eines einheitlichen Verbandsbuches wurde gestreift, doch wurde gegen ein solches die Verschiedenheit der Sprachen geltend gemacht.

Von den meisten Seiten wurde betont, daß die Schwierigkeiten der Sache zu groß seien, um sie sofort erledigen zu können, und daß es richtiger sei, sie einem weiteren Studium vorzubehalten. Bei der Abstimmung wurde deshalb nur die Frage der Rückerstattung endgültig entschieden. Hier standen sich die Ansichten schroff gegenüber. Während einige Länder, insbesondere Belgien und Italien, forderten, daß die Last des Viatikums grundsätzlich von demjenigen Verbande zu tragen sei, dem der Reisende angehört, so daß dem fremden Verbande, der es gewährt, seine Aufwendungen von dem einheimischen erstattet werden müßten, sah die Mehrzahl hierin einen Verstoß gegen den Grundsatz der Solidarität. Das Ergebnis der langwierigen Verhandlungen war, daß der belgische Antrag:

„Die Kosten des Viatikums werden unter die Sektionen und Verbände nach der Mitgliederzahl verteilt, um nicht diese Last denjenigen Sektionen und Verbänden aufzulegen, die am meisten unter der Beschäftigungslosigkeit zu leiden haben.“

[Pg 442]

mit 10 gegen die beiden Stimmen von Belgien und Italien abgelehnt und dagegen auf Antrag der deutschen Schweiz mit 10 Stimmen, bei zwei Enthaltungen, beschlossen wurde, freilich ein einheitliches Verbandsbuch anzunehmen, aber im übrigen in der Frage des Viatikums weitere Beschlüsse vorzubehalten. Spanien war bei den Verhandlungen nicht vertreten.

Noch größer waren die Meinungsverschiedenheiten bei dem zweiten Punkte der Tagesordnung, der sich auf die Schaffung eines internationalen Verbandes der Buchdrucker bezog. Dabei handelte es sich in erster Linie um die prinzipielle Frage über das Verhältnis zum Sozialismus. Während der Referent Pasquelin bemerkte, daß viele, die für den Gedanken der Organisation erwärmt seien, sich von ihr aus dem Grunde zurückhielten, weil sie sich scheuten, sich einer bestimmten politischen Gruppe anzuschließen und die Ansicht vertrat, daß es erforderlich sei, daß alle Kräfte des Proletariates zur Zeit auf das wirtschaftliche Gebiet beschränkt würden, verlangten der dänische und der italienische Vertreter den Anschluß an den Sozialismus. Eine fernere Meinungsverschiedenheit betraf die Frage, ob man die anzuhebende internationale Vereinigung auf die Buchdrucker und die Schriftgießer beschränken oder auf alle Arbeiterklassen erstrecken solle. Endlich machten die Vertreter von Deutschland und Oesterreich geltend, daß die Gesetze ihrer Länder ihnen die Beteiligung weder an einem internationalen Verbande, noch auch nur an einem internationalen Bureau gestatteten.

Der Vorsitzende erklärte schließlich das Ergebnis der Erörterungen dahin zusammenfassen zu können, daß es die Meinung des Kongresses sei, zuerst die Buchdrucker national und international zu organisieren, und daß sich daraus später die Verbindung und die nachdrückliche Fühlungnahme mit den übrigen in gleicher Weise organisierten Arbeitergruppen entwickeln werde. Er stellte dann zunächst die prinzipielle Frage über die Notwendigkeit einer internationalen Organisation zur Abstimmung, die durch die Stimmen von Spanien, Italien, Oesterreich, der beiden schweizerischen Verbände, Nordamerika, England, Ungarn, Dänemark, Norwegen und Frankreich bejaht wurde, während Belgien und Deutschland sich der Abstimmung enthielten.

Man wandte sich sodann der wichtigen Frage der Errichtung einer internationalen Widerstands-(Streik-) Kasse zu. Die beiden schweizerischen Gruppen hatten sich schon eingehend mit dem Plane beschäftigt und über folgenden Antrag Siebenmann (deutsche Schweiz) geeinigt:

„Der internationale Buchdruckerkongreß erkennt die Notwendigkeit der bereits in den verschiedenen Ländern bestehenden Widerstandskassen an und spricht den Wunsch aus, daß jeder Verband sofort die nötigen Schritte thue, um überall Widerstandskassen zu gründen.

[Pg 443]

Der Verband der romanischen Schweiz wird beauftragt, in Gemeinschaft mit dem Verbande der deutschen Schweiz innerhalb eines Jahres den Plan einer internationalen Widerstandskasse vorzulegen. Der nächste Kongreß wird sich über Annahme dieses Planes entscheiden.“

Der Antragsteller teilte mit, daß man eine Beitragszahlung von monatlich 10 Cent. für jedes Mitglied ins Auge gefaßt habe; das angesammelte Kapital dürfe vor Ablauf eines halben Jahres nicht angegriffen werden; der Zweck der Kasse solle nur sein, die Herabsetzung der Löhne zu bekämpfen. Den meisten Beifall fand der Plan bei den romanischen Nationen, während insbesondere der deutsche Vertreter Trapp nicht allein betonte, daß die Verhandlungen nur den Karakter eines Meinungsaustausches haben könnten und daß es jeder Organisation überlassen bleiben müsse, auf welchem Wege sie glaube, am besten das gemeinsame Ziel erreichen zu können, sondern auch bemerkte, daß die Gründung einer internationalen Widerstandskasse unmöglich sein werde, da insbesondere bei einem so geringen Beitrage jeder große Streik die Kasse erschöpfen müsse.

Bei der Abstimmung wurde der erste Satz des Antrages Siebenmann mit allen Stimmen bei einer Stimmenthaltung (Deutschland) angenommen. Für den zweiten Satz (Errichtung einer internationalen Kasse) wurden 8 Stimmen abgegeben (Italien, Belgien, beide schweizerische Verbände, England, Dänemark, Norwegen und Frankreich). Deutschland, Oesterreich, Ungarn und Spanien enthielten sich der Stimme. Ein Antrag wegen Einrichtung genossenschaftlicher Buchdruckervereine wurde abgelehnt, dagegen ein solcher wegen Bildung gemeinschaftlicher Schiedsgerichte angenommen, ebenso ein Antrag, der sich gegen die lange Dauer der Streiks erklärte und den Gewerkschaften empfahl, keine übertriebenen Forderungen zu stellen. Alle Buchdrucker wurden für verpflichtet erklärt, den bestehenden Gewerkschaften beizutreten.

Der folgende Gegenstand betraf die Herabsetzung der Arbeitszeit. Man war im allgemeinen in dieser Forderung einig und betonte insbesondere den Wert dieses Mittels zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, doch wurde hervorgehoben, daß, um einen Ausfall am Verdienste zu vermeiden, zunächst eine Erhöhung der jetzigen Löhne durchgesetzt werden müsse. Uebereinstimmend wurde auch die Abschaffung der Akkordarbeit und ihre Ersetzung durch Lohnarbeit empfohlen. Ebenso war man überwiegend gegen die Ueberstundenarbeit; einzig der belgische Vertreter D'Hooghe erklärte, daß er den bestimmten Auftrag habe, gegen jede Verminderung der Arbeitszeit zu stimmen. Die meisten Redner wollten auch zur Erreichung ihres Zieles den Weg der gesetzlichen Regelung eingeschlagen sehen, nur der dänische Vertreter Petersen erklärte sich gegen gesetzlichen Zwang. Trapp (Deutschland) machte geltend, daß bei der jetzigen Zusammensetzung der gesetzgeberischen Gewalten auf diesem Wege eine[Pg 444] Besserung nicht zu erwarten sei, während die Schweizer sich von der durch den dortigen Bundesrat einzuberufenden internationalen Konferenz viel versprachen.

Bei der Abstimmung wurde zunächst der Grundsatz der Verminderung der Arbeitszeit einstimmig angenommen in folgender Fassung:

„Der Kongreß erklärt sich für die Herabsetzung der Arbeitszeit ohne Verminderung des Lohnes.“

Auch die Dauer von 8 Stunden wurde gegen die Stimmen von Belgien und der romanischen Schweiz angenommen. Einstimmige Annahme fand ferner der Antrag Drummond (England), der die Ueberarbeit grundsätzlich verwirft und sie deshalb wenigstens auf ein möglichst geringes Maß beschränkt wissen will, mit dem Zusatze von Kralik, daß die Ueberstunden möglichst hoch bezahlt werden sollen. Ebenso einstimmig wurde der Antrag Mangeot angenommen, der die Abschaffung der Nachtarbeit der Frauen und Kinder forderte.

Eine längere Verhandlung verursachte auch die Lehrlingsfrage. Man wünschte von verschiedenen Seiten nicht allein die gesetzliche Verpflichtung des Lehrlings zur Beibringung eines Schulzeugnisses, sondern insbesondere die Festlegung eines bestimmten Zahlenverhältnisses zwischen Lehrlingen und Gehülfen. Von der Mehrzahl der Anwesenden wurde aber die Ansicht vertreten, daß diese Angelegenheiten entweder überhaupt nicht auf gesetzlichem Wege zu regeln seien oder daß mindestens diese Regelung nicht international, sondern nur in jedem Lande nach Maßgabe seiner besonderen Verhältnisse geschehen könne.

Weiter verhandelte man über die gegenseitige Krankenunterstützung reisender Gehülfen, wobei mitgeteilt wurde, daß ein solches Gegenseitigkeitsverhältnis bereits zwischen Deutschland, Oesterreich, Ungarn, Norwegen und der Schweiz bestehe. Man erkannte allseitig den Wunsch noch einer solchen Einrichtung als berechtigt an, berief sich aber teils auf die Geringfügigkeit der Mittel, teils darauf, daß in einzelnen Ländern eine Krankenunterstützung seitens der Gewerkschaften überhaupt nicht gewährt werde. Trotzdem wurde der Antrag Kralik (Oesterreich), den Wunsch nach der Schaffung solcher Einrichtungen auszusprechen, einstimmig angenommen.

Hubert (Belgien) beklagt sich darüber, daß in einigen Fällen in Frankreich belgische Buchdrucker schlechter behandelt seien als Franzosen und fordert Garantien hiergegen. Der Kongreß ging über den Antrag zur Tagesordnung über, indem er an die Solidarität der Arbeiter appellierte.

Einstimmig wurde ferner beschlossen, auf die Aufhebung der Bestimmung des französischen Syndikatsgesetzes hinzuwirken, nach welcher Ausländer von dem Eintritte in den Vorstand der Syndikate ausgeschlossen sind.

[Pg 445]

Den letzten Gegenstand der Verhandlungen bildete die bereits bei der Schaffung eines internationalen Verbandes gestreifte wichtige Frage nach der Stellung der Gewerkschaften zur Politik. Während aber die einen die Beschäftigung mit Wirtschafts- und Sozialpolitik empfahlen, hielten andere jede Hineintragung der Politik in die Gewerkschaften für verderblich. Man vermochte sich weder über das eine noch über das andere Prinzip zu einigen, und so wurden alle hierauf bezüglichen Anträge abgelehnt. —

Dem erhaltenen Auftrage gemäß unterzogen sich die beiden schweizerischen Verbände der Vorbereitung der weiteren Maßnahmen und beriefen den zweiten internationalen Buchdruckerkongreß auf den 25. August 1892 nach Bern, wo er bis zum 28. dess. Monats tagte.

Beteiligt waren folgende Verbände:

1. Schweizerischer Typographenbund mit mit   1210 Mitgliedern
2. Schweizerische fédération romande mit     460
3. Elsaß-Lothringischer Unterstützungsverein für Buchdrucker und Schriftgießer mit     450
4. Deutscher Unterstützungsverein für Buchdrucker und Schriftgießer mit 17000
5. Französische fédération française des travailleurs du livre mit   5600
6. Rumänischer Gutenbergverein mit     400
7. Ungarischer Landesverein der Buchdrucker mit   2300
8. Oesterreichischer Buchdruckergehülfenverein mit   5000
9. Holländischer Buchdruckerverband mit     750
10. Italienischer Buchdruckerverband mit   1560
11. Belgische fédération typographique belge Association libre de Bruxelles mit   2000
12. Luxemburg. Association typographique mit       80
13. London society of compositors mit   9700
14. Dänische und norwegische Vereine mit   1700
zusammen: 52210 Mitglieder.

Nordamerika war dieses Mal nicht vertreten.

Die Tagesordnung beschränkte sich auf folgende 3 Punkte:

1. Bericht betreffend Gründung eines internationalen Buchdruckerverbandes; Beratung der Statuten.
2. Bericht betreffend Regulierung des Viatikums vom internationalen Standpunkte.
3. Regulierung des Lehrlingswesens.

[Pg 446]

Da die Verhandlungen ihrem Inhalte nach denen des ersten Kongresses sehr ähnlich waren, so kann deren Wiedergabe sich hier etwas kürzer gestalten.

Der wichtigste war der erste Punkt, die Gründung eines internationalen Buchdruckerverbandes, womit die Schaffung einer internationalen Widerstandskasse zusammenhing, und da hier die Ansichten der germanischen und romanischen Nationen auseinander gingen, so wurde auf Antrag des deutschen Vertreters Döblin beschlossen, daß die Delegierten der sprachverwandten Länder in gesonderter Beratung zu der Frage Stellung nehmen sollten, um dadurch die Verhandlungen zu erleichtern. Nach deren Beendigung stellte der französische Vertreter Këufer namens der Nationen der lateinischen Sprache folgenden Antrag:

„Der internationale Buchdruckerkongreß in Bern acceptiert das Prinzip der definitiven Gründung eines internationalen Buchdruckerverbandes. Um die Thätigkeit dieser neuen Organisation durch Ernennung eines leitenden Bureaus zu sichern und um die Errichtung einer internationalen Widerstandskasse vorzubereiten, beschließt der Kongreß die Entrichtung eines monatlichen Beitrages von 5 Centimes per Mitglied.“

Döblin (Berlin) als Sprecher der germanischen Gruppe machte hiergegen geltend, daß es für sie eine Unmöglichkeit sei, einem internationalen Verbande mit Widerstandskasse beizutreten, da die Gesetze ihnen dies nicht gestatteten. Um dennoch etwas Positives zu schaffen, hätten die Vertreter dieser Länder sich auf folgende Anträge geeinigt:

„Die Vertreter der germanischen Gruppe erklären im Namen ihrer Verbände, daß in Lohnbewegungen nur nach vorhergegangener gemeinsamer Verständigung einzutreten ist. In Streikfällen soll eine alle Mitglieder der beteiligten Verbände gleichbelastende Steuer erhoben werden.

Die genannte Gruppe ist ferner für Schaffung einer Zentralstelle, die die internationalen Beziehungen zu vermitteln hat. Die Kosten dieser Zentralstelle werden auf die einzelnen Verbände nach Maßgabe ihrer Mitglieder verteilt. In den Ländern, wo sich einer internationalen Vereinigung Schwierigkeiten entgegenstellen, geschieht die Verständigung durch nationale Sekretäre. Die Zentralstelle wird verpflichtet, alle die internationalen Interessen berührenden Angelegenheiten schnellstens den beteiligten Verbänden zur Kenntnis zu bringen. Organisationen, die dem Beschlusse des Kongresses hinsichtlich der Gewährung von Viatikum nicht nachkommen, sind von einer Beteiligung ausgeschlossen.“

Die Romanen machten zu gunsten ihres Antrages geltend, daß, falls erst bei Ausbruch eines Streikes Steuern erhoben würden, möglicherweise die weniger leistungsfähigen Verbände nicht in der Lage sein könnten, ihre Verpflichtungen[Pg 447] zu erfüllen, während die regelmäßige Ansammlung von Beiträgen ihnen weniger schwer falle. Die Gegner bestritten diese Gefahr und beriefen sich wiederholt auf das Hindernis ihrer Gesetze. Nachdem die Verhandlungen nochmals unterbrochen waren, um in einer eingesetzten Kommission eine Verständigung zu versuchen, einigte man sich endlich auf folgenden Beschluß:

„Der Kongreß beschließt die Schaffung einer Zentralstelle, die die internationalen Beziehungen zu vermitteln hat. Die Kosten dieser Zentralstelle werden auf die einzelnen Verbände nach Maßgabe ihrer Mitgliederzahl verteilt. Der Kongreß beschließt ferner, daß in Lohnbewegungen nur nach vorausgegangener gemeinsamer Verständigung einzutreten ist. In Streikfällen soll eine alle Mitglieder der beteiligten Verbände gleichbelastende Steuer erhoben werden. Die Beschaffung der Mittel zu obigem Zwecke bleibt den einzelnen Verbänden überlassen. In denjenigen Ländern, wo sich einer internationalen Vereinigung Schwierigkeiten entgegenstellen, geschieht die Verständigung durch nationale Sekretäre. Die Zentralstelle wird verpflichtet, alle die internationalen Interessen berührenden Angelegenheiten schnellstens den beteiligten Verbänden zur Kenntnis zu bringen. Organisationen, die dem Beschlusse des Kongresses hinsichtlich der Gewährung von Viatikum binnen Jahresfrist nicht nachkommen, sind von einer Beteiligung ausgeschlossen.“

Dieser Beschluß wurde einstimmig angenommen, jedoch erklärt, daß er auf London, wo bis jetzt kein Viatikum gezahlt wird, keine Anwendung finden solle. Als Sitz der Zentralstelle wurde die Schweiz gewählt. Die Kommission erhielt das Recht, eine tägliche Unterstützung bis zu täglich 2 Frs. für jedes Mitglied zu bewilligen.

Die Verhandlungen über die Frage des Viatikums boten gegenüber denjenigen des Pariser Kongresses nichts Neues. Der Bericht der eingesetzten Kommission erklärt, nicht viel Hoffnung auf Herbeiführung eines Einverständnisses zu haben, da die Ansichten in den verschiedenen Ländern zu weit auseinander gingen, und selbst die Rückerstattung der Unterstützungen, obgleich der Pariser Kongreß sie mit 10 gegen 2 Stimmen verworfen habe, werde wohl auch ferner bestehen bleiben.

Unter Ablehnung des italienischen Antrages, Viatikum nur an solche reisende Mitglieder zu zahlen, denen Arbeit zugesichert sei, wurde die Auszahlung an alle Verbandsmitglieder beschlossen. Eine Kommission wurde beauftragt, ein Statut als Ersatz der bisherigen Gegenseitigkeitsverträge auszuarbeiten.

Zu dem letzten Gegenstande der Tagesordnung, Regelung des Lehrlingswesens, wurde einstimmig folgender Beschluß gefaßt:

„In Berücksichtigung der Lage aller Berufe hält der Kongreß eine internationale Regelung des Lehrlingswesens für undurchführbar. Dagegen[Pg 448] erblickt er der großen Lehrlingsausbeutung gegenüber ein Gegengewicht in starken Organisationen, die durch eine entsprechende Verkürzung der Arbeitszeit einen Ausgleich zu schaffen in der Lage sind. Die ganze Kraft ist daher auf Agitation sowie Aufklärung der Berufsangehörigen, einschließlich der Lehrlinge, zu legen.“

Der Schweizerische Typographenbund hatte ohne ausdrücklichen Auftrag, aber im Interesse der Förderung der internationalen Organisation ein besonderes Blatt, den „Internationalen Buchdruckerverband“, herausgegeben. Obgleich dessen Leistungen sehr ungünstig beurteilt wurden, wobei Döblin die Ansicht vertrat, daß internationale Organe nichts taugten, wurde doch beschlossen, daß diese Kosten sowie diejenigen der Organisation des Kongresses den verschiedenen Verbänden im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl zur Last fallen sollten.

Bereits nach dem Pariser Kongreß, der den beiden Schweizer Verbänden, dem „Schweizerischen Typographenbunde“ und der „Fédération des Typographes de la Suisse romande“, den Auftrag erteilt hatte, verschiedene Fragen für den folgenden Kongreß vorzuberaten, hatten die Vorstände dieser Verbände eine aus fünf Mitgliedern bestehende besondere Kommission zur Führung der internationalen Angelegenheiten eingesetzt. Als dann der Kongreß in Bern die Schaffung einer internationalen Zentralstelle beschloß, deren Einsetzung den beiden schweizerischen Verbänden übertragen wurde, beauftragten diese die gedachte Kommission mit der Ausführung auch dieses Beschlusses. Die Kommission hatte nun zunächst ihren Auftrag in dem Sinne aufgefaßt, daß es sich um Begründung eines eigentlichen Verbandes handele und hatte am 3. April 1892 den Entwurf eines „Statuts für den internationalen Buchdruckerverband“ zur gutachtlichen Aeußerung an die einzelnen Verbände gesandt, in dem außer einer internationalen Widerstandskasse auch ein regelmäßiges Verbandsorgan vorgesehen war. Der deutsche Buchdruckerverband hatte aber hiergegen als eine Verletzung des gefaßten Beschlusses, der nicht auf Schaffung eines internationalen Verbandes, sondern nur auf Einrichtung einer Zentralstelle gerichtet sei, lebhaft protestiert, und um diesem Proteste Rechnung zu tragen, hatte die Kommission sich nunmehr auf ein bloßes internationales Sekretariat beschränkt, das mit dem 10. Dezember 1893 ins Leben getreten war und seinen Sitz in Bern erhalten hatte. Das für dieses entworfene Reglement fand denn auch einstimmige Annahme. Bei der Wichtigkeit desselben soll es hier unter Auslassung einiger Nebenpunkte, sowie der Uebergangs- und Schlußbestimmungen abgedruckt werden.

[Pg 449]

Reglement für das Internationale Buchdruckersekretariat.
1. Kapitel.
Name, Zweck und Dauer.

Art. 1. Unter der Bezeichnung „Internationales Buchdruckersekretariat“ wird eine ständige Centralstelle geschaffen, die den Zweck hat:

a) die Beziehungen unter den einzelnen Buchdrucker-Zentralverwaltungen, soweit sie internationale Interessen berühren, zu vermitteln;
b) bei allgemeinen Arbeitsniederlegungen diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, welche ein Fernhalten von Zuzug zu ermöglichen und eine nachhaltige Unterstützung der für Verbesserung ihrer Lebenshaltung kämpfenden, einer Verschlechterung derselben sich widersetzenden oder eine Verkürzung der Arbeitszeit anstrebenden Kollegen zu verbürgen imstande sind;
c) internationale Kongresse einzuberufen, die Tagesordnung für dieselben vorzubereiten und deren Beschlüsse auszuführen.

Art. 2. Das internationale Sekretariat wird auf unbestimmte Zeit gegründet.

Ein internationaler Kongreß kann die Aufhebung desselben beschließen.

2. Kapitel.
Organisation und Verwaltung des Sekretariates.

Art. 3. Die Verwaltung des internationalen Sekretariates wird vom internationalen Kongreß durch Stimmenmehrheit der Delegierten einem Landesverbande übertragen; eventuell können sich zwei in einem und demselben Lande bestehende Verbände in diese Verwaltung teilen.

Der Verband oder die Verbände tragen die Verantwortlichkeit für die ganze Geschäfts- und Kassagebarung des Sekretariates.

Art. 4. Das internationale Sekretariat besteht aus:

a) der fünfgliedrigen Aufsichtskommission;
b) dem ständigen Sekretär.

Art. 5. Die Aufsichtskommission wird vom Verband oder den Verbänden nach einem von ihnen zu bezeichnenden Modus gewählt und hat folgende Befugnisse:

a) Vorberatung aller wichtigen Anträge an die beim internationalen Sekretariat beteiligten Verbände;
b) Wegleitung an den Sekretär für die Ausführung der Kongreßbeschlüsse;
c) Ueberwachung der Geschäftsführung des Sekretärs;
d) Entgegennahme der Vierteljahrsberichte desselben;
e)[Pg 450] Festsetzung des Budgets der jährlichen Ausgaben des Sekretariates, für Drucksachen, Bureauauslagen, Porti u. s. w., wie Besoldung des ständigen Sekretärs und der übrigen Funktionäre;
f) Feststellungen der Bestimmungen über die Finanzverwaltung des internationalen Buchdruckersekretariates.

Art. 6. Die Aufsichtskommission versammelt sich auf Einladung ihres Vorsitzenden ordentlicherweise einmal im Jahre.

Sie hat das Recht, jederzeit Einsicht zu nehmen in die Geschäftsführung des Sekretärs und der Finanzverwaltung.

Art. 7. Der ständige Sekretär ist das ausführende Organ des internationalen Sekretariates.

Er wird von der Zentralleitung oder den Zentralleitungen des mit der Geschäftsführung des internationalen Sekretariates betrauten nationalen Verbandes oder Verbände gewählt.

Art. 8. Ein von der Aufsichtskommission aufzustellendes Reglement (Vertrag) umschreibt die Thätigkeitsgebiete des Sekretärs, dessen Anstellungsverhältnis und Besoldung.

Im allgemeinen liegen ihm folgende Arbeiten ob:

a) Ausarbeitung von Reglements und Statuten;
b) rasche Zustellung — auf dem Zirkularwege, eventuell auch auf telegraphischem Wege — aller Mitteilungen des Sekretariates an die beteiligten Verbände;
c) prompte Erledigung aller einlaufenden Korrespondenzen;
d) Entgegennahme und Ausarbeitung von Anregungen seitens der beteiligten Verbände;
e) Zustellung der für die Oeffentlichkeit bestimmten Mitteilungen an die Redaktionen der Landesverbandsorgane;
f) Ausarbeitung der Vierteljahrsberichte zu Händen der Aufsichtskommission und Veröffentlichung von Auszügen aus denselben;
g) Ausarbeitung des Jahresberichts zu Händen der beteiligten Verbände;
h) Sammlung von statistischen Daten aus den verschiedenen Verbänden und Verwendung oder Anhandgabe derselben zu vergleichenden oder positiven statistischen Erhebungen;
i) Einziehung der Jahresbeiträge und der Beitragsquoten für Unterstützungszwecke von den beteiligten Verbänden;
k) Ausrichtung der Unterstützungssummen an die im Streik stehenden Verbände.

[Pg 451]

3. Kapitel.
Verpflichtungen der beteiligten Verbände
A. Mit Bezug auf die Verwaltung des Sekretariates.

Art. 9. Die beim internationalen Buchdruckersekretariat beteiligten Verbände sind verpflichtet:

a) die jeweilige Wahl ihrer resp. Verbandsleitungen oder der zur Korrespondenzführung speziell bezeichneten Personen (nationale Sekretäre), wie auch die sich allfällig ergebenden Mutationen dem internationalen Sekretariat zur Kenntnis zu bringen;
b) dem Sekretariat alle die Gesamtheit der Verbände interessierenden Mitteilungen zugehen zu lassen, wie auch die Angabe der Mitgliederzahl auf 31. Dezember jeden Jahres;
c) die für die Oeffentlichkeit bestimmten Mitteilungen der Sekretariate in ihren resp. Verbandsorganen aufzunehmen;
d) ein Exemplar ihrer Verbandsorgane regelmäßig nach Erscheinen an die Adresse des Sekretärs gelangen zu lassen behufs Aufnahme ins Archiv;
e) ihre Jahresberichte jeweilen in zwei Exemplaren an den Sekretär einzusenden;
f) die Betreffnisse der auf sie nach Maßgabe ihrer Mitgliederzahl entfallenden Beiträge an die Verwaltungskosten jeweilen regelmäßig nach erfolgter Mitteilung durch den internationalen Sekretär an den letztern gelangen zu lassen bei Strafe der Einstellung im Viatikum aller ihrer reisenden Mitglieder und der Nichtunterstützung in Streikfällen.

B. In Streikfällen.

Art. 10. Lohnbewegungen, in welchen Anspruch erhoben wird auf die Unterstützung der übrigen Verbände, können nur nach erfolgter Verständigung unter denselben unternommen werden.

Durch diese Bestimmung wird das Recht auf Unterstützung nicht präjudiziert für Defensivstreiks.

Art. 11. Diese Verständigung geschieht dadurch, daß der Verband, in dem eine derartige Bewegung insceniert werden soll, an das internationale Sekretariat gelangt unter detaillierter Klarlegung der Gründe, der Zahl der in Betracht kommenden Städte, Firmen und Gehülfen, überhaupt aller Verumständigungen, welche die Schlußnahme der Verbände in dieser oder jener Weise beeinflussen könnten.

Auf dem Wege konfidentieller Mitteilung setzt das Sekretariat die übrigen Verbände in Kenntnis von der Sachlage und ersucht dieselben um umgehende Vernehmlassung.

[Pg 452]

Art. 12. Sind 2/3 der beteiligten Verbände mit der angeregten Bewegung einverstanden, so wird vom Sekretariat aus sofort eine allgemeine, sämtliche Mitglieder gleichmäßig belastende Steuer dekretiert.

Art. 13. Kommt eine gemeinsame Verständigung nach Art. 12 nicht zustande, so wird der quest. Verband ersucht, von seiner geplanten Bewegung abzustehen.

Art. 14. Kann sich derselbe hierzu nicht verstehen, so trägt er die Folgen seines Vorgehens selbst und werden seitens des Sekretariates keinerlei Aufrufe zur Unterstützung erlassen.

Art. 17. In Streikfällen kommt die Gesamtheit der beteiligten Verbände für einen täglichen Maximalbetrag von Francs 2. — auf per Streikenden. Es bleibt dem in Frage kommenden nationalen Verbande überlassen, seinen streikenden Mitgliedern aus eigenen Mitteln einen größeren Betrag auszurichten.

Art. 18. Die Bewegung (Streik) wird als beendet erklärt, wenn die Forderungen der Gehülfen von der Prinzipalität angenommen worden sind oder wenn die Aussichtslosigkeit des Kampfes vom Zentralvorstand des betreffenden Verbandes oder von der Aufsichtskommission konstatiert werden muß.

Art. 22. Oeffentliche Unterstützungsgesuche an die organisierten Buchdrucker dürfen nur vom Sekretariat aus erlassen werden.

C. Im Viatikumswesen.

Art. 23. Jeder Verband, der beim internationalen Sekretariat beteiligt ist und bei Arbeitsniederlegung in seinem Gebiet Anspruch machen will auf die Unterstützung der gesamten organisierten Buchdruckergehülfenschaft, ist verpflichtet, allen reisenden Kollegen eine Unterstützung (Viatikum) auszurichten.

Art. 24. Zum Bezuge dieses Viatikums sind berechtigt alle einem beim internationalen Buchdruckersekretariat beteiligten nationalen Verband angehörenden Setzer, Drucker, Gießer oder eine andere Partie des graphischen Gewerbes ausübenden Personen, welche im rechtmäßigen Besitz eines von einem dieser Landesverbände ausgestellten Mitgliedsbuches und Viatikumsausweises sind.

Art. 25. Die einheitliche Regelung des Viatikums wird nach den Beschlüssen des II. Internationalen Buchdruckerkongresses erfolgen.

4. Kapitel.
Internationale Kongresse.

Art. 26. Internationale Kongresse können einberufen werden, wenn es das Sekretariat auf Anregung von drei nationalen Verbänden und nach Einholung der Zustimmung der Mehrheit der Verbände beschließt, oder wenn der vorhergegangene Kongreß einen bezüglichen Beschluß gefaßt hat.

[Pg 453]

Art. 27. Der internationale Kongreß hat folgende Kompetenzen und Befugnisse:

a) Bestellung des Kongreßbureaus;
b) Abnahme eines Berichtes der Aufsichtskommission des internationalen Buchdruckersekretariats über den Stand des letzten;
c) Entgegennahme eines Berichtes der nationalen Verbände über den Stand der Sozialgesetzgebung in ihren Ländern, soweit dadurch die Gehülfenorganisation betroffen wird;
d) Behandlung der Anträge der einzelnen Landesverbände und Beschlußfassung über dieselben;
e) Maßnahmen gegen renitente Verbände, d. h. solche Verbände, welche die Beschlüsse früherer internationaler Kongresse nicht innehalten oder den Bestimmungen vorliegenden Reglements nicht nachkommen;
f) eventuell Wahl des Verbandes, der das internationale Sekretariat zu bestellen hat;
g) Festsetzung des Ortes und der Abhaltungszeit des Kongresses.

Im Dezember 1895 wurde von dem deutschen Verbande die Einberufung eines neuen Kongresses verlangt und damit begründet, daß die Organisation des internationalen Sekretariates sich als reformbedürftig erwiesen habe. Die an die vorigen Verbände gerichtete Anfrage ergab einhellige Zustimmung und mit Mehrheit wurde die Schweiz mit der Einberufung beauftragt. Die Aufsichtskommission betraute hierauf die Sektion Genf mit den erforderlichen Vorarbeiten, und so fand vom 5. bis 7. August in Genf der III. Internationale Buchdruckerkongreß statt, auf dem folgende Verbände mit den dabei bemerkten Mitgliederzahlen vertreten waren:

Verband der Deutschen Buchdrucker 21000 Mitgl.
Verband der Vereine der Buchdrucker und Schriftgießer und verwandter Berufe Oesterreichs   7000
Elsaß-Lothringischer Unterstützungsverein für Buchdrucker und Schriftgießer     570
Verband der Buchdrucker und Schriftgießer Ungarns   2800
Allgemeen Nederlandsch Typografenbond in Amsterdam   1400
Typografiske Reservefonds og Rejskasser für de skandinaviske Lande in Kopenhagen   1450
Norwegischer Zentralverein in Christiana     650
Federazione italiana dei lavoratori del libro   4000
Luxemburger Buchdruckerverein       70
Bulgarischer Buchdruckerverband       57
Schweizerischer Typographenbund[Pg 454]   1500
Fédération romande     586
Fédération française des travailleurs du livre   7100
Zusammen 13 Verbände mit 47782 Mitgliedern.

Gegen Italien und Spanien hatte, da sie dem Beschlusse des Berner Kongresses wegen gleichmäßiger Behandlung einheimischer und auswärtiger Gehülfen bei Entrichtung des Viatikums Folge zu leisten sich beharrlich weigerten, das für solche Fälle vorgesehene Mittel in Anwendung gebracht werden müssen, sie des Anspruchs auf Unterstützung in Streikfällen für verlustig zu erklären. Dies hatte zur Folge gehabt, daß Italien sich gefügt und am 25. November 1895 angezeigt hatte, das Viatikum werde künftig allen reisenden Kollegen ohne Rücksicht auf Sprachkenntnisse ausgezahlt werden, so daß die Zwangsmaßregel wieder aufgehoben werden konnte. Spanien dagegen hatte im Mai 1895 seinen Rücktritt vom Sekretariate erklärt mit der Begründung, es sei ihm unmöglich, den Forderungen betreffend Zahlung des Viatikums sowie der Beiträge bei Streiks zu entsprechen.

Der französische Verband hatte auf seinem Kongresse in Marseille (7. bis 15. September 1895) die weitere Beteiligung am Sekretariate beschlossen, dieser Beschluß wurde aber in der darauf folgenden Urabstimmung mit 2687 gegen 2649 Stimmen verworfen, so daß sich das französische Zentralkomitee gezwungen sah, von der weiteren Beteiligung am Sekretariate am 31. Dezember 1896 zurückzutreten. Der französische Vertreter war deshalb auf dem Kongreß ohne Mandat anwesend.

England hatte sich am Sekretariate überhaupt nicht beteiligt. Belgien war nicht vertreten. Nordamerika war schon in Bern nicht vertreten gewesen. Dagegen hatten sich Schweden und Bulgarien dem Sekretariate angeschlossen.

Der erste Gegenstand der Verhandlung des Kongresses war das internationale Sekretariat. Der deutsche Vertreter brachte die Gründe, die den deutschen Verband zu seinem Verlangen auf Einberufung des Kongresses bestimmt hatten, zur Geltung. Der Sekretär habe es nicht verstanden, bei den Mitgliedern der beteiligten Verbände das Interesse für das Sekretariat zu wecken, ja nicht einmal den Beweis für die Existenzberechtigung des Sekretariates erbracht, geschweige denn eine Initiative zur Förderung der Internationalität entwickelt. Der Entwurf des Statuts für einen internationalen Verband sei ein grober Verstoß gegen den Beschluß des Berner Kongresses gewesen.

Obgleich dieser Tadel auch von anderer Seite unterstützt wurde, so konnte doch am Schlusse der Verhandlungen der Vorsitzende feststellen, daß kein Verband[Pg 455] sich gegen die Weiterführung des Sekretariates ausgesprochen habe. Es wurde vielmehr beschlossen, daß der Sekretär neben seinem Amte kein anderes übernehmen und durch Teilnahme an den Generalversammlungen der einzelnen Verbände die Fühlung aufrecht erhalten, auch vierteljährlich Berichte versenden solle.

Ueber den Plan der internationalen Widerstandskasse fand zunächst wieder eine gesonderte Beratung der germanischen und romanischen Gruppe statt, bei der gegen die bisherigen Kongresse insofern eine Verschiebung zu Tage trat, als der österreichische Verband, der in Paris und Bern gegen den Plan gestimmt hatte, jetzt für denselben sich aussprach.

Gerade der österreichische Vertreter Höger entwickelte eingehend die Gründe, aus denen die Maßregel unentbehrlich sei, wenn man an eine erfolgreiche Thätigkeit des Sekretariates denken wolle. Allerdings müßten nationale Widerstandskassen der internationalen vorangehen; deren Stärkung sei notwendiger, als die Anhäufung von Geldern für manche der übrigen Unterstützungskassen. Redner bringt in Gemeinschaft mit dem ungarischen Vertreter Lipp den Antrag ein, die internationale Widerstandskasse mit dem 1. Januar 1897 zu gründen.

Döblin erklärte, in der unangenehmen Lage zu sein, als einziger Vertreter der germanischen Gruppe sich im Widerspruche zu dem Antrage Höger zu befinden. Er halte die Gründung einer internationalen Widerstandskasse für gefährlich, da sie die organische Entwickelung der nationalen Widerstandskassen hemmen werde, deren Gründung namentlich die romanischen Verbände ins Auge fassen sollten. Nach der Gründung der internationalen Kasse werde sich jeder Verband darauf verlassen, aus der vollen Kasse zu schöpfen. Die Bedeutung der Kasse könne nur darin gesehen werden, nach außen, d. h. dem Unternehmertum zu imponieren, und dieser Zweck werde doch nicht erreicht werden. Die Kasse habe keinen praktischen Wert. Wolle sie nur einzelne Streiks unterstützen, so hätten die romanischen Verbände von ihr keinen Vorteil, da sie erklärt hätten, daß sie solche nicht unternehmen könnten, gewähre sie aber Unterstützung nur dann, wenn ein gewisser Prozentsatz der Mitglieder am Streike beteiligt sei, so werde der deutsche Verband von ihr keinen Vorteil haben, da bei ihm schon 5% der Mitglieder die große Zahl von 1000 Streikenden ausmachten; sollten aber endlich alle Streiks unterstützt werden, so werde die Kasse nicht genug Mittel besitzen und ein steter Streit um die Berechtigung des Streiks bestehen.

Die Vertreter aller übrigen Verbände sprachen sich für die Gründung der Kasse aus; der französische Abgeordnete Këufer erklärte sogar, er sei der Ueberzeugung, daß, wenn die Kasse schon bestanden hätte, der Austritt Frankreichs nicht erfolgt sein würde, auch sei es keineswegs ausgeschlossen, daß Frankreich dem Verbande wieder beitrete. Uebrigens lägen die Verhältnisse in Frankreich[Pg 456] abweichend von denen der meisten übrigen Länder. Die französischen Kollegen glaubten an den Staatssozialismus und hofften von ihm alles; deshalb seien sie indifferent gegenüber den Tagesfragen, welche Buchdrucker berührten. Außerdem gäbe es eine Spaltung unter den Kollegen, welche die Thätigkeit des Zentralkomitees sehr erschwere.

Nachdem der Vorsitzende darauf hingewiesen hatte, daß es wünschenswert erscheine, die Kasse auch ohne Beteiligung Deutschlands zu beschließen, da nach einer oberflächlichen Berechnung doch gegen 20000 Francs jährlich angesammelt werden könnten, wird zur Abstimmung geschritten. Unter Ablehnung des Antrages Döblin mit 11 Stimmen gegen die einzige von Deutschland, wobei Frankreich sich der Abstimmung enthielt, wurde das Prinzip der Gründung der Kasse angenommen. Das von der Aufsichtskommission ausgearbeitete Reglement erhielt nach längeren Verhandlungen folgende Fassung:

Art. I.

Die Widerstandskasse des internationalen Buchdruckersekretariats hat den Zweck, Arbeitseinstellungen, welche durch die betreffende Zentralverwaltung gut geheißen sind, oder Aussperrungen zu unterstützen.

Art. II.

Jeder internationale Verband entrichtet für jedes seiner Mitglieder einen monatlichen Beitrag von 10 Cent. in die Widerstandskasse. Anläßlich einer Arbeitseinstellung kann im Bedarfsfall durch das internationale Sekretariat ein außerordentlicher wöchentlicher Beitrag bis zur Maximalhöhe von 50 Cent. von jedem Mitgliede der beteiligten Verbände erhoben werden. Die Erhebung dieses außerordentlichen und einheitlichen Beitrages kann jedoch nur erfolgen angesichts größerer Bewegungen für Lohnerhöhungen oder Arbeitsverkürzungen oder wenn die Widerstandskasse nur noch 50000 Fr. enthält, welche Summe als unangreifbarer Reservefonds dienen soll.

Art. III.

Die Unterstützung aus der Widerstandskasse beginnt erst 14 Tage nach Ausbruch des Streiks; in besonderen Fällen (Lohnherabsetzung, Lockout) kann dieselbe jedoch sofort erfolgen.

Art. IV.

Wenn eine Arbeitseinstellung nicht vermieden werden kann oder eine Aussperrung erfolgt ist, soll die Zentralverwaltung des betreffenden Verbandes unverzüglich ihre Beschlüsse dem internationalen Sekretariate mitteilen, welches die nötigen Maßnahmen anordnen wird, um den Streikenden die Unterstützung zu sichern. Sämtliche Verbände sind hiervon zu benachrichtigen.

[Pg 457]

Art. V.

Die tägliche Unterstützung der Streikenden beträgt 1 Fr. 50 Cent.

Art. VI.

Arbeitseinstellungen von anderen Berufsverbänden dürfen aus der Widerstandskasse des internationalen Sekretariats nicht unterstützt werden.

Vor der Gesamtabstimmung erklärte der dänische Vertreter Petersen, der sich bei der Abstimmung über die einzelnen Artikel, ebenso wie Deutschland, der Stimme enthalten hatte, daß er die Beteiligung an der Widerstandskasse und die Bestimmungen des Reglements nicht für genügend erachte, um eine erfolgreiche Thätigkeit derselben voraussetzen zu können, und daß er aus diesem Grunde genötigt sei, gegen das Reglement zu stimmen. So wurde das Reglement mit den 10 Stimmen der übrigen Verbände gegen diejenigen von Deutschland und Dänemark bei Enthaltung Frankreichs angenommen. Als der Vorsitzende darauf die Hoffnung aussprach, daß Deutschland, wenn es auch der Widerstandskasse nicht beitrete, doch aus derselben unterstützt werden könne, wurde hiergegen von mehreren Seiten lebhaft protestiert und darauf hingewiesen, daß, wo keine Pflichten, auch keine Rechte seien. Wenn Deutschland sich von der Allgemeinheit ausschließe und auf seine Stärke baue, so möge es späterhin zusehen, wie es sich helfen könne. Die Vergangenheit habe bewiesen, daß Deutschland, gerade so gut wie andere Verbände, bei Streiks die Hülfe sämtlicher Organisationen gebraucht habe, und im Falle des Nichtbeitritts zur Widerstandskasse könne es nur Anspruch auf freiwillige Beiträge erheben.

Am folgenden Sitzungstage wurde aber der gefaßte Beschluß in seiner Bedeutung dadurch wesentlich abgeschwächt, daß auf Antrag des italienischen Vertreters einstimmig beschlossen wurde, das Reglement der Widerstandskasse den einzelnen Verbänden zur Genehmigung zu unterbreiten. Döblin hatte den Antrag mit Freude begrüßt, weil dadurch jedem Vertreter Gelegenheit geboten sei, in seinem Verbande die nötigen Aufklärungen zu geben; auch er wollte in dieser Beziehung das Möglichste thun und die Entscheidung der berufenen Instanz herbeiführen: fördere oder diese Umfrage noch mehr ablehnende Vota zu Tage, so hoffe er, daß die Aufsichtskommission die Kasse nicht ins Leben treten lassen werde. Schon jetzt könne man die Kasse als abgelehnt betrachten, wenn die Mitgliederzahl in Betracht gezogen werde, welche die betreffenden Verbände hätten, denn Deutschland und Dänemark hätten zusammen 22450, die übrigen Verbände dagegen nur 18232 Mitglieder.

Der Kongreß beschloß, den Termin, bis zu welchem die Erklärungen der einzelnen Verbände bei der Aufsichtskommission abzugeben seien, auf den 1. Dezember 1896 festzusetzen.

[Pg 458]

Zu dem folgenden Punkte der Tagesordnung, das Viatikum betreffend, wurden im allgemeinen die auf den beiden früheren Kongressen vertretenen widersprechenden Ansichten wiederholt und von neuem der Beschluß gefaßt, das Tagegeldsystem und die Erhöhung des Reisegeldes zu empfehlen.

Der folgende Punkt der Tagesordnung, Maßregeln gegen renitente Verbände, erledigte sich dadurch, daß der Vorsitzende mitteilte, daß gegenwärtig alle bei dem internationalen Buchdruckersekretariate beteiligte Verbände ihren Verpflichtungen nachkämen. Dagegen führte die Verhandlung zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen Döblin und dem schweizerischen Vertreter Göcking, der die schon bei anderen Punkten hervorgetretene Spannung der Gemüter deutlich erkennen ließ. Als Döblin sich wiederholt darauf berief, daß Deutschland in Verbindung mit Dänemark in der Frage der Widerstandskasse die Mehrzahl der Mitglieder darstelle, erklärte Göcking, daß für die Bedeutung der gefaßten Beschlüsse nicht die Zahl der Mitglieder, sondern die Zahl der Verbände maßgebend sei; andernfalls würde der internationale Verband lediglich ein Verband von Deutschlands Gnaden sein, da Deutschland über nahezu die Hälfte der Mitglieder und im Verein mit noch einem zweiten Verbande alle übrigen majorisieren könne.

Der Gegensatz zwischen den großen und den kleinen Verbänden machte sich auch ferner geltend bei dem von dem niederländischen und dem dänischen Vertreter gestellten Antrage, die Reise- und Unterhaltungskosten der Delegierten des Kongresses aus der Sekretariatskasse zu vergüten und nach dem Verhältnisse der Mitglieder auf die einzelnen Verbände umzulegen. Dieser Antrag wurde von Döblin lebhaft bekämpft. Derartige Kosten müßten von den Verbänden selbst getragen werden; andernfalls müsse auch Deutschland das Recht haben, mehrere Delegierte zu schicken. Schließlich wurde der Vermittelungsantrag Höger angenommen, den Delegierten von Verbänden bis zu 2000 Mitgliedern die Fahrkosten zu vergüten, während für die Unterhaltskosten die Verbände selbst aufzukommen haben. Dieser Beschluß soll aber erst dem nächsten Kongresse vorgelegt werden.

Die bereits bei dieser Verhandlung angeschnittene Frage nach dem Rechte der größeren Verbände gegenüber den kleineren hinsichtlich der Vertretung, wurde zum Austrage gebracht durch den von Dornseiffer (Luxemburg) gestellten Antrag auf proportionale Vertretung der Verbände auf den internationalen Kongressen nach Maßgabe ihrer Mitgliederzahl. Gegen den Grundgedanken des Antrages wurde von keiner Seite Widerspruch erhoben, doch wollte Këufer (Frankreich), daß kein Verband mehr als 5 Stimmen haben dürfe. Dieser Vorschlag wurde aber von Döblin, Röger und Dornseiffer bekämpft und[Pg 459] schließlich mit 9 Stimmen abgelehnt. Mit derselben Stimmenzahl wurde darauf der Antrag Siebenmann (Schweizerischer Typographenbund):

„Der Kongreß beschließt, das Stimmrecht in folgender Weise zur regeln: Jeder Verband bis auf 2000 Mitglieder hat das Recht auf eine Stimme; für je weitere 2000 Mitglieder eine Stimme mehr“,

angenommen und der Aufsichtskommission zur Besorgung für spätere Kongresse überwiesen.

Da sich die bisherige Einrichtung, 2 Verbände mit der Bestellung des Sekretärs zu beauftragen, als unpraktisch erwiesen hatte, so beschloß man, künftig nur einen Verband damit zu betrauen. Bei der Wahl erhielt der schweizerische Typographenbund 7 und die fédération romande 2 Stimmen; der erstere ist deshalb gewählt. Als Wohnort wurde Bern beibehalten.

Hinsichtlich der Zeit und des Ortes für den nächsten Kongreß wurde, nachdem die für London und Brüssel gemachten Vorschläge abgelehnt waren, auf den Antrag von Döblin von einer Beschlußfassung abgesehen, dagegen das Reglement, welches die Einberufung von dem Auftrage dreier Verbände abhängig macht, dahin abgeändert, daß schon der Antrag eines Verbandes genügt.

Ein Antrag von Veraldi (Italien), das Sekretariat mit der Organisation der Frauen zu beantragen, wurde der Aufsichtskommission zur Berichterstattung für den nächsten Kongreß überwiesen.

Das internationale Sekretariat hat bis jetzt 3 Berichte erstattet, und zwar für 1894, 1895 und 1896[194]. Die wichtigeren Mitteilungen aus demselben sollen hier wiedergegeben werden. An dem Sekretariate waren am Schlusse des Jahres 1896 folgende Verbände beteiligt:

1. Schweizerischer Typographenbund,
2. Fédération des Typographes de la Suisse romande,
3. Verband der deutschen Buchdrucker,
4. Verband der Vereine der Buchdrucker und Schriftgießer und verwandter Berufe Oesterreichs,
5. Verband der Elsaß-Lothringischen Buchdrucker,
6. Verein der Buchdrucker und Schriftgießer Ungarns,
7. Fédération française des travailleurs du livre,
8. Federazione italiana dei lavoratori del libro,
9. Dänischer Landesverband mit der typographischen Vereinigung Kopenhagen,
10. Norwegischer Zentralverein,
11.[Pg 460] Allgemeiner Niederländischer Typographenbund,
12. Luxemburger Buchdruckerverein,
13. Bulgarischer Buchdruckerverein,
14. Fédération typographe belge,
15. Gutenberg, allgemeiner Buchdruckereiarbeiter-Unterstützungsverein für Rumänien.

Im Jahre 1897 sind noch die serbischen und die kroatischen Vereine beigetreten.

Dagegen ist es dem Sekretariate nicht gelungen, die Londoner Setzergesellschaft oder den englischen Verband zum Anschlusse zu bewegen. Der englische Vereinssekretär Bowermann erklärte, daß er mit den Bestrebungen des Sekretariates sympathisiere, daß aber ein Anschluß der englischen Vereine erst dann erfolgen könne, wenn dieselben unter sich fest verbunden seien.

Im Juni 1895 richtete der schwedische Verband die Anfrage wegen seines Beitrittes an das Sekretariat. Dies führte jedoch zu einem Proteste der typographischen Vereinigung Kopenhagen, die verlangte, daß Schweden zunächst dem skandinavischen Reservefonds und der Reisekasse, aus denen es ausgetreten war, wieder beitreten müsse. Das Sekretariat wies diesen Anspruch zurück. Auf dem Kongresse des schwedischen Verbandes wurde dann ein Vermittelungsantrag dahin angenommen, eine Kommission einzusetzen, welche den Anschluß an den skandinavischen Verband prüfen solle, doch ist die Angelegenheit noch nicht zum Abschlusse gebracht.

Bei der Unsicherheit seiner Existenz hat das Sekretariat, abgesehen von einem Schreiben nach Südrußland, auf welches keine Antwort erfolgte, keine weiteren Versuche zur Gewinnung von Beitrittserklärungen gemacht. Dagegen wurden die Berichte und Mitteilungen auch den dem Sekretariate nicht angehörenden Verbänden und Vereinen übermittelt, um dadurch eine Verbindung herzustellen. Es ist dies auch teilweise gelungen, indem der spanische Verband sowie die beiden amerikanischen Verbände, die International typographical Union und die deutsch-amerikanische „Typographia“ dem Sekretariate ihre Vereinsorgane zur Verfügung stellen. Seitens der englischen Vereine, des schwedischen Verbandes und der russischen Vereine ist dies bisher nicht zu erlangen gewesen. Auch der französische Verband ist noch nicht wieder beigetreten; wie das Sekretariat meint, spielt dabei der Haß gegen Deutschland eine erhebliche Rolle. Doch steht der französische ebenso wie der spanische Verband mit dem Sekretariate in regelmäßiger Verbindung. Das Statut der Widerstandskasse ist nach dem Berichte des Sekretariates als gescheitert anzusehen, indem viele Verbände gar nicht dazu zu bewegen gewesen sind, es der vorbehaltenen Urabstimmung zu unterwerfen. Das Sekretariat hat dann einen anderen Plan ausgearbeitet,[Pg 461] in dem auf feste Jahresbeiträge verzichtet und nur die Ansammlung eines festen Fonds von 30000 Frcs. vorgesehen ist, der durch einmalige Beiträge von 70 Cts. für jedes Mitglied geschaffen und in Fällen der Verminderung durch Umlagen wieder ergänzt werden soll. Eine Beschlußfassung hierüber ist noch nicht erfolgt.

Hinsichtlich der Aufsichtskommission, deren Bestellung zunächst den beiden schweizerischen Verbänden übertragen war, wurde im Interesse der Vereinfachung der Geschäftsführung und der Kostenersparnis die Aenderung getroffen, daß die Sektion Bern mit der Bestellung betraut wurde. Als dann der Genfer Kongreß die Leitung dem Typographenbunde allein übertragen hatte, übernahm das Zentralkomitee dieses Verbandes die Oberleitung, während der Aufsichtskommission mehr die Rolle eines beigeordneten Rates zu teil wurde, über dessen Thätigkeit ein genaues Reglement ausgearbeitet wurde. Zum Sekretär wurde an Stelle von Reimann, der am 30. April 1896 sein Amt niedergelegt hatte, Siebenmann gewählt, der sein Amt mit dem 5. November 1896 antrat.

Der Schweizerische Typographenbund hat angeregt, ein Verzeichnis der blockierten Druckereien anzulegen, doch ist dies bis zum Schlusse des Berichtes noch nicht gelungen, da die erforderlichen Mitteilungen von den einzelnen Verbänden nicht zu erlangen waren.

Vielfach ist das Sekretariat in Anspruch genommen bei Beschwerden eines Verbandes gegen den anderen wegen Behandlung des Viatikums. Daß gegen Italien und Spanien wegen beharrlicher Nichterfüllung ihrer Pflichten die Sperre verhängt werden mußte, ist bereits oben erwähnt. Aber auch in den übrigen Ländern ist man von einer einheitlichen Durchführung der gefaßten Beschlüsse noch weit entfernt. Der niederländische Verband führte Klage gegen den deutschen, daß seine Mitglieder in Deutschland kein Viatikum erhielten, worauf aber Deutschland erwiderte, daß es an der notwendigen Gegenseitigkeit fehle. Als dann Deutschland seinerseits den gleichen Vorwurf gegen Dänemark erhob, berief sich dieses darauf, daß nach dem Rücktritte Schwedens von der skandinavischen Kasse diese nicht mehr imstande sei, ihre Verpflichtungen zu erfüllen.

Bei Behandlung der Streiks hat, wie schon in den Verhandlungen des Kongresses erwähnt wurde, die Bestimmung, daß eine Unterstützung nur unter Zustimmung von zwei Dritteln der Verbände erfolgen solle, zu großen Erschwerungen geführt. Aber auch sonst haben die Verbände bei Ausbrüchen von Streiks ihre Verpflichtungen nicht erfüllt, insbesondere solche ins Leben treten lassen, ohne sich mit dem Sekretariate überhaupt in Verbindung zu setzen, dann aber doch Unterstützung beansprucht und geltend gemacht, daß die Streiklust nicht zu bezähmen gewesen sei. So ist das Sekretariat nur zweimal in die Lage gekommen, Ausstände nach eingeholter Zustimmung der Verbände zu[Pg 462] unterstützen, nämlich den dänischen Streik von 1895 und den italienischen von 1896. Beide sind im ganzen erfolgreich verlaufen. Bei dem dänischen Streik betrug die ausgeschriebene und aufgebrachte Summe 2520 Fr. Ein Streik des niederländischen Verbandes konnte, da die Mitteilung zur Ermöglichung der Abstimmung nicht rechtzeitig erfolgt war, nicht in formeller Weise unterstützt werden, doch wurde zu freiwilligen Unterstützungen aufgefordert, wobei insgesamt 6524 fl. zusammen kamen. Auch dieser Streik war erfolgreich. Dagegen ging ein von den ungarischen Buchdruckern im November 1895 aufgenommener Streik, bei dem es sich im wesentlichen um Erringung des Achtstundentages handelte, völlig verloren, da die eingeleitete Umfrage eine fast einstimmige Ablehnung der Unterstützung ergab, indem man geltend machte, daß die aufgestellten Forderungen unangemessen seien und es insbesondere nicht als gerechtfertigt anerkannt werden könne, in einem Lande bereits den Achtstundentag zu fordern, solange in anderen noch nicht einmal der neunstündige durchgesetzt sei. Der deutsche Verband hat, als er zur Durchführung des mit dem Prinzipalverein getroffenen Abkommens gegenüber den rheinisch-westfälischen Druckereibesitzern zum Streik schreiten mußte, erklärt, diesen aus eigenen Kräften durchführen zu wollen. Infolge davon ist der Verband von Beitragsleistung bei dem gleichzeitig durchgeführten italienischen Streik befreit.

Der internationale Sekretär hat an den Kongressen des deutschen, des französischen und des belgischen Verbandes teil genommen und insbesondere bei dem letzteren durch seinen Einfluß zu dem gefaßten Beschlusse beigetragen, daß der Verband bei dem Sekretariate verbleibt. Der gleiche Beschluß war auf dem französischen Kongresse gefaßt, ist aber, wie oben erwähnt, durch Urabstimmung verworfen.

Auf Beschluß der Aufsichtskommission hat das Sekretariat eine umfassende Lohn- und Arbeitsstatistik in Angriff genommen, doch ist derselbe noch nicht zur Ausführung gelangt.

2. Bergarbeiter[195].

Zu den ersten, die eine internationale Organisation anbahnten, gehören die Bergarbeiter, die auch bisher regelmäßig jährlich einen internationalen Kongreß abgehalten haben, an dem allerdings nur einige Nationen, nämlich Engländer, Franzosen, Belgier, Deutsche und Oesterreicher, beteiligt gewesen sind. Die Anregung ging von den Engländern aus, die denn auch die bisherigen Kongresse durch ihre Ueberzahl völlig beherrscht haben, obgleich sich dagegen bei[Pg 463] den anderen Nationen eine ziemlich starke Opposition geltend gemacht hat, die auch nicht ganz ohne Einfluß auf die Entwickelung gewesen ist.

Nach einer vorbereitenden Konferenz in Köln wurde der erste internationale Bergarbeiterkongreß im Frühjahr 1890 nach Jolimont (Belgien) einberufen, wo er in den Tagen vom 20. bis 23. Mai stattfand unter einer Beteiligung von 111 Abgeordneten, nämlich 36 Engländern, 55 Belgiern, 7 Franzosen und 3 Deutschen als Vertretern von 337946 englischen, 58887 französischen und 6089 belgischen Arbeitern, während die Ziffer hinsichtlich der deutschen nicht angegeben ist. Die Hauptgegenstände der Verhandlungen bildeten neben den Berichten aus den einzelnen Ländern die Fragen des Achtstundentages, des internationalen Streiks und der Begründung einer internationalen Organisation. Hinsichtlich des Achtstundentages herrschte Einstimmigkeit darüber, daß er anzustreben sei, dagegen gingen die Meinungen über den hierbei einzuschlagenden Weg, insbesondere darüber, ob man dabei die Hülfe der Gesetzgebung in Anspruch nehmen solle, stark auseinander, ja die Verhandlungen hierüber führten zu langwierigen Erörterungen, die damit endigten, daß ein Beschluß, der die gesetzliche Einführung des Achtstundentages für alle unter Tage beschäftigten Arbeiter fordert, mit den Stimmen der Belgier, Franzosen und Deutschen sowie 21 englischen Stimmen angenommen wurde, während 9 Engländer dagegen stimmten. Die Minderheit bestand aus den Vertretern von Durham und Northumberland.

Hinsichtlich des internationalen Streiks ging am weitesten der Antrag des englischen Sozialisten Keir Hardie, der für den Fall, daß der Beschluß in betreff des Achtstundentages nicht bis zum 1. Mai des folgenden Jahres zur Ausführung gelangt sei, den europäischen Bergarbeiterstreik als das beste Mittel empfahl, um den Achtstundentag zu erlangen. Aber nicht allein dieser, sondern auch ein anderer Antrag, der sich darauf beschränkte, sich im Prinzip für den Weltstreik zu erklären, wurde schließlich zurückgezogen und mit 46 gegen 15 belgische und 2 französische Stimmen beschlossen, die Frage zunächst den Vereinen der einzelnen Länder vorzulegen und im April 1891 einen neuen Kongreß abzuhalten, um zu einer endgültigen Entscheidung zu gelangen.

Endlich wurde neben der Empfehlung nationaler Gewerkschaften die Bildung eines internationalen Bergarbeiterverbandes beschlossen und ein aus 2 Mitgliedern jeder Nation bestehender Ausschuß mit dem Auftrage eingesetzt, den Gedanken zur Ausführung zu bringen.

Der beschlossene zweite Kongreß wurde in den Tagen vom 31. März bis 4. April 1891 in Paris abgehalten. Vertreten waren 448636 Engländer durch 41, 141531 Deutsche durch 19, 100000 Oesterreicher durch einen, 92000[Pg 464] Belgier durch 15 und 127000 Franzosen durch 23, zusammen also 909167 Bergarbeiter durch 99 Abgeordnete.

Während man in Jolimont, ohne daß darüber besonders verhandelt war, nach der Zahl der erschienenen Vertreter abgestimmt hatte, verlangten jetzt die Engländer, daß jeder Abgeordnete für je 1000 vertretene Mitglieder eine Stimme haben solle, während die übrigen Nationen dies auf das entschiedenste mit der Begründung bekämpften, daß bei dem Uebergewichte der Engländer diese Art der Abstimmung die alleinige Entscheidung durch die Engländer bedeuten würde und daß es erforderlich sei, die Abstimmung nach Nationen aufrecht zu halten. Dieser Antrag wurde denn auch schließlich mit den 58 kontinentalen gegen die 41 englischen Stimmen angenommen.

Hatte das Stimmverhältnis schon hinsichtlich des Kongresses so große Schwierigkeiten veranlaßt, so war es nur natürlich, daß diese Schwierigkeit sich steigerte, als es sich darum handelte, den auf dem vorigen Kongresse vorbehaltenen Punkt der Ausgestaltung eines internationalen Verbandes zu erledigen, da hier naturgemäß das Schwergewicht gerade in der Regelung dieses Verhältnisses lag. Es gelang deshalb auch nicht, hierüber eine Verständigung zu erzielen, und es blieb nichts übrig, als von neuem einen Ausschuß mit der weiteren Beratung und Bearbeitung der Sache zu betrauen.

Bei der Frage des internationalen Streiks wiederholte sich der schon in Jolimont hervorgetretene Gegensatz zwischen der entschiedeneren und der gemäßigteren Richtung. Die erstere verlangte die Proklamierung des Generalstreiks für den 1. Mai 1891, doch gelang es den Gemäßigten, nicht allein den Beschluß der nochmaligen Einleitung von Verhandlungen mit den Regierungen der beteiligten Staaten durchzusetzen, sondern sogar eine weitere Abschwächung in doppelter Beziehung herbeizuführen, insofern einerseits der Satz gestrichen wurde, der den einzusetzenden Ausschuß ermächtigte, nach erfolglosen Verhandlungen den Anfang des Streiks festzusetzen und andererseits die Erklärung, daß zur Erlangung des Achtstundentages der Generalstreik erforderlich sei, dahin zu mildern, daß er notwendig werden könne.

Der dritte Kongreß wurde in London vom 7. bis 10. Juni 1892 abgehalten bei einer Anwesenheit von 61 englischen, 4 deutschen, 5 französischen, eines österreichischen und 8 belgischen Vertretern.

Der einzige Punkt der Tagesordnung, an den sich aber die wesentlichsten der bisherigen Streitfragen anschlossen, war die Bildung eines internationalen Verbandes und dessen Ausgestaltung. Der alte Gegensatz zwischen den Arbeitern von Northumberland und Durham auf der einen und allen übrigen auf der anderen Seite machte sich von neuem geltend, indem die ersteren nicht allein den gesetzlichen Achtstundentag, sondern auch die Ernennung der[Pg 465] Grubeninspektoren durch die Arbeiter verwarfen. Noch schwieriger wurde die Sache bei der Frage, ob man den gesetzlichen Achtstundentag nicht allein für die eigentlichen Grubenarbeiter, sondern auch für die über Tage beschäftigten Arbeiter fordern solle, da hier sämtliche Engländer erklärten, nicht im Besitze von Instruktionen zu sein und deshalb erst solche einholen zu müssen. Schließlich wurde deshalb diese Forderung von den übrigen Nationen einstimmig angenommen, während die Engländer sich der Abstimmung enthielten. Man einigte sich dann dahin, daß die Frage auf dem nächsten Kongresse einer erneuten Beratung unterzogen werden solle.

Hinsichtlich des Generalstreiks wurde mit 64 gegen die 9 Stimmen der Nordengländer beschlossen, wenn die Regierungen die Gewährung des Achtstundentages verweigerten, sei genügender Grund vorhanden, einen internationalen Ausstand zu beraten.

In der Frage der Abstimmung erklärten die Deutschen und Belgier, den englischen Vorschlag, daß die Vertreter für je 1000 von ihnen vertretener Mitglieder eine Stimme haben sollen, jetzt annehmen zu wollen, so daß, da nur die Franzosen ihren Widerspruch aufrecht erhielten, dieser Abstimmungsmodus festgesetzt wurde.

Das Statut des internationalen Bergarbeiterverbandes lautete nach der endgültigen Beschlußfassung folgendermaßen:

I. Der Verband soll aus Bergarbeitern aller Nationen bestehen, die sich demselben anzuschließen wünschen.

II. Der Zweck des Verbandes ist:

1. das Zusammenwirken aller Bergarbeiter der Welt;
2. die Beschränkung der Arbeit auf 8 Stunden einschließlich der Ein- und Ausfahrt;
3. die Erlangung einer wirksamen Beaufsichtigung der Bergwerke dadurch, daß den bereits in der Bergwerksindustrie bestehenden Inspektoren und Aufsichtsbeamten Arbeitervertreter hinzugefügt werden, die von den Grubenarbeitern frei gewählt und vom Staate bezahlt werden sollen;
4. internationales Handeln im Bedarfsfalle;
5. Organisation der Bergleute und Wahrung aller berechtigten Interessen;
6. Anwendung aller gesetzlichen Rechte zur Erlangung einer gerechten Durchführung aller Arbeitsverträge sowie zur Wahrung aller sonstigen Rechte und Herbeiführung humaner Behandlung der Kohlenindustriearbeiter.

III. Es soll ein Organisationskomitee gebildet werden, welches aus mindestens 2 Vertretern jeder der beteiligten Nationen zu bestehen hat und dessen Aufgabe es ist, alle den Verband betreffenden Angelegenheiten in Erwägung[Pg 466] zu ziehen und dem internationalen Kongresse Bericht zu erstatten, sowie Vorschläge zu unterbreiten. Die Vertreter müssen ihrer Instruktion gemäß handeln.

IV. Die Beamten des Verbandes müssen zugleich Mitglieder des Organisationskomitees sein. Sie bestehen aus dem Präsidenten, dessen Stellvertreter, dem Schatzmeister und dem Generalsekretär.

V. Das Organisationskomitee wird von den Vertretern aller Nationen erwählt und von dem Kongresse bestätigt.

VI. Die Wahl der Beamten wird vom Kongresse vorgenommen. Jede Nation besitzt das Recht, zwei Kandidaten für jedes Amt vorzuschlagen und hat mindestens 4 Wochen vor dem Kongresse dieselben dem Generalsekretär namhaft zu machen.

VII. Alljährlich soll ein Kongreß an einem von der Mehrheit des Komitees oder des Kongresses zu bestimmenden Orte und zu einer von demselben festzusetzenden Zeit stattfinden.

IX. Ein außerordentlicher Kongreß soll stattfinden, wenn das Interesse einer ganzen Nation dies infolge ernster Ereignisse erfordert. Der Generalsekretär beruft dann nach Rücksprache mit dem Präsidenten, wenn das Komitee ihn dazu bevollmächtigt, baldthunlichst einen Kongreß.

X. Jede Nation kann so viele Vertreter, wie es ihr beliebt, zu dem Kongresse entsenden.

XI. Abgestimmt wird in den Komiteesitzungen nach Nationen, auf dem Kongresse nach der Zahl der Mitglieder.

XII. Alle Beamten und Personen im Dienste des Kongresses sollen von dem Verbande, dem sie angehören, honoriert werden.

XIII. Der Präsident und der Generalsekretär haben das Recht, wenn es ihnen nötig erscheint, eine Komiteesitzung anzuberaumen.

XIV. Die Kosten des Kongresses und des Komitees für Mieträume u. dgl. sind von den Kongreßmitgliedern zu berichtigen.

Das bestehende Organisationskomitee wurde in seinem Amte bestätigt und als Ort des nächsten Kongresses Brüssel bestimmt.

Hier tagte dann der vierte Kongreß in der Zeit vom 22. bis 26. Mai 1893, in dem 650000 Engländer durch 38, 92000 Franzosen durch 14, 69000 Belgier durch 9, 183000 Deutsche und 100000 Oesterreicher durch je einen Abgeordneten vertreten waren.

Der Hauptstreitpunkt war wieder die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit, die gegen die 100000 Stimmen der Nordengländer mit 994000 angenommen wurde.

[Pg 467]

Ebenso wurde die Forderung des Generalstreiks in der Form des vorigen Kongresses mit 974000 gegen 120000 Stimmen angenommen. Auch hinsichtlich der Oberflächenarbeiter wiederholte sich die Stellungnahme des letzten Kongresses, indem bei 565000 Stimmenthaltungen mit 399000 gegen 100000 Stimmen beschlossen wurde, zwischen ihnen und den eigentlichen Grubenarbeitern keinen Unterschied zu machen. Auch der Beschluß in betreff der Grubeninspektoren wurde wiederholt und außerdem einstimmig beschlossen, die Frauenarbeit in der Bergwerksindustrie in allen Ländern zu verbieten.

Der letzte Punkt der Verhandlungen betraf die Frage der Ueberproduktion im Bergbau, insbesondere die Stellungnahme zu dem Programm des belgischen Bergwerksdirektors Lewy, welches davon ausgehend, daß die bestehende Ueberproduktion die Interessen der Arbeiter sowohl wie der Unternehmer schädigt, die Anpassung derselben an die Konsumtion durch internationale Regelung mit Hülfe eines internationalen Arbeiterausschusses fordert, in dem alle Nationen gleichmäßig und zwar zu ¾ durch Arbeiter und zu ¼ durch Unternehmer vertreten sein sollen. Die Arbeitszeit soll, je nach den Verhältnissen der einzelnen Länder, auf 4 oder 5 Tage beschränkt werden, jedoch bei Lohnzahlung für 5 bezw. 6 Tage. Der Gewinn aus der durch die Produktionsbeschränkung zu erwartenden Preissteigerung soll zu 75 % den Unternehmern zufließen, mit 25 % dagegen zur Steigerung des Lohnes verwandt werden. Die Belgier und die Franzosen haben sich dieses Programm angeeignet. Die Engländer führten die Ueberproduktion auf die Beschäftigung ungelernter Arbeiter in den Bergwerken und die Konkurrenz der Händler untereinander zurück und wollten alle Nationen auffordern, jedes Mittel anzuwenden, um die Kohlenförderung einzuschränken und die ungelernten Arbeiter auszuschließen. Die Deutschen bezeichneten als Grund der Ueberproduktion die Unterkonsumtion, wollten deshalb die Verkürzung der Arbeitszeit und Erhöhung der Löhne und erklärten, daß eine völlige Abhülfe erst durch die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung möglich sei.

Nach langen Verhandlungen überwies man die Vorberatung einer Kommission.

Der fünfte Kongreß hat dann vom 14. bis 19. Mai 1894 in Berlin stattgefunden, wobei 645000 Engländer durch 38, 100000 Franzosen durch 4, 70000 Belgier durch 3, 192000 Deutsche durch 39 und 100000 Oesterreicher durch 2 Abgeordnete vertreten waren. Obgleich der Kongreß nicht allein durch Legien in Vertretung der Generalkommission, sondern auch durch Singer im Namen der sozialdemokratischen Partei begrüßt wurde, erklärte doch der englische Vorsitzende Pickart, daß sie nicht in der Absicht gekommen seien, die Arbeitgeber zu bekämpfen oder als Agitatoren im eigentlichen Sinne zu wirken, noch weniger aber Klasse gegen Klasse oder gar gegen das Gesetz aufzureizen, daß sie auch[Pg 468] nicht die Reichen um ihren Reichtum beneideten, sondern daß sie nur für den Arbeiter einen besseren Anteil an dem Reichtume verlangten. Dasselbe wurde von belgischer Seite betont. Der Engländer Burt sprach die besondere Hochachtung seiner Landsleute für den deutschen Kaiser wegen des Berliner internationalen Kongresses aus.

Die Verhandlungen über das Verbot der Frauenarbeit, den gesetzlichen Achtstundentag und die Gleichstellung der Oberflächenarbeiter mit den Grubenarbeitern lieferten dasselbe Ergebnis, wie auf den früheren Kongressen, mit der einzigen Ausnahme, daß bei dem letzteren Punkte 30000 Engländer mit den übrigen Nationen stimmten. Neue Gegenstände der Beratungen waren die Haftpflicht der Unternehmer und die Frage des Minimallohnes, aber bei beiden zeigte sich der alte Gegensatz zwischen den Engländern und den übrigen Nationen. So wurde der Antrag, die Unternehmer auch ohne Rücksicht auf ihr Verschulden bei Unglücksfällen für haftbar zu erklären, und ebenso die Forderung, einen Minimallohn durch das Gesetz festzustellen, mit 645000 gegen 462000 Stimmen abgelehnt. Ueber das System Lewy wurde wieder eingehend verhandelt, doch fand dasselbe trotz der Befürwortung der Franzosen und Belgier wenig Anklang. Diese Verhandlungen wurden nicht zum Abschlusse gebracht, führten vielmehr zu lebhaften Streitigkeiten zwischen den Engländern auf der einen, und den übrigen Nationen auf der anderen Seite, indem man den ersteren vorwarf, daß sie den Kongreß zu tyrannisieren suchten. Außerdem machte man sich gegenseitig zum Vorwurfe, die Verhandlungen unnötig in die Länge gezogen zu haben, und schließlich reisten die Engländer ab, bevor die Beratungen beendigt waren, indem sie für die Verhandlungen des letzten Tages nur 2 Vertreter zurückließen. So konnte die Frage der Ueberproduktion und der Bergwerksinspektion nicht mehr erledigt werden, sondern man konnte nur noch die Wahl eines Vorstandes des internationalen Verbandes vornehmen.

Der sechste Kongreß wurde vom 3. bis 7. Juni 1895 in Paris abgehalten. Vertreten waren 590000 Engländer durch 32, 132000 Franzosen durch 5, 80000 Belgier durch 8 und 266300 Deutsche und Oesterreicher durch 5 Abgeordnete.

Ueber das System Lewy wurde lange verhandelt, schließlich aber mit den Stimmen der Engländer und Deutschen gegen die der Franzosen und Belgier beschlossen, die Frage nochmals einem Komitee zu überweisen. Die Beratung über den Achtstundentag führte insofern zu einem anderen Ergebnisse wie früher, als zum erstenmale die Mehrheit der Engländer (Miners federation) mit den kontinentalen Arbeitern dafür stimmten, denselben auch auf die Oberflächenarbeiter auszudehnen, so daß dieser Beschluß mit 872000 gegen die 96000 Stimmen der englischen national union gefaßt wurde. Hinsichtlich der[Pg 469] Frage der Haftpflicht der Unternehmer standen sich wieder die Ansichten der Engländer, die eine Erfolgpflicht im Falle eigenen Verschuldens des Arbeiters ausschließen und der übrigen Nationen, die diesen Unterschied nicht anerkennen wollten, gegenüber: infolge einer Wunderlichkeit der englischen Geschäftsordnung kam es zu keiner maßgebenden Entscheidung. Eine Forderung besserer gesundheitlicher Einrichtung der Gruben wurde einstimmig angenommen, während der deutsche Antrag, die Kongresse künftig nur alle 2 Jahre abzuhalten, nachdem er lebhaften Widerspruch der übrigen Nationen gefunden hatte, zurückgezogen wurde.

Auf dem siebenten Kongresse, der vom 25. bis 28. Mai 1896 in Aachen abgehalten wurde, waren 400000 Mitglieder der Miners federation durch 18, 126000 der National union durch 16 und 100000 Von Süd Wales durch 3, insgesamt also 626000 Engländer durch 37 Abgeordnete, außerdem 152000 Franzosen durch 2, 85000 Belgier durch 4, 50000 Oesterreicher durch 1 und 174000 Deutsche durch 13 Abgeordnete vertreten.

Hinsichtlich des Achtstundentages war das Ergebnis der eifrigen Debatte dasselbe, wie im Jahre zuvor, nämlich daß die gesetzliche Festlegung für Arbeiter über und unter Tage mit allen (960000) gegen die (126000) Stimmen der National union angenommen wurde. Dabei kam es zu einer ausgedehnten Erörterung des Verhältnisses zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Der Oesterreicher Stark beantragte einen Beschluß, daß in Zukunft nur sozialdemokratische Kongresse zu beschicken oder sozialdemokratische Bergarbeiterkongresse einzuberufen seien, in Erwägung, daß die gewerkschaftliche Organisation auf konservativem Standpunkte nicht im Stande sei, die endgültige Befreiung der Arbeit aus den Banden des Kapitalismus zu bewerkstelligen und deshalb der Anschluß an die Sozialdemokratie erforderlich sei. Auch der deutsche Vertreter Möller stellte sich auf diesen Standpunkt, der aber von anderen Seiten, so auch von dem deutschen Vertreter Werdelmann entschieden bekämpft wurde. Der Beschluß der früheren Kongresse über das gänzliche Verbot der Frauenarbeit in Bergwerken wurde einstimmig wiederholt. Hinsichtlich der Einigungsämter gingen die Ansichten auseinander, man sah deshalb von einer Beschlußfassung ab. Dagegen wurde der Antrag, einen den besonderen Verhältnissen der einzelnen Länder und der Konjunktur entsprechenden Minimallohn zu fordern, gegen die Stimmen der National union angenommen. Die Beratung über das System Lewy mußte wegen ungenügender Vorbereitung wieder von der Tagesordnung abgesetzt werden, doch wurde nicht allein ein Verbot aller Ueberstunden, soweit sie zum Zwecke der Produktionsvermehrung geschehen, sondern überhaupt die Beschränkung der Produktion nach Maßgabe des Bedürfnisses beschlossen, wobei unter allgemeiner Zustimmung der Grundsatz[Pg 470] ausgesprochen wurde, daß der Arbeitslohn den Warenpreis bestimme, und nicht umgekehrt. Ein weiterer Beschluß forderte die Schaffung von Kranken-, Pensions- und Invalidenkassen unter staatlicher Garantie, ein anderer die Anstellung von Grubeninspektoren aus Arbeiterkreisen mit gesicherter Stellung. In Beziehung auf die Verstaatlichung der Bergwerke bestand insofern zwischen den Deutschen und den übrigen Nationen, abgesehen von der National union, die sie grundsätzlich verwarf, eine Meinungsverschiedenheit, als die Deutschen sie freilich grundsätzlich billigten, aber dem heutigen Staate die daraus sich ergebende Macht nicht zugestehen wollten. Schließlich wurde der Antrag auf Verstaatlichung mit 737000 gegen 126000 Stimmen angenommen, wobei die Deutschen sich der Abstimmung enthielten.

Nachdem noch der Antrag, die Arbeitgeber für alle Unfälle haftbar zu machen, soweit sie nicht eine Schuld des Arbeiters nachweisen können, einstimmig angenommen, dagegen der deutsche Antrag, die Kongresse künftig nur alle 2 Jahre stattfinden zu lassen, abgelehnt war, wurde als Sitz des nächsten Kongresses London gewählt und zugleich beschlossen, zu demselben auch die Amerikaner und die asiatischen Russen einzuladen.

Der achte Kongreß hat vom 7. bis 11. Juni 1897 in London stattgefunden bei einer Beteiligung von 68 Abgeordneten, die angeblich 1050000 Arbeiter aus England, Frankreich, Belgien und Deutschland[196] vertraten, während Oesterreich nicht vertreten war. Die Verhandlungen bewegten sich durchaus in den früheren Bahnen, nur trat der Gegensatz zwischen der miners federation und der national union noch schärfer in gegenseitigen Beschuldigungen hervor. Dies gilt in erster Linie von dem Gegenstande der Tagesordnung, der die meiste Zeit in Anspruch nahm, nämlich dem Achtstundentage, der, wie auf den früheren Kongressen, in Ausdehnung auch auf die Oberflächenarbeiter gegen die national union angenommen wurde. Dasselbe Stimmenverhältnis bestand hinsichtlich der Haftpflicht der Unternehmer, des Minimallohnes, der Verstaatlichung der Bergwerke, bei der die Deutschen sich der Stimme enthielten, und des Systems Lewy, bei dem übrigens die dasselbe verteidigenden Belgier und Franzosen sich auf eine Resolution beschränkten, die nur im allgemeinen eine internationale Einschränkung der Produktion forderte und in dieser Form angenommen wurde. Einstimmig dagegen war man bei den Beschlüssen wegen Vermehrung der Grubeninspektoren durch von Arbeitern gewählte[Pg 471] Vertrauenspersonen, wegen Erlasses eines Gesetzes über das Invalidenwesen, der Anlegung von Pflegestationen bei den Gruben und Einführung von Berggewerbegerichten. Endlich wurde folgender Beschluß einstimmig angenommen:

„Der Kongreß wendet sich auf das entschiedenste gegen diejenigen Unternehmer, die ihre Arbeiter entlassen, nur weil sie einer Gewerkschaft angehören. Wenn es ein grober Unfug ist, daß organisierte Arbeiter ihre unorganisierten Kameraden zwangsweise in die Organisation treiben, so ist es ein eben so grober Unfug, wenn Unternehmer Arbeiter entlassen, nur weil diese von ihrem gesetzlichen Organisationsrechte Gebrauch machen.“

Der neunte Kongreß, der vom 1. bis 5. August 1898 in Wien stattfand, war von 61 Vertretern, darunter 33 aus England, 19 aus Oesterreich, 2 aus Frankreich, 3 aus Belgien und 4 aus Schweden besucht. Die englischen Abgesandten vertraten 610000, die österreichischen und belgischen je 100000; die deutschen Bergarbeiter hatten die Entsendung eines Vertreters abgelehnt und erklärt, nur alle 2 Jahre einen Kongreß beschicken zu wollen.

Die Verhandlungen waren lediglich eine Wiederholung der früheren. Die Forderung des Achtstundentages auch für die über Tage beschäftigten Arbeiter wurde gegen den Widerspruch der national union mit 813000 gegen 136000 Stimmen angenommen. Dasselbe gilt von der Forderung eines Mimimallohnes und der Nationalisierung der Bergwerke. Dagegen wurden die Beschlüsse wegen Erlasses eines Haftpflichtgesetzes, durch das die Unternehmer für alle Unfälle verantwortlich gemacht würden, unter Ausschluß der Möglichkeit, diese Verpflichtung durch Vertrag auszuschließen, ferner wegen Einführung der Alters- und Invalidenpension und wegen Anstellung von Grubeninspektoren, die von den Arbeitern zu wählen und vom Staate zu besolden sind, einstimmig angenommen. Der Antrag zu Gunsten der internationalen Regelung der Kohlenförderung (System Lewy), für den nur die Belgier eintraten, wurde mit 715000 gegen 65000 Stimmen abgelehnt. Die Verbände der einzelnen Länder sollen dem Kongresse Berichte über Löhne und Arbeitszeit einreichen.

Der zehnte Kongreß ist vom 2. bis 6. Juni 1899 in Brüssel abgehalten worden. Vertreten waren 670000 englische Arbeiter durch 32, 125000 belgische durch 7, 152000 französische durch 4, 350000 deutsche durch 2 und 140000 österreichische durch 2 Abgesandte. Der Beschluß wegen des gesetzlichen Achtstundentages wurde mit allen gegen 30000 Stimmen aus Northumberland wiederholt; die Ausdehnung auf die Oberflächenarbeiter einstimmig angenommen. Die Forderung einer gesetzlichen Unfallentschädigung wurde auf die öffentlich-rechtliche Alters- und Invaliditätsversorgung ausgedehnt. Dabei wurde erwähnt, daß das englische und französische Haftpflichtgesetz befriedigend wirke[Pg 472] und von allen Industrie-Ländern allein Belgien ein solches nicht besitzt. Man beschloß ferner für gesetzliche Regelung des Submissionswesens einzutreten und in Streikfällen sich gegenseitig zu benachrichtigen und internationale Verhandlungen anzuknüpfen. Die Notwendigkeit einer Regelung der Produktion wurde einstimmig als grundsätzlich notwendig anerkannt die weitere Verhandlung aber dem nächsten Kongreß vorbehalten.

3. Eisenbahnarbeiter[197].

Der erste internationale Eisenbahnarbeiterkongreß wurde auf Anregung des holländischen Vereins „Immer Vorwärts“ am 1. August 1893 in Zürich abgehalten. Vertreten waren 13 Vereine aus der Schweiz, Holland, Oesterreich, Italien, England und Frankreich durch 21 Abgeordnete. Aus Hamburg und Wien waren Zustimmungserklärungen eingegangen. Es wurde die Gründung eines internationalen Sekretariates beschlossen, dessen Errichtung den Holländern überwiesen wurde. Die Kosten sollen durch freiwillige Beiträge der einzelnen Länder aufgebracht werden. Dagegen wurde der von Holland und der Schweiz gestellte Antrag auf Begründung eines internationalen Ausschusses zur Förderung der Interessen der Eisenbahnarbeiter von verschiedenen Seiten unter dem Hinweise darauf bekämpft, daß zunächst nationale Verbände geschaffen werden müßten. Ein ausdrücklicher Beschluß ist nach dem Protokolle nicht gefaßt. Die von Holland angeregte Frage der Schaffung einer internationalen Widerstandskasse, die aus vierteljährlichen Beiträgen der beteiligten Verbände gespeist werden sollte, wurde von der Tagesordnung abgesetzt und dem nächsten Kongresse vorbehalten. Doch sollen Streiks, die von einem Verbande mit mindestens zwei Drittel Mehrheit beschlossen sind, von den anderen Verbänden moralisch und finanziell unterstützt werden. Eingehende Verhandlungen wurden geführt über die Frage der Arbeitszeit. Von den Schweizern war folgender Antrag gestellt:

„Der Kongreß verpflichtet die Gewerkschaften aller Länder, alle in ihrer Macht stehenden Mittel und insbesondere die Vermittelung der Arbeitervertreter in den Parlamenten zu benutzen, um zur Einführung des Achtstundentages mit einer ununterbrochenen wöchentlichen Ruhepause von 36 Stunden zu gelangen; von den 52 jährlichen Ruhetagen sollen mindestens 17 auf den Sonntag fallen. Güterzüge sollen am Sonntag nicht verkehren. Die Ausführung dieser Bestimmungen soll durch besondere Aufsichtsbeamte[Pg 473] kontrolliert werden, die verpflichtet sind, jährlich Rechenschaftsbericht zu erstatten.“

Der Antrag wurde aber von dem Kongresse als unausführbar bekämpft und schließlich einigte man sich dahin, den Gegenstand dem nächsten Kongresse zu überweisen. Dasselbe geschah hinsichtlich der von der Schweiz beantragten Forderung eines gesetzlichen Minimallohnes. Ein holländischer Antrag, daß die Eisenbahnarbeiter jede Kriegserklärung mit einem Streik beantworten sollen, wurde von Frankreich bekämpft und schließlich zurückgezogen.

Der zweite Kongreß fand statt in Paris vom 3. bis 6. Oktober 1894. Vertreten waren Oesterreich, Frankreich, Italien, Holland und Spanien. Belgien und Deutschland hatten erklären lassen, daß ihnen eine Vereinsbildung durch das Staatseisenbahnsystem und den Druck der Behörden unmöglich gemacht sei. Amerika hatte Beteiligung in Aussicht gestellt, doch war kein Vertreter erschienen. Die Schweiz hatte auf ihrem nationalen Kongresse beschlossen, die Beteiligung auf spätere Zeit zu verschieben. Der englische Vertreter war durch den gleichzeitig tagenden englischen Kongreß verhindert.

Der Hauptgegenstand der Verhandlungen war die Schaffung eines internationalen Ausschusses, die nach langen Verhandlungen beschlossen wurde. Derselbe führt den Titel: „Internationaler Ausschuß zum Studium der Interessen der Arbeiter in den Transportgewerben“ und hat die Aufgabe: 1. die Organisation der internationalen Kongresse zu erleichtern, 2. Auskunft zu erteilen. Die Zulassung einer Organisation zu der Teilnahme muß von einem internationalen Kongresse beschlossen werden. Die Selbständigkeit der einzelnen Verbände soll nicht beeinträchtigt werden. Sitz des Ausschusses ist jedesmal der Ort, wo der letzte Kongreß stattgefunden hat. Die Verbände dieses Landes haben die Mitglieder zu bestimmen. Jede Nation hat einen internationalen Sekretär zu ernennen, der sich mit dem Ausschusse in Verbindung setzt, ihm Auskunft erteilt und die von dem Ausschusse erhaltenen Mitteilungen den einheimischen Kollegen bekannt giebt. Falls die Kassenverhältnisse es gestatten, soll der Ausschuß einen gedruckten Bericht herausgeben. Zur Bestreitung der Ausgaben für Uebersetzungen, Briefwechsel u. s. w., sowie für Vorbereitungen zu den internationalen Kongressen soll eine Kasse geschaffen werden, an die jede beteiligte Organisation für jedes Mitglied jährlich 5 Pf. zu zahlen hat; die Unterstützung von Streiks aus der Kasse ist ausdrücklich ausgeschlossen. Die internationalen Kongresse werden von den Vertretern der Stadt berufen, in der er nach dem Beschlusse des vorangegangenen Kongresses tagen soll. Jeder Verband kann beliebig viele Vertreter entsenden, die mit einer die Zahl der Vertretenen ergebenden Vollmacht versehen sein müssen. In der Regel hat jeder Vertreter eine Stimme, doch kann jeder Vertreter[Pg 474] die Abstimmung noch Nationalitäten fordern; in wichtigen Fragen kann der Kongreß beschließen, daß die Abgeordneten eine der Anzahl der von ihnen Vertretenen entsprechende Anzahl von Stimmen haben.

Die übrigen Beschlüsse betrafen folgende Punkte:

1. der 1. Mai soll als der Tag angesehen werden, an dem das Proletariat seine Forderungen vertritt. Die Eisenbahnarbeiter sollen sich an den Kundgebungen beteiligen, soweit es möglich ist.
2. Die Arbeitszeit soll wöchentlich 48 Stunden, d. h. täglich 8 Stunden, nicht überschreiten, ohne daß die Löhne verringert werden. Die Stunden sind nach den Dienstverhältnissen zu regeln, doch soll die Arbeitsschicht nicht über 10 Stunden betragen und jede Woche eine Ruhepause von 36 Stunden stattfinden.
3. Es soll ein nach den Lebensbedürfnissen geregelter Minimallohn festgesetzt werden. Ueberarbeiten sollen nur stattfinden bei Unfällen oder Bahnstockungen; sie sind durch vermehrte Ruhe auszugleichen;
4. Güterzüge sollen am Sonntage nur verkehren, wenn sie ausschließlich leicht verderbliche Waren führen;
5. Akkordarbeit und Prämien sollen abgeschafft werden ohne Verminderung des Einkommens.
6. Ueber die Gehaltsaufbesserung nach Klassen oder dem Dienstalter wurde lange gestritten; Holland, Italien und Frankreich machten gegen das Dienstaltersystem geltend, daß dabei kein Unterschied zwischen tüchtigen und untüchtigen Leuten stattfinde, während auf der anderen Seite auf die Möglichkeit von Bevorzugungen hingewiesen wurde. Schließlich einigte man sich auf einen Beschluß, durch den lediglich gegen persönliche Begünstigungen protestiert wurde.
7. Es wurde die Einführung von Pensionskassen auf Kosten der Verwaltungen gefordert, aus denen jeder Arbeiter nach 20 Dienstjahren eine ausreichende Pension nach Verhältnis der Dienstjahre beziehen soll.
8. Ueber die Schwierigkeit, die Ausübung des Wahlrechtes mit den Rücksichten des Dienstes zu vereinigen, wurde lange beraten, die Regelung aber den einzelnen Ländern überlassen.
9. Schließlich sprach der Kongreß seine Ueberzeugung aus, daß die wirtschaftliche Befreiung der Arbeiterklasse nicht anders möglich sei, als durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

Der dritte Kongreß wurde am 29. bis 31. August 1895 in Mailand abgehalten unter Beteiligung von Abgeordneten aus Oesterreich, Frankreich, Holland, der Schweiz, Italien, Spanien und Portugal. Der englische Vertreter war wieder durch den englischen Kongreß behindert, der amerikanische durch eine[Pg 475] Gefängnisstrafe. Um den Ländern, in denen dem Arbeiter die Organisation unmöglich ist, insbesondere Belgien und Deutschland, die Beteiligung zu ermöglichen, hatte das belgische Blatt: „Le Moniteur des employés“ den Antrag gestellt, aus solchen Ländern die die Arbeiterinteressen vertretende Zeitung zuzulassen; doch wurde dies abgelehnt.

Die Verhandlungen boten wenig Neues. An dem in Paris beschlossenen Reglement für den internationalen Ausschuß wurden einige unerhebliche Aenderungen vorgenommen. Der Antrag Italiens, das Verbot einer Verwendung der Beiträge zur Unterstützung von Streiks zu streichen, wurde, nachdem er von Oesterreich und Frankreich bekämpft war, zurückgezogen. Auf Antrag von Frankreich wird beschlossen, daß der internationale Ausschuß mindestens alle 3 Monate eine besondere Druckschrift versenden soll, die sich von Kampf und Propaganda völlig fern hält und lediglich statistische Angaben über die Arbeiterverhältnisse der einzelnen Länder enthält. Hinsichtlich des Minimallohnes wurde nach langer Verhandlung der Beschluß des vorigen Kongresses bestätigt und die Durchführung den einzelnen Ländern überlassen, doch sollen über die notwendigen Existenzbedingungen statistische Ziffern und Berechnungen gesammelt werden. Der Kongreß forderte die Einführung von Schiedsgerichten unter gleicher Beteiligung Von Arbeitern und Arbeitgebern, sowie die Gewährung des politischen und kommunalen Wahlrechts an die Eisenbahnarbeiter. Um die Durchführung eines Haftpflichtgesetzes für die Unternehmer zu erreichen, wurde das internationale Sekretariat beauftragt, die Gesetze der einzelnen Länder über diesen Punkt zu sammeln und dem nächsten Kongresse einen Gesetzentwurf vorzulegen. Die Beschlüsse des vorigen Kongresses wegen Anstellung von Eisenbahninspektoren, sowie wegen Nationalisierung der Transportmittel wurden wiederholt.

Der Beschluß im Jahre 1897 in Barcelona einen neuen Kongreß abzuhalten, ist wegen der Kriegsverhältnisse in Spanien nicht zur Ausführung gelangt.

4. Textilarbeiter[198].

Bei Gelegenheit des internationalen Arbeiterkongresses in Zürich 1893 war auch eine Konferenz der Textilarbeiter abgehalten, in der beschlossen war, die Errichtung eines internationalen Sekretariates ins Auge zu fassen und zu diesem Zwecke in Verbindung mit dem im Jahre 1896 in London abzuhaltenden internationalen Arbeiterkongreß einen Textilarbeiterkongreß abzuhalten. Im Widerspruch zu dieser Verabredung beriefen die Engländer einen solchen schon 1894[Pg 476] nach Manchester, was zur Folge hatte, daß die Deutschen sich fern hielten; dabei spielte übrigens, wie die Aeußerungen der betreffenden Blätter bewiesen, die Abneigung gegen die als „Bourgeois“ betrachteten Engländer eine Rolle.

Der Kongreß wurde vom 24. bis 27. Juli 1894 abgehalten. Vertreten waren 15000 Engländer durch 42, 7500 Franzosen durch 4, 2500 Belgier durch 4, 15000 Amerikaner, 3000 Oesterreicher, 500 Holländer und 500 Dänen durch je einen Abgeordneten. Das absolute Uebergewicht der Engländer wurde dadurch unschädlich gemacht, daß die Abstimmung nach Nationen stattfand.

Nach eingehenden Berichten aus den einzelnen Ländern über die Lage der Textilarbeiter wurde zunächst einstimmig eine Resolution zu Gunsten des gesetzlichen Achtstundentages angenommen. Nicht völlig so einig war man hinsichtlich des zweiten Punktes der Tagesordnung, der Mittel und Wege, um eine Erhöhung der Löhne herbeizuführen, indem hier die Mehrzahl der Engländer das Hauptgewicht auf die gewerkschaftliche Organisation und gefüllte Streikkassen legte, während die Franzosen, Holländer, Belgier die Bedeutung der politischen Thätigkeit im Sinne der Sozialdemokratie betonten. Man einigte sich schließlich zu einem Beschlusse, in dem sowohl die Notwendigkeit der Organisation betont, als auch die Erringung von Sitzen in den politischen Körperschaften empfohlen und gegen alle die Koalitionsfreiheit der Arbeiter beschränkenden Gesetze mit dem Hinweise darauf protestiert wurde, daß man durch die letzteren die Arbeiter zu ungesetzlichen Maßregeln anreize.

Hinsichtlich der Frage der internationalen Organisation standen sich zwei Ansichten gegenüber. Die Oesterreicher wünschten nicht allein ein Sekretariat, sondern auch einen internationalen Fonds insbesondere zur Unterstützung von Streiks. Die Belgier verlangten außerdem eine gemeinsame Fachzeitung und regelmäßige jährliche Kongresse. Dem hielten die Engländer entgegen, daß man nicht in der Lage sei, die damit verknüpften erheblichen Kosten zu bestreiten und daß man sich zunächst auf ein bloßes Informationskomitee beschränkten müsse; auch genüge es, wenn die Kongresse alle 2 bis 3 Jahre stattfänden. Schließlich wurde ein Beschluß angenommen, in dem die Bildung eines internationalen Verbandes ins Auge gefaßt und ein vorläufiger Ausschuß zu dem Zwecke eingesetzt wurde, daß an ihn die von den einzelnen Ländern zu ernennenden Sekretäre Vorschläge hinsichtlich der Organisation einsenden sollten, aus denen für den nächsten Kongreß ein Entwurf ausgearbeitet werden soll. Dieser sollte im nächsten Jahre in Gent stattfinden.

Demgemäß ist der zweite internationale Textilarbeiterkongreß vom 4. bis 10. August 1895 in Gent abgehalten. Vertreten waren 142725 Engländer durch 24, 5600 Belgier durch 18, 7200 Franzosen durch 2, 13000 Deutsche durch 3, 20054 Oesterreicher durch 1, insgesamt also 189470 Arbeiter[Pg 477] durch 47 Abgeordnete. Aus Böhmen, Russisch-Polen und der Schweiz waren Zustimmungserklärungen eingegangen.

Die Frage des Achtstundentages führte dieses Mal zu heftigen Kämpfen zwischen den Deutschen und Oesterreichern auf der einen, und einem Teile der Engländer (Lancashire) auf der anderen Seite. Die letzteren erklärten, daß die englischen Fabrikbesitzer schon jetzt in schwieriger Lage seien, da sie durch die ausländische Konkurrenz bedroht würden und daß es in England nicht möglich sei, die Arbeitszeit weiter herabzusetzen, solange andere Länder noch nicht einmal so weit gegangen seien, wie England. Auf die deutsche Empfehlung der Kollektivproduktion entgegneten sie, daß der Sozialismus ein schönes Ideal sei, daß aber der Kongreß es mit praktischen Dingen zu thun habe. Die Erringung der politischen Macht würde an den bestehenden Zuständen auch nichts ändern, denn ein englisches Parlament würde, auch wenn es ausschließlich aus Arbeitern zusammengesetzt sei, dennoch den Achtstundentag ablehnen. Der englische Arbeiter brauche solche Mittel nicht, da er die politische Freiheit und kräftige gewerkschaftliche Organisationen besitze. Die Ursache für die Machtstellung der englischen trade unions sei, daß sie sich von politischen und religiösen Fragen völlig fern hielten, so daß in ihnen die Anhänger der verschiedensten Richtungen vereinigt seien. Natürlich fanden diese Ausführungen lebhaften Widerspruch, und der deutsche Vertreter beschuldigte sogar die Engländer, daß sie die Arbeiterschaft bei ihrem Emanzipationskampfe nicht unterstützen wollten. Schließlich wurde ein Beschluß angenommen, in welchem der Kongreß allen Nationen die Bildung kräftiger Gewerkschaften mit hohen Beiträgen empfiehlt, um den Achtstundentag zu verlangen; der Gegenantrag von Deutschland und Oesterreich, der die Erringung der politischen Macht forderte, wurde abgelehnt.

Ueber die übrigen Gegenstände der Tagesordnung: Abschaffung der Sonntags-, Nacht- und Ueberarbeit, Arbeiterschutz und bessere Zusammensetzung der Volksvertretungen im Interesse der Arbeiter, einigte man sich in einer Resolution, in welcher den Arbeitern empfohlen wird, sich einen Einfluß auf ihre Parlamente, insbesondere durch Wahl eigener Abgeordneten, zu verschaffen und die Aufteilung von Fabrikinspektoren zu fordern, die von den Arbeiterorganisationen zu wählen und vom Staate zu besolden sind.

Hinsichtlich der internationalen Organisation wurde folgendes beschlossen:

1. Es wird ein internationales Sekretariat der Textilarbeiter mit dem Sitze in Belgien errichtet. Alle übrigen Länder haben einen Sekretär oder Vertrauensmann zu wählen, der die Mitglieder seines Landes vertritt und die Verbindung aufrecht erhält.
2. Die belgischen Textilarbeiter haben zur Unterstützung des Generalsekretärs einen Zentralausschuß aus 7 Personen zu bestellen.
3.[Pg 478] Die nationalen Sekretäre haben mit dem Generalsekretär jährlich eine Zusammenkunft abzuhalten, um den Ausbau der gewerkschaftlichen Organisation und die Besserung der Lage der Arbeiter zu beraten.
4. Die Kosten des Sekretariates zu 1300 Frs. sind von England mit 600, von Belgien mit 400, von Frankreich mit 150, von Deutschland mit 100 und von Oesterreich mit 50 Frs. zu tragen.

Der dritte Kongreß hat vom 9. bis 14. August 1897 in Roubaix (Belgien) stattgefunden. Vertreten waren 166000 Engländer durch 29, 24250 Franzosen durch 44, 24000 Deutsche durch 3, 7000 Belgier durch 5, 5000 Oesterreicher durch 1, 1200 Holländer durch 2, insgesamt also 227450 Textilarbeiter durch 84 Abgeordnete. Man beschloß, auf bessere Arbeiterschutzmaßregeln hinzuwirken, und zwar sowohl durch starke Gewerkschaften als auch mit Hülfe der Staatsgesetze. Ebenso soll Erreichung des Achtstundentages auf beiden Wegen angestrebt werden. Die Abschaffung der Kinderarbeit wurde gegen den Widerspruch der Engländer beschlossen; diese erklärten, sie nicht entbehren zu können. Hinsichtlich der Frauenarbeit erreichten die Deutschen die Streichung der Forderung einer kürzeren Arbeitszeit für Frauen als für Männer, indem sie geltend machten, daß beide Geschlechter gleiche Rechte und gleiche Pflichten haben sollten. Die Forderung der obligatorischen staatlichen Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Altersversicherung wurde gegen die Engländer, die ihre freiwilligen Kassen vorzogen, angenommen. Dagegen war man einig in dem Verlangen nach staatlichen Fabrikinspektoren, dem Verbote der Sonntagsarbeit und des Akkordsystems und der Forderung des Schutzes der Koalitionsfreiheit. Als Mittel empfahl man sowohl die gewerkschaftliche Organisation wie die Erringung politischer Macht.

Auf Antrag der Belgier wurde der Sitz des internationalen Sekretariates nach England (Sekretär Wilkinson in Acorington-Lancashire) verlegt. Die von den übrigen Nationen geforderte Kostendeckung durch Beiträge von jährlich 1 Cent. für jedes Mitglied wollten die Engländer nur bewilligen, wenn auch das Stimmrecht sich nach der Zahl der Mitglieder richten solle. Schließlich einigte man sich dahin, es bei der bisherigen Abstimmung nach Nationen zu belassen und die Kosten so zu verteilen, daß jährlich England 300, Frankreich und Deutschland je 200, Belgien 150, Oesterreich 125 und Holland 25 Frs. aufzubringen haben. Der nächste Kongreß soll 1900 in Deutschland stattfinden.

5. Die Metallarbeiter[199].

Auf dem ersten internationalen Metallarbeiterkongresse, der vom 4. bis 11. August 1893 in Zürich abgehalten wurde, waren Oesterreich[Pg 479] und Frankreich durch je 2, Deutschland durch 4, Ungarn, Belgien und Nordamerika durch je einen, England durch 3 und die Schweiz durch 13 Abgeordnete vertreten.

Die Verhandlungen waren anfangs durch die Verschiedenheit der Sprachen sehr erschwert; der ganze Kongreß wurde von einem Teilnehmer als eine bloße Vorkonferenz für einen späteren eigentlichen Kongreß bezeichnet. Immerhin einigte man sich über den Hauptpunkt, die Schaffung einer internationalen Zentralstelle in folgendem Beschlusse:

I. Es wird ein internationales Auskunftsbureau errichtet.

Dessen Funktionen sind folgende:

1. über die Arbeiterbewegungen der verschiedenen Länder an die Arbeiterzeitungen und die Vertrauensmänner der beteiligten Landesverbände Mitteilungen zu machen;
2. die Aufrufe in Streikangelegenheiten zu übermitteln;
3. internationale Vorlagen von Arbeiterschutzgesetzen zur Kenntnis der Arbeiterpresse und der Vertrauensmänner zu bringen;
4. Anfragen in gewerkschaftlicher Beziehung zu erledigen.

Die Berichte, Mitteilungen u. s. w. werden in deutscher, französischer und englischer Sprache veröffentlicht.

II. Die Kosten für das internationale Auskunftsbureau werden von dem Lande geregelt, in welchem dasselbe seinen Sitz hat. Jedes halbe Jahr wird die verausgabte Summe von den beteiligten Landesorganisationen proportional erhoben.

III. Sitz des internationalen Auskunftsbureaus ist bis zum nächsten Kongresse die Schweiz.

Außerdem wurde beschlossen, daß in jedem Lande die Metallarbeiter einen Vertrauensmann zu wählen haben, dessen Aufgaben darin bestehen, daß er die internationalen Beziehungen wahrnimmt, alle 6 Monate einen schriftlichen Bericht zu erstatten und im Falle von Streiks sofort dem Bureau Mitteilung zu machen hat. Bei dem Letzteren soll ein genaues Adressenverzeichnis der Landesorganisationen, der Vertrauensmänner und der Berufsorgane angelegt werden. Die Kosten für die Vertrauensmänner hat jede Landesorganisation selbst zu tragen, dagegen sind zur Deckung der internationalen Unkosten von jedem Lande 50 Frcs. zu zahlen.

Hinsichtlich der Reiseunterstützung wurde noch folgender Beschluß gefaßt:

[Pg 480]

1. Die Reiseunterstützung ist in allen beteiligten Ländern für obligatorisch zu erklären.
2. Die organisierten Metallarbeiter sind beim Betreten eines beteiligten Landes als Mitglieder der betreffenden Landesorganisationen zu behandeln, falls festgestellt werden kann, daß sie mindestens 6 Monate hindurch die Beiträge bezahlt haben.
3. Reiseunterstützung soll nach der Entfernung einheitlich geregelt werden. Für mehr belastete Länder soll eine Ausgleichung vorgenommen werden.

Auf Grund dieser Beschlüsse wurde das internationale Informationsbureau in Winterthur eingerichtet, das mit den Metallarbeitern von Frankreich, Deutschland, Oesterreich, Dänemark und der Schweiz in regelmäßige Verbindung trat, während die Engländer den Anschluß abgelehnt haben. Für die Zeit vom 1. November 1894/95 liegt ein Bericht vor, der einen Ueberblick über die bisherige Thätigkeit giebt. Um gegenüber dem internationalen Zusammengehen der Arbeitgeber auch die Arbeiter fester zu verbinden, haben die Mitglieder des Bureaus gemeinsam mit dem Zentralvorstande des schweizerischen Metallarbeiterverbandes auf einer am 23. Februar 1896 in Wallisellen abgehaltenen Konferenz den Plan gefaßt, ein internationales Sekretariat einzurichten; der Sekretär soll besoldet sein und für je 3 Jahre auf den internationalen Kongressen gewählt werden.

Der II. internationale Metallarbeiterkongreß fand vom 23. bis 25. Juli 1896 in London statt unter Beteiligung von 25 Abgeordneten, von denen 13 auf England, 4 auf Deutschland und je einer auf Frankreich, Belgien, Dänemark, Italien, Schweden, Oesterreich, die Schweiz und Nordamerika entfielen. Aus dem von dem internationalen Bureau erstatteten Berichte ist zu erwähnen, daß darin über die mangelhafte Erfüllung der übernommenen Pflichten seitens der verschiedenen Verbände lebhafte Klage geführt wird; aus England und Amerika ist es überhaupt nicht möglich gewesen, die Beiträge von je 50 Frcs. einzuziehen, andere Verbände haben auf Anfragen erst nach mehrfacher Wiederholung oder gar nicht geantwortet. Zur Entschuldigung bemerkte der englische Vorsitzende, daß seine Landsleute in ganz anderer Weise als die übrigen Länder organisiert seien, nämlich nicht nach Industrien, sondern nach einzelnen Berufszweigen, so daß sie für die großen Verbände keinen Sinn hätten. Das Bureau hat seinen Sitz in Winterthur gehabt und aus 5 Mitgliedern bestanden, doch drückten diese den Wunsch aus, ihrer Stelle enthoben zu werden und das Bureau nach einem anderen Lande verlegt zu sehen. Der Kongreß gab diesem Verlangen nach, indem er den Sitz des Bureaus bis zum nächsten Kongresse nach England und zwar nach Sheffield verlegte, im übrigen wurden hinsichtlich der Organisation die Züricher Beschlüsse bestätigt.

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Der Schwerpunkt der Verhandlungen lag in den sehr ausführlichen Berichten der einzelnen Länder, sodaß die gefaßten Beschlüsse zurücktreten. Bei Streiks soll der betreffende Verband genaue Berichte an das Sekretariat erstatten und dieses darauf die verbundenen Vereine in Kenntnis setzen und zu Beiträgen auffordern, die an das Bureau zu leisten und von diesem weiter zu befördern sind. Auch eine gegenseitige Reiseunterstützung soll stattfinden, doch ist es jedem Verbande überlassen, deren Betrag zu bestimmen. Um eine Unterlage für einen Minimallohn und die Forderung des Achtstundentages zu erlangen, soll das Bureau über die durchschnittliche Lohnhöhe und die Arbeitszeit Erhebungen anstellen. Ein internationaler Kongreß soll alle 2 Jahre stattfinden, wobei dessen Ort und Zeit durch Abstimmung der Verbände festgesetzt wird.

Der deutsche Metallarbeiterverband steht, wie die von dem Vorstande auf den Generalversammlungen in Altenburg, Magdeburg und Braunschweig (1893, 1895, 1897) erstatteten Berichte ersehen lassen, der internationalen Organisation sehr kühl gegenüber und hat sowohl auf dem Kongresse in London, wie bei einer vorhergegangenen von dem Bureau vorgenommenen Umfrage sich gegen Fortbestand des Informationsbureaus, mindestens aber für Ersetzung desselben durch einen einzelnen Sekretär ausgesprochen, sich aber schließlich dem Mehrheitsbeschlusse gefügt. Er geht davon aus, daß eine internationale Organisation sich auf starken nationalen Verbänden aufbauen müsse und deshalb solange keine Bedeutung habe, wie es an dieser Vorbedingung fehlt. Mit Rücksicht auf das deutsche Vereinsgesetz unterhält er keine unmittelbaren Beziehungen zu dem Bureau, sondern der Verkehr wird durch einen Vertrauensmann vermittelt.

6. Die Holzarbeiter[200].

Die internationale Organisation der Holzarbeiter ist noch in den ersten Anfängen. Schon im Anschluß an den internationalen Arbeiterkongreß in Brüssel (16. bis 22. August 1892) fand eine internationale Holzarbeiterkonferenz statt, deren Beschickung aber sehr schwach war. Es wurde die Begründung eines internationalen Sekretariates beschlossen mit dem Auftrage, Berichte der verschiedenen Länder einzuholen und zusammenzustellen sowie den Verkehr der nationalen Organisationen unter einander zu vermitteln, endlich[Pg 482] auch die nächste Konferenz einzuberufen. Dies geschah dann bei Gelegenheit des internationalen Arbeiterkongresses in Zürich (6. bis 12. August 1893), doch mußte der Sekretär, Tischler Saas in Brüssel, berichten, daß alle seine Bemühungen absolut erfolglos gewesen seien. Die Konferenz beschloß von neuem den Sekretär mit Einholung der Berichte aus den einzelnen Ländern und deren Veröffentlichung zu beauftragen, ferner auf die Errichtung nationaler Sekretariate in allen Ländern hinzuwirken, deren Adressen dem internationalen Sekretär mitgeteilt werden sollten, und ebenso, daß von allen Streiks, die nicht aus eigener Kraft des beteiligten Landes geführt werden könnten, von den nationalen Sekretären dem internationalen Sekretariate Anzeige gemacht und von dem letzteren versucht werden solle, die Organisationen der anderen Länder zur Unterstützung aufzurufen und Zuzug fern zu halten. Endlich wurde eine Resolution gegen die Akkordarbeit und zu Gunsten der Verkürzung der Arbeitszeit gefaßt. In einem von dem neu gewählten Sekretär Kloß-Stuttgart im Frühjahr 1896 erlassenen Rundschreiben wird aber wieder mitgeteilt, daß alle diese Beschlüsse wirkungslos geblieben, daß die Berichte der einzelnen Länder nicht eingegangen seien und daß, da auch die Anregung, eine Woche vor dem internationalen Arbeiterkongresse (27. Juli bis 1. August 1896) in Amsterdam eine Konferenz abzuhalten, keinen Erfolg gehabt habe, der Sekretär sich darauf beschränken müsse, die eingelaufenen spärlichen Berichte zusammenzustellen und es den nach London reisenden Kollegen zu überlassen, in Anschluß an den Kongreß eine Separatkonferenz abzuhalten.

Eine solche hat denn auch in der That stattgefunden, doch sind bei derselben nur England, Deutschland, Holland und Dänemark vertreten gewesen. Man wiederholte im allgemeinen die Züricher Beschlüsse, jedoch mit der Abschwächung, daß nur der Austausch der Berichte in der Ursprache stattfinden soll. Von Errichtung einer internationalen Widerstandskasse wurde abgesehen, und zwar einmal aus dem Grunde, weil die nationalen Organisationen noch nicht genügend gefestigt seien, um einen Beitrag für eine solche Kasse zu ermöglichen, ein Sonderbeitrag aber die Mitglieder zu stark belasten würde, andererseits weil man der Ansicht war, daß die nationalen Organisationen ihre Kämpfe in erster Linie mit eigenen Mitteln führen und im Notfalle ihre Beiträge entsprechend erhöhen müßten. Dies soll allerdings nur für Angriffskämpfe gelten, dagegen sollen alle Organisationen gehalten sein bei Abwehrkämpfen, die besondere Opfer erfordern, durch freiwillige Beisteuern zu den Kosten beizutragen.

[Pg 483]

7. Die Seeleute und Hafenarbeiter[201].

Haben wir schon bei anderen Berufen, z. B. bei den Bergleuten und den Lithographen ein starkes Uebergewicht der Engländer gesehen, so gilt dies insbesondere für die Seeleute und Hafenarbeiter, was bei der vorherrschenden Stellung Englands im Seewesen nicht überraschen kann. Der Gedanke einer internationalen Organisation wurde zuerst von den beiden englischen Vereinen der Dockarbeiter, der dockers union und der National union of dock labourers, die im Mai 1896 ihre Generalversammlungen hielten, angeregt, und nachdem man noch die national sailors and firemen's union hinzugezogen hatte, begründeten die drei Vereine am 10. Juni 1896 einen internationalen Verband, indem sie zunächst einen aus Vertretern der genannten Vereine bestehenden provisorischen Zentralausschuß einsetzten, zu dessen Vorsitzendem Tom Man und zu dessen Sekretär Ben Tillet gewählt wurde. Der Ausschuß richtete dann Schreiben an die Seeleute und Hafenarbeiter in England, Deutschland, Frankreich, Schweden, Belgien, Holland und Spanien mit der Bitte, Vorschläge zu einem Statutenentwurfe zu machen und suchte auch in Nordamerika und Australien Verbindungen anzuknüpfen. Am 14. bis 26. Februar 1897 trat dann eine Konferenz in London zusammen, an der 36 Vertreter von 14 englischen Vereinen und außerdem 5 französische, 3 deutsche und je ein Abgeordneter aus Holland, Belgien, Spanien und Rußland teilnahmen. Da man bei der großen Menge schwieriger Fragen und bei dem Mangel ausreichender Vollmachten der Vertreter zu keinem endgültigen Beschluß kommen konnte, so beschränkte man sich nach einem Meinungsaustausche darauf, einen Zentralausschuß zu ernennen und im übrigen die Erledigung der Sache einer zweiten Konferenz vorzubehalten.

Diese trat am 14. Juni 1897 in London zusammen unter einer Beteiligung von 35 Abgeordneten, die etwa 54000 Arbeiter vertraten, wovon jedoch allein 36000 auf England entfielen. Die französischen, belgischen, holländischen und spanischen Vereine hatten dieses mal aus Mangel an Geld keine Vertreter geschickt, dagegen war Schweden durch einen Abgeordneten beteiligt.

Nachdem man einstimmige Beschlüsse zu Gunsten der Achtstundenarbeit bei freiem Sonnabend Nachmittage sowie der möglichsten Verminderung der Nacht- und Sonntagsarbeit und endlich der Einführung eines Minimallohnes gefaßt hatte, kam man zu der schwierigen Frage des[Pg 484] Generalstreiks. Der Zentralausschuß hatte bisher absichtlich die Fahne dieses Schlagwortes entfaltet, um das allgemeine Interesse der beteiligten Arbeiter anzuregen, obgleich zu bezweifeln ist, ob er außer diesem taktischen Zwecke auch noch ernstere Absichten damit verfolgt hat, da der völlige Niedergang der englischen Vereine und die mehrfachen erheblichen Niederlagen den Plan eines neuen Streiks als ganz undurchführbar erscheinen lassen mußten. Außer der geringen Stärke der neuen Organisation kam noch ferner in Betracht, daß es durchaus erforderlich war, zunächst diese selbst endgültig und fest zu begründen, bevor man daran gehen konnte, sie einer Kraftprobe auszusetzen. Diese Erwägungen hatten denn auch zur Folge, daß man sich darauf beschränkte, einen Generalstreik nicht sofort zu beschließen, sondern erst auf den 1. Mai 1898 ins Auge zu fassen. Noch schwieriger wurde die Lage dadurch, daß der schwedische Vertreter die Absicht seiner Landsleute erklärte, sofort einen Streik zu beginnen und um die Unterstützung der übrigen Länder nachsuchte. Trotzdem ging man nicht weiter, als daß man sich im allgemeinen bereit erklärte, „nach Kräften“ zu helfen.

Man ging dann über zu der Beratung des Organisationsstatutes und hatte zunächst Stellung zu nehmen zu der schwierigen Frage der Teilnehmerschaft. Während die Engländer den internationalen Verband aus den Vereinen der einzelnen Länder zusammensetzen wollten, war dies für die Deutschen mit Rücksicht auf die Vereinsgesetze nicht möglich. Der aufgeworfene Gedanke, die Mitglieder der einzelnen Länder unmittelbar Mitglieder des Gesamtverbandes werden zu lassen, fand Widerspruch, indem man befürchtete, daß dadurch ein Konkurrenzverhältnis des internationalen gegen die nationalen Verbände herbeigeführt werden könne. Eine weitere Schwierigkeit lag in der Behandlung der Zweigvereine, hinsichtlich deren die Meinungen darüber auseinander gingen, ob man ihnen unabhängig von der Zugehörigkeit des Hauptvereins den Beitritt gestatten solle. Es gelang nicht, diese Fragen zu lösen, und so beschränkte man sich darauf, die Entscheidung dem Zentralausschusse zu überlassen. Auch hinsichtlich der Beitragszahlung standen sich zwei Auffassungen gegenüber, die insofern eine grundsätzliche Verschiedenheit bedeuteten, als es sich um die Frage handelte, ob die Organisation zentralistisch oder dezentralisiert sein solle; je nachdem mußte man hohe oder niedrige Beiträge verlangen. Man einigte sich schließlich dahin, daß jeder Verein ein einmaliges Eintrittsgeld von 20 Schilling für je 1000 Mitglieder und außerdem einen vierteljährlichen Beitrag von 10 cent. für jedes Mitglied zu zahlen hat. Die oberste Instanz des Verbandes ist der jährlich abzuhaltende Kongreß, zu dem die Vereine bis 1000 Mitglieder einen Abgeordneten, von 1000–5000 einen solchen auf je 1000, von 5000–50000 einen auf je 5000 und darüber hinaus einen auf[Pg 485] je 20000 Mitglieder stellen dürfen. Der Kongreß wählt die Beamten, insbesondere den Präsidenten, den Vicepräsidenten und den Schatzmeister, sowie den Zentralausschuß. Der letztere soll aus höchstens 10 Mitgliedern bestehen, die aus den von den Vereinen vorgeschlagenen Personen ausgewählt werden, doch soll jeder Verein nur einen Sitz haben. Dem Zentralausschusse wurden aber nur geringe Rechte eingeräumt, insbesondere hat er nicht die Befugnis, in Fällen von Streiks oder Aussperrungen Beiträge auszuschreiben, sondern muß sich auf die Aufforderung zu freiwilligen Zuschüssen beschränken. Den Generalstreik darf er nur mit Zustimmung der Mehrheit der Angehörigen der verbündeten Vereine erklären; Vereine, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, darf er aus dem Verbande ausschließen, doch findet dagegen eine Berufung an den Kongreß statt. Hinsichtlich der Kosten des Kongresses beschloß man mit 16 gegen 15 Stimmen, daß dieselben von den einzelnen Vereinen zu tragen seien, doch hatte dies zur Folge, daß bei der dann folgender Wahl zum Zentralausschusse und zu den Beamtenstellen lediglich Engländer gewählt wurden, indem die kontinentalen Vertreter erklärten, daß ihre Vereine die Kosten eigener Vertreter nicht aufbringen könnten. Andererseits erregte diese Wahl lebhaften Unwillen, da der ganze Verband sich als ein solcher von Englands Gnaden darstellt.

In der That ist kaum anzunehmen, daß dem Verbande eine lange Dauer beschieden sein wird. Ist derselbe schon an sich auf einer wenig gesicherten Grundlage aufgebaut, so traf ihn noch das besonders ungünstige Schicksal, daß noch vor seiner endgültigen Begründung der Hamburger Hafenarbeiterstreik ausbrach und er so gezwungen wurde, eine Kraftprobe vorzunehmen, bevor er zu einer solchen imstande war. Allerdings haben es die leitenden Personen nicht an Warnungen fehlen lassen, um die Streiklustigen zurückzuhalten, zumal die Jahreszeit für diesen Zweck ganz besonders ungünstig war, aber sie mußten erleben, daß die einmal angeregte Bewegung sich auch von ihren Urhebern nicht mehr hemmen ließ, zumal überhaupt eine organisierte Masse schwer zu leiten ist. Der schließlich eingetretene Mißerfolg mußte aber der Organisation in ähnlichem Maße zum Schaden gereichen, wie dies für die Hirsch-Duncker'schen Vereine bei dem Waldenburger Streik der Fall war.

Inzwischen giebt der Zentralausschuß monatliche Berichte in englischer Sprache heraus, in denen auch Fragen der Organisation erörtert werden. In demselben wird lebhaft die Notwendigkeit betont, dem Ausschuß das Recht zur Erhebung von Beiträgen zu Streiks zu geben, die prozentual auf die Vereine zu verteilen seien.

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8. Tabakarbeiter[202].

Der erste internationale Kongreß ist vom 28. September bis 1. Oktober 1890 in Antwerpen abgehalten unter Beteiligung von 6 deutschen, 2 englischen, 4 holländischen und 13 belgischen Vertretern. Aus Amerika, der Schweiz, Norwegen, Schweden und Luxemburg waren Zustimmungserklärungen eingegangen. Nach den erstatteten Berichten sind in Holland 1200 (von 3500), in Belgien 1000, in Deutschland 20000 (von 75000) Tabakarbeitern organisiert; in England sogar alle bis auf 50.

Der wichtigste Punkt der Verhandlungen betraf die Bildung eines internationalen Verbandes. Ein solcher wurde, obgleich die deutschen Vertreter erklärten, daß ihnen die Beteiligung durch die einheimischen Gesetze unmöglich gemacht sei, grundsätzlich beschlossen.

Anders lag es hinsichtlich eines internationalen Streikfonds. Dieser wurde, da er keine Verbindung zwischen Vereinen darstellt, gerade von deutscher Seite energisch gefordert, dagegen seitens der Engländer ebenso entschieden verworfen. Nachdem er dennoch von den übrigen Nationen beschlossen war, blieben die englischen Vertreter nur noch als Zuhörer anwesend. Aus den Ausführungsbestimmungen, die im wesentlichen nach den deutschen Anträgen beschlossen wurden, sind folgende hervorzuheben: In der Regel sind nur solche Streiks zu unterstützen, die von der betreffenden Landesorganisation anerkannt sind. Größere oder lang dauernde Streiks sind aus dem internationalen Fonds zu unterstützen, in welchen von den beteiligten Verbänden für jedes Mitglied 25 Cent. einzuzahlen sind. Jedes Land ernennt einen Vertrauensmann. Diese bilden das internationale Komitee. Einer der Vertrauensleute wird vom Kongreß zum internationalen Sekretär ernannt. Das Land, dem die Leitung übertragen ist, bestimmt 4 Personen, die zusammen mit dem Sekretär den geschäftsführenden Ausschuß bilden und an demselben Orte wohnen müssen. Jeder Vertrauensmann hat eine Stimme und ist verpflichtet, dem Sekretär vierteljährlich Rechnung zu legen. Das Komitee hat jährlich einen Bericht zu erstatten. Der geschäftsführende Ausschuß kann bei Streiks selbständig Unterstützungen bis zu 5000 Frcs. beschließen. Alle 2 Jahre findet ein internationaler Kongreß statt.

Es wurde noch beschlossen, daß der Verband keinen politischen Karakter tragen und die Beteiligung von einer politischen Anschauung nicht abhängig sein solle. Die Regierungen sollen aufgefordert werden, die gesetzliche Einführung des Achtstundentages und das Verbot der Sonntagsarbeit durchzuführen. Kinderarbeit[Pg 487] soll ganz, Frauenarbeit dagegen nur soweit verboten sein, wie sie den Rücksichten der Gesundheit widerspricht.

Als Sitz des internationalen Komitees wurde Antwerpen gewählt.

Hatte schon dieses Mal England eine isolierte Stellung eingenommen, so war es auf dem zweiten Kongresse, der vom 4. bis 8. September 1892 in Amsterdam stattfand, gar nicht vertreten, sondern nur Belgien, Holland, Deutschland, Dänemark und die Schweiz. In Dänemark sind von 1900 Tabakarbeitern 1450 organisiert, in Norwegen 250 von 2500, in der Schweiz 600. Der internationale Fonds betrug 5595 Frcs. Der Mittelpunkt der Verhandlungen war die Reiseunterstützung. Die Einführung einer einheitlichen Reisekarte, der Deutschland wegen der Vereinsgesetze nicht zustimmen konnte, wurde insoweit beschlossen, als die Gesetze es zulassen. Gegen den Widerspruch der deutschen Vertreter wurde beschlossen, daß die von den einzelnen Ländern gezahlten Reiseunterstützungen gegenseitig halbjährlich berechnet und zurückvergütet werden sollen. Als Form wurde die Vergütung nach Kilometern angenommen. Ein Antrag, daß bei Streiks die Mitglieder aller Verbände einen einheitlichen Beitrag leisten sollten, wurde abgelehnt, ebenso der von Belgien empfohlene National-(General-) Streik, vielmehr empfohlen, den Streik nur mit aller Vorsicht und als letztes Mittel anzuwenden. Hinsichtlich der Lehrlinge wurde die Ausbildung in Fachschulen seitens der Gemeinde und die Beschränkung auf eine angemessene Zahl gefordert. In einer besonderen Resolution wurde das Fehlen der Engländer bedauert und die Hoffnung ihrer künftigen Mitarbeit ausgesprochen.

Trotzdem waren auch auf dem vom 6. bis 10. August 1894 in Basel abgehaltenen dritten Kongresse nur Deutschland, Belgien, Holland, Luxemburg, Dänemark und die Schweiz vertreten. Der internationale Fonds betrug 9978 Frcs. Nach der Berichterstattung der einzelnen Länder wurde in einer Resolution die Hausarbeit, das Akkordsystem und die lange Arbeitszeit als schädlich verurteilt. Hinsichtlich der Streikunterstützung aus dem internationalen Fonds wurde beschlossen, daß dieselbe von dem Komitee noch besten Kräften erfolgen soll, jedoch nur dann, wenn die Unterstützung von dem betreffenden Lande nicht aufgebracht werden kann, wenn die Organisation dem internationalen Verbande seit einem Jahre angehört und die vom Streik oder der Aussperrung Betroffenen mindestens 10% der organisierten Arbeiter des Landes ausmachen. Ueber die Reiseunterstützung wurde lange verhandelt, aber ein Beschluß nicht gefaßt. Dagegen wurde die Stellung der gewerkschaftlichen zu den politischen Organisationen in folgender Resolution ausgesprochen:

„Der Kongreß erkennt nicht nur die Selbständigkeit der Gewerkschaften neben der politischen Partei an, sondern hält die Gewerkschaften für einen integrierenden Teil der gesamten Arbeiterbewegung, setzt aber auch als selbstverständlich[Pg 488] voraus, daß dieselben von dem treibenden Gedanken der modernen Arbeiterbewegung, welche die vollständige Befreiung des gesamten Proletariates in sich schließt, der internationalen sozialistischen Idee, getragen werden.“

Als Sitz des Komitees wurde wieder Antwerpen bestimmt.

Auf dem vom 19. bis 26. Juni 1896 in London abgehaltenen vierten Kongresse war außer Deutschland, Belgien, Holland, Dänemark, Schweiz und Luxemburg endlich auch England vertreten. Die Zahl der Mitglieder wird im Protokolle für England auf 1921, für Belgien auf 1400, für Holland auf 1500, für Dänemark auf 2000, für Deutschland auf 15033, für die Schweiz auf 200 und für Luxemburg auf 40 angegeben. Der englische Abgeordnete teilte mit, daß schon 1870 die Engländer einen internationalen Tabakarbeiterkongreß nach London berufen hätten, daß aber später diese Kongresse eingeschlafen seien und die Engländer an den letzten beiden sich aus dem Grunde nicht beteiligt hatten, weil sie eine internationale Streikkasse mit festen Beiträgen von so geringer Höhe, wie bisher, für völlig wertlos hielten; England hatte deshalb beantragt, daß die Beiträge der internationalen Kasse nicht höher sein sollten, als zur Deckung der Kosten des Sekretariates nötig sei. Holland beantragte demgegenüber die Beiträge auf wöchentlich 4 Cent. für jedes Mitglied festzusetzen; der englische Antrag wurde schließlich dahin angenommen, daß die Beiträge zunächst für das Sekretariat zu verwenden sind und nur der Ueberschuß als Streikunterstützung gegeben werden darf, sofern die Streikenden mindestens 10% der Organisation betragen und der betreffende Verband sich nicht länger als 6 Monate mit seinen Beiträgen in Rückstand befindet. Diese wurde auf 25 Cent. für das Mitglied festgesetzt. Die Summe, über die der geschäftsführende Ausschuß verfügen darf, würde von 5000 auf 2500 Frcs. herabgesetzt.

Ein Antrag der Holländer, daß Mitglieder, falls sie in einem anderen Lande krank würden, von den dortigen Krankenkassen zu unterstützen seien, fand aus praktischen Gründen insofern Widerspruch als nicht in allen Länder gewerkschaftliche Krankenkassen bestehen. Man beschränkte sich deshalb darauf, in einer Resolution das Ziel als grundsätzlich berechtigt anzuerkennen.

Eingehende Verhandlungen veranlaßte die Frage der Maschinenarbeit. Die Holländer hatten ihren Mitgliedern verboten, mit der Maschine zu arbeiten, doch hatte dies zur Folge gehabt, daß die Fabrikanten Frauen eingestellt hatten. Bei diesen Erörterungen wurde auch mehrfach das politische Gebiet gestreift, indem die Holländer gegen die Beteiligung am Parlamentarismus, die Deutschen aber für dieselbe eintraten, während die Engländer gegen diese ganze Erörterung protestierten und lediglich in starken Gewerkschaften den Schutz sahen. Schließlich wurde der englische Antrag angenommen, daß die gelernten Arbeiter[Pg 489] so lange nicht an den Maschinen arbeiten sollten, wie diese mangelhaft sind, um nicht ihrerseits zu deren Verbesserung beizutragen.

Nachdem noch eine Resolution gegen die Hausarbeit angenommen war, wurde beschlossen, den nächsten Kongreß in Anschluß an den nächsten allgemeinen Arbeiterkongreß abzuhalten.

9. Lederarbeiter[203].

Die Lederarbeiter haben am 8. und 9. August 1896 in Berlin ihre erste internationale Konferenz abgehalten. Vertreten waren Deutschland durch 7, Oesterreich durch 2, Dänemark, Ungarn, Frankreich und Luxemburg durch je einen Abgesandten. Der erste Gegenstand der Verhandlungen war die Schaffung einer internationalen Organisation. Man erkannte einstimmig eine solche als Ziel an, betonte aber, daß sie erst möglich sei, nachdem die Lederarbeiter der einzelnen Länder nationale Zentralorganisationen geschaffen hätten. Dies wurde in einer Resolution ausgesprochen. Aehnlich stellte man sich zu der internationalen Reiseunterstützung. Man erklärte, daß deren Begründung auf dem Kongresse noch nicht möglich sei und beschloß, die Angelegenheit der Verständigung der Hauptvorstände der einzelnen Länder zu überlassen.

Hinsichtlich der Schaffung von Widerstandskassen war man darüber einig, daß solche nötig, oder zunächst im örtlichen Rahmen zu schaffen seien; man betonte mehrfach die Notwendigkeit vorsichtigen Vorgehens und erklärte sich sogar gegen Abwehrstreiks bei ungünstiger Konjunktur, obgleich dies von anderer Seite bekämpft wurde. Das Ergebnis der eingehenden Beratung war die einstimmige Annahme folgender Resolution:

„Die internationale Konferenz erkennt an und hält es für eine Notwendigkeit, daß die Organisationen und Gewerkschaften, soweit es noch nicht geschehen, lokale Widerstandsfonds zu schaffen haben.

Ferner erklärt es die Konferenz für eine Notwendigkeit, daß die Organisationen bei Streiks, Aussperrungen und Fernhalten des Zuzuges sich gegenseitig unterstützen. In Fällen, wo die kämpfende Organisation des Landes erklärt, daß ihre eigenen Mittel zur Durchführung des Kampfes nicht ausreichen, ist mit aller Kraft von den am Kongreß vertretenen Organisationen für materielle Unterstützung einzutreten. Um aber ein Mißlingen von Streiks zu verhindern, haben die Organisationen genau auf die jeweilige Konjunktur zu achten und sind Angriffsstreiks bei ungünstiger Konjunktur so viel als[Pg 490] möglich zu meiden. Dasselbe gilt auch von Abwehrstreiks, weil die Unternehmer bei ungünstiger Geschäftsperiode gern solche Streiks provozieren, um die Organisation zu schwächen.

Pflicht der Organisationen und Gewerkschaften ist es, für die gewerkschaftliche Agitation im Sinne der modernen Arbeiterbewegung energisch einzutreten.

Der Fachpresse liegt die moralische Unterstützung ob.“

Die Begründung eines internationalen Sekretariates, das mit dem 1. Oktober 1896 in Wirksamkeit getreten ist und seinen Sitz in Berlin hat, wurde einstimmig angenommen, doch soll auf der nächsten Konferenz darüber von neuem beschlossen werden; diese soll in Wien abgehalten werden, um auf diese Weise einen größeren Einfluß auf Oesterreich zu erzielen, wo die Verhältnisse durch den Gegensatz zu Böhmen schwierig liegen. Auch der Nationalitätsdünkel der Ungarn, die sich deshalb zurückhielten, wurde beklagt. Man beschloß, mit den Handschuhmachern enge Fühlung zu halten und deren Kongresse durch Abgesandte, die von dem internationalen Sekretariate bestimmt werden sollen, zu beschicken. Endlich erklärte man sich in einer Resolution für Verkürzung der Arbeitszeit auf 8 Stunden und für Einführung eines Minimallohnes, indem man zugleich der Ueberzeugung Ausdruck gab, daß die vollständige Befreiung der Arbeiterklasse erst dann eintreten werde, wenn sie sich in den Besitz der Produktionsmittel und der politischen Macht gesetzt haben werde, und daß zur Erringung dieser Ziele eine enge Verbindung der Arbeiter aller Länder notwendig sei.

10. Die Brauer[204].

Der Anfang einer internationalen Organisation der Brauereiarbeiter ist durch eine internationale Konferenz gemacht, die in Anschluß an den internationalen Arbeiterkongreß in London (27. Juli bis 1. August 1896) abgehalten wurde und an der Vertreter aus England, Deutschland, der Schweiz. Oesterreich, Ungarn und Nordamerika teilnahmen. Nach Berichten aus den einzelnen Ländern wurde zunächst über das Freizügigkeitsverhältnis unter den verschiedenen nationalen Organisationen verhandelt und beschlossen, daß jedes Mitglied der an dem Freizügigkeitsverhältnis beteiligten Verbände, falls es seine Verpflichtungen gegenüber dem Heimatvereine erfüllt hat, ohne Eintrittsgeld dem Verbande eines fremden Landes beitreten kann und dadurch alle Rechte eines Mitgliedes erwirbt. Die gezahlten Unterstützungen[Pg 491] sollen gegenseitig jährlich verrechnet werden. In den Verbänden, in denen internationale Unterstützungsfonds noch nicht errichtet sind, soll dies sofort geschehen. Auch soll auf Erhöhung der Beiträge Bedacht genommen werden, da allseitig eine Unterstützung bei Lohnkämpfen als notwendig anerkannt wurde. Da Oesterreich und Ungarn bisher noch keine festen nationalen Verbände besitzen, so soll zunächst auf deren Errichtung hingewirkt werden.

Bei Forderungen an die Unternehmer soll stets in erster Linie die Herabsetzung der Arbeitszeit angestrebt werden.

Zur Festigung der internationalen Beziehungen wurde ein internationales Auskunftsbureau errichtet, das bis auf weiteres seinen Sitz in Budapest hat. Demselben soll über alle Vorkommnisse von Bedeutung, insbesondere über Streiks und Aussperrungen Mitteilung gemacht werden. Die Kosten werden von den beteiligten Organisationen gemeinsam getragen. Zum Publikationsorgan wurde die in Hannover erscheinende „Brauerzeitung“ bestimmt.

11. Former[205].

Am 29. und 30. Mai 1898 hat in Kopenhagen der erste internationale Formerkongreß getagt, an dem 8 deutsche, 7 dänische, 3 französische, 2 schwedische und je ein österreichischer und norwegischer Vertreter teilnahmen. Der ungarische Vertreter war durch Maßnahmen der Regierung zurückgehalten; Italien, Holland und Belgien hatten Zustimmungserklärungen gesandt. England hatte auf das Einladungsschreiben überhaupt nicht geantwortet, was mit Rücksicht auf die festländische Unterstützung des englischen Maschinenbauerstreiks große Entrüstung verursachte.

Der wichtigste Punkt der Verhandlungen war die Schaffung einer internationalen Organisation. Obgleich die Deutschen und Oesterreicher geltend machten, daß ihnen die Beteiligung durch ihre Landesgesetze unmöglich gemacht sei, so wurde doch einstimmig beschlossen, den Zusammenschluß der Former aller Länder um so mehr für erforderlich zu erklären, als auch die im vorigen Jahre in Deutschland stattgefundenen Kämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern den Beweis erbracht hätten, daß die Gießereibesitzer Deutschlands mit denen des Auslandes internationale Abmachungen getroffen hätten. Es wurde ein internationaler Vertrauensmann mit dem Sitze in Kopenhagen bestellt, an den alle wichtigen Ereignisse aus den beteiligten Ländern mitzuteilen sind, damit man sie in den betreffenden Arbeitsblättern veröffentlichen kann.

[Pg 492]

Bei größeren Arbeitseinstellungen sollen sofort in allen Ländern Sammlungen eingeleitet und die gesammelten Beträge an das Streikkomitee eingesandt werden. Dieses hat fortlaufende Streikberichte zu veröffentlichen. Zuzug ist überall fernzuhalten.

Hinsichtlich der Reiseunterstützung wurde beschlossen, daß sie überall auf die erforderliche Höhe gebracht und gleichmäßig gestaltet werden soll, so daß ein Mitglied, unter der Voraussetzung, daß seine Legitimationspapiere in Ordnung sind, in jedem Lande die dort gewährte Unterstützung erhält. Die Verpflichtung gegenseitiger Reiseunterstützung soll in Kraft treten, sobald der internationale Vertrauensmann den beteiligten Organisationen die Höhe der Unterstützung in den einzelnen Ländern mitgeteilt hat. Vorläufig soll die Unterstützung in der bisherigen Form bestehen bleiben, die endgültige Regelung soll auf dem nächsten internationalen Kongresse erfolgen, der 1900 in Paris stattfindet.

12. Handschuhmacher[206].

Der erste internationale Handschuhmacherkongreß wurde auf Einladung der Brüsseler Union der Handschuhmacher vom 28. bis 31. August 1892 in Brüssel abgehalten unter Beteiligung von 3 luxemburgischen, 4 deutschen, 2 französischen, 2 österreichischen, 1 italienischen, 1 dänischen und 6 belgischen Vertretern. Der Hauptzweck, die Begründung eines internationalen Verbandes der Handschuhmacher, wurde erreicht. An der Spitze steht ein Exekutivkomitee aus 7 Mitgliedern, das jedesmal von dem alljährlich abzuhaltenden Kongreß gewählt wird. Dasselbe hat die Durchführung der Kongreßbeschlüsse zu überwachen und erhält aus den einzelnen Ländern regelmäßige Monatsberichte, wie es an der Hand derselben auch seinerseits Berichte versendet; insbesondere ist auf eine möglichst vollständige Statistik Bedacht zu nehmen. Die dem Verbande angehörigen Organisationen haben für jedes Mitglied neben einer Aufnahmegebühr von 10 Cent. einen Jahresbeitrag in gleicher Höhe an die Verbandskasse zu entrichten. Arbeitseinstellungen dürfen nur beschlossen werden, nachdem alle Versuche einer gütlichen Beilegung erfolglos gemacht sind. Damit der Streik aus der Verbandskasse unterstützt werden kann, ist die Zustimmung des Exekutivkomitees erforderlich. Er soll auch nur dann genehmigt werden, wenn die beteiligte Organisation die erforderlichen Mittel in ihrer eigenen Kasse besitzt, wovon eine Ausnahme nur zu Gunsten von Streiks zur Abwehr von Lohnverkürzungen zugelassen ist. Streikunterstützungen werden in der Regel nur an solche Organisationen bezahlt, die ihren Verpflichtungen[Pg 493] gegenüber der Verbandskasse nachgekommen sind. Die Selbständigkeit der einzelnen Vereine soll nicht angetastet und nur Fragen von allgemeinem Interesse dem Kongreß vorgelegt werden. Jedes Mitglied muß ein Mitgliedsbuch haben und bei Aufenthaltswechsel dem Vereine des Anzugsortes vorlegen, auch nachweisen, daß er seine Beiträge bezahlt hat, widrigenfalls ihm keine Arbeit nachgewiesen wird.

Ueber alle übrigen Punkte der Tagesordnung konnte keine abschließende Verständigung erzielt werden, so daß man nach eingehenden Verhandlungen beschloß, sie der Erledigung durch den folgenden Kongreß vorzubehalten. Dazu gehörten:

1. die Festsetzung eines Lohntarifs und eines Minimallohnes. Man war darüber einig, daß diese Maßregel nicht allein im Interesse der Arbeiter liege, sondern zugleich bezwecke, die Schmutzkonkurrenz unter den Fabrikanten zu beseitigen, aber während einige Redner den Standpunkt vertraten, daß der Lohntarif für alle Länder gleichmäßig sein müsse, machten andere geltend, daß derselbe den örtlichen Bedingungen, insbesondere den Lebensverhältnissen angepaßt sein müsse;
2. die Lehrlingsfrage. In einigen Ländern soll eine übermäßige Lehrlingszüchterei bestehen, in anderen wurde dies bestritten;
3. die Hausarbeit, Stückarbeit und Teilarbeit; auch hier waren die Erfahrungen sehr abweichend;
4. die Reiseunterstützung. Es besteht bereits ein Gegenseitigkeitsvertrag zwischen Deutschland, Oesterreich und Dänemark. Während die deutschen Vertreter die Ausdehnung der Einrichtung auf alle Verbandsländer forderten, wurde dies von anderer Seite als undurchführbar bezeichnet;
5. die Begründung einer gemeinsamen Zeitung. Von Deutschland war hierzu das in Brüssel erscheinende Blatt „Le Gautier“ vorgeschlagen.

Die Wahl des Exekutivkomitees wurde dem Verein in Brüssel überlassen.

Der zweite internationale Kongreß hat vom 3. bis 7. September 1893 in Grenoble stattgefunden. Vertreten waren Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, Italien, Oesterreich, Dänemark, Norwegen, Schweden durch 12 Abgeordnete als Vertreter von insgesamt 4557 Arbeitern, von denen allein 3000 auf Deutschland entfallen. Aus dem Berichte des Sekretärs ist hervorzuheben, daß die Agitation zur Ausbreitung des Verbandes mit großen Schwierigkeiten verknüpft gewesen ist. Der Kongreß beschloß, diese Agitation lebhaft zu betreiben. Auch dieses Mal ergab sich über wichtige Fragen, z. B. Abschaffung der Hausarbeit und der Arbeitsteilung, die Einführung eines Lohnminimums,[Pg 494] die Regelung des Lehrlingswesens, eine große Meinungsverschiedenheit, so daß man sich darauf beschränken mußte, die bezeichneten Forderungen nur grundsätzlich aufzustellen, ihre Ausführung aber den einzelnen Organisationen zu überlassen. Der Kongreß beschloß ferner, überall die Einführung der Arbeitslosen- und Wanderunterstützung zu empfehlen. Die Frage einer einheitlichen Kasse dieser Art wurde dem nächsten Kongreß zugewiesen. Das Gleiche geschah hinsichtlich der Verbindung mit den Organisationen verwandter Gewerbe und der Aufnahme von Frauen. Hinsichtlich der Stellung zu Streiks wurden die Beschlüsse des ersten Kongresses wiederholt, die Befugnis des Exekutivkomitees aber dahin erweitert, zu ihrer Unterstützung auch Sonderbeiträge für die beteiligten Verbände nach dem Maßstabe der Mitgliederzahl auszuschreiben. Ein erheblicher Gegensatz trat hervor hinsichtlich der Frage, ob man zum Zwecke der Agitation sich an die politischen Arbeiterparteien der betreffenden Länder wenden solle; schließlich einigte man sich dahin, an ihre Stelle „die organisierten Arbeitervereinigungen“ zu setzen. Zum offiziellen Organ wurde wieder „Le Gautier“ bestimmt; der Antrag, das Blatt auch in deutscher Sprache erscheinen zu lassen, wurde wegen den Kosten abgelehnt, zumal in Deutschland ein besonderes Blatt „Der Handschuhmacher“ erscheint. Die Flamländer hatten sogar auch für ihre Sprache gleiche Rechte gefordert. Die Zahl der Mitglieder des Exekutivausschusses wurde auf 11 erhöht. Die Mitgliederkarten für den Verband sollen nach gleichem Formular eingerichtet werden.

Vertreten waren Deutschland, Oesterreich, Ungarn, Belgien, Frankreich, Dänemark, Luxemburg, Italien und Spanien. Die Gesamtzahl der vertretenen Arbeiter wurde auf 5000 angegeben.

Der dritte Kongreß fand statt vom 10. bis 18. November 1895 in Paris. In dem Berichte des Sekretärs wie in den Verhandlungen wurde lebhaft darüber geklagt, daß die früher gefaßten Beschlüsse fast nirgends zur Ausführung gebracht seien. Insbesondere gilt dies hinsichtlich der Arbeitslosenunterstützung, so daß eine neue Resolution nachdrücklich deren Durchführung forderte. Auch persönliche Reibereien hatten sich geltend gemacht, so daß der deutsche Vertreter bei Beratung des Gehaltes des Sekretärs den bemerkenswerten Ausspruch that, es sei ein hartes Los für den Arbeiter, das Brot des Kapitalisten zu essen, aber noch trauriger sei seine Lage, wenn er das Brot der Arbeiterorganisationen essen müsse, denn die Arbeiter seien undankbarer als die Kapitalisten.

Die Verhandlungsgegenstände waren im wesentlichen die früheren. Die Zulassung verwandter Berufe zu der Organisation wurde mit 9 gegen 7 Stimmen abgelehnt, dabei aber ausgesprochen, daß dies nur vorläufig und solange gelten soll, bis sie ausreichend organisiert sind.

[Pg 495]

Nach langen Erörterungen über die Lehrlingsfrage blieb nichts übrig, als sie dem Ermessen der einzelnen Verbände zu überweisen. Bei der Beratung über die Organisation ergab sich, daß diese in den meisten Ländern noch nicht einmal im nationalen Rahmen vollzogen ist, vielmehr vielfach, insbesondere in Italien und in Oesterreich, getrennte Organisationen bestehen, die sogar in einem gewissen Gegensatze stehen. Es wurde beschlossen, mit allen Mitteln auf eine einheitliche nationale Organisation hinzuarbeiten.

Eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit ergab sich bei der Stellung zum Genossenschaftswesen. Gegen den Widerspruch der deutschen Vertreter wurde ein Beschluß angenommen, der die Produktivgenossenschaften empfiehlt.

Das Statut des internationalen Verbandes wurde einer Neugestaltung unterzogen, bei der auch einige wichtigere Bestimmungen geändert wurden. Hierzu gehörten insbesondere die Vorschriften über Streiks, indem die deutschen Vertreter Klage darüber führten, daß leistungsfähige Organisationen die Hülfe der Verbandskasse in Anspruch genommen hätten, ohne vorher ihre eigenen Mittel erschöpft zu haben. Es wurde deshalb eine Aenderung beschlossen, die dem vorbeugen soll. Daneben wurde noch nachdrücklicher, als früher, die Verpflichtung betont, in jeder Lage des Streiks auf friedliche Beilegung bedacht zu sein. Der Höchstbetrag der Streikunterstützung wurde auf 2 Frcs. festgesetzt. Hinsichtlich des Verbandsblattes „Le Gautier“ wurde beschlossen, dessen Bezug für die Mitglieder der Verbände von Frankreich und Belgien obligatorisch zu machen und die germanischen Verbände von dessen Kosten zu befreien.

Der vierte Kongreß ist vom 15. bis 21. Mai 1898 in Zürich abgehalten worden. Vertreten waren Deutschland, Belgien, Frankreich, Oesterreich, Italien, Luxemburg, Dänemark und Schweden durch 15 Abgeordnete, die 5600 Arbeiter vertraten. Infolge von Streitigkeiten zwischen dem Exekutivkomitee und dem Sekretär waren beide nicht erschienen. Da diese Streitigkeiten mit der Leitung des Verbandsblattes zusammenhingen, so wurde dieses nach Paris verlegt, während das Sekretariat in Brüssel belassen wurde. Nach langen Verhandlungen beschloß man, das bisherige Verfahren bei Streiks beizubehalten, doch soll zu jedem Angriffsstreik die Zustimmung des Sekretariates erforderlich sein. Die Franzosen forderten das Verbot der Frauenarbeit, doch wurde dies von seiten der Deutschen und Oesterreicher bekämpft und endlich beschlossen, nur gegen die geringere Bezahlung der Frauenarbeit zu agitieren. Internationale Kongresse sollen in Zukunft nur dann abgehalten werden, wenn es von der Mehrzahl der Landesorganisationen beantragt wird.

[Pg 496]

13. Hutmacher[207].

Auf Einladung der Franzosen ist der erste internationale Hutmacherkongreß vom 9. bis 11. August 1893 in Zürich abgehalten unter Beteiligung von 17 Abgeordneten aus Deutschland, Frankreich, Oesterreich, Italien, Ungarn und der Schweiz. England und Belgien hatten wegen besonderer Umstände keine Vertreter entsandt, aber ihre Sympathieen kundgegeben.

Die wichtigste Frage war die internationale Organisation, hinsichtlich deren man sich über die folgenden leitenden Gesichtspunkte einigte: In allen Ländern ist eine zentralisierte Gewerkschaftsbewegung einzuleiten. Die Sekretäre der Landesorganisationen treten mit dem internationalen Sekretär in feste Verbindung. Bei Streiks haben die verschiedenen Länder sich gegenseitig zu unterstützen. Es soll ein internationaler Verband geschaffen werden, dessen Hauptaufgabe in Erhöhung der Löhne und Verringerung der Arbeitszeit besteht; derselbe soll eine gemeinsame Streikkasse einrichten und auf einheitliche Regelung der Wanderunterstützung hinwirken.

Eine Erörterung der Lehrlingsfrage endete mit der Annahme einer Erklärung, daß eine Bekämpfung des Lehrlingsunwesens auf wirtschaftlichem Gebiete nicht möglich und deshalb der Anschluß an die politische Arbeiterbewegung zu empfehlen sei, um so die Vernichtung der kapitalistischen Produktionsweise zu beschleunigen.

Hinsichtlich der Reiseunterstützung wurde beschlossen, daß jedes Mitglied der beteiligten Verbände solche überall zu beanspruchen habe. Die mit der Leitung des internationalen Verbandes betraute Nation solle einen allgemeinen Gegenseitigkeitsvertrag ausarbeiten auf der Grundlage, daß die bisherigen Gegenseitigkeitsverträge durch eine feste Organisation mit einem einheitlichen Wanderbuche zu ersetzen sind. Den letzten Gegenstand der Verhandlungen bildete die Presse. Es soll in allen Ländern der Ausbildung der Fachpresse die größte Aufmerksamkeit zugewandt werden, die sich besonders die Pflege der Statistik angelegen sein lassen soll. Auf Gründung einer internationalen Hutmacherzeitung ist hinzuwirken; zunächst beschloß Italien, das französische Fachorgan einzuführen.

Hinsichtlich der Maschinenarbeit faßte man einen Beschluß, in dem ausgesprochen wird, daß sie eine große Zahl von Arbeitern arbeitslos mache und daß, um dem entgegenzuwirken, in allen Ländern gesetzlich die Arbeitszeit auf höchstens 8 Stunden beschränkt werden müsse, indem gleichzeitig erklärt[Pg 497] wird, daß die Arbeitslosigkeit erst aufhören werde, wenn die jetzige kapitalistische Produktion beseitigt sei.

Hinsichtlich der Akkordarbeit traten Meinungsverschiedenheiten hervor, indem insbesondere die Franzosen und Schweizer verlangten, daß den Ländern, die sich bei diesem System wohl fühlten, dasselbe belassen werden solle. Auch der deutsche Vertreter erklärte die Verkürzung der Arbeitszeit für wichtiger, als die Abschaffung der Akkordarbeit. Mit diesen Vorbehalten wurde aber eine Resolution angenommen, in der die Beseitigung und zugleich die Festsetzung eines Lohnminimums gefordert wird.

Ein noch wichtigerer Gegensatz bezog sich auf das Verhältnis zu den Arbeitgebern, insbesondere einer gemeinsamen Organisation. Von italienischer Seite wurde eine solche befürwortet, sofern die Arbeitgeber sich mit den Arbeitern solidarisch erklären und sich den in den gemeinsamen Versammlungen gefaßten Beschlüssen unterwerfen. Streitigkeiten sollen auf friedlichem Wege durch Schiedsgerichte erledigt, Arbeiter, die keiner Gewerkschaft angehören, nicht beschäftigt werden. Von den Franzosen wurde dagegen der Standpunkt vertreten, daß die Interessen zwischen Unternehmern und Arbeitern entgegengesetzt und deshalb eine gemeinsame Organisation zwecklos sei. Diese Auffassung erlangte die Mehrheit und wurde in einem entsprechenden Beschlusse zum Ausdrucke gebracht.

Von allen Seiten wurde darüber geklagt, daß Nordamerika den europäischen Hutmachern keine Reiseunterstützung gewähre. Es wurde deshalb beschlossen, die amerikanischen Verbände hierzu aufzufordern und, falls dies keinen Erfolg haben sollte, geeignete Maßregeln gegen die aus Amerika kommenden Hutmacher anzuwenden.

Nachdem die deutschen Vertreter erklärt hatten, daß die Hutmacher in Deutschland durch die Vereinsgesetze gehindert seien, sich formell an dem internationalen Verbande zu beteiligen, aber soweit als möglich dessen Ziele fördern würden, wurde Frankreich beauftragt, die vorläufige Leitung des Verbandes zu übernehmen und einen ausführlichen Organisationsentwurf für den nächsten Kongreß auszuarbeiten.

Dieser zweite internationale Kongreß wurde vom 27. bis 31. Juli 1896 in London abgehalten unter Beteiligung von 12 Vertretern, von denen 7 auf England, 2 auf Frankreich, 2 auf Deutschland und einer auf Oesterreich entfielen. Der von Frankreich aufgestellte Entwurf eines internationalen Verbandes wurde nach eingehenden Verhandlungen angenommen mit Ausnahme des vorgeschlagenen internationalen Streikfonds. Aus ihm sollten Streiks unter der Voraussetzung, daß sie von zwei Drittel der beteiligten Verbände gebilligt seien, in der Weise unterstützt werden, daß durch den Sekretär für alle beteiligten[Pg 498] Organisationen eine gleichmäßige Umlage ausgeschrieben und aus den so beschafften Mitteln ein Streikgeld im Höchstbetrage von 1 Frs. solange gezahlt würde, bis der Streik gewonnen oder für aussichtslos erklärt ist. Im gegenteiligen Falle soll der betreffende Verband aufgefordert werden, von dem beabsichtigten Streik Abstand zu nehmen, widrigenfalls er allein für die Folgen einzustehen hat. Dieser Teil des Entwurfes wurde verworfen und lediglich beschlossen, daß im Falle von Massenstreiks die Verbände aufgefordert werden sollen, Sammlungen zu veranstalten oder Sonderbeiträge auszuschreiben.

Aus dem im übrigen angenommenen Organisationsstatut sind folgende Bestimmungen hervorzuheben:

Zweck des Verbandes ist die Befestigung der internationalen Solidarität. Mittel zu dessen Erreichung sind: 1. Geldunterstützung an Genossen, die Arbeit suchen, 2. Unterstützung derjenigen Mitglieder, die für Verbesserung ihrer Verhältnisse kämpfen oder sich einer Lohnherabsetzung widersetzen. Der Internationale Bund besteht aus allen nationalen Verbänden, welche die Statuten anerkennen. Organe des Bundes sind 1. der internationale Kongreß, 2. das internationale Sekretariat, das sich zusammensetzt aus a) dem Leitungsausschuß, b) dem ständigen Sekretär. Der Kongreß wird durch den Sekretär berufen, wenn mindestens 3 Verbände es beantragen. Aufgabe des Kongresses ist vor allem der weitere Ausbau des Bundes und Fassung von Beschlüssen über Maßregeln gegen widerspenstige Verbände, sowie Beratung über die von den beteiligten Verbänden gestellten Anträge. Der Leitungsausschuß besteht aus 5 Mitgliedern. Er hat die Beschlüsse des Kongresses vorzubereiten und auszuführen, jährlich Berichte zu veröffentlichen und die finanziellen Verhältnisse sowie die Geschäftsführung des Sekretärs zu überwachen. Die Zusammenkünfte erfolgen regelmäßig einmal im Jahre. Der Sekretär wird durch die Zentralvorstände der beteiligten Verbände ernannt und ist ausführendes Organ des Leitungsausschusses, insbesondere hat er die schriftlichen Arbeiten zu besorgen und die Beiträge und Streikunterstützungen einzuziehen und wieder auszuzahlen. Alle dem Bunde angeschlossenen Verbände sind verpflichtet, Wanderunterstützung an alle arbeitsuchenden Mitglieder zu zahlen; diese müssen sich im Besitze eines von ihrem Heimatsverbande ausgestellten Legitimationsbuches befinden, aus dem zu ersehen ist, daß sie ihre Verpflichtungen als Mitglieder erfüllt und daß sie aus Mangel an Arbeit oder um die Pflichten der Solidarität zu erfüllen ihren Wohnort verlassen haben.

Die Leitung des Bundes wurde dem französischen Verbande übertragen. Die Wanderunterstützung ist bis jetzt in allen Ländern eingeführt mit Ausnahme von Amerika und England, wo nur Arbeitslose am Orte unterstützt werden. Den zureisenden Mitgliedern wird von dem einheimischen Verbände Arbeit vermittelt.[Pg 499] Arbeitseinstellungen werden in den Fachblättern bekannt gemacht. Bei großen Ausständen sind allgemeine Sammlungen mit Erfolg veranstaltet. Der nächste Kongreß soll in Anschluß an den nächsten allgemeinen Arbeiterkongreß stattfinden.

14. Töpfer[208].

In Anschluß an den IX. deutschen Töpferkongreß ist am 23. und 24. September 1894 in Görlitz eine internationale Konferenz der Töpfer abgehalten, auf der außer Deutschland Dänemark, Ungarn, Oberösterreich, Rumänien und die Schweiz vertreten waren. Man einigte sich über folgende Punkte:

1. Hinsichtlich der Fachorganisation soll völlige Freizügigkeit herrschen, so daß ein in ein fremdes Land reisender Töpfer, sofern er seine Verpflichtungen gegenüber seinem Heimatsverbande erfüllt hat, ohne weiteres Mitglied des fremden Verbandes wird und die betreffende Reiseunterstützung erhält.
2. Streiks sollen gegenseitig durch Sammlungen unterstützt werden, jedoch nur, wenn sie von der betreffenden Landesorganisation gebilligt sind; dabei wird gewarnt, Angriffs- und sogar Abwehrstreiks zu ungünstiger Zeit zu unternehmen.
3. Die Fachblätter werden gegenseitig ausgetauscht und den Vertrauensmännern zugesandt. Man beschloß im Prinzip die Schaffung eines einheitlichen Fachorganes in deutscher Sprache, verschob aber die Ausführung bis dahin, daß die Organisation in den einzelnen Ländern weiter fortgeschritten und insbesondere auf die ganze keramische Industrie ausgedehnt sein werde.
4. Es wurde eine aus den Obmännern der Landesorganisationen bestehende internationale Kommission mit den Sitze in Berlin gebildet, deren Obmann die bisher nicht vertretenen Länder für die Organisation gewinnen und den Austausch der Mitteilungen sowie die Einberufung weiterer internationaler Konferenzen besorgen soll. Später sind diese Beschlüsse etwas abgeändert, insbesondere soll in jedem Lande ein aus einem Vertrauensmann und 2 Kollegen bestehendes Landeskomitee gebildet werden.

Der Erfolg des unternommenen Schrittes ist bisher sehr gering gewesen. In einem im Oktober 1896 erstatteten Berichte teilt der Obmann der internationalen Kommission mit, daß es allerdings gelungen sei, Schweden zu der Organisation heranzuziehen, daß aber in den einzelnen Ländern das Interesse[Pg 500] für dieselbe sehr gering sei und deshalb vielfach Berichte nicht hätten erlangt werden können. Auch sind Streitigkeiten zwischen den einzelnen zur keramischen Industrie gehörigen Gruppen z. B. über die Frage entstanden, ob das Setzen der Oefen den Töpfern oder den Maurern zukomme. Eine Wiederholung der internationalen Konferenz hat bisher nicht stattgefunden.

15. Porzellanarbeiter[209].

Internationale Konferenzen oder Kongresse sind von den Porzellanarbeitern bisher noch nicht abgehalten, doch haben die Verbände Deutschlands und Oesterreichs in den letzten Jahren gegenseitig ihre Generalversammlungen durch Abgesandte besuchen lassen. Die internationalen Beziehungen beschränken sich, abgesehen hiervon, auf Gegenseitigkeitsverträge, die von dem deutschen Verbande einerseits mit der österreichisch-ungarischen „Union aller Glas-, keramischen und verwandten Arbeiter“ und andererseits dem dänischen Keraminsk Forbund abgeschlossen sind; der erstere Vertrag besteht seit 1. Januar 1898, der letztere seit 1. März 1898. Danach sind die beiderseitigen Mitglieder auf der Reise berechtigt, die ihnen nach den Bestimmungen ihres eigenen Verbandes zustehenden Unterstützungen auch an den Zahlstellen der verbündeten Organisationen zu erheben; zur Kontrolle dienen besondere Legitimationskarten. Vierteljährlich wird unter den Verbänden eine Abrechnung und gegenseitige Erstattung der verauslagten Beträge vorgenommen.

Die reisenden Mitglieder müssen die in dem fremden Verbande bezüglich der Arbeitsvermittelung bestehenden Bestimmungen beobachten. Ebenso sind sie verpflichtet, falls sie in dem anderen Lande Arbeit nehmen, sich dem dortigen Verbande anzuschließen, indem sie aus ihrem eigenen ausscheiden, doch darf von ihnen kein Eintrittsgeld gefordert werden. Karenzzeit und gezahlte Unterstützungen kommen gegenseitig in Anrechnung.

16. Glasarbeiter[210].

Die Glasarbeiter sind unter den ersten gewesen, die den Gedanken einer internationalen Organisation faßten. Nach einer Angabe[211] soll bereits im April 1884 ein internationaler Bund geschlossen sein, dem folgende Vereine angehörten: 1. die belgische Union verrière, 2. die englische trade union der Glasarbeiter, die das gesamte Personal der bestehenden 4 englischen Glasfabriken[Pg 501] umfaßt, 3. die französischen Glasarbeiter einiger Orte, nämlich die chambres syndicales françaises von Fresnes et Escoupont, von Saint-Just sur Loire und von Givers. Der Mitgliedsbeitrag betrug monatlich 1 Frcs. 50 Cent. Der Sitz befand sich in Pittsburg. Die einzelnen Vereine behielten ihre volle Selbständigkeit und übernahmen nur die Verpflichtung, sich in Streikfällen zu unterstützen.

Bei Gelegenheit der Pariser Ausstellung hat dann in Verbindung mit dem allgemeinen Arbeiterkongreß eine Zusammenkunft von Glasarbeitern stattgefunden, an der auch Deutschland beteiligt war, doch wird dieselbe nicht als eigentlicher Kongreß gezählt. Ein solcher ist vielmehr erst wieder vom 9. bis 12. Juni 1891 in London abgehalten unter Beteiligung von 19 Abgesandten, von denen 15 auf England, 2 auf Deutschland und je einer auf Frankreich und Dänemark entfielen. Der Vorsitzende erwähnte, daß der Bund 1886 gegründet sei, daß die Mitgliederzahl 1888 bei Uebernahme der Geschäfte durch den jetzigen Vorstand 906 betragen habe, jetzt aber auf 2030 gestiegen sei, daß sich aber bis dahin außer England, Schottland und Irland kein Land beteiligt habe. Man beschloß ein Statut der „internationalen Glasmacherunion“ auf der Basis der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit ohne Unterschied der politischen oder religiösen Ansicht oder der Nationalität. Die Geldunterstützungen sollen auch ferner in das Belieben der einzelnen Vereine gestellt bleiben, doch soll der Mindestbeitrag für jedes Mitglied jährlich 50 Pf. betragen. Der Vorstand wird gebildet durch 7 Personen des Vereins am Sitze der Union. Derselbe bestellt einen Sekretär zur Führung des Briefwechsels. Jedes Jahr soll ein internationaler Kongreß abgehalten werden, auf dem die Vereine für je 100 Mitglieder eine Stimme haben. Nur solche Vereine haben Stimmrecht, die ihre Beiträge bezahlt haben.

Der dritte Kongreß tagte vom 5. bis 8. Juli 1892 wieder in London.

Von den 25 Vertretern hatte England 19, Deutschland 3, Frankreich 2 und Dänemark einen gesandt. Die Deutschen vertraten angeblich 2100 Arbeiter[Pg 502] aus 39 Orten, hatten aber bisher keine Beiträge gezahlt; trotzdem wurde ihnen Stimmrecht zuerkannt. Die Mitgliederzahl war auf 3226 gestiegen. Man erklärte sich in einer Resolution für Abschaffung der Frauen-, Kinder-, Nacht- und Sonntagsarbeit, sowie für den Achtstundentag, dagegen wurde die von den deutschen Vertretern geforderte Erklärung gegen die Akkordarbeit abgelehnt. Im Anschluß an den Kongreß hielten die Engländer eine Zusammenkunft, in der sie die Verschmelzung aller Glasarbeiter zu einem einzigen nationalen Verbande beschlossen. Das Gleiche thaten die Franzosen am 15. Juli 1892 in Fourmiers. Auch die deutschen Glasarbeiter wählten im August 1892 ihren Vertrauensmann für den internationalen Bund in allgemeinen Glasarbeiterversammlungen.

Der vierte Kongreß fand statt vom 3. bis 6. Juli 1893 in London, unter Anwesenheit von 16 englischen und 4 französischen Vertretern. Die Deutschen hatten die Berufung nach Zürich erwartet und waren deshalb nicht erschienen. Die Gesamtmitgliederzahl des Bundes wurde auf 4500 angegeben. Den Hauptgegenstand der Verhandlungen bildeten die Arbeiterschutzfragen, wobei man einen Sommerurlaub von einem Monat forderte. Lebhaft wurde insbesondere von den Franzosen die Schaffung eines internationalen Streikfonds empfohlen; schließlich einigte man sich dahin, den Gegenstand zur weiteren Verhandlung für den nächsten Kongreß zu verstellen.

Im Anschlusse an den Züricher allgemeinen Arbeiterkongreß wurde am 8. und 9. August 1893 auch eine internationale Glasarbeiterkonferenz abgehalten, an der 2 englische, 3 deutsche und 3 österreichische Vertreter teilnahmen. Die Gegenstände der Beratung waren überwiegend dieselben, wie in London, doch forderte man außerdem obligatorische Einführung von kündbaren Lohntarifen und besondere Abrechnungsbücher für Löhne und Waren.

Auf dem vom 2. bis 5. Juli 1894 in Paris abgehaltenen fünften Kongresse war Frankreich durch 48, England durch 13, Dänemark durch 1, Deutschland und Spanien durch je 2 Abgeordnete vertreten. Es wurde beschlossen, daß die Organisationen der beteiligten Länder sich bei Streiks gegenseitig zu unterstützen haben. Dagegen wurde der Antrag, ein in 3 Sprachen erscheinendes internationales Fachblatt herauszugeben, mit Rücksicht auf die Kosten abgelehnt. Der Antrag, unter den nationalen Organisationen volle Freizügigkeit herzustellen, wurde dem nächsten Kongresse überwiesen. Es wurde beschlossen, die Kongresse künftig nur alle 2 Jahre abzuhalten.

Obgleich in Paris beschlossen war, den nächsten, sechsten, Kongreß in Charleroi (Belgien) abzuhalten, so wurde er doch mit Rücksicht auf den gleichzeitig tagenden allgemeinen Arbeiterkongreß nach London einberufen, wo er vom 27. Juli bis 3. August 1896 stattfand. Vertreten war England durch[Pg 503] 13, Holland und Dänemark durch je 1 und Deutschland durch 2 Abgeordnete. Die letzteren beantragten, an Stelle des internationalen Bundes, dem sie aus Rücksicht auf die deutschen Gesetze nicht beitreten dürften, einen bloßen Kartellvertrag zu setzen, doch wurde dieser Vorschlag von den übrigen Nationen, die eine feste Organisation für erforderlich erklärten, bekämpft und endlich beschlossen, den Deutschen die Beteiligung dadurch zu ermöglichen, daß sie auf dem Kongresse Stimmrecht haben sollten, ohne Beiträge zu entrichten.

Die Frage des gegenseitigen freien Beitrittes zu den nationalen Organisationen wurde eingehend behandelt, aber wieder dem folgenden Kongresse überwiesen. Dagegen beschloß man, daß an allen Orten für Herabsetzung der Arbeitszeit und Erhöhung der Löhne eingetreten und genaue Berichte über diese Verhältnisse an das internationale Sekretariat eingesendet werden sollten.

Der siebente internationale Kongreß ist vom 18. bis 21. September 1898 in London abgehalten unter Beteiligung von 26 Abgesandten, von denen 15 auf Deutschland, 7 auf England, 2 auf Oesterreich, 1 auf Belgien und 1 auf Dänemark entfielen. Durch dieselben wurden angeblich 30000 Arbeiter vertreten. Die Amerikaner haben sich jetzt vom Bunde zurückgezogen und hatten auf die Einladung zum Kongresse nicht einmal geantwortet.

Nach Berichten über die Lage in den einzelnen Ländern wurde beschlossen, das Sekretariat auch ferner in Castelford, wo es bisher stets gewesen war, zu belassen. Die Statuten wurden einer Umgestaltung unterzogen. Jedes beteiligte Land wählt einen Vertrauensmann, der zugleich korrespondierendes Mitglied des internationalen Sekretariates ist und über Streiks und sonstige wichtige Angelegenheiten regelmäßig Bericht zu erstatten, auch die Einsammlung der Gelder für die internationale Streikunterstützung und zur Bestreitung der internationalen Organisation zu besorgen hat. Das Sekretariat hat die einlaufenden Berichte in allen Fachblättern zu veröffentlichen. Mitglieder, die in andere Länder verziehen, werden von den dortigen Organisationen ohne Eintrittsgeld aufgenommen. Länder, die den Vertragspflichten zuwiderhandeln, insbesondere bei Streiks keine Unterstützungen aufbringen, können aus dem Bunde ausgeschlossen werden. Eine ausführliche Resolution forderte Abschaffung der Akkordarbeit und Einführung genau bezeichneter Minimallöhne, sowie Beseitigung des Zwischenmeistersystems, außerdem Beseitigung der Nacht- und Sonntagsarbeit und Herabsetzung der Arbeitszeit auf wöchentlich 48 Stunden. Der Kongreß erklärte sich gegen Schutzzölle und verurteilte die unüberlegten Streiks, forderte dagegen volle Koalitionsfreiheit.

[Pg 504]

17. Die Diamantarbeiter[213].

Die Diamantindustrie hat ihren Mittelpunkt in Amsterdam, ist aber auch in London, Genf, St. Cloud (Frankreich) und Hanau vertreten. Schon früh hatten die Diamantarbeiter versucht, eine internationale Organisation zu gründen und zu diesem Zwecke in Paris (1889), Charleville (1890), Genf, St. Cloud, Antwerpen (1894) Kongresse abgehalten. In Charleville hatte man grundsätzlich die Gründung eines internationalen Bundes beschlossen. Auch war unter dem Titel „Adamas“ ein internationales Fachblatt in 3 Sprachen (deutsch, französisch, flämisch) ins Leben gerufen. Aber nicht allein war das letztere schon 1892 wieder eingegangen, sondern die früheren Versuche einer Organisation mußten überhaupt als im wesentlichen gescheitert angesehen werden, insbesondere war die gleichfalls in Charleville beschlossene Gründung einer internationalen Streikkasse nicht zur Ausführung gelangt.

Nach einer anderen Quelle[212] dagegen ist ein solcher Bund bei Gelegenheit des im Oktober 1886 in London abgehaltenen ersten internationalen Glasarbeiterkongresses gegründet und zwar ausschließlich unter Beteiligung aus England, Schottland und Irland. Der Zweck des Bundes ist, die Glasarbeiter aller Länder für gemeinsame Verfolgung ihrer Interessen zu gewinnen, gegenseitige Auskunft zu erteilen und sich gegenseitig zu unterstützen, doch soll die Höhe der Unterstützung im Belieben der Vereine stehen. Ein internationaler Sekretär soll die Verbindung unter den Vereinen vermitteln.

Erst der am 25./26. August 1895 in Amsterdam abgehaltene Kongreß, auf welchem 39 Vertreter aus Holland, Belgien, Deutschland und der Schweiz erschienen waren, während Frankreich, England und Amerika sich auf Sympathieerklärungen beschränkt hatten, führte insofern zu einem greifbaren Ziele, als man die Einsetzung eines internationalen Sekretariates in Amsterdam beschloß. Der weitergehende Antrag, einen internationalen Verband zu gründen, gegen den sich der deutsche Vertreter aus dem Grunde erklärt hatte, weil die deutschen Gesetze im Wege standen, war zur Zeit abgelehnt, indem man der Hoffnung Ausdruck gab, daß das Sekretariat den ersten Schritt auf dem Wege zu einem festen Verbande bilden werde. Auch von der Wiederherstellung eines internationalen Fachblattes wurde vorläufig Abstand genommen, aber beschlossen, daß das Sekretariat in angemessenen Zwischenräumen gedruckte Mitteilungen versenden solle. Das gleiche Schicksal hatte die Anregung, einen einheitlichen Lohntarif aufzustellen, indem man sich überzeugen mußte, daß dazu die Verhältnisse in den einzelnen Ländern zu verschieden seien. Dagegen sprach man sich einstimmig gegen die Ausdehnung der Frauenarbeit und für eine Einschränkung der Lehrlingszahl aus. Die Agitation für den Achtstundentag wurde den einzelnen Vereinen überlassen.

Aber man hatte, entgegen einem darauf gerichteten Antrage, es unterlassen, sofort den internationalen Sekretär zu wählen, und so blieb auch dieses einzige positive Ergebnis des Kongresses insofern ohne praktische Folge, als die Wahl thatsächlich unterblieb. Dies war der Hauptgrund, weshalb sich die Einberufung eines neuen Kongresses als notwendig erwies, der dann vom 20.[Pg 505] bis 22. September 1897 in Antwerpen unter Beteiligung von 48 Vertretern aus Antwerpen, Genf, London, St. Cloud, Paris und Hanau abgehalten wurde[214]. Auch hier stand neben der Schaffung eines Sekretariates die Gründung eines festen Bundes in Frage. Nach längeren Verhandlungen wurde zunächst die Wahl des internationalen Sekretärs (Polack), der seinen Sitz in Amsterdam haben soll, vorgenommen und darauf die Gründung des internationalen Bundes grundsätzlich beschlossen, mit der Maßgabe, daß innerhalb 3 Monate alle beteiligten Länder Vorschläge zur Organisation an den Sekretär einzusenden haben, aus denen dieser für den nächsten Kongreß einen Entwurf zusammenstellen soll. Auch die Herausgabe eines internationalen Fachblattes in 4 Sprachen (holländisch, französisch, deutsch und englisch) wurde beschlossen, doch ist nur die erste Nummer (vom November 1897) erschienen. Der Hauptteil der übrigen Verhandlungen nahm die Lehrlingsfrage in Anspruch, in der man schließlich nach Einsetzung einer Kommission beschloß, daß bis zu dem nächsten Kongresse Lehrlinge überhaupt nicht mehr angenommen werden dürften. Hinsichtlich der Arbeitszeit beschloß man, daß diese zunächst überall da, wo sie bisher länger war, auf 10 Stunden eingeschränkt werden müsse; später soll dann der Achtstundentag angestrebt werden. Man empfahl schließlich mit großer Mehrheit die Akkordarbeit an Stelle der Lohnarbeit. Dagegen erklärte man sich einstimmig für Abschaffung der Hausindustrie. Die Frage wegen Einrichtung genossenschaftlicher Betriebe wurde dem nächsten Kongresse überwiesen. Dieser Kongreß sollte schon 1898 stattfinden, wurde aber später auf August 1899 verschoben und soll dann in Deutschland abgehalten werden.

18. Die Bildhauer[215].

Die erste internationale Bildhauerkonferenz hat am 5. Juni 1895 in Nürnberg stattgefunden unter Teilnahme von 11 Abgeordneten, von denen 4 auf Deutschland, je 2 auf Oesterreich und Ungarn, je einer auf Böhmen, Holland und die Schweiz entfielen. Außerdem waren aus Frankreich, Belgien, Italien, London, Spanien, Nordamerika und Dänemark ausführliche Berichte eingegangen. Nach Erstattung der mündlichen und schriftlichen Berichte, aus denen hervorzuheben ist, daß bereits zwischen Deutschland und Oesterreich-Ungarn ein Gegenseitigkeitsvertrag hinsichtlich der Reiseunterstützung[Pg 506] besteht, wurde eingehend über den Achtstundentag verhandelt und demnächst eine Resolution, welche dessen Erringung sowie die Abschaffung der Akkordarbeit den Bildhauern zur Pflicht macht und als Mittel dazu hauptsächlich die gewerkschaftliche Organisation empfiehlt, einstimmig angenommen. Außerdem beschloß man, möglichst überall Widerstandsfonds zu schaffen und Politik im Sinne der modernen Arbeiterbewegung zu betreiben. Unterstützungskassen sollen dagegen nur da begründet werden, wo es unbedingt notwendig ist um weitere Kreise heranzuziehen.

Hinsichtlich der internationalen Organisation standen sich der ungarische und der deutsche Antrag gegenüber. Der erstere forderte eine Organisation, nach der von jeder Werkstatt ein Vertreter zu wählen sei, daß ferner für jeden Ort ein Ortskomitee und für jedes Land ein Landeskomitee sowie endlich ein internationales Korrespondenzbureau zu schaffen sei. Von den übrigen Nationen wurde diese Organisation für zu umständlich erklärt und deshalb der deutsche Antrag angenommen, nach dem in jedem Lande ein Korrespondenzbureau und als gemeinsames Organ ein internationales Agitationskomitee bestehen soll. Als Sitz desselben wurde derjenige Ort bestimmt, wo die deutsche Bildhauerzeitung erscheine; zur Zeit ist dies Berlin. Hinsichtlich des Verfahrens bei Streiks wurde beschlossen: „Die anwesenden Delegierten erkennen die Notwendigkeit der gegenseitigen Unterstützung bei Streiks und Aussperrungen sowie des Fernhaltens des Zuzuges nach den in Betracht kommenden Ländern an, ferner hatten sie nachhaltigste materielle Unterstützung, so weit irgend möglich, für geboten, und zwar in den Fällen, wo die kämpfende Organisation des Landes erklärt, daß die eigenen Mittel zur Durchführung des Kampfes nicht ausreichen.“ Die laufenden Kosten der internationalen Agitation sollen von den einzelnen Ländern prozentual nach der Mitgliederzahl getragen werden. Dabei war man darüber einig, daß die so aufkommenden Gelder nur für die Agitation und nicht für Streiks zu verwenden seien. Der letzte fernere Punkt der Tagesordnung, nämlich die Frage der Presse, wurde wegen Kürze der Zeit dem Agitationskomitee zur Erledigung überwiesen.

Eine Fortsetzung hat diese Konferenz bisher nicht gefunden; ebenso wenig war es möglich, weitere Gegenseitigkeitsverträge abzuschließen, da die Vereine in der Schweiz, Holland und Dänemark zu wenig leistungsfähig sind. In der Schweiz liegt ein Haupthindernis in der herrschenden Hausindustrie. Auch zu Frankreich ein näheres Verhältnis herzustellen ist bis jetzt nicht gelungen.

[Pg 507]

19. Die Lithographen[216].

Vom 3.–5. August 1896 ist in London der erste internationale Kongreß der Lithographen, Steindrucker und verwandten Gewerbe abgehalten, auf dem 4500 Deutsche durch 3, 4420 Engländer durch 15, 3500 Franzosen durch 3, 2000 Oesterreicher, 300 Schweizer, 400 Italiener und 140 Portugiesen durch je einen, zusammen also 5460 Mitglieder durch 26 Abgeordnete vertreten waren.

Nach Erstattung der Berichte aus den einzelnen Ländern ging man sofort zu dem Hauptpunkte der Tagesordnung über, nämlich der Begründung eines internationalen Verbandes, der denn auch unter dem Namen: „Internationales Sekretariat der graphischen Arbeiter und Arbeiterinnen“ einstimmig beschlossen wurde, indem allerdings die deutschen Vertreter erklärten, daß sie sich mit Rücksicht auf die Gesetze ihrer Heimat nicht formell an der Abstimmung beteiligen könnten, daß sie aber für Durchführung der gefaßten Beschlüsse unter ihren Kollegen Sorge tragen würden. Die wichtigsten Bestimmungen des Statutes sind folgende:

Die organisierten Lithographen und Steindrucker aller Länder unterstützen sich bei allen vorkommenden Streitigkeiten mit den Unternehmern gegenseitig moralisch und materiell, das erstere insbesondere dadurch, daß kein Kollege in einem solchen Lande Arbeit nimmt, das Letztere durch Zuschüsse aus einem internationalen Fonds, zu dem jede Organisation für jedes Mitglied einen jährlichen Beitrag von 1 Shilling zu leisten hat und aus dem neben der Streikunterstützung auch die Kosten des internationalen Sekretariates zu bestreiten sind. Kein Verein darf aus dem Fonds unterstützt werden, der nicht dem Verbande angehört, die Unterstützung darf auch erst dann gegeben werden, wenn die eigenen Mittel des betreffenden Vereins bis auf 10% aufgebraucht sind. Alle Unterstützungen sind außerdem nur als Darlehen zu betrachten, die allerdings frei von Zinsen sind, aber nach fünf Jahren zurückgezahlt werden müssen. Kein Streik soll erklärt werden, ohne daß vorher alle Anstrengungen gemacht sind, eine gütliche Erledigung herbeizuführen. An der Spitze des Verbandes steht ein Exekutivkomitee aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten, einem Sekretär und drei anderen Mitgliedern. Dasselbe wird von den englischen Vereinen gewählt und hat seinen Sitz alljährlich abwechselnd in einer der englischen Städte. Der internationale Sekretär ist dem Exekutivkomitee[Pg 508] unterstellt, er hat eine sorgfältige Statistik zu führen und regelmäßige Berichte zu erstatten. Während der Sekretär seitens des Kongresses gewählt wird, erfolgt die Wahl des Kassierers, der am Sitze des Exekutivkomitees wohnen muß, durch dieses. Daneben bestehen noch drei Revisoren zur Prüfung der Rechnungen. In jedem Lande ist ein Vertrauensmann zu wählen, der jedes Vierteljahr einen Bericht an den Generalsekretär zu erstatten hat. Alle zwei Jahre findet ein internationaler Kongreß statt, der über Ort und Zeit des nächsten entscheidet. Ein Kongreßkomitee, welches aus sich einen Präsidenten, einen Kongreßsekretär und einen Kongreßkassierer ernennt, soll aus sechs Mitgliedern des Landes bestehen, in welchem der nächste Kongreß stattfindet.

Die übrigen Punkte der Tagesordnung wurden aus Mangel an Zeit sehr kurz erledigt. Hinsichtlich der Reiseunterstützung teilte der deutsche Vertreter mit, daß zwischen Deutschland, Oesterreich und der Schweiz bereits ein Gegenseitigkeitsvertrag bestehe. Es wurde dann eine Resolution angenommen, daß die organisierten Lithographen, Steindrucker, Stein- und Zinkschleifer u. s. w. aller Länder die Kollegen anderer Länder, wenn sie Mitglieder des Vereins in ihrem Lande waren und ihre Pflichten gegenüber der Organisation erfüllt haben, bis zum Tage ihrer Abreise unterstützen, wobei die Höhe der Unterstützung sich nach den Sätzen der unterstützenden Organisation richtet. Es wurde beschlossen, daß es Pflicht jedes Arbeiters sei, der Organisation seines Faches beizutreten und daß Alles geschehen müsse, um den Achtstundentag zu erreichen. Die Herausgabe eines gemeinsamen Fachblattes wurde erörtert, aber nicht erledigt.

Der zweite internationale Kongreß ist vom 11.–14. August 1898 in Bern abgehalten unter Teilnahme von 6 englischen, 5 französischen, 3 deutschen, 1 italienischen und 2 schweizerischen Vertretern. Dänemark und Nordamerika hatten Zustimmungserklärungen gesandt. Die Stadt und Kantonregierung von Bern hatten Vertreter geschickt, ebenso das internationale Buchdruckersekretariat.

Der Hauptgegenstand der Verhandlungen war wieder die Gründung eines internationalen Sekretariates der graphischen Arbeiter. Die Deutschen und Schweizer wollten dessen Thätigkeit auf Untersuchungen über die wirtschaftliche Lage in den einzelnen Ländern und regelmäßige Berichterstattung hierüber beschränken, von Schaffung eines internationalen Widerstandsfonds dagegen einstweilen absehen; die übrigen Länder dagegen legten gerade auf dessen Einrichtung Wert. Der schließlich gefaßte Beschluß ging dahin: Es soll ein internationales Sekretariat gebildet werden, dessen Sitz jedesmal durch den internationalen Kongreß bestimmt wird. Für die nächsten zwei Jahre ist dasselbe in England. Durch Erhebung eines jährlichen Beitrages von 40 Pf. für[Pg 509] jedes Mitglied soll ein Fonds geschaffen werden, um dem internationalen Sekretariat seine Arbeiten zu ermöglichen; der Rest ist zur Unterstützung von Streiks zu verwenden, doch kann vor dem nächsten internationalen Kongresse, der 1900 in Paris tagen soll, von keinem Lande eine Streikunterstützung verlangt werden.

Die Durchführung der Reiseunterstützung findet darin Schwierigkeiten, daß die Berechnung in einigen Ländern nach Tagegeldern, in anderen nach Kilometern stattfindet. Man beschloß, daß vorläufig die Unterstützung an reisende Ausländer nach dem Systeme des unterstützenden Landes geschehen soll, doch wurde der internationale Sekretär beauftragt, bis zum nächsten Kongresse ein gleichmäßiges System für alle Länder auszuarbeiten. Ein Antrag, die Gelder, die ein Land mehr gezahlt habe als das andere, an ersteres zurück zu erstatten, wurde mit 58 gegen 56 Stimmen abgelehnt.

Aus den übrigen Verhandlungen ist hervorzuheben, daß man darin einig war, Ausstände thunlichst zu vermeiden, aber die Abkürzung der Arbeitszeit und die Errichtung von Fachschulen, sowie von genossenschaftlichen Betrieben zu unterstützen. Auch soll ein Auskunftsbureau für Lohn- und Arbeitsverhältnisse eingerichtet werden.

20. Die Sattler und Tapezierer[217].

Die internationalen Beziehungen der in der Ueberschrift genannten Berufe beschränken sich bisher darauf, daß ein 1893 zwischen Deutschland, Oesterreich und der Schweiz getroffenes Abkommen über gegenseitige Reiseunterstützung 1897 auch auf die skandinavischen Länder ausgedehnt ist. Nach denselben erhält, nachdem die früheren internationalen Reisekarten, die zum Bezuge von 60 Pf. berechtigten, mit dem 1. Januar 1898 außer Kraft getreten sind, jedes Mitglied eines verbündeten Vereins beim Betreten eines anderen Landes ein Mitgliedsbuch und damit alle Rechte eines Mitgliedes des einheimischen Vereins. Ueber die internationale Unterstützung von Streiks besteht kein bindendes Abkommen; ein solches hat sich bisher umso weniger als nötig erwiesen, als die Vereine bei Streiks sehr vorsichtig sind und z. B. der deutsche Vereine dazu die Zustimmung von 4/5 der Mitglieder verlangt. Im Notfalle hat sich freiwillige Hülfe als ausreichend erwiesen.

Für das Vertragsgebiet bestehen zwei Fachzeitungen, eine deutsche und eine dänische, von denen die erstere zugleich für die österreichischen Vereine obligatorisch eingeführt ist und deshalb auch Artikel in tschechischer Sprache bringt.[Pg 510] Ein internationaler Kongreß hat bis jetzt nicht stattgefunden und ist auch noch nicht in Aussicht genommen, da mit Ausnahme von gegenseitigen Besuchen, die von den betreffenden Vorsitzenden bei Gelegenheit der Generalversammlungen abgestattet sind, der briefliche Verkehr genügt, um persönliche Fühlung zu gewinnen. Versuche, auch mit Frankreich und England in Beziehung zu treten, haben keinen Erfolg gehabt, wobei in Frankreich hauptsächlich die große Zersplitterung der dortigen Organisationen hindernd im Wege steht.

21. Schuhmacher[218].

Die Anregung zu einer internationalen Organisation der Schuhmacher ist von dem Zentralkomitee des schweizerischen Schuhmacherverbandes ausgegangen, der den am 6. und 7. August 1893 in Zürich abgehaltenen ersten internationalen Schuhmacherkongreß einberief. Auf demselben war England, Dänemark, Oesterreich, Ungarn und Frankreich durch je einen, Deutschland durch 5 und die Schweiz durch 16 Abgeordnete vertreten.

Der wichtigste Punkt der Beratungen war die Begründung eines internationalen Sekretariates, das schließlich auch gegen geringen Widerspruch beschlossen wurde. Die Aufgabe desselben soll die Herstellung regelmäßiger Beziehungen zwischen den verschiedenen Verbänden, sowie die Ordnung des Streikwesens sein. Als Sitz des Sekretariates wurde Zürich bestimmt. Die Kosten sollen von den beteiligten Verbänden nach Verhältnis ihrer Mitgliederzahl getragen werden.

Hinsichtlich des Reiseunterstützungswesens wurde die Zentralisierung unter Anschluß an die Holzarbeiter und die Metallarbeiter in der Weise angenommen, daß jeder Verband Coupons ausgiebt, die am Schlusse jeden Vierteljahres unter Vergütung des Fehlbetrages ausgetauscht werden.

Die Verhandlung über die Streikfrage, bei der die Franzosen ihr Steckenpferd des internationalen Streiks ritten, wurde schließlich dem Sekretariate zur weiteren Beratung überwiesen.

Arbeitsnachweis und Herbergswesen wurden zusammen behandelt; es wurde betont, daß gerade deshalb das Herbergswesen in der Hand der Gewerkschaften zentralisiert werden müsse, weil dadurch die Möglichkeit gewonnen werde, die Arbeiter für politische und gewerkschaftliche Bestrebungen zu gewinnen.

Die Fragen der Fachblätter, des Normalarbeitstages, der Stückarbeit, des Zwischenmeistersystems und der Heimarbeit, der Frauenarbeit[Pg 511] und des Arbeiterschutzes wurden wegen Kürze der Zeit nur kurz beraten, ohne Beschlüsse zu fassen.

Das internationale Sekretariat hat für die Zeit vom Dezember 1893 bis Mai 1897 einen Bericht erstattet, aus dem folgendes zu erwähnen ist:

Die Leitung des Sekretariates wurde einem aus sieben Personen bestehenden Ausschusse übertragen, der einen Organisationsplan entwarf und an die beteiligten Verbände versandte, aber mit so geringem Erfolge, daß der Bericht erklärt, er sei verhallt wie ein Ruf in der Wüste. Auch über die Nachlässigkeit der Verbandsvorstände bei der Auskunftserteilung wird bittere Klage geführt: nur mit Ungarn, Belgien und der Schweiz, allenfalls auch noch mit Deutschland, Oesterreich und England sei ein geordneter Verkehr hergestellt, dagegen seien von Amerika, Frankreich, Holland und Serbien nur vereinzelte, von Italien, Australien, Böhmen, Portugal, Bulgarien und Rumänien gar keine Antworten zu erlangen gewesen. Danach waren an dem Sekretariate neun Nationen beteiligt, nämlich Deutschland, Oesterreich, Ungarn, England, Schweiz, Schweden, Norwegen, Dänemark und Belgien. Die Einnahmen haben 1894 302 Frs., 1895 191 Frs. und 1896 162 Frs. betragen.

Am 13. und 14. Juni 1897 hat in Brüssel der zweite internationale Kongreß stattgefunden, auf dem Deutschland, Oesterreich, Ungarn, Böhmen, Schweiz und Belgien durch 13 Abgeordnete vertreten waren. Schweden, Norwegen, Dänemark und Holland hatten erklärt, sich den Beschlüssen des Kongresses fügen zu wollen; im letzten Augenblicke hatte sich auch noch eine Anknüpfung mit Italien vollzogen. Dagegen hatte England und Amerika die Beschickung abgelehnt; von Frankreich war keinerlei Nachricht zu erlangen gewesen.

Die meiste Zeit nahmen auch dieses Mal die Berichte aus den einzelnen Ländern in Anspruch, wobei allseitig betont wurde, daß man in der Einleitung von Streiks vorsichtig sein und in allen Fällen zunächst auf Beschreitung des friedlichen Weges Bedacht nehmen möge. Die Folge des von dem internationalen Sekretariate erzielten geringen Erfolges war, daß der bisherige äußerst rührige Sekretär Mertens in Zürich, dessen Anstrengungen dasjenige, was überhaupt geschehen war, in erster Linie zu danken ist, dafür eintrat, das Sekretariat entweder ganz aufzuheben oder wenigstens nach einem anderen Lande zu verlegen. Nachdem aber die übrigen Länder sich entschieden geweigert hatten, wurde dennoch beschlossen, den Sitz in Zürich zu belassen, auch den beteiligten Verbänden die eifrige Unterstützung bei ausbrechenden Streiks dringend an's Herz zu legen. In Verbindung hiermit erklärte der[Pg 512] Kongreß, daß die Gründung einer internationalen Widerstandskasse freilich dringend erwünscht sei, daß dieselbe aber zur Zeit sich nicht durchführen lasse und der Zukunft vorbehalten werden müsse. Zu der Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung faßte man eine auf die Frauen-, Kinder- und Nachtarbeit, sowie die Einführung eines Maximalarbeitstages, die Hausindustrie und die Gewerbeinspektion bezügliche Resolution und beschloß endlich den gegenseitigen Austausch von Fachzeitungen.

Man war darüber einig, daß die Vorbedingung der internationalen Organisation in der Schaffung nationaler Zentralverbände zu sehen sei, und da die Generalversammlung der deutschen Schuhmacher im Jahre 1897 den Anschluß an die Gewerkschaftskommission abgelehnt hat, so ist für Deutschland zunächst eine Beteiligung an der internationalen Verbindung nicht wahrscheinlich.

22. Die Schneider[219].

Die erste internationale Schneiderkonferenz ist vom 8. bis 11. August 1893 in Zürich in Anschluß an den dortigen internationalen Arbeiterkongreß abgehalten. Vertreten waren England durch 6, Deutschland durch 4, Oesterreich-Ungarn durch 5, Belgien durch einen und die Schweiz durch 4 Abgeordnete. Nach ausführlichen Berichten aus den einzelnen Ländern verhandelte man über die Hausindustrie, das Schwitzsystem, die Akkordarbeit und den Achtstundentag, wobei die Oesterreicher erklärten, daß sie von der Akkordarbeit zum Tagelohnsystem zurückgekehrt seien, und daß sie den Achtstundentag für verfrüht hielten. Die Schweizer forderten Zentralwerkstätten auf genossenschaftlicher Grundlage. Die Mehrheit nahm jedoch eine Resolution an, die sich für Einrichtung von Betriebswerkstätten auf Kosten der Arbeitgeber, Einführung des Stundenlohnes, und zwar eines Minimallohnes bei gleicher Vergütung für gleiche Arbeit ohne Unterschied des Geschlechtes, für Beschränkung des Schwitzsystems und Ausdehnung der Fabrikinspektion auf die Hausindustrie ausspricht und als Mittel zur Durchführung die gewerkschaftliche Organisation und unbeschränktes Koalitionsrecht fordert.

Hinsichtlich der Organisation wurde beschlossen, deren Form jedem Lande selbst zu überlassen, aber die Anstellung eines Korrespondenten für auswärtige Angelegenheiten zu fordern, der sich bei ausbrechenden Streiks sofort mit den Korrespondenten der übrigen Länder in Verbindung zu setzen hat. Der Antrag der Schneider in Antwerpen, ein internationales Sekretariat[Pg 513] zu errichten mit einem Beitrage der beteiligten Vereine von 25 Cent. vierteljährlich für jedes Mitglied wurde zur Beratung für die nächste internationale Konferenz zurückgestellt, auch die Anlegung eines Adressenverzeichnisses aller Berufsorganisationen und Arbeitsnachweise wegen des häufigen Wechsels als unpraktisch abgelehnt. Dagegen soll mindestens halbjährlich von jedem Lande ein kurzer Situationsbericht an die „Fachzeitung für Schneider“ in Hamburg eingesandt werden. Endlich wurde beschlossen, es solle auf den Generalversammlungen der Kollegen in den einzelnen Ländern dafür gewirkt werden, daß die Mitglieder der verschiedenen Länder hinsichtlich der Reiseunterstützung gleichgestellt werden, und außerdem soll empfohlen werden, die Kongresse der einzelnen Länder durch Abgesandte der übrigen Organisationen zu beschicken.

Entsprechend dem in Zürich gefaßten Beschlusse, die nächste Konferenz in Anschluß an den nächsten internationalen Kongreß abzuhalten, tagte die zweite internationale Schneiderkonferenz in London am 3. und 4. August 1896 unter Beteiligung von 17 englischen, 2 amerikanischen, 3 französischen, 3 deutschen, 2 schweizerischen und einem belgischen Abgeordneten. Hinsichtlich der Betriebswerkstätten, der Hausindustrie, des Schwitzsystems und des Maximalarbeitstages faßte man ähnliche Beschlüsse, wie in Zürich, die man jedoch auf die Schutzvorschriften für jugendliche Personen, weibliche Gewerbeinspektoren und Hygiene der Arbeitsräume ausdehnte. Außerdem empfahl die Konferenz die Zentralisierung des Gewerkschaftswesens und verlangte, daß jeder Arbeiter der Gewerkschaft seines Berufes angehören solle. Der von den schweizerischen Vertretern empfohlene, von anderen Seiten jedoch lebhaft bekämpfte internationale Generalstreik wurde mit 12 gegen 11 Stimmen abgelehnt. Dagegen wurde in betreff des internationalen Sekretariates folgende Resolution angenommen:

„1. Zwecks Erhaltung und Stärkung der internationalen Beziehungen aller Arbeiter der Kleiderindustrie wird ein internationales Sekretariat errichtet.
2. Der Sitz des internationalen Sekretariates ist in Deutschland und wird dasselbe durch die dort bestehende Organisation gewählt. Das Komitee wählt einen Generalsekretär, welcher gleichzeitig den Posten eines Vertrauensmannes bekleidet.
3. Jedes Land wählt einen Vertrauensmann. Die Vertrauensmänner der verschiedenen Länder sind verpflichtet, alle sechs Monate einen Situationsbericht an das internationale Sekretariat einzusenden.
4. Bei außergewöhnlichen Vorkommnissen sind die Vertrauensmänner verpflichtet, dem Generalsekretär davon Mitteilung zu machen.
5.[Pg 514] Das Komitee ist verpflichtet, jedes Jahr einen Bericht über den Stand der Bewegung in den verschiedenen Ländern herauszugeben.
6. Zeitversäumnisse, verursacht durch die Verwaltung des internationalen Sekretariates, werden aus der internationalen Kasse vergütet. Das Komitee hat die Höhe derselben festzusetzen.
7. Die internationale Kasse wird gebildet durch Beiträge von 10 Cents pro Mitglied und Jahr für alle angeschlossenen Länder. Diese Beiträge dienen zur Deckung der Unkosten für Portoauslagen und Drucksachen des Generalsekretärs, sowie zur Deckung der Kongreßunkosten.
8. Alle drei Jahre findet ein Kongreß statt. Auf Antrag von 2/3 der Vertrauensmänner kann ein außerordentlicher Kongreß zusammenberufen werden.
9. Die Vertrauensmänner müssen auf dem Kongreß zugegen sein. Die Reisekosten werden aus dem internationalen Fonds bezahlt. Außerdem ist es notwendig, daß jedes Land so zahlreich als irgend möglich auf dem Kongresse vertreten ist.
10. Tritt ein Vertrauensmann außer Funktion, so ist das betreffende Land verpflichtet, sobald als möglich einen anderen zu ernennen und ist dem internationalen Sekretariate sofort davon Mitteilung zu machen.“

Obgleich die Engländer erklärt hatten, daß sie in Ermangelung von Instruktionen nicht für den Antrag stimmen könnten, so versprachen sie doch, daß die englischen Kollegen sich dem Beschlusse fügen würden. Die von einer Seite angeregte Bildung eines Widerstandsfonds wurde als verfrüht fallen gelassen. Für den Posten des internationalen Sekretärs wurde Frau Klara Zetkin in Stuttgart gewählt.

Nachdem noch zwei Resolutionen angenommen waren, die sich gegen die kapitalistische Produktionsweise richteten und die Forderung gegenseitiger Unterstützung bei Streiks aussprachen, wurde beschlossen, die nächste Konferenz wieder in Anschluß an den internationalen Arbeiterkongreß abzuhalten.

23. Handlungsreisende.

Vom 19.–21. Juli 1897 hat in Brüssel ein von belgischer Seite einberufener internationaler Kongreß der Handlungsreisenden getagt, der von Abgesandten aus Belgien, Holland, Luxemburg, Frankreich und Böhmen besucht war. Man hatte vorher durch Fragebogen eine Erhebung über die Lage der[Pg 515] Handlungsreisenden veranstaltet, die sehr traurige Verhältnisse ergeben hatte; so hatten 5% unter 1000 Frs., 13% 1000 Frs., 22% zwischen 1000 und 2000 Frs. Einnahme, 17% waren am Verluste beteiligt, nicht aber am Gewinn, 56% hatten keinerlei schriftliche Abmachung mit dem Prinzipal. Aus den gefaßten Beschlüssen ist hervorzuheben, daß man allgemein die Organisation in Berufsvereinen als das einzige Mittel zur Besserung empfahl, daneben forderte man bessere Veranstaltungen für Handelsunterricht, die Abschaffung der Verlustbeteiligung, kaufmännische Schiedsgerichte, Verstaatlichung der Eisenbahnen, Verbilligung der Tarife, Entschädigungspflicht bei Nichteinhaltung der Lieferungsfristen. Auch empfahl man Einrichtung von Unterstützungskassen, die bereits in Deutschland, England und Frankreich bestehen.

Fußnoten:

[179] Ueber die weiteren Schicksale in Amerika vergl. oben S. 162 ff.

[180] S. 67 ff.

[181] Vgl. den Bericht in Nr. 46 des „Sozialdemokrat“ vom 10. November 1883.

[182] Vgl. den Bericht in Nr. 36–38 des „Sozialdemokrat“ vom 1., 8. u. 15. Sept. 1886.

[183] Vgl. den Bericht in Nr. 47 des „Sozialdemokrat“ vom 17. November 1888.

[184] Ueber den Kongreß ist ein offizieller Bericht veröffentlicht, der in deutscher Uebersetzung im Verlage von Woerlein & Co. in Nürnberg erschienen ist.

[185] Einen offiziellen Kongreßbericht habe ich nicht ermitteln können; das Material ist der „Berliner Volkstribüne“, Nr. 19 und 20 vom 20. und 27. Juli 1889, entnommen.

[186] Vergl. das im Verlage des „Vorwärts“ erschienene offizielle Protokoll.

[187] Vgl. d. i. Verlage d. Schweizerischen „Grütlivereins“ erschienene offizielle Protokoll.

[188] Das offizielle Protokoll ist im Verlage des „Vorwärts“ erschienen.

[189] Vertreten waren nur die sozialdemokratische Partei und die „Generalkommission der Gewerkschaften“. Die Hirsch-Duncker'schen Gewerkvereine hatten, da an sie eine besondere Einladung nicht ergangen war, beschlossen, sich nicht zu beteiligen, dagegen ist der Verbandsanwalt ausweislich eines im „Gewerkverein“ Nr. 32 vom 7. August 1896 veröffentlichten Briefes mit dem englischen Gewerkschaftsführer Thomas Burt zu dem Zwecke in Verbindung getreten, künftig besondere internationale Kongresse von ausschließlich gewerkschaftlichem Karakter zu veranstalten. Doch ist der bezügliche, vom parlamentarischen Komitee gestellte Antrag auf dem Trade-Unions-Kongresse abgelehnt. (Vgl. oben S. 35.)

[190] Vgl. oben S. 31.

[191] Vgl. oben S. 33.

[192] Eine ausführlichere Darstellung, der das folgende entnommen ist, habe ich in Schmoller's Jahrb. XXII, S. 20 ff. gegeben; dort sind auch die gestellten Anträge und gefaßten Beschlüsse im Wortlaut mitgeteilt. Das benutzte Material verdanke ich dem internationalen Buchdruckersekretariate in Bern.

[193] Ueber den II. und III. Kongreß sind Protokolle herausgegeben, dagegen sind die Verhandlungen des I. Kongresses nur in einer besonderen Anlage der Zeitschrift „La Typographie française“, dem Organ der Fédération française des travailleurs du livre, veröffentlicht, von der mir durch die Güte des zeitigen internationalen Buchdruckersekretärs Siebenmann das einzige dort vorhandene Exemplar zur Verfügung gestellt wurde.

[194] Die Herstellung der Berichte für 1897 und 1898 ist nach einer Mitteilung des Sekretärs Siebenmann wegen dessen langdauernder Krankheit bisher verzögert und wird erst im November 1899 erfolgen.

[195] Ueber sämtliche Kongresse sind gedruckte Berichte veröffentlicht, die mir von Herrn Max Schippel, dem Vorstande des sozialdemokrat. Parteiarchivs, zur Verfügung gestellt sind.

[196] Die Zahl der vertretenen deutschen Bergarbeiter wird auf 330000 angegeben, doch ist in Nr. 26 des „Gewerkvereins“ am 25. Juni 1897 mit Recht darauf hingewiesen, daß die Mitglieder des „alten Verbandes“ mit kaum 8000 Mitgliedern, die allein in London waren, durchaus nicht befugt sind, die Vertretung sämtlicher deutschen Bergarbeiter für sich in Anspruch zu nehmen.

[197] Ueber alle 3 Kongresse liegen Protokolle vor. Das erste ist gedruckt in der Imprimerie Excelsior in Amsterdam, die beiden späteren in Mailand Tipographica Adolfo Koschitz & Co.

[198] Ueber alle Kongresse liegen gedruckte Berichte vor. Dieselben sind mir von dem Redakteur des „Textilarbeiters“, Herrn Wagner in Burgstädt zur Verfügung gestellt.

[199] Ueber beide Kongresse sind Protokolle veröffentlicht. Diese, sowie das übrige Material, insbesondere die Berichte des internationalen Informationsbureaus sind mir durch Vermittelung des Vorsitzenden des deutschen Metallarbeiterverbandes, Herrn Schlicke in Stuttgart, zugänglich gemacht.

[200] Das hier verwertete Material verdanke ich der Güte des internationalen Sekretärs Herrn Kloß in Stuttgart, der auch privatim sich mir gegenüber dahin ausgesprochen hat, daß die internationale Verbindung noch verfrüht sei, da die nationale Organisation sich noch in zu geringer Entwickelung befinde. Protokolle über die Konferenzen in Brüssel, Zürich und London bestehen nicht, sodaß die Wiedergabe der Verhandlungen nur nach Notizen erfolgen mußte.

[201] Die folgende Darstellung stützt sich in erster Linie auf einen Aufsatz in Nr. 17 des Musée social vom 30. September 1897 und Mitteilungen des Vorstandes des Verbandes der Hafenarbeiter Deutschlands (Kellermann-Hamburg).

[202] Die Protokolle der vier Kongresse sind mir von dem Vorsitzenden des Unterstützungsvereins Deutscher Tabakarbeiter, Herrn Junge in Bremen, zur Verfügung gestellt.

[203] Ueber die Konferenz ist im Verlage von H. Beiswenger in Berlin ein Protokoll erschienen. Die übrigen Angaben verdanke ich dem internationalen Sekretär Gustav Kuske.

[204] Das Material ist mir von dem Redakteur der „Brauerzeitung“, Herrn R. Wiehle in Hannover, zur Verfügung gestellt.

[205] Das Material ist mir von dem Vorsitzenden des Zentralvereins der Deutschen Former, Herrn Th. Schwartz in Lübeck, zur Verfügung gestellt.

[206] Die Kongreßprotokolle sind mir von dem Vorsitzenden des Zentralvereins der Handschuhmacher, Herrn O. Wasner in Stuttgart, zur Verfügung gestellt.

[207] Das Material ist mir von dem Redakteur des „Correspondenten für Deutschlands Hutmacher“, Herrn A. Metzschke in Altenburg, zur Verfügung gestellt.

[208] Das Material ist mir von dem Redakteur des „Töpfers“, Herrn F. Kaulisch in Berlin, zur Verfügung gestellt.

[209] Die nachfolgenden Angaben verdanke ich dem Vorsitzenden des Verbandes der Porzellanarbeiter, Herrn Georg Wallmann, in Charlottenburg.

[210] Das Material verdanke ich überwiegend dem Herausgeber des „Fachgenossen“, Herrn G. Horn in Löbtau-Dresden.

[211] Vgl. das oben (S. 135) angeführte Werk von Vandervelde, Bd. I, S. 127.

[212] Vgl. den Bericht über den unten erwähnten Kongreß von 1891 in dem „Fachgenossen“, Jahrg. VIII, Nr. 34 ff.

[213] Das benutzte Material verdanke ich Herrn Otto Reinhardt in Hanau.

[214] Der Kongreß wird in dem offiziellen Protokolle als fünfter bezeichnet; als die vier ersten werden diejenigen von Paris (1889), Charleville (1890), Antwerpen (1894) und Amsterdam (1895) betrachtet.

[215] Vgl. Protokoll der ersten internationalen Bildhauerkonferenz, Berlin, Max Prehn. Die übrigen Angaben beruhen auf brieflichen Mitteilungen des Vorstandes des Zentralvereins der Bildhauer Deutschlands in Berlin bezw. seines Vorsitzenden Dupont.

[216] Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des ersten internationalen Kongreß der Lithographen, Steindrucker und Berufsgenossen. Berlin, O. Sillier. Dasselbe ist in einem unglaublichen Deutsch abgefaßt und vielfach geradezu unverständlich.

[217] Die nachfolgenden Angaben verdanke ich dem Vorsitzenden des deutschen Verbandes der Sattler, Tapezierer und verwandter Berufsgenossen, Herrn Joh. Sassenbach in Berlin.

[218] Ueber beide Kongresse bestehen Protokolle, die aber nicht im Buchhandel zu haben, mir aber von dem internationalen Sekretär Mertens in Zürich zur Verfügung gestellt sind.

[219] Ueber die beiden Konferenzen sind Protokolle herausgegeben, die im Verlage von H. Stühmer in Hamburg erschienen sind.

[Pg 516]

Zweiter Teil.
Arbeitgeberverbände[220].

I. Einleitung.

Das gleiche Interesse, welches die Arbeiter bestimmte, ihre gemeinsamen Interessen durch gemeinsame Kraft zu schützen, mußte auch die Unternehmer auf denselben Weg treiben. So haben wir schon aus der zweiten Hälfte des Mittelalters Berichte über Verabredungen der Zunftmeister, deren Zweck dahin ging, die Preise ihrer Erzeugnisse zu erhöhen oder die Löhne der Gesellen niedrig zu halten. Die Neuzeit mit ihren unendlich viel verwickelteren Beziehungen hat naturgemäß die innere Notwendigkeit zu solchem Zusammenschlusse außerordentlich gesteigert, und so finden wir denn insbesondere seit Beginn dieses Jahrhunderts ein üppiges Emporschießen der „Vereine zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen“, der Vereine mit dem langen Namen wie Steinmann-Bucher („Die Nährstände und ihre zukünftige Stellung im Staate“) sie getauft hat.

Aber man ist nicht bei losen Vereinigungen stehen geblieben, sondern die Mannigfaltigkeit der Arten, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben, ergiebt sich schon aus der Verschiedenartigkeit der Bezeichnungen, von denen nur[Pg 517] die wichtigsten: Gewerkvereine (trade unions of the employers), Kartelle, Syndikate, Ringe, trusts, corners, pools, Schwänze, angeführt sein mögen.

Um zu einer Einteilung der verschiedenen Arten nach großen Gruppen zu gelangen, muß man von folgenden Erwägungen ausgehen.

Der Unternehmer befindet sich in einer Doppelstellung, die einen doppelten Interessengegensatz begründet. Da das Ziel seiner Thätigkeit, der geschäftliche Reingewinn, in dem Ueberschusse des Erlöses über die Herstellungskosten besteht, so ist ihm damit eine zweifache Aufgabe gestellt, nämlich:

I. Die Herstellungskosten möglichst zu erniedrigen,
II. die Höhe des Erlöses möglichst zu steigern.

Zu den Herstellungskosten gehören, abgesehen von solchen, die mehr oder weniger fest gegeben sind und sich der Beeinflussung entziehen, wie Verzinsung des Anlagekapitals, Mietwert und Instandhaltung der Gebäude, Heizung und Erleuchtung, Steuern u. dgl., hauptsächlich zwei Posten, nämlich:

1. die Kosten des Rohmaterials,
2. die Arbeitslöhne.

Auf die Höhe des Erlöses dagegen haben folgende Faktoren einen Einfluß:

1. die Menge der zum Verkauf gebrachten Waren, also der Umfang des Absatzes,
2. die Höhe des Verkaufspreises, der sich seinerseits richtet nach dem Umfange
  a) des Angebotes,
  b) der Nachfrage.

Hieraus ergiebt sich die Grundeinteilung aller Unternehmervereinigungen in die beiden Hauptgruppen, nämlich:

I. Abnehmerverbände, d. h. solche, die den Zweck verfolgen, die Herstellungskosten zu verringern, bei denen also der Unternehmer als Abnehmer, sei es von Rohmaterialien oder von Arbeitsleistungen, in Betracht kommt.
II. Anbieterverbände, d. h. solche, die die Erzielung eines möglichst hohen Brutto-Erlöses bezwecken, bei denen also der Unternehmer als Anbieter seiner Waren thätig wird.

Während die Abnehmerverbände, wie bereits hervorgehoben, das Interesse des Unternehmers gegenüber den Verkäufern der Rohstoffe und den Arbeitern zu wahren haben, suchen die Anbieterverbände dadurch zu wirken, daß sie hinsichtlich der von jedem Mitgliede an den Markt zu bringenden Menge von Erzeugnissen eine Regelung herbeiführen, daß sie ebenso jedem Mitgliede an der Befriedigung der Nachfrage einen gewissen Teil sichern und daß sie endlich[Pg 518] durch diese und andere Mittel die Preise auf einer bestimmten Höhe zu halten suchen.

Das Mittel, dessen man sich bedient, ist stets eine Beschränkung der Freiheit des Einzelnen. Die niedrigste Stufe derselben ist die Festsetzung der Mindestpreise, unter die beim Verkaufe nicht herabgegangen werden darf. Tiefer einschneidend ist bereits die Kontingentierung der Produktion, d. h. die Festsetzung der Menge an Waren, die jeder Beteiligte in einem gewissen Zeitraume an den Markt bringen darf. Am weitesten endlich geht die Verteilung des Marktes in der Weise, daß jedem ein beschränktes Gebiet zugewiesen wird, auf dem allein er seine Waren anbieten darf.

Man unterscheidet hiernach Preiskartelle, Produktionskartelle und Gebietskartelle.

Ebenso mannigfaltig, wie der Inhalt des getroffenen Abkommens ist die Form, in die man dieses kleidet, und zwar lassen sich dabei folgende Stufen unterscheiden:

I. Die erste ist eine bloße vertragsmäßige Verpflichtung unter den Beteiligten, deren Innehaltung man gewöhnlich durch Vertragsstrafen sichert, durch die aber die Selbständigkeit der beteiligten Unternehmungen als solcher nicht beeinträchtigt wird. In diese Form können alle die oben erwähnten Beschränkungen über die Höhe der Arbeitslöhne, die Preise der Rohmaterialien, die Preise der Erzeugnisse, den Umfang der Produktion und die Verteilung des Absatzgebietes gekleidet sein, aber die Nichtinnehaltung der gegebenen Zusicherung zieht nur eine Entschädigungspflicht gegenüber den übrigen Vertragsteilnehmern nach sich, dagegen wird das Vertragsverhältnis des einzelnen Mitgliedes zu den in Betracht kommenden dritten Personen nicht berührt.
II. Weiter geht die Schaffung eines gemeinsamen Organes, das einen Teil der an sich den einzelnen Mitgliedern zufallenden Thätigkeit übernimmt, mag diese nun auf die Beschaffung der Roh- oder Hülfsstoffe, ja selbst die Annahme der Arbeitskräfte oder auf den Verkauf der Erzeugnisse sich beziehen. Besonders häufig ist die letztere Form, das sogenannte Verkaufssyndikat, obgleich man diesen Ausdruck zuweilen auch da anwendet, wo nicht das Syndikat selbständig dem Dritten als Verkäufer gegenübertritt, sondern nur die eingehenden Aufträge nach einem vorher vereinbarten Maßstabe an die Teilnehmer in der Weise abgiebt, daß diese zu dem Besteller in ein unmittelbares Vertragsverhältnis treten. Mehrere derartige Verbände können natürlich nicht nur mit einander Verträge abschließen, sondern auch unter einander[Pg 519] in feste organische Beziehungen treten, teils so, daß die Verbände gleichartiger Gewerbe für ein ganzes Land einen Gesamtverband bilden, teils so, daß die auf einander angewiesenen Industrien mit einander ein Abkommen treffen, z. B. das Kartell der Kohlenzechen mit dem Kartell der Eisenwerke oder beide mit den Eisenbahnen.
III. Läßt die unter II gedachte Form die Selbständigkeit des Einzelunternehmens an sich bestehen, indem sie sich darauf beschränkt, nur einen Teil der Unternehmerthätigkeit auf ein gemeinsames Organ zu übertragen, so kann endlich diese Selbständigkeit auch ganz aufgehoben und durch eine völlige Verschmelzung zu einem einheitlichen Unternehmen ersetzt werden, so daß der Einzelne auf die Leitung entweder nur einen begrenzten oder auch gar keinen Einfluß besitzt und lediglich ein Bezugsrecht auf einen bestimmten Anteil am Gewinne erhält.

Es ist nicht ganz leicht, die oben bereits aufgezählten Ausdrücke für die verschiedenen Formen der Vereinigung scharf zu definieren und ihr Anwendungsgebiet zu sondern.

Kartelle (Deutschland und Oesterreich), trade unions of the employers (England), syndicats des patrons (Frankreich) und pools (Nordamerika) sind im wesentlichen gleichbedeutende Ausdrücke für Vereinigungen, die in erster Linie den Zweck verfolgen, die Preise hoch zu halten und dies erzielen durch eine Einschränkung der freien Verfügung, die aber immerhin die Selbständigkeit der beteiligten Unternehmungen im allgemeinen nicht antasten. Allerdings verwendet man die Ausdrücke sowohl für die oben unter I näher erörterte Form der ausschließlich vertragsmäßigen Bindung, als auch für die unter II behandelte Schaffung eines gemeinsamen Organes und unterscheidet danach[221] Kartelle niederer und höherer Ordnung, von denen naturgemäß die letzteren, z. B. das rheinisch-westfälische Kohlensyndikat, das Schienenkartell u. a. die größere Bedeutung erlangt haben. Aber das Gemeinsame bleibt immer, daß die einzelne Unternehmung als selbständige bestehen bleibt.

Einen anderen Karakter tragen die amerikanischen trusts. Sie begründen im Gegensatze zu der bloß vertragsmäßigen Selbstbeschränkung der Kartelle eine organische Verbindung, ja eine völlige Verschmelzung. Entsprechen die Kartelle dem Föderativstaate, so schaffen die trusts den Einheitsstaat. Sie beruhen auf einer besonderen Einrichtung des englisch-amerikanischen Rechts. Der trustee ist ein Vertrauensmann, dem ein Vermögen in der Art übertragen wird, daß er dessen formeller Inhaber wird, obgleich er verpflichtet ist, dessen[Pg 520] Verwaltung zu Gunsten einer anderen Person zu führen[222]. So wird bei einer Zuwendung von einer Ehefrau das Vermögen einem trustee übertragen, der es nach eigenem Ermessen zu verwalten und nur die Erträge an die Berechtigten abzuliefern hat. Diese Rechtsform, bei der also das Wesentliche ist, daß die Nutzung von der Verwaltung getrennt wird, hat man auf Aktiengesellschaften in der Weise angewandt, daß die Aktienbesitzer ihre Aktien an einen trustee übertragen, der dadurch das Recht erhält, das Stimmrecht in der Generalversammlung geltend zu machen. Sobald er die Mehrheit der Aktien besitzt, ist die Generalversammlung eine bloße Form und volle Gewähr geboten, daß die Leitung eine durchaus einheitliche ist, während der Erfolg derselben trotzdem den Beteiligten gewahrt bleibt. Um einen Ersatz der bei dem trustee hinterlegten Aktien zum Zwecke des Verkehrs zu schaffen, stellt dieser sogenannte certificates aus, die verkauft werden können und das Recht auf die Dividende übertragen.

Ist hiernach die Unterscheidung zwischen Kartellen und Trusts einfach und leicht, so liegt die Sache schwieriger hinsichtlich der sog. Ringe, corners und Schwänze. Wenn Kleinwächter[223] sie im Gegensatz zu den Kartellen, denen er, als zur Herstellung der Ordnung in dem heutigen wirtschaftlichen Chaos dienend, einen legitimen Zweck beimißt, als „vorübergehende Vereinigungen von Spekulanten“ bezeichnet, „welche lediglich den Zweck verfolgen, den Preis eines Artikels (durch forcierte Aufkäufe und dgl.) in die Höhe zu treiben, um den letzteren sodann mit Gewinn wieder loszuschlagen“, so hat hiergegen Liefmann[224] mit Recht eingewandt, daß es zunächst verkehrt sei, die corners und Schwänze mit den Ringen auf gleiche Stufe zu stellen, da die ersteren nicht eine Vereinigung von Personen, sondern eine kaufmännische Manipulation darstellen, während man mit „Ring“ die Personenvereinigung bezeichnet, die diese Manipulation ausführen. Die letztere selbst unterscheidet sich nun aber von der Thätigkeit der Kartelle und Syndikate dadurch, daß sie nicht, wie bei diesen, nur eine Hülfsoperation bei der Produktion und deren Nutzbarmachung für die Konsumtion ist, sondern einen völlig selbständigen Zweck hat, nämlich durch Einkauf bei normalen und Verkauf bei künstlich gesteigerten Preisen einen Spekulationsgewinn abzuwerfen, daß sie den Verteilungsprozeß nicht um einen Schritt weiterführt, sondern einen für den letzteren bedeutungslosen Vorgang dazwischen schiebt. Wenn sowohl ein Kartell wie ein Ring Waren aufkauft um sie weiter zu veräußern, so besteht doch der Unterschied darin, daß das Kartell[Pg 521] eine Vereinigung der Produzenten selbst ist und der Ankauf und Wiederverkauf nur eine Form ist, um die Waren in die Hände der Konsumenten zu bringen, während die Mitglieder des Ringes Fremde sind, die nur zu ihrem Vorteile eine wirtschaftlich wertlose Zwischeninstanz einschieben. Sind nun auch die Ringe keineswegs notwendig vorübergehende Vereinigungen, so bringt es doch die unnatürliche Verteuerung der Waren, auf die sie angewiesen sind, mit sich, daß sie meist von kurzer Dauer sind und dann zerfallen.


Der Zweck dieser Arbeit[225] schließt es aus, eine vollständige Darstellung der Wirksamkeit der Unternehmerverbände zu geben, vielmehr fallen dieselben in den hier gespannten Rahmen an sich nur soweit, wie sie in unmittelbare Beziehungen zu den Arbeitern und deren Vereinigungen treten. Dadurch entfallen also nicht allein die „Anbieterverbände“, bei denen es sich um die Wahrung der Interessen gegenüber den Konsumenten handelt, sondern auch die „Abnehmerverbände“ scheiden insoweit aus, wie sie es mit der Beschaffung der Rohstoffe zu thun haben. Es bleiben deshalb als Gegenstand unserer Erörterung nur diejenigen Abnehmerverbände, die das Verhältnis zu den Arbeitern zur Aufgabe haben.

Lediglich, um einen Ueberblick über die gewaltige Entwickelung der Unternehmerverbände zu geben, sollen die wichtigsten derselben aufgezählt werden. Das erscheint außerdem aus dem Grunde angemessen, weil es die Ausnahme bildet, daß ein Verband ausschließlich die Regelung des Verhältnisses zu den Arbeitern verfolgt, vielmehr in der Regel die letztere Aufgabe von Verbänden übernommen wird, die zugleich noch eine andere Thätigkeit ausüben, insbesondere die Beschaffung der Rohstoffe, den Absatz der Erzeugnisse oder die Beeinflussung der Gesetzgebung und Verwaltung bezwecken. Gerade aus diesem Grunde würde es, um eine vollständige Uebersicht der für uns in Betracht kommenden Einrichtungen zu geben, erforderlich sein, die Statuten aller dieser Vereinigungen daraufhin zu prüfen, ob sie jenes Gebiet berühren. Das ist schon deshalb nicht ausführbar, weil meist diese Statuten geheim gehalten werden[226]; um so mehr aber ist es am Platze, die Verbände wenigstens aufzuzählen, um das Gebiet zu bezeichnen, aus dem eine Ergänzung des hier zusammengestellten Materials am leichtesten möglich sein wird.

[Pg 522]

Dagegen werde ich diejenigen Vereinigungen, die als besondere Aufgabe die Regelung des Verhältnisses zu den Arbeitern betrachten, ausführlicher behandeln und das einschlägige Material, soweit mir dessen Beschaffung gelungen ist, wiedergeben.

Eine Sonderstellung nehmen, wie unter den Arbeitervereinen so auch unter den Unternehmerverbänden die deutschen Buchdrucker ein, da sie dem Ideale der Herstellung eines befriedigenden Verhältnisses zwischen beiden Gruppen oder gar einer gemeinsamen Organisation bis jetzt bei weiten am nächsten gekommen sind. Es ist deshalb angezeigt, den Deutschen Buchdruckerverein ausführlicher zu behandeln.

II. Deutschland.

A. Uebersicht der bestehenden Interessenten-Vereinigungen.

a) Allgemeine Verbände.

1. Die älteste und umfassendste Gesamtvertretung des deutschen Handels und der deutschen Industrie bildet der deutsche Handelstag, der am 12. Mai 1861 in Heidelberg gegründet ist und den Zweck verfolgt, „die gemeinsamen Interessen des deutschen Handels- und Industriestandes zur Geltung zu bringen.

2. Eine ähnliche Aufgabe stellt sich der „Verein zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe“ in Berlin; er bezweckt den Schutz der auf dem mobilen Kapitale beruhenden Erwerbsthätigkeit. Mitgliederbestand 650.

3. Auf die Industrie allein beschränkt seinen Wirkungskreis die mächtigste heute in Deutschland bestehende Unternehmerorganisation, der „Zentralverband Deutscher Industrieller“. Er verdankt seine Entstehung der in der Mitte der 70er Jahre hervortretenden Opposition gegen die damals herrschende Freihandelspolitik. Der Abg. v. Kardorff, der durch seine Schrift: „Gegen den Strom“ zuerst offen die Forderung der Rückkehr zum Schutzzollsystem erhoben hatte, berief auf den 14. Dezember 1875 eine Versammlung nach Berlin, die sich der weiteren Agitation unterzog, und schon am 15. Februar 1876 wurde der „Zentralverband Deutscher Industrieller“ endgültig begründet. Er bezweckt nach den Statuten „die Wahrung der industriellen und wirtschaftlichen Interessen[Pg 523] des Landes und Beförderung der nationalen Arbeit“. Als wesentlichstes Mittel zur Erreichung dieses Zweckes wird die Aufgabe bezeichnet, „die vereinzelt bestehenden industriellen Vereinigungen unter sich in Verbindung zu bringen und denselben als ein durch seine Organisation kräftiges Zentralorgan zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen zu dienen“. Die Thätigkeit des Verbandes soll sich insbesondere beziehen 1. auf die wirtschaftliche Gesetzgebung des Reiches beziehungsweise der Einzelstaaten; 2. auf den Abschluß günstiger Handels- und Schiffahrtsverträge; 3. auf die Vervollständigung der Kommunikationsmittel, insonderheit der Kanalbauten, auf die Besserung des Betriebes auf denselben und die Vereinfachung und günstigere Gestaltung der Tarife; 4. auf Regelung der Arbeiterverhältnisse; 5. auf das Erschließen neuer Bezugsquellen und Absatzwege; 6. auf die Unterstützung und Einführung für gut erkannter neuer Erfindungen; 7. auf die Aufklärung der öffentlichen Meinung über die gemeinsamen Interessen der Produzenten und Konsumenten; 8. auf die Gründung solcher Einrichtungen, welche geeignet erscheinen, die materielle Lage der gesamten deutschen Industrie zu verbessern.

Dem Verbande können als Mitglieder beitreten Vereine, welche wirtschaftliche, technische und kaufmännische Zwecke verfolgen, Handels- und Gewerbekammern und ähnliche Verbindungen, Erwerbsgesellschaften, Firmen und einzelne Personen. Organe sind das Direktorium, der Ausschuß und die Delegiertenversammlung. Litterarisches Organ ist die von Dr. Steinmann-Bucher herausgegebene „Deutsche Industriezeitung“. Daneben hat nach Zeitungsnachrichten der Verband im Jahre 1898 die „Berliner Neuesten Nachrichten“ zu Eigentum erworben. Die Beiträge, nach denen sich das Stimmrecht bemißt, werden durch Selbsteinschätzung festgesetzt, dürfen aber nicht unter 30 Mk. betragen[227]. Die von dem Verbande vertretene sozialpolitische Richtung ist karakterisiert durch den Namen seines einflußreichsten Mitgliedes, Freiherrn v. Stumm. Er bezeichnet ausdrücklich als seine Aufgabe auch die Förderung des Wohles der Arbeiter, aber er bekämpft „Bestimmungen, die ohne Berücksichtigung der thatsächlichen Gestaltung, ersonnen und gestützt von theoretischen Meinungen, geeignet sind, die Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern zu verschlechtern“[228]. Demgemäß hat der Verband in seiner Ausschußsitzung am 25. Mai 1897 sich auch gegen die Regierungsvorlage über die Organisation des Handwerks erklärt mit der Begründung, daß „die gesetzliche Organisation und Mitwirkung der Gesellen[Pg 524] bei den Vertretungskörperschaften des Handwerks von wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gesichtspunkten aus für in hohem Maße bedenklich und für einen Fehler zu erachten“ sei. Während der Verbund im allgemeinen mit den landwirtschaftlichen Interessenkreisen Fühlung zu halten sucht, ist seit Begründung des „Bundes der Landwirte“ dieses Verhältnis sehr kühl geworden, und in der genannten Ausschußsitzung gab die Bestimmung in dem Programme des Bundes, daß er „das Ausbeutungssystem des spekulativen und internationalen Großkapitals, sowie eine einseitige ungerechte Bevorzugung des Großkapitals überhaupt“ bekämpfe, zu scharfen Ausfällen seitens des Referenten Bueck Veranlassung.

Obwohl der Verband anfangs autonome Zolltarife begünstigte, ist er doch in den letzten Jahren energisch für die Handelsverträge eingetreten; auch hierdurch hat sich das Bundesverhältnis gegenüber den landwirtschaftlichen Interessenkreisen gelockert.

Der Verband zählte nach dem im August 1897 veröffentlichten Verzeichnis insgesamt 441 Mitglieder, unter denen sich 20 Handelskammern, 7 Berufsgenossenschaften und 46 Vereine und Verbände befanden. Mit Maßnahmen zur Gestaltung des Verhältnisses zwischen Unternehmern und Arbeitern hat sich der Verband bisher nicht befaßt, da er dies als eine Angelegenheit der einzelnen Mitglieder, insbesondere der ihm angehörenden Vereine betrachtet.

4. Da der Zentralverband nur die ganz großen Unternehmungen umfaßt und schon durch die Höhe seiner Beiträge die kleineren Geschäftsleute ausschließt, aber selbst die mittleren Betriebe sich in die zweite Linie geschoben fühlen, so tauchte nach Gründung des „Bundes der Landwirte“ der Plan auf, eine ähnliche allgemeine Interessenvertretung auch für die Industrie zu schaffen. Diesem Gedanken verdankt der „Bund der Industriellen“ seine Entstehung.

Der Bund wurde im November 1895 gegründet und hat nach dem Geschäftsberichte für das Geschäftsjahr 1896/97 seine Mitgliederzahl von ursprünglich 900 auf 1500 gesteigert; in der Generalversammlung vom 10. Oktober 1898 wurde ein weiterer Zuwachs von 600 Mitgliedern berichtet. Der Verband bezweckt nach seinen Statuten „die Wahrung der gemeinsamen Interessen der deutschen Industrie, sowie ein Zusammenwirken in allen die deutsche Industrie betreffenden Fragen“. Ordentliche Mitglieder können sein: 1. Personen, die in selbständiger Stellung einem industriellen Betriebe in Deutschland angehören oder angehört haben, selbständige Ingenieure und Chemiker, 2. alle in Deutschland bestehenden industriellen Betriebe, 3. industrielle Vereine und Verbände. Der Jahresbeitrag beläuft sich nach der Anzahl der Beamten und Arbeiter auf 5 bis 150 Mk.; der Mindestbeitrag ist so niedrig bemessen, um auch dem Kleinbetriebe die Beteiligung zu ermöglichen. Organe[Pg 525] sind Vorstand, Ausschuß und Generalversammlung. Bekanntmachungen erfolgen in einer Reihe von Zeitungen verschiedener politischer Richtungen, wie denn überhaupt der Verband politisch neutral sein und lediglich wirtschaftliche Zwecke verfolgen will.

Der Verband besitzt außer einem Zentralbureau[229] ein „Syndikat“ zur Erteilung von Auskunft, insbesondere Rechtsrat, ein industrielles Schiedsgericht zur Entscheidung von Streitigkeiten, eine „Zentralstelle zur Handhabung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb“ und eine „Bundesstelle zur Vorbereitung neuer Handelsverträge[230]“. Ferner bestehen besondere Kommissionen 1. auf dem Gebiete der sozialpolitischen Gesetzgebung, insbesondere zur Reform der Arbeiterversicherungsgesetze, 2. zur Förderung von Verkehrswegen, insbesondere von Eisenbahnen und Wasserstraßen, 3. zur Reorganisation der Handelskammern im Sinne einer besonderen Vertretung der Industrie durch Errichtung von Industriekammern, 4. zur Organisation der Arbeitgeber behufs Abwehr von Arbeitseinstellungen und zur Errichtung von Arbeitsnachweisen.

Abgesehen von den schon hieraus ersichtlichen Angelegenheiten hat der Bund sich bisher beschäftigt mit der Reform des Handelsgesetzbuches und der Invaliditätsversicherung, mit der Gewerbeordnungsnovelle, der Herstellung eines Seekanals von Stettin nach Berlin und der Pariser Weltausstellung, hauptsächlich aber mit der Organisation der Arbeitgeber und der Schaffung einer Streikversicherung, über die an anderer Stelle[231] Näheres mitzuteilen ist.

Hinsichtlich der sozialpolitischen Richtung bestehen innerhalb des Verbandes zwei entgegengesetzte Strömungen, die u. a. in der Generalversammlung vom 10. Oktober 1898 bei der Behandlung des Arbeitsnachweises zum Ausdrucke kamen. Die hauptsächlich von O. Weigert, dem Begründer der Industria, vertretene sozialreformerische Gruppe erklärte sich für Gleichberechtigung von Unternehmern und Arbeitern bei Organisation der Arbeitsnachweise, fand aber einen scharfen Gegensatz bei den beiden Referenten, dem Generalsekretär des Arbeitgeberverbandes Hamburg-Altona, Dr. Märtens und dem Fabrikbesitzer Dr. Kunath, sowie dem Generalsekretär des Verbandes der Berliner Metallindustriellen, Nasse, die den Arbeitsnachweis ausschließlich für die Unternehmer in Anspruch nahmen. Schließlich begnügte man sich mit einer nichtssagenden Resolution. Uebereinstimmend aber beabsichtigt man, der Frage einer Organisation der Arbeitgeber die größte Aufmerksamkeit zu widmen.

5. Einen beschränkteren Wirkungskreis, als die unter 3 und 4 erwähnten Verbände, hat der in Köln bestehende „Haftpflicht-Schutzverband Deutscher Industrieller“ mit 226 Mitgliedern. Derselbe bezweckt lediglich „Beschränkung der Haftpflicht auf ein der Billigkeit entsprechendes Maß.“

[Pg 526]

b) Organisationen einzelner Berufszweige[232].

Der Zweck dieser Organisationen ist fast überall ganz allgemein die Förderung der Interessen des betreffenden Gewerbes; nur wenige beschäftigen sich mit dem Verhältnisse zu den Arbeitern. Diese Vereinigungen werden an anderer Stelle[233] eingehender erörtert werden; die übrigen bedürfen lediglich einer Aufzählung[234].

Für Berg- und Hüttenwesen bestehen zunächst sechs berg- und hüttenmännische Vereine: 1. in Essen für den Oberbergamtsbezirk Dortmund mit mehr als 120 beteiligten Werken, 2. in Kattowitz für Oberschlesien (etwa 50 Mitglieder), 3. in Aachen für den Bergbaubezirk Aachen (20 Mitglieder), 4. in Waldenburg für Niederschlesien (50 Mitglieder), 5. in Siegen für den Bezirk Siegen (40 Mitglieder), 6. in Braunfels für die Lahn- und Dillbezirke. Insbesondere der Dortmunder Verein hat in die große Streikbewegung des Jahres 1889 energisch eingegriffen. Der Aachener Verein hat als Organ die „Mitteilungen“, der oberschlesische die „Zeitschrift“, der Dortmunder das Blatt „Glückauf“.

Für Braunkohlenbergbau wirken zwei Vereine: 1. der „Deutsche Braunkohlenindustrieverein“ in Halle a. S., der die „Deutsche Kohlenzeitung“[Pg 527] herausgiebt, 2. der „Magdeburger Braunkohlenbergbauverein“ in Schönebeck. Er hebt in seinen Statuten ausdrücklich als Ziel hervor „die Stellungnahme gegenüber berechtigten und unberechtigten Arbeiterbewegungen“[235].

Für Salzbergwerke und Salinen besteht ein „Verein Deutscher Salinen- und Salzbergwerke“.

In der Eisenindustrie giebt es außer einigen jüngeren lokal begrenzten Vereinigungen, wie dem „Verein zur Wahrung der Interessen der Siegerländer Eisenindustrie“, dem „Verbande der Eisenindustriellen von Hamburg und Umgegend“ und dem „Verein Berliner Eisengießereien und Maschinenfabriken“, von denen namentlich die beiden letzteren zugleich Antistreikvereine sind, folgende Verbände für das ganze Reichsgebiet: 1. Der „Verein Deutscher Eisengießereien“ mit 160 beteiligten Werken in 8 Gruppen. Organ ist die „Vereinskorrespondenz“; 2. der Verband Deutscher Eisengießereien für Bauguß“; 3. der „Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller“ (320 Mitglieder); 4. der „Verein Deutscher Eisenhüttenleute“ in Düsseldorf (1220 Mitglieder). Vereinszeitschrift „Stahl und Eisen“.

Die in der Metallindustrie bestehenden Einzelvereine sind zusammengefaßt zu dem „Gesamtverbande Deutscher Metallindustrieller“ in Berlin. Er bezweckt einerseits „die werkthätige Förderung des Wohles der Arbeiter“, andererseits die Abwehr von Arbeiterbestrebungen, die „darauf gerichtet sind, die Arbeitsbedingungen in den Betrieben der Metallindustrie einseitig vorzuschreiben“[236].

Der „Verein Deutscher Nadelfabrikanten“ in Aachen mit 23 Mitgliedern bezweckt vorzugsweise Durchführung des Muster- und Markenschutzes.

Die Maschinenfabrikanten besitzen den „Verein Deutscher Maschinenbauanstalten“ in Düsseldorf. Daneben besteht der „Verein Bielefelder Maschinenfabrikanten“ und der „Verein Deutscher Nähmaschinenfabrikanten“ in Dresden.

Die Schiffswerfte haben einen „Verein Deutscher Schiffswerfte“ mit 18 Mitgliedern.

Für die Kratzenfabriken besteht ein „Ausschuß der Deutschen Kratzenfabrikanten“ in Aachen.

Die Uhrenindustrie besitzt den „Zentralverband der Deutschen Uhrenindustrie“ in Berlin mit 56 Vereinen. Organ ist das „Allgemeine Journal der Uhrmacherkunst“.

[Pg 528]

Auf dem Gebiete der chemischen Industrie ist zu nennen der „Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands“ in Berlin mit 212 ordentlichen und 149 außerordentlichen Mitgliedern.

Die Seifenfabrikanten besitzen eine Vereinigung der „rheinisch-süddeutschen Verbände Deutscher Seifenfabrikanten“ in Bischweiler mit 300 Mitgliedern.

Für die keramische Industrie besteht ein „Verein für das Töpferei-Gewerbe“ in Dresden und der „Verband keramischer Gewerbe“ in Koburg mit 100 Mitgliedern. Organ ist der „Sprechsaal“.

Die Glasindustrie besitzt einen „Verband der Glasindustriellen Deutschlands“ in Berlin.

Die Einzelvereine in der Lederindustrie haben sich zusammengeschlossen zu einem „Zentralverein der Deutschen Lederindustrie“.

Von den in der Textilindustrie bestehenden zahlreichen Vereinen sollen hier nur genannt werden der „Zentralverein Deutscher Wollwarenfabrikanten“ und der „Zentralverband der Stickereiindustrie in Sachsen“ in Plauen i. V. mit 1800 Mitgliedern.

Für die Schirmfabrikation besteht ein „Verband Deutscher Schirmfabrikanten“ mit 170 Mitgliedern, der eine Unterstützungskasse für hülfsbedürftige Arbeiter besitzt.

Für die Möbelfabrikation besteht in Mainz der „Möbelfabrikanten- und Meisterverband“.

In der Papierindustrie bestehen der „Verein Deutscher Papierfabrikanten“ in Mainz und der „Deutsche Papierverein“ in Berlin mit 600 Mitgliedern.

Die Brauerei- und Malzindustrie besitzt eine Reihe lokaler Vereinigungen, von denen die größte der Verein „Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei“ mit 1500 Mitgliedern ist.

Die Spiritusindustrie besitzt einen umfassenden Verband in dem „Verein der Spiritusinteressenten in Deutschland“ mit 2300 Mitgliedern. Organ ist die „Zeitschrift für Spiritusindustrie“.

Für die Mühlenindustrie besteht der „Verband Deutscher Müller“ in Berlin, der die Zeitschrift „Die Mühle“ herausgiebt.

Für die Zuckerindustrie besteht der „Verein Deutscher Zuckerraffinerien“ und der „Verein für die Rübenzuckerindustrie Deutschlands“.

Für die Chokoladenindustrie besteht der „Verband Deutscher Chokoladenfabrikanten“.

Die Tabakindustrie besitzt eine Gesamtvereinigung in dem „Deutschen Tabakverein“, der durch Verschmelzung des „Vereins der Deutschen Tabakfabrikanten[Pg 529] und -Händler“ mit der „Vereinigung Deutscher Tabak- und Zigarren-Industriellen“ am 29. Mai 1892 in Kassel gegründet wurde.

Am 20. Mai 1895 hat sich in Berlin der „Deutsche Straßen- und Kleinbahn-Verein“ und am 18. November 1896 der „Verband der Deutschen Korkindustriellen“ gebildet.

Endlich ist zu nennen der „Verein Deutscher Mineralwasserfabrikanten“.

Eine Sonderstellung nimmt ein der am 30. April 1825 gegründete „Börsenverein der Deutschen Buchhändler“ in Leipzig, insofern seine Wirksamkeit sich nicht auf Deutschland beschränkt, sondern einen internationalen Karakter dadurch erhielt, daß von seinen 2700 Mitgliedern nur etwa 2200 in Deutschland, die übrigen im Auslande wohnen.

Dagegen beschränkt der „Zentralverein Deutscher Kolportagebuchhändler“ in Berlin sich auf Deutschland.

Die Kleinhändler besitzen eine große Anzahl von Vereinen, die seit 1888 verbunden sind in dem „Zentralverband kaufmännischer Verbände und Vereine Deutschlands“, der seit 1892 die Firma „Zentralverband Deutscher Kaufleute“ führt und in Leipzig seinen Sitz hat. Der Verband, der 110 Vereine mit 6795 Mitgliedern umfaßt, richtet seine Bestrebungen vorzugsweise gegen Großbazare, Konsumvereine, Hausierhandel, Detailreisen u. dgl.

Die Mehrzahl der Vereine der „Gasthofsbesitzer“ ist zusammengefaßt in dem „Deutschen Gastwirtschaftsverbande“ mit 203 Vereinen und 17000 Mitgliedern in Berlin. Organ ist „Das Gasthaus“.

Zu den Unternehmervereinigungen gehören auch die Innungen[237]. Unter der Herrschaft der liberalen Wirtschaftslehre, wie sie seit der Mitte unseres Jahrhunderts bis zur Mitte der 70er Jahre bestand, war man diesen Bildungen des Mittelalters sehr abgeneigt, und so ließ die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 sie freilich bestehen, suchte aber ihre Bedeutung möglichst zu vermindern, insbesondere nahm man ihnen den Zwangskarakter, indem man den Gewerbebetrieb von der Zugehörigkeit zu einer Innung unabhängig machte und den jederzeitigen Austritt gestattete, während man zugleich die frühere Geschlossenheit dadurch beseitigte, daß die Innungen jeden aufnehmen mußten, der die statutarischen Bedingungen erfüllte. Dabei darf ein Befähigungsnachweis nur hinsichtlich der Fähigkeit zur selbständigen Ausführung der gewöhnlichen Arbeiten des Gewerbes, von Personen aber, die das Gewerbe seit mindestens einem Jahr selbständig ausüben, überhaupt nicht gefordert werden. Endlich ist die Innung hinsichtlich ihrer Verwaltung der Aufsicht der Gemeindebehörde unterstellt.

[Pg 530]

Auch die neueren Innungen, deren Bildung im Gesetze zugelassen war, sind sehr knapp in 8 Paragraphen behandelt; als ihr Zweck ist lediglich bezeichnet „die Förderung der gemeinsamen gewerblichen Interessen“.

Seit Mitte der 70er Jahre machte sich der Umschwung in den volkswirtschaftlichen Anschauungen dahin geltend, daß man den Wirkungskreis der Innungen immer mehr erweiterte, bis das Gesetz vom 26. Juli 1897 sogar den gesetzlichen Zwang einführte.

Nach diesem Gesetze sind den Innungen als Aufgaben zugewiesen: 1. die Pflege des Gemeingeistes sowie die Aufrechterhaltung und Stärkung der Standesehre unter den Mitgliedern; 2. die Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern und Gesellen sowie die Fürsorge für das Herbergswesen und den Arbeitsnachweis; 3. die Regelung des Lehrlingswesens und die Fürsorge für die technische, gewerbliche und sittliche Ausbildung der Lehrlinge; 4. die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern und den Lehrlingen.

Die Innungen dürfen aber ihre Wirksamkeit noch auf andere den Mitgliedern gemeinsame gewerbliche Interessen ausdehnen, insbesondere auf: 1. Veranstaltungen zur Förderung der gewerblichen, technischen und sittlichen Ausbildung der Meister, Gesellen und Lehrlinge; 2. Gesellen- und Meisterprüfungen; 3. Gründung von Kassen zur Unterstützung der Mitglieder und deren Angehörigen, ihrer Gesellen, Lehrlinge und Arbeiter in Fällen der Krankheit, des Todes, der Arbeitsunfähigkeit oder sonstiger Bedürftigkeit; 4. Errichtung von Schiedsgerichten zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Meistern und Gesellen oder Arbeitern; 5. Einrichtung eines gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes.

Den Innungen ist das Recht der juristischen Persönlichkeit beigelegt. Mitglieder können nur solche Personen werden, welche entweder das betreffende Gewerbe selbständig betreiben oder betrieben haben oder in einem dem Gewerbe angehörigen Großbetriebe als Werkmeister oder in ähnlicher Stellung beschäftigt sind oder gewesen sind, und die in landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieben gegen Entgelt beschäftigten Handwerker.

Die Errichtung einer Zwangsinnung muß auf Antrag der Beteiligten angeordnet werden, sobald 1. die Mehrheit der beteiligten Gewerbetreibenden der Einführung des Zwanges zustimmt; 2. der Bezirk der Innung so begrenzt ist, daß kein Mitglied durch die Entfernung seines Wohnortes vom Sitze der Innung behindert wird, am Genossenschaftsleben teilzunehmen und die Innungseinrichtungen zu benutzen; 3. die Zahl der im Bezirke vorhandenen beteiligten Handwerker zur Bildung einer lebensfähigen Innung ausreicht. Mitglieder der Zwangsinnung sind kraft Gesetzes alle diejenigen, die das Gewerbe, für das die Innung errichtet ist, als stehendes Gewerbe selbständig betreiben, mit[Pg 531] Ausnahme des fabrikmäßigen Betriebes; auch können solche Kleinbetriebe ausgeschlossen werden, in denen der Regel nach weder Gesellen noch Lehrlinge gehalten werden. Der Wirkungskreis der Zwangsinnung ist im allgemeinen derjenige der freien Innung, nur können die Mitglieder zur Teilnahme an Unterstützungseinrichtungen mit Ausnahme der gesetzlichen Krankenkassen nicht gezwungen werden, und außerdem darf die Innung gemeinsame Geschäftsbetriebe nicht errichten, muß sich vielmehr hinsichtlich der Veranstaltungen zur Förderung der gemeinsamen, gewerblichen und wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder, wie Vorschußkassen, gemeinsame Ein- und Verkaufsgeschäfte u. dgl., darauf beschränken, sie anzuregen und aus dem angesammelten Vermögen zu unterstützen, während Beiträge zu diesem Zwecke nicht erhoben werden dürfen. Die Innung darf ferner ihre Mitglieder in der Festsetzung der Preise ihrer Waren oder Leistungen oder in der Annahme von Kunden nicht beschränken; die Entwickelung der Zwangsinnung zum Kartell ist mithin verboten.

Für alle oder mehrere derselben Aufsichtsbehörde unterstehende Innungen kann ein gemeinsamer Innungsausschuß gebildet werden, dem die Vertretung der gemeinsamen Interessen der beteiligten Innungen obliegt und besondere Rechte und Pflichten dieser Innungen übertragen werden können. Dem Ausschusse kann durch die Zentralbehörde das Recht der juristischen Persönlichkeit verliehen werden.

Zur Vertretung der Interessen des Handwerks ihres Bezirkes sind durch Verfügung der Landeszentralbehörde Handwerkerkammern zu errichten. Die Mitglieder werden durch die Handwerkerinnungen und diejenigen Gewerbevereine und sonstigen Vereinigungen, welche die Förderung der gewerblichen Interessen des Handwerks verfolgen und mindestens zur Hälfte aus Handwerkern bestehen, gewählt. Aufgaben der Kammer sind 1. die Regelung des Lehrlingswesens; 2. Ueberwachung der bezüglichen Vorschriften; 3. Mitteilungen und Erstattung von Gutachten an die Behörden; 4. Beratung von Wünschen und Anträgen, welche die Verhältnisse des Handwerks berühren, sowie Erstattung von Jahresberichten hierüber; 5. Bildung von Prüfungsausschüssen für Gesellenprüfungen sowie von Beschwerdeinstanzen. Die Kammern sollen in allen wichtigen, die Gesamtinteressen des Handwerks oder einzelner Zweige desselben berührenden Angelegenheiten gehört werden. Sie sind befugt, Veranstaltungen zur Förderung der gewerblichen, technischen und sittlichen Ausbildung der Meister, Gesellen und Lehrlinge zu treffen, sowie Fachschulen zu errichten und zu unterstützen. Die Innungen und Innungsausschüsse müssen den Anordnungen der Kammern Folge leisten. Für jede Kammer ist ein staatlicher Kommissar zu bestellen, der bei allen Verhandlungen zuzuziehen ist und das Recht hat, die gefaßten Beschlüsse mit aufschiebender Wirkung zu beanstanden.

[Pg 532]

Innungen, welche nicht derselben Aufsichtsbehörde unterstehen, können zu Innungsverbänden zusammentreten. Diese haben die Aufgabe, zur Wahrnehmung der Interessen der in ihnen vertretenen Gewerbe die Innungen, Innungsausschüsse und Handwerkerkammern in der Verfolgung ihrer gesetzlichen Aufgaben, sowie die Behörden durch Vorschläge und Anregungen zu unterstützen. Sie sind befugt, den Arbeitsnachweis zu regeln, Fachschulen zu errichten und zu unterstützen sowie für die Mitglieder der Innungen und deren Angehörige Kassen zur Unterstützung in Fällen der Krankheit, des Todes, der Arbeitslosigkeit oder sonstiger Bedürftigkeit zu errichten. Durch Beschluß des Bundesrates kann den Innungsverbänden das Recht der juristischen Persönlichkeit beigelegt werden.

Endlich hat die deutsche Unfallversicherung in den Berufsgenossenschaften[238] Unternehmervereinigungen geschaffen, denen alle Beteiligten kraft Gesetzes angehören. Die Genossenschaften haben das Recht der juristischen Persönlichkeit und zerfallen in der Regel in örtlich abgegrenzte Sektionen mit einer gewissen Selbständigkeit. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Feststellung der Entschädigungen der Versicherten oder ihrer Angehörigen. Gegen dieselbe ist Berufung an das Schiedsgericht mit Rekurs an das Reichsversicherungsamt zulässig. Daneben aber haben die Genossenschaften die Befugnisse, Vorschriften zur Verhütung von Unfällen zu erlassen und deren Befolgung durch Beauftragte zu überwachen, sowie Ordnungsstrafen zu verhängen. Die Mitglieder müssen nicht allein diesen Anordnungen Folge leisten und den Beauftragten den Zutritt zu ihren Betriebsstätten gestatten, sowie ihre Bücher und Listen vorlegen, sondern haben ferner sowohl bei einem Unfalle die erforderliche Auskunft zu geben als auch jährlich Listen einzureichen, aus denen die beschäftigten Personen und die von ihnen verdienten Löhne und Gehälter zu ersehen sind. Die Genossenschaftsvorstände haben von der ihnen übertragenen Macht einen ausgiebigen Gebrauch gemacht, und vielfach ist von den Unternehmern darüber geklagt, daß diese aus ihren eigenen Reihen hervorgegangenen Organe an Strenge und Schneidigkeit hinter staatlichen Behörden nicht zurückständen.

Die Einrichtung der Berufsgenossenschaften ist von großer prinzipieller Bedeutung, insofern sie den ersten Versuch der Neuzeit darstellt, die Organisation des gewerblichen Lebens mittels gesetzlichen Zwanges durchzuführen. Daß man bei ihrer Einführung die Absicht hatte, ihre Wirksamkeit nicht auf die Unfallversicherung zu beschränken, ergiebt sich schon aus der die Grundlage der ganzen Arbeiterversicherung bildenden kaiserlichen Botschaft vom 17. November[Pg 533] 1881, wenn dort „der engere Anschluß an die realen Kräfte des Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Fürsorge“ als der Weg bezeichnet wird, den Aufgaben des christlichen Volkslebens gerecht zu werden. Noch deutlicher ist dies ausgesprochen in der Begründung des Entwurfes vom 8. Mai 1882, wenn es dort im Anschluß an die Ausführung, daß „die Gesamtheit der als notwendig erkannten wirtschaftlichen und sozialen Reformen nur mit Hülfe einer genossenschaftlichen Organisation der Industrie und des Gewerbes durchgeführt werden“ könne, weiter heißt: „Die Organisation wird demnächst unschwer auch die für die Lösung der größeren auf diesem Gebiete vorliegenden Aufgaben erforderliche weitere Ausbildung erhalten können.“

Zunächst beabsichtigte man, ihnen die Invaliditäts- und Altersversicherung zu übertragen. Nachdem dies aufgegeben ist, indem man vielmehr besondere territoriale Anstalten schuf, sind die Berufsgenossenschaften vielfach als eine verfehlte Schöpfung angegriffen, während die industriellen Kreise mit großer Entschiedenheit an ihnen festhalten, indem sie fühlen, daß es sich hier um eine Einrichtung handelt, die für die Entwickelung der Industrie von der höchsten Bedeutung ist. Diese Bedeutung besteht eben in dem organisatorischen Grundgedanken, in der gesetzlichen Zusammenfassung der einzelnen Industriezweige zu lebendigen Organismen, die imstande sind, Aufgaben zu erfüllen, die über die Machtsphäre sowohl der Einzelnen wie der freiwilligen Vereinigungen hinausgehen.

Zweifellos handelt es sich bei den Berufsgenossenschaften um ein Prinzip von der höchsten Wichtigkeit für unser wirtschaftlich-soziales Leben, aber in der Beschränkung auf die Unfallversicherung gleichen sie einem Mantel, der, für eine viel korpulentere Person bestimmt, jetzt viel zu weit ist und die Glieder seines Trägers lose umschlottert. Sie bilden einen Apparat, der im Verhältnisse zu den gestellten Aufgaben viel zu umfangreich und kostspielig ist, und wenn es nicht gelingt, die geschaffene Form mit Inhalt zu füllen, so wird es kaum gelingen, die Einrichtung auf die Dauer zu erhalten. Das Ziel muß deshalb darin bestehen, den Grundgedanken der staatlichen Organisation des gewerblichen Lebens wieder aufzugreifen und die Berufsgenossenschaften zu Trägern dieser Organisation zu machen.

B. Arbeitgeber-Schutzverbände.

Liegt bei den hier aufgeführten und ähnlichen Unternehmerverbänden der Zweck zunächst allgemein in der Förderung der Interessen der Mitglieder und des ganzen Gewerbes, so daß der Gegensatz zu den Arbeitern entweder überhaupt[Pg 534] nicht hervortritt oder, wie bei einigen derselben hervorgehoben wurde, freilich unter den Aufgaben des Verbandes ausdrücklich bezeichnet wird, aber doch gewissermaßen als sekundär erscheint, so giebt es nun aber auch andere, die den Kampfkarakter deutlich ausprägen oder wohl gar die Vertretung des gegensätzlichen Interesses der Unternehmer gegenüber den Arbeitern als einzigen Zweck verfolgen.

Der Gegensatz, um den es sich hierbei handelt, berührt naturgemäß in erster Linie die materiellen Interessen, und zwar nicht nur die Höhe des Lohnes und die Dauer der Arbeitszeit, sondern mancherlei Dinge, die, wie Sicherungsvorkehrungen gegen Beschädigungen oder Einrichtungen für die Annehmlichkeit der Arbeiter, naturgemäß von diesen gewünscht werden, während ihre Beschaffung dem Unternehmer Kosten verursacht. Aber der Gegensatz beschränkt sich überhaupt nicht auf das wirtschaftliche Gebiet, und die Streitigkeiten zwischen Unternehmer und Arbeiter haben häufig mit wirtschaftlichen Fragen gar nichts zu thun, sondern sind durchaus ideeller Natur, sie berühren das rein persönliche Gebiet, das Verhältnis der Ueber- und Unterordnung, die Formen des gegenseitigen Verkehrs, insbesondere auch die Frage, wie weit der Arbeiter sich eine Einmischung in seine persönlichen Angelegenheiten, seine politische Ueberzeugung u. dgl. gefallen zu lassen hat. Es ist begreiflich, daß, wenn einmal Vereinigungen der Unternehmer bestehen, sie ihren Einfluß auf diese Angelegenheiten ausdehnen, ebenso wie die Arbeiterverbände den Schutz ihrer Mitglieder auch auf diesem Gebiete bezwecken.

Es ist bezüglich dieser Vereinigungen, als deren hauptsächlichster Typus die „Antistreikvereine“ zu betrachten sind, noch weniger, als hinsichtlich der allgemeinen Uebersicht, möglich, irgend eine Vollständigkeit anzustreben, zumal diese Vereine, um die es sich handelt, meist nur vorübergehender Natur sind, sich bei Ausbruch eines Streites mit den Arbeitern bilden und nach dessen Erledigung wieder auflösen. Immer beruhen sie ausschließlich auf Verträgen, ohne sich zu organischen Bildungen zu entwickeln. Wo unter den Unternehmern bereits solche, insbesondere wirkliche Kartelle bestehen, pflegen sich die bezüglichen Abmachungen an diese anzulehnen und haben dann immer mehr dauernden organischen Karakter. Ich stelle im Folgenden dasjenige Material zusammen, dessen Sammlung auf litterarischem wie auf privatem Wege mir gelungen ist.

Man kann bei diesen Vereinigungen zwei Gruppen unterscheiden, nämlich einerseits solche, die alle Arbeitgeber eines gewissen Bezirkes ohne Unterschied des Gewerbes umfassen, und andererseits solche, die sich auf bestimmte Berufszweige beschränken.

[Pg 535]

a) Allgemeine Arbeitgeberverbände.
1. Arbeitgeberverband Hamburg-Altona[239]

Unter allen Arbeitgeberverbänden am bekanntesten geworden ist der in der Ueberschrift genannte infolge seiner Durchführung des großen Hafenarbeiterstreiks. Wenn in Veranlassung dieses Kampfes in weiten Kreisen der Verband als Vertreter des einseitigsten Unternehmerstandpunktes gilt, so ist das nicht in vollem Umfange berechtigt, mindestens hat er diesen Karakter nicht von Anfang an getragen. Allerdings verdankt er seine Entstehung dem Bestreben der Arbeitgeber, der Ausführung des auf dem Pariser internationalen Arbeiterkongresse 1889 gefaßten Beschlusses wegen der Maifeier entgegenzutreten, und so traten Ende April 1890 eine Anzahl Unternehmer, die zusammen etwa 50000 Arbeiter beschäftigten, zu einem Verbande zusammen, der neben diesem nächsten Ziele sich allgemein die Vertretung der Interessen der Unternehmer gegenüber den Arbeitern zur Aufgabe stellte. Aber dieser Zweck sollte nicht einseitig verfolgt werden, vielmehr schlossen sich dem Verbande eine Anzahl hervorragender Großindustrieller an, deren arbeiterfreundliche und sozialreformerische Gesinnung allgemein bekannt war, während andererseits vor allem die Handwerker den schroffen Kampfesstandpunkt vertraten. Daß der Einfluß der erstgedachten Elemente überwog, beweisen die Statuten, deren wichtigste Bestimmungen lauten:

Der Verband bezweckt die Herbeiführung dauernd friedlicher Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern durch Berücksichtigung berechtigter Ansprüche und Abwehr unberechtigter Forderungen und ungesetzlicher Uebergriffe abseiten der Arbeiter und ihrer Vereinigungen.

Der Verband soll nur denjenigen Zwecken dieser Art dienen, welche durch die Einzelvereine nicht so gut erreicht werden können, alle anderen Zwecke sind auszuschließen. Deshalb soll der Verband nur Beschlüsse über Fragen fassen, welche die Interessen der Gesamtheit der Arbeitgeber beeinflussen oder welche dem Verbande zur Entscheidung übertragen worden sind. Andererseits hat jeder Einzelverein, bevor er Veränderungen von größerer Tragweite in den Arbeitsbedingungen eintreten läßt, die Pflicht, dem Verbande Gelegenheit zu geben, diese Veränderungen seinerseits zur Erörterung zu bringen.

Als Mittel zur Erreichung des Zweckes soll dienen: die Beihülfe zur[Pg 536] Durchführung und Vervollständigung der Gesetze, welche zum Wohle und Schutze der Arbeiter erlassen sind, und die Unterstützung gemeinnütziger Bestrebungen für das Wohl der Arbeiter, dann die Einführung der sogenannten Streikklausel in alle Lieferungsverträge, die Vereinbarung, keine im Streik oder in der Aussperrung befindlichen Arbeiter anderer anzunehmen, die Schaffung einer Darlehnskasse für Streikfälle, die Errichtung von Arbeitsnachweisen und ähnliches.

Ordentliche Mitglieder des Verbandes können sämtliche in Hamburg, Altona, Wandsbeck, Harburg und der Umgegend bestehenden oder sich bildenden Vereinigungen von Industriellen und Gewerbetreibenden werden, welche sich schriftlich zur Innehaltung dieser Satzungen verpflichten.

Der zunächst verfolgte Zweck, die Maifeier zu verhindern, wurde erreicht, indem alle Arbeiter, die sich an ihr beteiligten, entlassen wurden. Daneben wurde zur Unterstützung kleinerer Unternehmer bei Streiks ein Garantiefonds unter Verwaltung eines besonderen Vertrauensrates gegründet, der schon nach wenigen Tagen die Höhe von einer halben Million erreichte. Dagegen scheiterte der Versuch, einen allgemeinen Arbeitsnachweis durchzuführen, an der Verschiedenartigkeit der Verhältnisse in den einzelnen Gewerben.

Das Uebergewicht der sozialreformerischen Richtung zeigte sich in einer seitens des Verbandes bei Beratung des Arbeiterschutzgesetzes im November 1890 an den Reichstag gerichteten Eingabe wegen Schaffung einer gemeinsamen Organisation von Arbeitern und Arbeitgebern, die der herrschenden Auffassung in Unternehmerkreisen so wenig entsprach, daß sie von dieser Seite als „komplett sozialdemokratisch“ bezeichnet wurde.

Zu einer Verschiebung hinsichtlich des Einflusses der beiden Richtungen führte zunächst der im Frühjahr 1891 erfolgte Beitritt der Zigarrenfabrikanten, die soeben erst ihre große Aussperrung gegen ihre streikenden Arbeiter siegreich durchgeführt hatten und den Kampfelementen eine wesentliche Unterstützung brachten. Dies trat auch darin hervor, daß, als es sich nach der großen Choleraepidemie von 1892 darum handelte, ob der Verband sich an der seitens des Staates angeregten Bildung eines Arbeitsnachweises für Gelegenheitsarbeiter gemeinsam mit den Arbeitern beteiligen wolle, dies an die Bedingung geknüpft wurde, daß die Mitwirkung der Arbeiter auf Bildung eines Ausschusses zur Vorbringung von Wünschen und Beschwerden beschränkt werde.

Der Verein Hamburger Reeder trat dem Verbande erst bei nach Ausbruch des großen Hafenarbeiterstreiks, auf dessen Verlauf hier nicht eingegangen werden kann, nur ist hervorzuheben, daß gerade die Reeder es waren, die in den verschiedenen Phasen des Kampfes stets für die mildere Behandlung eintraten. Daß die unversöhnliche Richtung, die eine unerbittliche Niederschlagung des in[Pg 537] der That frivol begonnenen Streiks forderte, das Uebergewicht erlangte, war die Folge des Einflusses der Handwerker und derjenigen größeren Unternehmer, die ungelernte Arbeiter beschäftigten.

In welcher Richtung der Verband sich weiter bewegen wird, ist schwer zu beurteilen. In dem seitens des Geschäftsführers erstatteten Jahresberichte für 1897 wird betont, daß der Verband nach der erfolgreichen Bekämpfung unberechtigter Forderungen und Uebergriffe der Arbeiter sich jetzt daran gemacht habe, „durch Berücksichtigung berechtigter Ansprüche friedliche Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern herbeizuführen“. Aber daß dieses Ziel doch auf wesentlich anderem Wege erstrebt wird, als es der früher seitens des Verbandes vertretenen Grundanschauung der Gleichberechtigung beider Teile entspricht, ergiebt sich aus der Stellung zu der Frage des Arbeitsnachweises. Allerdings ist es durch Errichtung einer Nachweisestelle für Seeleute gelungen, das Unwesen der Heuerbaase wesentlich zu beschränken, aber als die vom Senate eingesetzte Kommission das Ziel verfolgte, mit Hülfe der „Patriotischen Gesellschaft“ einen unparteiischen Arbeitsnachweis für die Stauer, Hafenarbeiter, Ewerführer u. s. w. einzuführen, ist dies an der Weigerung des Verbandes gescheitert, der grundsätzlich den Arbeitsnachweis als Recht der Arbeitgeber in Anspruch nimmt und diesen Standpunkt auch auf der von Dr. Zastrow einberufenen Arbeitsnachweiskonferenz in Karlsruhe gegenüber fast allen Teilnehmern derselben vertreten hat. Seinerseits hat der Verein es in die Hand genommen, die am 5. September 1898 in Leipzig abgehaltene Arbeitsnachweiskonferenz ins Leben gerufen, auf der als Grundsatz aufgestellt wurde, daß der Arbeitsnachweis ein ausschließliches Recht der Unternehmer sei. Der Jahresbericht für 1898 erwähnt ferner, daß es dem Vereine gelungen sei, den „ruinösen“ Entschluß der Hamburger Bäckerinnung, provisorisch den neunstündigen Arbeitstag einzuführen, durch sein Eingreifen rückgängig zu machen. Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie werden als ebenso untrennbar zusammengehörig bezeichnet, wie Sauerstoff und Stickstoff in der Luft. Es scheint also die reaktionäre Richtung im Vereine zunächst noch die Herrschaft zu behalten.

Dem Verbande gehören zur Zeit folgende Vereine an:

„Hamburger Innungs-Ausschuß“, „Baugewerks-Innung Bauhütte >Hamburg's<“, „Verband der Eisenindustrie Hamburgs“, „Verein der Ewerführerbaase von 1874“, „Verein der Hamburger Quartiersleute“, „Caffeehandelvereinigung“, „Verein der Stauer Hamburg-Altona“, „Vereinigung der Gärtner Hamburg-Altona“, „Verein der Chemischen Industrie von Hamburg-Altona“, „Verein der Cigarrenfabrikanten von 1890“, „Verein Hamburger Reeder“, „Verein der Kornumstecherfirmen Hamburgs“, „Verein der Importeure engl. Kohlen“, „Verein der[Pg 538] Kesselreinigerbaase“, „Verein der Schiffsmaler und Schiffsreiniger“, „Verein des Holzgewerbes von Hamburg-Altona“, „Verein der Schiffsmakler und Schiffsagenten“, „Innungs-Ausschuß Altona“, „Verein der Segelmacherbaase von Hamburg-Altona“.

Jeder Verein hat auf je 1000 Arbeiter eine Stimme. Die Vertreter der Vereine bilden die Verbandsversammlung, das einzige Organ des Verbandes, die den Vorsitzenden, die Schriftführer, den Kassenführer und deren Vertreter, sowie die Mitglieder des Vertrauensrates der Darlehenskasse wählt. Der jetzige Vorsitzende ist Hermann Blohm, Inhaber der Firma Blohm & Voß[240].

2. Bund der Arbeitgeberverbände Berlins[241].

Das Beispiel des Hamburg-Altonaer Verbandes hat anregend auch auf die Berliner Industriellen gewirkt, und so ist am 18. Januar 1899 auf Anregung der Vereinigung der Berliner Metallwarenfabrikanten[242] der in der Ueberschrift genannte Bund begründet, dem sofort sechs Vereinigungen beigetreten sind, während von vier anderen der Anschluß bestimmt zu erwarten ist. Der Vorsitzende ist der Fabrikant A. Heegewaldt.

Nach seinen Statuten bezweckt der Bund einen engeren Zusammenschluß der einzelnen Arbeitgeberverbände behufs gemeinschaftlicher Abwehr unberechtigter Forderungen der Arbeitnehmer und gemeinschaftlicher Behandlung derjenigen Fragen, welche im Verhältnis zu den Arbeitnehmern das Interesse der Gesamtheit der Arbeitgeber berühren.

Die Selbständigkeit der einzelnen Vereinigungen oder Verbände soll keineswegs beschränkt werden.

Zur Erreichung dieses Zweckes soll dienen:

Ausschluß derjenigen Arbeiter, welche in den Betrieben einzelner Vereinigungen nicht beschäftigt werden dürfen, von der Beschäftigung in anderen Bundesbetrieben.

Schaffung gemeinschaftlicher Einrichtungen zur gegenseitigen Unterstützung bei Arbeitseinstellungen und ähnliches zur Erreichung der Bundeszwecke.

Mitglieder des Bundes können sämtliche in Berlin und seinen Vororten bestehende Vereinigungen von Arbeitgebern werden, welche durch Arbeitsnachweise und ähnliche Einrichtungen, bei denen eine Mitwirkung der Arbeitnehmer ausgeschlossen ist, eine wirksame Kontrolle über selbige ausüben.

[Pg 539]

Die Aufnahme in den Bund erfolgt auf schriftlichen Antrag.

Ueber die Zulassung entscheidet die Bundesversammlung durch einfache Stimmenmehrheit der Anwesenden.

Die Vereinigung hat durch schriftliche Erklärung sich den Satzungen zu unterwerfen. Gegen Vereinigungen, welche den satzungsmäßig erlassenen Anordnungen des Bundes nachzukommen sich weigern, kann von der Generalversammlung der Ausschluß verhängt werden. Für den Austritt ist eine sechsmonatliche Kündigung vorgeschrieben. In der Generalversammlung hat jede Vereinigung auf je 1000 beschäftigte Arbeiter eine Stimme bis zur Höchstzahl von zehn Stimmen. Nach demselben Maßstabe werden die Verwaltungskosten verteilt. Der Vorstand besteht aus Vorsitzendem, Schriftführer, Schatzmeister und deren Stellvertretern.

Der Bund steht auf gleichem sozialpolitischen Standpunkte wie der Hamburger, insbesondere will er freilich für ungelernte, insbesondere ländliche Arbeiter und Dienstboten kommunale Arbeitsnachweise anerkennen, fordert aber hinsichtlich der gelernten Arbeiter die Arbeitsvermittlung für den Arbeitgeber als Ausfluß seines Rechtes, unlautere Elemente, welche Zucht und Ordnung stören, aus ihren Werkstätten zu entfernen, wobei der Arbeitgeber zugleich die Rechte der arbeitswilligen Arbeiter gegenüber dem immer mehr hervortretenden Terrorismus ihrer Kollegen vertrete.

Es ist übrigens in Aussicht genommen, einen Fonds anzusammeln, aus welchem kleinere Betriebe in Streikfällen zu unterstützen sind.

3. Arbeitgeberverband Flensburg[243].

Auch in Flensburg hat sich im Jahre 1897 ein Arbeitgeberverband gebildet, der nach seinem Statut den Zweck verfolgt, „die Interessen der Arbeitgeber gemeinsam zu vertreten, gegenüber den Organisationen der Arbeitnehmer und deren unberechtigten Forderungen“.

Als Mittel zur Erreichung des Zwecks soll in erster Linie die Verpflichtung dienen, daß kein Mitglied des Verbandes streikende, wegen Streik entlassene oder in Aussperrung befindliche Arbeiter eines anderen Verbandsmitgliedes beschäftigen oder unterstützen darf. — Im Falle eines eingetretenen Streikes hat das davon betroffene Mitglied die Namen sämtlicher Arbeiter sofort dem Vorstande schriftlich zu melden. Der Vorstand hat diese Arbeiterlisten auf dem schnellsten Wege den übrigen Verbandsmitgliedern mitzuteilen. Ist ein solcher Arbeiter irrtümlich von einem Mitgliede angenommen, so ist derselbe sofort wieder zu entlassen. Außerdem soll es dem Vorstande überlassen sein, weitere geeignet scheinende Mittel zu beschließen.

[Pg 540]

Mitglied kann werden jeder selbständige Gewerbetreibende oder Arbeitgeber in Flensburg und Umgegend. Mindestens drei Mitglieder des Vorstandes müssen Vertreter der Großindustrie sein, von den übrigen vier Vorstandsmitgliedern sollen wenigstens drei den Innungen angehören. Die Mitglieder haben ein nach der Arbeiterzahl abgestuftes Stimmrecht. Der Beitrag beläuft sich für jedes Mitglied auf jährlich 1 Mk.; ein Fehlbetrag wird durch eine der Arbeiterzahl entsprechende Umlage aufgebracht. Eine Thätigkeit, über die zu berichten wäre, hat der Verein noch nicht aufzuweisen.

4. Verein Bielefelder Fabrikanten[244].

Derselbe ist aus Anlaß eines Streiks im Jahre 1895 gegründet und verfolgt den Zweck, „die gemeinsamen örtlichen Interessen der Fabrikanten Bielefelds und Umgegend zu vertreten und speziell ungerechtfertigten Arbeitseinstellungen entgegenzuwirken, sowie den von solchen Arbeitseinstellungen betroffenen Fabrikanten moralische und materielle Unterstützung zu gewähren“.

Der Beitritt steht allen Firmen in Bielefeld und Umgegend offen, die mindestens 50 Arbeiter in geschlossenen Räumen beschäftigen.

Das Stimmrecht beträgt für Firmen bis zu 100000 Mk. Löhne eine, für jede weiteren vollen 200000 Mk. Löhne eine weitere Stimme. Die Abstimmung in der Generalversammlung ist auf Verlangen von drei Mitgliedern eine geheime.

Bei ausbrechenden Arbeitseinstellungen oder sonstigen Streitigkeiten mit den Arbeitern, welche zu solchen führen können, ist von dem Betreffenden unverzüglich dem Vorstande Anzeige zu machen, der einen Ausschuß zur Prüfung und Klarstellung des Sachverhaltes einsetzt. Dieser hat das Recht, die Lohnbücher und die Fabrikordnung einzusehen und die Fabrikräume zu betreten. Auf Grund des von ihm erstatteten Berichtes beschließt die Generalversammlung darüber, ob die von den Arbeitern erhobenen Forderungen als berechtigt oder als unberechtigt anzusehen sind. Im ersteren Falle unternimmt der Verein keine weiteren Schritte, im letzteren dagegen unterstützt er den Betroffenen, wenn etwaige von ihm einzuleitende Maßnahmen zur Beilegung des Streiks erfolglos gewesen sind, während der Dauer des Ausstandes nach Ablauf des dritten Tages aus den Vereinsmitteln, doch können diese Unterstützungen bei Zuwiderhandeln gegen die Beschlüsse der Generalversammlung entzogen werden. Die Entschädigung beträgt auf die Dauer des Ausstandes berechnet, jährlich 20% der im letzten Jahre angemeldeten Löhne und Gehälter, doch kann sie durch Beschluß der Generalversammlung erhöht werden. Während eines ungerechtfertigten Ausstandes stellen ferner die Mitglieder des Vereins keine Arbeiter des[Pg 541] vom Ausstande Betroffenen ein und gestatten in den ihnen unterteilten Räumen ihrer Betriebe wissentlich keine Sammlungen zu Gunsten der Ausständigen. Desgleichen ist während der Dauer des Ausstandes der Betroffene nicht berechtigt, Arbeiter eines Vereinsmitgliedes ohne dessen Zustimmung anzustellen.

Während der Dauer des Ausstandes ist der Vorstand von dem zur Prüfung der Sachlage eingesetzten Ausschusse von dem Verlaufe desselben, von den gemachten Vermittelungsversuchen u. s. w. genau unterrichtet zu halten behufs etwa notwendig werdender neuer Stellungnahme des Vereins zur Sache.

Der Ausstand gilt im Sinne des Statuts als beendet, sobald dies durch eine öffentliche Erklärung des Vorstandes festgestellt ist.

In Bezug auf die Entschädigungen gilt der Ausstand als beendet und fallen die Entschädigungen demnach fort, wenn der Betrieb mit mindestens drei Viertel der vor Ausbruch des Ausstandes vorhandenen Zahl des Gesamtpersonals wieder eröffnet wird.

Die Mittel des Vereins werden aufgebracht durch Eintrittsgelder und regelmäßige Beiträge von 1% der anrechnungsfähigen Löhne, doch können noch besondere Umlagen ausgeschrieben werden.

In Thätigkeit ist der Verein bis jetzt erst einmal getreten, wo die betreffende Firma auf bare Unterstützung verzichtete und schließlich eine Einigung erzielt wurde.

5. Bergischer Fabrikantenverein[245].

Veranlaßt durch einen Streik der Feilenhauer hat sich im Jahre 1890 der Bergische Fabrikantenverein in Remscheid gebildet. Ordentliche Mitglieder können nur Fabrikanten der Kreise Remscheid, Solingen, Mettmann, Lennep, Elberfeld, Barmen, Gummersbach, Wipperfürth und der angrenzenden Kreise werden, welche in eigenen Werkstätten industrielle Erzeugnisse herstellen und in der Regel nicht weniger als 10 Arbeiter beschäftigen. Das Stimmrecht richtet sich nach der Zahl der Arbeiter.

Obgleich die Veranlassung zur Gründung ein Streik war, hat der Verein bisher doch überwiegend seine Aufgabe darin gesehen, die Wünsche der Mitglieder in Betreff der Zoll- und Handelsverträge, Verkehrsangelegenheiten, Musterschutz, Patentschutz u. s. w. bei den Verwaltungsbehörden zu vertreten. In das Verhältnis zu den Arbeitern hat er nur insoweit eingegriffen, als er eine Fabrikordnung und Bestimmungen über Zwangssparkassen für jugendliche Arbeiter aufgeteilt und den Mitgliedern als Muster empfohlen hat. Ob der Verein als solcher bei etwaigen Streitigkeiten zwischen den Arbeitern und Arbeitgebern[Pg 542] als Organ der Letzteren auftreten wird, ist nach Ansicht des jetzigen Vorsitzenden zweifelhaft und kaum zu erwarten.

6. Die Streikversicherungsgesellschaft Industria[246].

Eine besondere und ausführlichere Darstellung verlangt die in der Ueberschrift genannte Gesellschaft wegen ihrer hervorragenden sozialpolitischen Bedeutung, obgleich sie schon jetzt nicht mehr der Gegenwart, sondern der Geschichte angehört. Der Gedanke einer Streikversicherung ist nicht neu, einzelne Unternehmungen dieser Art sind schon früher versucht[247], aber nicht allein waren dieselben auf einzelne Gegenden und Betriebszweige beschränkt, sondern sie haben auch eine besondere Bedeutung nicht erlangt. Die „Industria“ wollte dagegen alle Zweige der Industrie und ganz Deutschland umfassen, ja in ihren Statuten ist sogar der Fall vorgesehen, daß Mitglieder außerhalb Deutschlands wohnen. Der Gedanke der Gründung ist zunächst angeregt von dem Fabrikbesitzer O. Weigert in Berlin, und zwar innerhalb des „Bundes der Industriellen“[248], der denn auch die weitere Ausführung in die Hand nahm. Nachdem das eingesetzte Komitee in den Sitzungen vom 8. Juni und 4. September 1897 die einleitenden Schritte beraten und zum Vorsitzenden den Kommerzienrat Wirth in Leipzig ernannt hatte, wurde in der Sitzung vom 28. Oktober 1897 die Gründung endgültig vollzogen.

Die Gesellschaft führte die Firma „Industria, Versicherungs-Aktiengesellschaft gegen Verluste durch Arbeitseinstellung“ und hatte ihren Sitz in Berlin. Gegenstand des Unternehmens ist, „gegen Prämien Versicherung zu gewähren gegen Verluste, welche durch Streiks der im Betriebe beschäftigten Arbeiter dem Betriebsunternehmer zugefügt werden, und eventuell Rückversicherung aller Art zu gewähren“. Das Grundkapital beträgt 5 Millionen Mark. Als Streik im Sinne der Versicherungsbedingungen gilt „jede Arbeitseinstellung und die infolge derselben etwa bedingte Aussperrung“. Die Entschädigungspflicht der Gesellschaft beschränkt sich auf Erstattung der Generalunkosten, des Verlustes an Material und der etwa entfallenden Konventionalstrafen während des Streiks bis zur Dauer von 4 Monaten. Grundsätzlich soll die Entschädigung nur gezahlt werden bei Streiks, bei denen die Spaltung des Unternehmers von der[Pg 543] Gesellschaft als gerechtfertigt anerkannt wird. Deshalb ist vorgeschrieben, daß der letztere bei Ausbruch eines Streiks nicht allein innerhalb 3 Tagen die Gesellschaft benachrichtigen und deren Vermittelung herbeiführen, sondern, wo ein Gewerbegericht oder eine entsprechende Behörde besteht, ein Einigungsverfahren beantragen muß. Nur wenn dieses „infolge Weigerung der Arbeiter überhaupt nicht zustande gekommen ist oder ohne Verschulden des Versicherten zu einer Einigung nicht geführt hat“, wird die Entschädigung gezahlt. Der Schiedsspruch des Einigungsamtes ist für die Gesellschaft bindend, sofern der Versicherte die Zuziehung eines Vertreters derselben als Vertrauensmann nach § 63, Ziff. 3 des Ges. vom 29. Juli 1890 beantragt hat. Ueber die Höhe der Entschädigung entscheidet eine besondere Schätzungskommission. Ansprüche des Versicherten gegen Dritte gehen auf die Gesellschaft über, die auch Prozesse wegen Verfallener Konventionalstrafen auf ihre Rechnung zu führen hat.

Ueber die Berechtigung des Unternehmens ist bei Bekanntwerden des Planes sofort ein heftiger Streit entbrannt. Liegen demselben die Anschauungen zu Grunde, die nicht allein in dem Gründungsberichte behauptet, sondern von dem geistigen Urheber Weigert in einer Versammlung des „Bundes der Industriellen“ vom 15. November 1897 näher ausgeführt sind, so kann nicht allein die Berechtigung des Planes nicht bestritten werden, sondern er verfolgt sogar einen Gedanken, von dem in erster Linie die friedliche Lösung des Interessengegensatzes zwischen Arbeiter und Unternehmer zu erhoffen ist, nämlich der Notwendigkeit der beiderseitigen Organisation. Weigert nimmt seinen Ausgang von der durch die Gewerbeordnung von 1869 erfolgten Aufhebung der früheren Koalitionsverbote und dem Rechte der Arbeiter, zum Zwecke der Erlangung günstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Er behauptet, es würde ein Leichtes gewesen sein, diese von vornherein in friedliche Bahnen zu lenken, wenn einsichtige, humane Arbeitgeber zusammengetreten wären, um Wege zu finden, wie durch eine Organisation der Arbeitgeber sowohl wie der Arbeiter Streitigkeiten aus dem Arbeitsverträge friedlich beizulegen seien. Statt dessen hätten die meisten Arbeitgeber sich mit dem Gedanken der Gleichberechtigung des Arbeiters hinsichtlich des Arbeitsvertrages nicht befreunden können und sich zu jeder Arbeiterorganisation feindlich gestellt. Die Folge dieses Verhaltens sei gewesen, daß die sozialdemokratische Partei die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter ihren politischen Bestrebungen dienstbar gemacht habe und daß Hunderttausende in ihr Lager getrieben seien, die sich unter anderen Umständen niemals zu den Grundsätzen der Sozialdemokratie bekannt haben würden. Jetzt suchten die letzteren das Koalitionsrecht der Arbeiter zu einem Zwecke auszunutzen, für den es nicht gegeben sei, nämlich nicht günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erzielen, sondern ein Mitbestimmungsrecht über Entlassung[Pg 544] bezw. Wiederanstellung von Arbeitern, Werkführern und Beamten, sowie über die Annahme und Ablehnung von Aufträgen seitens der Unternehmer und auf ein ausschließliches Recht die Einführung bestimmter Feiertage zu verlangen, wie sie denn auch die Einführung eines einheitlichen Maximalarbeitstages und die Abschaffung der Akkordarbeit für alle Gewerbe forderten. Trotzdem treffe die Schuld an den jetzigen unerfreulichen Verhältnissen nicht ausschließlich die Arbeiter, sondern ebenso die Arbeitgeber und die öffentliche Meinung, die, anstatt unpolitische Gewerkvereine in ihrem Eintreten für berechtigte Arbeiterforderungen zu unterstützen, vielmehr sie bekämpften und darauf ausgingen, jede Organisation der Arbeiter zu zerstören, hierdurch aber der Sozialdemokratie ungezählte Anhänger zuführten. Aus diesen Gründen sei eine Einschränkung des Koalitionsrechts durch verschärfte Strafgesetze zu verwerfen und die Abhülfe in einer straffen, möglichst einheitlichen Berufsorganisation der Arbeitgeber zu sehen. Diese solle grundsätzlich die Anbahnung eines gedeihlichen Zusammenwirkens mit den Arbeitern bezwecken und deshalb vor allem auf Schaffung allgemein geltender Arbeitsordnungen, auf kostenlosen Arbeitsnachweis, auf Durchführung der Arbeiterausschüsse für alle Betriebe und auf einen Zwang hinwirken, daß bei ausbrechenden Streitigkeiten unter allen Umständen beide Parteien vor einem Einigungsamte zu erscheinen und ihren Standpunkt zu vertreten hätten, wobei gleichzeitig auf eine amtliche Feststellung der dem Streite zu Grunde liegenden thatsächlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen sei, weil, falls wirklich eine Einigung nicht zu erreichen sei, schon diese Klarstellung zu einer Beruhigung der Gemüter führen werde. Um der Aufwerfung von Machtfragen seitens der Arbeiter zu begegnen, solle die Versicherung eintreten.

Man braucht nicht jeden Satz dieser Ausführungen zu unterschreiben und wird dennoch anerkennen müssen, daß dieselben von einem das Durchschnittsmaß der meisten heutigen Unternehmer weit überragenden sozialpolitischen Verständnisse getragen werden, daß sie den modernen Geist atmen, wie er in den kaiserlichen Erlassen vom 4. Februar 1890 zum Ausdruck kommt, auf die sie denn auch ausdrücklich Bezug nehmen.

Aber vielleicht war es gerade dieser Umstand, der das Unternehmen vielen Industriellen verdächtig machte, wenigstens teilte Weigert in der Generalversammlung des Bundes der Industriellen vom 10. Oktober 1898 mit, gerade die Vorschrift über die zwangsweise Anrufung des Einigungsamtes und die damit gegebene Zuziehung von Arbeitern zu gütlichen Verhandlungen habe einen großen Teil des Unternehmertums vor den Kopf gestoßen, indem darin ein unberechtigter Eingriff in die freie Selbstbestimmung und eine Schmälerung der Autorität des Unternehmers gefunden sei. Jedenfalls zeigte sich nach kurzer Zeit daß das Unternehmen dasjenige Maß von Unterstützung nicht fand, auf[Pg 545] das es angewiesen war, und so mußte schon am 7. Juli 1898 die Auflösung der Gesellschaft beschlossen werden. »Ein schöner, stolzer Plan war damit gefallen, die Sozialdemokratie, aus deren Preßäußerungen bei Gründung der „Industria“ deutlich herauszulesen war, mit welcher Angst sie dem Grundstein zu dem neuen, großen, geplanten Gebäude eines festeren Zusammenschlusses des Unternehmertums entgegensah, und die bereits zu dem Mittel eines großen Generalstreiks geraten hatte, behufs Sprengung der neuen Gesellschaft, konnte nunmehr wieder erleichtert aufatmen und triumphierend auf die Zersplitterung ihrer Gegnerschaft hinweisen[249].

Uebrigens hat das Unternehmen auch im Auslande großes Interesse gefunden, und in Dänemark, Schweden und Norwegen haben industrielle Kreise, die schon während des Bestehens der Gesellschaft mit ihr Fühlung gesucht hatten, den Plan aufgegriffen, auf dem bezeichneten Wege vorzugehen.

b) Vereinigungen einzelner Berufszweige[250].
I. Bergbau

1.

Schon nach dem großen Kohlenarbeiterstreik von 1889 hat man im Bergbau begonnen, sich gegen Arbeiterstreiks zu schützen. So besteht seit einer Reihe von Jahren ein Ausstandsversicherungsverband des Oberbergamtsbezirks Dortmund, der Ende 1891 105 Zechen mit einer Förderung von jährlich[Pg 546] 30975847 Tonnen Kohlen, d. h. die Mehrzahl der Zechen und 4/5 der gesamten Förderung umfaßte und ein Vermögen von 1454924 Mk. besaß, auch im Jahre 1891 230000 Mk. an Entschädigungen gezahlt hatte[251].

Da alle Versicherungsgesellschaften der staatlichen Genehmigung bedürfen, so haben die Staatsbehörden Veranlassung gehabt, zu diesen Vereinigungen Stellung zu nehmen. Dies ist geschehen in einem Erlasse des Preußischen Ministers für Handel und Gewerbe vom 14. März 1892, in dem die Notwendigkeit betont ist, Arbeitgeber und Arbeitnehmer hierbei nach gleichen Grundsätzen zu behandeln. Hiernach werden für die Genehmigung folgende Bedingungen aufgestellt:

1. Die Satzungen müssen Vorsorge treffen, daß die Entschädigungen oder Unterstützungen nur solchen Teilnehmern ausgezahlt werden, welche nachweisen, daß sie über die Streitigkeiten, durch welche der Ausstand veranlaßt worden ist, ein Einigungsverfahren vor dem zuständigen Gewerbegerichte beantragt haben, dieses Verfahren aber infolge der Weigerung des Gegners nicht zustande gekommen ist oder ohne Verschulden der den Anspruch Erhebenden zur Beilegung des Streites nicht geführt hat. In Fällen, in denen ein zuständiges Gewerbegericht nicht vorhanden ist, muß der Nachweis geführt werden, daß der Versuch eines Einigungsverfahrens auf einem anderen, näher zu bezeichnenden Wege gemacht worden und ohne Verschulden des den Anspruch Erhebenden erfolglos geblieben ist.
2. Der Aufsichtsbehörde muß die Befugnis eingeräumt werden, von allen Verhandlungen, Büchern und Rechnungen der Kasse selbst oder durch einen Kommissar Einsicht zu nehmen. Die Kasse hat jährlich einen Rechnungsabschluß vorzulegen, aus welchem die Zahl der Mitglieder, die vereinnahmten Beträge und die geleisteten Unterstützungen zu ersehen sind.

2.

Das Beispiel von Dortmund hat an anderen Orten Nachfolge gefunden. So schlossen im Juni 1892 die Oelsnitz-Gersdorf-Lugauer Steinkohlenbergwerke einen Vertrag, nach welchem Arbeiter, die 1. die vorgeschriebene Kündigung nicht[Pg 547] innehalten und auf Wunsch entlassen werden, 2. auf einem Werke, ohne die im § 80 unter b 1–6 des Berggesetzes vom 16. Juni 1868 aufgeführten Gründe für sich zu haben, von der Arbeit wegbleiben oder dieselbe verlassen, 3. nach Erlangung ihres Attestes resp. Lohnrestes sich in so roher oder ungebührlicher Weise betragen, daß ihre Aufführung durch Laufzettel bekannt gegeben wird, 4. aus einem der in § 90 unter a 1–11 des Berggesetzes aufgeführten Gründe sofort entlassen werden, auf keinem der betreffenden Werke bei Konventionalstrafe in Arbeit genommen werden dürfen.

3.

Aehnliche Zwecke verfolgt der „Magdeburger Braunkohlenbergbauverein“, der die Bergreviere Magdeburg und Halberstadt, die Herzogtümer Anhalt und Braunschweig, sowie „etwa unmittelbar anstoßende Gebiete“ umfaßt. Nach dem „Neuen Grundgesetz“ des Vereins vom 10. Juli 1890 bezweckt derselbe „durch geschlossenes Handeln die gemeinschaftlichen Interessen des Braunkohlenbergbaues zu wahren und zu heben, schädigende Einflüsse von demselben abzuhalten, etwa hervortretenden berechtigten oder unberechtigten Arbeiterbewegungen gegenüber Stellung zu nehmen, vorhandenen Mißständen abzuhelfen und überhaupt alles zu tun, was zum Wohle und Nutzen der Braunkohlenindustrie im allgemeinen und in lokaler Beziehung notwendig erscheint“.

Ueber das „Verhalten der Vereinswerke bei Arbeiterausständen“ bestimmt § 10:

„Tritt auf einem Werke eine Arbeitseinstellung ein und gelingt es demselben nicht, zu einer Einigung mit seinen Arbeitern zu gelangen, so ist es verpflichtet, sofort an die benachbarten Werke und an den Geschäftsführer des Vereins von dem Streike Nachricht zu geben und die beteiligten Arbeiter namhaft zu machen, während die Vereinswerke sich verpflichten, solche ihnen namhaft gemachte Arbeiter bis nach der Beschlußfassung der sofort einzuberufenden Vereinsversammlung nicht in Arbeit zu nehmen. Der Generalversammlung steht die Beschlußfassung in Bezug auf die Begegnung der Arbeitseinstellung mit 2/3 Majorität der Anwesenden zu“.

Nach § 11 behalten sich die Vereinswerke vor, „um Arbeiterausständen vorzubeugen, jederzeit ihnen geeignet scheinende Verabredungen und Beschlüsse zu fassen, wie sie andererseits aber auch sich für verpflichtet halten, das Wohl der auf den Vereinswerken beschäftigten Arbeiter in zweckentsprechender Weise durch gemeinschaftliches Vorgehen zu fördern“.

[Pg 548]

II. Metallindustrie.

In der Metallindustrie sind solche Vereinbarungen sehr häufig.

1.

An der Spitze steht der bereits erwähnte „Gesamtverband Deutscher Metallindustrieller“.

Er verfolgt nach § 1 seiner Satzungen von 1891 den Zweck:

„1. das Wohl der in der deutschen Metallindustrie beschäftigten Arbeiter fortgesetzt werkthätig zu fördern,
2. unberechtigte Bestrebungen der Arbeitnehmer, welche darauf gerichtet sind, die Arbeitsbedingungen einseitig vorzuschreiben und insbesondere die zu diesem Zwecke geplanten oder veranstalteten Ausstände gemeinsam abzuwehren und in ihren Folgen unschädlich zu machen,
3. andere wirtschaftliche, die gemeinsamen Interessen berührende Fragen zu beraten und die Anschauungen des Verbandes in geeigneter Weise zur Geltung zu bringen.“

Jeder örtliche Verband oder Verein, der gleiche Zwecke verfolgt, kann als Bezirksverband Mitglied des Gesamtverbandes werden. Mit anderweitigen Vereinigungen verwandter Art sind besondere Abkommen zulässig.

Die Bestimmungen über das „Verfahren bei Ausständen und Sperren“ lauten:

§ 21.

„Die Entscheidung darüber, ob ein Ausstand im Sinne dieser Satzungen vorliegt, bezw. ob zur Bekämpfung eines drohenden oder ausgebrochenen Ausstandes gemeinsame Maßregeln der Arbeitgeber über die Grenzen eines einzelnen Bezirkes hinaus nötig sind, ist Sache des Bezirksvorstandes, in dessen Bezirk der Ausstand droht oder ausgebrochen ist.

Die Frage, ob ein Ausstand als Gesamtausstand oder als Einzelausstand zu behandeln ist, ist ebenfalls durch die betreffenden Bezirksverbände zu entscheiden. Als Grundsatz gilt dabei, daß ein Gesamtausstand für ein bestimmtes Fach vorliegt, wenn der größere Teil der Arbeiter dieses Faches im Bezirke die Arbeit niederlegt, während alle anderen Ausstände als Einzelausstände zu behandeln sind.

In den Satzungen der einzelnen Verbände muß vorgeschrieben sein, daß die Entscheidung über obige zwei Fragen einer Körperschaft, die aus mindestens fünf Mitgliedern besteht, übertragen wird und daß bei der Beschlußfassung die an dem ausgebrochenen Ausstande unmittelbar Betroffenen in der eigenen Sache keine Stimme haben“.

§ 22. „Ist in einem Bezirksverbande ein Ausstand im Sinne des § 21 festgestellt und hält derselbe zur Bekämpfung dieses Ausstandes Maßregeln für[Pg 549] nötig, welche über die Grenzen seines Bezirkes hinausgehen, so hat derselbe unverzüglich dem Gesamtverbande hiervon Mitteilung zu machen.
  Im Falle eines Gesamtausstandes ist dabei anzugeben:
  a) die Ursache des Ausstandes,
  b) die Zeit des Beginnes,
  c) das Arbeitsfach.
  Im Falle eines Einzelausstandes außerdem:
  d) der Name der betreffenden Betriebe,
  e) die Namen und sonstigen Personalien der ausständischen Arbeiter.“
§ 24. „Der Gesamtverband hat nach der gemäß § 22 erhaltenen Anzeige unverzüglich den übrigen Bezirksverbänden die erforderlichen Mitteilungen zu machen und im Falle eines Einzelausstandes die namentlichen Listen der ausständischen Arbeiter (Ausstandslisten) in einer der Mitgliederzahl der Bezirksverbände entsprechenden Anzahl zu übersenden. Die gleichen Mitteilungen bezw. namentlichen Listen hat der Gesamtverband den ihm angeschlossenen anderweitigen Vereinigungen sowie den unmittelbar beigetretenen Einzelmitgliedern zugehen zu lassen.“
§ 25. „Die Bezirksverbände haben ihren Mitgliedern die ihnen gemäß § 24 vom Gesamtverbande zugegangenen Mitteilungen und Listen unverzüglich zuzustellen und sind die Mitglieder verpflichtet, die als ausständig bezeichneten Arbeiter nicht einzustellen. Die gleiche Verpflichtung liegt den dem Gesamtverbande unmittelbar beigetretenen Einzelmitgliedern ob. Dieselbe ist auch den dem Gesamtverbande sich anschließenden anderweitigen Vereinigungen aufzuerlegen.

Erlischt ein Ausstand, so ist dies von dem Bezirksverbande, welcher die Aussperrung beantragt hat, sofort dem Vorstande des Gesamtverbandes anzuzeigen. Dieser hebt durch umgehende Mitteilung an die Bezirksverbände, sonstige Vereinigungen und Einzelbetriebe die Aussperrung der ausständisch gewesenen Arbeiter auf.“

§ 26. „Gegen Arbeiter, welche infolge der von Arbeitern verhängten Sperren die Arbeit niedergelegt haben, ist entsprechend den in § 21–26 enthaltenen Bestimmungen zu verfahren.“
§ 27. „Den dem Gesamtverbande angehörenden Bezirksverbänden und Einzelbetrieben steht das Recht zu, neu eintretenden Mitgliedern gegenüber die in § 25 auferlegte Verpflichtung abzulehnen.“

Neben dem Gesamtverbande giebt es in der Metallindustrie auch noch eine Reihe von örtlich begrenzten Vereinen, die zum Teil dem Gesamtverbande angehören, zum Teil aber auch selbständig sind.

[Pg 550]

Ziele und Aufgaben sind in den Statuten ganz ähnlich, wie in dem Statute des Gesamtverbandes bezeichnet. Aber während nach dem letzteren jeder Ausstand, sofern er nicht beigelegt wird, ohne weiteres die Unterstützung des Verbandes findet, ohne daß dieser in eine Prüfung über die Berechtigung eintritt, ist eine solche Prüfung in mehreren der Einzelverbände vorgesehen.

2.

So bezweckt der „Verband der Metallindustriellen für Nürnberg, Fürth und Umgebung“ nach seinem Statut vom 30. November 1893 freilich einerseits „die Interessen der Arbeitgeber zu wahren und dieselben in Einklang zu bringen mit den berechtigten Bestrebungen der Arbeitnehmer unter thunlichster Förderung dieser Bestrebungen“, auch „Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nach Kräften zu einem beide Parteien befriedigenden Resultat zu führen und zu erledigen, sowie das Wohl der bei den Mitgliedern beschäftigten Arbeiter fortgesetzt werkthätig zu fördern“, andererseits aber auch „unberechtigte Bestrebungen der Arbeitnehmer, welche darauf gerichtet sind, die Arbeitsbedingungen einseitig vorzuschreiben und insbesondere die zu diesem Zwecke geplanten oder veranstalteten Ausstände gemeinsam abzuwehren und in ihren Folgen unschädlich zu machen“. Ueber das Verfahren sind eingehende Vorschriften gegeben. Wird in einem Verbandswerke ein Ausstand oder eine Sperre erklärt, so hat der Besitzer sofort dem Vorstande Mitteilung zu machen. Dieser stellt eine Untersuchung darüber an, ob den Arbeitgeber ein Verschulden trifft, und wenn die Entscheidung dahin ausfällt, daß den Forderungen der Arbeiter nachzugeben sei, so hat der Fabrikant sich dem zu unterwerfen und die beschlossene Bewilligung der gestellten Forderung der Arbeiter durch Anschlag zur Kenntnis der letzteren zu bringen. Im entgegengesetzten Falle tritt der Verband für den Arbeitgeber in der Weise ein, daß er dessen Aufträge auf die übrigen Fabriken verteilt. Weigern sich die Arbeiter, dieselben auszuführen, so sind sie sofort zu entlassen, auch kann der Verband eine teilweise oder allgemeine Arbeitssperre anordnen. Jedes Mitglied hat durch Wechsel eine Kaution zu hinterlegen, die nach der Anzahl der beschäftigten Arbeiter 1000 bis 7000 Mk. beträgt. Bei Zuwiderhandlungen kann bis zu dieser Höhe eine Strafe festgesetzt werden.

3.

Ganz ähnlich ist die Angelegenheit von dem Verbande der Metallindustriellen Magdeburgs und Umgegend geregelt. Der Verband verfolgt noch seinem Statute den Zweck: 1. „die Interessen der Arbeitgeber zu wahren und im Einklang zu bringen mit den berechtigten Bestrebungen der Arbeitnehmer unter thunlichster Förderung dieser Bestrebungen, unberechtigten Forderungen der Arbeitnehmer oder eines besonderen Faches derselben oder gemeinsam entgegenzutreten, selbst wenn auch[Pg 551] nur ein Mitglied des Verbandes davon betroffen wird, jedenfalls aber Streiks oder Sperren der Arbeitnehmer gemeinsam abzuwehren; 2. den Anschluß an bestehende ähnliche Verbände zu suchen und die Einrichtung solcher in anderen Städten anzustreben; 3. Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach Kräften zu einem beide Parteien befriedigenden Resultate zu führen und zu erledigen; 4. wirtschaftliche, die gemeinsamen Interessen berührende Fragen zu besprechen.“

Ueber die näheren Umstände und das Verfahren sind besondere Ausführungsbestimmungen erlassen, aus denen folgendes zu erwähnen ist: „Bei Klagen der Arbeiter über Fabrikeinrichtungen, Fabrikordnungen und Lohnverhältnisse, ist der Fabrikherr zur sorgfältigen Prüfung und eventuellen Abstellung derselben verpflichtet. Bei Meinungsverschiedenheiten hierüber unterwerfen sich die Verbandsmitglieder dem Ausspruche des Ausschusses des Verbandes. In diesem Falle soll der Ausschuß eine Untersuchung einleiten und verpflichtet sein, beide Parteien zu hören.“ Für den Fall, daß es trotzdem zu einem Ausstande oder einer Sperre kommt, sind Bestimmungen getroffen, die sich mit denen des Nürnberger Verbandes fast wörtlich decken. Um die Durchführung der vom Verbande gefaßten Beschlüsse zu sichern, ist jedes Mitglied verpflichtet, im Zuwiderhandlungsfalle für den Kopf der bei ihm beschäftigten Arbeiter eine Vertragsstrafe von 30 Mk. zu zahlen und muß einen Solawechsel in der entsprechenden Höhe hinterlegen. Diese Strafgelder werden benutzt, um die Unkosten und Schäden zu tilgen, die den vertragstreu gebliebenen Mitgliedern durch die Arbeiterbewegung entstanden sind.

4.

Noch ausführlicher sind die Satzungen der Vereinigung der Berliner Metallwarenfabrikanten vom 5. Oktober 1896. Zweck derselben ist:

1. „Beschwerden der Arbeitnehmer auf Antrag zu untersuchen und darüber mit bindender Wirkung für den Arbeitgeber zu entscheiden;
2. auch ohne solchen Antrag, sobald Beschwerden oder Mißhelligkeiten bekannt werden, aus eigener Veranlassung den Versuch der Abhülfe oder der gütlichen Beilegung zu machen;
3. gemeinsame Maßregeln durchzuführen, falls in einem der Vereinigung angehörenden Betriebe die Arbeitnehmer versuchen sollten, Lohnerhöhungen oder sonstige Forderungen vermittels Arbeitseinstellung, Sperre, Verrufserklärung oder auf ähnliche Weise durchzusetzen, wobei aber eine ¾-Mehrheit sämtlicher Mitglieder erforderlich ist;
4. einheitliches Handeln zu bewirken in allen Fragen, die für das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer von grundsätzlicher Bedeutung[Pg 552] sind, z. B. Maximalarbeitstag, Abschaffung der Akkordarbeit, Arbeiterfeiertage, Fabrikordnungen u. dgl.;
5. sich bei Regelung allgemeiner wirtschaftlicher und der auf Wohlfahrtseinrichtungen der Betriebe bezüglichen Fragen zu beteiligen;
6. eine Vereinigung mit anderen Verbänden, die gleiche oder ähnliche Zwecke Verfolgen, einzugehen und anzuregen.“

Das Organ der Vereinigung ist die Vertrauenskommission, gegen deren Beschlüsse eine Berufung an die Generalversammlung stattfindet; doch können auch besondere Beamte angestellt werden. Falls ein Betrieb von einem Streik betroffen wird, so sind diejenigen Mitglieder, die einen gleichartigen Betrieb haben, verpflichtet, dem vom Streik betroffenen Betriebe durch Lieferung der notwendigen Arbeit helfend zur Seite zu stehen. Auf Antrag des betreffenden Unternehmers hat die Vertrauenskommission das Recht, sofort bis zu 10% der gleichartigen Arbeitskräfte der nicht vom Streik betroffenen gleichartigen Betriebe zu diesem Zwecke in Anspruch zu nehmen, auch die Preisfestsetzung vorzunehmen. Die zur Lieferung von Arbeit Verpflichteten haben diese zum Herstellungpreise mit einem Maximalzuschlage von 25% zu liefern. Ausständige Arbeiter dürfen in keinem Betriebe des Verbandes beschäftigt werden. Im übrigen sind die Befugnisse der Kommission, die Strafen und die Kautionsleistung ähnlich geordnet, wie bei dem Nürnberger Verbande, insbesondere hat die Kommission das Recht, die Arbeiter über den Grund ihrer Beschwerden zu vernehmen und falls sie diesem stattgiebt, muß der Unternehmer sich ihrer Entscheidung unterwerfen.

5.

Auf Anregung des Vereins der Metallwarenfabrikanten ist in einer von dem Obermeister zusammenberufenen Versammlung, die am 18. Dezember 1896 tagte, auch eine „Vereinigung der Berliner Klempner, Kupferschmiede, Gas- und Wasser-Installateure und verwandter Berufszweige“ gebildet, die jedem Mitgliede die Beschäftigung ausständiger Arbeiter bei 50 Mk. Strafe für jeden Fall verbietet. Wird ein Mitglied von einen Streik betroffen, so kann die Vertrauenskommission von je 5 bei den anderen Mitgliedern beschäftigten Arbeitern einen zur Lieferung von Streikarbeit beanspruchen, für die höchstens 25% Zuschlag berechnet werden darf. Weigert sich ein Arbeiter, die Streikarbeit zu übernehmen, so wird er als Streikender betrachtet. Um die Durchführung dieser Maßregeln zu sichern, muß jedes Mitglied nach der Zahl der beschäftigten Arbeiter Kaution durch Sichtwechsel hinterlegen.

6.

Auch der Verein der Kupferschmiedereien Deutschlands, der am 10. Mai 1891 begründet ist und seinen Wohnsitz in Hannover hat, bezweckt u. a. „gemeinsame[Pg 553] Abwehr unberechtigter Ansprüche der Arbeitnehmer“ und „geeignete Einwirkung auf die Arbeitgeber zur Erfüllung berechtigter Wünsche der Arbeitnehmer“. „Jedes Mitglied ist verpflichtet, unter keinen Umständen Gesellen Arbeit zu geben, die bei einem Vereinsmitgliede unberechtigterweise die Arbeit niedergelegt haben bezw. in Ausstand getreten sind, solange ihnen nicht durch den Vorstand die Mitteilung zugegangen ist, daß die betreffenden Arbeiter wieder eingestellt werden dürfen. Es ist Sache der Bezirksvereine, die nötige Sicherheit für die Erfüllung dieser Verpflichtung von seiten ihrer Mitglieder zu beschaffen, wenn nöthig durch Einforderung eines zu hinterlegenden Geldbetrages, welcher bei Nichterfüllung der Vorschriften dieses Paragraphen ganz oder teilweise an die Vereinskasse verfällt. Die Frage, ob eine Arbeitseinstellung als unberechtigt anzusehen ist, ist von dem Bezirksvorstande auf Anzeige des betreffenden Vereinsmitgliedes unter genauer Prüfung der Verhältnisse nach Pflicht und Gewissen zu entscheiden. Bei dieser Entscheidung hat, sofern es sich nicht um einen allgemeinen Ausstand handelt, das unmittelbar betroffene Mitglied keine Stimme. Die von einem Ausstande betroffenen Mitglieder haben sofort bei Ausbruch desselben dem Bezirksvorstande eine namentliche Liste der ausständischen Arbeiter zu übergeben. Erkennt der Bezirksvorstand den Ausstand als unberechtigt an, so hat derselbe

a) die Namen der ausständischen Mitglieder sofort den Mitgliedern im Bezirke mitzuteilen,
b) dem Vereinsvorstande sofort eine Abschrift des Verzeichnisses zu übersenden.

In dem Verzeichnisse sind die Personalverhältnisse möglichst genau anzugeben. Der Vereinsvorstand hat die ihm zugehenden Ausstandslisten schleunigst in einer der Mitgliederzahl entsprechenden Anzahl an die übrigen Bezirksvereine zu senden. Bei Ausständen von größerem Umfange hat der Vereinsvorstand mit Hilfe der Bezirksvorstände alle diejenigen Maßregeln zu ergreifen, welche zur Bekämpfung des Ausstandes geboten erscheinen.

Sämtliche Vereinsmitglieder sind verpflichtet, den ihnen bekannt gegebenen Anordnungen des Vereinsvorstandes in solchen Fällen unweigerlich Folge zu leisten. Es ist die Pflicht des Vereinsvorstandes, in Ausstandsfällen nach Möglichkeit auf eine gütliche Beilegung des Ausstandes hinzuwirken. Ist ein Ausstand erloschen bezw. beigelegt, so hat der Vereinsvorstand und die Bezirksvorstände auf möglichst schnellem Wege durch Mitteilung an die Vereinsmitglieder die Aussperrung der Arbeiter aufzuheben.“

7.

Eine fernere Vereinigung dieser Art ist der „Verband Berliner Metallindustrieller“, die nach dem Berichte der Vertrauenskommission vom 16. Februar[Pg 554] 1898 am Schlusse des Jahres 1897 119 Mitglieder mit 24500 Arbeitern zählte. Die in der Generalversammlung vom 16. Dezember 1897 angenommenen Satzungen stimmen, was den Zweck des Verbandes betrifft, im übrigen wörtlich überein mit den bereits mitgeteilten der Vereinigung Berliner Metallwarenfabrikanten (Ziff. 1–6) nur bezeichnen sie als Aufgabe noch weiter die Errichtung und Unterhaltung einer Arbeitsnachweisestelle, zu deren Benutzung die Mitglieder verpflichtet sind. Sobald ein Streikfall vorliegt, ist den Streikenden der Arbeitsnachweis zu versagen. Sonst ist das Verfahren bei Streitigkeiten mit den Arbeitern ebenso geregelt, wie bei den Metallwarenfabrikanten.

8.

Gleiche Zwecke verfolgt auch der im Juni 1897 gegründete Verband der Metallindustriellen Württembergs. Auch er beabsichtigt „eine wirksame Vertretung der gemeinschaftlichen Interessen der Verbandsmitglieder zu organisieren, namentlich zur Abwehr gegen unberechtigte Bestrebungen der Arbeitnehmer, die Arbeitsbedingungen einseitig vorzuschreiben, zugleich aber auch zur Abstellung berechtigter Beschwerden der Arbeiterschaft in den Verbandsfabriken.“ Nach § 11 des Statutes ist jedes Verbandsmitglied, bei dem ein Streik ausbricht, verpflichtet, dem Verbandsvorstande sofort seine Lohn- und Arbeitsverhältnisse darzulegen. Dieser hat erforderlichenfalls nach Anhörung von Arbeitern der betreffenden Fabrik darüber zu beschließen, ob der Streik berechtigt ist oder nicht. Erklärt der Vorstand den Streik für nicht berechtigt, so darf kein Verbandsmitglied einen streikenden Arbeiter in seinem Betriebe beschäftigen und muß einen aus Versehen eingeteilten Arbeiter alsbald wieder entlassen; der Vorstand hat für Bekanntmachung der Namen der streikenden Arbeiter zu sorgen.

9.

Auch der Verband der Metallindustriellen in Halle a. d. S. und Umgegend bezweckt neben der Verfolgung der gemeinsamen Interessen insbesondere die gemeinsame Abwehr derjenigen Forderungen der Arbeiter, welche darauf gerichtet sind, die Arbeitsbedingungen in den Betrieben der Metallindustrie einseitig zu regeln. Jedes Mitglied hat für je 50 beschäftigte Arbeiter eine Stimme. Der Verband hat bei Streitigkeiten eines Mitgliedes mit seinen Arbeitern darüber zu entscheiden, ob die Notwendigkeit einer gemeinsamen Abwehr vorliegt. Die Mitglieder haben von einer Forderung auf Lohnerhöhung oder einer Streikandrohung seitens ihrer Arbeiter sofort dem Vorstande Anzeige zu machen. Kein Mitglied darf innerhalb der nächsten sechs Tage einen wegen Streiks oder Streikandrohung entlassenen Arbeiter eines anderen Mitgliedes beschäftigen. Entscheidet der Vorstand, daß der Fall einer gemeinsamen Abwehr vorliege, so dauert dieses Verbot fort. Die durch Streik betroffenen Mitglieder sollen seitens[Pg 555] der übrigen durch Aushülfelieferungen zu Vorzugspreisen unterstützt werden; weigern sich die Arbeiter, solche Arbeiten auszuführen, so werden sie als Streikende behandelt. Im äußersten Falle ist die Verbandsversammlung befugt, mit ¾ Mehrheit die Einstellung des Betriebes in allen Verbandswerken zu beschließen. Jedes Mitglied hat wegen Erfüllung der Verbandsbeschlüsse eine Sicherheit von 300 Mk. für jede ihm zustehende Stimme zu hinterlegen.

Der Vertrag ist zunächst bis 31. Dezember 1891 abgeschlossen, bleibt aber in Kraft, sofern nicht halbjährliche Kündigung erfolgt.

10.

Weniger ausgearbeitet sind die Statuten des schon im November 1888 gegründeten Vereins Braunschweigischer Metallindustrieller. Zweck des Vereins ist ebenfalls, die Interessen der Arbeitgeber zu wahren und dieselben in Einklang zu bringen mit den berechtigten Bestrebungen der Arbeitnehmer unter thunlichster Förderung dieser Bestrebungen, dagegen andererseits auch unberechtigten Forderungen der Arbeitnehmer oder eines besonderen Faches derselben gemeinsam entgegenzutreten, selbst dann, wenn nur ein einzelnes Mitglied davon betroffen wird. Politische Fragen sind von den Verhandlungen ausgeschlossen. Die zu ergreifenden Abwehrmaßregeln sind nicht bestimmt, sondern es heißt nur, »der Vorstand ist berechtigt, bei außergewöhnlichen Gelegenheiten über das Verhalten des Vereins einen Beschluß zu fassen; er teilt denselben den Mitgliedern rechtzeitig mit und werden diese im Interesse des Vereins thunlichst darnach handeln. Demgemäß findet die Hinterlegung einer Sicherheit nicht statt.

Der Verein hat am 14. März 1890 mit den Formern ein Abkommen getroffen, nach welchem eine gemeinsame Arbeitsnachweisestelle eingerichtet ist unter Leitung eines Mannes, der weder zu den Arbeitgebern noch zu den Formern in näherer Beziehung steht. Eine Kommission aus je zwei Arbeitgebern und Arbeitern führt die Aufsicht; bei Streitigkeiten wird ein neutraler Obmann gewählt.

11.

Auch der Verband der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig will freilich nach § 3 seiner Statuten „Bestrebungen anbahnen und unterstützen, welche dazu führen, die Interessen der Arbeiter in Einklang zu bringen mit den berechtigten Ansprüchen der Arbeitnehmer“. Aber auf der anderen Seite verfolgt er zugleich den Zweck, „unberechtigte Forderungen, insbesondere das Verlangen der Arbeitnehmer, die Arbeitsbedingungen einseitig zu bestimmen, gemeinsam abzuwehren, und zwar selbst dann, wenn sich dieses Verlangen auch nur in einzelnen zum Verbande gehörigen Betrieben bemerkbar macht“. Die Durchführung dieser Maßregeln ist durch eine besondere Instruktion geregelt.

[Pg 556]

III. Brauerei.

Im Brauereigewerbe ist das von den Arbeitern bei Streitigkeiten mit den Unternehmern angewandte Kampfmittel nicht in erster Linie der Streik, sondern der Boykott, der sich aber nicht darauf beschränkt, daß die Arbeiter selbst den Genuß von Bier aus den betreffenden Brauereien unterlassen, sondern daß sie auch Wirtschaften, in denen deren Bier ausgeschenkt wird, nicht besuchen, um diese zum Aufgeben der Geschäftsbeziehung zu zwingen. Aus diesem Grunde ist von Antistreikvereinen der Brauereien nichts bekannt geworben[252], dagegen haben die letzteren den Schutz gegen Boykotts sehr nachdrücklich in die Hand genommen.

1.

Den Anfang machten die Braunschweiger Bierbrauereien, indem sie Ende 1892 einen Verband gründeten, dessen Statuten folgendes bestimmen[253]: „Treten bei einem Mitglied Thatsachen hervor, welche den Ausbruch eines Boykotts wahrscheinlich machen, so ist die fragliche Brauerei verpflichtet, dies sofort unter genauer Darlegung der Verhältnisse dem Vorsitzenden anzuzeigen, welcher seinerseits sofort eine Versammlung, über die bis dahin die strengste Verschwiegenheit zu beobachten ist, einberuft. Alsdann beschließt die Versammlung, ob die schwebende Angelegenheit in Güte oder auf dem Zwangswege zu erledigen ist. Der Majoritätsbeschluß ist für die betroffene Brauerei bindend. Sollte eine gütliche Beilegung nicht erfolgen und infolgedessen von den hiesigen Sozialdemokraten eine Brauerei in Verruf erklärt werden, so treten zum Schutze der Brauerei folgende Bestimmungen in Kraft. Sämtliche Brauereigeschäfte entlassen das gesamte Arbeitspersonal mit Ausnahme bestimmter Personen. Wer von den entlassenen Arbeitskräften welche in Dienst nimmt, zahlt eine Konventionalstrafe von 10000 Mk. Bierfahrer einer anderen Brauerei dürfen bei Meidung der gedachten Konventionalstrafe nicht vor Ablauf von 3 Monaten nach Beendigung des Boykotts eingestellt werden. Von den entlassenen Leuten, insbesondere den Bierfahrern, ist während der Dauer des Boykotts jede Hülfeleistung verboten, selbst eine Begleitung der Geschirre ist auch ohne Lohngewährung oder anderweitige Vergütung nicht gestattet. Wer dies wissentlich zuläßt, zahlt ebenfalls die obengedachte Konventionalstrafe. Die Fälligkeit einer Konventionalstrafe ist durch die Versammlung mit zwei Drittel Majorität auszusprechen. Die Betroffenen haben sich der Abstimmung zu enthalten. Sollte[Pg 557] bei einer Brauerei ohne Wissen der leitenden Persönlichkeit ein Verstoß gegen die vorstehenden Bestimmungen vorkommen, so wird die gedachte Konventionalstrafe erst dann fällig, wenn nicht am Tage nach schriftlicher Aufforderung von seiten des Vorsitzenden dem Mangel abgeholfen ist. Für jeden Hektoliter Bier, welchen die boykottierte Brauerei infolge des Boykotts weniger verkauft, wird der betreffenden Brauerei vom Vereine eine Entschädigung von 3 Mk. gezahlt. Der Ersatzanspruch und demgemäß auch die Beitragspflicht beginnt mit dem Monate, in welchem der Boykott verhängt wird. Existieren Zweifel über das Datum, so bestimmt die Versammlung mit absoluter Majorität, welcher Zeitpunkt als Beginn des Boykotts zu betrachten ist. Das Ende eines Boykotts wird als eingetreten betrachtet: 1. wenn der wirkliche Absatz der boykottierten Firma während zweier aufeinanderfolgender Monate weniger als 6% hinter dem rechnungsmäßig gefundenen Soll-Absatze zurückbleibt, 2. wenn die gegen die boykottierte Firma verhängten Maßregeln betreffenderseits ausdrücklich zurückgenommen werden, 3. wenn die Versammlung es mit Einstimmigkeit (die boykottierte Firma hat sich der Stimmabgabe zu enthalten) beschließt. Wird der Boykott gegen sämtliche verbundene Brauereien erklärt, so tritt die hier vereinbarte Entschädigungspflicht nicht in Wirkung.“

2.

Das Vorgehen der Braunschweiger Brauereibesitzer gab den Anstoß zu einer ähnlichen Thätigkeit in ganz Deutschland. Zunächst beschlossen die norddeutschen Brauerei-Industriellen in einer am 22. September 1894 in Friedrichroda abgehaltenen Versammlung die Gründung eines Abwehrverbandes und eines Garantiefonds zum Schutze gegen Boykotts, dessen Statut angenommen wurde. Wo Lokalverbände nicht bestehen, soll auf ihre Gründung und auf ihren Anschluß an den Zentralverband hingewirkt werden.

3.

Die bayrischen Brauereien sind diesem Beispiele gefolgt, indem aus dem bayrischen Brauerbunde heraus, dessen Mitgliederzahl 126 beträgt, am 21. Januar 1895 ein „Schutzkartell gegen Verrufserklärungen“ gegründet wurde, dem 26 Brauereien beitraten.

Die Art des Eingreifens ergiebt sich aus folgenden Statutenbestimmungen. Betrifft ein Boykott, auf welchen das Statut Anwendung findet, das Mitglied eines Ortsverbandes, so ist die Lieferung von Bier an Kunden der boykottierten Brauerei sämtlichen Mitgliedern des gesamten Landesverbandes während der Dauer des Boykotts und noch fernere 6 Monate lang untersagt, jedoch kann der Vorstand ausnahmsweise die Lieferung gestatten und die Bedingungen, insbesondere die seitens des Lieferanten dem Boykottierten zu leistende Entschädigung[Pg 558] festsetzen. Die Durchführung dieser Bestimmung ist durch eine Vertragsstrafe von 10 Mk. für jedes statutenwidrig gelieferte Hektoliter Bier gesichert, deren Mindestsatz jedoch 1000 Mk. beträgt. Als geliefert gilt schlechthin der auf die betreffende Zeit, bis die Einstellung der Lieferung nachgewiesen ist, berechnete Teil der Jahreslieferung der boykottierten Brauerei. Jedes Mitglied hat für jede 100 Hektoliter des von ihm im Jahre 1894 verbrauchten Malzes fünf Wechsel in Höhe von je 20 Mk. zu hinterlegen.

4.

Am 15. Februar 1895 wurde endlich der für ganz Deutschland bestimmte „Zentralverband deutscher Brauereien gegen Verrufserklärungen“ gegründet, dem zunächst folgende Einzelverbände beitraten: 1. Verband Berliner Brauereien, 2. Verband der Brauereien Leipzigs und Umgegend, 3. Verband der Brauereien Magdeburgs und Umgegend, 4. Verband Braunschweiger Brauereien, 5. Verein der Brauereien von Hannover und Umgegend, 6. Verband der Brauereien von Bremen und Umgegend, 7. Verband der Brauereien von Dresden und Umgegend, 8. der Lokalverband der Brauereien von Halle a. S. und Umgegend. Später haben sich dem Zentralverbande noch eine Reihe anderer Vereine angeschlossen, so daß ihm zur Zeit 15 Lokalverbände angehören. Sowohl der Zentralverband wie die Lokalverbände beschränken sich auf die Abwehr von Verrufserklärungen, gleichviel, ob diese von Arbeitern oder von Gastwirten und anderen Konsumenten ausgehen. Eine Antistreikvereinigung bilden sie deshalb nicht. Den Anlaß zur Gründung gaben, wie schon bemerkt, die in den Jahren 1890 bis 1895 häufig seitens der Sozialdemokratie über einzelne Brauereien verhängten Boykotts, die mit den Lohnverhältnissen meistens nicht in unmittelbarer Beziehung standen, sondern am häufigsten mit Streitigkeiten über Hergabe von Sälen zu Versammlungslokalen zusammenhingen.

Der Zweck des Zentralverbandes ist, diejenigen Entschädigungen, welche die einzelnen Verbände nach Maßgabe ihrer Statuten ihren Mitgliedern zu gewähren haben, gemeinschaftlich zu tragen. Das Recht der Einmischung in den Streit selbst hat er nur, wenn der betreffende Lokalverband darum nachsucht doch muß ihm jederzeit über den Stand der Verhandlungen Auskunft gegeben werden. Bei dem Ersatze findet nur derjenige Schaden Berücksichtigung, den die durch den Boykott betroffenen Mitglieder der Lokalverbände durch verminderten Bierabsatz erlitten haben. Maßgebend für die Berechnung sind die Satzungen der Lokalverbände, doch darf die Entschädigung keinesfalls 3 Mk. für das Hektoliter übersteigen. Während der Dauer eines Boykotts dürfen die Mitglieder eines Lokalverbandes mit Kunden boykottierter Mitglieder anderer Lokalverbände keine neue Geschäftsverbindung anknüpfen, auch sind erstere verpflichtet,[Pg 559] ihre Lieferungen an ihre bisherigen Abnehmer, sofern dieselben gleichzeitig Kunden boykottierter Mitglieder anderer Lokalverbände sind, in denjenigen Grenzen zu halten, welche dem bisherigen Umfange der Geschäftsverbindung mit den betreffenden Abnehmern entsprechen. Wenn Mitglieder der Lokalverbände diesen Bestimmungen zuwider handeln, so haben diejenigen Lokalverbände, denen sie angehören, an den Zentralverband für jedes Hektoliter Bier, welches der Verpflichtung entgegen geliefert ist, eine Strafe von 5 Mk. zu entrichten.

Der Zentralverband hat übrigens auch ein Normalstatut für die Lokalverbände beschlossen, dessen Zugrundelegung er fordert. Aus demselben sind folgende Bestimmungen hervorzuheben:

Jede dem Verbande angehörige Brauerei giebt durch die Thatsache des Beitrittes die Erklärung ab, daß sie von dem Zeitpunkte ab, zu welchen sie Ansprüche der in den folgenden Paragraphen gedachten Art geltend macht, dem Rechte entsagt, Verhandlungen über die Aufhebung eines über sie verhängten Boykotts selbst oder durch einen andern Beauftragten, als den Verband, zu führen. Durch die an den Verband gerichtete Ankündigung, aus einem Boykott Ansprüche geltend machen zu wollen, erteilt die boykottierte Brauerei zugleich dem Verbande Auftrag und Vollmacht, diese Verhandlungen für sie und in ihren Namen zu führen und die Bedingungen der Aufhebung des Boykotts mit verbindlicher Kraft für sie zu vereinbaren. Bei den Verhandlungen hat die boykottierte Brauerei kein Stimmrecht. Ein Verbandsmitglied, welches ohne Ermächtigung des Verbandes Verhandlungen über Aufhebung der Boykotts führt, verliert alle Rechte gegen den Verband. Jede boykottierte Brauerei erhält während der Dauer des Boykotts für dasjenige Quantum Bier, welches sie vom Tage ihrer Anmeldung ab nachweislich infolge des Boykotts weniger als bisher absetzt, für jedes Hektoliter vom Verbande eine im Statut festgesetzte Entschädigung. Die nicht boykottierten Brauereien sind befugt, die Bierlieferungen an die Kunden boykottierter Brauereien zu übernehmen, jedoch verpflichtet, dafür während des Boykotts die festgesetzte Vergütung für jedes Hektoliter an den Verband zu zahlen. Als Kunde gilt der Abnehmer, der wenigstens 2 Monate lang vor Beginn der Boykotterklärung ganz oder teilweise sein Bier von der betreffenden Brauerei bezogen hat, und zwar auch dann, wenn er nach der Boykotterklärung sein Bier eine Zeit lang, jedoch nicht länger als 2 Monate, von einer oder mehreren anderen Brauereien bezogen hat. Ist ein Boykott zufolge Beschlusses des Vorstandes aufgehoben, so muß diejenige Brauerei, welche an Stelle der boykottierten an Kunden der letzteren Bier geliefert hat, diese Lieferungen sofort einstellen. Das Verbot der Weiterlieferung erlischt jedoch nach Ablauf von 3 Monaten seit Aufhebung des Boykotts. Soweit nicht eine besondere Entschädigungspflicht einzelner Brauereien vorliegt, werden[Pg 560] die zu leistenden Entschädigungen durch Beiträge aller dem Verbande angehörigen Brauereien, also einschließlich der Boykottierten, nach dem Maße der im letzten Betriebsjahre versteuerten Malzmengen aufgebracht. Zur Sicherheit für Erfüllung der statutenmäßigen Verpflichtungen hat jede Brauerei einen Solawechsel in Höhe des statutenmäßig bestimmten Betrages für jede 1000 Zentner der versteuerten Malzmenge zu hinterlegen. In dem Normalstatut ist eine Vorschrift darüber nicht enthalten, ob die Vereine sich die Befugnis vorbehalten, über die Frage, ob die boykottierte Brauerei in dem der Boykottierung zu Grunde liegenden Streite im Rechte oder im Unrechte ist, ein Urteil zu fällen, doch nehmen nach der Praxis die Vereine eine solche Befugnis in Anspruch; sie stützen sich auf § 16 der Statuten, nach dem der Ausschluß aus dem Verbande gegen eine Brauerei verfügt werden kann, „die den Zwecken des Verbandes vorsätzlich oder grob fahrlässig zuwiderhandeln, insbesondere ihre Boykottierung absichtlich herbeigeführt haben[254].“

Uebrigens beweisen gerade die Verhältnisse im Brauereigewerbe, daß eine beiderseitige Organisation nicht im geringsten ein Hindernis bildet für ein gutes Verhältnis beider Teile. In Berlin bestand schon seit 1890 ein gemeinschaftlicher Arbeitsnachweis unter Leitung eines aus einer gleichen Anzahl von Vertretern beider Teile gebildeten Kuratoriums. Bei Beginn des großen Boykotts am 15. Mai 1894 wurde derselbe aufgelöst, aber als am 24. Dezember 1894 Friede geschlossen wurde, setzte man den gemeinsamen Arbeitsnachweis sofort wieder in Kraft, indem man gegen früher, wo über den Vorsitz nichts bestimmt war, die Verbesserung einführte, daß man einen unparteiischen Vorsitzenden (Dr. Freund) an die Spitze stellte. Seitdem ist das anfangs auf beiden Seiten vorhandene Mißtrauen so völlig geschwunden, daß bei der am 15. Januar 1899 abgehaltenen öffentlichen Versammlung des Braugewerbes einstimmig die Fortdauer beschlossen wurde.

IV. Textilindustrie.

1.

In der Textilindustrie ist von besonderem Interesse der Verein zur Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen der Tuchfabrikanten zu Cottbus, und da die dortigen Erfahrungen als typisch anzusehen sind, so mögen sie hier etwas ausführlicher wiedergegeben werden[255].

[Pg 561]

Bis 1890 war das Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern ein durchaus friedliches, aber Anfang 1890 brach in einer Fabrik, die sogar infolge der bei ihr eingeführten Kammgarnfabrikation höhere als die Durchschnittslöhne zahlte, der erste Streik aus. Die Fabrikanten führten dies zurück auf Einflüsse zugewanderter sächsischer und österreichischer Weber und die sozialdemokratische Agitation; ein Führer der letzteren soll sogar in einer Versammlung geäußert haben, ein allgemeiner Streik habe keine Aussicht, es müsse vielmehr eine Fabrik nach der anderen abgeschlachtet werden. Diese Aeußerung verursachte große Aufregung unter den Fabrikanten, und es fanden eine Reihe von Versammlungen derselben statt, die aber anfangs kein greifbares Ergebnis haben zu wollen schienen; insbesondere scheute man sich vor der Einräumung eines durch Wechselhinterlegung gesicherten Zwangsrechtes gegen die Mitglieder. Endlich aber siegte die entschiedenere Richtung, und am 18. Januar 1890 wurde ein Statut vereinbart, das in der That eine strenge Disciplin sicherte. Dessen Hauptinhalt ist folgender:

Zweck des Vereines ist, ungerechtfertigten Maßnahmen der in den beteiligten Tuchfabriken beschäftigten Arbeiter, namentlich unberechtigten Arbeitseinstellungen im ganzen oder in einzelnen Fabriken, entgegenzutreten, andererseits aber auch Streitigkeiten zwischen einzelnen Fabrikanten und ihren Arbeitern, welche zu Arbeitseinstellungen führen könnten, nach Möglichkeit abzuhelfen. Die leitende Kommission besteht aus 12 Personen, von denen je 4 seitens der nach der Größe ihres Betriebes in 3 Klassen abgestuften Vereinsmitglieder, der 13. aber, der kein Tuchfabrikant sein darf, von der Kommission selbst gewählt wird. Die Kommission entscheidet in allen Fällen mit einer Mehrheit von mindestens 8 Stimmen; „wird eine solche nicht erreicht, so gilt die den Arbeitern günstigste Meinung als maßgebend.“ Mit derselben Mehrheit kann auch in besonders wichtigen Fällen die Einberufung des ganzen Vereins beschlossen werden, der dann nach den 3 Klassen abstimmt. Die Kommission hat nicht allein auf Antrag eines Vereinsmitgliedes einzugreifen, sondern auch die Arbeiter haben das Recht, Beschwerden, die zu einer Arbeitseinstellung führen könnten,[Pg 562] bei ihr vorzubringen und ihre Entscheidung anzurufen. In beiden Fällen hat die Kommission eine fachgemäße Prüfung vorzunehmen, Mängel, die sich dabei herausstellen, zu beseitigen und insbesondere den berechtigten Klagen der Arbeiter abzuhelfen. Dabei hat sie das Recht, zur Klarstellung des Sachverhaltes die Bücher des beteiligten Fabrikanten einzusehen. Die Kommission tritt mit den Arbeitern in unmittelbare Verbindung. Wollen sich diese der getroffenen Entscheidung nicht fügen, so ist die Kommission berechtigt, „die Einstellung des maschinellen Betriebes der Fabriken sämtlicher Vereinsmitglieder zu beschließen,“ d. h. also, eine Generalaussperrung anzuordnen. Persönlich beteiligte Kommissionsmitglieder sind von der Mitwirkung ausgeschlossen. Zur Sicherstellung der Folgeleistung, zu der jedes Vereinsmitglied sich verpflichtet, ist für jeden von ihm beschäftigten Webstuhl ein Wechselaccept über 300 Mk. zu hinterlegen, und die Kommission hat das Recht, falls sie einen Ungehorsam feststellt, die Inkurssetzung zu beschließen. Der eingegangene Betrag wird zu gemeinnützigen Zwecken verwendet, die von der Kommission zu bestimmen sind. Der Beitritt zu dem Verein ist für ein Jahr bindend, sofern nicht bis zum 1. Oktober Kündigung erfolgt.

Da fast sämtliche Fabrikanten dem Verein beitraten, so verfügte derselbe über eine bedeutende Macht, und der erste Erfolg war, daß die Arbeiter den Streik sofort bedingungslos aufgaben, ohne daß die Kommission in Thätigkeit hätte zu treten brauchen. Auch in der nächsten Zeit kamen keine Streitigkeiten vor, und erst im Mai 1895 hatte die Kommission zum erstenmal Gelegenheit, in einen Streik, der in der größten Fabrik ausgebrochen war, einzugreifen. Sie gelangte damals nach Einsicht der Lohnlisten und längeren Verhandlungen mit Arbeitern zu dem Ergebnisse, den betreffenden Fabrikanten zu weitgehenderer Nachgiebigkeit gegen die Arbeiterforderungen und insbesondere zur Wiederaufnahme aller Streikenden ohne Unterschied zu veranlassen. Umgekehrt war der Erfolg im folgenden Jahre. Am 15. Februar 1896 brachen in mehreren Fabriken Streiks aus, aber die zum Einschreiten aufgeforderte Kommission gelangte nach einigen Versuchen, eine Einigung herbeizuführen, zu der Ansicht, daß es auf einen allgemeinen Streik abgesehen sei. So entschloß sie sich, von dem statutengemäßen Gewaltmittel Gebrauch zu machen, und ordnete an, daß am 21. Februar alle Vereinsmitglieder ihren sämtlichen Arbeitern zum 7. März zu kündigen hätten. Die so eingeleitete Aussperrung dauerte 6 Wochen und konnte nur gegen heftigen Widerstand aufrecht erhalten werden, aber schließlich siegte die Beharrlichkeit, und am 20. April wurde die Arbeit ohne wesentliche Zugeständnisse wieder aufgenommen, nur 50 Agitatoren wurden von der ferneren Beschäftigung ausgeschlossen. So energisch man hier vorgegangen war, so hatte man sich doch nicht auf den vielfach beliebten Standpunkt gestellt, daß[Pg 563] nur die beteiligten Arbeiter selbst zu Verhandlungen legitimiert seien, sondern die Kommission hatte in ausgedehnter Weise auch mit andern Personen, die ihre Vermittelung anboten, ja sogar mit sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten verhandelt. Eine andere interessante Erscheinung dieses Streiks ist, daß nach Angabe der Fabrikanten die Arbeiter das Ziel gehabt haben sollen, den Verein der ersteren zu sprengen; im allgemeinen pflegt der Versuch, die gegnerische Organisation zu zerstören, nur von seiten der Unternehmer auszugehen.

Der Verein hat auch in der seitdem verflossenen Zeit eine erfolgreiche Wirksamkeit entfaltet, insbesondere hat man eine sehr wichtige Maßregel beschlossen, nämlich sowohl Mindestlöhne wie Höchstlöhne aufzustellen, die für jedes Vereinsmitglied verbindlich sind. Dieselben werden allerdings den Arbeitern nicht mitgeteilt, lassen auch einen gewissen Spielraum, aber ihre Ueber- oder Unterschreitung wird mit Verlust des Schutzes des Vereins bestraft. Das Gleiche gilt hinsichtlich einer von der Kommission für alle beteiligten Fabriken eingeführten gemeinsamen Arbeitsordnung, in der unter Beseitigung der früher vielfach üblichen, wesentlich längeren Arbeitszeit diese auf täglich 11 Stunden festgesetzt ist. Gegen die Feier des 1. Mai ist man mit sofortiger Entlassung eingeschritten.

2.

Kann der Verein in Cottbus bereits auf eine ereignisreiche Thätigkeit zurücksehen, so befindet sich dagegen der Fabrikantenverein zu Aachen-Burtscheid noch mitten in einer Entwickelung, deren Abschluß bis jetzt nicht abzusehen ist. Derselbe ist im Jahre 1889 gegründet, indem ihm 65 von den dort vorhandenen 73 Fabrikanten beitraten. Nach seinem Statut vom 16. November 1889 bezweckt er im allgemeinen „die Förderung gemeinsamer Interessen“, hat aber von Anfang an neben anderen Dingen, wie Bekämpfung der Fabrikdiebstähle, Abwehr der auf Wollzoll hinauslaufenden agrarischen Forderungen, Erstrebung einheitlicher Verkaufsbedingungen, Stellungnahme gegen staatliche Belastung der Unternehmerschaft und Herbeiführung günstiger Zollverträge auch die Verhütung ungesetzlicher Arbeitsunterbrechungen durch die Arbeiter zum Gegenstande seiner Thätigkeit gemacht.

Nach dem mir vorliegenden Berichte[256] ist auch hier das bis zu den 60er Jahren sehr patriarchalische Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern durch fremde Weber aus der Pfalz und Sachsen gestört, die insbesondere unter den jungen Leuten Anhang fanden. Allmählich wurde diese Richtung gegen ihr erstes Auftreten etwas gemäßigter und hat mehrfach in Gemeinschaft mit den[Pg 564] christlich-sozialen Vereinen Streiks durchgeführt. Das Ergebnis ist stets da, wo es sich um Lohnerhöhungen handelte, der Sieg der Arbeiter gewesen, nur Streiks, die sich um andere Dinge drehten und zu Kraftproben gebraucht wurden, gingen verloren. Die Arbeitgeber haben hierbei wenig Solidaritätsgefühl bewiesen, so daß regelmäßig derjenige, gegen den sich der Streik richtete, in der Gefahr stand, nicht allein seine Kunden, sondern auch seine eingeschulten Arbeiter an seine Konkurrenten zu verlieren, ja man kam zu der Erkenntnis, daß selbst für den Fabrikationsort die Gefahr entstand, den Betrieb zu Gunsten anderer Orte zu verlieren. Da die Löhne in Sachsen um 2–300 Mk. niedriger sind als in Aachen, so ist die Lage schwierig, und da es bis jetzt nicht gelungen ist, die Arbeitgeber zu einem so kräftigen Mittel, wie die in Cottbus zugelassene gemeinsame Schließung der Betriebe, zu bestimmen, so sahen die Beteiligten sorgenvoll in die Zukunft. In neuester Zeit ist der Vorschlag einer Ausstandsversicherung gemacht, bei der aus gemeinsamen Beiträgen die von einem Streik betroffenen Fabrikanten Schadensersatz erhalten sollen, unter der Voraussetzung, daß der Vorstand ihren Widerstand gegen die Arbeiterforderungen als berechtigt anerkennt und die mit den Arbeitern einzuleitenden Verhandlungen keinen Erfolg haben. Nur hat man bei allen diesen Einrichtungen den Hauptpunkt übersehen, nämlich dahin zu wirken, daß diese Verschiedenheit der Löhne und ihr Einfluß auf die Produktionskosten allmählich beseitigt wird, wie es nur durch eine das ganze Gewerbe umfassende Organisation von Arbeitern und Arbeitgebern geschehen kann.

3.

Dem Beispiele der Tuchfabrikanten in Cottbus sind die Riemenfabrikanten in Barmen gefolgt[257]. Es bestehen dort etwa 120 Riemendrehereien mit etwa 1400 Riementischen und 4000 Gesellen. Schon früher, insbesondere 1890, hatten größere Streiks stattgefunden, bei denen es sich um die Herabsetzung der Arbeitszeit von 11 auf 10 Stunden und Abschaffung der Akkordarbeit handelte. Damals hatten die Fabrikanten durch die bloße Androhung einer allgemeinen Betriebssperre das Scheitern des Streiks herbeigeführt. Im Frühjahre 1893 wiederholte sich der Streik und führte dieses Mal zu der Bildung einer festen Vereinigung der Arbeitgeber, indem am 25. Mai 1893 der „Verein der Riemendrehereibesitzer und Fabrikanten von Flechtartikeln in Barmen-Elberfeld und Umgegend“ gegründet wurde.

Nach dem Statute bezweckt der Verein „die Verhütung und Bekämpfung von Arbeiterausständen in den Betrieben der Mitglieder und deren gegenseitige[Pg 565] Unterstützung während der Dauer solcher Ausstände“. Die Mitglieder haben für jeden Riementisch 12 Mk. einzuzahlen; sobald der Fonds unter diesen Betrag sinkt, ist er wieder zu ergänzen. Jedes Mitglied hat einen bei ihm ausbrechenden Streik beim Vorstande anzumelden und erhält dann auf dessen Beschluß nach Ablauf einer Wartezeit von einer Woche wöchentlich für jeden Tisch bezw. Arbeitstag 2 Mk. Entschädigung. Der Beschluß des Vorstandes ist von einer Prüfung „der Lage des Streiks“ abhängig, doch ist nicht bestimmt, welche Voraussetzungen für die Bewilligung oder Verweigerung der Entschädigung maßgebend sind. „Dauert der Streik bei einem oder mehreren Mitgliedern länger als 5 Wochen, so muß die allgemeine Betriebssperre bei allen Mitgliedern ohne vorherigen Generalversammlungsbeschluß eintreten, es sei denn, daß die vom Streik Betroffenen auf die Verhängung der Sperre verzichten. Dieselbe kann aber auch durch den Beschluß einer außerordentlichen Generalversammlung verhängt werden und muß dann nach 14 Tagen eintreten.“ „Während der Betriebssperre müssen die Riementische sämtlicher Mitglieder, soweit dieselben nicht von letzteren selbst bedient werden können, stillgesetzt werden. Meister dürfen beschäftigt werden, allen übrigen Arbeitern und Arbeiterinnen dagegen ist während der Dauer der Sperre der Zutritt zur Fabrik zu untersagen.“ Jedes Mitglied ist zur Durchführung der Beschlüsse verpflichtet und hat zur Sicherung eine Vertragsstrafe von 1000 Mk. für jeden Tisch in Wechseln zu hinterlegen.

Der Vorstand des Vereins besteht aus 3 Fabrikanten und 3 Riemendrehereibesitzern; ein siebentes Mitglied mit beratender Stimme wird von der Handelskammer in der Person ihres Sekretärs entsandt.

Die Gründung des Vereins hatte zur Folge, daß nicht allein der damalige Streik, nachdem lediglich die Sperre angedroht war, binnen kurzem erfolglos erlosch, sondern daß auch seitdem ein weiterer Streik nicht stattgefunden hat.

4.

Einen wesentlich anderen Karakter hat der „Wupperthaler Riemendreher-Verband“. Bezweckte derjenige in Barmen-Elberfeld den Schutz gegenüber den Arbeitern, so will der Wupperthaler Verband statt dessen die Interessen der Riemendrehereibesitzer, die im wesentlichen Hausindustrielle sind, gegen die Fabrikanten schützen, von denen die ersteren ihre Aufträge erhalten. Nach dem Statut ist der Zweck des Verbandes, »die Interessen des Gewerbes in allen Teilen wahrzunehmen, insbesondere das Herabdrücken der Lohnpreise zu verhindern und der Ueberproduktion vorzubeugen. Die Mitgliedschaft steht jedem Riemendrehereibesitzer offen, der einen unbescholtenen Namen hat. Die Wirksamkeit[Pg 566] des Verbandes läuft auf ein kollektives Verhandeln hinaus, indem die Vereinbarungen mit den Fabrikanten mit bindender Kraft für jedes Mitglied seitens des Verbandes getroffen werden. Die Durchführung wird durch Hinterlegung von Wechseln in Höhe von 100 Mk. für jeden Riementisch gesichert. Ursprünglich hatte der Verband, der im April 1890 mit 69 Mitgliedern gegründet wurde, sich sogar das Ziel gesteckt, den Zusammenschluß des ganzen Gewerbes durch den Grundsatz der Ausschließlichkeit[258] zu erzwingen, indem wenigstens für den Hauptbetriebszweig, die Herstellung glatter Litzen, den Mitgliedern verboten war, für Fabrikanten zu arbeiten, welche Riemendreher beschäftigen, die nicht zum Verbande gehören, doch ist diese Bestimmung in der Generalversammlung am 3. März 1892 wieder aufgehoben.

V. Tabakindustrie.

Am 6. November 1890 hat sich für Hamburg, Altona, Ottensen und Umgegend ein Verein der Zigarrenfabrikanten gebildet zum Zweck gemeinschaftlicher Abwehr von unbilligen Forderungen seitens der Arbeiterorganisationen. Die Mitglieder garantieren sich gegenseitig gegenüber Eingriffen, welche von Arbeitervereinigungen versucht werden sollten, die Aufrechterhaltung ihrer geschäftlichen Einrichtungen, die Bewahrung ihres Hausrechts, die Freiheit ihrer Dispositionen, sowie Schutz ihrer sonstigen etwa ungerecht angegriffenen Interessen. Die Einrichtung von Institutionen, welche eine friedliche Beilegung von Konflikten anstreben, sind in erster Linie ins Auge gefaßt, aber falls friedliche Mittel nicht anwendbar erscheinen, sind energische Maßregeln zu ergreifen. Es wurde der Grundsatz aufgestellt, daß Arbeiter, welche Fachvereinen nicht angehören, zu schützen sind. Andererseits soll die Freiheit der Arbeiter, Vereinigungen anzugehören, nicht prinzipiell angetastet werden; darauf bezügliche Forderungen dürfen eventuell nur vorübergehend gestellt werden. Jedes Mitglied hat bei Zuwiderhandlung gegen Vereinsbeschlüsse eine Konventionalstrafe von 5000 Mk. verwirkt und eine Sicherheit in dieser Höhe zu hinterlegen. Der jährliche Beitrag beläuft sich auf 150 Mk., alle Mitglieder haben gleiches Stimmrecht.

[Pg 567]

VI. Baugewerke[259].

Die Baugewerke nähern sich durch ihren Umfang der Großindustrie und haben deshalb, obgleich sie handwerksmäßig betrieben werden, doch im wesentlichen deren Verhältnisse. Ist es hiernach verständlich, daß auch der Gegensatz zwischen Arbeitern und Arbeitgebern sich hier in gleicher Weise, wie in der Industrie, geltend machte, so hat derselbe thatsächlich schon einen besonders hohen Grad erreicht und Arbeitsstreitigkeiten, insbesondere Streiks und Aussperrungen, sind in den Baugewerken eine sehr häufige Erscheinung. Naturgemäß hat sich deshalb hier auch in größerem Umfange die Organisation der Arbeitgeber entwickelt, ja es ist in neuester Zeit mit Erfolg versucht, dieselbe über ganz Deutschland zu erstrecken und einen einheitlichen Verband zu schaffen. Im folgenden sollen zunächst die bestehenden Einzelorganisationen, soweit mir das Material zugänglich war, vorangestellt und dann die bisherigen Schritte zur Schaffung eines Gesamtverbandes mitgeteilt werden.

A. Oertliche Vereine[260].

1.

Der Arbeitgeberbund für das Maurer- und Zimmerergewerbe von Berlin und den Vororten verfolgt noch seinen Statuten den Zweck, „auf gewerblichem Gebiete, namentlich bei Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen mit den Arbeitnehmern, sich gegenseitig mit Rat und Hülfe zur Seite zu stehen, die Forderungen der Arbeitnehmer zu prüfen und im Falle der Berechtigung zur allseitigen Anerkennung zu bringen, unberechtigten Forderungen aber in wirksamer Weise entgegenzutreten“. Treten an ein Mitglied Forderungen heran, die zu einer Bausperre oder zu einem Ausstande Veranlassung geben können, so ist unverzüglich dem Vorstande Mitteilung zu machen. Erkennt dieser die Forderung als berechtigt an, so ist dem Mitgliede die Regelung der Angelegenheit mit seinen Arbeitern anheimzugeben, wobei der Vorstand die Vermittlerthätigkeit übernehmen kann. Entgegengesetztenfalls tritt der Verein mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln für das Mitglied ein. Diese Mittel können[Pg 568] neben anderen Vorkehrungen, deren Kosten aus dem Vereinsvermögen zu bestreiten sind, insbesondere auch darin bestehen, daß die Entlassung sämtlicher auf den Bauplätzen der Vereinsmitglieder beschäftigten Maurer und Zimmerleute angeordnet wird. Jedes Mitglied, welches einem solchen Beschlusse zuwiderhandelt, verwirkt eine Strafe im zehnfachen Betrage seines Jahresbeitrages. Dieser ist gleich 20% der im letzten Jahre gezahlten anrechnungsfähigen Löhne, mindestens aber 10 Mk. Nach der Höhe der Beiträge ist auch das Stimmrecht abgestuft, und zwar von 1 bis 6 Stimmen. Der Verein steht grundsätzlich auf dem Standpunkte, seine Unterstützung nicht zu gewähren, wenn nicht in dem Bauvertrage die Streikklausel d. h. eine Bestimmung aufgenommen ist, daß im Falle eines Streiks die Ablieferungsfrist sich um die Dauer des Streiks verlängert.

Der Verein beschränkt sich aber nicht auf die Regelung ausgebrochener Streitigkeiten, sondern will zugleich auf Gleichmäßigkeit der Arbeitsbedingungen hinwirken. Deshalb hat die regelmäßige jährliche Generalversammlung den ortsüblichen Höchstbetrag der Zeitlöhne zu bestimmen, die für das nächste Jahr von den Vereinsmitgliedern an Maurer und Zimmerleute gezahlt werden dürfen; auch zur Festsetzung der übrigen Arbeitsbedingungen ist die Generalversammlung befugt; und die Mitglieder sind bei Vermeidung der bereits erwähnten Vertragsstrafe zu deren Innehaltung verpflichtet. Dem Verein sind bis jetzt von 1200 Baugewerktreibenden nur etwa 250 beigetreten.

2.

Bund der vereinigten Arbeitgeber der Maurer, Zimmerer und Bauarbeiter in Brandenburg a. H. Derselbe erstrebt: 1) Schutz seiner Mitglieder gegen Uebergriffe, von welcher Seite sie auch kommen mögen. 2) Solidarität der Arbeitgeber bei etwa eintretenden unberechtigten Arbeitseinstellungen, Sperren und Verrufserklärungen. 3) Möglichst einheitliches Handeln in allen Fragen, welche für das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern von grundsätzlicher Bedeutung sind. 4) Vereinigung mit anderen Verbänden, welche gleiche oder ähnliche Zwecke verfolgen. 5) Vertretung von Rechtsstreitigkeiten, die ein allgemeines Interesse für Bauarbeitgeber haben. Beitrittsberechtigt ist jeder unbescholtene Arbeitgeber der Maurer, Zimmerer und Bauarbeiter in Brandenburg a. H. und Umgegend. Jedes Mitglied hat eine Stimme. Der jährliche Beitrag ist 10 Mk. Die Mitglieder haben den von der Generalversammlung mit zwei Drittel aller zum Bunde gehörigen Firmen gefaßten Beschlüssen unweigerlich Folge zu leisten.

Von ausbrechenden Streiks hat der Betroffene sofort den Vorstand zu benachrichtigen, der sogleich einen Bundesbeschluß herbeizuführen hat; bis dahin dürfen die Mitglieder keine Ausständigen beschäftigen. Auf Grund eines nach[Pg 569] genauer Untersuchung zu erstattenden Berichts des Vorstandes hat die Generalversammlung endgültig Beschluß zu fassen. Bei Nichterfüllung der satzungsgemäßen Verpflichtungen kann Ausschluß aus dem Bunde erfolgen.

3.

Verein bremischer Baugewerksmeister. Derselbe bezweckt einerseits „Wahrung und Förderung der Interessen des bremischen Baugewerkmeisterstandes im allgemeinen“ und will andererseits „die gemeinsamen Forderungen der Arbeiter derjenigen Gewerbe, welche dem Verein angehören, prüfen und im Falle der Berechtigung zu allseitiger Anerkennung bringen, unberechtigte Forderungen aber mit dem ganzen Gewichte der Vereinigung zurückweisen“. Mitglied können alle rechtschaffenen Baugewerksmeister, sowie hierbei interessierte Geschäfte und Industrielle werden. Neben dem Eintrittsgelde und dem jährlichen ordentlichen Beitrage von je 3 Mk. ist jedes Mitglied verpflichtet, im Bedarfsfalle einen seinen Verhältnissen entsprechenden außerordentlichen Beitrag zu zahlen, der vom Vorstande festgesetzt wird.

Werden in einem dem Vereine angehörigen Gewerbe Forderungen der Arbeitnehmer, die zu einer Werkstattsperre, einem partiellen oder allgemeinen Streik Veranlassung geben können, gestellt, so ist sofort dem Vorstande des Vereins Mitteilung zu machen. Dieser hat gemeinschaftlich mit der dazu berufenen Kommission dieselben vorzuprüfen auch schleunigst eine Generalversammlung zu berufen und derselben zu berichten.

Erkennen der Vorstand und die Kommission und später die Generalversammlung die Forderung der Arbeitnehmer als berechtigte an, so ist dem betreffenden Gewerbe eine Regelung mit seinen Arbeitern in Gemeinschaft mit der Kommission aufzugeben und zu überlassen; sind die Forderungen unberechtigte, so tritt der Verein voll und ganz für das betroffene Gewerbe ein und kann dafür eventuell auch die außerordentlichen Beiträge benutzen.

Wird ein Streik von seiten der Arbeitnehmer eines oder mehrerer Gewerbe angekündigt, oder ist derselbe bereits ausgebrochen, so kann die sofort zu berufende Generalversammlung auf Antrag des Vorstandes und der dazu berufenen Kommission eine teilweise Entlassung der Arbeiter, aber auch eine Schließung sämtlicher Bauplätze und Werkstätten seiner Mitglieder innerhalb acht Tagen bis zur Beendigung des Streiks beschließen. Ungesetzliche Forderungen, Drohungen der Arbeiter sind auf Kosten des Vereins gerichtlich zu verfolgen.

Auf Beschluß der Generalversammlung hin können einzelne Gewerbe oder Gewerbetreibende (Mitglieder) auf bestimmte Zeit von der Befolgung dieses Beschlusses vorläufig entbunden werden; dieselben müssen auf ihren Antrag[Pg 570] davon entbunden werden, wenn mehr als die Hälfte der von dem betreffenden Gewerbe beschäftigten Arbeitern von Nichtvereinsmitgliedern beschäftigt werden.

Jedes Vereinsmitglied hat Arbeiter, die nachweislich durch Geldbeiträge Streikende unterstützen, sofort zu entlassen.

Um unnötige Härten zu vermeiden, kann tüchtigen Arbeitern, die nachweislich sich von allen Streikbewegungen fern halten und solche auch nicht mit Geldbeiträgen unterstützen, auf Antrag ihres Arbeitgebers durch Beschluß der Kommission das Weiterarbeiten zu den früheren Arbeitsbedingungen gestattet werden; doch hat der Arbeiter auf einem vom Verein zu liefernden gedruckten Formulare eine dahingehende Erklärung an den Verein schriftlich abzugeben.

Kein Vereinsmitglied darf Arbeitern, die infolge eines Streiks von einem anderen Vereinsmitgliede entlassen sind, innerhalb acht Wochen nach Beendigung des Streiks Beschäftigung geben ohne Bewilligung des letzteren.

Um den Verein zu stärken, hat jedes Vereinsmitglied thunlichst nur mit und für Vereinsmitglieder arbeiten zu lassen.

Bis zur Aufhebung der verhängten Sperre oder wenn in einem Gewerbe ein Streik ausbricht, dürfen die Mitglieder während dieser Zeit keine Aufträge bei Nichtmitgliedern ausführen lassen. Wer die statutenmäßigen Verpflichtungen verletzt oder einem gefaßten Beschlusse zuwiderhandelt, kann in eine Strafe bis zu 100 Mk. im Einzelfalle genommen werden.

4.

Verband der Baumeister und Bauunternehmer in Dresden zum Schutze gegen Streiks und agitatorische Bestrebungen der Arbeitnehmer.

Arbeitnehmer, und zwar Maurer, Zimmerleute und Arbeiter, welche sich als wühlerisch erweisen, oder durch Worte, oder durch ihr Verhalten die übrigen Arbeiter gegen Verbandsmitglieder aufreizen, sind in eine Liste (Liste der von Verbandsmitgliedern nicht zu beschäftigenden Leute) einzutragen und dürfen von keinem anderen Verbandsmitgliede wieder in Arbeit genommen werden.

Die Namen solcher Arbeitnehmer sind dem Komitee unverzüglich anzuzeigen, von denselben aber eventuell nach Feststellung der Frage, ob die Anzeige begründet war, in die Liste einzutragen und sofort brieflich sämtlichen Verbandsmitgliedern mitzuteilen.

Keines der Verbandsmitglieder darf seinen Arbeitnehmern bei einer an die Verbandskasse zu zahlenden Konventionalstrafe von 1000 Mk. für jeden Kontraventionsfall mehr als die durch den Verband jeweilig festgestellten Maximallöhne gewähren.

Als Maximallohn wird bis auf weiteren Beschluß der Verbandsversammlung je nach der Güte der Arbeit festgesetzt:

[Pg 571]

a) für Maurer und Zimmerer bis zu 35 Pf. pro Stunde,
b) für Arbeiter bis zu 25 Pf. pro Stunde.

Bei partiellen Streiks ist dem betroffenen Verbandsmitgliede von den übrigen die notwendigste Aushülfe durch Zuweisung eigener Arbeiter zu gewähren. Die Bestimmung erfolgt durch das Komitee. Ueber Streitigkeiten unter den Mitgliedern hinsichtlich der Satzungen entscheidet das Komitee als Schiedsgericht. Die Kosten der Verwaltung werden nach Verhältnis der gezahlten Löhne getragen. Die Vereinsmitglieder verpflichten sich, in den von ihnen abzuschließenden Verträgen möglichst den Auftraggebern gegenüber sich auszubedingen, daß sowohl bei Streiks der Arbeiter als bei den vom Verbande beschlossenen Aussperrungen die vereinbarten Konventionalstrafen während dieser Zeit nicht verfallen.

Wenn die Arbeiter sich weigern, so sind sie binnen drei Tagen zu entlassen und nicht eher wieder zu beschäftigen, als bis der Streik beendigt ist. Bei besonders dringlichen Arbeiten kann von dem Komitee eine Ausnahme bewilligt werden. Ebenso sind Poliere, Lehrlinge, von auswärts herangezogene Arbeiter und solche Leute ausgenommen, die mindestens 5 Jahre ununterbrochen bei demselben Arbeitgeber in Arbeit gestanden und sich niemals an agitatorischen Bestrebungen beteiligt haben. Uebertretungen dieser Vorschriften werden mit 300 Mk. bestraft. Die Verbandsmitglieder verpflichten sich, ihre Arbeiter nur unter beiderseitigem Ausschluß der Kündigung anzunehmen.

5.

Freie Vereinigung der Baugeschäftsinhaber in Greiz. Jedes Mitglied ist verpflichtet: 1. an der elfstündigen Arbeitszeit festzuhalten; 2. keinen höheren Stundenlohn an Maurer- und Zimmergesellen zu zahlen, als von der Vereinigung beschlossen ist; 3. keinen Gesellen einzustellen, der nicht im Besitze eines Entlassungsscheines seines früheren Arbeitgebers ist, falls dieser der Vereinigung angehört; 4. solche Gesellen, die von der hiesigen „Vereinigung“ oder von einer anderen, dem Arbeitgeberverbande der beiden Fürstentümer Reuß und der Kreishauptmannschaft Zwickau angehörenden Korporation als Streiker, Streikführer oder Agitatoren bezeichnet werden, nicht einzustellen und auf ergangene Benachrichtigung sofort zu entlassen bezw. ihnen zu kündigen; 5. von einer bei ihm eingetretenen Arbeitseinstellung innerhalb 24 Stunden unter Namhaftmachung der streikenden Gesellen dem Vorstande der „Vereinigung“ Anzeige zu machen und bekannte „Aufwiegler“ unter seinen Gesellen dem Vorstand als solche zu bezeichnen.

Der Vorstand hat über die Entlassung oder Weiterbeschäftigung derselben Beschluß zu fassen.

[Pg 572]

Wenn über die Bauten eines Mitgliedes der „Vereinigung“ die sogenannte Sperre von den Gesellen verhängt werden sollte, so sind sämtliche übrigen Mitglieder gleichen Gewerbes durch Abgabe von Leuten zur Unterstützung verpflichtet.

Diese Verpflichtung trifft zunächst alle diejenigen, welche mehr als 8 Gesellen des betreffenden Gewerbes beschäftigen und zwar im Verhältnis zur Gesamtzahl ihrer Gesellen, sofern sich nicht Mitglieder freiwillig zur Abgabe von Gesellen bereit erklären.

Nimmt die Sperre bezw. der Ausstand einen solchen Umfang an, daß eine ausreichende gegenseitige Unterstützung nicht mehr möglich, so hat die Generalversammlung der „Vereinigung“ darüber zu entscheiden, ob sämtliche Gesellen zu entlassen sind bezw. ihnen zu kündigen ist.

Diese Aufkündigung hat jedoch zu erfolgen, sobald die Hälfte der bei der „Vereinigung“ beschäftigten Gesellen in den Ausstand eingetreten ist, sofern nicht durch Dreiviertel-Mehrheitsbeschluß der Generalversammlung eine weitere Hinausschiebung dieses Zeitpunktes bestimmt wird.

Verstöße gegen die Verbandspflichten haben die sofortige Präsentation des hinterlegten Sichtwechsels zur Folge. Ob eine Uebertretung oder ein Verstoß vorliegt, darüber entscheidet nach vorausgegangener Untersuchung der Vorstand endgültig und zwar mit einfacher Stimmenmehrheit.

6.

Arbeitgeberverband des Maurer- und Zimmerergewerbes in Magdeburg. Der Verband bezweckt die Herbeiführung dauernd friedlicher Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch Berücksichtigung berechtigter und Abwehr unberechtigter Forderungen und ungesetzlicher Uebergriffe, insbesondere Streiks der Arbeitnehmer und ihrer Vereinigungen.

Alle anderen Zwecke sind ausgeschlossen.

Als Mittel zur Erreichung des Verbandszweckes sollen dienen:

1. die Beihülfe zur Durchführung und Vervollständigung der Gesetze, welche zum Wohle und Schutze der Arbeitnehmer erlassen sind, die Unterstützung gemeinnütziger Bestrebungen für das Wohl der Arbeitnehmer und die Errichtung von Arbeitsnachweisen;
2. die Vereinbarung,
  a) keine im Streik oder in der Aussperrung befindlichen Arbeitnehmer anderer anzunehmen,
  b) für den Fall des Ausbruchs eines partiellen Streiks durch Einsichtnahme der Lohnbücher der betreffenden Arbeitgeber und sonstwie[Pg 573] die Gründe des Streiks, sowie die Schuld oder Schuldlosigkeit der Arbeitgeber an demselben festzustellen,
  c) bei Ermittelung des Bestrebens der Arbeitnehmer, durch unberechtigte Forderungen und Uebergriffe die Beschlüsse des Verbandes zu durchbrechen, offiziell den Ausbruch des Streiks in den betreffenden Geschäften zu verkünden, unverzüglich vermittelnd einzugreifen, unter Benutzung des angesammelten Betriebsfonds, also für Rechnung des Verbandes durch Mittelspersonen, Annoncen und auf sonst zweckdienlich erscheinendem Wege Ersatzarbeitnehmer für die streikenden heranzuziehen und
  d) vom Zeitpunkte des Streikausbruches ab bis zu dessen Beendigung, während welcher Zeit von den Geschäftsinhabern Arbeitnehmer direkt nicht angestellt werden dürfen, sondern bei Nachfrage an den Verbandsvorstand zu verweisen sind, diese Arbeitnehmer anzunehmen und den vom Streik betroffenen Geschäften nach Verhältnis und Bedürfnis zu überweisen;
3. die Verpflichtung der Verbandsmitglieder,
  a) keine Arbeiten zu übernehmen, welche bereits seitens eines anderen Verbandsmitgliedes in Angriff genommen waren, deren Fertigstellung aber durch den Ausbruch des Streiks verhindert worden ist,
  b) falls auf einem, unter Beteiligung mehrerer Verbandsmitglieder auszuführenden Bau nur bei einem der letzteren gestreikt wird, in schonendster kollegialer Weise auf den vom Streike Betroffenen Rücksicht zu nehmen,
  c) sich für den Fall, daß ein partieller Streik nicht innerhalb 14 Tagen nach dem Ausbruche desselben beendigt und auch die schleunige Wiederaufnahme der Arbeit seitens der Streikenden nicht mit Sicherheit zu erwarten sein sollte, auf Beschluß einer sofort seitens des Vorstandes einzuberufenden Verbandsversammlung für solidarisch zu erklären und gemeinschaftlich die Arbeit für Maurer, Zimmerer und Arbeiter, inklusive Akkordarbeit, unverzüglich niederzulegen, ohne jedoch zur Entlassung der Poliere und Lehrlinge verbunden zu sein.

Mitglieder des Verbandes können sämtliche in Magdeburg ansässige Inhaber von Maurer- und Zimmerergeschäften werden, welche die Satzungen durch ihre Unterschrift für sich als bindend anerkennen.

Die Mitglieder haben für je 10000 Mk. Löhne eine Stimme und haben die Kosten nach dem Verhältnis der Löhne zu tragen, insbesondere 2 ‰ in den eingerichteten Fonds zu zahlen. Zur Sicherheit für bedingungslose Durchführung[Pg 574] der gefaßten Beschlüsse hat jedes Mitglied 3% der anrechnungsfähigen Löhne, mindestens jedoch 500 Mk. in Sichtwechseln oder in mündelsicheren Papieren zu hinterlegen und anzuerkennen, daß unter Ausschluß des Rechtsweges diese Sicherheit dem Verbande zu Eigentum verfallen ist, sofern in der Verbandsversammlung mit Dreiviertel-Mehrheit ein Verstoß gegen die Satzungen festgestellt ist.

7.

Verband der Arbeitgeber des Baugewerbes in München. Der am 26. Juli 1898 gegründete Verband bezweckt, auf gewerblichem Gebiete, namentlich bei Festsetzung der Löhne und Arbeitsbedingungen mit den Arbeitern, sich gegenseitig mit Rat und Hülfe zur Seite zu stehen, die Forderungen der Arbeiter zu prüfen und im Falle der Berechtigung zu allseitiger Anerkennung zu bringen, unberechtigten Forderungen aber und aus solchen entstehenden Streiks der Arbeiter in wirksamer Weise entgegenzutreten. Der Verband beschränkt sich zunächst auf München und 30 Kilometer Umgebung, beabsichtigt aber möglichste Ausdehnung über ganz Bayern durch Anschluß an gleiche Verbände und will mit ähnlichen Vereinigungen innerhalb des Deutschen Reiches einen Bund der Arbeitgeberverbände ins Leben rufen. Die Mitgliedschaft steht offen allen selbstständigen Arbeitgebern des Baugewerbes. Die Beiträge belaufen sich auf 50 Pf. für je 1000 Mk. Löhne. Ueberschüsse sollen zu einem Reservefonds bis zur Höhe von 100000 Mk. angesammelt werden. Innerhalb des Verbandes bestehen besondere Gruppen: 1. der Architekten, Bau- und Maurermeister, 2. der Dachdecker und Blitzableitersetzer, 3. der Glaser, 4. der Hafner, 5. der Installateure und Brunnenmacher, 6. der Maler, 7. der Pflasterer, 8. der Schlosser und Eisenbahnkonstrukteure, 9. der Schreiner und Parkettbodenfabrikanten, 10. der Spängler und Kupferschmiede, 11. der Steinmetzen, 12. der Stuckateure und Bildhauer, 13. der Zimmermeister. Diese Gruppen versammeln sich selbständig und sind im Vorstande nach einem festgesetzten Maßstabe vertreten. Das Stimmrecht der Mitglieder ist bis zur Höchstzahl von 12 nach den Löhnen abgestuft.

Bei Streitigkeiten der Verbandsmitglieder mit ihren Arbeitern sollen zunächst der Ausschuß und die Verbandsgruppen zu vermitteln suchen. Eilige Maßnahmen darf dabei der Ausschuß selbst treffen, dagegen kann die Sperrung aller Betriebe einer Gruppe nur mit Zweidrittel-Mehrheit der Gruppenversammlung beschlossen werden. Ausnahmsweise kann Arbeitern, die sich nachweislich von allen Streikbewegungen fern gehalten haben und solche auch nicht mit Geld unterstützen, das Weiterarbeiten gestattet werden. Arbeiter aus Orten, wo zur Zeit gestreikt wird, dürfen nicht eingestellt werden. Die Liste der[Pg 575] streikenden Arbeiter ist vom Verbandsbureau allen Verbandsmitgliedern zuzusenden. Diese dürfen keine der aufgeführten Arbeiter beschäftigen. Kein Verbandsmitglied darf eigenmächtig mit den streikenden Arbeitern unterhandeln. Machen Streitigkeiten mit den Arbeitern die vorübergehende Unterstützung von Verbandsmitgliedern erforderlich, so wird sie vom Vorstande aus Verbandsmitteln gewährt. Von den Mitgliedern wird erwartet, daß sie die übrigen Mitglieder, insbesondere Notleidende, durch Uebertragung von Arbeiten unterstützten und die Uebertragung von Arbeiten an Nichtmitglieder möglichst vermeiden. In Lieferungsverträgen muß die Streikklausel aufgenommen werden. Strafen setzt der Verbandsvorstand fest. Jedes Mitglied hat eine Sicherheit in Höhe von 50 Mk. für jede ihm zustehende Stimme zu hinterlegen.

8.
Verband süddeutscher Baugewerksmeister.

Derselbe ist eine Vereinigung von Maurermeistern, Zimmermeistern und Steinhauermeistern und wurde begründet am 5. Mai 1898.

Zweck des Verbands ist, die Arbeitgeber im Baugeschäft zu einer Organisation zur Wahrung ihrer Interessen gegenüber der organisierten Arbeiterschaft zu vereinigen und mittelst dieser Organisation

1. zwischen den Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen billigen Ausgleich anzustreben,
2. bei Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer womöglich eine beide Teile befriedigende Vermittlung herbeizuführen,
3. unberechtigte Bestrebungen der Arbeitnehmer, welche darauf gerichtet sind, die Arbeitsbedingungen einseitig vorzuschreiben, insbesondere die zu diesem Zweck geplanten oder veranstalteten Ausstände gemeinsam abzuwehren und in ihren Folgen unschädlich zu machen (Arbeitseinstellungen, Sperre, Verrufserklärungen),
4. ein einheitliches Handeln in allen Fragen, welche für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer von grundsätzlicher Bedeutung sind (z. B. Maximalarbeitstage, Geschäftsordnungen &c.) zu sichern,
5. die Bestrebungen des Verbandes in geeigneter Weise durch Veröffentlichungen, insbesondere mittels der Tagespresse, zu unterstützen,
6. mit anderen Arbeitgebervereinen ähnlicher Tendenz Fühlung zu nehmen und geeigneten Falls Fusionen mit solchen herbeizuführen.

Organe des Vereins sind der Ausschuß und der Vorsitzende, auf dessen Namen das Vereinsvermögen zu belegen ist. Das Stimmrecht der Mitglieder in der Generalversammlung bestimmt sich nach der Zahl der beschäftigten Arbeiter bis zur Höchstzahl von 7. Für jede Stimme ist ein Jahresbeitrag[Pg 576] von 5 Mk. zu zahlen, ebenso sind danach außerordentliche, durch Beschluß des Ausschusses anzufordernde Mittel umzulegen.

Die Mitglieder des Verbandes unterwerfen sich hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Beschlüssen der Generalversammlung und des Ausschusses.

Insbesondere ist zur Herabsetzung der Arbeitszeit unter die bestehende Norm von 10 Stunden kein Mitglied von sich aus befugt, vielmehr den Verbandsbeschlüssen unterworfen. Dasselbe gilt von etwaigen Abweichungen von der gegenwärtig bestehenden Zeiteinteilung, Vesperpausen &c. Dagegen bleibt bis auf weiteres eine Herabsetzung oder Erhöhung der Arbeitslöhne dem Einzelnen überlassen.

Die Vertretung der Interessen der Verbandsmitglieder vor der Oeffentlichkeit ist Sache des Ausschusses, und es verpflichten sich die Mitglieder, in dieser Hinsicht keinerlei öffentliche Kundgebung, insbesondere in der Tagespresse &c, ohne Ermächtigung des Vorsitzenden des Ausschusses und keinesfalls gegen dessen Beschluß vorzunehmen.

Die Mitglieder verpflichten sich, Unterhandlungen mit der organisierten Arbeiterschaft, d. h. abgesehen von den eigenen Arbeitern, über Arbeitsbedingungen u. dergl. ausschließlich durch Vermittlung des Ausschusses zu führen.

Wenn in dem Geschäft eines Mitglieds zwischen diesem bezw. seinen Vertretern und Beamten und seinen Arbeitern Differenzen irgend welcher Art entstehen, welche geeignet sind, zu einem Ausstand, Platzstreik, Boykott, Sperre oder etwas derartigem zu führen, so hat das betreffende Mitglied, wenn es nicht von sich aus die Differenzen durch Abbestellung etwaiger Mißstände zu erledigen vermag, die Pflicht, die Ansprüche der Arbeiter nicht von sich aus abzulehnen, sondern dem Vereinsausschuß zur Untersuchung und Beschlußfassung vorzulegen und sich dessen Ausspruch zu unterwerfen.

Wird in einem Verbandsgeschäfte von seiten der Arbeiter ein Ausstand oder eine Sperre angedroht oder erklärt, so ist dem Vorsitzenden des Ausschusses sofort Mitteilung zu machen. Dieser soll alsdann baldigst eine Untersuchung einleiten, welche klarstellt, ob und inwieweit den Arbeitgeber ein Verschulden trifft.

Falls der Ausschuß beschließt, daß der Arbeitgeber den Forderungen der Arbeiter ganz oder teilweise nachgeben soll, so ist das Nähere hierüber festzusetzen und der Arbeitgeber verpflichtet, diesen Beschluß durchzuführen und die beschlossene Bewilligung der gestellten Forderungen der Arbeiter durch Anschlag oder sonstwie zur Kenntnis der letzteren zu bringen. — Erklärt der Ausschuß den Streik für nicht berechtigt, so hat der Vorsitzende das Verzeichnis der beteiligten Arbeitnehmer sofort sämtlichen Vereinsmitgliedern mitzuteilen.

[Pg 577]

Nach erfolgter Mitteilung darf kein Vereinsmitglied einen streikenden Arbeiter in seinem Betriebe beschäftigen.

Der Ausschuß hat das Recht, die in dem notleidenden Betriebe vorliegenden Aufträge auf die übrigen Betriebe, wenn angängig, zu verteilen.

In solchen Fällen hat das von dem Streik betroffene Verbandsmitglied die ihm aushilfsweise gelieferten Arbeiten mit einem Betrage zu bezahlen, welcher nach der Schätzung des Ausschusses dem durchschnittlichen Selbstkostenpreise entspricht. Den Aufschlag auf die Selbstkosten, welcher dem die Arbeit liefernden Geschäfte zu zahlen ist, deckt der Verband.

Sollten die Arbeiter derjenigen Firma, welcher die Ausführung der Arbeit übertragen worden ist, sich weigern, die Arbeit auszuführen, so sind dieselben zu entlassen.

Zur Sicherung der Vertragspflichten hat jedes Mitglied nach der beschäftigten Arbeiterzahl Wechsel bis zur Höhe von 5000 Mk. zu hinterlegen, die durch Beschluß des Ausschusses für verfallen erklärt werden können. Der Ausschuß ist auch befugt, nach seinem Ermessen aus dem Verbandsvermögen an solche Mitglieder, die durch Arbeitseinstellungen geschädigt sind, Unterstützungen zu bewilligen.

9.
Freie Vereinigung der Maurer- und Zimmermeister in Stettin.

In Stettin hatten schon mehrfach die Arbeiter des Baugewerbes dadurch Lohnerhöhungen erzwungen, daß sie über einzelne Geschäfte die Sperre verhängten. Um sich hiergegen zu schützen, traten die Maurer- und Zimmermeister am 24. April 1897 zu einer freien Vereinigung zusammen unter dem Namen „Arbeitsnachweis für Maurer und Zimmerer in Stettin und Umgegend.“ Nach den Statuten sind die Mitglieder verpflichtet, nur solche Gesellen in Arbeit zu nehmen, welche sich, sofern sie bereits in Stettin in Arbeit waren, im Besitz eines ordnungsmäßigen Entlassungsscheines befinden, oder, falls sie von auswärts kommen, eine Meldekarte des Arbeitsnachweises haben. Mitglieder, die hiergegen verstoßen, werden aus der Vereinigung ausgeschlossen. Der Arbeitsnachweis soll die Mitglieder auch über ungebührliche Maßnahmen der Arbeitnehmer sofort unterrichten, ist aber auch befugt, falls ein Entlassungsschein zu Unrecht verweigert ist, eine Meldekarte auszustellen. Zur Mitgliedschaft sind alle Baugeschäfte in Stettin und Umgegend berechtigt. Stimmrecht und Beitrag richtet sich nach der Höhe der im Vorjahre bezahlten Löhne.

Schon im Herbst 1897 bot sich durch einen von den Bauarbeitern wegen Lohnerhöhung begonnenen und von den Maurern unterstützten Streik Gelegenheit, die beiderseitigen Kräfte zu erproben. Der „Arbeitsnachweis,“ dem sich[Pg 578] 45 Meister angeschlossen hatten, beantwortete den Streik durch Entlassung sämtlicher Bauarbeiter und Maurer. Nachdem der Kampf vom 25. Oktober bis 21. November 1897 gedauert hatte, wurde an letzterem Tage eine Uebereinkunft getroffen, nach welcher die Arbeit am folgenden Tage wieder aufgenommen werden sollte. Die Maurer erkannten den Arbeitsnachweis sowie die Entlassungsscheine an, sofern sie nicht als Mittel zur Maßregelung benutzt werden, und verpflichteten sich, keinerlei Maßregelungen solcher Gesellen zu dulden, die während der Arbeitseinstellung weiter gearbeitet hatten. Auf der anderen Seite verpflichteten sich die Arbeitgeber, keine Maßregelungen gegen Mitglieder der Gesellenvereinigung eintreten zu lassen und erkannten diese letzteren an. Statuten und Mitgliederverzeichnis sollen gegenseitig ausgetauscht werden. In einer gemeinschaftlichen Sitzung sollten dann Kommissionen beider Teile sich über die Lohn- und Arbeitsbedingungen für das nächste Jahr verständigen und Einrichtungen treffen, um etwa auftauchende Streitigkeiten gütlich beizulegen. Eine gleichartige Vereinbarung wurde mit den Zimmergesellen getroffen.

B. Der deutsche Arbeitgeberbund für das Baugewerbe.

Seitens des Verbandes deutscher Baugewerksmeister ist schon früh die Anregung zum allgemeinen Ausbau von Arbeitgebervereinen gegeben, insbesondere war schon auf dem 1890 in Bremen abgehaltenen Verbandstage eine Kommission eingesetzt mit dem Auftrage, ein Normalstatut auszuarbeiten. Da aber die erzielten Erfolge den Hoffnungen nicht völlig entsprachen, glaubte man eine kräftigere Anregung dadurch zu erzielen, daß man alle bestehenden Vereine zu einem gemeinsamen Bunde zusammenfaßte. Demgemäß wurde auf dem am 6. September 1898 in Breslau abgehaltenen Verbandstage der Beschluß gefaßt, die sofortige Gründung eines ganz Deutschland umfassenden Arbeitgeberverbandes für das Baugewerbe in die Hand zu nehmen, und der geschäftsführende Ausschuß mit den erforderlichen Schritten beauftragt, auch daneben noch eine besondere Kommission aus 18 Mitgliedern gebildet. Auf Grund der von dieser Kommission in ihrer Sitzung vom 28./29. Oktober 1898 entworfenen Vorschläge hat dann in der am 15. März 1899 in Berlin abgehaltenen konstituierenden Generalversammlung die Gründung des Bundes stattgefunden.

Aus den Statuten ist folgendes hervorzuheben. Unter dem in der Ueberschrift bezeichneten Titel wird eine Vereinigung der Landes- bezw. Lokalverbände der Arbeitgeber im Baugewerbe für das ganze Deutsche Reich mit dem Sitze in Berlin gebildet. Zweck derselben ist, durch einen seiten Zusammenschluß sämtlicher bestehender oder noch zu errichtender Verbände die gemeinsamen Berufsinteressen gegenüber den Arbeitnehmern wahrzunehmen, namentlich auf Erzielung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern[Pg 579] sowie zwischen den Arbeitgebern und den Behörden hinzuwirken, die Veranlassung zum Ausbruche von Streiks zu prüfen und letztere nach Möglichkeit zu vermeiden bezw. beizulegen. Als Aufgaben sind bezeichnet: 1. die Wahrnehmung der Berufsinteressen durch Zusammenfassung der schon bestehenden Landes- bezw. Lokalverbände; 2. die Gründung weiterer Landes- bezw. Lokalverbände in größeren und kleineren Städten bezw. Bezirken und deren Anschluß an den Arbeitgeberbund und die Bearbeitung der für dieselben nötigen Statuten; 3. die Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen bei den Reichs-, Staats- und Gemeindebehörden durch Erstattung von Vorstellungen und Gesuchen zu fördern; 4. den Schriftwechsel mit Baubehörden, Verbänden und sonstigen Vereinigungen, welche mit dem Bauwesen in Verbindung stehen, zu erledigen; 5. geeignete Bauverträge zu entwerfen und für deren Einführung zu wirken; 6. mit dem bauenden Publikum, den Baulieferanten und der Presse in zweckdienliche Verbindung zu treten und die letztere mit wahrheitsgetreuen Nachrichten über die augenblickliche Lage im Baugewerbe sowie über die thatsächlichen Verhältnisse bei drohenden oder ausgebrochenen Arbeitseinstellungen zu informieren; 7. die Landes- bezw. Lokalverbände bei drohenden oder ausgebrochenen Arbeitseinstellungen mit Rat und That zu unterstützen, auch auf ein einheitliches Handeln der Verbände hinzuwirken, insonderheit dafür zu sorgen, daß die aus Streikorten kommenden Arbeiter nicht anderwärts beschäftigt werden; 8. Erzielung von Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, welche den lokalen Verhältnissen entsprechen; 9. Ausgabe einheitlicher Entlassungsscheine; 10. Einrichtung von Arbeitsnachweisen; 11. Einrichtung eines schnellen Nachrichtendienstes zwischen der Zentrale und den Landes- bezw. Lokalverbänden; 12. Bearbeitung statistischer Nachweise über Arbeiterverhältnisse und Arbeiterbewegung, und zweckentsprechende Verwertung derselben.

Mitglied kann jeder Landes- bezw. Lokalverein der Arbeitgeber im Baugewerbe im Deutschen Reiche werden, dessen Statuten mit dem aufgestellten Normalstatut im wesentlichen übereinstimmen. Der Jahresbeitrag beläuft sich für jeden Landes- bezw. Lokalverband auf 20 Pfennig für je 1000 Mark anrechnungsfähiger Arbeitslöhne. Organe des Bundes sind 1. der Vorstand, 2. der Aufsichtsrat, in welchem sich sämtliche Verbände durch ein Mitglied vertreten lassen dürfen, 3. der Rechnungsausschuß, 4. die Generalversammlung. In der letztern führen die Verbände nach dem Jahresbeitrage eine Stimme für je 1000 Mitglieder. Es wird ein Reservefonds gebildet, aus welchem bei Arbeitseinstellungen die Einzelverbände zu unterstützen sind. Ueber Zuwendungen aus demselben hat je nach der Höhe der Vorstand allein oder unter Mitwirkung des Aufsichtsrates zu beschließen.

[Pg 580]

Der Verein soll keinen offensiven Karakter haben, sondern nur Uebergriffe abwehren. Das Recht der Arbeiter auf Koalition sowie zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen soll in keiner Weise beschränkt werden.

Dem Bunde traten sofort bei die Landes- bezw. Lokalverbände in Altenburg, Altona, Berlin, Brandenburg, Breslau, Burg, Dresden, Erfurt, Gera, Görlitz, Greiz, Jena, Liegnitz, Lübeck, Magdeburg, Naumburg, Neuhaldensleben, Neuruppin, Osnabrück, Pasewalk, Potsdam, Pyritz, Rathenow, Saarbrücken, Stettin, Stralsund, Stuttgart, Templin und Wittenberg. Die Vertreter von Bremen, Landau und München stellten den Anschluß ihrer Verbände in sichere Aussicht.

Uebrigens ergiebt sich aus den Verhandlungen, daß man es versuchen will, sich von einem einseitigen Unternehmerstandpunkte fernzuhalten. So erkannte man ausdrücklich das gute Recht der Arbeiter zu Arbeitseinstellungen insoweit an, als deren Zweck darin bestehe, die Lebenshaltung der Arbeiter zu verbessern. Gerechtfertigte Forderungen müßten erfüllt werden, um sich die Sympathie der öffentlichen Meinung zu sichern. Die Arbeitgeber müßten die Arbeiter als gleichberechtigten wirtschaftlichen Faktor anerkennen. Die Hauptaufgabe bestehe darin, die Arbeitsbedingungen überall gleich zu gestalten. Nur den politischen Bestrebungen der Sozialdemokratie soll entgegengetreten werden.

VII. Hutfabrikation.

1.

Verein Berliner Wollfilzhutfabrikanten zur Wahrung gemeinsamer Interessen[261]. Derselbe ist im Jahre 1895 bei Gelegenheit eines Streites mit den Arbeitern wegen Entlassung eines Arbeiters begründet und umfaßt sämtliche in Berlin befindliche 10 Hutfabriken mit etwa 2000 Arbeitern. Zweck des Vereins ist: „ungerechtfertigten Maßnahmen der in den beteiligten Fabriken beschäftigten Arbeiter, namentlich unberechtigten Arbeitseinteilungen im ganzen oder im einzelnen entgegenzutreten, andererseits aber auch Streitigkeiten zwischen einzelnen Fabrikanten und ihren Arbeitern, welche zu derartigen Arbeitseinstellungen führen können, nach Möglichkeit zu schlichten“. Die Mitglieder haben, je nachdem sie bis 75, bis 150 oder mehr Arbeiter beschäftigen, 1–3 Stimmen und in gleichem Verhältnisse zu den Kosten beizutragen, endlich auch zur Sicherung der Vertragspflichten Wechsel in Höhe von 5000, 10000 oder 15000 Mk. zu[Pg 581] hinterlegen. Zu den Versammlungen muß jedes Mitglied persönlich erscheinen; Versäumnis wird mit 20 Mk., Zuspätkommen mit 15 Mk. bestraft. Jedes Mitglied muß Streitigkeiten mit seinen Arbeitern, die er nicht selbst zu Schlichten vermag, sofort dem Vorsitzenden anzeigen, der unverzüglich eine Versammlung beruft. Diese oder eine einzusetzende Kommission hat den Streitfall zu untersuchen und zu entscheiden. Fällt die Entscheidung gegen das Mitglied aus, so ist derselben unbedingt Folge zu geben. Anderenfalls hat, sofern die Arbeiter sich nicht fügen, eine neue Versammlung die erforderlichen Schritte und erforderlichenfalls die Einstellung des Betriebes in sämtlichen Fabriken zu beschließen. Den Mitgliedern ist nicht gestattet, mit Arbeiterkommissionen zu verhandeln, denen andere, als ihre eigenen Arbeiter angehören.

Bei Zuwiderhandlungen gegen die gefaßten Beschlüsse ist der hinterlegte Wechsel für verfallen zu erklären.

Die Vereinbarung ist zunächst bis zum 31. Dezember 1900 abgeschlossen.

2.

Der „Verein sächsischer Strohhutfabrikanten zur Wahrung gemeinsamer Interessen“ mit dem Sitze in Dresden verdankt seine Entstehung ebenfalls einem im Jahre 1896 ausgebrochenen Streik, bei welchem die Arbeiter mitten in der Saison ohne Kündigung die Arbeit niederlegten. Demgegenüber traten die 16 Strohhutfabrikanten zusammen und vereinbarten, alle Arbeiter, die nicht bis zu einem festgesetzten Zeitpunkte die Arbeit wieder aufgenommen haben würden, während sechs Monate unter keinen Umständen wieder zu beschäftigen, wodurch der Streik wesentlich beschränkt wurde.

Die beteiligten Fabrikanten beschlossen, die zunächst für einen einzelnen Fall getroffene Uebereinkunft in Form eines festen Vertrages fortzusetzen, der sich übrigens nicht bloß mit dem Verhältnisse zu den Arbeitern beschäftigt, sondern auch Mißstände im Verkehr mit den Kunden, z. B. übermäßige Ausdehnung des Zahlungszieles, unrechtmäßige Abzüge von den Fracht- und Verpackungskosten und dgl. bekämpfen will[262].

VIII. Tapetenfabrikation.

Eine Zusammenfassung fast aller größeren Tapetenfabriken bildet der Verein deutscher Tapetenfabrikanten. Die Hauptthätigkeit entwickelt derselbe gegenüber den Händlern, indem er ihnen einen Mindestzuschlag auf die[Pg 582] Einkaufspreise vorschreibt, widrigenfalls die Mitglieder des Vereins ihnen keine Tapeten liefern dürfen. Verkauf an Handwerkervereinigungen, Warenhäuser, Bazare und Versandgeschäfte ist verboten, ebenso der auktionsweise Verkauf. Die Händler dürfen ferner von ausländischen Fabrikanten nicht billiger einkaufen, als von den Vereinsmitgliedern. Zwangsmittel bilden Geldstrafen bis 3000 Mk. und die Verhängung der Sperre. Eine Art ausschließlichen Verbandsverkehrs ist dadurch eingeführt, daß die Mitglieder nur von solchen Lieferanten, Agenten und Mittelspersonen kaufen dürfen, welche ausschließlich an Vereinsmitglieder liefern; ebenso darf kein Mitglied mit einem Händler arbeiten, der von nicht zum Vereine gehörigen deutschen Fabrikanten kauft.

Richtet sich, wie gesagt, die Thätigkeit des Vereins in erster Linie gegen die Händler und Lieferanten, so wird doch auch das Verhältnis zu den Arbeitern durch folgende Bestimmung (§ 40) geregelt:

„Erfolgt bei einem Mitgliede des Vereins ein Streik der Arbeiter, wozu eine komplottmäßige, wenn auch sonst ordnungsmäßige Kündigung zur Erzwingung höherer Löhne oder Abschaffung mißliebiger Einrichtungen mitgerechnet wird, so darf kein dem Verein angehörender Kollege, nachdem die Angelegenheit vom Vorstande geprüft und zur Kenntnis der Mitglieder gebracht ist, einem Streikenden innerhalb der ersten drei Monate Beschäftigung geben.“

IX. Handwerk.

Im Handwerk besteht in den Innungen eine Organisation der Arbeitgeber, die den Zwecken der Interessenvertretung gegenüber den Arbeitern dienstbar gemacht werden kann. Dies ist auch vielfach geschehen, und um eine umfassende Kenntnis aller auf diesem Gebiete bestehender Einrichtungen zu erzielen, würde es erforderlich sein, bei allen in Deutschland bestehenden Innungen Auskunft einzuholen. Aber mehrfach haben sich auch neben den Innungen besondere Verbände gebildet, die häufig den Rahmen eines einzelnen Gewerbes überschreiten und verwandte Berufe vereinigen.

1.
Arbeitgeberbund der vereinigten Tischler- und Drechslermeister, sowie verwandter Holzbearbeitungsbetriebe in Stettin[263].

Die Gründung des Bundes ist veranlaßt durch einen im Jahre 1897 ausgebrochenen Streik, in welchem die Tischlergesellen 10 % Lohnerhöhung und[Pg 583] Verkürzung der Arbeitszeit von 10 auf 9½ Stunden forderten. Die Meister gestanden die erste Forderung zu, verweigerten aber die zweite, und da die Gesellen durch Hinzutritt sämtlicher Holzarbeiter ihre Organisation erweitert hatten, so beschritten auch die Meister diesen Weg und gründeten am 12. Mai 1897 den in der Ueberschrift bezeichneten Bund, zu dem sämtliche Tischler-, Stuhlmacher- und Drechslermeister ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zur Innung, sowie die Fabrikbesitzer von Holzbearbeitungsbetrieben eingeladen wurden. Die Mitgliederzahl beträgt 120 gegenüber 6–700 Gesellen. Obgleich die Großindustriellen dem Bunde fern blieben und sogar entlassene Gesellen in Arbeit nahmen, gelang es dem Bunde, nach fünfmonatlicher Dauer des Streiks einen völligen Sieg davonzutragen.

Der Bund bezweckt nach seinen Statuten „die Beratung aller gemeinschaftlichen Fragen, welche zur Wahrung der gemeinsamen Interessen erforderlich sind, sowie die Herstellung und Erhaltung eines kollegialischen Verkehrs unter den Mitgliedern“. „Keineswegs beabsichtigt die Vereinigung durch ihre gemeinschaftlichen Bestrebungen die Interessen der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen, vielmehr soll bei eintretenden Differenzen die Sachlage von einer Kommission genau geprüft und das weitere beschlossen werden“.

„Auf Antrag der Kommission und durch Beschluß der Vereinigung verpflichten sich sämtliche Mitglieder solidarisch, bei einem ausbrechenden Streik oder einer Sperre seitens der Gesellen in Betrieben bei einem oder mehreren Mitgliedern sämtliche Gesellen nach ordnungsmäßiger Arbeitslösung sofort zu entlassen; außerdem von den in diesen Betrieben beschäftigten Gesellen und Arbeitern keinen in Arbeit zu nehmen, solange der Streik oder die Sperre dauert. Jedes Mitglied ist verpflichtet, von jedem Arbeiter bei Einstellung in Arbeit einen ordnungsgemäßen Entlassungsschein vom letzten Arbeitgeber zu fordern und sich denselben vor Einstellung in Arbeit vorlegen zu lassen.“

In allen Fällen unterwerfen sich die Mitglieder dem Schiedsspruche der Kommission. Bei Verstößen gegen seine Pflichten hat jedes Mitglied an die Armenkasse eine Ordnungsstrafe von 10 Mk. für jeden satzungswidrig beschäftigten Gesellen zu zahlen.

Der Verband besitzt einen Arbeitsnachweis, dessen Benutzung für die Mitglieder zwingend ist.

2.
Verein der Möbel- und Bautischlereien in Herford[264].

In Veranlassung eines Streiks hat sich im Jahre 1898 in Herford der in der Ueberschrift bezeichnete Verein gebildet mit dem Zwecke, „die gemeinsamen[Pg 584] Interessen zu vertreten und speziell ungerechtfertigten Arbeitseinstellungen entgegenzuwirken, sowie den von solchen Arbeitseinstellungen betroffenen Fabrikanten moralische und materielle Unterstützung zu gewähren“. Die Mitgliedschaft kann jede Möbel- und Bautischlerei in Herford, Oeynhausen und Umgegend beantragen, welche mindestens 10 Arbeiter beschäftigt. Die Statuten treffen für die Behandlung von Arbeitsstreitigkeiten wörtlich dieselben Bestimmungen, wie sie die oben[265] mitgeteilten Statuten des Vereins Bielefelder Fabrikanten enthalten, mit der einzigen Ausnahme, daß die Höhe der während der Dauer des Streiks zu zahlenden Vergütung nicht näher bestimmt ist, daß ferner auf je 50 beschäftigte Arbeiter eine Summe entfällt und daß die Beiträge auf je eine Stimme sich auf jährlich 5 Mk. belaufen.

Der Verein hat den Streik, in dessen Veranlassung er gegründet wurde, siegreich durchgeführt, sieht aber seine Aufgabe mehr darin, durch das Gewicht seines Einflusses dem Ausbruche von Streiks vorzubeugen.

3.

Verband der Faßfabrikanten und Küfermeister von Rheinland und Westfalen.

Die Veranlassung zur Gründung des Verbandes war ein Streik der Böttchergesellen, der im März 1898 in Dortmund ausbrach und den dortigen Böttchermeistern die Anregung gab, alle Böttchermeister der beiden Provinzen zum Zusammenschlusse aufzufordern. Dem Verbande gehören 52 Meister an, während 25 meist kleinere Geschäfte sich ferngehalten haben. Es gelang nach 31wöchiger Dauer des Streiks, denselben siegreich zu beendigen. Zweck des Verbandes, der seinen Sitz in Dortmund hat, ist

1. Pflege des Gemeingeistes sowie Aufrechterhaltung und Stärkung der Standesehre unter den Mitgliedern.
2. Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern und Gesellen.
3. Einheitliche Wahrnehmung und Vertretung der gemeinsamen Interessen des Böttchergewerbes.
4. Bekämpfung sozialdemokratischen und anarchistischen Vorgehens seitens der Gesellen.
5. Beschaffung einer Verbandszeitung.

Neben einem Eintrittsgelde von 10 Mk. hat jedes Mitglied die von dem Verbandstage festzusetzenden ordentlichen und außerordentlichen Beiträge zu zahlen und sich allen Beschlüssen zu unterwerfen. Besondere Einrichtungen für Behandlung von Streikfällen sind im Statute nicht getroffen. Der Verband will nicht bloß solche regeln, sondern auch sonst auf gemeinsame Ordnung der Arbeitsverhältnisse[Pg 585] hinwirken; er hat bereits eine gemeinsame Arbeitsordnung für alle ihm beigetretenen Geschäfte ins Leben gerufen.

X. Landwirtschaft.

Auch seitens der Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe sind Versuche gemacht, das Verhältnis zu den Arbeitern durch Bildung von Organisationen zu beeinflussen. Ein solcher Verein ist der 1892 begründete „Verein zur Besserung der ländlichen Arbeiterverhältnisse“ in Halle a. S., der seine Wirksamkeit zuerst auf die Provinz Sachsen beschränkte, später aber auf die Herzogtümer Braunschweig, Gotha und Anhalt und die Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen ausdehnte.

Der Verein verfolgt nach dem Statute den Zweck, das Recht und die ehrliche Arbeit seiner Mitglieder zu schützen und ihnen in ihren Bestrebungen zur Besserung der Lage ihrer ländlichen Arbeiter zu helfen. Als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes werden genannt:

1. Schutz der Mitglieder gegen dolosen Vertragsbruch der Arbeiter.
2. Unterstützung durch den Nachweis von Arbeitern und durch Anstellung und Ueberwachung von Agenten, insbesondere auch solcher für die sog. Sachsengänger.
3. Verteidigung gegen Hetzartikel der Presse.
4. Beistand im Kampfe gegen die sozialdemokratische Agitation auf dem Lande.
5. Beihülfe bei Einrichtungen zum Wohle der Arbeiter.

Durch die Beitrittserklärung verpflichtet sich jedes Mitglied, keine Person in Arbeit oder Dienst zu nehmen bezw. zu behalten, nachdem ihm bekannt geworden ist, daß dieselbe bei einem anderen Mitgliede des Verbandes ohne ordnungsmäßige Entlassung die Arbeit aufgegeben hat und von diesem zurückverlangt wird. Zuwiderhandelnde haben das Zehnfache ihres Jahresbeitrages bis zur Höchstsumme von 300 Mk. als Strafe an die Verbandskasse zu zahlen. Der Jahresbeitrag beläuft sich auf 1 Mk. für je 100 Morgen Land.

Der Verband hat in der That auch arbeiterfreundliche Maßregeln unterstützt, insbesondere ist er für gesunde und befriedigende Arbeiterwohnungen, für Ueberlassung von Land an die Arbeiter und für humane Behandlung derselben eingetreten. Immerhin liegt der Schwerpunkt in der Vertretung der Interessen der Besitzer, wie dies insbesondere in dem von dem früheren Verbandsanwalt Dr. Suchsland im Auftrage des Verbandes ausgearbeiteten und von dem[Pg 586] Verbande mit Nachdruck vertretenen „Gesetzentwurfe betr. die Regelung der landwirtschaftlichen Arbeiterverhältnisse“ hervorgetreten ist, in welchem nicht allein allgemeine Einführung von Arbeitsbüchern, sowie An- und Abmeldepflicht der Arbeiter vorgeschrieben, sondern auch für Vertragsbruch Geld- und Gefängnisstrafen bis zu einem Jahre angedroht waren[266]. Die wichtigste Einrichtung des Verbandes ist der Arbeitsnachweis, für den ein besonderes Bureau wie eine Reihe von Nebenstellen besteht. Daneben wird von dem Verbandsanwalte Rechtsrat erteilt. Ein eigenes Organ, die „Mitteilungen“, erschien bis Ende 1895 sechsmal jährlich.

Der Verband hat die von ihm erhoffte Bedeutung nicht erlangt, da die landwirtschaftlichen Besitzer ihm nicht in ausreichender Anzahl beitraten. So zählte er Ende 1895 nur 2714 Mitglieder mit 1418716 Morgen Land, während es allein in der Provinz Sachsen 70000 landwirtschaftliche Besitzer giebt. Unter diesen Umständen war es selbstverständlich, daß der Verband nicht selbständig weiter bestehen konnte, nachdem in Preußen das Gesetz über Errichtung von Landwirtschaftskammern in Kraft getreten war, durch welches diesen Kammern ganz ähnliche Aufgaben zugewiesen werden, wie sie der Verband verfolgte. Der letztere hat deshalb in seiner Generalversammlung vom 23. November 1895 beschlossen, sich mit dem von der Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen geschaffenen „Ausschusse für Arbeiterwesen“ zu verschmelzen. Dieser hat die Statuten des Verbandes fast wörtlich übernommen und führt dessen Thätigkeit weiter; lediglich der Arbeitsnachweis ist eine Einrichtung, zu welcher der Beitritt frei steht und zu der deshalb auch besondere Beiträge gezahlt werden. Auch den nicht in der Provinz Sachsen wohnenden Landwirten ist die Mitgliedschaft ermöglicht.

Auch für die Provinz Schlesien[267] wurde 1892 ein ähnlicher Verein ins Leben gerufen, der aber schon 1893 seine Thätigkeit wieder einstellte, und zwar teils aus dem Grunde, weil ein Arbeitermangel wenig fühlbar war, teils deshalb, weil man erwartete, daß der „Bund der Landwirte“ auch hinsichtlich der Verbesserung der ländlichen Arbeiterverhältnisse eingreifen werde.

Die Landwirtschaftskammer für die Provinz Schlesien hat 1898 einen Arbeitsnachweis für landwirtschaftliches Personal eingerichtet, der sich durchaus dem sächsischen Vorbilde anlehnt.

[Pg 587]

XI. Der Deutsche Buchdruckerverein.

Unter dem im Eingange betonten Gesichtspunkte, die Unternehmerverbände in ihren Verhältnissen zu den Arbeitnehmern zu verfolgen, verdient eine bevorzugte Sonderstellung und deshalb eine eingehendere Behandlung der Deutsche Buchdruckerverein. Wir haben ihn und seine Thätigkeit, soweit es zum Verständnis der Entwickelung erforderlich war, schon bei der Behandlung des Gehülfenverbandes erwähnt[268]. Wenn wir hier noch etwas näher auf ihn eingehen, so geschieht dies nicht allein, um das Bild eines Unternehmervereins, der dem Ideale der Ergänzung des betreffenden Arbeitervereins zu einer Gesamtorganisation des Gewerbes näher wie irgend ein anderer gekommen ist, im einzelnen zu zeichnen, sondern vor allem auch deshalb, um hier, wo ich den eigenen Berichten des Vereins[269] folge, eine Ergänzung der früheren, wesentlich auf die arbeiterfreundlichen Darstellungen Zahn's und Gerstenberg's gestützten Schilderung zu geben und insbesondere hinsichtlich der stattgefundenen Streitigkeiten die Anschauungen der Prinzipale zu Worte kommen zu lassen.

Der Gedanke einer beruflichen Zusammenfassung der Buchdruckereibesitzer war u. a. schon auf einer 1865 in Karlsruhe abgehaltenen Versammlung derselben von J. Schneider in Mannheim geäußert. Der letztere gab nun unter dem Eindrucke der Lebensäußerungen des 1866 gegründeten Gehülfenverbandes einen Anstoß zu der Verwirklichung seines Planes durch einen am 11. März 1869 veröffentlichten Aufruf, der als Zweck des zu gründenden Vereines bezeichnete: 1. die künstlerische und geschäftliche Hebung der Buchdruckerei im allgemeinen und 2. die Regelung der betreffenden Arbeits- und Arbeiterverhältnisse insbesondere. Während der Schneider'sche Plan ziemlich stark den repressiven Karakter gegen die Gehülfenbewegung betonte, stand der am 24. Juni 1869 von dem „Freundschaftlichen Vereine Hamburg-Altonaer Buchdruckereibesitzer“ veröffentlichte Aufruf, der im übrigen den gleichen Zweck verfolgte, auf dem Standpunkte, „keineswegs einen Druck auf die Gehülfen auszuüben, die Arbeitslöhne zu vermindern u. s. w., sondern vielmehr Mittel und Wege zu finden, das allein ersprießliche Zusammenwirken von Prinzipalen und Gehülfen unter den für beide Teile günstigsten Bedingungen herbeizuführen“. Um einer Zersplitterung vorzubeugen, einigte man sich auf eine gemeinsam zu berufende[Pg 588] Versammlung, die am 14. und 15. August 1869 in Mainz tagte und die Gründung des „Deutschen Buchdruckervereins“ beschloß, dem zunächst 87 Mitglieder beitraten, doch war diese Zahl bis zu der am 14. Mai 1870 abgehaltenen ersten Generalversammlung auf 416 angewachsen. Aus den auf der letzteren beschlossenen Statuten ist folgendes hervorzuheben:

Zweck des Vereins, dessen Sitz und Vorort Leipzig ist, besteht in der Förderung der materiellen und geistigen Interessen des deutschen Buchdruckerstandes, der Prinzipale sowohl wie der Gehülfen. Zu den Aufgaben gehört außer dem Verhältnisse zu Staat und Gesellschaft, insbesondere der Regelung des Verkehrs zu den verwandten Geschäftszweigen und dem Publikum, vor allem „Ordnung und Befestigung der geschäftlichen Verhältnisse zwischen Prinzipalen und Gehülfen unter Heranziehung der letzteren zur Lösung dieser Aufgabe, insbesondere auch unter Errichtung von Schiedsgerichten; hinwirken auf möglichst allgemeine oder wenigstens für größere geographische Gruppen gleichmäßige Bestimmungen über die Hauptpunkte des Tarifs, Hausordnung u. s. w.; konsequente Durchführung und strenge Aufrechterhaltung zwischen Prinzipalen und Gehülfen getroffener Vereinbarungen nach beiden Seiten hin; geschlossenes Vorgehen gegen Uebertretungen und Uebergriffe.“ Außerdem waren erwähnt: Förderung des Lehrlingswesens, Errichtung von Fach- und Fortbildungsschulen und endlich das Unterstützungswesen, insbesondere die Gründung von Invaliden- und Witwenkassen, bei denen die Aufnahme von keiner andern Bedingung als der Erfüllung seiner Mitgliedspflichten abhängig gemacht werden sollte, und von Viatikumskassen, welche von dem Anspruch Erhebenden nur eine Legitimation als Buchdruckergehülfe, nicht aber die Zugehörigkeit zu irgend einer Gehülfenvereinigung verlangen dürfe. Bei allen diesen Kassen sollten die Prinzipale an Beiträgen und Leitung beteiligt sein. Der Verein gab ein Organ heraus und zwar wählte man hierzu die „Annalen der Typographie.“ Der Vorstand bestand aus 9 Personen, doch sollte der Schwerpunkt in die für Deutschland beabsichtigten 12 Kreise fallen. Die Generalversammlung sollte jährlich stattfinden.

Das geschaffene Werk fand anfangs nicht viel Zustimmung: Bei den Gehülfen sah man darin einen Angriff und insbesondere den Versuch, die wichtigen Viatikumskassen in die Hände der Prinzipale zu bringen, obgleich im allgemeinen in Mainz die arbeiterfreundlichere Richtung gesiegt hatte; in den Kreisen der Prinzipale dagegen bot teils gerade dieser Umstand ein erhebliches Hindernis, teils fehlte es überhaupt an Interesse, so daß zunächst nur die Gründung von 2 Kreisvereinen: Nordkreis und Mainkreis, gelang. Der Gedanke eines einheitlichen Lohntarifes, noch mehr aber der eines organischen Zusammenwirkens mit den Gehülfen und die von manchen Seiten angeregte Schaffung einer Lehrlingsskala fand überwiegenden Widerspruch.

[Pg 589]

Erst die Lohnbewegung des Jahres 1872, bei der die Gehülfen überall ohne Mühe ihre Forderungen durchsetzten, brachte größeres Interesse für die Organisation unter die Prinzipale, die insbesondere durch den zur Beratung einer gemeinsamen Abwehr nach Eisenach berufenen und am 10. März 1872 abgehaltenen allgemeinen Buchdruckertag, auf dem 500 Firmen durch 62 Abgeordnete vertreten waren, angeregt wurde. Man beschloß nicht allein die möglichst rasche Einrichtung der Kreisvereine, ohne welche die ganze Organisation wirkungslos sein mußte, sondern stimmte auch den früher abgelehnten Forderungen eines Normaltarifes für ganz Deutschland und Bildung einer aus Prinzipalen und Gehülfen zusammengesetzten Tarifkommission zu.

Auf der am 27. April 1872 in Leipzig abgehaltenen dritten Generalversammlung des Vereins wurden diese Beschlüsse gebilligt und zur Durchführung derselben beschlossen, daß Gehülfen, welche sich der Entscheidung des Schiedsausschusses nicht fügen würden, während der Dauer des Streiks von keinem Vereinsmitgliede beschäftigt werden dürften. Dagegen wurde nicht allein die in den Gehülfenkreisen geforderte Einführung des Alphabettarifs, sondern auch der Gedanke, die Generalversammlung aus Vertretern der Kreisvereine zusammenzusetzen, abgelehnt.

Auch jetzt war die Organisation der Prinzipale noch nicht stark genug, um der im Jahre 1873 hervortretenden Gehülfenbewegung, die auf Einführung eines neuen Tarifs unter Zugrundelegung der Alphabetrechnung gerichtet war, Widerstand zu leisten, und so mußte denn die auf den 24. März 1873 in Weimar berufene außerordentliche Generalversammlung den Gehülfenforderungen nachgeben, um den ausgebrochenen Streik zu beendigen. Die darauf zusammentretende Delegiertenversammlung beider Teile, die vom 1.–5. Mai 1873 in Leipzig tagte, brachte dann endlich das große Werk eines für ganz Deutschland gültigen Normaltarifes zu Ende. Die eingesetzten Schiedsgerichte und das Einigungsamt wirkten auf beiden Seiten im versöhnlichen Sinne, und die neu gegründete Tarifgemeinschaft trug wesentlich dazu bei, das Bewußtsein der gemeinsamen Interessen zu stärken.

Der Bericht des Prinzipalvereins in der eingangs gedachten Festnummer schließt an dieser Stelle die erste Periode des Vereins, also die der Gründung und ersten Befestigung. Die zweite Periode zählt er von 1875 bis 1885 und bezeichnet dieselbe als eine Zeit des Niederganges, was sich schon darin zeigt, daß die Mitgliederzahl, die 1874 726 betragen hatte, allmählich bis auf 234 herabging. Einen Teil der Schuld hieran trug der Beschluß, das bisherige Organ, die „Annalen“, eingehen zu lassen und durch die nur nach Bedürfnis erscheinenden und nur den Mitgliedern zugehenden „Mitteilungen des Deutschen Buchdruckervereins“ zu ersetzen, die zuerst im Jahre 1876 ausgegeben wurden,[Pg 590] aber in dem ganzen Jahre nur 2 Mal erschienen. Wenn trotzdem die Prinzipale die bereits oben (S. 264) erwähnten Tarifermäßigungen der Jahre 1876 und 1878 durchsetzten, so lag dies in den ungünstigen Geschäftsverhältnissen, die auch von den Gehülfen anerkannt wurden. Aus dem Jahre 1878 ist erwähnenswert, daß unter dem Eindrucke der Attentate die am 16. Juni 1878 in Hannover abgehaltene 9. Generalversammlung es für Pflicht der Mitglieder erklärte, keine sozialdemokratischen Arbeiter zu beschäftigen, ein Beschluß, der aber nirgends zur Ausführung gelangte.

Mit dem Jahre 1886 beginnt die dritte Periode des Vereins, die des kräftigen Aufstrebens. Ein Hauptgrund hierfür war die reichsgesetzliche Bildung der Unfallversicherungsgenossenschaften, die den Gedanken der Vereinigung in weitere Kreise trug, so daß die Mitgliederzahl des Vereins innerhalb des Jahres 1885/86 von 344 auf 1144 stieg. Wenn man freilich diesen Anlaß benutzte, um die Organisation nicht nur formell an diejenige der Unfallversicherung anzulehnen, indem man die 12 Kreise durch die 9 Bezirke der letzteren[270] ersetzte, sondern auch bei der Besetzung der Vorstandsämter weitgehend eine Personalunion eintreten ließ, so beging man den bereits oben (S. 266) gerügten Fehler, an einem auf versöhnliches und entgegenkommendes Zusammenwirken mit den Gehülfen berechneten Unternehmen Männer zu beteiligen, die auf einem durchaus entgegengesetzten Standpunkte, nämlich dem der einseitigen Herrschaft des Unternehmers, standen. Auch die eigene Darstellung der Prinzipale in der mehrfach erwähnten Festnummer bietet nicht allein keine Widerlegung des bezeichneten Vorwurfes, sondern läßt, ohne ihn auszusprechen, doch auf Schritt und Tritt diesen Gegensatz beider Richtungen innerhalb des Vereins hervortreten. Es ist von hohem Interesse, zu lesen, wie die Sektion II (Rheinland-Westfalen) sich in stetem Widerspruche zu der Gesamtleitung befindet, größtenteils im Vorstande und bei den bezüglichen Verhandlungen gar nicht vertreten ist, ja hinsichtlich der wichtigsten Punkte, z. B. bei der Bildung der Tarifgemeinschaft und der Durchführung des Tarifs, den formell bindenden Beschlüssen des Vereins einfach die Anerkennung versagt und offenen Widerstand leistet, und daß die Vereinsleitung schwach genug ist, dies alles zu ertragen, anstatt die unbotmäßigen Mitglieder einfach vor die Thür zu setzen. Erst die Periode des Kampfes, wie sie durch den großen Streik gegeben wurde, bot den rheinisch-westfälischen Herren den Anlaß, ihre Stellen einzunehmen und sich an dem Verein zu beteiligen, in dem sie dann ihren Einfluß geltend machten, um alle Versuche einer friedlichen Beilegung zu hindern und den verhängnisvollen Ausgang herbeizuführen.

[Pg 591]

Das Auftreten dieses antisozialen Elementes innerhalb des Vereins ist von solchem Interesse, daß ich die wichtigsten Thatsachen hier kurz erwähnen will.

Vom 16. bis 20. August 1886 hatte die Tarifkommission in Leipzig getagt und nach langen Verhandlungen und unter beiderseitigem Nachgeben einen neuen Tarif zustande gebracht, insbesondere auch eine Lehrlingsskala geschaffen. Daß die Prinzipale des Vororts Köln als die einzigen den Tarif ablehnten, war nichts Besonderes, vielmehr ihr Recht, aber nachdem der Gesamtverein ihn mit 214 gegen 93 Stimmen angenommen hatte, war die Sektion II statutengemäß an ihn gebunden. Im Gegensatze hierzu beschloß eine am 15. September 1886 in Köln abgehaltene Prinzipalversammlung mit 86 gegen 4 Stimmen, bei ihrem Widerspruche festzuhalten, und die Gehülfen waren trotz eines Lohnkampfes, der ihnen 200000 Mk. kostete, nicht im stande, ihr klares Recht durchzusetzen. Aber die Sektion II ging noch weiter in der offenen Auflehnung, indem sie im Gegensatze zu der von dem Vereinsvorstande geleiteten Abstimmung innerhalb des Vereins eigenmächtig eine neue Abstimmung aller Prinzipale in Deutschland in der Weise herbeizuführen suchte, daß sie die Betreffenden aufforderte, ihr Votum durch Postkarte dem Vorstande der Sektion zuzusenden. Als sich dabei eine Ablehnung des Tarifs mit 2136 gegen 204 Stimmen ergab, leitete man daraufhin eine umfassende Agitation ein mit dem Programm: energische Stellungnahme gegen den Gehülfenverband sowie gegen die Tarifgemeinschaft, Ueberweisung der Lohnfrage an die Sektionen und Ablehnung des neuen Tarifs. Der Vereinsvorstand erkannte in seiner am 1. Dezember 1886 abgehaltenen Sitzung nicht allein das Recht der Sektion II an, gegen den Tarif zu agitieren, sondern war auch schwächlich genug, auszusprechen, daß die Mitgliedschaft im Vereine durch Anerkennung des Tarifes nicht bedingt sei. Auch in der am 26. Juni 1887 in München abgehaltenen Generalversammlung blieb die Sektion II dabei, daß sie auch ferner gegen die Tarifgemeinschaft zu wirken entschlossen sei. Wenn das Hauptziel, um nicht zu sagen das einzige, in der Regelung des Verhältnisses zu den Gehülfen besteht, so bedeutet die Ablehnung einer für dieses Verhältnis grundlegenden Organisation auch die Lossagung von dem Verein selbst, und Beschlüsse, die der Verein innerhalb seiner Zuständigkeit faßt, sind selbstverständlich für alle Mitglieder desselben verbindlich. Es ist interessant, das Vorgehen des Prinzipalvereins in diesem Punkte zu vergleichen mit demjenigen des Gehülfenverbandes bei der Neubegründung der Tarifgemeinschaft im Jahre 1896. Obgleich in der Generalversammlung 45 Stimmen für und 22 gegen die Tarifgemeinschaft abgegeben waren, sah es doch die überstimmte Minderheit als ihre selbstverständliche Pflicht an, sich zu fügen, jedenfalls ist der Vereinsvorstand gegen die unter der Leitung von Gasch stehende Opposition mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln aufgetreten,[Pg 592] ja Gasch selbst ist aus dem Verein ausgeschlossen. Und dabei handelte es sich in den beiden zur Vergleichung stehenden Fällen um genau dieselbe Frage: die Tarifgemeinschaft, die von den beiden Minderheiten bekämpft wurde, hier auf Grund eines engherzigen Unternehmerinteresses, dort infolge ebenso einseitigen Arbeiterstandpunktes. Auf der einen Seite Klassenhochmut und Herrscherdünkel, auf den anderen Klassenhaß und Kampfesfanatismus. Das sind die Feinde, die eine verständige soziale Thätigkeit zu bekämpfen hat, aber beide in gleichem Maße. Wenn die Mehrheit des Prinzipalvereins glaubte, im Interesse des Friedens nachgeben zu müssen, so hat sie dem Vereine einen schlechten Dienst erwiesen, denn nicht der äußere Umfang und die Mitgliederzahl entscheidet über den Wert und die Leistungsfähigkeit eines Vereins, sondern die innere Harmonie und die konsequente energische Durchführung eines als richtig anerkannten Prinzips. Ein Verein, der einen ganz neuen Gedanken zur Durchführung bringen will, nämlich die gemeinsamen Interessen von Arbeitern und Unternehmern unbeschadet des zwischen beiden bestehenden Gegensatzes zu vertreten, muß dabei den Kampf nach beiden Richtungen aufnehmen, nur dadurch ist er imstande, seine Daseinsberechtigung zu beweisen.

Aus der Wiedergabe der thatsächlichen Ereignisse, wie sie sich in dem Berichte findet, ist wenig hervorzuheben, da sie sich mit der bereits oben (S. 258 ff.) gegebenen Darstellung deckt. Von Interesse ist, daß auch nach der Auffassung der Prinzipale die Stettiner Beschlüsse über die unmittelbare Vereinbarung des Tarifs zwischen den beiderseitigen Verbänden und über die Verpflichtung der tariftreuen Prinzipale, nur solche Gehülfen zu beschäftigen, die in tariftreuen Geschäften ausgebildet sind, durchaus als durchführbar und als großer prinzipieller Fortschritt in der Entwickelung des beiderseitigen Verhältnisses betrachtet wurden. Aber leider siegte auf der am 30. Juni 1890 in Straßburg abgehaltenen Generalversammlung die bereits gewürdigte Schwächlichkeitstendenz, die von dem Berichte in der Weise verherrlicht wird, daß es heißt, diejenigen, die befürchtet hatten, es werde in Straßburg das Tafeltuch zwischen dem Verein und seiner Sektion II zerschnitten werden, seien angenehm vom Gegenteil berührt, das Ergebnis der langen Beratungen sei gewesen, daß „von der Entscheidung der streitigen Hauptpunkte abgesehen sei“. Eine köstliche Selbstironie. Da hiermit dem Stettiner Abkommen entgegen die Einführung der Neuordnung jedenfalls für den 1. Oktober 1890 beseitigt war, so ist es völlig begreiflich, daß der Unmut der Gehülfen sich in scharfer Weise geltend machte. Wenn der Bericht hervorhebt, daß dies und die Agitation für den Achtstundentag auf die Stimmung in Prinzipalkreisen ungünstig zurückgewirkt habe, so ist das wohl verständlich, ändert aber nichts an der Beurteilung der Schuldfrage. Die Neigung des Vereins, seine bessere sozialpolitische Einsicht der Rücksicht auf die[Pg 593] Verständigung mit Rheinland-Westfalen unterzuordnen, tritt schon deutlich hervor in den Verhandlungen des von dem Vereine eingesetzten Revisionsausschusses, der am 26. November 1890 in Leipzig zusammentrat und nach dem Berichte den Zweck verfolgte, eine Uebereinstimmung der dissentierenden Sektion II mit dem übrigen Vereine herbeizuführen. Das Ergebnis der viertägigen Beratungen waren folgende Beschlüsse: Der allgemeine deutsche Buchdruckertarif sollte künftig von Organen des Vereins und Organen der Gehülfenschaft vereinbart, durchgeführt und überwacht werden, die bisherige Tarifgemeinschaft also in Wegfall kommen. Als berechtigter Vertreter der Gehülfenschaft sollte der Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker anerkannt werden mit dem Anheimgeben an diesen, auch die außerhalb seiner Organisation stehenden Gehülfen mit zu berücksichtigen; mit diesen Organisationen sollte der Vereinsvorstand Verhandlungen einleiten. Zur Einhaltung des vereinbarten, von der Generalversammlung anerkannten Tarifes sollten die Vereinsmitglieder statutarisch verpflichtet werden, ebenso zur Einhaltung der Stettiner Resolution. Für den Fall, daß ein Tarif im Vereinbarungswege mit der Gehülfenschaft nicht zustande käme, sollte der Verein den statutengemäß festgesetzten Tarif selbst, also ohne Mitwirkung der Gehülfenschaft durchführen.

Durch den Streik sind diese Beschlüsse nicht zur weiteren Entwickelung gekommen, aber es ist im hohen Grade wahrscheinlich, daß, falls der Verein an ihnen festgehalten hätte, sie allein und ganz unabhängig von den seitens der Gehülfenschaft aufgestellten neuen Forderungen den Konflikt hätten herbeiführen müssen. Zunächst enthielt der Beschluß, zu den Verhandlungen auch die nicht zum Verbande gehörigen Gehülfen zuzuziehen, einen unmittelbaren Angriff gegen den Verband, indem dieser das Recht in Anspruch nahm, die einzige berechtigte Vertretung der Gehülfen zu sein. Aber mag es dahingestellt bleiben, ob dieser Standpunkt angreifbar war, so zerstörte man durch den Beschluß, die Vereinbarung des Tarifes zwischen dem Prinzipalvereine auf der einen Seite und der gesamten Gehülfenschaft auf der andern Seite stattfinden zu lassen, den Grundgedanken des bisherigen Verhältnisses, den man dahin bezeichnen kann, daß die beiderseitigen Organisationen als berechtigte Vertreter der beiderseitigen Interessen anerkannt werden sollten. Ließ man dies für die Gehülfen fallen, indem man sich nicht an den Verband, sondern an die Gesamtheit wandte, woher wollte man dann für den Prinzipalverein das entsprechende Recht ableiten, da er in viel geringerem Grade die Forderung, alle Beteiligten in sich zu vereinigen, erfüllte, als der Gehülfenverband?

Obgleich die am 8. Februar 1891 in Leipzig abgehaltene außerordentliche Generalversammlung diese der Auffassung der Rheinländer gewiß entgegenkommenden Beschlüsse im wesentlichen zu den ihrigen machte, gaben doch in der[Pg 594] Kreisversammlung der Sektion II sämtliche Vorstandsmitglieder die Erklärung ab, infolge ihrer von der des Deutschen Buchdruckervereins abweichenden Stellung zu den Tarifangelegenheiten keine Aemter wieder annehmen zu können. Der Bericht fährt fort: „Die folgende Neuwahl war denn auch erfolglos, und der Verein behielt zwar in Rheinland-Westfalen seine Mitglieder, diese verblieben aber ohne statutgemäße Vertretung.“ Also ein Verein läßt sich gutwillig gefallen, daß ein Teil seiner Mitglieder die elementarste Pflicht, die statutenmäßige Organisation zu vollziehen, ablehnt, ohne daraus die Folgerung zu ziehen, daß solche Personen nicht mehr Mitglieder sein können!

Bei der Beurteilung des großen Streiks unterstützt der Bericht des Prinzipalvereins weitgehend die oben vertretene Auffassung, insbesondere, daß die so lange vorher erfolgte offene Ankündigung seitens der Gehülfen die Prinzipale in die Lage gesetzt hatte, sich vorzüglich vorzubereiten, indem „manche Firmen schon im Verlaufe des Sommers aus eigenem Antriebe die Einteilung ihrer Arbeiten danach eingerichtet hätten.“ Auch mit dem Börsenverein deutscher Buchhändler und dem Verlegerverein hatte man Verbindungen angeknüpft, um die Aufträge entweder, soweit sie eilig waren, noch vorher zu erledigen oder aber sie zurückzustellen. „Das gleiche Ersuchen hatte man an die Behörden und das Publikum gerichtet. Allen diesen Ersuchen wurde auf das bereitwilligste entsprochen.“

Die Ziffern giebt der Bericht an wie folgt:

Bis zum 7. November hatten die Arbeit niedergelegt 7631 Gehülfen, 200 Gießer und 29 Hülfsarbeiter. Die Forderungen bewilligt erhalten hatten 4445 Gehülfen. Nach dem bisherigen Tarife arbeiteten weiter 6744 Gehülfen, in Kündigung standen noch 298 Gehülfen, 131 Gießer und 70 Hülfsarbeiter. Die hier ermittelte Gesamtzahl umfaßt allerdings nur 19118 Gehülfen, also gegenüber den insgesamt vorhandenen 34000 nur etwa 56%, die fehlenden 15000 sind als weiter arbeitend anzusehen.

Hinsichtlich des Antrages auf Sequestration der Zentralinvalidenkasse, die von dem Vereinssekretär Dr. Paul Schmidt im Auftrage von 512 Mitgliedern der Kasse bei dem Amtsgerichte Stuttgart erwirkt wurde, giebt der Bericht als Grund an, daß „die gehülfenseitige Streikleitung in zwar sehr vorsichtiger, aber hinreichend deutlicher Weise die Fortdauer der an den Unterstützungskassen des Vereins erworbenen Rechte von der Beteiligung am Streik abhängig gemacht, dagegen die Leitung des Deutschen Buchdruckervereins denjenigen Gehülfen, welche sich am Streik nicht beteiligen würden, die Wahrung dieser Rechte zugesichert hatte, so daß die Zentralleitung als den nächsten wichtigsten Schritt erachtete, die bedrohten Interessen dieser Gehülfen sicher zu stellen.“ Aber abgesehen von der Frage, ob eine solche offenbar rechtswidrige Absicht[Pg 595] des Gehülfenvereins wirklich „in hinreichend deutlicher Weise“ hervorgetreten war, so ist jedenfalls durch die später im Instanzenzuge erfolgte Wiederaufhebung der Sequestration die mangelnde Berechtigung des Vorgehens hier ebenso anerkannt, wie bei dem Verbote der Berliner Polizei, aus Vereinsmitteln Streikunterstützungen zu zahlen oder Extrasteuern zu erheben.

Waren schon während des Streiks versöhnlichere Stimmungen aus den Kreisen der Berliner und Stuttgarter Prinzipale hervorgetreten, so geschah dies sehr nachdrücklich durch ein Rundschreiben der Vereinigten Stettiner Prinzipale vom 17. Januar 1892, das aber von dem Vereinsvorstande durch eine Entgegnung von 25. dess. Mon. energisch bekämpft wurde und weitere Folgen nicht hatte. Aehnlich verliefen die Dinge auf der am 19. Juni 1892 in Breslau abgehaltenen Generalversammlung. „In verschieden Kreisen des Vereins war man mit der Behandlung der Angelegenheit von der Tarifkommission für Deutschlands Buchdrucker seitens der Prinzipalabteilung dieser Kommission nicht einverstanden, hielt die Auflösung der Tarifkommission durch deren Prinzipalmitglieder[271] sowie die Ueberweisung der Tarifregelung an den Tarifausschuß des Deutschen Buchdruckervereins als zu Unrecht erfolgt und mit den mit der streikenden Gehülfenschaft abgeschlossenen Friedensbedingungen nicht übereinstimmend. Dem wurde von anderen Kreisen widersprochen, und die Debatten gestalteten sich deshalb sehr langwierig. Schließlich einigte man sich in dem Beschlusse, daß die Versammlung erklärte, sich in betreff der Tarifangelegenheit auf den Boden der gegebenen Thatsachen zu stellen und den Vorstand beauftragte, die von dem Tarifausschusse eingereichte Tarifvorlage nach den Gesichtspunkten: 1. überall die Möglichkeit einer späteren Mitwirkung der Gehülfenschaft an dem weiteren Ausbau des Tarifs offen zu lassen, und 2. an den bestehenden Grundpositionen nichts zu ändern, unter Mitwirkung des Tarifausschusses festzustellen und den Mitgliedern vom 1. Oktober 1892 ab zur Einführung zu empfehlen.“

Aber diese Beschlüsse vermochten nicht die gehülfenfreundliche Partei zu beruhigen. „Auch der Bund der Berliner Buchdruckereibesitzer erklärte, dem neue Reduktionen enthaltenden Tarifentwurfe nicht zustimmen zu können, sondern nur einem auf loyalem Wege zwischen Prinzipalen und Gehülfen zustandegekommenen, und bezeichnete den 1890er Tarif bezüglich der Entlohnung für seine Mitglieder nach wie vor als bindend. Die Stuttgarter Prinzipale teilten im wesentlichen diese Anschauungen und sprachen sich außerdem noch für die Fortdauer der Tarifgemeinschaft aus.... Die Zentralleitung für Ausstandsangelegenheiten[272] endlich erklärte in ihrer Mehrheit in einer am 26. September 1892[Pg 596] abgehaltenen Sitzung, an dem dritten Punkte des Büxenstein-Döblin'schen Uebereinkommens vom 16. Januar 1892: „Der Tarif vom 1. Januar 1890 gilt weiter und wird so lange als gültig anerkannt, bis eine andere Vereinbarung zwischen Prinzipalität und Gehülfenschaft getroffen worden ist«, festzuhalten, und richtete an den Vorstand das Ersuchen, dahin zu wirken, daß die Beschlußfassung der Breslauer Hauptversammlung, welche mit dieser Friedensbedingung nicht in Einklang stehe, mit derselben in Einklang gebracht werde.“ Um diese verschiedenen Meinungen auf Grund des Breslauer Beschlusses, soweit möglich, zu vereinigen, fanden vom 21. bis 23. November 1892 in Leipzig gemeinschaftliche Sitzungen des Vereinsvorstandes, des Vereinstarifausschusses und der Zentralleitung für Ausstandsangelegenheiten statt. Das Ergebnis dieser Sitzung war ein allseitiges Einverständnis und die Aufstellung des heutigen deutschen Buchdruckertarifs[273], der unterm 8. Dezember 1892 veröffentlicht wurde und am 1. Januar 1893 in Kraft trat. In diesem Tarife nahm man die Lohnsätze des 1890er Tarifs unverändert auf.... Als Konzession an die Gegner des 1890er Tarifs wurden die Minderbezahlung der Ausgelernten und die Minimalzuschläge für Druckorte bis zu 6000 Einwohner in den Tarif wieder aufgenommen. Die von der Tariforganisation handelnden Bestimmungen des bisherigen Tarifs wurden durch einen den Friedensbedingungen vom 16. Januar 1892 entsprechenden Gültigkeitsvermerk ersetzt und damit dem prinzipalseitig beim Friedensschlusse gegebenen Worte wie dem Breslauer Beschlusse Genüge geleistet. Die Festsetzung der Lehrlingsskala wurde als Sache der Prinzipalität erklärt und dem Deutschen Buchdruckerverein als Vertreter derselben zugewiesen.“

„Durch diesen Beschluß wurde die Einmütigkeit der Prinzipalschaft wieder hergestellt. Die Gehülfenschaft erkannte den Tarif vom 1. Januar 1893 stillschweigend an, und der Vorstand des Unterstützungsvereins Deutscher Buchdrucker forderte sogar — freilich in Widerspruch mit der radikalen Richtung — die Gehülfen auf, zur Wiederherstellung geordneter Verhältnisse die Hand zu bieten[274].“

So schien ja die Tarifangelegenheit endlich einigermaßen geordnet, obgleich die Beseitigung der Lehrlingsskala einen bedauerlichen Rückschritt darstellt. Aber man hatte die Rechnung ohne Rheinland-Westfalen gemacht, und der Bericht muß für 1894 feststellen, daß dieser Kreis „noch immer insofern eine Ausnahmestellung einnimmt, als seine Mitglieder nach dem 1878er Tarife bezahlen“.[Pg 597] Einen größeren Einfluß des Vereins auf die Tarifeinhaltung und damit auf die ganze Tariffrage selbst erhofft der Bericht daraus, „daß mit der am 27. April (1894) erfolgten Inkraftsetzung der von der Hauptversammlung in Stuttgart am 26. Juni 1893 beschlossenen Vereinssatzungen auch der Beschluß derselben Hauptversammlung in Kraft getreten ist, nach welchem die Vereinsmitglieder verpflichtet sind, den deutschen Buchdruckertarif bei Vermeidung des Ausschlusses aus dem Vereine einzuhalten“.

Die neueste Wiederbegründung der Tarifgemeinschaft wird von dem Geschäftsberichte des Prinzipalvereins für 1895 im wesentlichen übereinstimmend mit der oben (S. 274 ff.) gegebenen Darstellung geschildert; insbesondere wird mehrfach das versöhnliche Entgegenkommen der Gehülfenschaft hervorgehoben, das den Prinzipalvorstand bestimmt habe, die Verhandlungen über die Forderungen der Gehülfen: „Verkürzung der Arbeitszeit, entsprechende Lohnerhöhung und genaue Präzisierung der streitigen Paragraphen des Tarifs“ aufzunehmen. Die Verhandlungen Vom 11. März 1896, bei denen zum erstenmal seit vier Jahren wieder Vertreter der Prinzipalität und der Gehülfenschaft zu gemeinsamer Arbeit zusammentraten, waren sehr schwierig und standen oft auf dem Punkte zu scheitern. Insbesondere wollten die Gehülfen von einer Hinzuziehung der Nicht-Verbandsmitglieder nichts wissen, während die Prinzipale auch den „Gutenbergbund“ an den Verhandlungen teilnehmen lassen wollten. Endlich verständigte man sich dahin, daß die eigentliche Einigungsverhandlung stattfinden sollte zwischen dem Tarifausschusse des Prinzipalvereins auf der einen und den aus Urwahlen unter Leitung des Leipziger Einigungsamtes seitens der gesamten Gehülfenschaft hervorgehenden Vertretern der letzteren auf der anderen Seite. Daneben wurden mit beratenden Stimmen sowohl je zwei Mitglieder des Vereinsvorstandes und des Verbandsvorstandes, als zwei Vertreter der Nichtverbandsgehülfen zugelassen, die, nachdem der „Gutenbergbund“, dem man sie zuerst angeboten, abgelehnt hatte, von dem nicht zum Verbande gehörigen Gehülfen in Leipzig und Braunschweig gewählt wurden. Der Gutenbergbund trat sogar gegen diese Art der Vertretung in so scharfe Opposition, daß er einen Protest seitens des Prinzipalvereins hervorrief. Die am 15. April 1896 begonnenen dreitägigen Verhandlungen der so bestimmten beiderseitigen Vertreter führten dann zu den oben (S. 276) näher bezeichneten Vereinbarungen, insbesondere zu der Verkürzung der Arbeitszeit um ½ Stunde und einer Lohnerhöhung. Die durch beides bedingte Erhöhung der Produktionskosten wird von dem Geschäftsberichte auf 12% angegeben. Es waren also wesentlich dieselben Zugeständnisse gemacht, die 1891 von den Prinzipalen als unmöglich abgelehnt waren. Die Einzelheiten wurden dann auf der vom 15. bis 19. Mai 1895 in Berlin abgehaltenen Konferenz geordnet.

[Pg 598]

Die jetzige Tariforganisation besteht also einerseits aus dem durch je einen Vertreter der Prinzipale und Gehülfen aus den zu Grunde gelegten neun Kreisen des Prinzipalvereins gebildeten Tarifausschusse und dem aus je drei Prinzipalen und Gehülfen bestehenden Tarifamte; das letztere ist die ausführende, der erstere die obere beschließende Instanz. Das Tarifamt ist zugleich Berufungsinstanz hinsichtlich der in den einzelnen Bezirken bestehenden Schiedsgerichte. Auch sollen gemeinsame Arbeitsnachweise errichtet werden und zwar unabhängig von den schon bestehenden des Prinzipalvereins. Die Kosten der Durchführung des Tarifs werden von den tariftreuen Prinzipalen und Gehülfen zu gleichen Teilen getragen. Dem Tarifamte ist ausdrücklich die Aufgabe übertragen, Vorkehrungen zu treffen, daß von einem noch zu bestimmenden Zeitpunkte ab in tarifuntreuen Druckereien eintretende Lehrlinge nach Beendigung der Lehrzeit in tariftreuen Druckereien nicht beschäftigt werden; auch soll die zur Zeit geltende Lehrlingsskala in den Tarif aufgenommen werden[275].

Diese Einigung der Prinzipale und Gehülfen hat aber noch einen Erfolg gehabt, der ebenso hoch anzuschlagen ist wie sie selbst und die Hoffnung gestattet, daß endlich die Entwickelung der Verhältnisse sich so vollziehen wird, wie es dem gewerkschaftlichen Grundgedanken entspricht. Daß die radikale Richtung der Gehülfen unter Leitung von Gasch abgestoßen wurde, ist oben (S. 280) erwähnt. Aber ebenso ist auch jetzt glücklich die antisoziale Gruppe der Prinzipale ausgeschlossen. Schon der Geschäftsbericht für 1895 teilt mit, daß die Wahlen der Ausschußmitglieder in allen Kreisen außer dem zweiten vollzogen seien, und der Bericht für 1896 meldet dann folgendes:

„Die Aussprache mit den Vertretern des Kreises Rheinland-Westfalen auf der vorjährigen Hauptversammlung in Berlin ließ uns hoffen, daß die Mitglieder dieses Kreises sich im Interesse des Gesamtgewerbes den mit der Gehülfenschaft getroffenen Abmachungen ebenfalls anschließen und den Tarif in ihrem Kreise zur Durchführung bringen würden. Diese Hoffnung hat sich indes nicht erfüllt, ja es übernahmen sogar diejenigen Herren Kollegen, von denen wir am ersten erwarteten, daß sie den Beschlüssen der Hauptversammlung Geltung zu verschaffen bemüht sein würden, die Mitglieder des Kreisvorstandes, die Führung des Widerstandes gegen diese Beschlüsse und den deutschen Buchdruckertarif. Wenn wir bisher auch keine Veranlassung hatten, gegen den passiven Widerstand des Kreises II gegen den Tarif Maßnahmen zu treffen, so konnten wir doch diesem Vorgehen des Kreisvorstandes nicht ruhig zusehen, sondern wandten uns in einem offenen Briefe in Nr. 53 der „Zeitschrift“ an[Pg 599] die dortigen Kollegen, dieselben zu treuem Festhalten an dem Tarif und unserm Vereine ermahnend.“ Der Bericht teilt dann mit, daß infolge hiervon etwa ein Drittel der Mitglieder des Kreises Rheinland-Westfalen aus dem Vereine ausgeschieden, zwei Drittel dagegen ihm treu geblieben seien. Der Kreis sei allerdings infolge hiervon ohne Vorstand, aber der Hauptvorstand werde in nächster Zeit die nötigen Schritte unternehmen, um die erforderliche Vertretung wieder zu beschaffen. Bisher seien die Bestrebungen der ehemaligen Mitglieder des Kreisvorstandes, einen Sondertarif für den dortigen Kreis zu schaffen, teils an der besseren Einsicht der Prinzipale, teils an dem Widerstande der Gehülfen gescheitert und es sei berechtigter Anlaß, anzunehmen, daß sich dieselben auch in nächster Zukunft nicht verwirklichen würden.

Damit hat sich eine Reinigung des Vereins vollzogen, die einen weiteren Aufschwung hoffen läßt und mit hoher Befriedigung zu begrüßen ist. Allerdings ist die Mitgliederzahl erheblich zurückgegangen, indem 1896/97 361 Mitglieder aus- und nur 132 eintraten, so daß der Bestand von 1402 auf 1173[276] zurückging. Auch 1897/98 haben 200 Austritte stattgefunden, so daß der Mitgliederbestand am 6. Juni 1898 nur noch 978 betrug; ja am Schlusse des Jahres war derselbe sogar auf 962 herabgegangen. Aber diese ausscheidenden waren schädliche Elemente, weil sie dem Grundgedanken aller gewerkschaftlichen Entwickelung, nämlich des friedlichen Ausgleiches unter gleichberechtigten Gegnern kein Verständnis entgegenbrachten. Wir finden ja diese auf der Zuspitzung des einseitigen Unternehmerstandpunktes beruhende antisoziale Anschauung in derselben Gegend des deutschen Vaterlandes auch bei anderen Industrien, als den Buchdruckern; es ist derselbe Absolutismus, derselbe Herrscherstandpunkt in dem Verhältnisse zwischen Unternehmer und Arbeiter, wie er vor 1848 in dem Verhältnisse zwischen Monarch und Volk bestand. Auf politischem Gebiete besteht er bekanntlich noch heute in Mecklenburg. Die rheinischen Industriemonarchen sind hinsichtlich der sozialen Verhältnisse noch auf der Entwickelung vor 1848 stehen geblieben, aber die Arbeiter sind es nicht mehr, und so wird ihr Widerstand notwendig gebrochen werden. Einstweilen ist Rheinland-Westfalen unser soziales Mecklenburg. —

Die sonstige Wirksamkeit des Deutschen Buchdruckervereins will ich hier nur mit wenigen Worten erwähnen.

Bei dem neuen Aufschwunge des Vereins sah man ein, daß man ein regelmäßig erscheinendes Organ nicht entbehren könne. Man ersetzte deshalb mit Beginn des Jahres 1889 die „Mitteilungen“ durch die noch jetzt bestehende „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“, die wöchentlich erscheint.

[Pg 600]

Der Verein beschränkte sich auch nicht auf seine nächsten Aufgaben, sondern aus ihm heraus entstand am 24. Oktober 1884 der „Zentralverein für das gesamte Buchgewerbe“, der sich die Ausbildung aller in den verwandten Berufen beschäftigten Personen und die Hebung in allen Richtungen durch Fortbildungsanstalten, Ausstellungen, Errichtung eines Museums u. dgl. zur Aufgabe stellt; alle sozialpolitische Thätigkeit ist ausgeschlossen.

Der Verein ist ferner thätig gewesen für Einführung einer einheitlichen Orthographie, für einheitliche Normalpapierformate, für Schaffung eines übereinstimmenden Kundentarifs, für Herabsetzung des Drucksachenportos und für Abstellung der Mißstände im Anzeigewesen, insbesonderen dem Rabattsystem. Um sich vor Geschäftsausfällen zu schützen, werden seit Ende 1892 die „Vertraulichen Mitteilungen des Deutschen Buchdruckervereins“ herausgegeben, die den Beteiligten die Namen schlechter Zahler und anderer das Gewerbe schädigender Personen, sowie alle Mitteilungen zur Kenntnis bringen, die sich für das Vereinsorgan nicht eignen. Damit ist auch ein Schuldeneinziehungsbureau verbunden. Weniger Anerkennung verdienen die Eingaben, die der Verein bei Beratung des Arbeiterschutzgesetzes gegen dasselbe machte, und das Gesuch an den Bundesrat vom 16. Februar 1892 um Gewährung von Ausnahmebestimmungen hinsichtlich der Beschäftigung von Arbeiterinnen. Glücklicherweise hatten diese Bestrebungen keinen Erfolg.

Bei Begründung des Vereins gehörten demselben auch viele Prinzipale aus Oesterreich und der Schweiz an; als sich dann später in beiden Ländern eigene Vereine nach dem Vorbilde des deutschen bildeten, sind diese aus dem letzteren ausgeschieden, so daß der Verein sich jetzt auf Deutschland beschränkt. Doch steht derselbe mit dem Oesterreichischen und dem Schweizerischen Prinzipalvereine in einem Kartellverhältnis.

Der Verein besitzt einen Zentralarbeitsnachweis, der unabhängig von den Arbeitsnachweisen der Tarifgemeinschaft ist, sich aber auf denselben Boden stellt, indem er nur tariftreue Prinzipale und Gehülfen berücksichtigt; hierdurch wird der Anschluß neuer Firmen an den Verein befördert. Ferner hat der Verein die „Unterstützungskasse des deutschen Buchdruckervereins“ eingerichtet, die seit 1. Januar 1896 für alle Mitglieder obligatorisch ist, doch können sich auch andere tariftreue Druckereien beteiligen. Außer den Prinzipalen werden die bei tariftreuen Firmen beschäftigten Gehülfen auf ihren Antrag aufgenommen[277]. Die Kasse gewährt Unterstützungen: 1. bei Arbeitslosigkeit,[Pg 601] 2. beim Umzuge nach einem anderem Orte, 3. bei vorübergehender Erwerbsunfähigkeit durch Krankheit, 4. bei dauernder Invalidität. Die Beiträge der Gehülfen belaufen sich auf wöchentlich 10 Pf. für die Reise- und Arbeitslosenkasse, 35 Pf. für die Krankenkasse und 20 Pf. für die Invalidenkasse. Die Prinzipale haben für jeden von ihnen beschäftigten Gehülfen wöchentlich 10 Pf. beizusteuern, erhalten aber ihrerseits aus der Kasse keine Unterstützung, sofern sie nicht durch eine besondere Zahlung von wöchentlich 75 Pf. sich selbst versichern. Die Gehülfen erhalten als Reiseunterstützung und Arbeitslosenunterstützung täglich 1 Mk. bis zur Dauer von 140 Tagen, als Krankenunterstützung täglich 1 Mk. 50 Pf. bis zu 52 Wochen und als Invalidenunterstützung täglich 1 Mk. nebst 100 Mk. Begräbnisgeld für die Hinterbliebenen. Die Kasse umfaßte am 31. Dezember 1897 3600 Gehülfen und 600 Prinzipale. Im Jahre 1898 betrugen Einnahmen, Ausgaben und Vermögen bei der Arbeitslosen- und Reisekasse: 48015,54 Mk, 22429,39 Mk. und 125586,15 Mk., bei der Invalidenkasse: 65085,42 Mk., 12670,04 Mk. und 229368,69 Mk. In der Vereinskasse betrugen 1898 die Einnahmen 14599,64 Mk., die Ausgaben 13463,18 Mk. Das Vereinsvermögen belief sich am 31. Dezember 1898 auf 11682,55 Mk. Seit 1. Oktober 1898 ist auch eine Krankenkasse gegründet und damit das Kassenwesen des Vereins abgeschlossen; dieselbe vereinnahmte bis zum 31. Dezember 1898 15636,84 Mk. und verausgabte 8501,05 Mk., so daß ein Bestand von 7135,79 Mk. verblieb.

Ein besonderes Interesse hat der Verein dem Innungswesen zugewandt. In Berlin, Leipzig, Hamburg und Dresden bestanden schon seit Anfang der 80er Jahre Innungen, die das Lehrlingsprivilegium besaßen. Seit Erlaß des Handwerkergesetzes vom 26. Juli 1897 hat man allgemein die Bildung von Innungen in Angriff genommen und in der Hauptversammlung vom 6. Juni 1898 wurde einstimmig beschlossen, die Einrichtung von Zwangsinnungen anzustreben; es wurde dabei ins Auge gefaßt, demnächst den Prinzipalverein zu einem Innungsverbande umzugestalten. Dadurch würde eine Gesamtorganisation des ganzen Buchdruckergewerbes und insbesondere die Herbeiziehung der bisher dem Vereine nicht angehörigen Prinzipale erzielt werden. Der Geschäftsbericht für 1898 bemerkt jedoch, daß außer den früher bestehenden nur noch für den Regierungsbezirk Osnabrück eine Innung errichtet und daß die ganze Bewegung ins Stocken geraten sei; als Grund wird neben dem Zweifel der Behörden,[Pg 602] ob die Vorschriften über Zwangsinnung auch auf das Buchdruckereigewerbe zu beziehen seien, die in vielen Prinzipalkreisen gegen dieselbe bestehende Abneigung bezeichnet.

III. Oesterreich[278].

In Oesterreich hat die soziale Entwickelung in mancher Beziehung einen etwas anderen Gang genommen, als in Deutschland. Sind hierfür schon die an anderer Stelle[279] erwähnten allgemeinen Umstände maßgebend gewesen, so kommt, was insbesondere die Unternehmerverbände betrifft, noch hinzu, daß gerade infolge der geringen Entwickelung der Industrie auch ihre Vertreter nicht denselben Einfluß im Staatsleben erlangen konnten, wie in Deutschland. Liest man die Verhandlungen der österreichischen Unternehmerverbände, so begegnet man den heftigsten Anklagen gegen das „agrarische Parlament“ und die „feudal-konservative Regierung“, die den Bestrebungen der Industrie kühl, wenn nicht ablehnend gegenüberstehe, sie zum Versuchsobjekt sozialpolitischer Experimente (so z. B. bei dem in Oesterreich eingeführten gesetzlichen Maximalarbeitstage von 11 Stunden) zu machen suche, ja sogar die Unternehmer „ironisiere“ und um jeden Preis sich bestrebe, „sozialpolitisch zu sein“. Dem Grafen Belcredi legt man die Aeußerung in den Mund, den Fabrikanten müsse der Brotkorb höher gehängt werden. Auch den bürgerlichen Kreisen, insbesondere aber denen des Kleingewerbes, macht man den Vorwurf, daß sie bei Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern regelmäßig auf seiten der letzteren ständen. Eine Folge dieser Stellungnahme der übrigen staatlichen Faktoren ist nun aber gewesen, daß die Unternehmer ihrerseits eine ganz andere Haltung auf sozialpolitischem Gebiete verfolgen, als in Deutschland, wo sie wissen, daß unter dem neuen Kurse die Regierung die Interessen des Unternehmertums ohne weiteres, mit denen des Staates identifiziert und im Reichstage neben der Großindustrie nur noch das Agrariertum einen Faktor darstellt, auf den man Rücksicht zu nehmen hat. Einzelne Belege für diese Haltung der österreichischen Industriellen werden weiter unten gegeben werden.

Die Organisation der Industriellen Oesterreichs begann im Anfange der 90er Jahre, indem sich in der Zucker-, Eisen- und Papierindustrie Fachverbände[Pg 603] bildeten, deren Ziel in der Einflußnahme auf die Regierungskreise rücksichtlich der allgemeinen Industrie-, Handels- und Zollpolitik lag. Allerdings waren schon auf Grund des Gesetzes vom 29. Juni 1868 überall obligatorische Handels- und Gewerbekammern zur Vertretung der Interessen des Handels und des Gewerbes einschließlich des Bergbaues begründet, deren es heute 29 giebt. Sie sollen alle in dieses Gebiet einschlagenden Wünsche und Vorschläge erörtern und die Gesetzentwürfe begutachten. Daneben haben sie Marken- und Musterregister und Verzeichnisse über eingetragene Firmen zu führen, Handelsgerichtsbeisitzer zu ernennen, Vertreter in den Eisenbahnbeirat zu entsenden u. s. w. Im Reichsrat bilden sie eine eigene Kurie mit 21 Mitgliedern. Aber diese Handels- und Gewerbekammern befinden sich infolge ihrer Stellung als offizielle Vertretungen in einer gewissen Abhängigkeit von der Regierung. Außerdem haben sie nicht nur die Interessen der Großindustrie und des Großhandels, sondern auch die des Kleingewerbes und des Kleinhandels zu vertreten. So empfanden die Industriellen das Bedürfnis, neben den Kammern noch eigene freie Vereine zu bilden, von denen hier nur diejenigen erwähnt werden sollen, die sich auf die ganze Monarchie erstrecken.

Der älteste dieser Fachvereine ist der 1854 gegründete Zentralverein der österreichisch-ungarischen Rübenzuckerindustrie, aus dem 1861 ein Assekuranzverband gegen Feuerschäden und Rübenpreisdifferenzen, sowie ein Unterstützungs- und Pensionsverein mit Arbeitsvermittelung hervorging. Der Verein hat ein wöchentlich erscheinendes Fachorgan, die „Zeitschrift für Zuckerindustrie und Landwirtschaft“.

Daneben besteht ein Verband der Zuckerraffinerien und ein solcher der Chokolade- und Zuckerwarenfabrikanten.

Ein zweiter Verband dieser Art ist der Verein der österreichisch-ungarischen Papierwarenfabrikanten, der 1862 gegründet wurde und ebenfalls einen Versicherungsverband, sowie 1887 eine Versuchsanstalt für Papierprüfung sowie ein Zentralverkaufsbureau ins Leben rief. Fachorgan ist das monatlich zweimal erscheinende „Zentralblatt für österreichisch-ungarische Papierindustrie“.

Für die Textilgewerbe bestehen der „Verband der Baumwollindustriellen Oesterreichs“, der „Verband der österreichischen Flachs- und Leinenindustriellen“ und der „Verein der österreichisch-ungarischen Juteindustriellen“.

Fernere Fachverbände sind: der „Oesterreichisch-ungarische Verein der Holzproduzenten, Holzhändler und Holzindustriellen“, der „Verein der Montan-, Eisen- und Maschinenindustriellen in Oesterreich“, der »Verein der österreichisch-ungarischen Cellulosefabrikanten, der „Verein der österreichisch-ungarischen Papierfabrikanten“, der „Verband österreichischer Müller und Mühleninteressenten“,[Pg 604] der „Verein österreichischer Petroleumraffineure“, der „Verein der Cementfabriken“, der „Thonindustrieverein“ und die „Oesterreichische Gesellschaft zur Förderung der chemischen Industrie“.

Alle diese Vereine bezweckten, wie gesagt, in erster Linie den Einfluß auf die Regierung, während die Regelung des Verhältnisses zu den Arbeitern ganz aus ihrem Rahmen entfiel. Eine Veranlassung, sich auch mit ihm zu beschäftigen, gab zuerst die im Jahr 1890 auftretende Bewegung für die Feier des 1. Mai. Sie führte nicht allein dazu, daß die einzelnen Vereine sich mit dieser Frage beschäftigten, sondern auch zu der Zusammenfassung der meisten derselben zu dem „Zentralverband der Industriellen Oesterreichs“, der in der Versammlung in Wien am 20. April 1892 endgültig begründet wurde und am 15. Juni 1892 die ministerielle Bestätigung seiner Statuten erhielt. Der Verband umfaßt nach der in der Generalversammlung am 2. April 1898 gegebenen Uebersicht 30 Vereine und zwar fast alle von größerer Bedeutung. Immerhin ist die Gesamtindustrie Oesterreichs in ihrer Organisation noch durchaus rückständig, denn die 30 Vereine des Zentralverbandes umfassen nur etwa 2500 Mitglieder; rechnet man nun noch etwa 500 auf die dem Zentralverband nicht angehörigen Vereine, so ergiebt das bei einer aus der Industriestatistik von 1890 ersichtlichen Gesamtzahl von annähernd 11000 Großbetrieben nur eine Beteiligung von etwa 30%.

Von dem gleichartigen deutschen Verbande unterscheidet er sich nicht hinsichtlich der Zwecke und Mittel, aber in der Organisation, insofern die Beteiligung auf Vereine beschränkt ist, „welche statutengemäß die Interessenvertretung einer bestimmten Industrie (Branche) bezwecken“, während dem deutschen Verbande außer Vereinen, „welche wirtschaftliche, technische und kaufmännische Zwecke verfolgen“, auch „Handels- und Gewerbekammern und ähnliche Verbindungen, Erwerbsgesellschaften, Firmen und einzelne Personen (Industrielle und Freunde der Industrie)“ beitreten können.

Die bisherigen Verhandlungen des Zentralverbandes betrafen folgende Gegenstände: 1. Errichtung von Lehrkanzeln für Feuerungstechnik, 2. Reform des Gesetzes betr. Steuerbefreiung von Neubauten mit Arbeiterwohnungen, 3. Reform der Unfallversicherung, 4. Personalsteuergesetz, 5. Stellungnahme zu der Frage des 1. Mai, 6. Ausgestaltung der technischen Hochschulen, 7. Schaffung eines Arbeitsamtes, 8. Abänderung der Gewerbeordnung (Arbeiterschutzbestimmungen), 9. Pariser Weltausstellung, 10. Oesterreichisch-ungarischer Ausgleich, 11. Statutenänderung (Erweiterung der Aufgaben in der Richtung einer strafferen Organisation der gesamten Industrie), 12. Reform der Krankenversicherung, 13. Sonntagsruhe in Industrie und Handel, 14. Normalarbeitstag, 15. Stellungnahme zur amerikanischen Zoll- und Handelspolitik, 16. Gründung[Pg 605] eines industriellen Assekuranzverbandes (Feuerversicherung), 17. Schaffung eines Industriebeirates, 18. Vorarbeiten für künftige Handelsverträge, 19. Begründung einer industriellen Rechtsschutzstelle, 20. die Lage der österreichischen Malzindustrie.

Wie ersichtlich, befinden sich unter diesen Gegenständen nur wenige, die das Verhältnis zur Sozialpolitik berühren, oder gerade bei ihrer Beratung trat der oben erwähnte Umstand hervor, daß die österreichischen Großindustriellen auf einem wesentlich anderen, insbesondere weniger engherzigen und selbstherrlichen Standpunkte stehen, als ihre deutschen Kollegen. Allerdings finden sich hier die bereits bezeichneten Klagen über Oesterreich, als „einen Staat, in dem die Agrarier regieren und die Industriellen frohnen“, über die Versuche, auf Kosten der Industrie Staatssozialismus zu treiben und den gegen die Industrie geführten Kampf „von oben und von unten“, ebenso wie die Berufung darauf, daß „Oesterreich als Industriestaat noch nicht stark genug sei, um sich herausnehmen zu können, mit der Fahne der Sozialpolitik in der Hand an der Spitze aller Industriestaaten Europas, ja der Welt zu marschieren“. Aber wenn man[280] die Schaffung eines staatlichen Arbeitsamtes forderte, das die gesamte Arbeitsstatistik zentralisieren, die Arbeitsvermittelung in die Hand nehmen und die Arbeitslosigkeit bekämpfen soll, wenn man die Ersetzung der bisherigen Arbeiterversicherung durch eine allgemeine staatliche Sozialversicherung für nötig erklärt, wenn man verlangt, „daß der Arbeitsvertrag, sowie überhaupt das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf eine den modernen Anschauungen entsprechende gesetzliche Basis gestellt werde, sowie die zahllosen Willkürlichkeiten in der Handhabung der jetzigen Bestimmungen über Arbeitslohn, Auszahlungsmodus, Arbeiterwohnungen u. s. w. nach Möglichkeit vermieden werden“, wenn „der Zentralverband vollkommen anerkennt, daß die Industrie in freier und natürlicher Entwickelung auf eine Verkürzung der Arbeitszeit hinstrebt“ und er „diese Entwickelung seinerseits nicht hemmen, sondern im Gegenteil redlich zu fördern suchen will“ und nur im Interesse der Konkurrenzfähigkeit eine Enquete über die wirtschaftlichen und technischen Folgen einer etwaigen Aenderung des gegenwärtigen Standes der Gesetzgebung fordert, wenn man sich bewußt ist, daß „die Industrie nicht aus Arbeitgebern allein besteht, daß den Industriellen auch Pflichten erwachsen, wenn ihnen Rechte zugesprochen werden und daß die Industrie willig die ihr durch eine planmäßige und zielbewußte Sozialgesetzgebung auferlegten Lasten übernimmt“, wenn ausgeführt wird[281] „daß die Stetigkeit der Arbeit nicht nur geeignet ist, die Fabrikation zu regeln, sondern die Erzeugnisse billiger herzustellen, den Arbeitern einen sicheren und dauernden[Pg 606] Verdienst zu schaffen und hiermit die Ueberhastung der Arbeit einerseits, die Unterbrechung derselben und Entlassung von Arbeitern andererseits zu verhindern“, wenn das Ziel aufgestellt wird, „daß die Arbeiter stets ausreichende Arbeit und genügenden Verdienst finden“, und wenn gerade die Erledigung dieser Aufgaben einem staatlichen Arbeitsamte zugewiesen wird, „welches auf Basis der Statistik, der Studien und Erhebungen sich kontinuierlich mit allen Fragen der öffentlichen Arbeit zu beschäftigen und periodisch Präliminarien für alle in einem bestimmten Zeitraume auszuführenden Arbeiten des Staates, der Länder, der Transport- und Industrieunternehmungen, der Städte und anderer bedeutender Konsumplätze aufzustellen hat, um auf Grund dieser Präliminarien im Wege des Verkehrs mit den arbeitvergebenden Stellen für eine rechtzeitige und möglichst gleichmäßige Verteilung der bezüglichen Bestellungen Sorge zu tragen, so daß die aufbringbare Arbeit der Zeit nach die zu beschäftigenden Arbeitskräfte thunlichst kontinuierlich in Anspruch nimmt, wenn diesem Arbeitsamte geradezu die Aufgabe zugewiesen wird, anregend und vermittelnd sich zwischen Produzenten und Konsumenten zu stellen und letztere zu bestimmen, einen später eintretenden Bedarf früher, als ursprünglich beabsichtigt war, zu decken, eventuell einen neuen Bedarf zu schaffen und zu hindern, daß schädliche Beschäftigungspausen eintreten“, wie umgekehrt „das Arbeitsamt retardierend einzugreifen hat, wenn einmal allzu stürmisch Arbeit forciert werden und dadurch die Stetigkeit der Beschäftigung in einer späteren Periode gefährdet werden sollte“, wenn zum Schlusse die ganze Aufgabe nochmals dahin zusammengefaßt wird, „die vorhandene Arbeit im Staate zu konsignieren, die Stetigkeit in der Arbeit herbeizuführen, neue Arbeit vorzubereiten und zu schaffen, die Arbeit im Staate zu regeln und zu leiten“ ——— dann — ja dann sollte man wirklich annehmen, daß die Großindustriellen Oesterreichs lauter halbe oder gar ganze Sozialisten wären. Bedenkt man endlich, daß der noch zu erwähnende „Industrielle Klub“, der ebenfalls dem Zentralverbande angehört, aber den Kampfkarakter gegen die Sozialdemokratie stärker ausprägt, auf Vorschlag seines Präsidenten im November 1895 sich in einer öffentlichen Erklärung für die Erteilung des Wahlrechts an die Arbeiter aussprach[282], so ist in der That der Gegensatz zu dem deutschen Zentralverbande der Industriellen, dessen Sekretär Bueck als einziger nationalliberaler Abgeordneter im Preußischen Landtage für die Vereinsgesetznovelle stimmte, nicht wohl zu verkennen.

Der bereits erwähnte „Industrielle Klub“ ist 1875 in Veranlassung der damaligen Reform der Zollgesetzgebung gegründet und umfaßt Vertreter aus[Pg 607] fast allen Zweigen der Großindustrie. Sein statutenmäßiger Zweck ist, „den industriellen Interessen einen Mittelpunkt zu bieten“. Diesen Zweck verfolgt er abgesehen von gemeinsamen Beratungen „durch sonstige, je nach den Umständen nützlich erscheinende gesetzliche Mittel.“ Mitglieder können Einzelpersonen und Vereine sein. Der Jahresbeitrag beläuft sich auf 100 Gulden. Der Klub hat ein eigenes Organ in seinen seit 1892 erscheinenden „Mitteilungen“. Die innegehaltene prinzipielle Richtung ist aus dem schon erwähnten Beschlusse wegen Verleihung des Wahlrechts an die Arbeiterklasse ersichtlich. Auch hat der Klub in einer besonderen Denkschrift vom 27. November 1891 sich für die — freiwillige — Einführung von Arbeiterausschüssen ausgesprochen mit der Begründung, daß dieselbe die notwendige Ergänzung gegenüber der mit der Vergrößerung der Betriebe eingetretenen Entfremdung zwischen Unternehmer und Arbeiter sei und daß die Ausschüsse, „in ruhigen Tagen geschaffen, gerade in stürmischen Zeiten sich bewähren sollen“. Dabei wird auch die Möglichkeit, daß die Ausschüsse sich gelegentlich an Streiks beteiligen würden, ins Auge gefaßt und als etwas bezeichnet, was man sich eben gefallen lassen müsse. Das schließt nicht aus, daß der Klub mit Nachdruck die Rechte der Unternehmer gegenüber den Arbeitern wahrt, wie er dies wiederholt gethan hat.

Der jüngste Gesamtverband der österreichischen Industrie ist der nach dem deutschen Vorbilde geschaffene „Bund österreichischer Industrieller“, der mittels Erlasses vom 17. Juli 1897 die erforderliche ministerielle Genehmigung erhalten hat. Der Zweck des Bundes ist „die Wahrung der gemeinsamen Interessen der österreichischen Industrie und die Herbeiführung eines gemeinsamen Vorgehens der österreichischen Industriellen in allen Fragen, welche die industrielle Produktion und deren wirtschaftliche Interessen berühren, ohne Betretung des politischen Gebietes.“ Als Aufgaben des Bundes werden bezeichnet: 1. „die stete Verfolgung und Beratung aller mit der Entwickelung der Industrie zusammenhängenden wirtschaftlichen Fragen, 2. die Regelung der Arbeitsverhältnisse in einem die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeiter gleichmäßig berücksichtigenden Sinne, 3. die Ausgestaltung des Verkehrswesens, 4. die Pflege der Export- und Handelsinteressen, 5. die Pflege des technischen Fortschrittes, 6. die Pflege aller Einrichtungen und Maßnahmen, die ein einiges Vorgehen der Industriellen fordern.“ Die Mitgliedschaft beschränkt sich auf Einzelpersonen. Diese zahlen einen jährlichen Beitrag von 20 Kronen, doch haben daneben die unter ihrer Leitung stehenden industriellen Betriebe noch 20 Heller auf den Kopf des beschäftigten Arbeiters zu zahlen.

Auf der am 28. November 1898 in Wien abgehaltenen zweiten Generalversammlung wurde mitgeteilt, daß dem Bunde 668 Firmen mit 128000 Arbeitern angehörten, so daß er die größte österreichische Unternehmervereinigung[Pg 608] geworden ist. Der Bund scheint in höherem Grade, als der Zentralverband und der Industrielle Klub, den Kampfkarakter gegenüber der Arbeiterschaft hervorkehren zu wollen. Allerdings erklärte der Vorsitzende in seinem Jahresberichte es für „technisch verfehlt“, die hierauf bezüglichen Bemühungen des weiteren öffentlich zu besprechen, aber die verfolgte Grundrichtung ist zum Ausdruck gelangt in einer von dem Bundesausschusse ausgearbeiteten und zur Einführung in die Betriebe aller Mitglieder bestimmten Normalarbeitsordnung, die freilich noch nicht veröffentlicht ist, von der aber der Bundesanwalt Dr. Wolf erklärte, daß sie „im ausgesprochenen Interesse der Betriebsunternehmer liege“, daß sie „nur für die Arbeitgeber, aber nicht für die Arbeitnehmer geschaffen“ sei. Der Entwurf hat denn auch den Beifall des Zentralgewerbeinspektors nicht gefunden, und zwar nach der Mitteilung des Vorsitzenden aus dem Grunde, weil der Bund „mit entschlossener Absicht den Standpunkt des Arbeitgebers eingenommen“ habe, wogegen der Zentralgewerbeinspektor, „dem Zuge der Zeit folgend sich bemüßigt glaubte, etwas mehr den bekannten Standpunkt der organisierten Arbeiterschaft einzunehmen“. Es scheint also jetzt der Wind in den österreichischen Unternehmerkreisen etwas frischer werden zu sollen.

Im allgemeinen haben jedoch bisher die Berufsvereinigungen der Industriellen sich weit mehr mit der Beeinflussung der Gesetzgebung, als mit dem Verhältnisse zu den Arbeitern beschäftigt. Die einzige Fachorganisation, die einen ausgesprochenen Kampfkarakter trägt, ist der Verband der Metall- und Maschinenindustriellen Niederösterreichs, der Anfang 1897 begründet wurde und u. a. auch die „gemeinsame Abwehr unberechtigter Streiks“ als Zweck verfolgt. Dabei ist aber zugleich das Interesse der Arbeiter berücksichtigt, denn der Verband soll keinem Unternehmer Schutz bieten, der die Konkurrenzfähigkeit seiner Produkte durch Herabdrückung der Arbeitslöhne und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu steigern sucht, es soll vielmehr das Interesse der Arbeitgeber gewahrt, aber auch in Einklang mit den berechtigten Bestrebungen der Arbeiter gebracht werden. Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern sollen zu einem beide Teile befriedigenden Resultate geführt werden, unberechtigte Bestrebungen der Arbeiter dagegen, insbesondere die deshalb geplanten oder ausgebrochenen Streiks sollen gemeinsam abgewehrt und in ihren Folgen unschädlich gemacht werden.

Der Interessengegensatz gegen die Arbeiter hat aber auch zur Bildung besonderer Kampforganisationen geführt, die sich im Gegensatze zu den „Fachvereinen“ als „Ortsverbände“ bezeichnen und sich nicht auf eine bestimmte Industrie beschränken, sondern alle Industriellen des betreffenden Bezirkes umfassen. Sie sind erst seit 1890 ins Leben gerufen und unmittelbar veranlaßt durch die Maifeier, zu deren Bekämpfung sie gegründet wurden.

[Pg 609]

Die erste dieser Vereinigungen wurde schon 1891 von den Fabrikanten in Bielitz und Biala geschaffen, durch ein Komitee, dem es mittels einer zehntägigen Aussperrung gelang, die Wiederholung der Maifeier in den folgenden Jahren zu verhindern; 1896 hat sich derselbe zu einem festen Verbande erweitert.

Dem gleichen Zwecke entsprang die 1894 begründete „Vereinigung zur Wahrung der industriellen und gewerblichen Interessen für Reichenberg und Umgebung“.

In Veranlassung eines am 3. Juni 1896 ausgebrochenen Streiks bildete sich auch in Neunkirchen ein Unternehmerverein, der den Kampf nach achtwöchiger Dauer siegreich durchführte. Der Verband dehnte sich dann auch auf die übrigen Vororte von Wien aus und führt jetzt den Namen: Verband der Industriellen in den politischen Bezirken Baden, Mödling, Neunkirchen, Wiener Neustadt und Umgebung.

Endlich hat sich ein gleicher Verein in Prag gebildet.

Die Statuten beschränken sich bei allen Vereinen auf die allgemeine Bestimmung, daß der Verband „die solidarische Wahrung, Vertretung und Förderung aller Interessen der Industrie“ bezwecke. Nähere Vorschriften über die Behandlung von Streitigkeiten mit den Arbeitern sind nicht gegeben, und ebensowenig ist auf besondere Vorsichtsmaßregeln zur Durchführung der gefaßten Beschlüsse durch Vertragsstrafen, Wechsel u. dgl. Bedacht genommen, sondern Verabredungen dieser Art sind der Beschlußfassung im einzelnen Falle vorbehalten.

Unabhängig von allen diesen Vereinigungen besteht noch in Wien das „Industrielle Aktionskomitee“, in dem sich einige Industrielle zusammengeschlossen haben zu dem Zwecke, bei wichtigen Gelegenheiten die Interessen der Industrie durch gemeinsame Maßregeln, insbesondere Eingaben an Behörden, wahrzunehmen. Das Komitee beschränkt sich darauf, in solchen Fällen mit den bestehenden Vereinen und einzelnen Industriellen Fühlung zu nehmen. —

Ist im Vorstehenden die freiwillige Organisation unter den österreichischen Unternehmern geschildert, so muß doch auch noch ein Blick geworfen werden auf die in Oesterreich durchgeführte Zwangsorganisation.

Die in Deutschland durch die Arbeiterversicherungsgesetze geschaffenen Berufsgenossenschaften sind in Oesterreich nicht vorhanden, weil man an Stelle der beruflichen eine territoriale Gliederung gesetzt und die Verwaltung nicht den eigenen Organen der Industrie übertragen, sondern in die Hände staatlicher Behörden gelegt hat. Die Invaliditäts- und Altersversicherung ist in Oesterreich noch nicht eingeführt. Dagegen hat in Oesterreich die Gewerbegesetzgebung stets an der Zwangsorganisation des Handwerks festgehalten. Selbst nach der[Pg 610] im allgemeinen liberalen Gewerbeordnung vom 20. Dezember 1859 mußte jeder Gewerbetreibende Mitglied einer Zwangsgenossenschaft sein, und durch das Gesetz vom 15. März 1883, welches zugleich für das Handwerk den allgemeinen Befähigungsnachweis einführte, ist bestimmt, daß „unter denjenigen, welche gleiche oder verwandte Gewerbe in einer oder in nachbarlichen Gemeinden betreiben, samt den Hülfsarbeitern derselben der bestehende gemeinschaftliche Verband aufrechtzuerhalten und, sofern er noch nicht besteht, ... soweit es die örtlichen Verhältnisse nicht unmöglich machen, durch die Gewerbebehörden herzustellen“ ist. „Wer in dem Bezirke einer Genossenschaft das Gewerbe, für welches dieselbe besteht, selbständig betreibt, wird schon durch den Antritt des Gewerbes Mitglied der Genossenschaft.“

Die Beschränkung dieser Vorschrift auf das Kleingewerbe ist durch die Bestimmung herbeigeführt, daß „die Verpflichtung zur Teilnahme an der Genossenschaft für die Inhaber jener Gewerbsunternehmungen nicht eintritt, welche fabrikmäßig betrieben werden“.

„Die Gewerbsinhaber sind Mitglieder, die Hülfsarbeiter der zu einer Genossenschaft vereinigten Gewerbsinhaber sind Angehörige der Genossenschaft.“ Der Zweck der Genossenschaft besteht in der Pflege des Gemeingeistes, in der Erhaltung und Hebung der Standesehre unter den Genossenschaftsmitgliedern und Angehörigen, sowie in der Förderung der gemeinsamen gewerblichen Interessen ihrer Mitglieder und Angehörigen durch Errichtung von Vorschußkassen, Rohstofflagern, Verkaufshallen, durch Einführung gemeinschaftlichen Maschinenbetriebes und anderer Erzeugungsmethoden. Insbesondere liegt ihnen ob:

1. die Sorge für die Erhaltung geregelter Zustände zwischen den Gewerbsinhabern und ihren Gehülfen, besonders in Bezug auf den Arbeitsverband, sowie über die Errichtung und Erhaltung von Genossenschaftsherbergen und die Einführung einer Zuschickordnung (Arbeitsvermittelung);
2. die Fürsorge für ein geordnetes Lehrlingswesen durch Erlassung von Bestimmungen, die der Genehmigung der Behörde bedürfen, über a) die sachliche und religiös-sittliche Ausbildung der Lehrlinge, b) die Lehrzeit bei nicht handwerksmäßigen Gewerben, die Lehrlingsprüfungen und dgl., sowie die Ueberwachung der Einhaltung dieser Bestimmungen und die Bestätigung der Lehrzeugnisse, c) die Festsetzung der Bedingungen für das Halten von Lehrlingen überhaupt, sowie das Verhältnis der letzteren zu der Zahl der Gehülfen im Gewerbe;
3. die Bildung eines schiedsgerichtlichen Ausschusses zur Austragung der zwischen den Genossenschaftsmitgliedern und ihren Hülfsarbeitern aus dem[Pg 611] Arbeits-, Lehr- und Lohnverhältnisse entstehenden Streitigkeiten, sowie die Förderung der schiedsgerichtlichen Institutionen zur Austragung von Streitigkeiten zwischen den Genossenschaftsmitgliedern. Zur Errichtung eines genossenschaftlichen Schiedsgerichtes können sich auch mehrere Genossenschaften vereinigen;
4. die Gründung oder Förderung von gewerblichen Fachlehranstalten und die Beaufsichtigung derselben;
5. die Fürsorge für erkrankte Gehülfen durch Gründung von Krankenkassen oder den Beitritt zu bereits bestehenden Krankenkassen;
6. die Fürsorge für erkrankte Lehrlinge, insofern nicht bereits die gesetzliche Verpflichtung der Lehrherren eintritt;
7. die alljährliche Erstattung von Berichten über alle Vorkommnisse innerhalb der Genossenschaft, welche für die Aufstellung einer Gewerbestatistik von Wesenheit sind. Außer diesen Berichten haben die Genossenschaften über die ihren Zweck berührenden Verhältnisse an die Behörden und die Handels- und Gewerbekammern ihres Bezirkes auf Verlangen Auskünfte und Gutachten zu erstatten und können in dieser Beziehung auch aus eigenem Antriebe diese öffentlichen Organe behufs Förderung ihrer Zwecke in Anspruch nehmen.

Die Genossenschaften eines Bezirks können sich zu Verbänden zusammenschließen, welche entweder aus der gleichartigen und verwandten oder auch aus verschiedenartigen Genossenschaften durch freien Beitritt derselben errichtet werden können.

Die erforderlichen Geldmittel mit Ausnahme der Beiträge für die Krankenkassen werden auf die Mitglieder nach einem statutenmäßig festzusetzenden Maßstabe umgelegt und im Verwaltungswege beigetrieben, doch kann zu Geschäftsunternehmungen auf gemeinschaftliche Rechnung und zu gewerblichen Anlagen behufs gemeinschaftlicher Benutzung mit Ausnahme der Fälle, wo sie aus öffentlichen Rücksichten errichtet sind, kein Mitglied oder Angehöriger gegen seinen Willen herangezogen werden.

Die Gewerkschaften stehen unter der Aufsicht der Behörde, welche zur Ueberwachung eigene Kommissare bestellt[283].

IV. England[284].

Die englischen Verhältnisse hinsichtlich der Organisation von Arbeitern und Unternehmern pflegen als Muster und Vorbild hingestellt zu werden, und[Pg 612] man sollte deshalb annehmen, daß sie wiederholt Gegenstand litterarischer Bearbeitung geworden und allgemein bekannt wären. Das trifft in der That zu hinsichtlich der Arbeiterverbände, aber nicht hinsichtlich der Unternehmervereinigungen, über die vielmehr weder in der deutschen noch auch in der englischen Litteratur irgend eine zusammenhängende Darstellung besteht. Die Quelle, auf die man zurückgehen muß, um das einschlägige Material zu erhalten, sind vielmehr, wenn man sich nicht an die einzelnen Vereine selbst wenden will, die Veröffentlichungen der Royal commission on labour, insbesondere eine von derselben im Jahre 1893 unter dem Titel Rules of associations of employed and of employers veröffentlichte Zusammenstellung von Statuten von Arbeiter- und Unternehmerverbänden, die der Kommission auf ihre an alle ihr bekannten Vereinigungen dieser Art gerichtete Anfrage zur Verfügung gestellt sind. Das hier gebotene Material bezieht sich auf 70 Unternehmerverbände, von denen 24 dem Baugewerbe, 18 dem Bergbau und der Metallindustrie angehören; die übrigen Gewerbe sind mit geringeren Ziffern vertreten. Der älteste Verband ist die 1875 gegründete East of Scotland Association of Engineers and Iron founders.

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, die einzelnen Statuten wiederzugeben, sondern es muß genügen, im allgemeinen den Inhalt derselben zu bezeichnen und auf einzelne besonders bemerkenswerte Punkte hinzuweisen.

Ein Teil der Verbände beschränkt sich darauf, als Zweck im allgemeinen die Vertretung der Interessen des betreffenden Gewerbes zu bezeichnen, wobei die Mehrzahl die Einflußnahme auf die Gesetzgebung bezwecken, während einzelne sich gegen bestimmte Gegner wenden, z. B. die North Wales Coal Owners Association gegen die Eisenbahnen. Aber die bei weitem meisten Statuten erwähnen als Aufgabe des Verbandes daneben die Regelung des Verhältnisses zu den Arbeitern. Einige thun das in der allgemeinen Form, daß die Solidarität der Unternehmerinteressen gegenüber den Gewerkvereinen der Arbeiter betont wird, wie bei der Iron Trades Employers Association, oder daß die gemeinsame Festsetzung der Löhne und der Arbeitszeit als Gegenstand der Verbandsthätigkeit bezeichnet ist. Die große Mehrzahl geht darauf aus, Vorkehrungen gegen Arbeitseinstellungen zu treffen und daß in solchen Fällen eintretende Verfahren zu regeln. Nur wenige von diesen beschränken sich darauf, die Schlichtung der Streitigkeiten durch Schiedsgerichte und Einigungsämter zu regeln, sondern die meisten treffen daneben Fürsorge für gegenseitige Unterstützung der Mitglieder gegenüber den Streikenden, insbesondere durch Ueberlassung[Pg 613] von Arbeitern, wie bei der Liverpool Employers Labour Association, oder durch die Verpflichtung der Mitglieder, die von anderen übernommenen Lieferungen gegen eine den Selbstkostenpreis wenig übersteigende Vergütung auszuführen, durch das Verbot, streikende Arbeiter eines anderen Betriebes zu beschäftigen (schwarze Listen), wie bei der Yorkshire Master Printers and Allied Trades Association und der Seeds Boot Manufacturers Association, oder endlich durch Entschädigung für die durch den Streik verursachten Verluste, wie bei der West Cumberland Ironmasters Association, der North of England Iron Manufacturers Association, der Cleveland Mine Owners Association und den Bergwerksbesitzern in Durham, Northumberland und North Wales. Die Höhe und die Berechnungsart der Entschädigungen ist sehr verschieden. So gewährt die West Cumberland Ironmasters Association einen Nutzen von 2 sh. 6 d. für jede Tonne der wahrscheinlichen Produktion. Die Mitglieder der South Wales Manmouthshire and Gloucestershire Tinplate Makers Association haben bei Streiks Anspruch auf 10 Pfd. St. wöchentlich für jede mit Dampf betriebene und 7 sh. 10 d. für jede mit Wasserkraft betriebene Fabrik. Die Iron Trade Employers Association zahlt den durch Streiks betroffenen Mitgliedern für je 100 Pfd. St. Jahreslöhne wöchentlich 3 sh. Die Shipping Federation entschädigt für jede infolge Verbandsbeschlusses übernommene Haftpflicht einschließlich Kosten. Die Liverpool Employers Labour Association zahlt ihren Mitgliedern, falls es ihr nicht gelingt, für die streikenden Arbeiter Ersatz zu beschaffen, für jeden nicht beladenen oder entladenen Dampfer 2 d. für die Tonne.

Dabei finden wir ein weitgehendes Prüfungsrecht des Verbandes hinsichtlich der Ursachen, die zu dem Streite Anlaß gegeben haben, und niemals wird die Unterstützung gewährt, wenn der Streik durch eigenmächtiges Handeln des Unternehmers herbeigeführt ist, d. h. wenn derselbe die für solche Fälle getroffenen Bestimmungen verletzt hat. Diese gehen meistens dahin, daß sofort dem Verbandssekretär oder einem besonderen Ausschusse Mitteilung zu machen ist. Ebenso darf nicht der einzelne Unternehmer mit den streikenden Arbeitern in Unterhandlungen treten, sondern muß diese dem Verbande überlassen.

Als äußerstes Zwangsmittel ist die allgemeine Einstellung des Betriebes bei allen Verbandsmitgliedern vorgesehen, die von der Generalversammlung mit einer Mehrheit von 2/3 oder ¾ beschlossen werden kann. In einzelnen Verbänden geht man in dem Bestreben, nur gerechtfertigte Ansprüche der Unternehmer zu unterstützen, so weit, daß man die Hülfe ausschließt, wenn ein Mitglied Lohnherabsetzungen vornimmt; so verweigert z. B. die North East Lancashire Cotton Spinners and Manufacturers Association jede Unterstützung denjenigen Mitgliedern, die nicht gewisse Minimallöhne zahlen[Pg 614] oder auch, nachdem sie früher höhere Löhne gezahlt haben, diese einseitig herabsetzen. Ueberhaupt sind in vielen Verbänden, insbesondere in der Eisenindustrie und im Bergbau, die Löhne und häufig auch die Arbeitszeit einheitlich festgesetzt.

Neben dem Verhältnisse gegenüber den Arbeitern ist auch dasjenige der Mitglieder untereinander geregelt. Nicht allein ist jede Art des unlauteren Wettbewerbes verboten, sondern zuweilen, z. B. bei der National Association of Master Builders darf sogar eine von einem Mitgliede abgelehnte Lieferung von keinem anderen übernommen werden. Ebenso sind Mitteilungen an Nichtmitglieder über die Einrichtung des Betriebes unter Strafe gestellt, desgleichen das gegenseitige Abspenstigmachen von Arbeitern.

Die Mitgliedschaft beschränkt sich meist auf die Angehörigen eines bestimmten Gewerbes; nur in Belfast besteht ein allgemeiner Arbeitgeberverband, die Belfast Employers Association. Die National Labour Union ist eine gemeinsame Organisation, indem neben Arbeitgebern auch Arbeiter aufgenommen werden. Die Aufnahme ist häufig davon abhängig gemacht, daß der sich Meldende nicht im Streite mit seinen Arbeitern sich befinden darf. Das Eintrittsgeld ist entweder fest bestimmt oder abgestuft nach dem Umfange des Betriebes. Das letztere ist immer der Fall hinsichtlich der Jahresbeiträge. Für den Austritt ist eine längere oder kürzere Kündigung von 14 Tagen bis zu einem Jahre vorgeschrieben. Der Ausschluß eines Mitgliedes ist zulässig bei Verstoß gegen die Statuten oder Beschlüsse des Verbandes.

Die Leitung ist meistens einem Ausschusse übertragen, dessen Mitgliederzahl zwischen 11 und 36 schwankt. Die Wahl geschieht in den Jahresversammlungen. Neben einem Vorsitzenden pflegt ein Sekretär angestellt zu sein. In den Generalversammlungen hat entweder jedes Mitglied eine Stimme, oder die Stimmenzahl ist nach der Ausdehnung des Betriebes, nach der Gesamtsumme der Arbeitslöhne, der Zahl der Hochöfen, Webstühle u. s. w. abgestuft.

Wie in allen anderen Ländern, so ist auch die Organisation der Unternehmer erst durch diejenige der Arbeiter ins Leben gerufen. Der typische Entwickelungsgang ist am besten zu ersehen in der Maschinenbauindustrie, deren Verhältnisse schon wegen des im Winter 1897/98 zum Austrage gebrachten großen Streiks ein besonderes Interesse beanspruchen und deshalb hier in kurzen Strichen wiedergegeben werden sollen.

Bis zum Jahre 1896 bestand in der Maschinenbauindustrie keine dauernde und umfassende Unternehmervereinigung. Erst 1896 traten die Engineering Employers in Glasgow und Belfast zu einem Vereine zusammen, dem sich bald darauf die North East Coast Employers anschlossen. Als dann 1897 in London acht trade unions der Arbeiter sich verbanden, um die 48stündige[Pg 615] Arbeitszeit durchzusetzen, bildete sich in London eine Association of Engineering and Shipbuilding Employers, der dann noch mehrere ähnliche Verbände in anderen Orten nachfolgten. Alle diese Vereine schlossen sich zusammen zu der „Federation to resist the 48 hours demand“, die schließlich 700 Mitglieder umfaßte. Den Verlauf des großen Kampfes mit der Amalgamated Society of Engineers zu schildern, ist hier nicht am Platze, dagegen ist es von Interesse, die Hauptpunkte der schließlichen Einigung und insbesondere die Bestimmungen kennen zu lernen, die man getroffen hat, um später wieder auftauchende Streitfragen zu erledigen.

Der Friedensvertrag führt den Titel: Arbeitsbedingungen auf Grund gegenseitiger Verständigung zwischen den vereinigten Maschinenbau-Unternehmern und den verbündeten Gewerkvereinen, und ist datiert vom Januar 1898.

Im Eingange wird ausdrücklich betont, daß die Unternehmer nicht die Absicht haben, in die Rechte der Gewerkvereine einzugreifen, aber auch ihrerseits keinen Eingriff dulden wollen. Jeder Arbeiter soll das Recht haben, sich einem Gewerkvereine anzuschließen oder nicht; ebenso steht es im Belieben der Unternehmer, Arbeiter zu beschäftigen, mögen sie einem Gewerkvereine angehören oder nicht. Die Arbeiter verpflichten sich, in den Werkstätten der Unternehmer friedlich mit allen dort beschäftigten Arbeitern, ohne Rücksicht auf deren Zugehörigkeit zu einem Gewerkvereine, zu arbeiten. Freilich ist es dem einzelnen Arbeiter unbenommen, seine Arbeit aufzugeben, aber eine gemeinsame Arbeitseinstellung soll nicht zulässig sein, bevor nicht das Verfahren zur Vermeidung von Streitigkeiten eingeleitet ist. Auf der anderen Seite empfiehlt der Unternehmerverein seinen Mitgliedern, keinen Arbeiter wegen dessen Zugehörigkeit zu einem Gewerkvereine von der Arbeit auszuschließen oder andere Arbeiter zu bevorzugen. Das Recht der Unternehmer, die Arbeiter in Akkord zu beschäftigen, wird anerkannt. Der Akkordlohn soll zwischen Unternehmer und Arbeiter vereinbart werden, soll aber mindestens so hoch sein, daß der Arbeiter nicht weniger verdient, als bei Tagelohn. Dabei ist den Gewerkvereinen das Recht gewahrt, ihren Mitgliedern über Arbeitslöhne und Arbeitsbedingungen Vorschriften zu machen.

Die Höchstzahl der Ueberstunden ist, abgesehen von gewissen Ausnahmen, auf 40 innerhalb vier Wochen festgesetzt. Hinsichtlich der Arbeitslöhne sollen zwischen den Lokalverbänden der Unternehmer und denjenigen der Gewerkvereine allgemeine Vereinbarungen getroffen werden. Der Grundsatz des kollektiven Verhandelns wird ausdrücklich anerkannt. Andererseits haben die Gewerkvereine kein Recht der Einmischung hinsichtlich der an Nichtgewerkvereinler gezahlten Löhne. Eine Beschränkung hinsichtlich der Zahl der Lehrlinge findet nicht statt. Das Recht der Unternehmer, nach ihrem Belieben Maschinen einzuführen[Pg 616] und daran Arbeiter nach deren Fähigkeiten zu beschäftigen, ist ausdrücklich anerkannt.

Die Bestimmungen zur Vermeidung von Streitigkeiten lauten wörtlich:

„In der Absicht, in Zukunft Streitigkeiten zu vermeiden, sollen Deputationen der Arbeiter nach vorhergegangener Verabredung mit den Unternehmern empfangen werden, um Fragen zu verhandeln, an denen beide Teile ein Interesse haben. Im Falle einer Meinungsverschiedenheit sollen die Lokalvereine der Unternehmer mit den Lokalorganen der Gewerkvereine in Verbindung treten. Wünscht ein Gewerkverein irgend eine Frage aufzuwerfen gegenüber dem Unternehmerverbande, so soll durch Vermittelung des Sekretärs des Lokalvereins der Unternehmer eine Besprechung stattfinden. Ist hier eine Verständigung nicht zu erreichen, so soll die Angelegenheit vor dem Exekutivausschuß des Unternehmerverbandes und die Zentralinstanz der Gewerkvereine gebracht werden. Während der Dauer dieser Verhandlungen darf weder eine beschränkte noch eine allgemeine Arbeitseinstellung stattfinden, sondern die Arbeit ist unter den bisherigen Bedingungen weiterzuführen“. Auch hier ist das Recht des Gewerkvereins, solche Verhandlungen im Namen seiner Mitglieder zu führen, ausdrücklich anerkannt. Ebenso wird betont, daß die Unternehmer nicht die Absicht haben, die Löhne der gelernten Arbeiter herabzusetzen.

Angeregt durch die Erfolge des Unternehmervereins hat sich die Mehrzahl der Maschinenfabrikanten ihm angeschlossen, auch solche, die sich an dem Streite über den Achtstundentag nicht beteiligt hatten; die Statuten des erweiterten Verbandes sind noch in der Ausarbeitung begriffen. Die Anregung hierzu ist noch erheblich gesteigert durch das im Jahre 1897 erlassene Haftpflichtgesetz (Workmen's Compensation Act), das mit dem 1. Juli 1898 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz bestimmt, daß Arbeiter für alle Unfälle, die ihnen während ihrer Arbeit zustoßen, mit Ausnahme eigenen groben Verschuldens, von den Arbeitgebern zu entschädigen sind. Eine Abwälzung dieser Haftpflicht durch Versicherung scheiterte daran, daß die Versicherungsgesellschaften in Ermangelung statistischer Anhaltspunkte sehr hohe Prämien forderten, und so hat der Unternehmerverband selbst diese Versicherung übernommen.

Die Zusammenfassung aller Unternehmerverbände zu einer Gesamtorganisation ist in den letzten Jahren wiederholt angeregt, aber bis jetzt ohne Erfolg[285]; die Zeitungsnachrichten, die das Gegenteil meldeten, sind unzutreffend. Dagegen ist es gelungen, einen parlamentarischen Ausschuß nach[Pg 617] dem Vorbilde desjenigen der Gewerkvereine ins Leben zu rufen. Zunächst geschah dies seitens der Unternehmervereine der Baumwollindustrie in Lancashire, die schon im März 1898 ein „Parliamentary and Legal Defence Committee“ bildeten. Die Behandlung der Lohnfrage wurde aber ausdrücklich aus dem Kreise der Befugnisse ausgeschlossen. Erst im Dezember 1898 ist unter dem Vorsitze des Lord Wemyß ein „Employers Parliamentary Council“ gegründet, dem sich bis jetzt die Unternehmervereine folgender Industrien angeschlossen haben: Schiffbau und Reederei, Maschinenbau, Baumwollmanufaktur und Spinnerei, Färberei und Bleicherei, Möbelfabrikation, Ackerbau, Kohlen- und Eisenhandel, Baugewerbe, Schuhwarenmanufaktur, Silberschmiede und Buchdrucker. Auf der ersten in Westminster Palace Hotel abgehaltenen Versammlung war ein Kapital von rund einer Milliarde Pfund Sterling vertreten: der Zweck ist, alle Gesetzvorlagen im Interesse der vertretenen Unternehmer zu prüfen und nötigenfalls auf deren Aenderung hinzuwirken. Die Tendenz einer Verteidigung gegen die Ansprüche der Gewerkvereine liegt offen zu Tage. Die Wahl der Bezeichnung „council“ anstatt des zunächst vorgeschlagenen „committee“ soll wohl eine breitere Grundlage der Organisation andeuten.

Die aufgestellten Satzungen lauten, wie folgt:

1. Das Parliamentary Council soll bestehen aus den Vorsitzenden oder andern bevollmächtigten Vertretern von Unternehmerverbänden und von einzelnen Unternehmern, die zu den verschiedenen Zweigen des Gewerbes und der Industrie des vereinigten Königreiches in Beziehung stehen mit dem Rechte, andere derartige Vertreter oder Einzelunternehmer für besondere Zwecke zu kooptieren.
2. Das P. C. wird einen Exekutivausschuß einsetzen, der während der Parlamentssession in regelmäßigen Zwischenräumen, sowie sonst, sobald es erforderlich ist, zusammentreten soll. Dieser Ausschuß hat, falls nötig, das P. C. zusammenzuberufen.
3. Der Sekretär hat jedem Mitgliede des P. C. ein Exemplar derjenigen im Parlamente eingebrachten Gesetzentwürfe, die das Interesse des Gewerbes im allgemeinen oder eines bestimmten Zweiges berühren, mit einer kurzen Inhaltsangabe des Entwurfes und mit der Aufforderung zu übersenden, den Entwurf dem betreffenden Verbande vorzulegen, um für die zur Beratung des Entwurfes bestimmte Sitzung des P. C. Instruktion zu erhalten.
4. Während der Parlamentssession soll das P. C. so oft, wie nötig, eine Zusammenstellung derjenigen Entwürfe, die es billigt oder verwirft, an die Abgeordneten und die Presse verteilen. In dieser Zusammenstellung ist der Inhalt der Entwürfe kurz zu bezeichnen unter Angabe[Pg 618] der Gründe, die das P. C. für oder gegen dieselben geltend zu machen hat. Ebenso ist der Name des Abgeordneten, der den Entwurf eingebracht hat und dessen Datum, sowie das Nötige aus den parlamentarischen Verhandlungen zu erwähnen.
5. Mit Bezug auf Entwürfe, wegen deren eine Bewegung eingeleitet ist kann das P. C. Eingaben an das Parlament richten.
6. Die Anregung, Unterstützung oder Bekämpfung eines Gesetzentwurfes bei den Parlamenten seitens des P. C. soll nur stattfinden, wenn die Vertreter derjenigen Verbände, deren Industrie dadurch betroffen wird, einstimmig dafür eintreten und außerdem das Vorgehen durch eine 2/3 Mehrheit der in der betreffenden Sitzung anwesenden Mitglieder gebilligt wird.
7. Das P. C. soll, so oft es ratsam scheint, als Broschüre oder in sonstiger Form die Gründe, aus denen es für oder gegen einen Gesetzentwurf eintritt, herausgeben und den Abgeordneten, der Presse und sonstigen geeigneten Personen zustellen.
8. Im Zusammenhange mit der von dem P. C. eingeleiteten parlamentarischen Agitation bezüglich eines Gesetzentwurfes oder Antrages soll derselbe die Verbände, die in ihm vertreten sind, auffordern, auch ihrerseits im gleichen Sinne vorzugehen, insbesondere auf die betreffenden Abgeordneten einzuwirken. Zu diesem Zwecke soll das P. C. ihnen die Petitionen und Begründungen in Abschrift zur Verfügung stellen.
9. Das P. C. soll, so oft es angezeigt scheint, Deputationen an die Minister veranlassen, um ihnen die Gesichtspunkte der Industrie des vereinigten Königreichs in Bezug auf die dem Parlamente vorliegenden Gesetzentwürfe und Anträge oder auf eine von ihm für wünschenswert erachtete Aenderung des bestehenden Rechtes auseinanderzusetzen.
10. Der Sekretär des P. C. kann ermächtigt werden, als parlamentarischer Agent desselben aufzutreten, und er soll verpflichtet sein, nach Instruktionen, die ihm von dem P. C. von Zeit zu Zeit gegeben werden, im Sinne der gefaßten Beschlüsse zu wirken.
11. Das P. C. wird Schritte thun, damit seine Anschauung über eine beabsichtigte gesetzgeberische Maßregel den Kandidaten bei den Parlamentswahlen bekannt wird.
12. Die allgemeinen Ausgaben des P. C. werden bestritten aus Beiträgen der in ihm vertretenen Verbände und Einzelunternehmer. Die persönlichen Ausgaben der Mitglieder, die durch ihre Teilnahme an den Sitzungen entstehen, werden nicht vergütet.
13.[Pg 619] Der geringste jährliche Beitrag, den die dem P. C. angehörigen Verbände oder Einzelunternehmer an dessen Kasse zu zahlen haben, beträgt 10 Guineen[286]. Das P. C. hat daneben das Recht, von den bezeichneten Verbänden oder Einzelunternehmern für außergewöhnliche Ausgaben Umlagen zu erheben, die aber in jedem Jahre nicht mehr als einen halben Penny auf den Kopf der beschäftigten Arbeiter betragen dürfen.

Ob das Parliamentary Council die beabsichtigte Bedeutung erlangen wird, ist noch durchaus unsicher; bisher sind ihm noch nicht entfernt alle bestehenden Untenehmerverbände beigetreten. Immerhin ist die Lage gegen früher insofern wesentlich geändert, als die Vorbereitungen zu einem gemeinsamen Auftreten der gesamten Unternehmerschaft in dem Maße vorhanden sind, daß bei einem neu ausbrechenden Streite mit der Arbeiterschaft sofort eine Gesamtorganisation ins Leben treten oder mindestens ein gemeinsames Vorgehen für den Einzelfall gesichert sein würde. —

Seitdem sowohl die Arbeiter wie die Unternehmer sich eine einheitliche Organisation gegeben haben, liegt der Gedanke nahe, auch zwischen den beiderseitigen Gesamtvertretungen eine organische Beziehung herzustellen. Dieser Plan scheint auch bereits in maßgebenden Kreisen ins Auge gefaßt zu sein, insbesondere hat nach einer Mitteilung des „Daily Chronicle“ der Handelsminister Ritchie mit dem Vorsitzenden des parlamentarischen Komitees sowohl der trade unions als des Arbeitgeberbundes Besprechungen gehabt, die den Zweck verfolgen, unter Oberleitung des board of trade ein nationales Einigungsamt aus Vertretern beider Organisationen zu bilden. Wie es scheint hat der Plan auf beiden Seiten grundsätzlich Zustimmung gefunden.

V. Frankreich[287]

In Frankreich war, wie oben[288] dargestellt, bis 1864 die Berufsorganisation allgemein verboten, und obgleich die Fachvereine der Unternehmer früher als die der Arbeiter thatsächlich geduldet wurden, so konnte doch vor dem Syndikatsgesetze[Pg 620] vom 21. März 1884 eine allgemeine Organisation sich nicht entwickeln. Immerhin zählte man nach einem am 15. März 1881 der Deputiertenkammer vorgelegten Berichte damals bereits 138 Unternehmersyndikate mit 15000 Mitgliedern. Nach der oben mitgeteilten Statistik ist die Zahl der Syndikate jetzt auf 1823 industrielle oder kommerzielle und 1371 landwirtschaftliche mit 159293 bezw. 438596 Mitgliedern gestiegen; auch haben sie sich zu 46 bezw. 20 Verbänden zusammengeschlossen, denen 783 bezw. 1006 Syndikate mit 89016 bezw. 596534 Mitgliedern angehören.

Hinsichtlich der landwirtschaftlichen Syndikate ist bereits[289] darauf hingewiesen, daß in ihnen der Gegensatz zwischen Unternehmer und Arbeiter ganz zurücktritt. Nach dem Grundgedanken sollen auch beide Klassen in demselben Syndikate vereinigt sein, obgleich ihnen thatsächlich fast nur Unternehmer angehören, doch ist es in Frankreich mehr, als in Deutschland, üblich, daß ländliche Arbeiter einen kleinen Grundbesitz haben, so daß der Gegensatz verwischt wird.

Auch für Industrie und Handel giebt es „gemischte Syndikate“, doch haben dieselben, wie die geringe Zahl von 170 Syndikaten mit 32237 Mitgliedern und insbesondere die geringe Zunahme in den letzten Jahren beweist, keine besondere Lebenskraft bewiesen[290].

Auch die reinen Unternehmersyndikate haben den Schwerpunkt ihrer Thätigkeit nicht in das Verhältnis zu den Arbeitern, sondern in andere Aufgaben verlegt, insbesondere in die Beeinflussung der staatlichen und Gemeindeorgane im Interesse des betr. Gewerbezweiges, in Verhandlungen mit Eisenbahn- und Schiffsgesellschaften, Erzielung billiger Kohlenpreise, günstiger Versicherungsbedingungen u. s. w. Ebenso übernehmen sie eine Thätigkeit, die in Deutschland meist den Handels- und Gewerbekammern obliegt, insbesondere die Erstattung von Sachverständigengutachten für Verwaltungsbehörden und Gerichte, sowie die Uebernahme schiedsgerichtlicher Entscheidungen auf Wunsch der Beteiligten. Ihnen liegt es auch ob, die Wahlen für Handels- und Schiedsgerichte vorzunehmen. Daneben besorgen sie Auskunfterteilung über Kreditverhältnisse und Persönlichkeiten der Kunden- und Arbeitsnachweis für Angestellte und Arbeiter, sie verteilen Belohnungen für treue Dienste und gewähren Unterstützungen an ihre in Not geratenen Mitglieder oder deren Familien. Endlich geben sie regelmäßige Berichte und Zeitschriften heraus, besitzen Fachbibliotheken und veranstalten Fachausstellungen. Im Jahre 1895 betrugen die Zeitschriften insgesamt 124, die Fachbibliotheken 73, die Arbeitsnachweise 97, die Fachkurse 35, die Fachschulen 16, die Laboratorien für chemische Analysen 13 und die Kassen und Versicherungsanstalten der verschiedensten Art 95.

[Pg 621]

Wie erwähnt, haben die Unternehmersyndikate sich zu Verbänden zusammengeschlossen, von denen besonders die „Union nationale du Commerce et de l'Industrie“ in Paris eine hervorragende Bedeutung erlangt hat. Sie wurde 1857 von einigen Industriellen begründet, umfaßte aber schon 1891 73 Syndikate und hat sich zu einer Art Zentralstelle entwickelt, die auch seit 1860 die Zeitschrift „L'Union nationale“ herausgiebt. Ihr ist vor allem die Beteiligung der französischen Industrie an der 1881 in Melbourne abgehaltenen Weltausstellung zu verdanken, die von der französischen Handelskammer schon aufgegeben war. Ihre Wirksamkeit besteht in der Erteilung von Auskunft über Zahlungsfähigkeit der Käufer und in der Erledigung von gewerblichen Streitigkeiten; sie besitzt ein Laboratorium zur Vornahme chemischer Analysen und ein Bureau zur Begutachtung von Versicherungsverträgen.

Seit 1866 besteht eine weitere Zusammenstoßung ähnlicher Art in dem „Comité central des chambres syndicales“, das aus den Vorsitzenden der zugehörigen Syndikatskammern besteht; an ihm sind 39 Syndikate beteiligt. Ferner umfaßt die Groupe du bâtiment 29, das Comité de l'alimentation Parisienne 10, der Syndicat général des vins et des boissons en détail de la France 7 Syndikate u. s. w.

Es ist selbstverständlich, daß der Interessengegensatz zwischen Unternehmern und Arbeitern häufig zu Streitigkeiten führt, und so finden wir auch in Frankreich, daß die Unternehmer nicht allein der gesetzlichen Anerkennung der Arbeitersyndikate den schärfsten Widerspruch entgegensetzten, sondern auch jetzt noch diese zu bekämpfen und die Arbeiter zum Austritt zu zwingen suchen, weshalb man darauf bedacht ist, solchen Angriffen im Wege der Gesetzgebung Schranken zu setzen. Der Abgeordnete Bovier-Lapierre brachte deshalb schon 1889 einen Gesetzentwurf ein, der folgenden Wortlaut hat: „Jeder — er sei Arbeitgeber, Werkführer oder Arbeiter — der überführt wird, daß er durch Androhung von Verlust der Beschäftigung oder von Arbeitsentziehung, durch eine begründete Weigerung, Arbeit zu geben, durch Entlassung von Arbeitern oder Angestellten wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem Arbeiter- oder Unternehmersyndikate, durch Zwang oder Gewaltthätigkeiten oder auch durch Anerbietungen und Versprechungen von Arbeit die Freiheit der gewerkschaftlichen Vereinigung beeinträchtigt oder die Ausübung der in dem Gesetze vom 21. März 1884 bestimmten Rechte verhindert, wird mit Gefängnis von 1–3 Monaten oder mit einer Buße von 100–2000 Frcs. bestraft.“ Die Kammer hat den Gesetzentwurf in der Sitzung vom 17. Mai 1889 und zum zweitenmal in derjenigen vom 13. Mai 1890 mit 344 gegen 142 Stimmen angenommen, nachdem insbesondere auch zwei Großindustrielle Laroche-Joubert und Ouvré denselben unterstützt hatten. Im Senate dagegen wurde er am 23. Juni 1891 mit 184 gegen 39 Stimmen[Pg 622] verworfen, indem man sich auf den Standpunkt der Unternehmer stellte, die in zahlreichen Petitionen geltend machten, daß das Gesetz in die Freiheit des Arbeitgebers, die Arbeiter nach seinem Belieben zu entlassen, eingreife und den Ruin der französischen Industrie und des Exportes herbeiführen müsse. Die Deputiertenkammer hat dann allerdings am 19. März 1892 nochmals den gleichen Antrag angenommen, eine Entschließung des Senates ist aber seitdem nicht bekannt geworden.

Nun ist es interessant, wie bei solchen Streitfällen, insbesondere aber zu dem Erlasse des Gesetzes selbst die Unternehmer und ihre Verbände sich gestellt haben. Natürlich gab es eine Reihe großer Unternehmungen, insbesondere in den Kohlenbezirken des Nordens, die sich stark genug fühlten, der Arbeiterbewegung Trotz zu bieten, und die deshalb zu den heftigsten Gegnern des Gesetzes gehörten, dessen Folgen für die französische Industrie sie nicht schwarz genug malen konnten. Aber gerade die genannten Zentralverbände, die Union nationale und das Comité central, traten nicht allein warm für das Gesetz ein, sondern auch bei späteren Streitigkeiten, bei denen die Unternehmer versuchten, ihre Arbeiter zum Austritte aus den Syndikaten zu zwingen, haben diese wiederholt mit Erfolg die Vermittelung jener Organe angerufen. Dieselben unterhalten dauernd zu den Organisationen der Arbeiter gute Beziehungen.

VI. Die übrigen Länder.

In den übrigen Ländern ist das Gewerkschaftswesen überhaupt, und so auch unter den Unternehmern noch wenig entwickelt; wenigstens bietet die Litteratur über Unternehmerverbände, mit Ausnahme der Kartelle und Trusts, die uns hier nicht interessieren, nur sehr dürftige Notizen.

In Belgien haben sich, nachdem die alten offiziellen Handelskammern durch das Gesetz vom 11. Juni 1875 aufgehoben waren, neue freie Vereinigungen dieser Art als lokale Interessenvertretungen gebildet. In Brüssel ist am 6. August 1875 nach dem französischen Vorbilde eine Union syndicale ins Leben getreten, die auf Ausbreitung dieses Systems hinzuwirken sucht; die Vertreter der bestehenden Syndikatskammern bilden ein Zentralkomitee.

In Dänemark haben sich schon seit mehreren Jahren in den verschiedenen Gewerben Unternehmervereine gebildet, die sich im Frühjahr 1898 zu dem „Zentralverein der Dänischen Arbeitgeber“ zusammengeschlossen haben.

In Rußland ist durch die Gewerbeordnung vom 31. März 1879 für Finnland die Einrichtung von Vereinen der Gewerbetreibenden zur Wahrnehmung[Pg 623] ihrer gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen obligatorisch gemacht unter Scheidung von Fabrik, Handwerk und Handel. Am 31. Dezember 1891 bestanden 41 solche Vereine mit 3801 Mitgliedern für Industrie und Handwerk und 30 Vereine für den Handel.

Auch in Japan zeigt die sich rasch entwickelnde Industrie bereits ähnliche soziale Gestaltungen, wie in Europa. Der plötzliche Aufschwung hat dort zu einem erheblichen Mangel an Arbeitern geführt, der seinerseits eine Steigerung der bis dahin sehr geringen Löhne im Gefolge gehabt hat. Um dem entgegenzuwirken, haben gegen Ende 1896 46 Firmen der Textilindustrie einen Verband begründet, der die Steigerung der Löhne bekämpfen sollte. Dieser Zweck wurde jedoch dadurch vereitelt, daß eine einzelne große Fabrik den Vertrag brach und selbständig vorging. Demgegenüber suchten sich die übrigen Firmen dadurch zu schützen, daß sie über die ausgeschiedene Fabrik den Boykott verhängten, indem die Mitglieder des Verbandes den Lieferanten von Baumwolle, Kohle, Schmieröl u. s. w., welche mit den boykottierten Firmen in Verbindung bleiben würden, den Abbruch aller geschäftlichen Beziehungen androhten. Der Ausgang dieses Kampfes ist noch nicht bekannt geworden.


Während die Arbeiter, um ihre Interessen gegenüber den Unternehmern zu wahren, wie oben (S. 440 ff.) näher dargestellt ist, auch bereits den Weg internationaler Vereinigung betreten haben, sind ihnen die Unternehmer auf diesem Wege bisher noch nicht gefolgt. Allerdings haben die Kartelle und ähnliche Organisationen zum Teil die Grenzen der einzelnen Länder überschritten und sind in Verfolgung ihrer Zwecke hierzu auch geradezu gezwungen. Aber die Kartelle richten sich, wie oben (S. 516 ff.) hervorgehoben, doch in erster Linie nicht gegen die Arbeiter, sondern gegen die Konsumenten, sie kommen deshalb als internationale Organisationen zur Vertretung der Interessen der Unternehmer gegenüber den Arbeitern nicht in Betracht. Sollten aber die Arbeiter den Weg der internationalen Vereinigung weiter mit Erfolg beschreiten, so ist zu erwarten, daß auch die Unternehmer ihnen auf demselben Wege folgen werden.

Fußnoten:

[220] Die Litteratur ist von Kleinwächter im Handw. der Staatsw., VI, 355 und van der Borght, daselbst S. 367 angegeben, woraus besonders zu erwähnen sind: Kleinwächter, Die Kartelle. Innsbruck 1863. Schäffle, Die Kartelle, in den gesammelten Aufsätzen Bd. I, Tübingen 1885. Steinmann-Bucher, Die Nährstände und ihre zukünftige Stellung im Staate. Berlin 1886. Aschrot, Die amerikanischen Trusts in Braun's Archiv, II, 383. Schönlank, Die Kartelle, daselbst III, 490. Raoul Jay, Die Syndikate der Arbeiter und Unternehmer in Frankreich, daselbst IV, 403. Großmann in Schmollers Jahrbuch XV, 238. Steinmann-Bucher, daselbst S. 451. Das neueste Werk, in dem auch das Verhältnis zu den Arbeiterorganisationen Berücksichtigung gefunden hat, ist: Die Unternehmerverbände von Liefmann. Freiburg 1897. Einige Notizen, insbesondere Statuten, verdanke ich auch der Güte befreundeter Industrieller oder der betreffenden Vereinsvorstände.

[221] Liefmann a. a. O. S. 42.

[222] Es ist eine ganz ähnliche Einrichtung, wie die altrömische fiducia.

[223] Handwörterb. d. Staatsw., Bd. VI, S. 350.

[224] a. a. O. S. 124.

[225] Vgl. Vorwort.

[226] Brentano schreibt mir: „Das Material über Organisationen der Arbeitgeber ist weit schwerer zugänglich, als das über Organisationen der Arbeiter. Jene sind heute die wahren geheimen Gesellschaften.“

[227] Zur Zeit ist erster Vorsitzender Kommerzienrat Th. Haßler in Augsburg, erster Stellvertreter Geh. Finanzrat H. Jenke in Essen, Direktor der Krupp'schen Werke, zweiter Stellvertreter Generalkonsul E. Russel, Inhaber der Diskontgesellschaft. Generalsekretär ist der Abgeordnete Dr. A. Bueck-Berlin.

[228] Vgl. „Deutsche Industriezeitung“ Nr. 11 vom Juni 1897.

[229] Derzeitiger Vorsitzender ist Kommerzienrat H. Wirth in Berlin; Generalsekretär ist Dr. W. Wendlandt.

[230] Nicht zu verwechseln mit der allgemeinen „Zentralstelle zur Vorbereitung von Handelsverträgen“, an welcher der Bund die Beteiligung abgelehnt hat.

[231] Siehe unten S. 542.

[232] Diejenigen Vereinigungen, die sich ausschließlich mit der Regelung der Produktion und der Preise beschäftigen, also die Kartelle im eigentlichen Sinne, habe ich aus den oben angegebenen Gründen unerwähnt gelassen. Mit ihnen hat sich der Verein für Sozialpolitik in seiner am 28./29. September 1894 in Wien abgehaltenen Generalversammlung eingehend beschäftigt auf Grund einer Zusammenstellung ausführlichen Materials über 10 deutsche und 5 ausländische Kartelle im XL. Bande der Vereinsschriften. Ueber die Kartellbewegung in Deutschland in den Jahren 1891–1897 finden sich in Anschluß an eine von Großmann in Schmoller's Jahrbuch, N. F. XV, 238 ff. gegebene Darstellung einige weitere Notizen von Calwer in der „Sozialen Praxis“, Nr. 34 vom 20. Mai 1897, nach der die Gesamtzahl von 1891 bis März 1897 von 153 auf 196 gewachsen war, doch weist der Verfasser mit Recht darauf bin, daß nicht die Anzahl, sondern nur die Ausdehnung des Geschäftsbereiches einen Anhaltspunkt für die Entwickelung des Kartellwesens bietet.

[233] Vgl. unten S. 533.

[234] Ich habe die folgenden Angaben zum größten Teile der Zusammenstellung von van der Borght im Handw. der Staatsw., VI, 357 ff. entnommen. Zu den Interessentenvereinigungen gehören auch die Handelskammern, die in den meisten Staaten gesetzlich organisiert sind und die auf Grund des Unfallversicherungsgesetzes gebildeten Berufsgenossenschaften. Beide Arten entfallen aus dem Rahmen dieser Arbeit.

[235] Vgl. unten S. 547.

[236] Vgl. unten S. 548.

[237] Die mit den Innungen verbundenen Gesellenausschüsse sind an anderer Stelle zu erwähnen. Vgl. unten S. 692.

[238] Die Beteiligung der Arbeiter an den Aufgaben der Berufsgenossenschaften ist an anderer Stelle zu erwähnen. Vgl. unten S. 690.

[239] Das Material verdanke ich dem Generalsekretär des Verbandes Dr. Märtens. Eine ausführliche Darstellung der Entstehung und Wirksamkeit des Verbandes giebt Ehrenberg in seinem Aufsatze: „Der Ausstand der Hamburger Hafenarbeiter“ in Conrad's Jahrb. f. Nat.-Oek., Jahrg. 1897, S. 801 ff.

[240] Nach dem Vorbilde des Hamburger Vereins hat sich ein solcher auch in Lübeck gebildet; dessen Vorsitzender, Rechtsanwalt Dr. Götz, hat mir jedoch auf mehrfache an ihn gerichtete Anfragen eine Antwort nicht zukommen lassen.

[241] Das Material verdanke ich dem Geschäftsführer des Bundes, Herrn Nasse.

[242] Vgl. unten S. 551.

[243] Das Material verdanke ich dem Vereinsvorstande.

[244] Das Material verdanke ich dem Geschäftsführer des Vereins, Dr. M. Kandt.

[245] Das Material verdanke ich dem Vorsitzenden des Vereins Th. Zacharias.

[246] Die Satzungen der Gesellschaft sowie die Versicherungsbedingungen und den als Rundschreiben versandten Gründungsbericht habe ich auf briefliche Bitte vom Herrn O. Weigert zugesandt erhalten. Im übrigen stützt sich die Darstellung auf den Aufsatz in Nr. 8 der „Sozialen Praxis“ vom 25. November 1897, der seinerseits sich auf authentisches Material beruft.

[247] Vgl. z. B. den unten (S. 545) erwähnten Ausstandsversicherungsverband des Oberbergamtsbezirks Dortmund.

[248] Vgl. oben S. 524.

[249] Mit diesen Worten beendigte O. Weigert sein Referat in der oben gedachten Generalversammlung.

[250] Außer den hier näher bezeichneten Vereinen habe ich noch in der „Industrie“ (Herausgeber Dr. Steinmann-Bucher) folgende erwähnt gefunden, über die es mir nicht möglich gewesen ist, Näheres zu erfahren:

1. Verein Deutscher Eisengießereien, begründet im Januar 1889 in Hannover; derselbe bezweckt die Abwehr unberechtigter, auf gemeinsamer Verbindung oder Verabredung beruhender Forderungen von Arbeitern auf den Eisenhütten, Gießereien und Maschinenfabriken des Vereins.
2. Arbeitgeberbund aus den Holzbearbeitungsbetrieben in Stettin.
3. Verband der Schuh- und Schäftefabrikanten in Berlin (der Vorsitzende Schlesinger hat mir auf meine Anfrage keine Antwort erteilt)
4. Verband der Erfurter Schuhfabriken.
5. Verband der Schlittschuhfabriken.
6. Verband rheinischer Wollgarnfärbereien.
7. Verband der Flachsspinner von Nordwestdeutschland.
8. Verband der Lausitzer Zigarrenfabrikanten.
9. Ziegeleiverband für die Reg. Bezirke Magdeburg und Anhalt.
10. Verband der Ziegeleien in Rathenow.
11. Verband der Granitindustriellen des Fichtelgebirges.

[251] Neuere Ziffern zu erhalten ist mir nicht gelungen, insbesondere hat die von mir um Auskunft und Vermittlung gebetene Handelskammer in Dortmund mir erklärt, daß sie „es nicht für richtig halte, die gewünschte Auskunft zu erteilen“.

[252] Herr Generaldirektor R. Rösicke schreibt mir, daß er keine solchen kenne.

[253] Ich gebe den Wortlaut wieder, um ein anschauliches Bild solcher bis in die größten Einzelheiten aufgearbeiteten Verträge zu liefern.

[254] Nach Mitteilung des Herrn Richard Rösicke ist dies nicht nur seine eigene Auffassung, sondern die aller Verbandsmitglieder, deren Berechtigung mir freilich nicht zweifellos ist.

[255] Ich verdanke die folgenden Angaben der Mitteilung des Vorsitzenden und Gründers des Vereins, Herrn Gustav Samson in Cottbus, und gebe sie hier unter Berufung auf meinen Gewährsmann wieder, obgleich ich nicht in der Lage bin, mir über die Richtigkeit der Thatsachen und Ansichten ein eigenes Urteil zu bilden. Steht auch Herr Samson naturgemäß auf dem Standpunkte des Fabrikanten, so ergiebt sich doch aus seinem Briefe und der Stellung, die er in dem Gegensatze zwischen Unternehmern und Arbeitern einnimmt, ein vorurteilsloser Blick, der auch die Schwächen der eigenen Stellung nicht verkennt; erklärt er doch, daß er nicht unter allen Umständen den Streik verdamme, sondern ihn für einen wichtigen Kulturfaktor halte; bei Streiks, die allerdings stets als ultima ratio anzusehen seien, werde schließlich das höhere Recht entscheiden, gegen das auch Fabrikantenvereinigungen machtlos seien.

[256] Ich verdanke das Material und ausführliche Darlegungen über die einschlägigen Verhältnisse Herrn Gustav Ritter in Aachen, dem Gründer und Vorsitzenden des Vereins.

[257] Das Material der folgenden Darstellung verdanke ich Herrn Handelskammersekretär Ackermann in Barmen.

[258] Vgl. über dieses System die unten (S. 643) folgende Darstellung des Ostschweizerischen Stickereiverbandes, insbesondere S. 647.

[259] Das benutzte Material verdanke ich überwiegend dem Vorsitzenden des Innungsverbandes deutscher Baugewerksmeister Herrn Baumeister Felisch in Berlin und dessen Sekretär W. König.

[260] Nach einer bei den Verhandlungen zur Gründung eines Gesamtverbandes gemachten Mitteilung sollen außer den hier erwähnten noch ferner Vereine bestehen in: Altenburg, Breslau, Burg, Düsseldorf, Demmin, Erfurt, Eberswalde, Eschershausen, Gera, Jena, Königsberg, Leipzig, Langensalza, Mühlhausen i. Thr., Naumburg, Osnabrück, Plauen i. V., Pyritz, Schöppenstedt, Thorn, Tambach, Weimar und Zwickau.

[261] Das Material ist mir von dem Vorsitzenden Herrn B. Baruch zur Verfügung gestellt.

[262] Die vorstehenden Mitteilungen verdanke ich dem Vorsitzenden des Vereins, Herrn Edgar Rietz; die Statuten haben noch nicht die polizeiliche Genehmigung erhalten.

[263] Das Material verdanke ich dem Vorsitzenden, Tischlermeister Th. Siemon.

[264] Das Material verdanke ich dem Vorsitzenden des Vereins, Herrn Gustav Kopka in Herford.

[265] Vgl. S. 540.

[266] Eine eingehende Darstellung und Kritik des Entwurfes habe ich in der Zeitschrift „Das Land“ (Herausgeber H. Sohnrey) Nr. 7, 8 u. 9 von 1895 gegeben.

[267] Die nachfolgenden Angaben verdanke ich Herrn Oekonomierat Dr. Kutzleb in Breslau.

[268] Vergl. oben S. 262 ff.

[269] Dies ist für die Zeit bis 1894 die zur Feier des 25 jährigen Bestehens des Vereins herausgegebene Festnummer der Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker, die sich selbst als eine Ergänzung der Zahn'schen und Gerstenberg'schen Arbeiten bezeichnet und sich übrigens einer durchaus loyalen Darstellung befleißigt. Im übrigen benutze ich die mir von den Vorstande des Vereins gütigst zur Verfügung gestellten Geschäftsberichte.

[270] Diese neuen 9 Kreise sind folgende: 1. Nordwest, 2. Rheinland-Westfalen, 3. Main, 4. Südwest, 5. Bayern, 6. Thüringen, 7. Sachsen, 8. Brandenburg, 9. Nordost.

[271] Vgl. oben S. 271.

[272] Dieselbe war bei Beginn des Streiks eingesetzt.

[273] Derselbe ist später bei Wiedererrichtung der Tarifgemeinschaft von neuem abgeändert und durch einen neuen ersetzt, der seit 1. Juli 1896 in Kraft ist.

[274] Der Wortlaut dieser ganzen Darstellung ist dem mehrerwähnten Berichte entnommen.

[275] Eine ausführlichere Darstellung bei Tarifgemeinschaft ist an anderer Stelle (S. 624) gegeben.

[276] Auf die oben (S. 590) angegebenen Kreise verteilten dieselben sich wie folgt: I 200, II 92, III 71, IV 110, V 131, VI 66, VII 296, VIII 104, IX 103.

[277] Anfangs bildete diese Unterstützungskasse einen Hauptgegenstand des Streites zwischen Prinzipalen und Gehülfen, indem die letzteren sie als Konkurrenzunternehmen zur Schwächung ihres Verbandes betrachteten. Nachdem das Verhältnis sich jetzt dauernd günstig gestaltet hat, ist am 9. Dezember 1898 zwischen den beiderseitigen Organisationen das Abkommen getroffen, daß der Beitritt der Arbeiter zu den Prinzipalskassen deren freier Entschließung vorbehalten bleibt, daß also einerseits der Verband seinen Mitgliedern die Teilnahme nicht verbietet, andererseits aber auch der Prinzipalverein seine Mitglieder nicht auffordert, die Beschäftigung der Gehülfen von dem Beitritte zur Kasse abhängig zu machen.

[278] Das hier verwandte Material verdanke ich überwiegend den Herren Raunig, Sekretär des Industriellen Klubs, und Dr. Grunzel, Sekretär des Zentralverbandes der Industriellen. Eine gute Orientierung bietet die kleine Schrift von A. G. Raunig: Die Organisation der Industrie in Oesterreich, Wien 1897.

[279] S. oben S. 85 ff.

[280] Vgl. Protokoll des 5. Verbandstages vom 15. Juni 1896, S. 14 ff.

[281] Protokoll über den 3. Verbandstag vom 26. November 1895.

[282] Vgl. die erwähnte Broschüre von Raunig: Die Organisation der Industrie in Oesterreich, S. 5 und die offizielle Erklärung in Nr. 35 der „Mitteilungen des Industriellen Klubs“ vom 7. Dezember 1895.

[283] Ueber die Beteiligung der Gehülfen vgl. unten S. 693.

[284] Das benutzte Material, soweit es nicht dem im Texte erwähnten Blaubuche der Royal commission on Labour entnommen ist, verdanke ich Herrn Alexander Siemens, dem jetzigen Vorsitzenden des Maschinenbauer-Unternehmerverbandes (Federated Engineering Employers).

[285] Brentano in Brauns, Archiv für soz. Ges. VIII, S. 122 erwähnt, daß Ende 1873 ein „Nationaler Bund vereinigter Arbeitgeber“ gegründet sei, doch habe ich über denselben nichts Näheres in Erfahrung bringen können.

[286] 210 Mark.

[287] Die folgenden Angaben sind im wesentlichen den Annuaires des syndicats professionels entnommen, die mir von dem Musée social zur Verfügung gestellt sind. Vgl. außerdem W. Lexis: Gewerkvereine und Unternehmerverbände in Frankreich in den Schriften des Vereins f. Sozialpolitik XVII, S. 61 ff., und R. Jay: Die Syndikate der Arbeiter und Unternehmer in Frankreich in Braun, Archiv f. soz. Ges. IV, S. 403 ff.

[288] Vgl. S. 63 ff.

[289] Vgl S. 82.

[290] Wir haben uns mit ihnen an anderer Stelle (S. 678) noch weiter zu beschäftigen.

[Pg 624]

Dritter Teil.
Gemeinsame Organisationen.

A. freiwillige Vereinigungen.

1. Die Tarifgemeinschaft der deutschen Buchdrucker[291].

Die Verhältnisse im deutschen Buchdruckergewerbe sind bereits an zwei Stellen Gegenstand der Darstellung gewesen, indem einerseits der Gehülfenverband[292] und andererseits der Prinzipalverein[293] in seiner Entwickelung geschildert ist. Ließ es schon dort sich nicht vermeiden, dieselben Ereignisse mehrfach zu erwähnen, so gilt dies um so mehr hier, wo es die Aufgabe ist, die gemeinsame Organisation beider Gruppen zu behandeln. Immerhin bieten die verschiedenen Darstellungen, da sie auf verschiedenen Quellen beruhen, den Vorzug einer gegenseitigen Ergänzung.

In der Geschichte der Buchdruckerorganisationen tritt schon früh der Versuch auf, neben gesonderten Vereinen der Gehülfen und der Prinzipale eine höhere Gemeinschaft ins Leben zu rufen, in der die Sonderorganisationen sich gewissermaßen verschmelzen. Allerdings bedeutet das nicht, daß die letzteren sich aufzulösen hätten und die gemeinschaftliche Organisation an ihre Stelle träte, sondern neben den Sonderverbänden, die stets die Aufgabe behalten werden, die widerstreitenden Interessen zu vertreten, tritt ein Organ, dessen Wesen und Berechtigung darauf beruht, daß es neben den widerstreitenden auch gemeinsame Interessen von Prinzipalen und Gehilfen giebt, und dessen Zweck deshalb darin[Pg 625] besteht, diese Gemeinsamkeit äußerlich zu verkörpern und ihr zu ihrem Rechte zu verhelfen.

Es erleichtert das Verständnis, wenn man dabei gleich die Punkte ins Auge faßt, um deren Verwirklichung es sich handelt, eine Verwirklichung, der man nur allmählich sich genähert hat, die aber schließlich fast völlig gelungen ist.

Der erste dieser Punkte ist das bereits in der englischen Gewerkschaftsbewegung verfolgte System des kollektiven Verhandelns, d. h. des Grundgedankens, daß das Arbeitsverhältnis nicht Sache des einzelnen Prinzipals und des einzelnen Gehülfen ist, sondern daß, da verständige Vertragsbedingungen nur durchführbar sind, wenn sie in dem ganzen Gewerbe gleichmäßig gelten, die Vertragsgrundlagen geschaffen werden müssen durch Verständigung der beiderseitigen organisierten Gesamtheit.

Streng genommen wird diese Gesamtheit gebildet durch alle zu der betreffenden Gruppe gehörigen Individuen, und es müßte deshalb die Aufgabe sein, diese sämtlich an den Verhandlungen zu beteiligen. Thatsächlich geschieht dies nicht, sondern gerade umgekehrt besteht der zweite Punkt, der für die unter den Buchdruckern geschaffene Organisation von wesentlicher Bedeutung ist, darin, daß die beiderseitigen Vereine, obgleich sie nur einen Teil der in Betracht kommenden Personen umfassen, bis zu einem gewissen Grade sich die Rechtsstellung erkämpft haben, die Gesamtheit zu vertreten. Soweit dies, insbesondere bei den Gehülfen, noch nicht völlig gelungen ist, kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Entwickelung in dieser Richtung sich weiter vollziehen wird. Theoretisch könnte man die Berechtigung dieser Forderung bestreiten, aber für die praktische Beurteilung muß man in Rechnung ziehen, daß in dem Vereine naturgemäß die tüchtigsten Elemente zusammengefaßt sind, die deshalb ein gewisses inneres Recht haben, auch die Vertretung der übrigen Berufsgenossen zu beanspruchen.

Als dritter Punkt endlich ist hervorzuheben, daß die Tarifgemeinschaft, obwohl die beiderseitigen Verbände ausschlaggebend an deren Schaffung beteiligt sind und in deren Wirksamkeit zu Worte kommen, dennoch ihnen gegenüber eine relative Selbständigkeit besitzt, daß insbesondere die gefaßten Beschlüsse in ihrer Gültigkeit unabhängig sind von der Zustimmung der Sonderorganisationen. Auch dies ist nur der zutreffende Ausdruck für den richtigen Grundgedanken, daß es neben den widerstreitenden höhere gemeinsame Interessen giebt, daß diese freilich jene nicht aufheben und deshalb auch nicht deren Vertretung durch Sonderorgane ausschließen, daß sie aber den Vorrang zu beanspruchen haben und deshalb durch ein selbständiges Organ vertreten werden müssen. —

Versuche, die wichtigsten Punkte des Arbeitsverhältnisses gemeinsam zu regeln, sind schon früh gemacht. So wird schon 1848 eine örtliche Tarifvereinbarung zwischen Prinzipalen und Gehülfen in Breslau erwähnt, die man[Pg 626] bestrebt war, auf die ganze Provinz auszudehnen. Das Innungsstatut der Leipziger Prinzipale von 1852 enthielt gewisse Bestimmungen über Lehrlingswesen und Berechnung (1000 n = 22 Pf.), die 1858 einer Revision unter Beteiligung der Gehülfen unterworfen wurden. Auch waren Schiedsgerichte geschaffen. Diese wurden auch in dem „Nationalbuchdruckerverein“ von 1848 vorgesehen. Der 1869 gegründete „Deutsche Buchdruckerverein“ brachte zuerst Schiedsgerichte zur Regelung von Lohnstreitigkeiten für ganz Deutschland zur Einführung. Schon 1870 übertrug man in Leipzig dem Schiedsgerichte zugleich die Stellung als Tarifkommission, d. h. die Aufgabe, nicht nur Streitigkeiten über den bestehenden Tarif zu entscheiden, sondern auch dessen Umgestaltung und Fortentwicklung in die Hand zu nehmen. Aber der Versuch, diesen Tarif auch außerhalb Leipzigs durchzuführen, mißlang, und erst das Jahr 1873 brachte den ersten, durch Vertreter der Prinzipale und der Gehülfen für ganz Deutschland vereinbarten Normaltarif, der den Verschiedenheiten der bis dahin örtlich getroffenen Festsetzungen ein Ende machte.

In demselben waren Bestimmungen über den Lohn und die Arbeitszeit, sowie die Lösung des Arbeitsverhältnisses enthalten. Die Arbeitszeit war auf zehn Stunden festgesetzt; Ueberarbeit war besonders zu bezahlen. Für einzelne größere Städte waren besondere Vereinbarungen vorbehalten. Um die Durchführung der Beschlüsse zu sichern, waren Schiedsämter und ein Einigungsamt eingesetzt. Die Schiedsämter sollten in allen größeren Städten und mindestens in den Vororten der 12 Kreise bestehen; ihre Mitglieder würden von sämtlichen am Orte vorhandenen Prinzipalen und Gehülfen gewählt. Das Einigungsamt, das in Leipzig seinen Sitz hatte, war die Berufungsinstanz gegen Entscheidungen der Schiedsämter und hatte zugleich über örtliche Lohnzuschläge in den Fällen Bestimmung zu treffen, wo die Beteiligten sich nicht zu einigen vermochten.

Auf Anrufen eines Teiles tritt das Einigungsamt als Tarifrevisionskommission in Thätigkeit; doch sind die gefaßten Beschlüsse der Abstimmung in den Kreisen zu unterwerfen.

Der Tarif war zunächst für drei Jahre vereinbart, gelangte aber nicht überall zur Durchführung. Man setzte 1876 einen anderen an die Stelle, der je nach einem Jahre durch halbjährige Kündigung außer Kraft gesetzt werden konnte, doch mußte diese Kündigung mindestens von der Mehrheit der Prinzipale bezw. Gehülfen in drei Kreisen ausgehen.

Schon 1877 machten die Prinzipale von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch, und der nach vieler Mühe zustande gebrachte neue Tarif vom 2. August 1878 brachte insofern eine wesentliche Verschlechterung, als man die Schiedsämter und das Einigungsamt aufhob und die Aufgabe des letzteren hinsichtlich der Tarifverhandlungen[Pg 627] einer besonderen Tarifrevisionskommission aus je 12 Prinzipalen und Gehülfen übertrug.

Das Ergebnis aller dieser Einigungen über den Tarif war insofern unbefriedigend, als es niemals gelang, die getroffenen Vereinbarungen in genügendem Umfange zu praktischer Anerkennung zu bringen, vielmehr die Mehrheit der Prinzipale sich nicht um sie kümmerte. Mehrfach versuchten die Gehülfen, die Durchführung zu erzwingen, aber die gebrachten Opfer entsprachen nicht den Erfolgen. Die Prinzipale ihrerseits thaten wenig, um die Gehülfen bei ihrem Kampf zu unterstützen. Um so mehr empfanden die letzteren das Fehlen eines mit der Durchführung der Beschlüsse betrauten gemeinsamen Organes als einen wesentlichen Mangel und stellten schon 1883 den Antrag, in neue Verhandlungen einzutreten, um einerseits die Schiedsämter wieder einzuführen und andererseits der Tarifrevisionskommission die Stellung einer Ueberwachungsbehörde zu geben. Der Antrag wurde aber, als nicht ordnungsmäßig gestellt, abgelehnt. Erst 1886 führten erneute Verhandlungen zur Erreichung dieses Zieles; es wurden die Schiedsämter in demselben Umfange, wie sie bis 1876 bestanden, wieder eingeführt und die Tarifrevisionskommission in eine Tarifkommission umgestaltet, der es obliegen sollte, auf die Durchführung des Tarifes hinzuwirken. Daneben wurde eine Lehrlingsskala festgesetzt. Der Tarif wurde auf unbestimmte Zeit vereinbart; eine Kündigung konnte nur durch sechs Prinzipals- bezw. Gehülfenvertreter der Tarifkommission im Namen ihrer Kreise erfolgen. Der neue Tarif gelangte bei 1083 unter etwa 4000 Firmen zur Einführung.

Aber als man im September 1888 zu neuen Verhandlungen zusammentrat, bezeichneten die Berichte aus allen Teilen Deutschlands die Lage noch immer als sehr unbefriedigend. Die Schiedsgerichte waren nur in wenigen Orten eingerichtet, und die Verallgemeinerung des Tarifes war nicht gelungen. Die Gehülfen erhoben von neuem gegen die Prinzipale den Vorwurf, daß sie den Kampf für Durchführung des Tarifs ausschließlich ihnen überließen. Diese gaben zum Teil die Berechtigung dieser Klagen zu, und die Leipziger Prinzipalvertreter machten, um einen besseren Erfolg zu erzielen, den Vorschlag der Begründung einer Buchdruckertarifgenossenschaft, d. h. einer gemeinsamen Organisation von Prinzipalen und Gehülfen. Die letzteren waren jedoch nicht geneigt, hierauf einzugehen, indem sie fürchteten, durch neue Beiträge neben denen zu der eigenen Organisation ihre Mitglieder zu überlasten, und so wurde der Antrag zunächst zurückgezogen. Umgekehrt wurde der Antrag der Gehülfen, Einrichtung zu gemeinschaftlicher Durchführung des Tarifs zu treffen, von den Prinzipalen abgelehnt und ebenso der fernere Vorschlag der Gehülfen, den Tarif[Pg 628] künftig nicht, wie bisher, zwischen der Gesamtheit der Prinzipale und Gehülfen, sondern zwischen den beiderseitigen Organisationen zu vereinbaren.

Auch im folgenden Jahr wurde der letztere Antrag ohne Erfolg eingebracht, doch einigte man sich auf folgende Resolution:

„Die Tarifkommission hält im Interesse der Durchführung des Tarifs für dringend nötig, daß seitens der tariftreuen Prinzipale nur Gehülfen eingestellt werden, welche nachweislich zu tarifmäßigen Bedingungen gearbeitet und in solchen Geschäften ausgelernt haben. Dies ist in den Fachblättern zu veröffentlichen.“

Daneben vereinbarte man einen neuen Tarif, der mit dem 1. Januar 1890 in Kraft trat und bei 1017 Firmen Anerkennung fand.

Aber auch die gefaßte Resolution hatte keinen Erfolg, insbesondere die Prinzipale in Rheinland-Westfalen, die noch nicht einmal den Tarif von 1878 eingeführt hatten, erklärten die Resolution für „ein Mittel zur Durchführung des Tarifes, das der geschäftlichen Feinfühligkeit, der moralischen und gesetzlichen Grundlage entbehre“.

Im Jahre 1891 erhoben die Gehülfen die Forderung einer Herabsetzung der Arbeitszeit von effektiv 9½ auf 8½ Stunden, verbunden mit entsprechender Lohnerhöhung. Der Antrag wurde von den Prinzipalen mit der Begründung abgelehnt, daß das Gewerbe eine solche Maßregel nicht vertrage, und daß erst die Bedingungen früherer Tarife seitens der Allgemeinheit erfüllt werden müßten. Da zugleich seitens einzelner Prinzipale versucht wurde, die Verbandsgehülfen durch andere zu ersetzen, so kam es endlich im November 1891 zu dem großen Kampfe, dessen Verlauf schon oben[294] geschildert ist, und der zugleich die Beseitigung der bestehenden Tarifgemeinschaft zur Folge hatte.

Aber der so eingetretene tariflose Zustand führte bald zu den größten Unzuträglichkeiten, insbesondere hatte die Zahl der Lehrlinge 1894 die früher festgesetzte Ziffer bereits um 5000 überschritten; auch die Arbeitszeit wurde mehrfach erhöht, und ebenso gab es immer mehr Gehülfen, die nicht einmal nach dem von den Prinzipalen jetzt einseitig festgesetzten Tarife bezahlt wurden.

Einzelne von den Gehülfen unternommene Versuche, neue Verhandlungen herbeizuführen, scheiterten, und so wurde denn 1896 von neuem die Forderung einer Herabsetzung der Arbeitszeit in Verbindung mit einer 15 %igen Lohnerhöhung aufgestellt. Auch der Verlauf dieser Entwickelung ist oben geschildert. Am 11. März 1896 kam es zu einer Zusammenkunft der Vorstände der beiderseitigen Verbände, in der beschlossen wurde, Tarifbevollmächtigte zusammentreten zu lassen, um über diese Forderungen zu beraten. Die Gehülfenvertreter wurden[Pg 629] durch allgemeine Wahlen bestimmt, während seitens der Prinzipale der bestehende „Tarifausschuß des deutschen Buchdruckervereins“ die Verhandlungen führte. An den Wahlen, bei denen ausschließlich die Kandidaten des Gehülfenverbandes gewählt wurden, beteiligten sich 28032 Gehilfen. Die Nichtverbandsgehülfen hatten die Beteiligung an der Wahl abgelehnt, da man ihre Forderung, daß der Verband und die Nichtverbandsgehülfen nach ihrem Ziffernverhältnis gesondert die Vertreter wählen sollten, nicht bewilligt hatte.

Am 15. April 1896 traten die gewählten Bevollmächtigten, und zwar neun von jeder Seite, zur Beratung zusammen, an der je zwei Vertreter des Prinzipalvereins, des Gehülfenverbandes und der Nichtverbandsgehülfen mit beratender Stimme teilnahmen. Das Ergebnis der Verhandlungen war neben einer Ermäßigung der Arbeitszeit auf 9 Stunden effektiv und einer Lohnerhöhung vor allem die Wiederbegründung der Tarifgemeinschaft. Der Tarif wurde für 5 Jahre festgesetzt. Derselbe ist das Grundgesetz der neu geschaffenen Organisation und enthält zunächst sehr ausführliche Bestimmungen über die Berechnung der Arbeitsvergütung sowie die Vorschrift, daß die tägliche Arbeitszeit ausschließlich der Pausen 9 Stunden dauert, und zwar innerhalb der Zeit von 6 Uhr morgens bis 9 Uhr abends; zwischen Beginn und Schluß der Arbeit dürfen nicht mehr als 12 Stunden liegen. Auch die schon früher erwähnte wichtige Bestimmung ist wiederhergestellt, daß der Prinzipal verpflichtet ist, die bei ihm konditionierenden Gehülfen voll zu beschäftigen und bei unzureichender Arbeit für etwaige Zeitversäumnis nach dem Durchschnittspreise der letzten 30 Arbeitstage zu entschädigen.

Das Gebiet Deutschlands (mit Ausschluß von Elsaß-Lothringen) ist in die der Druckerei-Berufsgenossenschaft entsprechenden neun Kreise eingeteilt.

Organe der Tarifgemeinschaft sind der „Tarifausschuß der deutschen Buchdrucker“ und das „Tarifamt der deutschen Buchdrucker“.

Der Tarifausschuß besteht aus je 9 Prinzipalen und Gehülfen: in jedem Kreise werden ein Mitglied und zwei Vertreter mittels getrennter Urabstimmung von Prinzipalen und Gehülfen gewählt. Wahlberechtigt und wahlfähig sind nur diejenigen Prinzipale, die den Tarif anerkannt haben, und diejenigen Gehülfen, die in tariftreuen Druckereien arbeiten. Die Amtsdauer des Ausschusses beträgt drei Jahre.

Die Thätigkeit des Tarifausschusses erstreckt sich auf die Beratung und Festsetzung des Tarifes, sowie auf die Beratung und Beschlußfassung von Maßnahmen zur Durchführung des Tarifs. Die Beschlußfassung kann auch auf schriftlichem Wege erfolgen. Die Beschlüsse werden mit absoluter Mehrheit gefaßt, in welcher jedoch sowohl von der einen wie von der anderen Partei drei Stimmen zugestimmt haben müssen.

[Pg 630]

Das Organ des Tarifausschusses ist das Tarifamt. Seine Aufgabe ist Ausführung der vom Ausschusse gefaßten Beschlüsse sowie „Vermittelung des Verkehrs der Tarifkontrahenten untereinander behufs Aufrechterhaltung und Durchführung des Tarifs“. Das Tarifamt besteht aus drei Prinzipalen und drei Gehülfen sowie deren Stellvertretern. Die Amtsdauer ist dreijährig. Die beiden Vorsitzenden des Ausschusses sind zugleich Vorsitzende des Amtes. Dasselbe hat seinen Sitz am Vororte eines Kreises, der alle drei Jahre vom Ausschusse bestimmt wird. Das Amt hat einen eigenen besoldeten Sekretär.

Das Tarifamt hat die folgenden Obliegenheiten:

1. die Ausführung der Beschlüsse des Tarifausschusses;

2. die Aufstellung und alljährliche Veröffentlichung eines Verzeichnisses der den Tarif zahlenden Firmen;

3. die Anordnung von Maßnahmen zur Anerkennung und allgemeinen Durchführung des Tarifs;

4. die Vornahme statistischer Erhebungen über die Lohn-, Lehrlings- und Lebensverhältnisse an den einzelnen Druckorten und die Berichterstattung über die angestellten Ermittelungen;

5. die Vermittelung zwischen Prinzipalen und Gehülfen in allen Tarifangelegenheiten, soweit nicht die in § 47 vorgesehenen Schiedsgerichte in Betracht kommen, nachdem die Thätigkeit der am Vorort der betreffenden Kreise ansässigen Mitglieder des Tarifausschusses erfolglos war;

6. die aktenmäßige Führung und Ordnung aller bei ihm eingehenden, den Tarif betreffenden Schriftstücke, sowie die Schaffung und Fortführung eines Tarifkommentars;

7. die Errichtung von Schiedsgerichten an den verschiedenen Druckorten, sowie die Aufteilung einer einheitlichen Geschäftsordnung für dieselben;

8. die Errichtung von Arbeitsnachweisen an den verschiedenen Druckorten, sowie die Aufteilung einer einheitlichen Geschäftsordnung für dieselben;

9. die Ausschreibung der Wahlen der Vertreter zum Tarifausschuß;

10. die Entgegennahme der Abänderungsanträge zum Tarif, die Einberufung des Tarifausschusses und Erledigung aller den Tarif betreffenden Angelegenheiten.

Zur Schlichtung von Streitigkeiten in Bezug auf Auslegung des Tarifs sind an allen Kreisorten sowie auf Antrag von je zwei tariftreuen Prinzipalen oder Gehülfen auch an den größeren Druckorten Schiedsgerichte zu errichten. Gegen die Beschlüsse findet, wenn sie nicht mit mindestens 2/3 Mehrheit gefaßt sind, die Berufung an das Tarifamt statt.

An allen größeren Druckorten sollen ferner Arbeitsnachweise errichtet werden, die nach Angabe des Tarifausschusses zu verwalten und dem Tarifamte unterstellt sind.

[Pg 631]

Alle Veröffentlichungen in Sachen des Tarifs erfolgen in den beiden offiziellen Blättern der Tarifgemeinschaft: der „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“ und dem „Korrespondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer“, nach Beschluß des Ausschusses auch in anderen Blättern.

Die Kosten der Ein- und Durchführung des Tarifs werden von den tariftreuen Prinzipalen und Gehülfen zu gleichen Teilen getragen. Das Tarifamt hat sie nach den Anweisungen des Tarifausschusses einzuziehen.

Zur Ausarbeitung eines Entwurfes dieser Organisation wurde eine aus drei Prinzipalen und drei Gehülfen bestehende Kommission eingesetzt, deren Arbeit in der vom 15. bis 19. Mai abgehaltenen Plenarversammlung gebilligt wurde. Auch Schiedsgerichte und Arbeitsnachweise wurden in Aussicht genommen. Der Tarif ist mit dem 1. Juli 1896 in Kraft getreten. Der Tarifausschuß sollte am 17. Juni zusammentreten, aber da infolge der von der Gasch'schen Opposition eingeleiteten Agitation gegen die Tarifgemeinschaft am 17. Juni der Kreis Sachsen unvertreten war, so nahm man von endgültiger Konstituierung Abstand und beschränkte sich darauf, einen Prinzipal und einen Gehülfen als Vorsitzende des Tarifausschusses zu wählen und zugleich mit der vorläufigen Wahrnehmung der Geschäfte des Tarifamtes zu beauftragen. Nachdem aber die vom 13. bis 18. Juli tagende außerordentliche Generalversammlung des Gehülfenverbandes das Abkommen mit 45 gegen 22 Stimmen gebilligt und zugleich der Prinzipalverein seinen Mitgliedern die Anerkennung zur Pflicht gemacht hatte, konnte am 24. September 1896 die erste ordentliche Sitzung des Tarifausschusses in Berlin eröffnet werden. Alle Kreise mit Ausnahme des zweiten (Rheinland-Westfalen) waren vertreten; von dort war nur der Gehülfenvertreter anwesend, da die Wahl eines Prinzipalmitgliedes noch nicht zu erreichen gewesen war. Nach den Beschlüssen vom 17. Juni hatten auch die beiderseitigen Organisationen (Buchdruckerverein und Gehülfenverband) eingeladen werden sollen, man hatte jedoch aus Zweckmäßigkeitsgründen hiervon abgesehen, und dies Verfahren wurde von dem Ausschusse gebilligt. Aus dem erstatteten Berichte ist hervorzuheben, daß bis dahin Anerkennungen des Tarifs von rund 1000 Prinzipalen und 8400 Gehülfen eingegangen waren. Dem früheren Beschlusse gemäß waren zur Bestreitung der Kosten 8000 Mk. je zur Hälfte von beiden Seiten eingezogen. Der Prinzipalvorsitzende Büxenstein beklagte, daß vielfach die Prinzipale gemeinsam der Einführung des Tarifes Widerstand leisteten, insbesondere gelte dies für Rheinland-Westfalen; im allgemeinen sei die Durchführung in den großen Druckorten gelungen, dagegen stehe es noch mangelhaft in der Provinz. Doch könne man mit den bisherigen Erfolgen zufrieden sein.

[Pg 632]

Die Verhandlungen nahmen 4 Tage in Anspruch. Die meiste Zeit erforderten die Anträge einzelner Orte wegen Bewilligung der im Tarif vorgesehenen Ausnahmebehandlung, insbesondere Herabsetzung des Lohnminimums, sowie Stellungnahme zu dem Vorgehen einzelner Firmen und die Beschlußfassung darüber, ob man gegen sie Zwangsmaßregeln einzuleiten, insbesondere sie im Verzeichnisse der tariftreuen Firmen zu streichen habe.

Aus der beschlossenen Geschäftsordnung für die Schiedsgerichte ist folgendes hervorzuheben. Dieselben sind nur zuständig für Streitigkeiten zwischen Prinzipalen und Gehülfen über die Auslegung des Tarifes. Sie bestehen aus mindestens zwei und höchstens fünf Prinzipalen und der gleichen Anzahl von Gehülfen. Wahlberechtigt und wählbar sind nur tariftreue Prinzipale und solche Gehülfen, die in tariftreuen Druckereien arbeiten. Die Wahl wird von den betreffenden Kreisvertretern geleitet. Das Schiedsgericht tritt monatlich zweimal zusammen. Die Leitung erfolgt durch die beiden zu wählenden Vorsitzenden, einen Prinzipal und einen Gehülfen; ebenso werden zwei Schriftführer ernannt. Die beiden Vorsitzenden sollen versuchen, entstehende Streitigkeiten gemeinsam zu schlichten. Das Schiedsgericht ist beschlußfähig, wenn mindestens zwei bezw. die Mehrheit der Mitglieder jeder Gruppe erschienen sind. An der Abstimmung darf sich immer nur die gleiche Anzahl von Prinzipalen und Gehülfen beteiligen, die überschüssigen Mitglieder haben nur beratende Stimme. Bei Stimmengleichheit gilt die Klage als abgewiesen. Die Kosten des einzelnen Streitfalles werden von der unterliegenden Partei getragen.

Größere Schwierigkeiten ergab die Beratung der Satzungen für die Arbeitsnachweise. Noch § 48 des Tarifes sind „an allen größeren Druckorten nach Angabe des Tarifausschusses zu verwaltende und dem Tarifamte unterstehende Arbeitsnachweise zu errichten, soweit nicht schon an diesen Plätzen solche bestehen. Die zur Zeit bestehenden Arbeitsnachweise haben die Verpflichtung einzugehen, daß sie nur tariftreue Gehilfen in tariftreuen Druckereien unterbringen und auf Anweisung des Tarifamtes in erster Linie den durch ihr Eintreten für tarifmäßige Bezahlung konditionslos gewordenen Gehülfen Arbeit nachweisen“. Es giebt also neben den vom Tarifausschusse einzusetzenden und vom Tarifamte zu beaufsichtigenden Arbeitsnachweisen auch noch andere, die teils von den Prinzipalen, teils von den Gehülfen eingerichtet sind. Für diese ist allerdings durch die bezeichnete Bestimmung die Verpflichtung geschaffen, die im Kampfe für den Tarif arbeitslos gewordenen Gehülfen vor allen anderen zu berücksichtigen, aber soweit dies nicht zutrifft, ist es ihnen überlassen, nach welchen Grundsätzen sie verfahren wollen. Nun haben viele von den Prinzipalen geschaffene Arbeitsnachweise die Bestimmung, daß sie in erster Linie solche Gehülfen unterbringen, die den von den Prinzipalen geschaffenen Unterstützungskassen[Pg 633] angehören, und hiergegen unternahmen die Gehülfenmitglieder des Tarifausschusses einen Angriff, indem sie forderten, daß die fortbestehenden Arbeitsnachweise den Bestimmungen der neuen Tarifnachweise sich zu unterwerfen hätten, widrigenfalls sie als tarifuntreu zu betrachten und aufzuheben seien. Aber die Prinzipalmitglieder machten demgegenüber geltend, daß dies eine Aenderung des Tarifs enthalten würde, zu welcher der Ausschuß nicht befugt sei. Obgleich die Gehülfen sich darauf beriefen, daß der Arbeitsnachweis der Lebensnerv der neuen Organisation sei, daß die Prinzipalnachweise häufig sogar die Verbandsmitglieder ausschlössen und deshalb die Koalitionsfreiheit antasteten, daß vielmehr zu Gunsten der gemeinsamen Nachweise alle früheren aufgehoben werden müßten, und obgleich die Gefahr eines aus der Frage sich ergebenden Konfliktes betont wurde, erfolgte die Ablehnung des Gehülfenantrages mit Stimmengleichheit. Schließlich gelang es, nachdem die Prinzipalvertreter erklärt hatten, daß sie für die Beseitigung der bei einem Arbeitsnachweise etwa bestehenden Sonderbestimmungen sich bemühen würden, einen Antrag Büxenstein mit 9 gegen 7 Stimmen zur Annahme zu bringen, nach welchem das Tarifamt beauftragt wird, „sich umgehend mit den bestehenden Arbeitsnachweisen in Verbindung zu setzen, um festzustellen, ob dieselben sich den Satzungen unterordnen. Bei Ablehnung der Satzungen sind diese Arbeitsnachweise als tarifwidrig den tariftreuen Prinzipalen und Gehülfen durch die Publikationsorgane bekannt zu geben. An den betreffenden Orten sind sofort Tarifarbeitsnachweise zu errichten“. Der Antragsteller betonte, daß dieser Vorschlag im Sinne sich mit dem Gehülfenantrage decke und nur eine etwas abgeschwächte Fassung wähle, um den Prinzipalen die Zustimmung zu ermöglichen.

Aus den übrigen Bestimmungen der Satzungen ist folgendes hervorzuheben:

Die errichteten Arbeitsnachweise unterstehen der gemeinsamen Kontrolle der Kreisvertreter sowie des Tarifamts. Mit der Errichtung und der Sorge für ordnungsgemäße Verwaltung werden die Kreisvertreter betraut.

Der Arbeitsnachweis hat nur tariftreuen Prinzipalen Arbeitskräfte und tariftreuen Gehülfen Stellung nachzuweisen.

Bei tariflichen Differenzen muß auf gemeinsame Anweisung der beiden Kreisvertreter bezw. des Tarifamts die Vermittelung für die betreffenden Offizinen eingestellt werden, und zwar bis zum ordnungsmäßigen Austrag des Streitfalls.

Die Vermittelung von Arbeitsgelegenheit soll nicht von der Zugehörigkeit zu irgend einer Organisation oder Kasse abhängig gemacht werden.

[Pg 634]

Streitigkeiten, welche aus Ursache der Vermittelung bei den einzelnen Arbeitsnachweisen zwischen Prinzipalen und Gehülfen ausbrechen, unterliegen nach Anhörung der Kreisvertreter dem Entscheide des Tarifamts.

Der Entscheid des Tarifamts ist endgültig.

Die Kosten der Arbeitsnachweise der Tariforganisation werden von beiden Teilen getragen. Die Benutzung der Arbeitsnachweise ist unentgeltlich.

Prinzipale und Gehülfen, welche den vorstehenden Bestimmungen nicht nachkommen, sind auf gemeinsame Anweisung der beiden Kreisvertreter von der Benutzung des Arbeitsnachweises bis auf weiteres auszuschließen.

Zur Durchführung des Tarifs sollen die Kreisvertreter eine lebhafte Agitation entfalten, auch sollen die öffentliche Meinung in diesem Sinne durch die Presse beeinflußt und die Behörden ersucht werden, Druckarbeiten nur an tariftreue Druckereien zu vergeben. Gegenüber der Anregung der Gehülfen, der Prinzipalverein müsse diejenigen Mitglieder, die den Tarif nicht anerkennen, einfach ausschließen, wurde geltend gemacht, daß man zunächst auf friedlichem Wege suchen solle, zum Ziele zu kommen. Doch erkannten die Prinzipalvertreter an, daß man bei deren Erfolglosigkeit entschieden auch scharfe Mittel anwenden müsse.

Man war darüber einig, daß auch Setzerinnen nach dem Tarif zu bezahlen seien.

Auch die Wahl des Sitzes für das Tarifamt führte zu längeren Erörterungen, indem die Prinzipale Leipzig vorschlugen, während die Gehülfen hiergegen geltend machten, daß unter den dortigen Prinzipalen eine unfreundliche Stimmung gegen die Gehülfen bestehe, und deshalb Berlin empfahlen. Schließlich einigte man sich dahin, für die Zeit bis 1. Juli 1897 Berlin zu wählen.

Das Tarifamt wurde in seiner konstituierenden Sitzung vom 19. Oktober 1896 begründet und begann seine Thätigkeit mit der Aufstellung einer Geschäftsordnung und der Wahl eines Sekretärs. Die Hauptaufgabe war dann die Agitation für den Tarif, die insbesondere in Rheinland-Westfalen dadurch erschwert war, daß dort die Last überwiegend auf den Schultern der Gehülfen ruhte. Immerhin war die Thätigkeit nicht ohne Erfolg, denn während das erste am 22. September 1896 aufgestellte Verzeichnis für den II. Tarifkreis nur 18 den Tarif anerkennende Firmen mit etwa 150 Gehülfen aufwies, war diese Zahl in dem vierten, mit dem 6. Mai 1897 abschließenden Verzeichnisse auf 97 Firmen in 53 Orten mit 599 Gehülfen gewachsen, ja nach einer anderen im Februar/März 1897 aufgenommenen Statistik ist der Tarif sogar bei 122 Firmen mit 1176 Gehülfen eingeführt. Doch sind nicht von allen Firmen Angaben eingegangen. Nach mündlichen Mitteilungen sind bei[Pg 635] 1738 tariftreuen Firmen 21955 Gehülfen beschäftigt. Wegen Zuwiderhandelns gegen den Tarif mußten 17 Firmen gestrichen werden, außerdem schieden zwei auf eigenes Verlangen aus. Neben der Agitation für den Tarif beschäftigte sich das Tarifamt damit, durch aufklärende Artikel in den Zeitungen zu wirken; auch an öffentliche Behörden wurden entsprechende Eingaben gerichtet. Tarifarbeitsnachweise wurden in 20 Orten eingerichtet. Von den bestehenden erklärten 33, sich den Tarifbeschlüssen zu unterwerfen, so daß am 15. Mai 1897 53 anerkannte Nachweise bestanden, dagegen wurden 10 Prinzipalnachweise, die sich nicht fügen wollten, im Einverständnis mit dem Prinzipalverein für tarifuntreu erklärt und aus der Liste gestrichen. Die 53 Nachweise bestanden in 37 Orten, es gab also an den meisten Orten mehrere. Es hatten nämlich gegenüber den Prinzipalnachweisen, die freilich, dem Tarif gemäß, die Tarifopfer zunächst berücksichtigten, im übrigen aber den Mitgliedern der Prinzipalskassen einen Vorzug einräumten, vielfach die Gehülfen eigene Nachweise eingerichtet. Teils infolge dieses Umstandes, teils aus anderen Gründen erklärt das Tarifamt die Wirksamkeit der Arbeitsnachweise noch für durchaus ungenügend und macht sowohl den Prinzipalen als den Gehülfen Vorwürfe, daß sie offenstehende Stellen nicht anmeldeten, den ersteren auch, daß sie Gehülfen ohne Rücksicht auf den Nachweis einstellten.

In sieben Kreisen wurden neun Schiedsgerichte begründet, doch wird mehrfach über deren Thätigkeit, insbesondere über widersprechende Entscheidungen geklagt.

Am 28. und 29. Mai 1897 fand in Berlin die zweite Sitzung des Tarifausschusses statt, bei der alle Kreise außer dem zweiten vertreten waren. Nach Erstattung des Geschäftsberichtes seitens des Tarifamtes war man einig darüber, daß trotz mancher Mängel doch die neue Organisation Erfreuliches geleistet habe; es wurde anerkannt, daß beide Teile eifrig für die Erreichung des gemeinsamen Zieles eingetreten seien, insbesondere wurde dem Prinzipalvorsitzenden seitens der Gehülfen der Dank für seine aufopfernde Thätigkeit ausgesprochen.

Von der österreichischen Buchdruckerorganisation war die Herstellung der Gegenseitigkeit hinsichtlich des Arbeitsnachweises angeregt. Der Ausschuß beschloß, das Tarifamt zu beauftragen, „ein Kartell dahin abzuschließen, daß die beiderseitigen Nachweise die Pflicht übernehmen, bei anerkannten (d. h. von den Organisationen gebilligten) Lohnstreitigkeiten in dem einen oder dem anderen Lande Arbeitskräfte nicht zu vermitteln und tarifuntreue Gehilfen nicht in ihre Listen einzutragen.“

Bei der Verhandlung über die Arbeitsnachweise wurde darüber geklagt, daß vielfach deren Thätigkeit lahmgelegt werde, indem einerseits die Gehülfen[Pg 636] die zugewiesenen Stellen aus dem Grunde nicht annähmen, weil der Verband die betreffende Druckerei gesperrt habe und einerseits die Prinzipale Mitglieder des Gehülfenverbandes ablehnten; beides dürfe nicht vorkommen. Dagegen wurde anerkannt, daß der Prinzipalverein streng auf Beobachtung des § 48 des Tarifs gehalten habe. Auf Anregung der Gehülfen, die eine Zentralisierung der Arbeitsnachweise wünschten, wurde das Tarifamt beauftragt, Einrichtungen zu treffen, nach welchen es selbst als Zentrale zu wirken hat. Außerdem wurde beschlossen, daß die Nachweise verpflichtet sind, nächst den Tarifopfern nur solche Gehülfen unterzubringen, die aus tariftreuen Druckereien kommen. Um eine Einheitlichkeit der Schiedsgerichtsentscheidungen herbeizuführen, soll das Tarifamt dieselben veröffentlichen und zwar nur solche, die es als richtig anerkennt.

Eine erregte Erörterung knüpfte sich an den Antrag der Gehülfen, die Frage der Setzmaschine dadurch zu regeln, daß 1. an derselben nur gelernte Buchdrucker beschäftigt werden, 2. die Bezahlung nur „in gewissem Gelde“ (d. h. gegen Zeitlohn), und zwar mit einem Aufschlage von 25% erfolgen dürfe und 3. die Arbeitszeit auf acht Stunden zu beschränken sei. Die Prinzipalmitglieder bestritten die Zulässigkeit des Antrages als auf eine Aenderung des Tarifes hinauslaufend und machten außerdem geltend, daß die Frage noch nicht dringend sei, da die Einführung der Maschine keine Fortschritte mache. Da die Gehülfen auf dem Antrage beharrten, so wurde er schließlich mit Stimmengleichheit abgelehnt.

Dagegen einigte man sich dahin, Berlin von neuem bis auf weiteres als Vorort zu bestimmen.

Die von beiden Teilen aufzubringenden Kosten wurden für das nächste Jahr auf 4000 Mk. festgestellt.

Die dritte Sitzung des Tarifausschusses ist am 21. und 22. Mai 1898 in Berlin abgehalten; auch dieses Mal war der II. Kreis nicht vertreten. Der vom Tarifamte erstattete Bericht beklagt freilich, daß es an widerstrebenden Elementen gegen die Bemühungen des Amtes nicht gefehlt habe, daß dasselbe hier und da einer gewissen Voreingenommenheit begegnet sei, die in der Anerkennung und Einhaltung des Tarifes eine Zwangsmaßregel, in den Organen der Tarifgemeinschaft lästige Behörden erblicke, aber es wird doch erklärt, daß diese Fälle gottlob! vereinzelt geblieben seien, und es herrscht in dem Berichte eine gehobene, hoffnungsfreudige Auffassung. Es wird erwähnt, daß die seitens der Kreisvertreter eingeleitete Agitation zur Ausbreitung des Tarifes durch einen Aufruf des Tarifausschusses an alle Prinzipale und Gehülfen sowie eine Aufforderung des Prinzipalvereinsvorstandes an dessen Mitglieder wegen Schaffung tarifmäßiger Verhältnisse unterstützt sei; es wird deshalb dem[Pg 637] Deutschen Buchdruckerverein und seinen Organen ausdrücklich Dank und Anerkennung ausgesprochen, mit dem Bemerken, daß dessen kollegialem Zuspruche in erster Linie die Anerkennung des Tarifs seitens vieler Geschäfte zu verdanken sei. Die allmähliche Verbreitung des Tarifs ergiebt sich aus folgender Tabelle.

    I. am 22. September 1896: II. am 6. Mai 1897: III. am 6. Mai 1898:
Kreis I.   44 Orte mit   87 Firmen   68 Orte mit   276 Firmen 100 Orte mit   363 Firmen
II.   18   18   53     97   64   122
III.   15   62   19   100   24   112
IV.   49 109   57   139   74   195
V.   29 100   73   206 117   270
VI.   28   58   47   102   56   124
VII.   36 198   67   299 113   384
VIII.   26 218   41   323   48   354
IX.   20   45   44     89   51   106
    265 Orte mit 895 Firmen 469 Orte mit 1631 Firmen 647 Orte mit 2030 Firmen

Bei den 1631 Firmen am 6. Mai 1897 waren 18340, bei den 2030 Firmen am 6. Mai 1898 waren 22468 Gehülfen beschäftigt.

Eine andere Tabelle wird in Nr. 117 des „Korrespondent“ vom 13. Oktober 1898 veröffentlicht. Danach wurde der Tarif anerkannt

  1886 von 1083 Firmen in 327 Orten
  1890 1017 247
November 1896   895 265
Mai 1897 1631 469
Januar 1898 1901 588
Mai 1898 2030 647
September 1898 2100 665

Bei den 665 Firmen wurden nach den vorliegenden Angaben 23000 Gehülfen beschäftigt, doch ist mit Rücksicht auf die Unvollständigkeit der Angaben die Zahl auf 30000 zu schätzen.

Auch die Durchführung des Tarifes ist strenger geworden. Allerdings sind auch in diesem Jahre 25 Firmen auf eingelaufene Beschwerde als tarifuntreu gestrichen; bei zweien erfolgte die Löschung auf eigenen Antrag.

Zu den früher begründeten neun Schiedsgerichten sind vier neue hinzugekommen.

Hinsichtlich der Wirksamkeit der Arbeitsnachweise erklärt das Tarifamt sich für befriedigt, macht aber den Gehülfen den Vorwurf, daß sie vielfach in der Befolgung der an sie ergangenen Weisungen nicht pünktlich gewesen seien. Arbeitsnachweise bestehen 55 in 39 Orten.

Das Tarifamt hat bei seinen Bemühungen, die Behörden für die verfolgten Bestrebungen zu gewinnen, vielfach Erfolg gehabt; um die Eltern auf[Pg 638] die Bestimmungen über das Lehrlingswesen aufmerksam zu machen, ist mehrfach die Tagespresse benutzt. Das Amt hat hinsichtlich der vorhandenen Druckereien und des in ihnen beschäftigten Personals statistische Erhebungen angestellt, ebenso auch hinsichtlich der Setzmaschine. Die Verhandlungen mit der österreichischen Buchdruckerorganisation sind nicht weiter gefördert, da von der letzteren die an sie ergangenen Schreiben nicht beantwortet sind.

Auch die Berichte der Kreisvertreter lauteten im ganzen befriedigend, mit Ausnahme allerdings des zweiten Kreises, wo es bisher nicht möglich gewesen ist, die Wahl eines Prinzipalvertreters zu vollziehen. In 33 Orten haben die Gehülfen die Anerkennung des Tarifs durch Arbeitseinstellung erzwingen müssen.

Die Verhandlungen betrafen großenteils Auslegungen des Tarifes; man beschloß, diese Fragen nur soweit zu erörtern, wie sie bereits durch das Tarifamt entschieden seien.

Ein Antrag, auch Elsaß-Lothringen in das Tarifgebiet einzubeziehen, wurde fallen gelassen, da die dortigen organisierten Gehülfen sich dagegen erklärt hätten. Dabei wurde mitgeteilt, daß auch seitens amerikanischer Buchdrucker Auskunft bei dem Tarifamte eingezogen sei, und daß Aussicht bestehe, die deutsche Organisation auch in Amerika einzuführen. Die Frage der Setzmaschine wurde von neuem verhandelt, wobei die Gehülfen ihre früheren Anträge wiederholten. Der Prinzipalvorsitzende erklärte, daß die Prinzipale in dieser Angelegenheit gemeinsam mit den Gehülfen handeln würden, zumal mit Ausbreitung der Maschine auch eine Anzahl Prinzipale in ihrer Existenz auf das höchste gefährdet seien, doch müsse eine Beschlußfassung des Ausschusses aus dem Grunde abgelehnt werden, weil die Anträge der Gehülfen eine Aenderung des Tarifs darstellen würden. Seitens der Gehülfen wurde dies bestritten. Nach langen Verhandlungen, die mehrfach unterbrochen wurden, einigte man sich auf den von den Prinzipalen gemachten Vorschlag, der Ausschuß möge freilich von einem zwingenden Beschlusse absehen, aber immerhin für die Zeilengießmaschine, die allein eine Zukunft zu haben scheine, gewisse Normen empfehlen. Es sind dies die folgenden: 1. Es sind an der Maschine nur gelernte Buchdrucker zu beschäftigen, 2. das ortsübliche Minimum ist mit einem Zuschlage von 25% zu bezahlen; 3. die etwaige Lehrzeit (d. h. die Zeit, in welcher der Gehülfe sich an der Maschine einarbeitet und eine geringere Vergütung zulässig ist) darf die Dauer von drei Monaten nicht übersteigen.

Große Schwierigkeiten bereitete die Wahl des Sitzes für das Tarifamt, womit die Wahl des Prinzipalvorsitzenden zusammenhing. Der bisherige Vorsitzende Büxenstein gab die Erklärung ab, daß er eine Wiederwahl ablehne, da er sowohl seitens der Prinzipale, wie seitens der Gehülfen nicht das[Pg 639] erforderliche Entgegenkommen gefunden habe, zumal es nicht ausgeschlossen sei, daß seitens des Ausschusses Maßregeln gegen den Prinzipalverein ergriffen werden müßten, beharrte auch auf seinem Entschlusse, obgleich derselbe allseitig als eine erhebliche Schädigung der Tarifsache bedauert wurde. Der Antrag der Prinzipale, Leipzig zu wählen, wurde von den Gehülfen mit der Begründung abgelehnt, daß sie zu den dortigen Prinzipalen kein Vertrauen haben könnten. Umgekehrt wurde der Gehülfenantrag, den Sitz in Berlin zu belassen, von den Prinzipalen abgelehnt. Schließlich wurde mit Stimmenmehrheit München gewählt in der Hoffnung, daß der von beiden Seiten mit Vertrauen begrüßte Verlagsbuchhändler Oldenbourg das Amt als Prinzipalvorsitzender übernehmen werde.

Die Organe der Tarifgemeinschaft haben auch seit dieser Zeit es als ihre oberste Aufgabe angesehen, die Durchführung des Tarifes unnachsichtlich zu erzwingen, und zwar gegenüber den Gehülfen nicht weniger als gegenüber den Prinzipalen. Dabei soll auch nicht eine bloß thatsächliche Beobachtung des Tarifes genügen, sondern es wird eine ausdrückliche Anerkennung gefordert. Das Hauptmittel zur Erreichung dieses Zieles bildet der Arbeitsnachweis. Die wichtigsten hierauf bezüglichen Beschlüsse sind folgende:

1. Tariftreu ist nur diejenige Buchdruckerei, welche den Tarif beim Tarifamte schriftlich anerkannt hat.

2. Nach § 48 des Tarifs ist jeder Gehülfe als tariftreu zu betrachten, der aus einer tariftreuen Buchdruckerei kommt oder in eine solche geht.

3. Das Tarifamt wird angewiesen, strenge Anweisungen an die Arbeitsnachweise ergehen zu lassen, daß sie nur solche Gehülfen in die Listen aufnehmen, welche nachweislich aus Druckereien kommen, die vom Tarifamte als tariftreu veröffentlicht sind.

4. Solche Gehülfen, welche bei Konflikten wegen Ein- und Durchführung des Tarifes in den betreffenden Druckereien, solange der Konflikt vom Tarifamte nicht als beendigt erklärt ist, in Arbeit treten, dürfen auf die Dauer von mindestens einem Jahre in die Listen der Arbeitsnachweise behufs Arbeitsvermittelung nicht aufgenommen werden.

Man entzieht also nicht nur den tarifuntreuen Prinzipalen die Gehülfen, sondern auch den tarifuntreuen Gehülfen die Arbeit. Man bringt also die viel angefochtenen schwarzen Listen gegen die Gehülfen in Anwendung, aber nicht, wie sonst, um Arbeiterforderungen abzuweisen, sondern um ihnen Geltung zu verschaffen; die blake legs, d. h. in diesem Sinne die Arbeiter, die sich weigern, an dem Kampfe für die Arbeiterforderungen teilzunehmen, werden seitens der Prinzipale selbst von der Beschäftigung ausgeschlossen. Ebenso wird der Boykott gegen Prinzipale zur Erzwingung von Arbeiterforderungen von ihren eigenen[Pg 640] Kollegen in Anwendung gebracht. Es ist also die übliche Gegnerstellung: hie Arbeiter, hie Unternehmer, völlig beseitigt und an ihre Stelle die andere getreten: auf der einen Seite Unternehmer und Arbeiter, die das gemeinsame Interesse im Auge haben und insbesondere bestrebt sind, die Arbeitsbedingungen in einer dem sozialen Fortschritt entsprechenden Weise zu verbessern, — auf der anderen Seite diejenigen Unternehmer, die dieses große Ziel gegen kleinliche Sonderinteressen zurückstellen und diejenigen Arbeiter, die so wenig Verständnis besitzen, daß sie ihnen hierbei ihre Unterstützung leihen. Natürlich muß die gesteigerte Arbeitsvergütung auch auf die Erhöhung der Preise zurückwirken, die der Unternehmer den Konsumenten gegenüber fordern muß; aber das ist gerade die Absicht: es soll die gerechtere Anteilnahme der Arbeiterklasse an den technischen Errungenschaften nicht auf Kosten des Unternehmers durchgeführt, sondern auf die Gesamtheit abgewälzt werden.

Diese grundsätzlich veränderte Frontstellung ist aber auch nicht etwa nur das Ergebnis theoretischer Betrachtung, sondern kommt in einschneidendster Weise praktisch zum Ausdrucke. Die Tarifgemeinschaft ist auch äußerlich durchaus verschieden und unabhängig von den Organisationen der Prinzipale und der Gehülfen, die neben ihr fortbestehen und die Aufgabe haben, die Sonderinteressen beider Teile zu vertreten. Mitglieder der Tarifgemeinschaft sind diejenigen Prinzipale und Gehülfen, die sich dem Tarif unterwerfen, ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu den genannten Sondervereinigungen. Die Tarifgemeinschaft hat deshalb durchaus ihre selbständige Organisation. Tarifausschuß, Tarifamt, Kreisvertreter gehen hervor aus Wahlen der tariftreuen Prinzipale und Gehülfen und brauchen durchaus nicht den Einzelverbänden anzugehören. Ja mehr, als das: die Tarifgemeinschaft ist bereits mehrfach in Gegensatz zu diesen Einzelverbänden getreten, und zwar sowohl zu dem Prinzipalverein als zu den Gehülfenvereinen, Verband und Gutenbergbund, wovon die Protokolle des Tarifausschusses mehrfach Beläge bieten.

In allerneuester Zeit ist dieses Verhältnis in das schärfste Licht gerückt durch einer Veröffentlichung[295] des Tarifausschusses, die mit Recht das allgemeinste Aufsehen erregt hat, enthält sie doch nicht mehr und nicht weniger, als eine Aufforderung an die Gehülfen, die Durchführung des Tarifes durch Arbeitseinstellung zu erzwingen, und es ist deshalb mehrfach darauf hingewiesen, daß sich hier die Prinzipale einer „Aufforderung zum Streik“ schuldig gemacht haben, die nach der Oeynhauser Kaiserrede mit Zuchthaus bestraft werden soll.[Pg 641] Die Veröffentlichung besteht in gesonderten Erklärungen einerseits der Prinzipalvertreter und andererseits der Gehülfenvertreter im Tarifausschusse. Die erstere Erklärung lautet:

An alle der Tarifgemeinschaft noch fernstehenden Buchdruckereibesitzer Deutschlands!

Seit dem zweijährigen Bestehen des deutschen Buchdruckertarifs haben die unterzeichneten Prinzipalsvertreter im Tarifamt und -ausschuß keine Mühe gescheut, diejenigen Firmeninhaber, die einer Einführung und Anerkennung des Tarifs bisher aus dem Wege gingen, in kollegialer Weise darauf aufmerksam zu machen, daß es ihre Pflicht sei, den für alle Buchdruckereien Deutschlands gültigen Lohntarif einzuführen. Alle Einwendungen, die unseren Vorstellungen gegenüber erhoben wurden, müssen wir als unzutreffend bezeichnen, denn der Tarif ist bei einigermaßen gutem Willen in jeder Druckerei zur Durchführung zu bringen, zumal derselbe in den §§ 31 und 33 den Verhältnissen der Prinzipale in kleinen Städten vollauf Rechnung trägt.

Der Tarifausschuß der deutschen Buchdrucker hat auch für diesen Herbst eine Agitation zur weiteren Tarifeinführung beschlossen; dort, wo unsere kollegialen Bemühungen auf Anerkennung des Tarifs keinen Boden fanden, werden die Gehülfen in den nächsten Wochen bestrebt sein, event. mit ordnungsgemäßer Lösung des Arbeitsverhältnisses die Tarifeinführung zu erreichen. Unsere Arbeitsnachweise werden in solchen Fällen den betreffenden Druckereien Arbeitskräfte nicht überweisen, wohl aber diejenigen Gehülfen, welche eine Druckerei wegen Tarifeinführung verlassen, gemäß § 48 des Tarifs in erster Reihe anderweit unterbringen.

Wir rechnen hierbei auf die Unterstützung aller tariftreuen Firmen, in deren Interesse es liegen muß, daß auch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sich nach den für das ganze Deutsche Reich gültigen Lohn- und Arbeitsbedingungen richtet.

Alle diejenigen Prinzipale, welche Störungen in ihrem eigenen Betriebe verhüten und damit den Frieden im Gewerbe fördern helfen wollen, ersuchen wir dringend, den Tarif einzuführen und anzuerkennen, und hiervon dem zuständigen Kreisvertreter oder dem Tarifamt der deutschen Buchdrucker in München, Schmellerstr. 22, baldigst Mitteilung zu machen.

Mit kollegialer Begrüßung
Die Prinzipalsmitglieder im Tarifamt und Tarifausschuß der deutschen Buchdrucker.(Namen.)

[Pg 642]

Die Erklärung der Gehülfenvertreter bedauert, daß ein Teil der Gehülfen noch nicht den Mut gefunden habe, von ihren Prinzipalen Entlohnung und Arbeitszeit nach den Bestimmungen des Tarifes zu fordern, sie bezieht sich auf die eben mitgeteilten Beschlüsse des Tarifausschusses und fährt dann fort:

„Wenn wir obige Beschlüsse den nichttariftreuen Gehülfen an allen Orten zu eingehender Beachtung empfehlen, so knüpfen wir daran die feste Versicherung, daß wir und mit uns die tariftreue Gehülfenschaft auf das allereifrigste bemüht sein wird, die Folgen jener beiden Beschlüsse unsere Gegner im eigenen Lager ohne Nachsicht fühlen zu lassen. Die tariftreue Gehülfenschaft hat es satt, sich für Kollegen zu engagieren, die seit Jahren den jeweilig geltenden Tarif zwar besitzen, aber nicht erringen helfen will.

Wir fordern deshalb noch einmal die rückständigen Kollegen an allen Orten Deutschlands auf, am Sonnabend den 22. Oktober bei ihren Prinzipalen auf Einführung des Tarifs vorstellig zu werden und bestrebt zu sein, das Ziel mit allen gesetzmäßigen Mitteln zu erreichen. Die Kreisvertreter und das Tarifamt in München, Schmellerstraße 22, sind von jedem Vorgehen vorher zu benachrichtigen, damit es ihnen möglich ist, überall vermittelnd einzugreifen. Diejenigen Gehülfen aber, die ihre Arbeitsstätten zwecks Tarifeinführung verlassen müssen, wollen ihre genauen Adressen unter Angabe ihrer Beschäftigung (ob als Setzer, Maschinenmeister &c.) den Kreisvertretern zugehen lassen, damit diese die Unterbringung der Gemaßregelten durch die Arbeitsnachweise bewirken können. Die für den Tarif arbeitslos Gewordenen werden an erster Stelle untergebracht.

Mit kollegialem Gruß!
Die Gehülfenmitglieder des Tarifamtes und des Tarifausschusses der deutschen Buchdrucker.(Namen.)

Der Erfolg dieser Maßregel ist ein sehr befriedigender gewesen, indem die Zahl der tariftreuen Druckereien, die im September 1898 2100 mit 22600 Gehülfen an 670 Orten betrug, in wenigen Wochen um 486 Firmen an 349 Orten gewachsen ist. Selbst in Rheinland-Westfalen ist ein erheblicher Erfolg zu verzeichnen, indem die Zahl der tariftreuen Firmen sich auf fast 200 vermehrt hat. Dem Gehülfenverbande sind durch die Bewegung etwa 3000 neue Mitglieder zugeführt.

[Pg 643]

2. Der Schweizerische Stickereiverband[296].

In ganz ähnlicher Weise, wie in der Tarifgemeinschaft der Buchdrucker, finden wir auch in dem Schweizerischen Stickereiverbande einen Versuch, die gemeinsamen Interessen von Unternehmern und Arbeitern in einer Organisation zum Ausdruck zu bringen. Ja, der Verband hat noch ein besonderes Interesse, weil die Verhältnisse in der Stickereiindustrie von denen aller übrigen Gewerbe wesentlich verschieden sind; insbesondere überwiegt hier die Hausindustrie über den Fabrikbetrieb, und da außerdem auch die Stellung der Fabrikanten durch das Eingreifen des Kaufmanns wesentlich verschoben wird, so haben wir hier eine ganz neue Gruppenbildung in der Arbeitsteilung und der wirtschaftlichen Interessenvertretung.

Schon seit den 20er Jahren dieses Jahrhunderts hatte sich die Stickerei in einigen Teilen der Schweiz zu einer so hohen Blüte entwickelt, daß sie weitaus die herrschende Stellung auf dem Weltmarkte einnahm. Damals handelte es sich um Handstickerei, aber als Ende der 50er Jahre die schon 1828 erfundene Strickmaschine soweit vervollkommnet wurde, daß sie die Handstickerei fast völlig verdrängte, entwickelte sich auch die neue Industrie wesentlich in dem alten Gebiete, nämlich den Kantonen St. Gallen, Appenzell, Thurgau, dem nordöstlichen Teile von Zürich und in Vorarlberg[297].

Aber die Maschine, die bisher überwiegend in Gebrauch ist, wird mit der Hand betrieben; Motorenbetrieb ist freilich schon einzuführen versucht, aber bisher nur in unbedeutendem Umfange gelungen. Daraus ergiebt sich, daß ein Hauptgrund, der in anderen Gewerbezweigen das Uebergewicht des Fabrikbetriebes über die Hausindustrie bewirkt hat, nämlich die technische Ueberlegenheit des ersteren, hier wegfällt. Ein weiterer Umstand, der der Hausindustrie zu statten kam, ist der, daß die schweizerische Fabrikgesetzgebung, insbesondere der Maximalarbeitstag von 11 Stunden und die Beschränkung der Kinderarbeit auf sie keine Anwendung findet. Endlich ist gerade unter den[Pg 644] Schweizern ein Unabhängigkeitsdrang, der sich der strafferen Ordnung in der Fabrik widersetzt, besonders stark entwickelt. Das Ergebnis aller dieser Faktoren ist, daß, abweichend von fast allen anderen Betriebszweigen, in der Stickerei die Hausindustrie nicht allein ihren Platz neben der Fabrik völlig behauptet, sondern diese sogar zurückgedrängt hat[298].

Uebrigens nimmt auch der Fabrikant in der Stickerei eine wesentlich andere Stellung ein, als in anderen Betrieben, was mit der bereits erwähnten eigenartigen Arbeitsteilung dieses Gewerbes zusammenhängt. Ist es nämlich im allgemeinen gerade seine Aufgabe, die Bewegung des Marktes, das Verhältnis von Angebot und Nachfrage, den Wechsel der Mode u. s. w. zu verfolgen und in Rechnung zu ziehen, so fällt in der Stickerei diese Rolle dem Kaufmann zu. Wie begreiflich, geht die erzeugte Ware ganz überwiegend in das Ausland, und zwar steht hier Amerika in erster Linie. Es giebt nun insbesondere in St. Gallen eine Anzahl Firmen, die sich ganz diesem Geschäfte widmen, und da bis vor einigen Jahren außer der Schweiz für die Herstellung von Stickereien fast nur noch Sachsen, und dies durchaus erst in zweiter Linie, in Betracht kam, so genossen diese Exportfirmen eine Art Monopolstellung, die bei Würdigung der hier darzustellenden Verhältnisse wohl beachtet werden muß.

Weitaus die meisten Fabrikanten stehen in festen Beziehungen zu einer solchen Firma, von der sie ihre Aufträge nach Art und Umfang genau vorgeschrieben erhalten, ja vielfach beziehen sie von dort sogar das Rohmaterial. Nur ein Bruchteil betreibt das „Platzgeschäft“, d. h. arbeitet selbständig für den Markt[299]. Der Kaufmann ist natürlich auch der Auftraggeber des „Einzelstickers“, der nicht daran denken kann, auf eigene Rechnung oder auf Lager zu arbeiten. Hieraus ergiebt sich, daß Einzelsticker und Fabrikanten in einem Konkurrenzverhältnisse stehen, indem sie einen gemeinsamen Auftraggeber besitzen, der dem einen oder dem andern Teile seine Bestellungen zuwenden kann.

Eine besondere Stellung nimmt der „Fergger“ ein. Er ist ein Vermittler zwischen Kaufmann und Einzelsticker. Freilich kommen die letzteren an[Pg 645] den Markttagen, Mittwoch und Sonnabend, zum Teil nach St. Gallen, wo eine besondere Stickereibörse besteht, und verhandeln unmittelbar mit den Kaufleuten, aber die Mehrzahl ist doch hierzu nicht imstande und ist auf den Verkehr mit dem Fergger angewiesen, der sie in ihren Gebirgsdörfern aufsucht und häufig neben der Ferggerei noch Landwirtschaft, Gastwirtschaft oder ein sonstiges Gewerbe betreibt. Der Fergger ist aber nicht bloßer Agent, der die Geschäfte im Namen des Kaufmanns abschlösse, sondern eine selbständige Zwischeninstanz, der die Bestellung auf eigene Rechnung übernimmt und seinerseits mit den Stickern abschließt. Auch in dem Verkehr des Fabrikanten mit seinen Arbeitern bedient man sich häufig des Ferggers, doch ist er hier bloßer Vermittler.

Es ist begreiflich, daß sich unter diesen Umständen ganz eigenartige Interessenverhältnisse ergeben mußten, insbesondere hat der Fabrikant mit dem Einzelsticker und dem Fergger das gemeinsame Interesse an günstigen Preisen gegenüber dem Kaufmann. Im allgemeinen kann man freilich nicht behaupten, daß eine Ausbeutung stattfand, insbesondere geschah dies nicht seitens der alten Firmen, während allerdings in neuerer Zeit sich auch jüngere, meist fremde Elemente ansiedelten, die ihr Ziel darin sehen, durch Herunterdrückung der Preise die älteren zu überflügeln und auf Kosten der Gesamtentwickelung der Industrie in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen. Der wundeste Punkt in dem System waren die Fergger; nicht nur boten sie öfters Anlaß zu Klagen über Ausbeutung, sondern sie besaßen auch meist so wenig technische Kenntnisse, daß sie ihre Abschlüsse nicht nach verständigen Ueberlegungen machten, sondern ihre Aufgabe gerade darin sehen mußten, bei den von den Kaufleuten bedingungslos übernommenen Preisen durch Herabdrückung der Löhne zu verdienen. Ein weiterer Uebelstand lag in den „Abzügen“ und „Retourwaren.“ Nicht die Ablieferung der Arbeit an den Fergger oder auch an den Fabrikanten entschied über die Berechtigung zum Bezuge des Lohnes, sondern erst der Kaufmann stellte endgültig die Güte der Waren fest, und wenn er die Annahme verweigerte oder Abzüge machte, erhielten die Sticker die Nachricht, daß die ihnen schon vor Monaten gezahlten Preise ermäßigt und der Abzug bei der nächsten Abrechnung in Absatz gebracht werden müsse.

Immerhin hätten diese Uebelstände kaum eine ausreichende Triebkraft besessen, um ein Unternehmen, wie den Stickereiverband, ins Leben zu rufen, wenn nicht hinzugekommen wäre, daß die verhältnismäßig günstigen Bedingungen des Gewerbes zu einer Vermehrung der Maschinen und einer Ueberproduktion geführt hatten, deren Einfluß sich bald in sinkenden Preisen ausdrückte.

Schon 1872 hatte man eine „Produktivgenossenschaft für mechanische Stickerei“ gegründet, um den auf 40 % des Preises geschätzten Unternehmergewinn der Fabrikanten zu vermeiden, indem man unmittelbar mit den Kaufleuten[Pg 646] arbeiten wollte, oder das Unternehmen hatte niemals Bedeutung erlangt. Ganz andere Ziele verfolgte der leider jetzt zu Grunde gegangene große „Zentralverband der Stickereiindustrie der Ostschweiz und des Vorarlberges“, der beabsichtigte, alle oben genannten Gruppen, die auch in ihm bestehen blieben, zusammenzufassen, um durch gemeinsames Vorgehen die Hebung der ganzen Industrie herbeizuführen und den Interessen aller zu dienen. Allerdings machten sich anfangs Bestrebungen geltend, die Kaufleute aus dem Verbande auszuschließen, aber schon in der ersten im Dezember 1884 in Werdenberg abgehaltenen Vertrauensmännerversammlung überzeugte man sich, daß ohne sie das Unternehmen nicht lebensfähig war. Die am 22. Februar 1885 tagende Delegiertenversammlung, auf der 250 Vertreter aus allen Teilen des Stickereigebietes anwesend waren, beschloß deshalb endgültig, auch sie zur Beteiligung aufzufordern. Die Kaufmannschaft ihrerseits war allerdings ebenfalls anfangs geteilter Meinung über die Zweckmäßigkeit ihrer Beteiligung, schließlich aber siegte die insbesondere von den alten Firmen vertretene Ansicht, daß man den Vorschlag nicht zurückweisen dürfe. So konnte schon im Mai der Statutenentwurf genehmigt und am 14. Juli der Verband mit 110 Sektionen mit 5066 Mitgliedern und 12299 Maschinen endgültig begründet werden. Schon Ende des Jahres stieg die Mitgliederzahl auf 10321 mit 20554 Maschinen. Nur 489 = 2,38% der Stühle blieb außerhalb; ja Ende 1889 sank diese Ziffer sogar auf 0,68%.

Noch § 2 der Zentralstatuten bezweckt der Verband „einerseits der Ueberproduktion in der Stickereiindustrie vorzubeugen, andrerseits bessere Lohnverhältnisse zu erzielen und im allgemeinen durch alle zweckdienlichen Maßnahmen an der Hebung der Stickereiindustrie und der Erhaltung derselben auf gesunder Basis mitzuarbeiten“. „Mitglied kann jeder Maschinenbesitzer oder Maschinenpächter und jeder Arbeitgeber der Stickereiindustrie werden.“ Es waren deshalb zugelassen: die Kaufleute, die Fabrikanten, die Fergger und die Einzelsticker; ausgeschlossen dagegen waren die Fabriksticker. Daß man sie fern hielt, war wohl auf den Einfluß der Kaufmannschaft und insbesondere der Fabrikanten zurückzuführen, die wohl wußten, daß die eigentliche Interessengemeinschaft in erster Linie zwischen Einzelstickern und Fabrikstickern bestand, und deshalb fürchteten, daß bei Aufnahme der letzteren die Machtverteilung im Verbande ihnen ungünstig sein würde. Erleichtert wurde ihnen dies Bestreben durch einen von alters her bestehenden Gegensatz zwischen den beiden Gruppen.

Der Sitz des Verbandes war in St Gallen. Seine oberste Leitung lag in der Delegiertenversammlung, die mindestens einmal jährlich zusammentreten sollte. Diese wählte das Zentralkomitee, das, außer einem Präsidenten, der eine nicht unmittelbar an der Stickereiindustrie beteiligte Person sein mußte, aus[Pg 647] 20 Mitgliedern bestand. Die Verteilung derselben war insofern auffallend, als 5 von den Kaufleuten gesondert, die übrigen 15 aber nach Landesteilen von der Versammlung frei gewählt wurden. Der Grund hierfür lag in der Befürchtung der Kaufmannschaft, daß ohne eine solche Bestimmung ihre Interessen nicht genügend gewahrt werden würden. Der Jahresbeitrag belief sich auf 1 Fr. für jede Maschine bis zum Höchstbetrage von 20 Frs. Die Nichtbesitzer von Maschinen zahlten 10 Frs. Dazu kam das Eintrittsgeld, das bald auf 30 Frs. für jede alte und 400 Frs. für jede neue Maschine erhöht wurde, und zwar mußte letztere Summe auch von den Mitgliedern bezahlt werden, sobald sie eine neue Maschine anschafften, die nicht lediglich als Ersatz für eine alte eintrat. Endlich flossen in die Zentralkasse die Strafgelder, die nicht unerheblich waren[300]. Verbandsorgan ist „die Stickereiindustrie“.

Der wichtigste Punkt in den Statuten des Verbandes, auf dem seine eigentliche Kraft beruhte und der insbesondere bewirkte, daß er, wie schon bemerkt, bis auf einen verschwindenden Bruchteil alle Mitglieder der beteiligten Gruppen umfaßte, war der „ausschließliche Verbandsverkehr“, d. h. folgende Bestimmung: „Im Gebiete des Zentralverbandes ist jeder geschäftliche Verkehr, sei es in Stickarbeit oder in Kauf, Verkauf, Tausch von Stickereien welcher Art immer den Mitgliedern nur unter sich gestattet.“ Hierdurch waren also alle Maschinenbesitzer, Kaufleute und Fergger, wenn sie nicht völlig isoliert und von jeder geschäftlichen Beziehung mit den Mitgliedern des Verbandes ausgeschlossen sein wollten, zum Beitritt gezwungen, und gerade dieser Bestimmung ist es zu danken, daß, wie angeführt, bis auf etwa ½% der Verband alle Beteiligten umfaßte. Dies aber wieder gab ihm die Macht, tief einschneidende Maßregeln durchzuführen.

Solche wandte er vor allem an, um sein Hauptziel, die Beseitigung der Ueberproduktion, zu erreichen. Wirkte in diesem Sinne schon das erwähnte hohe Eintrittsgeld von 400 Frs. für jede neue Maschine[301], selbst wenn eine solche von Mitgliedern angeschafft wurde, so war doch das Hauptmittel die Durchführung des elfstündigen Maximalarbeitstages. Ein solcher war durch die Gesetzgebung für den Fabrikbetrieb vorgeschrieben; die Hausindustriellen[Pg 648] (Einzelsticker) unterwarfen sich ihm freiwillig im Interesse der Produktionsbeschränkung. Es war nicht leicht, in den einzeln liegenden Hütten die erforderliche Kontrolle durchzuführen, doch gelang es, und Strafen von 2–30 Frs. trafen den Uebertreter.

Die Ergänzung des Maximalarbeitstages war der Minimallohn. Eine Einrichtung, die von einer radikalen Richtung des Sozialismus als Ziel verfolgt wird, über deren Durchführbarkeit aber selbst in sozialistischen Kreisen die Ansichten sehr auseinandergehen, wurde hier verwirklicht, ja, wie noch zu erwähnen, wurde sie schließlich sogar den Fabrikstickern zugestanden. Aber waren es auch zunächst die Hausindustriellen und die Arbeiter gewesen, von denen die Forderung ausging, so zeigte sich bald, daß der Vorteil weniger bei ihnen als bei den Unternehmern lag. Für die Einzelsticker nämlich hatte die Einführung des Minimallohnes zur Folge, daß die Beanstandungen und Lohnabzüge sich erheblich mehrten. Die Kaufleute dagegen hatten den sehr wertvollen Vorteil, daß sie jetzt bei ihren Abschlüssen mit festen Arbeitspreisen rechnen konnten und der Unterbietung durch Konkurrenten, die bei billigen Löhnen auf Lager arbeiten ließen, enthoben waren. Deshalb söhnten die alten soliden Firmen sich rasch mit der Neuerung aus, und die jüngere unsolide Schleuderkonkurrenz war nicht stark genug, sich gegen den Zwang aufzulehnen, denn auf Uebertretungen standen Strafen von 10–200 Frs.[302]. Durchführbar war die Maßregel nur durch eine auf die technischen Verhältnisse berechnete sehr verwickelte Lohnskala.

Um die Frage der Beanstandungen und Lohnabzüge zu regeln, wurde die Bestimmung getroffen, daß „Reklamationen und Abzüge aller Art zwischen Kaufleuten und ihren Warenübernehmern, seien es Fergger oder Sticker, innerhalb 14 Tagen zwischen Ferggern und den Arbeitsübernehmer innerhalb 5 Wochen nach Empfang der Waren zu machen“ seien. Die Entscheidung aller Streitigkeiten wurde verschiedenen Verbandsgerichten überwiesen, von denen auch die Strafen festgesetzt wurden. Ebenso wurde ein „Regulativ über das Ferggerwesen“ erlassen, in dem die Stellung des Ferggers insofern völlig geändert wurde, als er nicht mehr eine selbständige Zwischeninstanz blieb, dessen Verdienst in der Preisdifferenz bestand, sondern zu einem bloßen Vermittler gegen feste Provision gemacht wurde. Diese Provision zahlte aber nicht der Kaufmann, sondern der Sticker, es lag also in dessen Interesse, seine Abschlüsse ohne Vermittelung des Ferggers zu machen.

Da die Fergger, wie schon bemerkt, wenig technische Kenntnisse besaßen, so suchte man auch in dieser Beziehung auf Besserung hinzuwirken durch Einrichtung[Pg 649] von Unterrichtskursen und Fachschulen, die natürlich vor allem auch den Stickern selbst dienen sollten. Ebenso unterwarf man das Lehrlingswesen einer strengen Ordnung. Um die bei Beanstandung von Waren entstehenden Schwierigkeiten möglichst zu mildern, wurde eine eigene „Verkaufsstelle für Retourwaren“ eingerichtet, in der diese möglichst günstig zu verwerten gesucht wurden gegen eine Vergütung von 4 % des Erlöses.

Die großartigste Einrichtung, die der Verband traf und die bei voller Durchführung eine ganz neue Aera in der Entwickelung der Industrie bedeutet haben würde, war die Gründung des „Industriefonds“. Angeregt war sie durch die in Amerika erfundene Dampfstickereimaschine und die Befürchtung, daß hierdurch der Sitz der Stickereiindustrie von der Schweiz noch Amerika verlegt werden würde. Um dem vorzubeugen, beschloß man, das amerikanische Patent anzukaufen und den Preis von 600000 Frs. durch eine von den Kaufleuten zu tragende Abgabe auf die erzeugten Waren zusammenzubringen. Auf diese Weise hoffte man sich eine jährliche Einnahme von 500000 Frs. zu verschaffen, und diese wollte man demnächst zu einer Hebung der gesamten Industrie verwenden, indem man vor allem alte Maschinen ankaufte und zerschlug. Nachdem man 1892 22104 Frs. hierfür verwandt hatte, scheiterte der Plan daran, daß auf einen von der überstimmten Minderheit erhobenen Prozeß der Beschluß für statutenwidrig erklärt wurde.

Wie schon erwähnt, hatte man die Fabriksticker von der Beteiligung an dem Verbande ausgeschlossen und diese hatten deshalb 1889 eine eigene Vereinigung gebildet. Jetzt wünschten sie in ein Kartellverhältnis zu dem Verbande zu treten, wobei ihr Hauptzweck war, auch für sich den Minimallohn zu erringen. Gegenüber dieser Forderung nahmen die Fabrikanten und die Kaufleute eine verschiedene Stellung ein. Während die ersteren sie ablehnten, hatten die letzteren ein Interesse daran, sie zu bewilligen, denn einzelne Fabrikanten trieben selbständig Export und waren deshalb ihre Konkurrenten; wenn diese durch Zahlung geringerer Löhne im stande waren, zu billigern Preisen zu liefern, so traf natürlich der Nachteil die Kaufleute. Schließlich wurde die Forderung durchgesetzt, aber nicht ohne schwere Kämpfe.

Hatten schon diese und andere Streitigkeiten zu einer gewissen Erschütterung des Verbandes geführt, so kam doch der schlimmste Angriff von außen. Wie bemerkt, war der Hauptabnehmer der Stickereierzeugnisse Nordamerika. Die im Oktober 1890 in Kraft getretene Mac Kinley-Bill bewirkte nun nicht allein eine Erhöhung des Eingangszolles von 40 % auf 60 %, sondern hatte außerdem zur Folge, daß in den 9 Monaten vorher der amerikanische Markt mit Stickereiprodukten völlig überschwemmt wurde und deshalb nachher eine um so stärkere Erschlaffung eintrat. Unter dem Drucke dieser ungünstigen Umstände[Pg 650] bewirkte der Ende 1891 erfolgte Austritt von 944 Mitgliedern in Vorarlberg mit 1376 Maschinen eine Erschütterung des Verbandes, der er nicht gewachsen war. Zunächst mußte man Anfang 1892 den Minimallohn aufheben. Aber während die am 1. Mai 1892 vorgenommene Urabstimmung eine große Mehrheit für das Fortbestehen des Verbandes ergab, zeigten doch ferner 2884 Mitglieder ihren Austritt an, obgleich man durch Aufhebung der Bestimmung über den ausschließlichen Verbandsverkehr ihnen entgegen zu kommen suchte, und nachdem im Laufe des Jahres noch 2600 Austrittserklärungen erfolgt waren, hat der Verband, der freilich formell noch fortbesteht, seine eigentliche Kraft und Bedeutung verloren.

Werfen wir nochmals einen Rückblick auf die Geschichte des Verbandes, so ergiebt sich dessen außerordentliche prinzipielle Bedeutung. Er hat in derselben Weise wie die Tarifgemeinschaft der Buchdrucker zu seiner Voraussetzung, daß unter den beteiligten Klassen freilich einerseits ein Gegensatz der Interessen, aber andererseits auch eine Gemeinsamkeit derselben besteht, und daß alles darauf ankommt, unter klarem Verständnis dieses Verhältnisses Einrichtungen zu treffen, die dem Gegensatze wie der Gemeinschaft ihr natürliches Recht verschaffen. Nun hatte der Verband freilich insofern eine andere Stellung als die Tarifgemeinschaft der Buchdrucker, als er die eigentlichen Lohnarbeiter ausschloß und sie auf ein bloßes Kartellverhältnis verwies. Aber dieser Erleichterung stand eine Erschwerung insofern gegenüber, als die übrigen an ihm beteiligten Klassen sich in einem eigenartigen Verhältnisse der Interessen befanden. Fragen wir, welche von diesen Klassen in dem Verbande Vorteil oder Nachteil erlitten hat, so muß man behaupten, daß sowohl die Kaufleute, wie die Fabrikanten und die Sticker durch ihn in ihren Interessen wesentlich gefördert sind. Die einzigen, bei denen dieser Vorteil zweifelhaft ist und die später auch wohl erkannten, daß sie die Leidtragenden seien, sind die Fergger. Das liegt auch nicht allein darin, daß sie ihrer Aufgabe am wenigsten gewachsen sind, sondern daß sie eine wirtschaftliche Zwischeninstanz darstellen, die nur bis zu einem gewissen Grade innere, in der Technik des Betriebes begründete Berechtigung hat. Gerade gegen sie waren die erhobenen Vorwürfe über Ausbeutung nicht völlig unberechtigt, und deshalb besteht gerade in ihrer Zurückdrängung ein Verdienst des Verbandes. Es war bedauerlich, daß, als die Verhältnisse sich nach 1892 wieder besserten, der Verband bereits zerstört oder ihm wenigstens durch Beseitigung des ausschließlichen Verbandsverkehrs das Rückgrat ausgebrochen war. Immerhin ist er nicht eigener Schwäche, sondern der Uebermacht außer ihm stehender Faktoren zum Opfer gefallen.

Nach Zeitungsnotizen hat sich Ende September 1898 in St. Gallen eine neue „Stickereivereinigung“ zunächst für die Ostschweiz gebildet, der bis[Pg 651] dahin 2000 Mitglieder beigetreten waren und die u. a. auch das Ziel verfolgt, den alten Verband wieder mit frischem Blute zu beleben; aber mehrfach werden Stimmen laut, die dies Ziel bei der heutigen traurigen Lage der Stickerei für unerreichbar halten.

3. Der Sächsische Stickereiverband[303].

Nach dem Vorbilde des Schweizerischen hat sich im Jahre 1889 auch im Königreich Sachsen ein Stickereiverband gebildet, der nicht allein ganz ähnliche Einrichtungen hat, sondern auch mit ihm in einem festen Kartellverhältnisse steht. Derselbe bezweckt „die Hebung der Stickerei in Sachsen und die Erhaltung derselben auf einer gesunden Basis, er sucht insbesondere der Ueberproduktion vorzubeugen und bessere Lohnverhältnisse zu erzielen«. Demgemäß wird vor allem grundsätzlich festgestellt: Die Mitglieder dürfen Arbeitsverträge über Herstellung von Stickereien nur untereinander abschließen, d. h. solche Aufträge nur an Mitglieder vergeben und nur von Mitgliedern annehmen (Verbandsverkehr); ferner sind die Mitglieder den über die Dauer der Arbeitszeit und den Mindestbetrag des Arbeitslohnes vom Verbande festgesetzten Beschränkungen, sowie den zur Sicherung und Ueberwachung (Kontrolle) des Einhaltens der Vorschriften über Verbandsverkehr, Arbeitszeit und Minimallohn getroffenen Verbandsbestimmungen unterworfen.“ Berechtigt zur Mitgliedschaft ist jeder Stickmaschinenbesitzer sowie jeder Arbeitgeber der Stickindustrie. Andere Personen können durch Beschluß des Vorstandes zugelassen werden. Jedes Mitglied muß dem Verbande mit sämtlichen in seinem Eigentum stehenden Maschinen angehören.

Der jährliche Beitrag beläuft sich auf 1 Mk. 50 Pf. für jede Maschine. Organe des Verbandes sind der Vorstand und die Generalversammlung. „Der Vorstand trifft die von den Mitgliedern zu befolgenden Bestimmungen über die Arbeitszeit, insbesondere die höchste zulässige Zahl der Stunden, ferner über den Mindestbetrag des Lohnes und über den Verbandsverkehr, sowie die zur Aufrechthaltung dieser Bestimmungen dienlichen Kontrollmaßregeln“. Mitglieder, welche diesen Vorschriften zuwiderhandeln, haben für jeden Fall eine Geldstrafe in die Verbandskasse zu zahlen, die innerhalb der Grenzen von 1–20 Mk. hinsichtlich der Arbeitszeit und bis zu 200 Mk. hinsichtlich des[Pg 652] Minimallohnes und des Verbandsverkehrs vom Vorstande festgesetzt wird; im Wiederholungsfalle kann der Ausschluß erfolgen.

Der Verband hat anfangs erhebliche Erfolge erzielt und nicht allein die Löhne wesentlich erhöht, sondern auch die Arbeitszeit, die vorher bis zu 18 Stunden betrug, auf 12 Stunden herabgesetzt. Den Arbeitgebern bot er den Vorteil, sie vor Preisdruck seitens der Käufer zu schützen. Aber nicht allein begann Anfang der 90er Jahre ein allgemeiner Niedergang der Stickereiindustrie, sondern es kam noch dazu, daß der Verband auf die Handmaschinenstickerei beschränkt ist, der durch die rasch zunehmende Schiffchenmaschinenstickerei eine schwere Konkurrenz erwuchs. Unter diesen Umständen erwiesen sich die Bestimmungen des Verbandes als nicht durchführbar, und seit vier Jahren hat derselbe seine Thätigkeit eingestellt, doch ist eine Auflösung nicht erfolgt, vielmehr ist noch ein Vermögen von 6000 Mk. vorhanden, und der Verband hat auf seiner Anfang 1898 abgehaltenen Generalversammlung ins Auge gefaßt, bei den jetzt wieder günstiger sich gestaltenden Geschäftsverhältnissen seine Wirksamkeit demnächst wieder aufzunehmen; bis zum Schlusse des Jahres 1898 war dies noch nicht geschehen.

Der Verband stand während seiner Blütezeit mit dem Schweizerischen Stickereiverbande in einem vertragsmäßig geregelten Kartellverhältnis, um die beiderseitigen Einrichtungen, insbesondere Maximalarbeitstag und Minimallohn, gemeinsam durchzuführen; beim Rückgange beider Verbände ist auch dieses Kartell gelöst.

4. Die Schweizerische fédération horlogère[304].

Das Vorbild des Stickereiverbandes hat die Anregung geboten, auch innerhalb der schweizerischen Uhrenindustrie eine gemeinsame Organisation ins Leben zu rufen, aber auch hier ist der Erfolg kein dauernder gewesen. Bis in die 80er Jahre war die Organisation in den Kreisen der Uhrenarbeiter wenig entwickelt; in dieser Zeit dagegen wurden viele Vereine, allerdings meist von lokaler Bedeutung, begründet. Aber jetzt machte sich auch ein starker Rückgang in der bis dahin blühenden schweizerischen Uhrenindustrie geltend, so daß man in den Kreisen sowohl der Fabrikanten, wie der Arbeiter den Gedanken erwog, ob es nicht möglich sei, in ähnlicher Weise wie in der Stickindustrie sämtliche vorhandene Syndikate beider Teile zu einem Zentralverbande zusammenzuschließen, und in der That gelang es, in einer am 31. Juli 1886 in Neufchatel[Pg 653] abgehaltenen, von Vertretern der Arbeitgeber sowohl wie der Arbeiter beschickten Versammlung die Gründung der fédération horlogère ins Werk zu setzen. An die Spitze trat ein Zentralkomitee aus je sieben Mitgliedern beider Teile unter einem neutralen Vorsitzenden. Dieses Komitee sollte zugleich als ständiges Schiedsgericht und Einigungsamt fungieren und jährlich eine ordentliche Delegiertenversammlung aller beteiligten Vereine und Syndikate einberufen. Falls bei Meinungsverschiedenheiten Vermittelungsversuche zwischen den streitenden Parteien ohne Erfolg blieben, sollte das Komitee die endgültige Entscheidung treffen. Wer ohne dessen Vermittelung einen Streik begann, ging ohne weiteres der Mitgliedschaft verlustig. Aber das Komitee sollte überhaupt das Interesse der Uhrenindustrie nach allen Richtungen wahren, insbesondere „alle praktischen Maßregeln ergreifen, die es für den Fortschritt und das Aufblühen der schweizerischen Uhrenindustrie nützlich findet“. Zu seiner Verfügung stand ein eigenes Bureau mit einem besoldeten Sekretär. Ebenso dienten dem gleichen Zwecke die beiden Zeitschriften: „La solidarité horlogère“ und „La fédération horlogère suisse“, von denen die erstere bald mit der letzteren vereinigt wurde.

Die Arbeiter glaubten aber daneben noch eine eigene Organisation nötig zu haben, und so wurde schon am 5. Juni 1887 die Gründung eines allgemeinen Uhrenarbeiterverbandes ins Auge gefaßt, der aber im Rahmen der fédération horlogère sich halten sollte. In einer ferneren Versammlung in Biel am 5. Februar 1888, in der 4200 Arbeiter durch 60 Abgeordnete vertreten waren, wurde die Gründung endgültig vollzogen. Er wurde bezeichnet als fédération horlogère ouvrière im Gegensatz zu der allgemeinen fédération horlogère, der man zum Unterschiede den Zusatz mixte gab, und der schon nach dem ersten Jahre ihres Bestehens 12000 Mitglieder angehörten.

Aber beide Verbände hatten keine lange Dauer. Nicht allein hatten sich, abweichend von dem Stickereiverbande, nur eine Minderzahl der Arbeitgeber beteiligt, sondern es gelang auch nicht, die gegenseitigen Verdächtigungen und Reibereien zu beseitigen; um so weniger konnte man daran denken, den Grundsatz des „Verbandsverkehrs“ einzuführen. Bald trennte sich der Arbeiterverband von der fédération mixte, konnte dann aber, losgelöst von ihr, sich nicht halten. Andererseits hatte dadurch auch die fédération mixte ihr Rückgrat verloren und mußte bald ihre Thätigkeit einstellen. Man versuchte dann in verschiedenen Orten das Verhältnis von Arbeitern und Arbeitgebern durch besondere „Konventionen“ zu regeln oder wenigstens einen allgemeinen Lohntarif einzuführen, aber auch solche Vereinbarungen waren regelmäßig nur von kurzer Dauer.

Angeregt durch einen im März 1892 in Grenchen ausgebrochenen großen Streik, an dem die 22 bedeutendsten Uhrenfabriken beteiligt waren, gelang es[Pg 654] dann auf einem am 16. Oktober 1892 in St. Immer abgehaltenen Kongresse, einen neuen Uhrenarbeiterverband, die fédération ouvrière horlogère, zustande zu bringen, die 1895 4500 Mitglieder zählte und seitdem die Arbeiterinteressen mit Erfolg vertritt.

5. Die Lippeschen Ziegler[305].

Die sozialen Verhältnisse der Ziegler im Fürstentum Lippe-Detmold sind im hohen Grade eigenartig und interessant, und da sie, soweit mir bekannt, bisher noch keine litterarische Bearbeitung gefunden haben, auf die ich verweisen könnte, so ist es nicht zu vermeiden, soviel über dieselben hier mitzuteilen, wie zum Verständnisse der Thätigkeit des im Jahre 1895 gegründeten Gewerkvereins erforderlich ist.

Von den in der deutschen Gewerbestatistik aufgeführten 266519 Zieglern wohnen etwa 14000 in Lippe; sie bilden fast die Hälfte der aus 130000 Köpfen bestehenden Einwohnerschaft. Von den 14000 arbeiten etwa 12500 bei den etwa 1300 lippe'schen Meistern; bei ihnen bestehen deshalb die hier näher zu schildernden Verhältnisse:

Die sozialdemokratische Agitation hat unter den Lippe'schen Zieglern bisher aller Mühe ungeachtet kaum irgend welchen Boden gefunden. Die wenigen, die man gewonnen hat, sind dem „Allgemeinen Verein der Töpfer Deutschlands“ angeschlossen, dessen Mitgliederzahl sich ausweislich der Statistik der Generalkommission für 1898 auf 4891 beläuft; doch ist dieser Anschluß ein Notbehelf, der in den gewerblichen Verhältnissen keinen Anhalt findet.

Der Grund für diese Erfolglosigkeit der sozialdemokratischen Agitation liegt nun keineswegs darin, daß etwa die Lage der Ziegler in dem Maße befriedigend wäre, um keine Wünsche nach Aenderung aufkommen zu lassen; im Gegenteil, ihr Beruf fordert Opfer an Lebensgenuß, wie kaum ein anderer. Mitte März, ja bei günstigem Wetter schon im Februar, ziehen die Zieglerscharen hinaus in das Land, um erst frühestens Mitte Oktober zu ihren Familien zurückzukehren. Die Zeit des Steinformens währt vom 15. März bis 14. Oktober; das Brennen der Ware, bei dem etwa 25 % der Arbeiter beschäftigt werden, dauert dann noch je nach dem Betriebe bis Mitte November oder[Pg 655] selbst bis Mitte Dezember. Der Verdienst während der „Campagne“ beläuft sich von 200 Mk. für den Abtragejungen bis auf 700 Mk., im Durchschnitt auf etwa 440 Mk. Die Frau bewirtschaftet während der Zeit das Land, das jeder Ziegler zu Eigentum oder pachtweise besitzt, und zwar in der Weise, daß das Beackern durch einen Bauern geschieht, in dessen Wirtschaft die Frau dafür einige Tage als Tagelöhnerin arbeitet. Das ist ein schon seit Generationen bestehendes festes Verhältnis; jede Zieglerfamilie hat ihren „Ackersmann“. Für die Vererbung besteht ein besonderes altes Heimstättenrecht. Während des Winters betreiben die Ziegler vielfach ein Handwerk, andere arbeiten in den Forsten oder als Tagelöhner.

Die Arbeitszeit während der Campagne ist ungemein lang. In dem unterelbeschen Gebiete beträgt sie in 85 % der Ziegeleien 16 Stunden; in Westfalen gilt dies nur für etwa 50 %; nirgends ist sie unter 14 Stunden. Die Wohnungsverhältnisse sind geradezu unglaublich; oft müssen in den nur mangelhaft gegen Regen und Wind geschützten Schlafräumen vier Personen in demselben Bette schlafen.

Wenn trotz dieser Verhältnisse die Unzufriedenheit und deshalb die Versuche, durch eine Organisation auf Abhülfe hinzuwirken, bisher wenig Boden gefunden hatten, so erklärt sich dies in allererster Linie daraus, daß die Ziegler gerade hierin einen Schutz gegen Konkurrenz sehen; sie sprechen ganz offen aus, daß bei günstigeren Verhältnissen der Zudrang aus anderen Gewerben sie erdrücken würde, und ebenso sehen die Lipper hierin ein Mittel, den außerlippeschen Zieglern die Spitze zu bieten.

Unterstützt wird aber dieser Gesichtspunkt durch die eigenartigen gewerblichen Verhältnisse, wie sie gerade in Lippe üblich sind. Der Ziegeleibesitzer liefert nichts, als die äußeren Vorbedingungen der Fabrikation, also insbesondere die Ziegelei, einschließlich des Logis für die Arbeiter, außerdem das Rohmaterial, Ofen, Gerätschaften u. s. w. Für den Betrieb wendet er sich an einen Meister, dem er für den betreffenden Sommer seine Ziegelei gegen die Verpflichtung übergiebt, ihm Steine zu einem festgesetzten Preise herzustellen. Der Meister seinerseits sucht sich dann die erforderliche Anzahl Ziegler zu verschaffen. Das Verhältnis zwischen Meister und Arbeiter ist nun verschieden, je nachdem Maschinen- oder Handbetrieb stattfindet. Auf den Maschinenziegeleien ist der Meister selbständiger Unternehmer, der die von ihm angeworbenen Arbeiter gegen Lohn beschäftigt. Nach der älteren und heute noch durchaus herrschenden Einrichtung des Handbetriebes dagegen findet eine eigenartige Verbindung zwischen genossenschaftlichem und Lohnsystem statt. Der Meister sucht sich nämlich, nachdem er mit dem Besitzer abgeschlossen hat, die sog. Annehmer, d. h. die ersten, vorgebildeten Arbeiter, die an dem von ihm geschlossenen Akkorde in der[Pg 656] Weise sich beteiligen, daß sie mit ihm gemeinsam das Risiko tragen und ihr Gewinn von dem Geschäftserfolge abhängig ist. Erst nachdem so der feste Stamm gebildet ist, werden von dem Meister die eigentlichen Lohnarbeiter angeworben, die teilweise ebenfalls aus Lippe stammen, aber auch aus anderen Gegenden kommen und insbesondere den am Orte der Beschäftigung wohnenden Arbeitern entnommen sind. Die Zahl der „Annehmer“ ist in der Regel 1/8 der Gesamtzahl. Die Beköstigung in dem vom Besitzer zur Verfügung gestellten Logis besorgt der Meister für alle Arbeiter mit Ausnahme der am Orte wohnenden auf gemeinsame Rechnung, jedoch so, daß er dabei einen Vorteil hat, der sich meistens auf 2–5 % berechnet, häufig aber auch weit höher steigt. Dieses Verhältnis heißt die „Kommunie“. Obgleich dasselbe den Bestimmungen der Gewerbeordnung (§§ 115–119) zuwiderläuft, ist es doch fast allgemein in Uebung, und wo der Verdienst des Meisters nicht zu hoch ist, stehen sich sogar die Arbeiter gut dabei, da bei dem Großeinkauf geringere Preise gezahlt werden als beim Krämer. Der Beweis ergiebt sich daraus, daß der Beitrag zur Kommunie in der Regel für jeden Arbeiter während der Campagne nur etwa 150 Mk. beträgt.

Die Verteilung des von dem Besitzer an den Meister gezahlten Betrages erfolgt nun in folgender Weise: Zunächst werden abgezogen die Steuern, Versicherungsbeiträge u. s. w., dann erhalten die Lohnarbeiter ihre festgesetzten Löhne. Von dem Reste werden zuerst die sog. „Vorzüge“ bestritten, die für die verschiedenen Klassen: Ofensetzer, Umgänger, Brenner und Steinmacher in verschiedener Höhe berechnet werden. Dazu gehört auch der „Meistervorzug“; früher betrug derselbe für jeden Arbeiter 15 Mk., jetzt wird es üblich, statt dessen einen bestimmten Prozentsatz, z. B. 5 % von der Gesamtsumme des Verdienstes anzurechnen. Der nach allen diesen Abzügen verbleibende Rest wird zwischen dem Meister und den Annehmern gleichmäßig geteilt.

Das Verhältnis zwischen Meister und Arbeitern ist ein durchaus patriarchalisches. Die Ausgaben für die Kommunie werden allerdings in ein Kommuniebuch eingetragen, aber selten kontrolliert. Die Berechnung des Verdienstes besorgt der Meister allein, der den Arbeitern einfach mitteilt, wie viel sie zu erhalten haben. Auch Auszahlungen während der Campagne stehen in seinem diskretionären Ermessen; er gewährt sie nur soweit, als er es im Interesse des Arbeiters, insbesondere um ihn vor unnützen Ausgaben zu bewahren, für gut hält.

Im allgemeinen wird das weitgehende Vertrauen, welches die Ziegler dem Meister entgegenbringen, nicht getäuscht und ist das Verhältnis zwischen beiden ein gesundes. Allerdings haben sich eine Anzahl von Meistern zu eigentlichen Unternehmern im modernen Sinne entwickelt, aber diese Zahl ist gering. In der Regel hat jeder Meister alle Stufen des Gewerbes selbst[Pg 657] durchlaufen, und ebenso ist weder rechtlich noch thatsächlich dem Ziegler die Möglichkeit verschlossen, selbst Meister zu werden. Ueberall sind die Meister die tüchtigsten, intelligentesten und ordentlichsten Elemente unter der Zieglerschaft, sie haben deshalb eine starke moralische Autorität. Besteht auch zwischen Meistern und Zieglern ein gewisser Interessengegensatz, so besteht doch nirgends ein Klassengegensatz.

Außer den Meistern und Zieglern kommt nun aber noch eine dritte Klasse von Personen in Betracht: Das sind die Agenten. Das lippesche Zieglergewerbe hat sich nach Aufhören der dortigen Handweberei in den 40er und 50er Jahren dieses Jahrhunderts sehr schnell entwickelt unter Beihülfe der Regierung. Zur Unterstützung des Gewerbes führte diese einen staatlichen Arbeitsnachweis ein mittels sog. „Zieglerboten“ oder „Agenten“. Dies waren staatliche Beamte, die von jedem Ziegler bei Vermittelung einer Stelle eine gesetzlich bestimmte Abgabe erhielten und dafür auch gewisse Garantien für Durchführung der Verträge leisteten. Diese Vermittelung war obligatorisch; ohne sie geschlossene Verträge waren ungültig. Sie bezog sich auch nicht allein auf das Verhältnis zwischen Meistern und Arbeitern, sondern ebenso auf die Vermittelung zwischen Meistern und Besitzern. Die unzulänglich geübte Regierungskontrolle führte zu einer völligen Abhängigkeit von den Agenten, und so wurde am 7. September 1869 das Ziegler-Gewerbegesetz aufgehoben. Thatsächlich vollzieht sich heute die Verhandlung zwischen Meistern und Arbeitern ohne Mitwirkung der Agenten; dagegen wenden die Besitzer sich nach wie vor bei Vergebung der Meisterstellen sowohl an die früheren vier staatlichen Agenten, wie an die ferneren, die sich auf Grund der Gewerbefreiheit besetzt haben, und so hat sich ein ausgedehnter ungesunder Stellenschacher entwickelt, indem die Agenten die einträglichen Meisterstellen einfach an die Meistbietenden abgeben. Durch Einführung der Krankenversicherung hat sich die Zahl der Agenten sehr vermehrt, indem häufig die Kassenführer der Krankenkassen ihre aus dieser Thätigkeit gewonnenen Kenntnisse benutzen, um ein einträgliches Agenturgeschäft zu betreiben. In einigen Gegenden, z. B. in den unterelbeschen Bezirken, hat man in neuester Zeit begonnen, sich von dem Agentenwesen zu befreien, und die Vermittelung durch persönliche Beziehungen oder durch die Zeitungen eingerichtet.

Hiernach erscheinen in den Verhältnissen des Zieglergewerbes insbesondere folgende Punkte besserungsbedürftig:

1. der Arbeitsnachweis durch die Agenten;

2. die Arbeitsdauer;

3. die Wohnungsverhältnisse;

[Pg 658]

4. das Verhältnis zwischen Meistern und Zieglern wird sich auf die Dauer in der jetzigen Form nicht haltbar erweisen, denn es führt überall da, wo die Meister nicht wohlmeinende und ehrliche Leute sind, zu einer unerhörten Uebervorteilung der blindlings in ihre Hände gegebenen Arbeiter, und zwar äußert sich dies in zwei Punkten:

a. hinsichtlich der Abrechnung, insbesondere betreffs des Meistervorzuges,

b. hinsichtlich der gemeinsamen Beschaffung der Lebensmittel. —

Unter den hier kurz skizzierten Umständen war es ein nahe liegender Gedanke, in ähnlicher Weise, wie bei den Bergarbeitern, auch bei den Zieglern einen auf christlich-sozialer Grundlage beruhenden Gewerkverein ins Leben zu rufen, zumal die Ziegler überwiegend religiös und kirchlich gesinnt sind, durchschnittlich auch in sittlicher Hinsicht auf einer hohen Stufe stehen. Das Verdienst, die Sache in die Hand genommen zu haben, gebührt dem Pastor Zeiß in Schwalenberg, der unter Beihülfe des Pfarrers lic. Weber in Mönchen-Gladbach zunächst durch die lippeschen Lokalblätter den Plan verbreiten ließ und nach längeren Vorbereitungen zum 11. Dezember 1895 nach Lage eine allgemeine Zieglerversammlung einberief, an der sich etwa 300 Ziegler und Meister aus allen Teilen des Landes beteiligten. Hier wurde einstimmig die Bildung eines „Gewerkvereins der Ziegler in Lippe“ beschlossen.

Karakteristisch ist, daß die zur Vornahme der weiteren Schritte, insbesondere Beratung der Statuten, gewählte Kommission aus zwei Agenten, zwei Meistern und einem Ziegler gebildet wurde. Die Agenten haben sich zunächst dem Unternehmen freundlich gegenübergestellt, aber doch bald herausgefühlt, daß sie bei demselben eine innerlich unmögliche Stellung einnehmen, wie ebenso auch die Meister und Ziegler sich ihres Gegensatzes gegen die Agenten, der später einmal zu einer Beseitigung derselben führen muß, bewußt wurden, so daß man sie in den weiteren Entwickelungsstadien fallen ließ.

Am 9. Januar 1896 fand dann im Anschlusse an eine von etwa 500 Personen besuchte allgemeine Zieglerversammlung die erste Generalversammlung des neu begründeten Gewerkvereins statt, in der die Statuten endgültig festgesetzt und die Vorstandswahlen vollzogen wurden. Mitglied des Vereins kann jeder Ziegler werden, der treu zu Kaiser und Reich steht, sich als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze bekennt und verspricht, den Verpflichtungen des Vereins nachzukommen.

Der Zweck des Gewerkvereins ist im allgemeinen die Hebung der wirtschaftlichen Lage des Zieglerstandes und Beseitigung der sozialen Schäden im Zieglergewerbe auf christlich-patriotischer und gesetzlicher Grundlage. Insbesondere erstrebt der Verein:

[Pg 659]

a) Sicherung eines Verdienstes, welcher dem Werte der geleisteten Arbeit und der durch diese Arbeit bedingten Lebenshaltung entspricht.

b) Regelung der täglichen Arbeitszeit, soweit dies zum Schutze für Leben, Gesundheit und geistiges Wohl der Arbeiter notwendig ist.

c) Vermehrung und Verbesserung der Gewerbeinspektion und der anderen Kontrollorgane zur Ueberwachung der zum Schutze der Arbeiter über Sonntagsruhe, Wohn- und Schlafräume, Trinkwasser u. s. w. erlassenen Gesetzesbestimmungen.

d) Erlaß weiterer gesetzlicher Bestimmungen, die zum Gedeihen des Zieglergewerbes notwendig sind.

e) Verbot und Regelung der Frauen- und Kinderarbeit auf Ziegeleien.

f) Erhaltung eines guten Verhältnisses zwischen Meistern und Zieglern.

g) Errichtung einer Auskunftsstelle für rechtliche, verwaltungsrechtliche und fachmännische Fragen.

h) Errichtung eines gewerblichen Schiedsgerichtes für Ziegler in Lippe.

i) Unterstützung der Mitglieder bei unverschuldetem Lohnverluste und in außerordentlichen Notfällen.

Die Mittel zur Erreichung dieser Zwecke sind:

Gemeinsame Beratung über die Interessen des Zieglergewerbes und Veranstaltung von Vorträgen darüber in den Generalversammlungen und den Bezirksvereinen; Vertretung der Interessen des Zieglergewerbes bei der Regierung, bei anderen Behörden, bei den Parlamenten und in der Presse; Einreichung von Petitionen an maßgebenden Stellen, Vertretung und Durchführung gerechter Beschwerden von Zieglern, sowohl gegenüber den Ziegeleiverwaltungen als in anderen Fällen: Erforschung und Feststellung von gesetzwidrigen Mißständen auf Ziegeleien. Vermittelung zwischen Meistern und Zieglern bei Streitfällen; unentgeltliche Erteilung von Rat und Auskunft in rechtlichen, verwaltungsrechtlichen und fachmännischen Fragen; Errichtung einer Unterstützungskasse, aus welcher Mitglieder, die nachweislich ohne eigenes Verschulden, z. B. bei Konkursfällen, um einen Teil ihres Verdienstes gekommen sind, oder sich in außergewöhnlicher Notlage befinden, nach Maßgabe der vorhandenen Mittel entschädigt werden.

Der Mitgliedsbeitrag ist für die Ziegler auf monatlich 10 Pfg. festgestellt, für Meister ist dies der Mindestsatz, dessen Erhöhung ihnen selbst überlassen bleibt.

Der Vorstand besteht aus sechs Meistern und sechs Zieglern. Vorsitzender ist Ziegelmeister August Meier in Sülterheide bei Lage. Im Sommer besorgt die Geschäfte ein fünfgliedriger Geschäftsausschuß, dessen Vorsitzender der Geschäftsführer Ellerkamp in Lage ist.

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Das Vereinsorgan ist die „Lippesche Zieglerzeitung“. Daneben wird aber zu Bekanntmachungen auch noch die „Lippesche Landeszeitung“ benutzt. Während der Campagne erscheint außerdem noch das „Ziegler Sonntagsblatt“.

Bei der außerordentlichen Generalversammlung in Schöttmar am 10. März 1896 zählte der Verein 2500 Mitglieder in 35 Bezirksvereinen. Die dort beschlossene Auskunftsstelle (Rechtsbureau) ist am 15. April 1896 in Wirksamkeit getreten, hat sich mit einem Rechtsanwalt in Detmold in Verbindung gesetzt und ist bisher zur Erteilung von Rat in allerlei Angelegenheiten mehrfach in Anspruch genommen.

Auf der am 18. Februar 1897 in Lemgo abgehaltenen zweiten ordentlichen Generalversammlung wurde mitgeteilt, daß dem Vereine zur Zeit etwa 3500 Mitglieder in 63 Bezirksvereinen angehörten. In den Verhandlungen wurden mehrfache Erfolge der bisherigen Organisation im unterelbeschen Gebiete, insbesondere eine Erhöhung des Preises für 1000 Steine um 1 Mk. und Herabsetzung der Arbeitsdauer, hervorgehoben. Als Mißstand, dessen Bekämpfung in erster Linie angestrebt werden müsse, wurde allseitig anerkannt das Unterbieten bei Bewerbungen um die Meisterstellen. Hier liegt in der That ein Interessengegensatz zwischen den Meistern und denjenigen Zieglern, die beabsichtigen, selbst Meister zu werden, indem sie mit dem bisherigen Inhaber der Stelle in Konkurrenz treten.

Bei den Verhandlungen über die Arbeitsdauer zeigte sich der Einfluß der bereits bezeichneten Eigenart der Lippeschen Verhältnisse; man wehrte sich energisch gegen eine zu starke Herabsetzung und einigte sich, nachdem ein Antrag wegen Ermäßigung auf 13 Stunden gegen 12 Stimmen abgelehnt war, schließlich auf 14 Stunden. Ebenso wünschte man die Beschäftigung der jugendlichen Arbeiter über das jetzt zulässige Maß von 11 Stunden auszudehnen, während man für das Verbot der Wanderarbeit der Frauen in Ziegeleien eintrat. Die Angelegenheit der Kommunie führte zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen Meistern und Zieglern, indem die letzteren manche vorgekommenen Unregelmäßigkeiten rügten, während die ersteren sich darauf beriefen, daß der Meister ja zur Rechnungslegung verpflichtet sei. Endlich wurde die Abstellung der Mißstände auf dem Gebiete der Wohn- und Schlafräume, der Bettwäsche und des Trinkwassers gefordert und die Errichtung einer Zieglerschule gewünscht.

In den Statuten wurde die Einrichtung einer Unterstützungskasse gestrichen und beschlossen, daß jeder Bezirksverein einen eigenen Vorstand haben solle, was in Rücksicht auf das Vereinsgesetz insofern bedenklich ist, als der Verein dann ängstlich die Klippe der Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten vermeiden muß. Um die Thätigkeit für den Verein erfolgreicher betreiben zu können,[Pg 661] wurde ein Geschäftsführer mit einem Gehalte von 1000 Mk. angestellt, der kein Nebengeschäft betreiben darf.

An den Verhandlungen beteiligte sich auch der lippesche Kabinettsminister v. Oertzen, der den Verein des lebhaften Wohlwollens der Regierung versicherte.

Auch an der am 29. Januar 1898 in der „Zieglerbörse“ in Lage abgehaltenen dritten ordentlichen Generalversammlung beteiligten sich sowohl ein Vertreter des lippeschen Ministeriums als auch der Bürgermeister von Lage, die Gewerberäte der beteiligten Bezirke, mehrere Lippesche Landtagsabgeordnete und der Reichstagsabgeordnete Hüpeden. Vertreten waren 48 Bezirksvereine durch 77 Stimmberechtigte, daneben etwa 200 Mitglieder. Aus dem Geschäftsberichte ist folgendes hervorzuheben:

Der Verein hat sich über das Fürstentum Lippe hinaus ausgedehnt und zählt außer 62 Bezirksvereinen in Lippe 6 solche in der Provinz Hessen, 1 in Westfalen, 1 in Hannover und 1 in Waldeck. Seit der vorigen Generalversammlung sind 15 Bezirksvereine neu gebildet, doch haben sich auch einige aufgelöst. In das Verzeichnis der Mitglieder sind jetzt nur die wirklich zahlenden aufgenommen, deren Zahl am 1. Januar 1898 2623 betrug. Der Vorstand, in dem Meister und Ziegler in gleicher Zahl vertreten sind, ist 1897 fünfmal zusammengetreten; der Geschäftsführer hat 34 Agitationsversammlungen abgehalten. Es wird betont, daß der von dem Vereine befolgte Grundsatz, daß das Ziegelgewerbe nur bei festem Zusammenhalten zwischen Meistern und Zieglern gedeihen könne, sich bewährt und als beste Schutzwehr gegen das Eindringen der Sozialdemokratie erwiesen habe, da die drei Jahre hindurch fortgesetzte Agitation der letzteren in Lippe völlig vergeblich gewesen sei. Allerdings sei ein solches Zusammenwirken nur möglich, wenn man neben aller Verhetzung und Aufwiegelung gegen den Meisterstand zugleich alle Ungerechtigkeiten und Ungesetzlichkeiten bekämpfe. Wenn einige Meister, die das scheuten, bittere Gegner des Vereins geworden seien, so müsse er das in dem Bewußtsein ertragen, daß alle verständigen Meister auf seiner Seite standen. Abgesehen von der grundsätzlichen Bekämpfung der Sozialdemokratie, schließe der Verein alle Parteipolitik aus. In seiner Thätigkeit hat der Verein erhebliche Erfolge aufzuweisen, insbesondere ist durch das im Jahre 1896 zwischen dem Gewerkverein und den Ziegeleibesitzern in Drochtersen abgeschlossene Uebereinkommen, das man auch für die Campagne 1897/98 aufrecht erhalten hat, im Gebiete der unteren Elbe, der Oste und Este die Verkürzung der Arbeitszeit um zwei Stunden unter gleichzeitiger Erhöhung der Akkordsätze um 18% erreicht und dadurch ein Mehrverdienst der Ziegler um etwa 125000 Mk. erzielt. Ein ähnliches Vorgehen ist auch in anderen Gebieten beabsichtigt.[Pg 662] Großen Nutzen haben die Mitglieder von dem seitens des Vereins eingerichteten unentgeltlichen Rechtsschutze. In 160 Fällen ist der Rat des Vereinsanwaltes in Anspruch genommen, fünf Prozesse hat der Verein auf seine Kosten für die betreffenden Mitglieder geführt, da sie von grundsätzlicher Bedeutung waren. In 60 Fällen handelte es sich um Streitigkeiten zwischen Meistern und Zieglern; in den meisten ist durch Vermittelung des Vereins eine gütliche Verständigung erzielt. In 23 Fällen standen schlechte Wohnungsverhältnisse in Frage, insbesondere Klagen über Reinlichkeit, Bettwäsche, Trinkwasser und dgl. Der Verein hat sich bei solchen Klagen, ohne den Namen des Beschwerdeführers zu nennen, an die Behörden gewandt und Abhülfe geschafft. Auch an den Bundesrat und verschiedene Staatsbehörden hat der Verein Eingaben gerichtet, insbesondere wegen der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter und Frauen, wegen Beseitigung der vielfach die Ziegler infolge ihres Aufenthaltes an andern Orten betreffenden Doppelbesteuerung und wegen Verlegung der Landtags- und Gemeindewahlen in den Winter.

In der Versammlung kamen großenteils dieselben Gegenstände zur Verhandlung. Die Frage der Besteuerung wurde nach einem eingehenden Vortrage des Vereinsanwaltes und nachdem der anwesende Regierungsvertreter seine Unterstützung zugesagt hatte, einer Kommission überwiesen. Ueber die Mißstände im Zieglergewerbe wurde unter Zugrundelegung einer vom Vorstande durch Fragebogen veranstalteten Umfrage ein ausführlicher Bericht erstattet. Danach liegt der Schwerpunkt der vorhandenen Uebelstände in der Schmutzkonkurrenz bei der Bewerbung um die Meisterstellen, die dann sowohl überlange Arbeitszeit und Schädigung des Verdienstes als auch Streitigkeiten zwischen Meistern und Gesellen zur Folge hat, die selbst zu Arbeitsniederlegungen geführt haben. Es wurde beschlossen, jeden Fall unangemessener Bewerbung um Meisterstellen durch Unterbietungen mittels der Presse an die Oeffentlichkeit zu bringen und Mitglieder, die sich eines solchen Vergehens schuldig machen oder im Gebiete der Unterelbe, Oste oder Este länger als von 4–8 Uhr arbeiten lassen, neben öffentlicher Namensnennung aus dem Vereine auszuschließen. Uebrigens wurde bei den Verhandlungen auch über Kontraktbruch der Arbeiter geklagt und zu dessen Verhütung schriftliche Abfassung der Verträge empfohlen. Die Unzufriedenheit über die Wohnungsverhältnisse war allgemein und fand ihren Ausdruck in einem Beschlusse, den Erlaß eines Reichswohngesetzes, daneben aber eine einheitliche Polizeiverordnung über die Wohnungsangelegenheit im Zieglergewerbe zu beantragen; dabei soll insbesondere für alle Ziegeleien die Einrichtung eines Krankenzimmers gefordert werden.

[Pg 663]

Ein weiterer Gegenstand der Verhandlungen war das Verhältnis zwischen Meistern und Zieglern, insbesondere die Kommunie. Während von einer Seite empfohlen wurde, im Interesse des Friedens sich mit dieser Frage gar nicht zu befassen, hielt die Mehrheit es umgekehrt für erforderlich, hier völlig offene Aussprache herbeizuführen. Als Uebelstände bei der bisherigen Einrichtung wurde hervorgehoben, daß die Meister ohne jede Beteiligung der Arbeiter das Kommuniebuch führten und die Einkäufe besorgten, auch die Abrechnungen erst unmittelbar vor Schluß der Campagne den Arbeitern vorlegten, so daß diesen eine Prüfung meistens nicht möglich sei. Es wurde beschlossen, dahin zu wirken, daß während der Campagne regelmäßig Abrechnungen über die Kommunie stattfinden und Kontobücher für jeden Ziegler über die von dem Meister bezogenen Gegenstände eingeführt werden, auch soll auf jeder Ziegelei die Abrechnung mit dem Meister durch eine von den Zieglern gewählte Kommission geprüft werden. Ein noch weiter gehender Antrag, daß der Einkauf der Lebensmittel nicht von den Meistern allein, sondern gemeinsam mit den Arbeitern besorgt oder daß Kantinen eingerichtet und der Behörde unterstellt werden sollten, wurde aus dem Grunde bekämpft, weil ein solches Verfahren die Autorität des Meisters untergraben und ihn gewissermaßen unter Kuratel stellen würde, auch die Kantinen durchaus zu verwerfen seien. Der Antrag wurde mit 56 gegen 32 Stimmen abgelehnt. Endlich wurde noch beschlossen, auf Beseitigung des Borgsystems bei den Kaufleuten hinzuwirken.

Der letzte Gegenstand der Tagesordnung war die Errichtung eines Arbeits- und Stellennachweises für Meister und Ziegler. Man beschloß einerseits auf die reichsgesetzliche Regelung der Sache hinzuwirken, andererseits aber auch einen mit der Geschäftsstelle zu verbindenden, allen Mitgliedern gleichmäßig zugänglichen Stellen- und Arbeitsnachweis zu errichten, der in den verschiedenen Teilen des Landes Filialen zu unterhalten hat. Die lippesche Regierung soll um einen Beitrag zu den Kosten aus Landesmitteln und Uebernahme der obersten Kontrolle gebeten werden.

Schließlich verhandelte man über das Verhältnis des Vereins zu dem im letzten Jahr gegründeten „Deutschen Ziegelmeisterverbande“. Es wurde einstimmig folgender Antrag angenommen:

„Die Generalversammlung erklärt, daß ein bezirksweiser Zusammenschluß der Meister im Anschluß an den Gewerkverein nützlich und bisweilen notwendig sein kann, daß aber ein unabhängig vom Gewerkverein stehender Meisterverein schädlich sei und nur dazu diene, daß die Uneinigkeit zwischen Meistern und Zieglern vermehrt und die Agitation der Sozialdemokratie befördert werde; die Generalversammlung beschließt daher,[Pg 664] daß niemand zugleich Mitglied des Gewerkvereins und des Meisterverbandes sein kann, falls nicht letzterer etwa als Glied sich dem Gewerkverein anschließen und dem Vorstand desselben unterordnen will.“

In der am 12. Januar 1899 in Detmold abgehaltenen vierten Generalversammlung waren außer etwa 200 Mitgliedern 52 stimmberechtigte Vertreter von 36 Bezirksvereinen anwesend; die Zahl der letzteren ist auf 78, diejenige der Mitglieder auf 3112 gestiegen. Die Verhandlungsgegenstände waren im wesentlichen dieselben, wie in früheren Jahren. Der Verein hat nicht allein die Herabsetzung der Arbeitszeit Von 16 auf 14 Stunden aufrecht erhalten, sondern für die nächste Campagne sogar eine weitere Verminderung um ½ Stunde unter gleichzeitiger Erhöhung der Akkordpreise um 6% durchgesetzt. Für Rheinland ist, wie schon früher für Westfalen, die Befreiung von der doppelten Kirchensteuer erreicht. Der Verein besitzt eine Lesehalle und eine Vereinsbibliothek. Er ist zu den christlichen Gewerkschaften in ein näheres Verhältniß getreten und Mitglied der „Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen“ geworden. Sehr wirkungsvoll hat sich die Einrichtung des Rechtsschutzes erwiesen, insbesondere sind 41 Beschwerden an die Behörden wegen mangelhafter Wohnungseinrichtungen von Erfolg gewesen. Die Geschäftsstelle hat wiederholt mit Erfolg als Einigungsamt gewirkt. Die schon lange angestrebte Zieglerschule in Lemgo ist jetzt mit staatlichem Zuschuß ins Leben getreten, dagegen haben die von der lippeschen Regierung unterstützten Bestrebungen weiterer Ausdehnung des Arbeiterschutzes für jugendliche Arbeiter und Frauen, insbesondere der Ausschluß der letzteren von der Wanderarbeit, keinen Erfolg gehabt. Die Versammlung beschloß deshalb, daß die dem Vereine angehörenden Meister im Interesse der Sittlichkeit Wanderarbeiterinnen nicht beschäftigen dürfen. Wegen der „zahlreichen, ja fast allgemeinen“ Uebertretungen der Arbeiterschutzgesetze in Bezug auf Sonntagsruhe, Frauen- und Kinderarbeit seitens der vielen belgischen und holländischen Ziegler im Rheinland soll eine Eingabe an die Behörde gemacht werden. Besondere Kommissionen wurden eingesetzt 1. zur Beaufsichtigung der Befolgung der Arbeiterschutzgesetze, 2. für Zusammenschluß der Meister zur Erzielung günstiger Vertragsabschlüsse, 3. zur Bekämpfung unlauterer, das ganze Gewerbe schädigender Konkurrenz bei Bewerbung um Meisterstellen, wodurch am meisten der Lohn herabgedrückt wird. Eingehend wurde über den Arbeitsnachweis verhandelt. Die jetzige Vermittelung durch die Agenten hat zu großen Uebelständen Anlaß gegeben, unter denen Besitzer und Arbeiter zu leiden haben. Es würde deshalb bedauert, daß der von dem Vereine unternommene Versuch eines Zusammengehens mit der Organisation der Ziegeleibesitzer vorläufig gescheitert sei. Es würde eine Zentralstelle für Arbeitsnachweis in Lippe mit Filialen für andere[Pg 665] Gegenden eingerichtet. Der Verein besitzt jetzt zwei eigene Blätter, die „Lippesche Zieglerzeitung“ und „Gut Brand“.

Der Gewerkverein der Ziegler ist eine sehr interessante Erscheinung.

Die Schwierigkeit, deren Ueberwindung große Mühe kosten wird, liegt darin, daß, wie schon erwähnt, viele Ziegler die Abstellung der hervorgehobenen Uebelstände gar nicht wünschen, weil sie darin einen Schutz sehen. Insbesondere gilt dies von der Abkürzung der Arbeitszeit. Hinsichtlich deren mußte, um laut gewordene Bedenken zu beschwichtigen, in der ersten Generalversammlung ausdrücklich erklärt werden, daß man an eine Herabsetzung auf 12 oder gar 11 Stunden nicht denke; außerdem wurde der Ausdruck des Programmentwurfes „Verkürzung“ in „Regelung“ der Arbeitszeit umgeändert. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Ziegler in ihrer Mehrheit für eine gewerkschaftliche Bewegung noch nicht reif sind; die Frage, ob der neu gegründete Verein Bestand haben wird, ist deshalb wesentlich davon abhängig, ob es den leitenden Personen gelingen wird, einerseits auf diese Unreife die nötige Rücksicht zu nehmen und doch andrerseits auf eine allmähliche soziale Erziehung hinzuwirken.

Vielleicht ist der Verein in der nächsten Zeit vor eine schwere Kraftprobe gestellt hinsichtlich des bereits erwähnten Verhältnisses zu den Ziegeleibesitzern. Diese haben sich 1897 in dem „Verband deutscher Thonindustrieller“ eine einheitliche Organisation für ganz Deutschland geschaffen. Getreu seinem Grundgedanken, ein gutes Verhältnis zu den Arbeitgebern aufrecht zu erhalten, hatte sich der Gewerkverein, als er den Plan eines Arbeitsnachweises in Angriff nahm, an den Verband mit der Aufforderung gewandt, Vertreter zu einer auf den 10. Dezember 1898 in Detmold angesetzten Besprechung zu entsenden, um nach dem Vorbilde des „Verbandes deutscher Arbeitsnachweise“ einen paritätischen Nachweis unter gleichmäßiger Beteiligung des Gewerkvereins und des Verbandes einzurichten. Aber obgleich der Vorstand des Verbandes hierauf insoweit einging, als er zu der vorgeschlagenen Besprechung zwei Vertreter entsandte, und obgleich es den Anschein hatte, als wenn eine grundsätzliche Verständigung erreicht sei, brachte das Organ des Verbandes, die „Thonindustriezeitung“, am 19. Dezember 1898 und 1. Januar 1899 zwei Artikel, in denen gegen den Gewerkverein die schwersten Beschuldigungen erhoben wurden, insbesondere daß er die christlich-patriotische Maske nur benutze, um seine in Wahrheit sozialdemokratischen Bestrebungen zu verdecken, die hauptsächlich darin hervorträten, daß der Verein nach seinen Statuten einen dem Werte der geleisteten Arbeit und der Lebenshaltung entsprechenden Lohn und eine der Gesundheit und dem geistigen Wohle der Ziegler angemessene Regelung der Arbeitszeit fordere, außerdem aber Erforschung und Feststellung[Pg 666] von gesetzwidrigen Mißständen auf Ziegeleien beabsichtige. Der Ziegeleibesitzer sei Herr in seinem Hause, und es sei ein trauriges Bestreben, die Arbeiter zu Denunziationen anzuregen. Eine Verminderung der Arbeitszeit sei ganz unmöglich, und wenn der Gewerkverein schon die Herabsetzung auf 14 Stunden durchgesetzt habe, so sei es die höchste Zeit, ihm energisch entgegenzutreten. Die Führer des Vereins seien systematisch bestrebt, den Arbeitern höhere Ansprüche an das Leben einzuimpfen und sie unzufrieden zu machen. Wenn die lippesche Regierung einen solchen Verein begünstige, so wisse sie gar nicht, daß sie damit Bestrebungen unterstütze, die darauf hinausliefen, die Mitglieder zu tüchtigen, zielbewußten Sozialdemokraten zu machen. Es schien angezeigt, diesen Angriff hier etwas genauer wiederzugeben, da er den Normaltypus bildet für alle ähnlichen, wie sie heute in den Kreisen eines engherzigen Unternehmertums gegen alle gewerkvereinliche Bestrebungen als solche erhoben werden, denn deren Grundgedanke ist nun einmal der, die Lebenshaltung der Arbeiterschaft zu erhöhen. Selbst die Sozialdemokratie, soweit sie nur dies thut, ist nicht Sozialdemokratie, sondern berechtigte Arbeiterbewegung. Wer solche Ziele bekämpft, bekämpft den Kulturfortschritt, wer es aber dadurch thut, daß er das Schlagwort „sozialdemokratisch“ hinwirft, versteht entweder nicht, was das Wort bedeutet, und sollte deshalb seinen Mund halten oder er will mit Bewußtsein die gegen die Sozialdemokratie im Volke bestehende Abneigung und Furcht als Hülfsmittel gegen eine Bewegung benutzen, die ihm von seinem egoistischen Standpunkte aus unangenehm ist, d. h. er betrügt.

Der Verband der Thonindustriellen hat übrigens den Feldzug gegen den Gewerkverein bereits begonnen, indem er die Parole ausgegeben hat, Meister, die „agitatorisch“ thätig gewesen sind, nicht zu beschäftigen, ja auf die Tagesordnung der nächsten Generalversammlung ist ausdrücklich gesetzt: „die Bekämpfung des Gewerkvereins“. Man nimmt in Lippe an, daß dieser Haß durch die „Agenten“ geschürt sei, deren Treiben durch den Verein lahm gelegt ist. Gesetzt, es gelänge, durch Gewaltmaßregeln den noch jungen Gewerkverein zu vernichten, so könnte ja die weitere Entwickelung nicht zweifelhaft sein: die Sozialdemokratie, die bisher keinen Boden hat fassen können, würde dann bald besseren Erfolg haben. Das hat ja freilich den Vorzug, klare Verhältnisse zu schaffen, und der Verband der Thonindustriellen wird dies wünschen, aber man soll dann wenigstens auch darüber keine Unklarheit lassen, wer es ist, der die Sozialdemokratie begünstigt. Uebrigens ist das Lippe'sche Ministerium mit Nachdruck für den Gewerkverein eingetreten und hat durch sein Eingreifen den Verband der Thonindustriellen schließlich zum Nachgeben bewogen; es ist begreiflich, daß diese sozialpolitische Haltung, die mit derjenigen der Preußischen Regierung im schärfsten Gegensatze steht, allgemeines Aufsehen erregt hat.

[Pg 667]

6. Solinger Stahlwarenindustrie[306].

Die berühmte Stahlwarenindustrie in Solingen begann im 15. Jahrhundert als handwerksmäßiger Betrieb und hat diese Form bis zum Beginne des 17. Jahrhunderts beibehalten. Verfertiger und Verkäufer der Waren waren dieselben Personen. Die einzelnen, nach der Gattung der Waren abgeteilten Gruppen hatten sich zu Bruderschaften verbunden, die vererblich und gegeneinander streng abgeschlossen waren. Man war bestrebt, eine möglichste Gleichheit des Einkommens unter den Mitgliedern herbeizuführen. Diesen Zweck verfolgten Maßnahmen, die heute in anderem Zusammenhange wieder aufgenommen sind, wie Verbot der Nacht- und Sonntagsarbeit, Festsetzung der Höchstzahl der Lehrlinge und des Höchstbetrages der Produktion.

Seit dem 17. Jahrhundert entwickelt sich die Form der Hausindustrie, indem die Vermehrung der Produktion und deren Absatz nach außerhalb dazu führt, daß die Verfertigung der Waren und deren Vertrieb sich sondern. Einzelne Mitglieder der Bruderschaften beschäftigen sich überwiegend mit dem Handel, es bildet sich ein besonderer Kaufmannsstand, und der nicht handeltreibende Meister sinkt immer mehr auf die Stufe des Lohnarbeiters herab. Es ist karakteristisch, daß schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts die Lohnfrage die gleiche Rolle spielt, wie heute. Lohnkämpfe zwischen Handwerkern und Kaufleuten beherrschen das 18. Jahrhundert und geben Anlaß dazu, obrigkeitliche Lohnsatzungen aufzustellen, in denen für die verschiedenen Gruppen Mindestlöhne festgesetzt werden. Damit Hand in Hand geht der Kampf gegen das Drucksystem. Die 1809 eingeführte[Pg 668] Gewerbefreiheit führte zu einer Verschlechterung der Lage der Arbeiter, und erst die mit der Gewerbeordnung von 1869 gewährte Koalitionsbefugnis gab das Hilfsmittel, sich hiergegen zu schützen. Zuerst traten 1871 die Messerschleifer zu einem Verein zusammen, stellten Preisverzeichnisse für die einzelnen Arbeitsgattungen auf und zwangen die Fabrikanten zu ihrer Annahme. Als auch die Scherenschleifer in gleicher Weise vorgingen, bildete sich zur Abwehr 1875 der Scherenfabrikantenverein, der es nach mehrmonatlichen Lohnkämpfen durchsetzte, daß gemeinsam vom Fabrikanten- und Schleiferverein ein Preisverzeichnis mit Mindestpreisen vereinbart wurde. Eine Aenderung kann nur durch dreimonatliche Kündigung herbeigeführt werden. Sowohl im Falle der Kündigung, wie bei Streitigkeiten über den bestehenden Tarif beschließt eine von beiden Teilen gewählte Vergleichskammer. Dieses System ist nach und nach von den meisten der übrigen Gruppen (Scherenhärter und -feiler, Tafelmesserschleifer, Gabelschleifer, Rasiermesserschleifer, Taschen- und Federmesserschleifer u. s. w.) angenommen.

In den in neuerer Zeit entstandenen Industrien (Regenschirmgarnituren-, Bügeleisen-, Stiefeleisenfabrikation u. s. w.) herrscht der fabrikmäßige Betrieb, der auch in die Schwert-, Messer- und Scherenfabrikation, wenn auch langsam so doch mehr und mehr eindringt, obgleich die Schleifer ihm durch Ausstände entgegenzuwirken suchen.

Ein sehr großer Teil der Arbeiter in der Stahlwarenindustrie gehört den Fachvereinen an, die ihrerseits Vereinbarungen über die Löhne mit den Fabrikanten geschlossen haben. Für die Arbeiter beruht der Vorteil hierbei vor allem darin, daß ihnen Schutz gegen die bei den kleineren Fabrikanten übliche Lohndrückerei gewährt wird, während die Fabrikanten durch diese Vereinbarungen gegen Preisunterbietungen geschützt werden.

Die Statuten der für die einzelnen Gruppen bestehenden Vereine stimmen fast wörtlich überein; es genügt deshalb, aus je einem derselben die wichtigsten Bestimmungen wiederzugeben.

I. Statut des Feder- und Taschenmesser-Fabrikantenvereins.

„Zweck des Vereins ist, das Interesse der Fabrikation in jeder Beziehung zu wahren und zu fördern und Uebergriffen seitens der Arbeitervereinigungen gemeinsam entgegenzutreten.

Mitglied kann jeder im Kreise Solingen wohnende Feder- und Taschenmesserfabrikant werden, der die vorgeschriebenen Verpflichtungen eingeht. Jedes Mitglied hat ein Eintrittsgeld zu zahlen, welches innerhalb der Grenzen von 150–1500 Mk. durch Vereinsbeschluß festgesetzt wird. Dasselbe dient dem Verein als Sicherheit für Innehaltung der gefaßten Beschlüsse; werden diese von einem[Pg 669] Mitgliede übertreten, so kann die Generalversammlung über dessen Einlage verfügen.

Falls der Verein durch Uebergriffe seitens der Arbeitervereinigungen sich gezwungen sehen sollte, zur Sperrung einzelner Arbeiter oder zur vollständigen Arbeitseinstellung zu schreiten, so ist jedes Mitglied bei Verlust seiner Einlage verpflichtet, die getroffenen Bestimmungen innezuhalten. Mitglieder, welche gegen die Beschlüsse oder Interessen des Vereins handeln, können unter Verlust ihrer Einlagen aus dem Verein ausgeschlossen werden.“

II. Statut des Rasiermesserschleifervereins.

„Der Verein hat den Zweck, die gewerkschaftlichen und materiellen Interessen der Mitglieder zu wahren und zu fördern. Mitglied kann jeder werden, der selbständig als Rasiermesserschleifer thätig ist. Jedes Mitglied zahlt 1 Mk. Eintrittsgeld und 50 Pf. Monatsbeitrag. Die Kasse des Vereins dient dazu, die entstandenen Ausgaben zu decken, die materiellen Interessen der Mitglieder zu wahren und dieselben bei Streiks zu unterstützen.

Jedes Mitglied ist verpflichtet, genau nach den bestehenden Preisverzeichnisse zu arbeiten, sowie etwaige Nichtbefolgungen von Seiten eines Mitgliedes oder eines Fabrikanten dem Vorstande mitzuteilen, auch zum Zwecke der Revision die Lieferzettel vorzuzeigen.

Der Verein gewährt den Hinterbliebenen eines verstorbenen Mitgliedes ein Sterbegeld von 50 Mk.“

Eingehende Bestimmungen sind über das Halten von Gesellen und Lehrlingen getroffen. Jedes Mitglied darf nur einen Lehrling halten und nicht unter fünf Jahre Lehrzeit. Kein Meister darf mehr als zwei Personen beschäftigen, entweder zwei Gesellen oder einen Gesellen und einen Lehrling. Eigene Söhne gelten als Gesellen oder Lehrlinge, doch darf der Meister alle seine Söhne beschäftigen. Kein Mitglied darf einen Lehrling in Arbeit nehmen, der einem andern Meister rechtswidrig entlaufen ist.

III. Tarifvertrag zwischen dem Scherenfabrikantenverein und dem Scherenschleiferverein.

Der Vertrag ist am 13. Februar 1872 geschlossen und hat ein Preisverzeichnis aufgestellt, dessen Sätze als Mindestpreise gelten. Kein Arbeitgeber darf niedrigere Preise bezahlen, und kein Arbeitnehmer darf zu geringeren Sätzen arbeiten. Bei Uebertretungen nach beiden Richtungen sind die Betreffenden, wenn sie Vereinsmitglieder sind, von ihrem Vorstande zu warnen und im Wiederholungsfall auszuschließen. Der Schleiferverein ist verpflichtet, dafür zu sorgen, daß seine Mitglieder für einen Fabrikanten, — ohne Unterschied, ob derselbe[Pg 670] Vereinsmitglied ist oder nicht — der nicht die festgesetzten Preise bezahlt, nicht arbeiten, wohingegen der Fabrikantenverein die Verpflichtung hat, dafür zu sorgen, daß keins seiner Mitglieder einen solchen unter dem festgesetzten Preise arbeitenden Schleifer beschäftigt.

Der Tarif kann nur durch die schriftliche Kündigung eines der beiden Vereine, die drei Monate zuvor zu erfolgen hat, außer Kraft gesetzt werden. Zur Ueberwachung der pünktlichen Ausführung und zur Beseitigung hervortretender Uebelstände besteht eine Vergleichskammer aus vierzehn Mitgliedern, von denen jeder Verein die Hälfte zu wählen hat. Derselben müssen alle streitigen Fälle, sei es zwischen den beiden Vereinen oder einem Mitgliede des einen und einem Mitgliede des andern Vereins zur Entscheidung vorgelegt werden. Kein Verein ist berechtigt, gegen Angehörige des anderen Vereins irgend welche Schritte einzuleiten, ohne von der Vergleichskammer dazu ermächtigt zu sein. Diese letztere beschließt endgültig, wobei es ihr überlassen ist, zu bestimmen, ob vorher eine Beratung in den Vereinen stattfinden soll, die jedoch nur vorbereitenden Karakter hat. Die Vorstände der Vereine sind verpflichtet, die Beschlüsse der Vergleichskammer zur Ausführung zu bringen, Verwarnungen zu erlassen oder den Ausschluß der Mitglieder zu Veranlassen. Die Kammer kann jederzeit die Preisfrage in Beratung ziehen und die ihr notwendig scheinenden Abänderungen der Vereinsstatuten in Vorschlag bringen.

Durch Beschlüsse beider Vereine vom 12. Juli 1880 ist bestimmt, daß jedes Mitglied des Schleifervereins verpflichtet ist, nur bei solchen Fabrikanten zu arbeiten, die Mitglieder des Fabrikantenvereins sind, und jedes Mitglied des letzteren nur solche Schleifer zu beschäftigen hat, die Mitglieder des Schleifervereins sind.

Aus dem am 2. Januar 1888 zwischen dem Tafelmesserfabrikantenverein und dem Tafelmesserschleifverein abgeschlossenen Vertrage, der sich im übrigen mit dem oben erwähnten deckt, insbesondere auch die Bestimmung enthält, daß die Schleifer nur bei Mitgliedern des Fabrikantenvereins arbeiten und diese keine Schleifer beschäftigen dürfen, die unter den Verbandspreisen gearbeitet haben, ist auch hervorzuheben, daß die Wirksamkeit des Vertrages von der Bedingung des seitens der Schleifer zu erbringenden Nachweises abhängig gemacht war, daß alle außerhalb des Vereins stehenden Fabrikanten sich zur Bezahlung desselben Preises bereit erklärt hätten. Für die Einigungskammer ist die Bestimmung getroffen, daß bei Abstimmungen, bei denen sich die Mitglieder beider Vereine geschlossen gegenüberstehen, die Sache auf die nächste Sitzung vertagt, in dieser aber, wenn sich das Gleiche wiederholt das Los entscheiden soll.

Wie man sieht, hat die Solinger Stahlwarenindustrie Einrichtungen geschaffen, die mit der Tarifgemeinschaft der Buchdrucker und dem Stickereiverbande[Pg 671] große Aehnlichkeit haben; insbesondere hat man den Grundsatz des ausschließlichen Verbandsverkehrs übernommen. Die mehrfach geäußerten Bedenken, daß die Arbeiter Preise durchsetzen würden, bei denen die Solinger Industrie nicht bestehen könne, haben bisher durch die Erfahrung keine Bestätigung gefunden. Aber allerdings treffen bei dieser Industrie verschiedene Umstände zusammen, die besonders günstig wirken. Zunächst handelt es sich ausschließlich um gelernte Arbeiter, die schwer durch andere zu ersetzen sind. Diese Arbeiter stehen als Hausindustrielle auf einer höheren Stufe, als gewöhnliche Fabrikarbeiter, wohnen auf einem kleinen Gebiete zusammen und besitzen häufig auch ein eigenes Grundstück. Die Fabrikanten haben meist kleine Betriebe und sind deshalb nicht sehr widerstandsfähig. Endlich handelt es sich um eine im Aufblühen begriffene Industrie, die höhere Preise ertragen kann. Sollte noch mehr, als dies schon jetzt geschehen ist, die Hausindustrie durch den Fabrikbetrieb verdrängt werden, so würden diese Zustände schwer aufrecht zu erhalten sein, wie sie auch auf andere Industrien bis jetzt nicht übertragen sind.

7. Die Feilenhauerindustrie in Remscheid[307].

Schon seit Anfang dieses Jahrhunderts hatte sich in dem bergischen Lande, vorzugsweise aber in Remscheid und im Kreise Lennep die Feilenhauerindustrie zu hoher Blüte entwickelt. Aber seit den 1890er Jahren trat infolge der Absperrungsmaßregeln in großen Absatzgebieten und starker ausländischer Konkurrenz ein Rückgang ein, der die ganze Industrie schwer schädigte, insbesondere aber die Löhne auf eine tiefe Stufe herabdrückte[308]. Die Arbeiter, die fast alle als Hausindustrielle thätig sind, hatten deshalb 1887 alles zu einem großen Streik vorbereitet, wandten sich aber zuvor durch ihre bestehende Innung an den Bürgermeister v. Bohlen mit der Bitte um Vermittelung. Dieser hörte zunächst einzelne Fabrikanten, und nachdem dieselben die Klagen als begründet anerkannt hatten, berief er eine größere Fabrikantenversammlung, in der man die schon vorher geplante Gründung beiderseitiger Vereine mit einer gemeinsamen Vergleichskammer für das beste Mittel der Abhilfe erklärte. Nachdem man auch den Landrat Königs zugezogen hatte, da man sich überzeugte,[Pg 672] daß die Organisation auf den ganzen Kreis ausgedehnt werden müsse, erfolgte die Gründung der Vereine und der Vergleichskammer am 24. August 1888, indem man sich in allen Beziehungen an das Beispiel der Scherenschleifer in Solingen anlehnte. Die Statuten entsprechen fast wörtlich denjenigen der letzteren[309].

Die Statuten des Fabrikantenvereins bezeichnen als Zweck, das Interesse der Fabrikanten in jeder Beziehung zu wahren, für ein gutes Verhältnis zu den Arbeitern zu sorgen, die Lohnsätze in einer beide Teile zufriedenstellenden Weise zu vereinbaren und Uebergriffen der Arbeitervereinigungen gemeinsam entgegenzutreten. Jedes Mitglied hat für jedes Schmiedefeuer einen eigenen Wechsel von 100 Mk. als Sicherheit zu hinterlegen. Die Lohnlisten, die von den beiden Vereinen gemeinschaftlich aufgeteilt wurden, enthalten die Mindestlöhne, unter denen kein Mitglied arbeiten lassen darf; höhere Löhne dürfen mit den einzelnen Arbeitern vereinbart werden. Die Mindestlöhne müssen allen im Kreise Lennep wohnenden Arbeitern gezahlt werden, ohne Rücksicht auf ihre Zugehörigkeit zu dem Feilenhauervereine. Falls der Verein sich durch Uebergriffe der Arbeitervereinigungen gezwungen sehen sollte, die Sperrung einzelner Arbeiter oder vollständige Arbeitseinstellung zu beschließen, so ist jedes Mitglied bei Verlust seiner hinterlegten Wechsel und einer Konventionalstrafe von 1000 Mk. zur Innehaltung der gefaßten Beschlüsse verpflichtet. Abgesehen von diesem Falle sind die Wechsel verwirkt, wenn ein Fabrikant unter den festgesetzten Mindestlöhnen arbeiten läßt, sei es auch nur durch sog. Strohmänner. Den Anordnungen der Vergleichskammer hat jedes Mitglied bei 1000 Mk. Strafe Folge zu leisten.

Zweck des Feilenhauervereins ist, die Ehre und die materiellen Interessen der Mitglieder zu fördern, für ein gutes Verhältnis zu den Arbeitgebern zu sorgen, die Lohnsätze in beide Teile zufriedenstellender Weise zu vereinbaren und Uebergriffen der Fabrikantenvereinigungen gemeinsam entgegenzutreten. Mitglied kann jeder Feilenhauer werden, der selbständig zu Hause oder in einer Fabrik arbeitet. Die Kasse des Vereins dient zur Deckung der Vereinsausgaben und zur Unterstützung bedürftiger Mitglieder. Niemand darf unter den Minimalpreisen arbeiten. Im Falle der Verein durch Uebergriffe der Fabrikantenvereinigungen sich gezwungen sehen sollte, zu Sperrung einzelner Arbeitgeber oder zu vollständiger Arbeitseinstellung überzugehen, hat jedes Mitglied den gefaßten Beschlüssen unbedingt Folge zu leisten, ebenso andrerseits aber auch den Anordnungen der Vergleichskammer.

Das gemeinsame Statut bestimmt, daß kein Fabrikant weniger als[Pg 673] die festgesetzten Löhne zahlen und kein Feilenhauer zu billigeren Löhnen arbeiten darf; beides ist nicht auf die Mitglieder der vertragschließenden Vereine beschränkt. In der aus je sieben Mitgliedern beider Vereine bestehenden Vergleichskammer führt ein unbeteiligter Dritter den Vorsitz[310].

Generelle Preisbestimmungen finden durch die Vergleichskammer nicht statt, sondern die Vereinbarung über einen neuen Preistarif kann nur von Verein zu Verein erfolgen. Findet zwischen den Vorständen der Vereine eine Einigung über streitige Fälle nicht statt, oder ist der eine Verein mit dem in der angerufenen Sache ergangenen Bescheide des anderen Vereins nicht zufrieden gestellt, dann steht demselben die Berufung an die Vergleichskammer offen; dieselbe hat dann über den betreffenden Fall endgültig zu entscheiden.

Die Vorstände der Vereine sind bei einer Konventionalstrafe bis zu 1000 Mark verpflichtet, die Beschlüsse der Vergleichskammer zur Ausführung zu bringen bezw. den Ausschluß von Mitgliedern zu verfügen. Zur Sicherung der Konventionalstrafe soll von jedem der beiden Vereine eine Kaution von 1000 Mk. hinterlegt werden.

Die etwa von seiten eines Vereins verwirkte Kaution fällt dem gemeinnützigen Bauverein in Remscheid zu.

Der vereinbarte Tarif gilt bis auf weiteres, sofern nicht drei Monate vorher von einem der beiden Teile die Kündigung erfolgt.

Ende 1889 wurde noch die Bestimmung hinzugefügt, daß die Mitglieder des Fabrikantenvereins nur Mitglieder des Feilenhauervereins beschäftigen und umgekehrt diese nur bei jenen arbeiten dürfen.

Die Gründung der beiden Vereine, und die Durchführung dieser Beschlüsse stieß auf Schwierigkeiten nicht sowohl bei den Arbeitern, von denen 800 sofort und die übrigen 700 in kurzer Zeit dem Vereine beitraten, sondern bei den Fabrikanten, von denen zunächst nur 70 sich anschlossen, während etwa 50 sich ablehnend verhielten, da sie überhaupt nicht geneigt waren, sich hinsichtlich der Löhne den Bestimmungen einer zur Hälfte aus Arbeitern gebildeten Vergleichskammer zu fügen, insbesondere aber geltend machten, daß die unter den Augen der Behörde sich vollziehende Organisation der Arbeiter eine Steigerung der Begehrlichkeit und eine Stärkung der Sozialdemokratie mit sich bringen werde. Da aber die Arbeiter das größte Gewicht darauf legten, daß alle Fabrikanten sich anschlössen, so griffen sie zu dem Mittel, den widerstrebenden mit Streik zu drohen, und da die Vergleichskammer hierbei natürlich neutral bleiben mußte, sahen sich fast alle noch rückständigen Fabrikanten bis auf verschwindende Ausnahmen gezwungen, dem Drucke nachzugeben und dem Vereine beizutreten.

[Pg 674]

Der Erfolg der geschaffenen Einrichtung war zunächst ein außerordentlich günstiger. Die beiderseitigen Mitglieder der Vergleichskammer befleißigten sich der strengsten Unparteilichkeit und die Beschlüsse wurden überwiegend einstimmig gefaßt. Häufig gaben Uebertretungen des Tarifs Veranlassung, gleichzeitig gegen die beteiligten Fabrikanten und Arbeiter Strafen zu verhängen, die der Ortskrankenkasse zuflossen. Im zweiten Jahre war sogar die Annäherung schon soweit gediehen, daß man beschloß, Streitigkeiten zunächst durch Verhandlungen von Verein zu Verein zu erledigen, so daß die Kammer nur ausnahmsweise zusammentreten mußte. Ebenso wurde ein gemeinsamer Arbeitsnachweis eingerichtet, dessen Leitung dem Vorsitzenden des Feilenhauervereins übertragen wurde. Dagegen erwies sich umgekehrt die im Statute für Aenderungen des Tarifs vorgesehene Verhandlung der beiden Vereine als nicht brauchbar, vielmehr gelang in solchen Fällen der Ausgleich nur mit Hülfe der Vergleichskammer. Von den beiden Beamten wird insbesondere den Vertretern der Arbeiter das günstigste Zeugnis ausgestellt, die, obgleich ausgesprochene Sozialdemokraten, doch nicht allein gegen ihre eigenen Genossen straffe Disziplin übten und, falls sie im Unrecht waren, mit großer Entschiedenheit gegen sie vorgingen, sondern insbesondere auch bei Streitigkeiten mit anerkennenswerter Mäßigung auftraten und erklärten, größeres Gewicht, als auf augenblickliche Lohnerhöhungen, auf ein geregeltes Verhältnis beider Teile zu legen. Ja, während bis dahin gerade die Feilenhauer das unruhigste und zu Streiks geneigteste Element der Arbeiterbevölkerung gebildet hatte, erklärten jetzt Arbeitgeber aus anderen Industrien, daß sie den beruhigenden Einfluß auch in ihren Gewerben verspürten.

Auf seiten der Fabrikanten war die Stimmung geteilt. Die meisten erkannten an, daß durch die neue Einrichtung nicht allein die für die Arbeiter schädliche Lohndrückerei beseitigt, sondern dadurch auch dem Arbeitgeber die Möglichkeit gesicherter Berechnung geschaffen und das Interesse der ganzen Industrie gewahrt sei. Dagegen konnte die Minderheit den gegen sie geübten Zwang und die Beeinträchtigung ihrer Herrscherstellung nicht verwinden und betrachtete die in den Vergleichskammern geschaffene Gleichstellung als ein entwürdigendes Zugeständnis an die Begehrlichkeit und eine Auflehnung gegen die soziale Ordnung.

Zunächst wurde freilich diese Minderheit von der Mehrheit in Schach gehalten, aber auf die Dauer konnte das geschaffene Werk diesen inneren Zwiespalt nicht ertragen. Schon am 16. August 1889 mußten 46 Mitglieder des Fabrikantenvereins wegen Nichtzahlung ihrer Beiträge ausgeschlossen werden, so daß der Bestand auf 75 herunterging. In derselben Versammlung waren allerdings die von dem Feilenhauerverein geforderten Aenderungen des Tarifes[Pg 675] abgelehnt, aber nachdem dieser Verein hierauf den Tarif gekündigt hatte, machte der Fabrikantenverein seinen Beschluß rückgängig und erteilte seine Zustimmung.

Im Mai 1890 erhob der Feilenhauerverein die Forderung einer Lohnerhöhung unter Kündigung des bestehenden Tarifs. Nachdem das Angebot der Fabrikanten von 1/3 der geforderten Erhöhung seitens des Feilenhauervereins abgelehnt, von dem Vorstande aber durch Androhung seines Rücktrittes die Ermäßigung auf 2/3 durchgesetzt war, erklärte der Fabrikantenverein, sich dieser Forderung freilich nicht ungünstig gegenüberzustellen, aber die Erfüllung bis zum Eintritte besserer Geschäftsverhältnisse verschieben zu müssen. Auf Rat der mehrfach genannten Beamten nahmen die Feilenhauer, die bei dieser Gelegenheit jede Ungesetzlichkeit streng vermieden hatten, die inzwischen niedergelegte Arbeit zu den alten Bedingungen wieder auf; aber leider hatte in dem Fabrikantenverein diejenige Richtung die Oberhand gewonnen, die unter dem Einflusse der durch den bisherigen Zusammenschluß erlangten Kräftigung glaubte, das augenblicklich durch die ungünstige Konjunktur verursachte Uebergewicht ausnutzen zu sollen, und so gelang es nicht, die mit der Kündigung hinfällig gewordene gemeinsame Organisation wieder ins Leben zu rufen.

Die beiderseitigen Vereine bestehen noch fort, haben aber in den letzten Jahren eine besondere Thätigkeit nicht entwickelt, was insbesondere darauf zurückzuführen ist, daß infolge der zunehmenden Einführung der Feilenhaumaschine die ganze Industrie sich zur Zeit in einem Uebergangsstadium befindet und immer mehr vom hausindustriellen zum fabrikmäßigen Betriebe übergeht.

8. Die Bergische Bandindustrie[311].

Infolge der schlechten Geschäftsjahre 1890/91 sanken die Arbeitslöhne in der Bandindustrie in dem Maße, daß die Innung der Bandwirkermeister in Elberfeld Anfang Februar 1892 beschloß, mit den Fabrikanten wegen Festsetzung einer Liste von Minimallöhnen in Verbindung zu treten. Nach längeren Verhandlungen gelang dies hinsichtlich der Damenhutbänder, so daß die vereinbarte Lohnliste am 1. Juli 1892 in Kraft trat. Schwieriger erwies sich die Erreichung dieses Zieles hinsichtlich der Herrenhutbänder, für die es erst[Pg 676] nach langen Verhandlungen und scheinbarem Scheitern gelang, eine Liste zur Annahme zu bringen, die mit dem 1. April 1893 zur Einführung gelangte. Die Schwierigkeiten bestanden insbesondere darin, daß auch die zur Annahme geneigten Fabrikanten sich nur unter der Voraussetzung binden wollten, daß alle ihre Kollegen sich beteiligen würden, und daß es anfangs nicht möglich schien, dies zu erwirken. Am 29. November 1895 wurde eine neue Lohnliste vereinbart, die noch jetzt in Kraft besteht, und das anfangs erhobene Bedenken, daß beim Eintritt ungünstiger Konjunkturen die Liste nicht durchführbar sein würde, hat sich nicht allein als unbegründet erwiesen, sondern in der bald nach Einführung der neuen Einrichtung eingetretenen ungewöhnlich schlechten Geschäftslage hat sich dieselbe so bewährt, daß beide Teile sie als einen Segen für die Industrie bezeichneten, indem sie der Herabsetzung der Preise einen Riegel vorschob.

Die Durchführung dieser Maßregel war nur möglich durch Schaffung beiderseitiger Vereine. Schon im April 1892 bildeten sich Bandwirkervereine in 7 Orten, die sich dann zu dem „Verbande Bergischer Bandwirkermeister“ zusammenschlossen. Derselbe bezweckt, die Interessen seiner Mitglieder zu wahren, für ein gutes Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu sorgen, die Lohnsätze in einer beide zufriedenstellenden Weise mit den Arbeitgebern zu vereinbaren und Uebergriffen seitens derselben entgegen zu treten. Religiöse und politische Erörterungen sind ausgeschlossen. Aus der Verbandskasse kann Mitgliedern, welche durch die Vereinbarung und deren Wirksamkeit Schaden erleiden, eine angemessene Unterstützung bewilligt werden. Der Verband besitzt einen aus Vertretern aller Lokalvereine bestehenden Ausschuß, der die Aufgabe hat, die Lohnliste mit den Fabrikanten zu vereinbaren und das gute Verhältnis mit den letztern aufrecht zu erhalten. Die Mitglieder dürfen bei Vermeidung des Ausschlusses aus dem Verbande unter den festgesetzten Minimallöhnen nicht arbeiten. Sollte der Verband beschließen, daß für einen Fabrikanten, der die Liste nicht innehält, nicht mehr gearbeitet werden darf, so sind die dadurch arbeitslos werdenden Mitglieder zu unterstützen.

In gleicher Weise haben die Fabrikanten einen Verein gebildet, und außerdem besteht eine aus Vertretern beider Organisationen bestehende Vergleichskammer, die unter einem kein Gewerbe betreibenden Vorsitzenden tagt und die Aufgabe hat, die zwischen den beiderseitigen Vereinen oder einzelnen Mitgliedern derselben entstehenden Streitigkeiten zu schlichten oder zu entscheiden, für die Interessen beider Teile anregend zu wirken und dahin zu streben, daß das gute Einvernehmen zwischen den Vereinen und ihren Mitgliedern erhalten bleibt. Den Beschlüssen der Vergleichskammer ist bedingungslos Folge zu leisten. In der vereinbarten Lohnliste ist ausdrücklich festgesetzt, daß unter diesen[Pg 677] Sätzen kein Fabrikant arbeiten lassen und kein Meister Arbeit annehmen darf. „Sollte das eine oder das andere dennoch geschehen, so übernehmen die Bandwirkermeister die Verpflichtung, für den die Vereinbarung übertretenden Fabrikanten nicht mehr zu arbeiten, wogegen die Fabrikanten sich verpflichten, einen unter dem vereinbarten Lohne arbeitenden Bandwirkermeister nicht mehr zu beschäftigen.“

Dem Fabrikantenvereine sind alle Fabrikanten, etwa 100 an der Zahl beigetreten, der Verband der Bandwirkermeister zählt 9 Ortsvereine mit 1730 Mitgliedern und etwa 3000 Bandstühlen; ein Teil der Meister, die unter sozialdemokratischem Einflusse stehen, haben sich bis jetzt fern gehalten. Die Erklärungen beider Organisationen Stimmen dahin überein, daß sich die bestehende Einrichtung durchaus bewährt hat; alle Streitigkeiten sind bisher gütlich beigelegt.

Versuche des Fabrikantenvereins, auch eine gemeinsame Festsetzung der Verkaufspreise für die hergestellten Erzeugnisse herbeizuführen, haben bisher keinen Erfolg gehabt.

9. Die Schlittschuhindustrie in Remscheid.

Im Jahre 1890 bildete sich in Remscheid ein Verein der Schlittschuhfabrikanten, der den Zweck hatte, die Verkaufspreise bei allen Mitgliedern gleich zu stellen und der verhängnisvollen Preisdrückerei entgegenzuwirken. Aber schon nach zweijährigem Bestehen zeigte sich die Unmöglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, indem die vielfachen Umgehungen der getroffenen Verabredungen und die Nichtbeteiligung eines Teiles der Fabrikanten für diejenigen Mitglieder, die sich streng an das Abkommen hielten, starke Beeinträchtigung ihrer Kundschaft zur Folge hatte. Der Verein löste sich deshalb auf.

Gleichzeitig mit dem Fabrikantenverein war auch ein Schlittschuharbeiterverein gegründet, der den Zweck verfolgte, einen gleichmäßigen Lohntarif bei allen Fabrikanten herbeizuführen. Nachdem es anfangs, wenngleich nur mit Hilfe von Streikandrohungen gelungen war, die meisten Fabrikanten zu entsprechenden Zusagen zu bewegen, verloren durch die Auflösung des Fabrikantenvereins auch diese Bestrebungen ihren Boden und ist der Schlittschuharbeiterverein in Vergessenheit geraten.

[Pg 678]

10. Die französischen syndicats mixtes[312].

Wie oben[313] ausgeführt, war die alte Organisation der Zünfte, die eine Vereinigung von Meistern und Gesellen darstellte, durch die Revolutionsgesetzgebung zerstört. Allerdings hatten sich einzelne Vereinigungen, wie diejenige der Bäcker in Paris, dem Gesetze zum Trotz erhalten, ebenso hatten sich bereits längere Zeit vor dem Gesetze von 1884 Vereine von Arbeitern einerseits und von Arbeitgebern andererseits (chambres syndicales) gebildet. Bei Erlaß des Syndikatsgesetzes gab es an Vereinen der Arbeitgeber in Paris 185 mit 25000 Mitgliedern, in der Provinz 103, die auf 52 Orte verteilt waren. Arbeitersyndikate bestanden in Paris 237 mit etwa 50000 Mitgliedern, in der Provinz über 600[314].

Schon mehrfach hatte man auch den Versuch gemacht, eine gemeinsame Organisation herzustellen, aber nur in einem einzigen Falle war dies gelungen, indem in Paris die beiden chambres syndicales der Buntpapierfabrikation sich zu einer chambre mixte vereinigt hatten, die nicht allein die Regelung der Löhne, sondern auch das Lehrlingswesen und die des gewerblichen Unterrichts zum Gegenstande ihrer Wirksamkeit machte. Dieses Beispiel fand mehrfach Beachtung, und insbesondere die katholisch-soziale Richtung, die sich in dem Oeuvre des cercles catholiques d'ouvriers eine Organisation geschaffen und sich das Ziel gesteckt hatte, „dem verhängnisvollen Gegensatze zwischen Arbeitgeber und Arbeiter entgegenzuwirken und die im Interesse des sozialen Friedens und des nationalen Gedeihens unabweisliche Verständigung beider Faktoren der Produktion herbeizuführen“, warf sich, nachdem das Gesetz von 1884 die Grundlage dafür geschaffen hatte, mit Eifer auf die Gründung von syndicats mixtes. Allerdings war es erst im Parlament gelungen, dem Gesetzentwurfe, der nur Syndikate der Unternehmer und solche der Arbeiter kannte, die syndicats mixtes ebenso wie die syndicats agricoles einzufügen, aber ein Antrag des Grafen de Mun, ihnen besondere Vorrechte, insbesondere das Recht des Grunderwerbes beizulegen, war aus Furcht vor dem Besitze der „toten Hand“ abgelehnt. Der Zweck des syndicat mixte wird von seinen Verteidigern dahin bezeichnet, „auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Produktion den Zustand der Anarchie und des Gegensatzes zu ersetzen durch die Organisation und den Familiensinn“. Dabei[Pg 679] macht man kein Hehl aus der Auffassung, daß der Arbeitgeber der natürliche Berater und Schützer des Arbeiters sein müsse und hält dem Einwande, daß der Arbeiter sich nicht mehr als unmündiges Kind behandeln lassen wolle, entgegen, daß dem Arbeitgeber freilich nicht die Stellung eines Vaters, aber doch diejenige eines älteren Bruders zukommen müsse. Endlich tritt überall das religiöse Element stark hervor, z. B. schon in der Wahl der Namen für die Organisationen, die sich regelmäßig an irgend einen Heiligen anlehnen.

Das hauptsächlichste Wirkungsgebiet der syndicats mixtes ist die Großindustrie. Die Grundlage der Organisation ist das einzelne Unternehmen. Um die typische Form zu zeigen, mögen hier die Einrichtungen des Val de bois kurz erläutert werden, da sie gewissermaßen das Muster des ganzen Systems darstellen. Das Unternehmen wurde am 2. August 1885 unter dem Namen „Corporation chrétienne“ gegründet und ist von seinem Urheber, Harmel, in einem besonderen Buche beschrieben. Das syndicat mixte setzt sich zusammen aus den Geschäftsinhabern und den höheren Beamten (Direktoren, Ingenieuren) einerseits und den Arbeitern, Arbeiterinnen und anderen Angestellten andrerseits. Das gemeinsame Organ ist der conseil syndical, der sich alle Monate versammelt. Innerhalb desselben bestehen zwei Gruppen, nämlich einerseits die Geschäftsinhaber nebst den von ihnen bestimmten Beamten unter dem Namen des comité, und andrerseits eine gleiche Anzahl durch die Arbeiter erwählte Vertreter, das conseil intérieur. Beide Gruppen versammeln sich wöchentlich; sie sollen durchaus gleichberechtigt und von einander unabhängig sein.

Das conseil syndical hat die gemeinsamen Einrichtungen zu beschließen. Als solche bestehen eine Unterstützungskasse, eine Genossenschaft, die in mehreren Abteilungen für Bäckerei, Kleidungsstücke, Schmuck, Wäsche, Hüte u. s. w. zerfällt, eine Vorschuß- und Darlehnskasse, eine Sparkasse, eine Auskunftstelle, eine Unterkunft für junge Leute, eine Bibliothek und Anstalten für religiöse Interessen und Erbauung, endlich eine Familienkasse, die kinderreichen Familien entsprechende Zuschüsse zum Lohne gewährt. Die Arbeiter haben einen jährlichen Beitrag von 25 Cts. zu zahlen; die Prinzipale leisten freiwillige Zuschüsse. Die erzielten Erfolge sind durchaus befriedigend.

Aber so wichtig die gemeinsame Organisation in dem einzelnen Unternehmen als Grundlage für das syndicat mixte ist, so bildet sie doch nur das eine der beiden Elemente, zu dem das andere, nämlich die Verbindung einer größeren Anzahl solcher Einzelorganisationen hinzukommen muß, und wenn in Val de bois für die dortige Einrichtung der Name syndicat mixte in Anspruch genommen ist, so ist dies nicht völlig berechtigt, denn man versteht hierunter eine einheitliche Organisation für mehrere industrielle Unternehmungen.[Pg 680] Der Hauptsitz der syndicats mixtes ist der Norden Frankreichs, insbesondere Lille, Douai, Roubaix, Tourcoing, Fourmies und Armentières. Alle dort bestehenden Syndikate sind das Werk der am 15. August 1884 von einem Geistlichen Alet gegründeten Association catholique des patrons de la région du Nord de la France. Von etwa 20 Teilnehmern stieg die Zahl bald auf 44; im September 1896 betrug sie 110. Zwei Jahre später wurde die Vereinigung, da sie dem gesetzlichen Verbote zuwider auch Nichtfranzosen aufgenommen hatte, polizeilich aufgelöst, doch ihre Schöpfungen wurden dadurch nicht berührt.

Die Organisation ist eine doppelte, eine innere und eine äußere. Die innere, die sich auf ein einzelnes Unternehmen beschränkt, ist ähnlich der in Val de bois. Die Arbeiter bilden Zehnerschaften, deren jede ihren Vertreter wählt. Diese Vertreter bilden den conseil intérieur, der unter dem Vorsitze des Prinzipals berät. Seine Ergänzung findet er in dem conseil patronal, der aus dem Prinzipal und den höheren Beamten besteht. An der Spitze der äußeren Organisation des syndicat mixte steht der conseil syndical, zu dem jede Fabrik zwei Mitglieder entsendet, nämlich den Prinzipal und einen von den Zehnerschaften der Arbeiter erwählten Vertreter. Den Vorsitz in dem conseil syndical führt ein von seinen Kollegen gewählter Prinzipal.

Das Syndikat hat eine Kasse, zu der die Arbeiter geringe Beiträge leisten, die vielmehr hauptsächlich aus Zuschüssen der Prinzipale gespeist wird. Daneben bestehen einzelne Abteilungen für Unterstützung, gemeinsamen Einkauf, Sparkassen, Arbeiterwohnungen u. s. w., an deren Spitze besondere Vorstände stehen, die unter dem Vorsitze des Prinzipals tagen. Doch giebt es auch einen nur aus Arbeitern bestehenden Wirtschaftsausschuß, der sich selbst einen Vorsitzenden wählt.

Die wichtigsten der nach diesem Systeme gebildeten Syndikate sind folgende:

1. Corporation chrétienne de Saint-Nicolas für Spinnerei, Weberei und Wirkerei. Sie wurde am 11. Mai 1885 gegründet. Ihr Zweck ist nach den Statuten: Aufrechterhaltung des guten Einvernehmens zwischen Prinzipalen und Arbeitern durch Behandlung des beiderseitigen Verhältnisses unter dem Gesichtspunkte der Gerechtigkeit und der Liebe, Entwickelung der geschäftlichen Tüchtigkeit und Wahrung der Ehre der Korporation, endlich Einrichtungen zum sittlichen und materiellen Wohle der Arbeiter. An der Spitze steht ein comité protecteur aus Prinzipalen und Arbeitern, das bei Streitigkeiten vermittelnd und entscheidend eingreifen soll, doch erfolgt die Abstimmung nicht nach der Zahl der Mitglieder, sondern nach den beiden Gruppen. Auch die Arbeiter solcher Werke, deren Inhaber dem Syndikate nicht angehören, können[Pg 681] an ihm teilnehmen; sie wählen dann Vertreter, die aber von dem comité protecteur gebilligt werden müssen. Neben dem comité besteht ein bureau aus sechs Personen, dessen Aufgabe es ist, über Aufnahme von Mitgliedern zu beschließen, Fähigkeitszeugnisse und Diplome auszustellen, die Oberaufsicht über die verschiedenen Einrichtungen auszuüben, Zwistigkeiten zwischen Prinzipalen, Arbeitern und Lehrlingen auszugleichen sowie Einnahmen und Ausgaben festzusetzen.

Die Corporation de Saint-Nicolas bestand am 9. Mai 1895 aus 27 Prinzipalen, 47 Beamten, 301 Arbeitern und 855 Arbeiterinnen, zusammen 1230 Personen. Das Vermögen betrug 37688,66 Frs. Sie besitzt eine eigene Zeitung „Le dimanche“, die wöchentlich erscheint.

2. Syndicat de l'Industrie Roubaissienne. Dasselbe wurde am 1. Februar 1889 begründet und zählte 1895 20 Prinzipale, 86 Beamte und 2954 Arbeiter, zusammen 3060 Mitglieder, die meist der Spinnerei, Weberei, Druckerei und Appretirerei angehören und sich auf 20 Geschäfte verteilen. Das Vermögen betrug 2852,45 Frs. Die Organisation ist fast völlig derjenigen unter 1 nachgebildet, nur ist bei Stimmengleichheit in dem conseil syndical dem Vorsitzenden die Entscheidung eingeräumt.

3. Syndicat de l'Industrie Tourquenoise. Dasselbe wurde gegründet 1888 mit 1064 Mitgliedern, die 1895 auf 1900 gestiegen waren.

4. Société Saint-Louis in Tourcoing, gegründet 1889, besaß am 1. Januar 1897 800 Mitglieder.

5. Société Saint-Joseph in Roubaix, ebenfalls 1889 gegründet, hatte 1896 900 Mitglieder.

6. Société de Saint-Martin in Roubaix mit 840 Mitgliedern.

7. Syndicat professionnel de patrons et ouvriers de l'Industrie Fourmisienne in Fourmies.

Alle diese Syndikate sind nach demselben Muster eingerichtet und haben im wesentlichen die gleichen Wohlfahrtsanstalten.

Im Handwerk scheinen die Vorbedingungen für die gemeinschaftliche Organisation günstiger zu liegen, als in der Großindustrie; stehen sich doch Meister und Gesellen nach ihrer Lebenslage und den geschäftlichen Beziehungen wesentlich näher. Auf der andern Seite ist hier das Mißtrauen der Meister untereinander ein erhebliches Hindernis.

Auch auf diesem Gebiete ist es der Katholizismus, insbesondere die schon erwähnte unter dem Namen Oeuvre des cercles catholiques d'ouvriers bestehende Organisation gewesen, von der die Bildung der syndicats mixtes ausgegangen ist. Naturgemäß mußte die Form der Organisation eine andere sein, als in der Großindustrie, denn die Schaffung eines conseil d'atelier, entsprechend[Pg 682] dem conseil d'usine, ist hier schon deshalb ausgeschlossen, weil der Meister mit den wenigen Gesellen, die er beschäftigt, sich ohne Zwischeninstanz verständigen kann. Ebenso haben Wahlen für den conseil syndical keinen Wert, sondern Meister, Gehülfen und Lehrlinge bilden ohne Vermittelung das Syndikat, dessen Leitung einfach einigen Meistern übertragen ist, ähnlich den alten Zünften, an deren Traditionen überhaupt die syndicats mixtes sich stark anlehnen.

Auch die Art der Thätigkeit ist dementsprechend. Im Vordergrunde steht die technische Ausbildung durch Unterricht und Prämierung, insbesondere die Erziehung und die Fürsorge für die Lehrlinge. Daneben stehen gewerbliche Ausstellungen und Einrichtung gemeinschaftlicher Verkaufshallen, ebenso auch gemeinsame Beschaffung des Rohmaterials. Vielfach hat man Darlehens- und Sparkassen, sowie Unterstützung in Krankheitsfällen. Den Arbeitslosen gewährt man Hülfe zunächst durch Arbeitsnachweis und, soweit dies erfolglos ist, auch durch Geld, ja in Gewerben, in denen die Arbeitslosigkeit Monate dauert, hat man besondere Einrichtungen zur Beschäftigung getroffen. Z. B. haben die Maurer in Blois einen Steinbruch gepachtet, in dem sie im Winter arbeiten. Auf die fertigen, aber noch nicht verkauften Steine werden von einer nach dem System Raiffeisen eingerichteten Kasse Vorschüsse gewährt. Endlich hat man zur gütlichen Beilegung oder Entscheidung von Streitigkeiten Schiedsgerichte, die meist unter dem Vorsitze einer angesehenen, unbeteiligten Person in Thätigkeit treten. Man betreibt auch nicht allein praktische Dinge, sondern hat häufig Einrichtungen zum Studium der sozialen Fragen (cercles d'études sociales) getroffen.

Uebrigens hat sich neben den syndicats mixtes im engeren Sinne, die eine völlige Verschmelzung von Arbeitern und Arbeitgebern bedeuten und von der katholischen Partei unterstützt werden, in neuester Zeit noch eine andere Form entwickelt, die gewöhnlich als »christliche Syndikate»bezeichnet werden, weil sie von der christlichen-demokratischen Partei ausgehen. Sie setzen die Organisation der Arbeiter und der Arbeitgeber in selbständigen Vereinen voraus, schaffen aber zwischen den letzteren ein festes Band durch einen ständigen Ausschuß, dessen Befugnisse nach den Verhältnissen mehr oder weniger weitgehende sind. Man hat deshalb diese Art der gemeinsamen Organisation auch wohl syndicats parallèles genannt. Auch sie sind vorzugsweise im Norden von Frankreich vertreten.

Im allgemeinen handelt es sich bei allen diesen gemischten Syndikaten um kleine Gruppen, doch giebt es auch größere. So umfaßt die corporation Saint-Antoine der Tischler in Paris, Faubourg Saint-Antoine, 3000 Meister mit 7000 Gehülfen. Das Schneidersyndikat in Paris hat 1043 Mitglieder.[Pg 683] Das Webersyndikat in Lyon vereinigt 1460 Meister und 3500–4000 Gesellen.

Das Gesamtergebnis der Bewegung zu Gunsten der syndicats mixtes ist hiernach auf industriellem Gebiete ein recht bescheidenes. Wenn die Zahl derselben für das Kleingewerbe auf etwa 250 angegeben wird[315], so steht das nicht im Einklang mit den offiziellen Ziffern des annuaire, die oben[316] mitgeteilt sind.

Mit eigentlich gewerkschaftlichen Aufgaben im engeren Sinne, also insbesondere Regelung der Löhne und der Arbeitszeit, haben sie sich bisher nur ganz vereinzelt beschäftigt, und ihre Verteidiger, die ihnen nachrühmen, daß sie sehr segensreich in der Richtung einer Abschwächung der Gegensätze gewirkt haben, glauben eine Thätigkeit in dem gedachten Sinne nur erwarten zu können, wenn die Gesetzgebung den Syndikaten einen Zwangskarakter verleihte.

Weit günstiger ist die äußere Entwickelung der syndicats agricoles, die ebenfalls überwiegend aus Arbeitgebern und Arbeitern zusammengesetzt sind. In der That ist in der Landwirtschaft der Gegensatz beider Klassen weniger stark, und bisher ist es im wesentlichen gelungen, deren Interessen zu vereinigen. Die Organisation begann von entgegengesetzten Punkten: an einigen Orten nahm man den Ausgang von kleinen örtlichen Vereinen, anderwärts gründete man sofort Organisationen für ganze Departements oder Provinzen. Schließlich aber gelang es, eine strenge Gliederung nach Gemeinden, größeren Bezirken und ganzen Departements durchzuführen, und endlich hat man in der unter dem Einflusse der französischen Landwirtschaftsgesellschaft ins Leben gerufenen Union centrale des syndicats agricoles einen Zentralverband für ganz Frankreich geschaffen. Seit 1894 wird auch jährlich ein allgemeiner Kongreß abgehalten. Die Gesamtzahl der syndicats agricoles wird in dem annuaire für 1897 auf 1371 mit 438596 Mitgliedern angegeben[317], doch sind dabei häufig die bei der Gründung angemeldeten Zahlen zu Grunde gelegt, und es wird deshalb der wahre Bestand auf 800000 Mitglieder geschätzt. Diese setzen sich aus allen Kreisen der landwirtschaftlichen Bevölkerung zusammen, insbesondere gehören dazu sowohl Großgrundbesitzer und Großbauern, wie kleine Besitzer, Gärtner, Weinbauer, Pächter, Angestellte und Arbeiter. In einigen Syndikaten bestehen auch besondere Gruppen, während die meisten hiervon absehen.

Die Aufgaben, welche sich die Syndikate neben dem allgemeinen Zwecke der Vertretung der landwirtschaftlichen Interessen im einzelnen gestellt haben,[Pg 684] sind in den Statuten meist wörtlich gleichlautend bezeichnet und zwar in folgender Weise:

1. Durchführung gesetzlicher Reformen sowie aller sonstigen Mittel, insbesondere zur Ermäßigung der Lasten des Grundbesitzes, der Eisenbahntarife, der Zölle und Steuern, Standgelder u. s. w.

2. Schaffung von Kassen für Kulturen, Dünger, Maschinen und Geräte, sowie anderer Mittel zur Erleichterung der Arbeit, Ermäßigung der Bestellungskosten und Erhöhung der Produktion.

3. Verbreitung landwirtschaftlicher und gewerblicher Kenntnisse durch Unterrichtskurse, Versammlungen, Broschüren und Bibliotheken.

4. Begünstigung wirtschaftlicher Einrichtungen wie landwirtschaftlicher Kreditgenossenschaften, Verkaufsgenossenschaften, Unterstützungskassen, Versicherung gegen Schäden, Auskunfterteilung durch Angebot und Nachfrage hinsichtlich der Produkte, des Düngers, des Viehes, des Saatgutes, der Maschinen und der Arbeit.

5. Vermittelung der genannten Geschäfte zum Vorteile der Mitglieder.

6. Ueberwachung der Lieferungen, die von oder an Mitglieder erfolgen, um Betrügereien vorzubeugen.

7. Auskunfterteilung über alles, was die Landwirtschaft betrifft, sowie Abgabe von Gutachten und Schiedssprüchen in Streitfällen.

Daneben beschäftigen sich einige Syndikate auch mit Beleihung von Waren.

Die Aufzählung dieser Aufgaben ergiebt, daß die Syndikate bis jetzt überwiegend die Interessen der landwirtschaftlichen Besitzer gefördert haben. Allerdings haben einige derselben auch Kranken- und Unterstützungskassen eingerichtet, aber im allgemeinen ist die soziale Thätigkeit stark zurückgetreten. Die Folge ist gewesen, daß sich schon mehrfach besondere landwirtschaftliche Arbeitersyndikate gebildet haben, deren am 1. Juli 1894 65 bei der Zentralstelle angemeldet waren. Von den Führern der Bewegung ist auch schon nachdrücklich auf die Gefahr hingewiesen, die hieraus den syndicats agricoles drohe, indem die Interessen der Arbeiter und der Besitzer auseinanderfielen und der Schwerpunkt in die Vertretung des Großgrundbesitzes verlegt werde. Auf den Kongressen der letzten Jahre ist deshalb die Mehrheit darüber einig gewesen, daß es eine falsche Richtung sei, wenn die Thätigkeit der Syndikate anstatt einer sozialen vielmehr eine vorwiegend geschäftliche werde, und man hat als Hauptmittel, um dem entgegenzuwirken, die möglichste Begrenzung auf dieselbe Gemeinde bezeichnet. Immerhin bleibt es zweifelhaft, ob sich diese Entwickelung wird aufhalten lassen. —

[Pg 685]

Außer den syndicats mixtes und agricoles giebt es übrigens in Frankreich auch noch andere gemeinsame Organisationen von Arbeitern und Unternehmern. Es haben nämlich in einigen Fällen die beiderseitigen Syndikate gemeinsame Ausschüsse eingesetzt, denen die Regelung gewisser gemeinsamer Angelegenheiten übertragen ist.

Schon vor dem Gesetze vom 24. März 1884 bestand eine sog. chambre mixte unter den Arbeitern und Arbeitgebern der Buntpapierindustrie in Paris. Diese von beiden Organisationen gewählte Behörde hatte neben der Regelung des Lohntarifs auch die Fragen des Lehrlingswesens und der Fachschulen zu behandeln. Sie hat die Herabsetzung der Arbeitszeit auf 10 Stunden und gewisse gesundheitliche Maßregeln, wie die Ausschließung des Schweinfurter Grüns, durchgeführt.

In der Webereiindustrie von Cholet besteht schon längere Zeit ein Ausschuß zur schiedsgerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten, dessen Befugnisse aber seit dem 29. Oktober 1892 erheblich erweitert sind. Er besteht aus 6 Unternehmern und 6 Arbeitern, die aber auf eigenartige Weise gewählt werden. Es werden nämlich von den Unternehmern 20 und von jeder der beiden bestehenden Webergewerkschaften 10 Wahlmänner bestimmt, die als einheitlicher Wahlkörper die 12 Ausschußmitglieder wählen, und zwar muß jeder Gewählte mindestens ¾ der Stimmen erhalten. So fühlt sich jedes Ausschußmitglied als Vertrauensmann beider Teile und hat demgemäß auch größere Autorität. Im Jahre 1894 haben auch die Arbeiter- und Unternehmer-Syndikatsverbände der Friseure in Paris eine gemischte Kammer mit schiedsgerichtlichen Befugnissen gebildet.

Am weitesten ist, wie in Deutschland so auch in Frankreich, die gemeinsame Organisation unter den Buchdruckern vorgeschritten. Bei der Feier der 300 jährigen Einführung der Buchdruckerkunst in Marseille 1895 beschlossen die beiden gleichzeitig dort tagenden Kongresse der Prinzipale und der Gehülfen, die Einsetzung eines aus je 9 Vertretern beider Gruppen bestehenden Ausschusses für ganz Frankreich, der jährlich einmal zusammentritt. Daneben bestehen noch gemeinsame örtliche Kommissionen.

Am 26. November 1893 wurde von dem Kongreß der Bergarbeiter im Departement Nord und Pas de Calais beschlossen, dem Verbande der Bergwerksbesitzer den Vorschlag eines gemeinsamen Schiedsgerichts und Einigungsamtes zu machen. Diese haben aber den Vorschlag abgelehnt.

[Pg 686]

11. Die englische trade alliance[318].

Eine in hohem Grade interessante Erscheinung ist die in der Ueberschrift bezeichnete in England versuchte Zusammenfassung von Unternehmern und Arbeitern, deren Plan von dem Fabrikanten Edward J. Smith in Birmingham ausgeht, und die bisher insbesondere in der Umgegend dieser Stadt Boden gefaßt hat. Die Grundgedanken, von denen er ausgeht sind folgende[319]:

1. Alle übertriebene Konkurrenz im Gewerbe ist für Unternehmer und Arbeiter in gleichem Maße verderblich.

2. Das mit ihr verbundene Unterbieten im Preise ist meist ganz unnötig, da der einheimische Konsument es nicht verlangt und die auswärtige Konkurrenz es nicht erfordert.

3. Selbst wenn die letztere bedrohlich wird, kann sie viel leichter und wirksamer durch ein gemeinsames Zusammenwirken von Unternehmern und Arbeitern bekämpft werden, als durch einseitiges Vorgehen, dem die Beschränktheit der Mittel und die Schwierigkeit der Konkurrenz entgegensteht.

4. Diese ungesunde Konkurrenz kann nur die vereinigte Thätigkeit der Fabrikanten bekämpfen.

5. Aber dieses Vorgehen der Fabrikanten ist erfolglos ohne Kontrolle über diejenigen, die ungeachtet aller von ihnen abgegebenen Versprechungen nur dann ehrenhaft gegenüber ihren Konkurrenten handeln, wenn sie dazu gezwungen sind.

6. Wie die Arbeiter früher unter dem profitlosen Geschäft gelitten haben, so sind sie fortan berechtigt, einen billigen Anteil von dem erfolgreichen Geschäfte zu fordern.

7. Angemessene Preise und Löhne können durch Zusammenwirken von Unternehmern und Arbeitern nur dann erzielt werden, wenn beide Teile das gewerkschaftliche Prinzip anerkennen und sich gegenseitig zu dessen erfolgreicher Durchführung Beistand leisten, in der Weise, daß schließlich die Unternehmer nur gewerkschaftlich organisierte Arbeiter beschäftigen und die Arbeiter nur bei gewerkschaftlich organisierten Unternehmern arbeiten.

8. Die Gewerkschaften können auf beiden Seiten nur dann nützlich[Pg 687] wirken, wenn sie von vernünftigen Auffassungen ausgehen, sonst sind sie oft gefährlich und verderblich. Nutzen kann das Gewerkschaftswesen nur haben, wo gegenseitiges Vertrauen herrscht und Unternehmer und Arbeiter gemeinsam handeln.

E. J. Smith lehnte sich an die in manchen Gewerben vorhandenen Lohneinigungsämter (Wages boards), die aber bis dahin eine sehr lose Organisation hatten. Im Jahre 1890 begründete er in seinem eigenen Gewerbe, der Fabrikation metallener Bettstellen, eine trade alliance[320] und fand bald Nachfolge in verschiedenen verwandten Gewerben, wie der Fabrikation von Sprungfedern, Messingdraht, gewalzten Röhren, Kaminvorlagen, porzellanenem Hausgerät, Thonwaren, Backsteinen, Jutewaren, galvanisierten Hohlwaren u. s. w. Anfangs pflegte man sehr detaillierte Statuten auszuarbeiten, nachdem man sich aber überzeugt hatte, daß der Schwerpunkt in dem organisierten beiderseitigen Interesse liegt, hat man sich auf wesentlich einfachere Bestimmungen beschränkt. Als Typus dieser neueren Statuten kann derjenige eines 1897 abgeschlossenen Verbandes der Fahrradröhrenfabrikanten gelten, aus dem folgende Vorschriften hervorzuheben sind.

1. Die Prinzipien der alliance sind, für gerechte und billige Verkaufspreise und für die Regelung der Löhne auf Grund solcher Verkaufspreise durch Prämien oder einen Wandeltarif zu sorgen.

2. Die Arbeiter versprechen, nur für solche Fabrikanten zu arbeiten, die entweder Mitglieder des Unternehmervereins sind oder auf Grund eines besonderen Abkommens mit ihnen zusammengehen.

3. Die Unternehmer verpflichten sich, nur Gewerkschaftsmitglieder anzustellen und von allen Arbeitern über 18 Jahre den Beitritt zur Gewerkschaft zu fordern.

4. Die Unternehmer verpflichten sich, den Mitgliedern der Gewerkschaft vom 1. Nov. 1897 auf die derzeitigen Stücklöhne eine Prämie von 10% zu zahlen.

5. Diese Prämie soll keinem Arbeiter gezahlt werden, der nicht seine Mitgliedskarte vorzeigt oder vier Wochen mit seinem Beitrage an die Gewerkschaft im Rückstande ist.

6. Diese Prämie soll als Mindestprämie gelten, die sich nach einem gegebenen Tarif erhöht, sobald die Unternehmer einen gewissen höheren Verdienst haben.

Die alliance hat also nicht allein nicht den Zweck, die Gewerkvereine zu bekämpfen, sondern sie setzt sie umgekehrt auf beiden Seiten voraus, sie betont vielmehr als Ziel die Erhöhung der Verkaufspreise und will dieselben durch Zusammenwirken der organisierten Unternehmer und Arbeiter erreichen. Die[Pg 688] bisherigen Erfahrungen sind außerordentlich günstig; insbesondere die Unternehmer, die anfangs von Zuziehung der Arbeiter nichts wissen wollten, haben, nachdem mehrfach reine Unternehmervereine gescheitert waren, den Vorteil des neuen Systems eingesehen. Die Grundlage bilden überall die bisherigen Löhne, aber es ist vorgesorgt, daß mit steigenden Preisen auch die Löhne steigen und diese Preise werden berechnet nach den Herstellungskosten unter Zuschlag eines angemessenen Verdienstes. Ueber alle diese Fragen entscheidet ein Lohnkomitee, das aus Vertretern der beiderseitigen Organisationen gebildet ist. Gegen dessen Entscheidung kann der Spruch eines Schiedsgerichts angerufen werden, doch ist dieses Mittel bisher noch nicht angewandt, obgleich schon mehrere hunderte von Fällen entschieden sind. Bis zur endgültigen Entscheidung darf kein Teil das Arbeitsverhältnis aufheben; dafür hat die Entscheidung rückwirkende Kraft. Daneben haben beide Teile ihre gesonderte Organisation; die Sekretäre derselben sind von selbst zugleich Sekretäre der alliance. Uebrigens soll kein Streitfall vor den Verband gebracht werden, dessen Beilegung nicht vorher in den betreffenden Geschäften versucht ist. Entlassung wegen Trunkenheit, Unredlichkeit oder rohen Auftretens werden nicht als Beschwerdegründe anerkannt.

Es ist interessant die Gründe zu lesen, mit denen Smith die Einräumung so weitgehender Rechte an die Arbeitergewerkschaften vom Standpunkte des Unternehmers verteidigt. „Rein geschäftlich betrachtet“ sagt er, „können die Arbeiter einen Dienst leisten, nämlich sie können den Zerfall des Unternehmerverbandes verhindern, d. h. sie können für die Unternehmer etwas thun, was diese niemals selbst für sich thun können. Die Geschichte lehrt dies deutlich. Es giebt kein sonstiges Mittel, die Unternehmer dauernd und wirksam zusammenzuhalten; jede Abmachung ist nutzlos. Das einzige Mittel ist die Hülfe der Arbeiter. Sie können jedem Verbande absolute Herrschaft verschaffen und jeden Unternehmer zwingen, ihm beizutreten, wie sie ihn verhindern, wieder auszutreten. Dieser Dienst ist das gebrachte Opfer wert.“

Aber wie Smith unter den Unternehmern schon hunderte von Anhängern gefunden hat so äußern sich auch die Vertreter der Arbeitergewerkschaften, die sich auf die Sache eingelassen haben, durchweg anerkennend. So ist z. B. die Gewerkschaft der Messingarbeiter (National Amalgamated Society of Brassworkers) seit ihrem Anschlusse von 4800 (1895) und 6000 (1896) auf 11000 (1897) Mitglieder gestiegen.

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß die Verhältnisse in England infolge des Freihandelssystems abweichend von denen der meisten andern Länder liegen. Die bisherigen Versuche der Kartellbildung haben sich meist als erfolglos erwiesen, und der Grund hierfür wird darin zu suchen sein, daß die Vorbedingung eines geschlossenen Marktes, wie ihn der Schutzzoll gewährt, fehlt,[Pg 689] es also insbesondere auch nicht möglich ist, die durch höhere Inlandpreise erzielten Vorteile zur Stellung niedriger Auslandpreise zu benutzen. Aber auch unter der Herrschaft des Schutzzolles bleibt doch der Grundgedanke der gemeinsamen Organisation berechtigt, daß die Vorbedingung eines Erfolges der Kartellbildung, nämlich der Zwang zum Anschlusse für alle Betriebe, auf keinem Wege so wirksam geboten werden kann, wie durch Mithilfe der Arbeiter, indem diese sich weigern, in nichtkartellierten Betrieben zu arbeiten. Wenn diese Hülfe durch Gewährung entsprechender Gegenleistungen bezahlt wird, so bleiben beide Teile durchaus im Rahmen geschäftlicher Erwägungen und ihres berechtigten Sonderinteresses, auf dem allein eine Einrichtung des praktischen Lebens beruhen kann.

B. Gesetzliche Organisationen.

Die Ansicht, daß es im Interesse der gegenseitigen Annäherung und des sozialen Friedens zwischen Arbeitern und Arbeitgebern liege, sie in gemeinsamen Organisationen zu vereinigen, ist schon seit langer Zeit in weiten Kreisen vertreten. Es ist deshalb begreiflich, daß man ihr auch bereits seitens der Gesetzgebung Rechnung getragen hat, und zwar nicht nur insofern, als man solchen Vereinigungen, soweit sie sich freiwillig bildeten, die gesetzliche Unterlage bot, sondern auch in der Weise, daß man sie auf dem Wege des staatlichen Zwanges ins Leben rief. Insbesondere ist dies geschehen in Deutschland und in Oesterreich.

Die zur Zeit bestehenden Zwangsorganisationen dieser Art lassen sich im wesentlichen auf zwei Gruppen zurückführen, nämlich einerseits diejenigen, die mit der gesetzlichen Arbeiterversicherung zusammenhängen, und andrerseits diejenigen, welche auf der Gewerbeordnung beruhen.

Die staatliche Sozialversicherung hat von Anfang an den richtigen Gedanken zu Grunde gelegt, daß eine Einrichtung, die das Interesse der Arbeiterklasse verfolge, auch deren Mitarbeit erfordere, und so hat man denn in den deutschen Versicherungsgesetzen überall den Arbeitern das Recht einer Mitwirkung eingeräumt, das sich natürlich verschieden gestalten mußte nach dem Verhältnisse, in welchem die einzelnen Arten der Versicherung deren Lasten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern verteilen.

Bei der Krankenversicherung werden die Beiträge zu 2/3 von den Arbeitern und zu 1/3 von den Arbeitgebern getragen. Es ist deshalb sachgemäß, daß auch im Vorstande und in der Generalversammlung der Krankenkassen beide Teile nach diesem Verhältnisse vertreten sind. Das Gesetz schreibt dies vor.

[Pg 690]

Die Unfallversicherung geschieht ausschließlich auf Kosten der Unternehmer, und demgemäß bilden sie allein die Berufsgenossenschaften. Aber es giebt doch für die Heranziehung der Arbeiter zu der Verwaltung außer ihrer Beteiligung an der Aufbringung der Mittel noch andere Gesichtspunkte, und so hat man ihnen auch innerhalb der Unfallversicherung eine Mitwirkung eingeräumt. Die Notwendigkeit hierfür tritt am schärfsten hervor bei den Schiedsgerichten, denn will man diese nicht aus unbeteiligten Personen zusammensetzen, sondern die Arbeitgeber zu ihrer Bildung herbeiziehen, so muß man offenbar auch die Arbeiter, und zwar im gleichen Verhältnisse, beteiligen; das folgt aus dem Begriffe des Gerichtes als einer beiden Teilen gleiche Rechte gewährenden Einrichtung. Aber auch bei der Unfallverhütung glaubte man die Mitwirkung der Arbeiter nicht entbehren zu können, wenn auch nicht aus einem prinzipiellen, sondern aus dem praktischen Grunde, daß die Arbeiter über die Mittel, wie am besten den Betriebsgefahren vorzubeugen ist, naturgemäß ein sachverständiges Urteil besitzen, und weil außerdem die von den eigenen Vertretern angeordneten Sicherungsmaßregeln mehr Aussicht haben, auch thatsächlich Befolgung zu finden. Diesen Erwägungen entspricht die Vorschrift des Gesetzes, daß zum Zwecke der Wahl von Beisitzern zum Schiedsgerichte und von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes, sowie zur Begutachtung der zur Verhütung von Unfällen zu erlassenden Vorschriften für jede Berufsgenossenschaft bezw. Sektion ebensoviele Vertreter der Arbeiter gewählt werden, wie dem Vorstande Arbeitgeber angehören. Die Arbeitervertreter sind bei den betreffenden Verhandlungen des Vorstandes zuzuziehen und haben bei denselben gleiches Stimmrecht. Die Verhandlung ist deshalb eine völlig gemeinsame. Da die Ergebnisse nicht maßgebende Beschlüsse, sondern nur Gutachten sind, so ist die Gefahr, daß sich bei Abstimmungen Stimmengleichheit ergiebt, ohne Bedeutung. Bei den Schiedsgerichten und im Reichsversicherungsamte ist die Entscheidung durch den Vorsitzenden bezw. die übrigen Mitglieder gegeben.

Bei der Invaliditäts- und Altersversicherung wird die Last von Arbeitern, Arbeitgebern und dem Reiche gemeinsam getragen, dem entsprechend sind auch alle drei Faktoren an der Verwaltung beteiligt. Die Mitglieder des Vorstandes sind zunächst staatliche bezw. kommunale Beamte, aber sowohl der Ausschuß wie der Aufsichtsrat wird aus Vertretern der Arbeiter und Arbeitgeber in gleicher Zahl gebildet; die Einrichtung des Aufsichtsrates ist freilich an sich freiwillig, sie muß aber geschehen, sobald dem Vorstande Arbeitgeber und Versicherte nicht angehören. Die Verhandlung in allen diesen Behörden ist eine gemeinsame. Endlich werden Vertrauensmänner aus beiden Kreisen als örtliche Organe bestellt. Auch hier giebt es Schiedsgerichte, deren Beisitzer[Pg 691] von den Vorständen der Krankenkassen, und zwar von den beiden in ihnen vertretenen Gruppen im getrennten Verfahren gewählt werden.

Die zunächst für die gedachten Versicherungen geschaffene Einrichtung der Schiedsgerichte ist dann durch das Gesetz über die Gewerbegerichte weiter entwickelt. Auch hier wirken Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeiter, die in geheimer und unmittelbarer Wahl von allen Beteiligten in getrenntem Verfahren gewählt werden, unter einem staatlichen Vorsitzenden zusammen. Das Gewerbegericht kann zugleich als Einigungsamt thätig werden und hat dann die Befugnis, auch einen Schiedsspruch abzugeben, doch kann der Vorsitzende, falls bei der Abstimmung beide Gruppen sich geschlossen gegenüberstehen, sich seiner Stimme enthalten und feststellen, daß ein Schiedsspruch nicht zustande gekommen ist.

Die Kranken- und Unfallversicherung ist auch in Oesterreich eingeführt und durchaus nach dem deutschen Muster gestaltet, nur giebt es keine Berufsgenossenschaften, vielmehr sind deren Aufgaben territorial gegliederten Anstalten übertragen. Ebenso entspricht das am 1. Juli 1898 in Kraft getretene österreichische Gesetz über die Gewerbeschiedsgerichte dem deutschen Vorbilde. Eine Invaliditäts- und Altersversicherung besteht noch nicht.

Auch bei der Ordnung der gewerblichen Verhältnisse ist ein Zusammenwirken von Arbeitern und Arbeitgebern vorgesehen. Die deutsche Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 war den aus früherer Zeit überlieferten Organisationen nicht günstig gesinnt. Man ließ sie freilich bestehen, indem man nur einigen Mißbräuchen entgegentrat, aber man suchte ihren Einfluß möglichst einzuschränken. Auch die neuen Innungen, deren Bildung im Gesetze vorgesehen ist, sind sehr knapp in acht Paragraphen behandelt; als ihr Zweck ist lediglich bezeichnet „die Förderung der gemeinsamen gewerblichen Interessen“. Eine gemeinsame Thätigkeit von Arbeitern und Arbeitgebern ist allerdings insofern ins Auge gefaßt, als die zur Entscheidung von Streitigkeiten der selbstständigen Gewerbetreibenden mit ihren Gesellen, Gehülfen oder Lehrlingen zu bildenden Schiedsgerichte, deren Errichtung den Ortsstatuten überlassen ist, unter gleichmäßiger Zuziehung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschehen soll, doch war die Errichtung solcher Schiedsgerichte der Regelung durch Ortsstatut überlassen und ist deshalb nur ganz vereinzelt erfolgt.

Die späteren Aenderungen der Gewerbeordnung hatten neben der Verbesserung des Arbeiterschutzes hauptsächlich die Förderung des Innungswesens zum Gegenstande, und in diesem Rahmen hat man auch den Arbeitern eine gewisse Berücksichtigung zu teil werden lassen. Die Aufgaben der Innungen sind oben[321] aufgezählt. Von denselben interessiert uns hier insbesondere[Pg 692] „die Förderung des gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern und Gesellen, sowie die Fürsorge für das Herbergswesen und den Arbeitsnachweis“ und die Befugnis zur Einrichtung von Kassen zur Unterstützung der Mitglieder, ihrer Angehörigen, Gesellen, Lehrlinge und Arbeiter in Fällen der Krankheit, des Todes, der Arbeitsunfähigkeit und sonstiger Bedürftigkeit, sowie zur Begründung von Schiedsgerichten. Hinsichtlich der Innungskrankenkassen ist den Statuten die Befugnis eingeräumt, entweder die Einrichtung des Krankenversicherungsgesetzes beizubehalten oder die Verwaltung ausschließlich den Arbeitnehmern zu überlassen oder endlich unter der Voraussetzung, daß die Innungsmitglieder die Hälfte der Beiträge aus eigenen Mitteln bestreiten, die Bestellung des Vorsitzenden und die Wahl der Hälfte der Vorstandsmitglieder und der Generalversammlung der Innung zu übertragen.

Mitglieder der Innung sind nur die Meister, dagegen ist den Gesellen eine Teilnahme an den Aufgaben und der Verwaltung der Innung durch den Gesellenausschuß eingeräumt. Allerdings sind dessen Befugnisse recht gering. Er ist zu beteiligen „bei der Regelung des Lehrlingswesens und bei der Gesellenprüfung, sowie bei der Begründung und Verwaltung aller Einrichtungen, für welche die Gesellen Beiträge entrichten oder eine besondere Mühwaltung übernehmen, oder welche zu ihrer Unterstützung bestimmt sind.“ „Die nähere Regelung dieser Beteiligung hat durch das Statut mit der Maßgabe zu erfolgen, daß 1. bei der Beratung und Beschlußfassung des Innungvorstandes mindestens ein Mitglied des Gesellenausschusses mit vollem Stimmrechte zuzulassen ist, 2. bei der Beratung und Beschlußfassung der Innungsversammlung seine sämtlichen Mitglieder mit vollem Stimmrechte zuzulassen sind, 3. bei der Verwaltung von Einrichtungen, für welche die Gesellen Aufwendungen zu machen haben, abgesehen von der Person des Vorsitzenden, Gesellen, welche vom Gesellenausschusse gewählt werden, in gleicher Zahl zu beteiligen sind, wie die Innungsmitglieder.“ Die Ausführung von Beschlüssen der Innungsversammlung in Angelegenheiten, für welche die Beteiligung des Gesellenausschusses vorgeschrieben ist, darf nur mit dessen Zustimmung erfolgen; doch kann diese durch die Aufsichtsbehörde ergänzt werden.

Hiernach hat also nicht etwa der Gesellenausschuß nur ein Recht der Genehmigung, über dessen Ausübung er für sich allein beriete, sondern in den Verhandlungen des Innungsvorstandes und der Innungsversammlung, in denen diese Angelegenheiten zur Erörterung gelangen, müssen Gesellen zugezogen werden; die Verhandlung ist deshalb eine gemeinsame. Dasselbe gilt von der Verwaltung der bezüglichen Einrichtungen, die von den Meistern und den Gesellen gemeinsam geleitet wird.

[Pg 693]

Auch für die Handwerkskammern sind Gesellenausschüsse vorgeschrieben, die mitzuwirken haben 1. bei Regelung des Lehrlingswesens, 2. bei Gutachten und Berichten über Angelegenheiten, welche die Verhältnisse der Gesellen und Lehrlinge berühren, 3. bei der Entscheidung über Beanstandung von Beschlüssen der Prüfungsausschüsse. In dem Falle unter 2 ist der Gesellenausschuß berechtigt, ein besonderes Gutachten oder einen besonderen Bericht zu erstatten, in den übrigen Fällen ist die Thätigkeit eine gemeinsame.

Für die Innungsausschüsse und die Innungsverbände ist eine Beteiligung der Gesellen nicht vorgesehen[322]; ebensowenig ist den verschiedenen Gesellenausschüssen gestattet, miteinander in Verbindung zu treten, dies würde vielmehr gegen die Vereinsgesetze der meisten Länder verstoßen.

Ueber die österreichischen Zwangsgenossenschaften ist oben[323] bereits das Wichtigste mitgeteilt[324]. Die Hülfspersonen sind nicht Mitglieder, sondern nur Angehörige der Genossenschaft. Doch ist ihnen hinsichtlich der ihre Interessen berührenden Aufgaben eine Teilnahme an der Verwaltung eingeräumt. Nicht allein haben sie zu der Genossenschaftsversammlung Delegierte mit beratender Stimme zu entsenden, sondern statutarisch kann ihnen auch in dem Genossenschaftsausschusse eine Vertretung eingeräumt werden. Hinsichtlich der bei jeder Genossenschaft zu bildenden Krankenkasse haben sie das Recht, in den Vorstand, den Ueberwachungsausschuß und die Generalversammlung Vertreter zu wählen, die sogar ein den Beiträgen der Gesellen entsprechendes Uebergewicht (⅔ : ⅓) haben. Endlich besteht ein schiedsgerichtlicher Ausschuß, der von beiden Teilen im gleichen Verhältnisse besetzt wird.

Aber man ist in Oesterreich weiter gegangen, als in Deutschland, indem man den Gesellen in der „Gehülfenversammlung“, d. h. der Versammlung sämtlicher Gehülfen der in einer Genossenschaft vereinigten Gewerbetreibenden mit einem der Bestätigung durch die Behörde bedürfenden Obmann ein eigenes Organ gegeben hat. Die Aufgaben der Gehülfenversammlung sind: 1. die Wahrnehmung und Erörterung der Interessen der zu der Genossenschaft gehörigen Gehülfen, soweit diese Interessen den Zwecken der Genossenschaft nicht widerstreiten; 2. die Wahl der Mitglieder des schiedsgerichtlichen Ausschusses, des Vorstandes, des Ueberwachungsausschusses und der Delegierten der Generalversammlung der Krankenkasse aus dem Stande der Gewerbegehülfen; 3. die[Pg 694] Wahl der Vertreter aus dem Stande der Gewerbegehülfen zur Genossenschaftsversammlung, sowie des Obmannes und der Mitglieder des Gehülfenausschusses. Dagegen darf die Gehülfenversammlung weder obligatorische Beiträge erheben, noch freiwillige Gaben annehmen, auch darf sie nur auf Aufforderung des Genossenschaftsvorstandes zusammentreten.

Die bisherige Entwickelung der Verhältnisse hat bewiesen, daß die Gesellen besser als die Meister verstanden haben, sich die neue Einrichtung nutzbar zu machen. Während unter den Meistern sich ein gewisser Gegensatz zwischen Großen und Kleinen geltend macht, wobei die letzteren infolge ihrer Mehrheit die Leitung an sich gerissen haben, sind die Arbeiter umgekehrt bemüht gewesen, ihre tüchtigsten Kräfte an die maßgebenden Stellen zu bringen, haben sie auch dadurch von den Meistern unabhängig gemacht, daß sie ihnen die besoldeten Stellen in den Krankenkassen übertragen haben, und so hat sich der Gehülfenausschuß zu einem wertvollen Organe für die Vertretung der allgemeinen Berufsinteressen der Arbeiter entwickelt.

Die Einrichtung der obligatorischen Berufsorganisation wird von österreichischen Sozialpolitikern durchaus günstig beurteilt[325]. Es ist deshalb begreiflich, daß der Versuch unternommen ist, sie auch für die Großindustrie durchzuführen. Schon am 5. Oktober 1886 hatte die deutsche Linke im Abgeordnetenhause einen Antrag über Errichtung und Organisation von Arbeiterkammern eingebracht, und durch Antrag vom 19. April 1890 hatte sie den Gedanken in der Form eines Gesetzentwurfes über Einrichtung von Einigungsämtern, in welchen die Schaffung von Arbeiterausschüssen vorgesehen war, wieder aufgenommen, aber beides ohne Erfolg. Während hier ausschließlich die Organisation der Arbeiter beabsichtigt war, indem man sie den bereits bestehenden Kartellen der Unternehmer, deren Reform man ins Auge faßte, gegenüberstellen wollte, schlug der Entwurf, betr. Einführung von Einrichtungen zur Förderung des Einvernehmens zwischen den Gewerbsunternehmern und ihren Arbeitern, den die Regierung am 17. Juni 1891 dem Abgeordnetenhause vorlegte, den Weg einer beiderseitigen Organisation ein.

Der Schwerpunkt lag allerdings auch hier in den Arbeiterausschüssen, die in allen fabrikmäßigen Gewerbeunternehmungen gebildet werden sollten, und zwar durch Wahl seitens aller Arbeiter, die mindestens 21 Jahre alt und seit einem Jahre in dem betreffenden Unternehmen beschäftigt sind.

Ueber den Wirkungskreis war folgendes bestimmt:

„Die Aufgabe der Arbeiterausschüsse besteht zunächst darin, dem Gewerbsunternehmer oder dessen von ihm bestimmten Organen die Wünsche und[Pg 695] Beschwerden der Arbeiterschaft oder eines Teiles derselben in Beziehung auf den Lohnvertrag oder die sonstigen Arbeitsbedingungen vorzutragen, sowie die Beilegung von in dieser Hinsicht vorhandenen Meinungsverschiedenheiten anzubahnen. Ueberhaupt haben die Arbeiterausschüsse zur Erhaltung des guten Einvernehmens zwischen den Gewerbsunternehmern und deren Organen einerseits und den Arbeitern andererseits durch angemessene Einwirkung beizutragen.“

Mit Zustimmung des Unternehmers können den Ausschüssen auch noch andere Aufgaben übertragen werden, insbesondere die Mitwirkung bei der Verwaltung der bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen und bei Ueberwachung der Befolgung der Arbeitsordnung und der für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter erlassenen Vorschriften. Es kann ferner bestimmt werden, daß der Arbeiterausschuß vor Verhängung von Konventionalstrafen um sein Gutachten zu befragen ist.

Aber der Entwurf beschränkte sich nicht hierauf, sondern gab der Regierung das Recht, in einzelnen Städten und Industriebezirken, in welchen eine größere Anzahl gleicher oder verwandter Gewerbe fabrikmäßig betrieben wird, die Zusammenfassung derselben in genossenschaftliche Organisationen (Berufsgenossenschaften) anzuordnen. Diese sollte erfolgen durch Errichtung von je zwei Genossenschaften, nämlich einerseits der sämtlichen in der Organisation einbezogenen Unternehmer und andererseits der sämtlichen Hülfsarbeiter dieser Unternehmer.

Ueber den Zweck dieser Organisation bestimmte § 14 des Entwurfes: „Die Errichtung jeder der beiden Genossenschaften hat den Zweck, den Mitgliedern derselben Gelegenheit zu bieten, im Rahmen der bestehenden Gesetze ihre wirtschaftlichen Interessen, soweit sie mit dem Gegenstände ihrer gewerblichen Thätigkeit in Zusammenhang stehen, zu erörtern, einschlägige Wünsche und Beschwerden in Beratung zu ziehen und hierbei über ihre Haltung zu den in den betreffenden Fragen von der anderen Genossenschaft gefaßten Beschlüssen sich zu entscheiden. Beide Genossenschaften sind verpflichtet, über Aufforderung der Behörden, sowie der Handels- und Gewerbekammern Gutachten zu erstatten; sie sind oder auch berechtigt, im Rahmen ihres gesetzlichen Wirkungskreises aus eigener Initiative mit Anträgen hervorzutreten“.

Die Genossenschaftsversammlung der Unternehmer besteht aus sämtlichen Mitgliedern, die der Arbeiter aus Vertretern; die letzteren wählen die Arbeiterausschüsse. Die Geschäftsführung liegt in der Hand der „Vorstehung“, d. h. des Ausschusses und eines der Bestätigung seitens der Behörde bedürfenden Vorstehers. Der letztere hat ein Disziplinarstrafrecht gegen die Mitglieder.

In dem letzten Abschnitte des Entwurfes war die Schaffung von Einigungsämtern vorgesehen, die für gleiche oder verwandte Berufe errichtet werden sollten.[Pg 696] Dabei war für Großindustrie und Kleingewerbe insofern eine verschiedene Organisation vorgeschlagen, als die Arbeitervertreter bei der erstern von den Mitgliedern der Genossenschaftsversammlung, bei der letztern von der Gehülfenversammlung zu wählen waren, während die Vertreter der Unternehmer aus allgemeinen Wahlen der letzteren hervorgehen sollten.

Zur Ueberwachung wird bei jeder Genossenschaft ein staatlicher Kommissar bestellt. Auch kann die Auflösung der Genossenschaft seitens des Ministers erfolgen, sobald sie ihren gesetzlichen oder statutenmäßigen Wirkungskreis überschreitet, gesetzwidrige Beschlüsse faßt oder „überhaupt den Bedingungen ihres rechtlichen Bestandes nicht mehr entspricht“.

Der Entwurf wollte eine Lösung der sozialen Frage durch staatliche Organisation im großen Stile unternehmen, insbesondere war in der Begründung ausdrücklich hervorgehoben, daß die Arbeitergenossenschaften befugt sein sollten, auch allgemeine Fachfragen in den Bereich ihrer Erörterung zu ziehen und dadurch zur Wahrung der berechtigten Interessen und zur Verbesserung der Gesamtlage der Genossenschaftsmitglieder beizutragen. Mit Recht bezeichnete die Begründung gegenüber dieser Organisation der Arbeiter die korporative Vereinigung der Unternehmer als notwendiges Korrelat. Es ist lebhaft zu bedauern, daß die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses zu keinem positiven Ergebnisse führten und die Regierung den durch den Entwurf beschrittenen Weg später nicht weiter verfolgt hat.

Fußnoten:

[291] Das benutzte Material ist mir von dem „Tarifamte der deutschen Buchdrucker“ zur Verfügung gestellt; insbesondere hat dessen Sekretär in dankenswerter Weise sich der Aufgabe unterzogen, die bisherige Entwicklung, die zur Gründung der jetzigen Tarifgemeinschaft geführt hat, in einer kleinen Arbeit zusammenzustellen, die ich meiner Darstellung im wesentlichen zu Grunde gelegt habe.

[292] Vgl. oben S. 258.

[293] Vgl. oben S. 587.

[294] Vgl. S. 268 ff.

[295] Abgedruckt in der „Zeitschrift für Deutschlands Buchdrucker“ am 6., 8. und 12. Oktober 1898 und in dem „Korrespondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer“ von denselben Tagen.

[296] Bei der folgenden Darstellung ist in erster Linie die Arbeit von Alfred Swaine, Die Arbeits- und Wirtschaftsverhältnisse der Einzelsticker in der Nordostschweiz und Vorarlberg, Straßburg, Trübner 1895, benutzt, in der die frühere Litteratur angegeben ist. Vgl. außerdem Handwörterbuch der Staatsw., Artikel: „Arbeiterschutzgesetzgebung“, „Gewerbe“ und „Hausindustrie“, sowie Schmoller, Jahrb. XVIII, S. 1251 ff.

[297] Die Gesamtzahl der Maschinen betrug in den drei Kantonen St. Gallen, Appenzell und Thurgau 1865: 770; 1872: 6384; 1876: 9942; 1880: 14770; 1884 über 20000; 1890: 21660. Man zählt in ganz Europa 29000 Maschinen, von denen 4500 auf Sachsen entfallen, während 3000 sich auf Böhmen, Frankreich, Italien und Rußland verteilen. Vgl. „Die Industrie“ Nr. 1 vom 7. Mai 1887.

[298] 1872 zählte man nur 7 % „Einzelsticker“, d. h. Hausindustrielle, die mit 1–2 Maschinen arbeiten; 1876: 10%, 1880: 39,5%. 1890 fanden von 19923 Maschinen in der Schweiz (also außer Vorarlberg) 12033 im Hausbetriebe und nur 1890 in Fabriken Verwendung.

[299] Man bezeichnet die Abhängigkeit von einem Kaufmanne, ohne Unterschied, ob die Gegenpartei ein Fabrikant oder ein Einzelsticker ist, als „Lohnstickerei“. Wie sehr diese überwiegt, beweist, daß der Prozentsatz der in der Lohnstickerei verwandten Maschinen zu der Gesamtzahl 1872: 56, 1876: 60, 1880: 70 und 1890 sogar 91,5 betrug. Innerhalb der Fabriken allein betrug das Verhältnis 1872: 53,5%, 1890: 77,55%. Zählt man die Fabrikanten, die zwar regelmäßig „auf eigene Muster sticken“, zuweilen aber auch „auf Stich arbeiten“, den Lohnstickern hinzu, so steigert sich die Ziffer sogar auf 94,5%.

[300]

Es betrugen: die Einnahmen die Ausgaben das Vermögen der Kasse
1889 77436 Frs. 76096 Frs. 136826 Frs.
1890 52766 53593 135998
1891 99261 64538 170722
1892 52681 84590 110292

[301] Der Anschaffungspreis beträgt etwa 1700 Frs.

[302] Nach der „Industrie“ Nr. 1 vom 7. Mai 1887 hatten die Minimallöhne eine Erhöhung des Jahreslohnes um 6000000 Frs. zur Folge.

[303] Das Material verdanke ich dem früheren Vorsitzenden, Rechtsanwalt Kirbach, und dem jetzigen, Fabrikant Richard Mühlmann in Plauen i. V.

[304] Vgl. Berghoff-Ising: Die sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz, S. 255 ff.

[305] Die nachfolgende Darstellung beruht wesentlich auf den Angaben des mit den Verhältnissen durch eigene Erfahrung und eingehende Studien genau bekannten Pastors Zeiß in Schwalenberg i. Lippe, dem ich für seine Unterstützung hier meinen wärmsten Dank sage, sowie den die Zieglerbewegung betreffenden Veröffentlichungen.

[306] Das benutzte Material verdanke ich überwiegend den Mitteilungen des Landrats Dönhoff in Solingen. Eine litterarische Behandlung desselben bietet der Aufsatz: „Arbeiterorganisationen und Vergleichskammern in der Solinger Industrie“ im Jahrgang II, Nr. 8 der Zeitschrift der Zentralstelle für Wohlfahrtseinrichtungen vom 15. April 1895. Eine Darstellung der interessanten Entwickelung der Solinger Industrie, der einige der folgenden Angaben entnommen sind, bietet das Buch von Alphons Thun: „Die Hausindustrie am Niederrhein“.

Für die sozialpolitische Würdigung der Verhältnisse ist es von Bedeutung, daß es bei der letzten Reichstagswahl zu dem einzig dastehenden Ereignisse einer doppelten sozialdemokratischen Kandidatur gekommen ist, indem gegenüber dem Parteikandidaten Scheidemann der frühere Abgeordnete Schumacher aufgestellt wurde, dessen Anhänger dann bei der Stichwahl für den liberalen Kandidaten Sabin stimmten. Im Gegensatz hierzu haben die offiziellen Sozialdemokraten bei der letzten Stadtverordnetenwahl die Wahl von Schumacher dadurch vereitelt, daß sie in der Stichwahl für den bürgerlichen Kandidaten eintraten. Spielen dabei auch persönliche Reibereien eine Rolle, so ist doch von Bedeutung, daß Schumacher der gemäßigten Richtung angehört, die insbesondere die Politik aus den Gewerkschaften fern gehalten wissen will.

[307] Eine Darstellung der hier geschilderten Verhältnisse und Thatsachen findet sich im Heft 2 der Zeitschrift „Gemeinwohl“, Jahrgang 1890, S. 58 ff. Daneben hat mir Herr Landrat Königs in Lennep wertvolles Material zur Verfügung gestellt.

[308] Es wird erwähnt, daß die Löhne 1,80 Mk. bis 2,40 betrugen, daß aber hiervon noch häufig Abzüge stattfänden.

[309] Vgl. oben S. 669.

[310] Vorsitzender ist der Landrat, Stellvertretender der Bürgermeister.

[311] Das benutzte Material ist mir von dem Vorsitzenden des Fabrikantenvereins, Herrn Ad. Widmeyer und dem Schriftführer des Bandwirkervereins, Herrn Sebulon Monhof, beide in Ronsdorf, zur Verfügung gestellt.

[312] Die nachfolgende Darstellung beruht wesentlich auf dem Buche von Boissard Le syndicat mixte, Paris 1897, Rousseau et Guillaumin.

[313] Vgl. oben S. 63 ff. und S. 619 ff.

[314] Die Zahlen sind dem Buche von Boissard entnommen, stehen aber nicht im Einklang mit den oben angegebenen der annuaires.

[315] Von Boissart a. a. O. S. 141.

[316] Vgl. S. 83.

[317] Vgl. hinsichtlich der genaueren Ziffer oben S. 83.

[318] Eine eingehende Darstellung seines Systems giebt E. J. Smith in seinem Buche: The New Trades Combination Movement, Birmingham 1895. Eine kurze Uebersicht bietet Ed. Bernstein in einem Aufsatze: „Neue Formen gewerblicher Verbindung in England“ in der „Neuen Zeit“ Oktoberheft 1898. Auch S. und B. Webb in ihrem Buche: Theorie und Praxis der englischen Gewerkvereine (Uebersetzung), Stuttgart, Dietz, Bd. II, S. 115 ff. behandeln das Thema.

[319] Nach einem Aufsatze von E. J. Smith in dem Daily Chronicle vom 6. Januar 1898.

[320] Deren Statut ist bei Webb a. a. O. mitgeteilt.

[321] Vgl. S. 650.

[322] Der frühere Entwurf (Reichsanzeiger vom 3. August 1896) hatte wenigstens für den „Handwerksausschuß“ die Bildung von Gesellenausschüssen vorgeschrieben.

[323] Vgl. S. 609 ff.

[324] Die folgende Darstellung stützt sich hauptsächlich auf den Aufsatz von Schwiedland: „Die Einführung obligatorischer Arbeiterausschüsse in Oesterreich“ in Schmoller, Jahrb. 1891, S. 1241 ff.

[325] Vgl. Schwiedland a. a. D. S. 1259, Anm. 1.

[Pg 697]

Nachträge[326].

I[327].

In England ist der oben (S. 619) erwähnte, seitens der Regierung unternommene Versuch, organische Beziehungen zwischen den Verbänden der Arbeiter und der Arbeitgeber herzustellen, gescheitert. Wie erwähnt, war von dem Handelsminister Ritchie der Plan eines ständigen Einigungsamtes ausgegangen. Nach demselben sollte in jedem Gewerbe ein dauerndes Amt dieser Art aus Vertretern der beiderseitigen Verbände bestehen, vor das jeder Streit gebracht werden mußte. Als zweite Instanz sollte ein aus allen Gewerbezweigen gebildetes Zentraleinigungsamt eintreten, bis zu dessen Spruche kein Streik und keine Aussperrung erklärt werden dürfe. Nachdem der Minister im Anfang Dezember 1898 dem parlamentarischen Ausschusse der Arbeiter diesen Plan unterbreitet hatte, antwortete dieser schon am 16. dess. Monats, daß er den Vorschlag mit Dank annehme und um Zusammenberufung einer gemeinsamen Konferenz mit den Vertretern der Unternehmer bitte, wiederholte auch diese Zustimmung, nachdem ihm am 13. Februar 1899 ein ausgearbeiteter Entwurf mitgeteilt war. Dagegen ließ das parlamentarische Komitee der Unternehmer[328] nachdem es anfangs geschienen hatte, als ob es ebenfalls eine zustimmende Haltung einnehmen wollte, dem Minister am 18. März 1899 folgende Erklärung zugehen: »Bei voller Würdigung und Sympathie für die Punkte in dem Schreiben des[Pg 698] Ministers und bei allem Eifer, den für die nationale Wohlfahrt so notwendigen gewerblichen Frieden zu sichern, sieht der Parlamentarische Rat der Unternehmer gegenwärtig keinen gangbaren Weg zur Bildung einer vollständigen und befriedigenden Vertretung von Arbeitgebern und Arbeitern in einem Versöhnungsamte, wie es in dem angeführten Briefe vorgeschlagen wird.»

Am 19. Juli 1899 hat in London der erste Kongreß des neu geschaffenen Gewerkschaftsverbandes[329] stattgefunden, auf dem 44 trade unions mit insgesamt 310437 Mitgliedern durch 47 Abgesandte vertreten waren. Nach einem Berichte des Vorsitzenden des Parlamentarischen Komitees über die bisherige Entwickelung des Verbandes kam man überein, denselben als mit dem 1. Juli 1899 ins Leben getreten anzusehen, und wählte die Mitglieder des Vorstandes. Es wurde ins Auge gefaßt, die Jahresversammlungen stets an demselben Orte und in unmittelbarem Anschlusse an die trade unions-Kongresse abzuhalten.

Der vom 4.–9. September 1899 in Plymouth abgehaltene 32. Jahreskongreß der trade unions war von 386 Abgesandten als Vertretern von 147 Vereinen mit 1200000 Mitgliedern besucht Die Maschinenbauer, die sich einem Beschlusse des Parlamentarischen Komitees nicht gefügt hatten, waren von diesem für 2 Jahre von den Kongressen ausgeschlossen, was eine leidenschaftlich erregte Verhandlung hervorrief, doch würde schließlich ein diese Maßregel billigender Beschluß mit 2/3 Mehrheit angenommen. Auch sonst herrschte Streit und Hader, insbesondere beklagten sich die kleineren Vereine, daß sie durch das Stimmenübergewicht der größeren erdrückt würden. Die wichtigste Frage der Beratungen war die Stellung zu den Parlamentswahlen. Die radikale Richtung hatte, wie früher erwähnt, schon seit Jahren gefordert, daß man nicht Angehörige der beiden großen Parteien unterstützen, sondern eigene Arbeiterkandidaten aufstellen solle. Dieses Mal gelang es ihr mit knapper Mehrheit, ihre Ansicht durchzusetzen, indem das Parlamentarische Komitee beauftragt wurde, einen besonderen Kongreß der Genossenschaften, trade unions und sozialistischen Vereine zu berufen, um Mittel und Wege für eine Verstärkung der Zahl der Arbeitervertreter im Parlament zu beraten. Auch hinsichtlich des Achtstundentages siegte die radikale Richtung, indem man ihn für alle Gewerbe forderte, obgleich insbesondere die Textilarbeiter darauf hinwiesen, daß ihr Gewerbe die damit verbundene indirekte Lohnerhöhung von 15% nicht ertragen könne. Der Kongreß beschäftigte sich eingehend mit der Wohnungsfrage, beklagte die bestehenden Wohnungsverhältnisse der Arbeiter und forderte die Gemeindebehörden auf, von den ihnen zustehenden Befugnissen besseren Gebrauch zu machen; auch sollen Mietgerichtshöfe eingesetzt und auf Einrichtung billiger Arbeiterzüge der Eisenbahnen hingewirkt werden. Das neue Haftpflichtgesetz[Pg 699] wurde in mehrfacher Beziehung bemängelt und zu dem Entwurfe eines Alterspensionsgesetzes eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Hinsichtlich der Kinderarbeit wurde gegen die Stimmen der Textilarbeiter das völlige Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren und der Nachtarbeit von Personen unter 18 Jahren gefordert. Die früheren Beschlüsse wegen vollständiger Sonntagsruhe und frühzeitigen Ladenschlusses wurden wiederholt, dagegen ein Antrag auf Einführung von Einigungsämtern mit Zwangsbefugnis mit großer Mehrheit abgelehnt. Endlich erklärte man sich gegen den Bimetallismus und den Krieg in Transvaal. Eine Anregung in dem Sinne, die Beziehungen zu den Arbeiterorganisationen des Auslandes zu stärken, fand wenig Beifall.

Die Berichte über den Kongreß stimmen in der Ansicht überein, daß derselbe keinen Höhepunkt in der Entwickelung der trade unions bedeutet. Der Grund ist zu Suchen teils darin, daß augenblicklich große Fragen von besonderer Bedeutung nicht zur Erörterung standen und deshalb innerer persönlicher Zwist Raum hatte, sich geltend zu machen, teils in dem allgemeinen Umstande, daß der augenblickliche Aufschwung der Industrie die Lage der Arbeiter günstiger gestaltet hat und manchen ihrer früheren Klagen den Boden entzieht.

II[330].

In Frankreich ist es in neuester Zeit den in das alte Parteitreiben am wenigsten Verwickelten Führern der socialistes indépendants, insbesondere Jaurès und Millerand, gelungen, eine Verbindung unter den verschiedenen sozialistischen Gruppen herbeizuführen, das comité d'entente socialiste, in welches jede der oben[331] aufgeführten 5 Gruppen (d. h. ausschließlich der Anarchisten) 7 Vertreter entsendet. Auch bei den im April 1898 stattgefundenen Parlamentswahlen, bei denen die Guesdisten 350000, die Blanquisten 32000, die Allemanisten 42000 und die Unabhängigen Sozialisten nebst den Broussisten[332] 516000 Stimmen erhielten, gingen die 5 Gruppen zusammen, und endlich besteht im Parlamente eine Union socialiste aus allen sozialistischen Abgeordneten.

Einen Stoß hat dieser Zusammenschluß dadurch erhalten, daß bei der im Juni 1899 vollzogenen Neubildung des Ministeriums Waldeck-Rousseau Millerand das Amt des Handelsministers übernahm. Dieser Schritt wurde in den sozialistischen Kreisen zum Teil scharf getadelt, zumal der General Gallifet, der „Mörder der Commune“, dem Ministerium als Kriegsminister angehört, und[Pg 700] am 12. Juli 1899 veröffentlichten 21 sozialistische Abgeordnete, die überwiegend dem parti ouvrier und dem parti socialiste révolutionaire angehören, eine Erklärung, in der sie den Schritt Millerand's entschieden verurteilen und ihren Austritt aus der Union socialiste erklären. Inzwischen ist es jedoch gelungen, eine Wiederannäherung herbeizuführen, und insbesondere haben sämtliche Gruppen sich geeinigt, im September 1899 einen gemeinsamen Kongreß in Paris abzuhalten zur Entscheidung der Frage, „ob der Klassenkampf, der die Grundlage des Sozialismus bildet, den Eintritt eines Sozialisten in eine Bourgeois-Regierung gestattet.“

III[333].

In Ungarn hat die Gewerkschaftsbewegung insofern einen Fortschritt zu verzeichnen, als am 21. Mai 1899 in Budapest ein Gewerkschaftskongreß abgehalten ist, an dem 66 Abgeordnete aus der Hauptstadt und 36 aus der Provinz teilgenommen haben. Nach dem erstatteten Berichte giebt es etwa 19000 organisierte industrielle Arbeiter, während die Zahl der organisierten Landarbeiter mehr als das Doppelte betragen soll. Es wurde beschlossen, die bestehenden Fachvereine zu Landesorganisationen umzugestalten, die hauptsächlich die Arbeitslosen- und Reiseunterstützung pflegen sollen. Die ferneren Beschlüsse des Kongresses forderten die Einführung des gesetzlichen Maximalarbeitstages von 10 Stunden und einer Sonntagsruhe von 36 Stunden, die gesetzliche Unfallversicherung und volle Koalitionsfreiheit, Gewerbegerichte und Ausdehnung der Gewerbeaufsicht auf das Kleingewerbe, sowie Teilnahme von Arbeitern an derselben. Der von der Regierung geplanten Zentral-Arbeitsvermittelung will man sich nicht feindlich gegenüberstellen, falls Arbeiter und Unternehmer gleiche Rechte erhalten. Zur Durchführung der Beschlüsse wurde ein Ausschuß aus 11 Mitgliedern eingesetzt, der zugleich die Streikbewegung zu überwachen, Widerstandskassen zu organisieren und die Schritte für Schaffung von Arbeitersekretariaten in die Hand zu nehmen hat, auch spätere Gewerkschaftskongresse einberufen soll.

IV[334].

In Holland haben am 2. April 1899 sowohl der Algemeen Nederlandsch Werklieden Verbond wie der Sociaaldemocratische Bond ihre Jahresversammlungen abgehalten.

Der erstere Verband zählt jetzt 34 Vereine mit 3544 Mitgliedern und hat 3 Vertreter im Abgeordnetenhause. Man beschloß Eingaben an die Regierung zu Gunsten der Alters-, Invaliden- und Unfallversicherung, sowie des gewerblichen[Pg 701] Fachunterrichtes und der gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit erwachsener Männer. Im ganzen scheint der Verband in den letzten Jahren keine erhebliche Thätigkeit entfaltet zu haben.

Der sozialdemokratische Bund umfaßt 55 Vereine mit 2500 Mitgliedern und zählt 3 Vertreter im Abgeordnetenhause. Man forderte progressive Einkommensteuer und Besteuerung des steigenden Bodenwertes in den Städten, Unfallversicherung, den gesetzlichen Maximalarbeitstag zunächst von 10 Stunden, sowie eine Sonntagsruhe von 36 Stunden und endlich das allgemeine Wahlrecht. Die übrigen Verhandlungen betrafen die Bekämpfung der Trunksucht, die hygienischen Einrichtungen, die Wohnungsfrage, den Schulunterricht, die Arbeitslosenversorgung, den Grundbesitz der Gemeinden und die Schaffung von Konsumgenossenschaften.

Der Arbeitersekretariat hat am 26./27. Februar 1899 in Utrecht seine fünfte Jahresversammlung abgehalten. An demselben sind jetzt folgende Verbände beteiligt: Möbelarbeiter, Maler, Zigarrenarbeiter, Metallarbeiter, Buchdrucker, Zimmerer, Steinhauer, Weber und Spinner, Maschinisten und Heizer, Landarbeiter, Handarbeiter, Schiffsarbeiter, Maurer, Bildhauer, Holzschuharbeiter, Stukkateure, Tapezierer, Former, Thon-, Topf- und Steingutarbeiter, Erd- und Baggerarbeiter, Korkschneider, Oelschläger, Zuckerbäcker, Chemische Arbeiter, Holzarbeiter, Damenschneider. Das Sekretariat umfaßt 40 Verbände und Vereine mit 12950 Mitgliedern, gegen 22 Verbände mit 15000 Mitgliedern 1894, 35 Verbände mit 18700 Mitgliedern 1895, 41 Verbände mit 17500 Mitgliedern 1896 und 44 Verbände mit 15000 Mitgliedern 1897. Im Jahre 1898 haben sich 3 Verbände aufgelöst, 3 andere haben sich von dem Sekretariate getrennt, weil sie ihren Verpflichtungen nicht nachkommen konnten. Während eine Unterstützung in Streikfällen bei Gründung des Sekretariates nicht beabsichtigt war, hat man 1896 eine solche mit freiwilligen Beiträgen eingeführt und später diese obligatorisch auf 5 Pf. wöchentlich festgesetzt. Es haben 16 Streiks stattgefunden, für die 14150 fl. Unterstützung gezahlt sind. Die regelmäßige Jahreseinnahme des Sekretariates beträgt 822 fl., die Ausgabe 742 fl., der Kassenbestand belief sich am 31. Dezember 1898 auf 3310 fl. Der Sitz des Sekretariates soll auch ferner in Amsterdam bleiben; der Sekretär wurde auf 5 Jahre gewählt und gegen feste Besoldung angestellt. Der Antrag auf Erhöhung der Beiträge wurde abgelehnt. Streiks sollen nur dann unterstützt werden, wenn sie 14 Tage vorher dem Sekretariate angezeigt sind, auch muß vor Niederlegung der Arbeit erst der Zentralvorstand der Organisation und das Sekretariat gehört werden.

[Pg 702]

V[335].

In Dänemark hat am 2. Juni 1899 der Metallarbeiterverband in Kopenhagen seinen 6. Jahreskongreß abgehalten, unter Beteiligung von 62 Abgeordneten, von denen 17 aus Kopenhagen, 45 aus der Provinz entsandt waren. Der Verband zählt 6356 Mitglieder = 85% aller gelernten Metallarbeiter, während er die ungelernten ausschließt. Das Verbandsvermögen betragt 194399 Kronen.

Auf dem Frankfurter Gewerkschaftskongresse machte der dänische Vertreter noch einige Angaben über die dortige Gewerkschaftsbewegung. Die Verhältnisse liegen in Dänemark insofern eigenartig, als von den 2½ Millionen Einwohnern des Landes 500000 in der Hauptstadt Kopenhagen vereinigt sind, so daß etwa die Hälfte der industriellen Bevölkerung dort zusammengedrängt ist. Den „Vereinigten Fachverbänden Dänemarks“ gehörten im Frühjahr 1899 38 Verbände und 27 Einzelvereine mit rund 70000 Mitgliedern an, darunter 20000 ungelernte Arbeiter und 6000 Frauen. Die Gesamtzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ist auf 75000–80000 zu veranschlagen. Außer dem Jahresbeitrage von 20 Oere für industrielle und 10 Oere für Landarbeiter und Frauen wird bei Streiks und Aussperrungen eine Sonderabgabe von wöchentlich bis zu 50 Oere erhoben. In den letzten Jahren haben sich in den verschiedenen Industrien zahlreiche Arbeitgebervereine gebildet, die sich im Frühjahr 1898 zu dem „Zentralverein der dänischen Arbeitgeber“ zusammengeschlossen haben, dessen Zweck ist, den Forderungen der Arbeiter Widerstand entgegenzusetzen, Streiks zu bekämpfen und entstehende Streitigkeiten durch Schiedsgerichte zu regeln. Sobald ein partieller Streik ausbricht, hat der Vorstand des Bundes das Recht, die Aussperrung aller Arbeiter nicht allein des beteiligten Gewerbes, sondern in sämtlichen Betrieben anzuordnen.

Weitgehendes Interesse auch außerhalb Dänemarks hat die Massenaussperrung der organisierten Arbeiter seitens des Arbeitgeberbundes erregt. Der Streit begann zwischen den Tischlergesellen und ihren Meistern über Lohnfragen, indem die Meister am 2. Mai 1899 über sämtliche 3500 Gesellen die Sperre verhängten. Zugleich wandten sie sich an den Zentralverein der dänischen Arbeitgeber, und dieser erklärte am 24. Mai die Aussperrung aller Arbeiter in den Baugewerben und der Eisenindustrie in der Zahl von etwa 40000. Im August 1899 ist die Aussperrung noch auf fernere 10000 Arbeiter ausgedehnt, so daß sie etwa 2/3 aller dänischen organisierten Arbeiter umfaßte.

[Pg 703]

Der von den Arbeitgebern verfolgte Zweck ist nach den Zeitungsnachrichten die Vernichtung der Arbeiterorganisationen, während andere Beurteiler[336] dies bestreiten und den Arbeitern insofern einen Teil der Schuld beimessen, als sie sich unerträgliche Uebergriffe erlaubten. Die christlich-soziale Partei Dänemarks ist auf die Seite der Arbeiter getreten, ebenso haben die kleinen Gewerbetreibenden von Kopenhagen in einer großen Protestversammlung zu deren Gunsten Stellung genommen. Die dänische Regierung hat sich neutral gehalten, während die deutschen Behörden mehrfach (z. B. in Schleswig, Sachsen, Braunschweig) die von den Arbeitern zur Abhaltung von Versammlungen gesandten Redner ausgewiesen haben, offenbar von der Auffassung ausgehend, daß in einem Streite zwischen Arbeitern und Unternehmern, und mag er selbst im Auslande sich abspielen, die Stellung der deutschen Obrigkeit stets auf seiten der Unternehmer sein muß; man hofft dadurch den Staatsgedanken und das Nationalgefühl unter der deutschen Arbeiterschaft zu fördern.

Nachdem wiederholte Einigungsversuche gescheitert waren, ist endlich am 4. September 1899 eine Verständigung erzielt, in welcher die Arbeitgeber die meisten der von ihnen erhobenen Forderungen fallen gelassen haben, so daß die Arbeiter sich als die Sieger betrachten; jedenfalls ist die Absicht, die Arbeiterorganisation zu vernichten, falls sie bestanden haben sollte, gescheitert.

Am 7. September 1899 ist die Arbeit überall wieder aufgenommen. Es scheint, als ob auf den Entschluß des Arbeitgeberverbandes ein Wechsel im dänischen Ministerium, nämlich die Ersetzung des bisherigen Ministers des Innern Bardenfleth durch Bramsen, nicht ohne Einfluß gewesen ist. Der letztere, der auch bereits in dem Streite vermittelnd thätig gewesen war, ist ein hervorragender Nationalökonom, der u. a. auch 1890 Dänemark bei dem Berliner internationalen Arbeiterschutzkongresse vertreten hatte. Obgleich er der konservativen Partei angehört, genießt er großes Vertrauen in Arbeiterkreisen, so daß selbst das dänische sozialdemokratische Parteiorgan seine Ernennung mit Befriedigung begrüßt und an seine Thätigkeit große Hoffnungen knüpft.

VI[337].

Ueber die Gewerkschaften von Nordamerika veröffentlicht das Bulletin of the department of Labor, das amtliche Organ des Arbeitsamtes in Washington, sehr eingehende Angaben[338], um den Nachweis zu liefern, daß die amerikanischen Gewerkschaften von Jahr zu Jahr mehr die Unterstützungspolitik[Pg 704] in den Vordergrund ihrer Thätigkeit gestellt haben. Danach gab es 1880 nur 4 Vereine, die Unterstützungseinrichtungen besaßen, nämlich die Lokomotivheizer mit 2800, die Zimmerleute und Tischler mit 245, die Lokomotivführer mit 2203 und die Seemaschinisten mit 342, zusammen also mit 5590 Mitgliedern; sämtliche übrigen Organisationen zahlten nur Streikgeld. Die Folge war ein äußerst lebhafter Wechsel der Mitglieder und der starke Rückgang während der industriell ungünstigen Jahre 1893–1897. Dagegen haben 1897 31 Gewerkschaften mit 217351 Mitgliedern Angaben gemacht, nach welchen sie in den genannten Jahren 643906 Dollars an Unterstützungen gezahlt haben gegenüber 322509 Dollars, die sie in derselben Zeit für Streiks ausgegeben haben. Leider sind die amerikanischen Gewerkschaften in der Aeußerung über ihre Angelegenheiten sehr zurückhaltend, so daß die Vereine, die Berichte eingesandt hatten, mit ihren 217351 Mitgliedern nur etwa ¼ der gesamten organisierten Arbeiterschaft Nordamerikas darstellen.

Das Nähere aus den in dem bezeichneten Aufsatze mitgeteilten Thatsachen ergiebt sich aus der folgenden Tabelle:

(Siehe Tabelle auf Seite 705).

Eine Gegenüberstellung dieser Ziffern mit denen der englischen und der deutschen Gewerkschaften ergiebt, daß im Jahre 1897 gezahlt wurden

  Unterstützung Streikgeld
  insgesamt
Mark
a. d. Kopf
Mark
insgesamt
Mark
a. d. Kopf
Mark
von   31 amerikan. Gewerkschaften m. 217351 Mitgl.   2,704405 12,30 1,354537 6,20
100 englischen 996953 16,273480 16,80 3,102560 3,20
  55 deutschen 410864   1,197960   2,90   881858 2,10

Bei der Vergleichung der deutschen Gewerkschaften ist in Betracht zu ziehen, daß die Krankenunterstützung ihnen zum größten Teile durch die gesetzliche Krankenversicherung abgenommen ist, der gegenüber die Gewerkschaften sich auf bloße Zuschußkassen beschränken.

VII[339].

Die Generalkommission der Gewerkschaften veröffentlicht[340] die Statistik für 1898. Danach gab es Ende 1898 57 Zentralorganisationen mit 493742 Mitgliedern, unter denen sich 13481 weibliche befanden. Daneben gab es 17500 lokal organisierte Arbeiter, so daß sich eine Gesamtzahl von 511242 ergiebt. Der stärkste Verband waren die Metallarbeiter mit 74160 Mitgliedern, dann folgen die Maurer mit 60175, die Holzarbeiter mit 48589, die Textilarbeiter mit 27679, die Bergarbeiter mit 27300, die Buchdrucker mit 24020,

[Pg 705]

  Organisation Gründungsjahr Zahl der
Mitglieder
Ausgabe
für Unterstützungen
Dollar
für Streiks
Dollar
1. Verband der Zigarrenmacher 1864   27318 328499   12175
2. Verband der Zimmerleute u. Tischler 1881   31508   43953     8697
3. Internationaler Typographenverband 1850   28614   58455   24075
4. Deutsch-Amerikanische Typographia 1873     1110   15877     1053
5. Englischer Verband der Zimmerer und Tischler     1392   26072       346
6. Englischer Verband der Maschinenbauer     1441   27431       486
  Verband der        
7. Bäcker 1886     4850       734       754
8. Barbiere 1887     3600     4700             125[341]
9. Grobschmiede 1891       300     1921       109
10. Baumwollspinner 1889     2600   29450           1000[341]
11. Lederarbeiter 1896     1430       355       675
12. Flaschenbläser 1853     3000   18000
13. Granitsteinschneider 1877     9765     9765   25000
14. Eisengießer 1859   23000   45599   48033
15. Lederarbeiter beim Pferdegeschirr 1896       475       350             150[341]
16. Maler und Dekorateure 1887     5500     2875           2500[341]
17. Mustermacher 1887       913     1921
18. Seeleute des stillen Ozeans 1885     1471     1060
19. Kleidermachergehülfen 1883     5683     6949     4057
20. Tabakarbeiter 1894     5000   16251
21. Tabakarbeiter 1883       830     1850
22. Holzarbeiter 1896     5520     1000   12000
23. Flintglasarbeiter ?     7500 160101
24. Seeleute des atlantischen Ozeans 1889       218
25. Gummizeugweber 1885       323       300             155[341]
26. Arbeiter der Elektrizitätswerke 1891     3000       900       800
27. Hutmacher 1885     6000       750
28. Maschinisten 1888   22000     8697
29. Schlachter 1897     4000       560             100[341]
30. Metallpolierer &c. 1890     7000     8000
31. Steinmetzen 1890     2000       250     1500
    217351 643906 322509

die Zimmerer mit 22101, die Schuhmacher mit 13727, die Hafenarbeiter mit 10037 und die Steinarbeiter mit 10000 Mitgliedern. Der Verband der Flößer, der sich aufgelöst hat, und die Xylographen, die sich in Lokalvereinen organisiert haben, sind aus den Verzeichnissen weggelassen, dagegen sind die Buchdruckereihülfsarbeiter, die Formenstecher und die Maschinisten und Heizer neu aufgenommen, von denen die ersteren beiden Verbände 1895, der letztere[Pg 706] 1893 gegründet wurden. Die Zahl der Zweigvereine ist 1898 von 6151 auf 6756 gestiegen. Die Zunahme der Lokalorganisation beruht nicht auf einer wirklichen Vermehrung, sondern auf veränderten Schätzungen, insbesondere waren 1897 über 7 Gewerbe, für die jetzt insgesamt 10070 Mitglieder angegeben sind, überhaupt keine Angaben gemacht. Nach dem Berichte giebt es außer den hier berücksichtigten Vereinen noch eine größere Anzahl von Gewerkschaften, die „nicht auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehen“ und entweder zu den christlichen Vereinen gehören oder in ihren Tendenzen ganz isoliert stehen. Als solche werden erwähnt: Bergarbeiter mit 35000, Bildhauer 120, Böttcher 200, Brauer 1800, Buchdrucker 1700, Buchdruckereihülfsarbeiter 25, Former 1000, Gärtner 5000, Gastwirtsgehülfen 3000, Gemeindebetriebsarbeiter 300, Konditoren 600, Maschinisten und Heizer 4200, Maurer 3800, Porzellanarbeiter 554, Schuhmacher 3500, Steinsetzer 140, Töpfer 150, Werftarbeiter 250, insgesamt 61339 Mitglieder.

Ueber Einnahmen und Ausgaben haben 1898 zum erstenmale alle Organisationen Angaben gemacht, allerdings nur hinsichtlich der Zentralkassen. Der Bericht giebt über die Jahre 1891–1898 folgende Tabelle.

Es vereinnahmten Es verausgabten
1891 49 Organisationen   1116588 Mk.   47 Organisationen   1606534 Mk.
1892 46   2031922   50   1786271
1893 44   2246366   44   2036025
1894 41   2685564   44   2135606
1895 47   3036803   48   2488015
1896 49   3616444   50   3323713
1897 51   4083696   52   3542807
1898 57   5508667   57   4279726
  24326050 Mk.   21198697 Mk.

Wie die Ausgaben sich für 1898 im einzelnen verteilen, zeigt folgende Tabelle. Es verausgabten für:

Verbandsorgan 55 Organisationen   518949 Mk.
Agitation 54   136329
Streiks im Beruf 45 1024114
Streiks in anderen Berufen 33     39176
Rechtsschutz 39     43378
Gemaßregeltenunterstützung 30     39978
Reiseunterstützung 36     83267
Arbeitslosenunterstützung 17   275404
Krankenunterstützung 12   491634
Invalidenunterstützung[Pg 707]   3     79587
Sonstige Unterstützung 34     78419
Stellenvermittelung   9       3826
Sonstige Zwecke 44   107759
Konferenzen und Generalversammlungen 33     68693
Beitrag an die Generalkommission 50     41665
Prozeßkosten 17       5823
Gehälter 53   140423
Verwaltungsmaterial 55   165926

In 43 Organisationen verblieben den Zweigvereinen von der Einnahme insgesamt 723101 Mk. Aus diesem Betrage sind zunächst die lokalen Ausgaben gedeckt, doch werden vielfach aus den Beträgen, welche den Zweigvereinen verbleiben, Unterstützungen an Reisende und in Not geratene Mitglieder, oder auch Unterstützungen für Streiks gegeben. Nicht in allen Organisationen wird der Zentralstelle über solche gezahlte Unterstützungen berichtet, so daß die von den Gewerkschaften für Unterstützungszwecke aufgewandten Summen sich noch beträchtlich durch diese lokalen Ausgaben erhöhen. In vier Organisationen wird die Reiseunterstützung direkt von den Zweigvereinen respektive den einzelnen Orten aus deren Einnahmen für lokale Zwecke gedeckt.

Die Ausgabe für Streikunterstützung steht in den letzten Jahren, soweit ein einzelner Posten in Betracht kommt, an erster Stelle. Sie betrug für 1898: 1073290 Mk.; 1897: 881758 Mk.; 1896: 944345 Mk. Aber auch im Jahre 1898 ist die Ausgabe für direkt an die Mitglieder gezahlte Unterstützung bei Arbeitslosigkeit in Krankheits- und Notfällen wesentlich höher als die Ausgabe für Streiks.

Es wurden 1898 gezahlt: für Rechtsschutz 43378 Mk., für Gemaßregeltenunterstützung 39978 Mk., für Reiseunterstützung 283267 Mk., für Arbeitslosenunterstützung 275404 Mk., für Krankenunterstützung 491634 Mk. für Invalidenunterstützung 79587 Mk., für Beihülfe in Not- und Sterbefällen 78419 Mk. Hiernach beträgt die Gesamtsumme der Unterstützungen 1291667 Mk., denen 1073290 Mk. Streikunterstützung gegenüberstehen, doch muß der ersteren Summe noch die Ausgabe für das Verbandsorgan mit 518949 Mk. hinzugerechnet werden, so daß sie sich dann auf 1810616 Mk. beläuft und die Ausgabe für Streiks um 737326 Mk. übersteigt. Vervollständigt man hiernach die oben[342] gegebene Tabelle, so haben die Gewerkschaften in den letzten 8 Jahren aus den Verbandskassen 10574894 Mk. für die materielle und geistige Hebung ihrer Mitglieder, dagegen nur 4490077 Mk. für Streiks, mithin für die ersteren Zwecke 6064817 Mk. mehr als für den letzteren ausgegeben.

[Pg 708]

VIII[343].

Der deutsche Buchdruckerverband hat vom 19.–24. Juni 1899 in Mainz seine dritte Generalversammlung abgehalten, die von 82 Vertretern besucht war; außerdem hatte der österreichische und der elsaß-lothringische Verein, sowie das internationale Sekretariat Abgesandte geschickt. Der von dem Vorsitzenden Döblin erstattete Bericht erwähnt die Gründung der Buchdruckergewerkschaft, der jedoch angeblich nur 300 Mitglieder angehören, sowie den Gutenbergbund, von dem behauptet wird, daß er gegründet sei, um den Unternehmern Heeresfolge zu leisten. Aber weder durch diese beiden Vereine, noch durch die von den Prinzipalen ins Leben gerufene Unterstützungskasse, der zur Zeit 4000 Mitglieder angehören, sei das Wachstum des Verbandes aufgehalten. In den 4 Jahren 1895–1898 sind seitens des Verbandes an Reiseunterstützung 501899 Mk., an Arbeitslosenunterstützung 499170 Mk., an Umzugskosten und Gemaßregeltenunterstützung 209678 Mk., an Krankengeld 137489 Mk., an Invalidenunterstützung 5381 Mk. (davon 3494 Mk. aus der Invalidenkasse, 1887 Mk. aus der Verbandskasse) und an Begräbnisgeld 79055 Mk. gezahlt. Trotzdem ist 1898 ein Ueberschuß von rund 500000 Mk. erzielt. Der Vorstand sah in der großen Anhäufung von Geld insofern eine Gefahr, als dadurch die Versuchung erhöht werde, sich bei Streitigkeiten mit den Prinzipalen zu fest auf die gefüllte Verbandskasse zu verlassen und glaubte vielmehr, den Ueberfluß zur Erhöhung der Verbandsleistungen verwenden zu sollen, um die Mitglieder desto fester an den Verband zu ketten. Er beantragte deshalb: 1. die Reiseunterstützung von 75 Pf. auf 1 Mk. (bei einer Wartezeit von 6 Wochen) bezw. 1 Mk. 25 Pf. (bei einer solchen von 50 Wochen), 2. die Arbeitslosenunterstützung von 1 Mk. 25 auf 1 Mk. 50 Pf., 3. die Invalidenunterstützung von 1 Mk. auf 1 Mk. 25 Pf., 4. das Begräbnisgeld auf 150 Mk. (bei 500 Wochenbeiträgen) bezw. 200 Mk. (bei 1000 Wochenbeiträgen) zu erhöhen. Umzugsgelder bis zur Höhe von 100 Mk. sollen auch bei freiwilligen Umzügen gezahlt werden. Außerdem soll der Preis für das Verbandsorgan von 1 Mk. auf 65 Pf. vierteljährlich herabgesetzt werden. Die Versammlung nahm diese Vorschläge an. Die Gehälter des Vorsitzenden, des Kassierers und des Redakteurs wurden von 2500 Mk., 2300 Mk. und 2200 Mk. auf 2900 Mk., 2600 Mk. und 2500 Mk. erhöht. Die Gesamtsumme dieser Mehrbelastungen beläuft sich auf jährlich 145000 Mk.

In einer Resolution gegen die Zuchthausvorlage wurde betont, daß auf dem Frankfurter Gewerkschaftskongresse die organisierten Arbeiter sich fast einstimmig[Pg 709] für friedliche Verständigung mit den Arbeitgebern durch Tarifvereinbarungen ausgesprochen hätten, daß aber die letzteren solche Vereinbarungen ablehnten und dadurch die wirtschaftlichen Kämpfe hervorriefen. Dabei stellte der Vorsitzende fest, daß die Ansicht der Generalversammlung dahin gehe, die Tarifvereinbarung mit den Prinzipalen, falls diese den Wünschen der Gehülfen nachkämen, nach Ablauf der gegenwärtigen Frist wieder zu erneuern. Die beantragte Einsetzung eines Verbandsausschusses als Kontrollkommission für den Vorstand wurde abgelehnt, ebenso die obligatorische Einführung des Verbandsorgans. Ein Antrag, mit dem Verbande der Buchdruckereihülfsarbeiter in ein näheres Verhältnis zu treten, um eine spätere vollständige Verschmelzung vorzubereiten, wurde abgelehnt und nur zur Unterstützung der „Solidarität“, des Organes der Hülfsarbeiter, 500 Mk. bewilligt.

Hinsichtlich des internationalen Buchdruckersekretariates, dem zur Zeit 19 Organisationen angeschlossen sind, kam es zu lebhaften Auseinandersetzungen, indem das Organ des schweizerischen Verbandes sich bei den Tarifstreitigkeiten auf die Seite der Opposition gestellt und aus diesem Grunde der deutsche Verband die Erneuerung des bestehenden Gegenseitigkeitsvertrages abgelehnt hatte. Die Generalversammlung stimmte einem abgeänderten Vertrage, der inzwischen schon von den Schweizern angenommen war, auch ihrerseits zu, sprach jedoch über die Haltung des schweizerischen Organes seinen Tadel aus.

Die Gewerkschaft der Buchdrucker hat am 6. August 1899 in Hannover ihren Kongreß abgehalten. Berichtet wurde, daß trotz des Rückganges der Preßfondsbeiträge die „Buchdruckerwacht“ in Zukunft gehalten werden könne. Die Zunahme der Mitglieder sei eine geringe; die Hoffnung, alle Tarifgemeinschaftsgegner in der Gewerkschaft zu vereinigen, habe sich nicht erfüllt, da die Anhänglichkeit der Buchdrucker an ihre Kassen zu groß sei. Aber nicht die Quantität, sondern die Dualität der Mitglieder bilde die Stärke einer Gewerkschaft. Ein Antrag, eine Einigung mit dem Verbande zu versuchen, wurde abgelehnt. Die Mitgliederzahl beträgt 226, der Kassenbestand 8357,91 Mk. Der nächste Kongreß soll in Kassel tagen.

IX[344].

Der Gewerkverein christlicher Berg-, Eisen- und Metallarbeiter für den Oberbergamtsbezirk Bonn hat am 9. Juli 1899 seine zweite Generalversammlung in Betzdorf abgehalten. Nach dem erstatteten Geschäftsberichte Zählt der Verein jetzt 7000 Mitglieder mit 79 Anmeldestellen; es sind nur 160 Austritte vorgekommen. Es wird hervorgehoben, daß der Verein seitens der Behörden wegen angeblicher sozialdemokratischer Tendenzen scharf beobachtet[Pg 710] sei, daß aber die Mitglieder bei den vorgekommenen schwierigen Fragen große Ruhe, Mäßigung und Disziplin bewiesen hätten.

X[345].

Zu dem am 21./22. Mai 1899 in Nürnberg abgehaltenen Verbandstage des Verbandes bayrischer Eisenbahnwerkstätten- und Betriebsarbeiter ist nachzutragen, daß dem Verlangen der Generaldirektion der Eisenbahnen wegen Aenderung der Statuten insoweit nachgegeben wurde, als § 20 der Statuten folgende Fassung erhielt:

„Das Bestreben des Verbandes ist insbesondere darauf gerichtet, für seine Mitglieder bei Erhaltung eines guten Einvernehmens mit allen obrigkeitlichen Staatsbehörden möglichst günstige Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erzielen und zwar: a) in Lohnfragen durch Eingaben und Petitionen an die königliche Regierung und den Landtag; b) durch Eingaben und Petitionen an die Eisenbahnbehörden durch Vertretung der Arbeiterausschüsse bei allen berechtigten Wünschen und Beschwerden; ferner auch die Ueberwachung der Arbeiterausschüsse zu vollziehen, damit diese die Interessen seiner Mitarbeiter auch wirklich wahrnehmen.“

Außerdem wurde beschlossen, den Beitritt zu dem Verbande auch Arbeitern des äußeren Betriebes zu gestatten. Der Antrag auf Gründung einer Krankenunterstützungskasse wurde abgelehnt, dagegen die Errichtung einer Sterbekasse, die am 1. August 1899 ins Leben treten soll, beschlossen. Man wählte ferner eine Petitionskommission, die bei dem Landtage verschiedene Forderungen, insbesondere Durchführung des 9stündigen Arbeitstages, Lohnerhöhung und Abschaffung der Akkordarbeit durchsetzen soll. Endlich wurde in einer Resolution Protest dagegen erhoben, daß der Bayrische Eisenbahnverband den Beruf habe, die Interessen der Werkstättenarbeiter zu vertreten, und dieses Recht vielmehr für den Verband in Anspruch genommen.

Die Generaldirektion hat übrigens auch die veränderte Statutenbestimmung mit der Begründung beanstandet, daß die Inanspruchnahme oder Beeinflussung der von der Staatseisenbahnverwaltung geschaffenen Arbeiterausschüsse nicht gestattet werden könne. Der Verbandsausschuß hat aber hierauf erwidert, daß er nicht in der Lage sei, seine Statuten nochmals zu ändern.

Die Mitgliederzahl war Ende Juli 1899 auf 1600 in 19 Werkstätten gestiegen.

XI[346].

Der Verband bayrischer Eisenbahnbediensteten zählte am 20. Juli 1899 3124 Mitglieder in 21 Obmannschaften und ist im weiteren Fortschreiten begriffen.

[Pg 711]

XII[347].

Dem Verbande kaufmännischer Vereine sind außer den früher genannten noch ferner beigetreten die kaufmännischen Vereine Bruchsal mit 186, Heidelberg mit 435, Lahr mit 263 und Ruhla mit 119 Mitgliedern, sowie der Verein für weibliche Angestellte in Stuttgart mit 325 Mitgliedern; der Gesamtbestand wird von dem Vorsitzenden für Ende Juni 1899 auf 101 Vereine mit 25277 Prinzipalen, 95783 Gehülfen, 4924 Lehrlingen und 1902 Nichtkaufleuten = 127886 Mitgliedern angegeben[348]. In der am 5./6. Juni 1899 in Eisenach abgehaltenen Generalversammlung forderte der Verband die Beseitigung der bisherigen übermäßig langen Arbeitszeit und anderer für die Gesundheit der Gehülfen nachteiligen Einrichtungen in den Ladengeschäften, ferner die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Ladenschlusses spätestens um 8 Uhr abends, die Errichtung kaufmännischer Schiedsgerichte und eine geregelte Unterstützung bei unverschuldeter Stellenlosigkeit. Man wünschte außerdem die Befreiung der Handlungsgehülfen von der allgemeinen Invaliditätsversicherung und die Schaffung einer eigenen Versicherungsanstalt, das Verbot der Sonntagsarbeit nach 10 Uhr vormittags und die Aufnahme einer Arbeitslosenstatistik im Anschluß an die nächste Volkszählung.

XIII[349].

Die katholischen Arbeitervereine der Erzdiözese Köln stehen schon seit längerer Zeit untereinander in einer näheren Verbindung; insbesondere haben sie bereits 4 Vertretertage abgehalten, nämlich 1895 in Düsseldorf, 1896 in Krefeld, 1897 in Köln und am 12. Juli 1898 in Essen. Auf dem letztgedachten Vertretertage wurde eine dauernde Organisation unter dem Namen „Verband der katholischen Arbeitervereine in der Erzdiözese Köln“ begründet. Organe sind 1. das Diözesankomitee, 2. die Generalversammlung der Präsides, 3. der jährliche Vertretertag der Arbeiter. Das Diözesankomitee besteht aus dem Diözesenpräses und den Bezirkspräsides. Es giebt 7 solche Bezirke, nämlich Köln, Aachen, M.-Gladbach, Krefeld, Düsseldorf, Essen und Elberfeld; in ihnen finden Bezirkskonferenzen statt. Auf dem Vertretertage in Essen wurde in einer Resolution die Bildung von Arbeiterberufsvereinen auf christlicher (interkonfessioneller) Grundlage für dringend notwendig erklärt zur Förderung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter wie auch zur Sicherung[Pg 712] eines dauernden friedlichen Verhältnisses und Verkehrs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wo die Bildung von Berufsvereinen noch nicht möglich ist, soll versucht werden, durch Fachabteilungen, Unterrichtskurse, Arbeiterschutzkommissionen u. s. w. ihre Thätigkeit vorläufig zu ersetzen.

Diözesenpräses ist Dr. Pieper in M.-Gladbach, dem seit 1. April 1899 ein Arbeiter als Arbeitersekretär beigegeben ist. Der Verband zählte am 1. April 1899 133 Arbeitervereine mit 32816 Mitgliedern.

Der „Verband der katholischen Arbeitervereine Süddeutschlands“ hat am 26. August 1899 in Nürnberg einen Vertretertag abgehalten, auf dem man sich gegen die Zuchthausvorlage und für Arbeitskammern erklärte; den Schwerpunkt der Verhandlungen bildete die Arbeiterwohnungsfrage.

XIV[350].

Ein „Verband christlicher Textilarbeiter“ ist am 31. August 1899 auch für Bocholt und Umgebung gegründet. Vorsitzender ist Webermeister Karl Schiffer. Dem Verbande traten sofort etwa 500 Mitglieder bei.

Ein gleicher Verband besteht in Wipperfürth mit 100 Mitgliedern. In Krefeld ist im März 1899 ein „Niederrheinischer Schutz- und Unterstützungsverein christlicher Textilarbeiterinnen“ mit 100 Mitgliedern gegründet.

XV[351].

Am 3. September 1899 ist in Düren ein „Gewerkverein christlicher Maurer“ mit 600 Mitgliedern gegründet. Derselbe bezweckt den Schutz und die Förderung der Rechte und Interessen seiner Mitglieder nach christlichen Grundsätzen und auf gesetzlichem Wege. Dieses Ziel wird angestrebt 1. durch Errichtung von Ausschüssen, die bei etwaigen Meinungsverschiedenheiten betreffs der Lohnfragen, der Arbeitszeit und des Arbeitsschutzes mit den zuständigen Organen in Verbindung treten und die Vermittelung übernehmen; 2. durch Regelung des Arbeitsnachweises; 3. durch Besserung der Wohnungsverhältnisse; ferner 4. durch Errichtung einer Hülfskasse für besondere Fälle, beziehungsweise durch Vermittelung des Anschlusses an andere bereits bestehende ähnliche Kassen.

XVI[352].

Der Arbeitgeberbund für das Maurer- und Zimmerergewerbe in Berlin hat im Juni 1899 einen Streit mit seinen Arbeitern ausgefochten, der weitgehendes Interesse erregt hat. Da die von dem Zentralverein der Maurer geforderte Erhöhung des Stundenlohnes von 60 auf 65 Pf. auf einigen Bauten[Pg 713] bewilligt, auf anderen aber abgelehnt wurde, so wurde auf den letzteren die Arbeit niedergelegt. Der Arbeitgeberbund beantwortete dies mit einer allgemeinen Aussperrung der Maurer, was zur Folge hatte, daß diese den allgemeinen Ausstand erklärten, dem sich auch die lokalorganisierten Maurer und die im Verein „Arbeiterschutz“ befindlichen anschlossen. Der Arbeitgeberbund beabsichtigte nun, die Aussperrung auf ganz Deutschland auszudehnen, und berief auf den 19. Juni 1899 eine Konferenz deutscher Baugewerksmeister nach Berlin, auf dem die auswärtigen Vertreter im allgemeinen sich mit dem Plane einverstanden erklärten; ein auf den 27. Juni berufener Kongreß sollte über die weiteren Maßregeln beschließen. Zugleich richtete man an die Lieferanten von Baumaterial die Aufforderung, während des Streites Baumaterialien an diejenigen Unternehmer, die weiter arbeiten ließen, nicht zu liefern. Es ist das große Verdienst des Berliner Gewerbegerichtes, daß es bei dieser Sachlage eingriff und ohne die Aufforderung der streitenden Teile abzuwarten, die Vermittelung in die Hand nahm. In der That ist in einer Versammlung, die am 24. Juni stattfand, und an der außer den Vertretern der Berliner Maurer auch der Vorsitzende des Zentralvereins der Maurer Deutschlands, sowie der Vertreter der Berliner Gewerkschaftskommission teilnahm, eine völlige Einigung erreicht, die nicht nur den augenblicklichen Streitpunkt dahin erledigt, daß die Einführung des Lohnes von 65 Pf. stufenweise bis zum 1. Oktober 1900 erfolgt, sondern die Schaffung einer Tarifgemeinschaft bedeutet und deshalb von ganz besonderer Tragweite ist. Es wird nämlich eine Kommission aus je 9 Vertretern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerorganisationen gebildet, der die Regelung der Arbeitszeit, der Pausen, der Lohnverhältnisse, die Einrichtung der Werkstätten u. dgl., sowie die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen beiden Parteien obliegt. Gegen die Entscheidung der Kommission kann innerhalb 3 Tagen die Entscheidung des Gewerbegerichtes als Einigungsamtes angerufen werden. Bis zum endgültigen Spruche der Kommission oder des Einigungsamtes dürfen Bausperren unter keiner Bedingung verhängt werden; nach der endgültigen Entscheidung sind sie nur insoweit zulässig, als derselben nicht Folge geleistet wird. Alljährlich im Herbst tritt die bezeichnete Kommission zusammen, um für die nächste Bauperiode die Arbeits- und Lohnverhältnisse festzusetzen; ihrer Entscheidung haben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu unterwerfen. Unter den 9 Vertretern der Arbeiter soll sich je ein Mitglied des Zentralverbandes, der Lokalorganisation und der Gewerkschaftskommission befinden.

Diese Verständigung ist nach ihrer Billigung seitens beider Teile in Kraft getreten; die wesentliche Bedeutung derselben liegt darin, daß beide Teile ihre gegenseitigen Organisationen als berechtigt zur Erledigung örtlicher Streitigkeiten anerkannt haben.

[Pg 714]

Das gute Beispiel der Maurer hat zur Folge gehabt, daß auch seitens der Zimmerer und der Bauhülfsarbeiter Schritte eingeleitet sind, um ähnliche Einrichtungen zu schaffen.

Hat bei den mitgeteilten Verhandlungen der Arbeitgeberbund ein anerkennenswertes Entgegenkommen bewiesen, so ist derselbe doch durchaus nicht gewillt, die auf die Erweiterung der Machtsphäre der Unternehmer gerichteten Bestrebungen fallen zu lassen, vielmehr hat er in einer Vorstandssitzung vom 5. August 1899 beschlossen, an den Bundesrat, die Ministerien der Bundesstaaten und an die Konservativen und die Zentrumsfraktion des Reichstages Proteste gegen die Errichtung paritätischer Arbeitsnachweise zu richten, letztere vielmehr ausschließlich für die Arbeitgeber zu beanspruchen; ebenso erklärte man sich für die Zuchthausvorlage.

XVII[353].

Der bestehende Verband der Böttchermeister hat seine Wirksamkeit auf ganz Deutschland ausgedehnt und führt deshalb jetzt den Namen: „Verband der Faßfabrikanten und Böttchermeister“. Als Zweck wird in den Statuten bezeichnet die Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses untereinander und der Schutz gegen irgend welche unberechtigten Angriffe. Der jährlich zusammentretende Verbandstag hat das Recht, neben den jährlichen auch außerordentliche Beiträge auszuschreiben, deren Höhe nicht bestimmt ist. Wer trotz zweimaliger Aufforderung den Beschlüssen des Verbandstages oder den Vorschriften des Statutes zuwiderhandelt, kann aus dem Verbande ausgeschlossen werden. Auf dem Verbandstage hat der Vorstand über die wichtigsten Angelegenheiten des Verbandes, insbesondere über „Lohn-Streik-Bewegungen“ Bericht zu erstatten. Nähere Bestimmungen über die weitere Behandlung sind nicht gegeben.

XVIII[354].

Eine interessante Arbeitgebervereinigung ist der „Verband der deutschen Schuh- und Schäftefabrikanten“. Schon 1880 wurde derselbe in einer Versammlung in Eisenach gegründet; er zählt heute 12 Zweigverbände mit 230 Mitgliedern. Der Zweck des Verbandes ist nach dem Statute die Wahrnehmung der Interessen der deutschen Schuh- und Schäfteindustrie; insbesondere verpflichten sich die Mitglieder, bei vorkommenden Arbeitseinstellungen sich gegenseitig zu unterstützen. In einem besonderen Anhange zum Statute sind die „Bestimmungen über die Pflichten der Mitglieder bei Arbeiterbewegungen“ zusammengestellt.[Pg 715] Danach will der Verband den koalierten Arbeitern ein feste Koalition der Fabrikanten gegenüberstellen, doch wird der Schwerpunkt der Thätigkeit in die Zweigvereine gelegt. Jedes Mitglied hat Streitigkeiten mit seinen Arbeitern, die er nicht selbst zu schlichten vermag, sofort bei dem Vorstande des Zweigvereins zur Anzeige zu bringen, der nach gewissenhafter Prüfung die Beilegung auf gütlichem Wege versucht. Mißlingt dieselbe und trifft den Fabrikanten keine Schuld, so sind die Mitglieder des Verbandes verpflichtet, während der Dauer der Arbeitseinstellung die streikenden Arbeiter nicht zu beschäftigen. Nach Beendigung des Ausstandes dürfen solche Arbeiter innerhalb der nächsten 4 Wochen nur dann eingestellt werden, wenn der frühere Arbeitgeber auf deren Beschäftigung verzichtet. Bei Zuwiderhandlungen kann der Vorstand eine Konventionalstrafe bis zu 500 Mk. festsetzen oder auch den Ausschluß aus dem Verbände verfügen. Der Verband hat einheitliche Entlassungsscheine eingeführt und für alle Mitglieder obligatorisch gemacht. Das für die Zweigvereine aufgestellte Normalstatut enthält noch nähere Bestimmungen. Danach hat nach erfolgter Anzeige eines Streitfalles der Vorstand sofort eine außerordentliche Generalversammlung einzuberufen, in welcher der Fall zu prüfen ist. Bedarf es weiterer Aufklärung, so wird eine Kommission aus 3 Mitgliedern eingesetzt, welche die Parteien zu hören und sich durch Prüfung der Beweisstücke, insbesondere der Listen und Bücher, ein Urteil zu bilden hat. Entscheidet die Kommission gegen das Mitglied, so hat dasselbe unverzüglich Folge zu leisten. Im umgekehrten Falle hat die Kommission ihre Entscheidung den Arbeitern zu eröffnen. Fügen diese sich nicht, so ist sofort eine neue Generalversammlung einzuberufen, die das Recht hat, die sofortige Einteilung des Betriebes bei allen Verbandsmitgliedern zu beschließen. Jedes Mitglied hat nach 4 Klassen (Wochenarbeitslohn bis 500, 1000, 1500 und 2000 Mk.), nach dem sich auch das Stimmrecht bestimmt, Solawechsel Von 3000–9000 Mk. zu hinterlegen, die bei Widerstand gegen die Beschlüsse der Generalversammlung in Umlauf gesetzt werden.

Schon bei Begründung des Verbandes wurde betont, daß man das Koalitionsrecht der Arbeiter nicht antasten, sondern nur deren fest geschlossener Organisation eine gleiche gegenüberstellen wolle. Auch in der am 18. Juni 1899 in Breslau abgehaltenen jährlichen Hauptversammlung betonte der Vorsitzende, daß die Bestrebungen stets auf die friedliche Beilegung auftauchender Schwierigkeiten gerichtet gewesen seien, daß man sich lediglich in der Defensive halte und deshalb auch im letzten Verbandsjahre der gütliche Weg stets zum Ziele geführt habe. „Treten Arbeiter in anständiger Form an uns heran, so darf der Arbeitgeber nicht gleich nervös werden und es dem wirtschaftlich Schwächeren verdenken, wenn er seine Lage zu verbessern trachtet. Das Bestreben[Pg 716] nach höheren Löhnen ist nicht zu den ungerechtfertigten Forderungen zu zählen Man benimmt sich mit den Leuten und bei ruhiger Aussprache ist eine Verständigung in der Regel zu erzielen. Dagegen sind Forderungen, wie z. B. die Erzwingung des 1. Mai als Feiertages, überhaupt alle Machtfragen entschieden zurückzuweisen.“ Ebenso verwarf der Vorsitzende unter allgemeinem Beifall auf das entschiedenste die Zuchthausvorlage mit der Begründung, daß dieselbe sich als einen Eingriff in die stets von dem Verbande festgehaltene Koalitionsfreiheit der Arbeiter darstelle, die man auch für sich selbst in Anspruch nehme. Die bestehenden Gesetze reichten vollkommen aus und man bedürfe keiner weiteren polizeilichen Schutzmittel. Der Verband beschränkt übrigens seine Thätigkeit nicht auf das Arbeitsverhältnis, sondern sucht auch hinsichtlich der allgemeinen Lage der Industrie Einfluß auf die Gesetzgebung und Verwaltung zu gewinnen, insbesondere hat er in betreff der Handelsverträge sowie der Revision der Gewerbe- und Konkursordnung mit Erfolg eingegriffen. Der Sitz des Verbandes ist Berlin.

XIX[355].

In Stuttgart ist am 19. Juni 1899 der „Verband südwestdeutscher Holzindustrieller“ gegründet. Die Veranlassung bot ein Anfang Mai ausgebrochener Streik der Möbelarbeiter, der 12 Wochen dauerte und in dem es sich hauptsächlich um die Einführung des 9stündigen Arbeitstages und eines Minimallohnes handelte. Der Verband stellt sich die Aufgabe: a) die wirtschaftlichen Interessen der Holzindustriellen zu wahren: b) in Streitfragen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen Ausgleich anzustreben und womöglich eine beide Teile befriedigende Vermittelung herbeizuführen; c) Bestrebungen, welche darauf gerichtet sind, die Arbeitsbedingungen, einseitig vorzuschreiben und zu diesem Zweck geplante Ausstände gemeinsam abzuwehren und in ihren Folgen unschädlich zu machen; d) einheitliches Handeln in allen Fragen, welche für das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter von grundsätzlicher Bedeutung sind, z. B. Maximalarbeitstag, Minimallohn, Abschaffung der Akkordarbeit, Arbeiterfeiertage, Arbeitsordnungen u. s. w.

Mitglieder des Verbandes können alle selbständigen Gewerbetreibenden der Holzindustrie in Württemberg, Baden, Hessen und Elsaß-Lothringen werden; dieselben haben nach der Anzahl der beschäftigten Arbeiter 1–8 Stimmen. Die hier einschlagenden Bestimmungen des Statutes lauten:

In allen das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betreffenden Angelegenheiten haben sich die Mitglieder des Verbandes nach dem Grundsatz[Pg 717] zu richten, daß jedes einzelne Mitglied des Verbandes stets nur mit seinen eigenen Arbeitern oder mit einem von diesen selbst aus ihrer Mitte gewählten Ausschusse zu verhandeln hat, daß dagegen Verhandlungen mit irgend welchen nicht zu der eigenen Arbeiterschaft gehörenden Mittelspersonen abzulehnen sind. Sollten derartige Verhandlungen erforderlich werden, so werden sie ausschließlich durch den Verbandsvorstand geführt. Desgleichen ist die Vertretung der Verbandsinteressen in der Oeffentlichkeit ausschließlich Sache des Ausschusses, und sollen sich die einzelnen Verbandsmitglieder aller Kundgebungen in den Tagesblättern und dergleichen enthalten, soweit sie nicht ausnahmsweise hierzu vom Vorstand ermächtigt sind.

Wird in einer Verbandswerkstätte von seiten der Arbeiter ein Ausstand oder eine Sperre erklärt, so ist dem Vorstande sofort Mitteilung zu machen. Dieser soll alsdann baldigst eine Untersuchung einleiten, welche klarstellt, ob und inwieweit den Arbeitgeber ein Verschulden trifft. Alsdann hat der Vorstand eine Sitzung des Ausschusses einzuberufen. Der betreffende Arbeitgeber ist berechtigt, den Sitzungen des Ausschusses der Regel noch beizuwohnen, jedoch ist der Vorstand befugt, auch Sitzungen ohne dessen Zuziehung abzuhalten oder ihn zeitweise sich entfernen zu lassen. Ist der beteiligte Arbeitgeber selbst Mitglied des Ausschusses, so steht ihm bei der Beschlußfassung kein Stimmrecht zu.

Falls der Ausschuß beschließt, daß der Fabrikant den Forderungen der Arbeiter ganz oder teilweise nachgeben soll, so ist das Nähere hierüber festzusetzen und der Fabrikant verpflichtet, diesen Beschluß durchzuführen und die beschlossene Bewilligung der gestellten Forderungen der Arbeiter durch Anschlag zur Kenntnis der letzteren zu bringen.

Erklärt der Ausschuß den Streik für nicht berechtigt, so hat der Vorstand das Verzeichnis der beteiligten Arbeitnehmer sofort sämtlichen Verbandsmitgliedern mitzuteilen. Nach erfolgter Mitteilung darf kein Verbandsmitglied einen streikenden Arbeiter in seinem Betriebe beschäftigen und muß einen aus Versehen eingestellten Arbeiter alsbald wieder entlassen, und zwar so lange, bis von dem Vorstande bekannt gemacht wird, daß einer Beschäftigung der beteiligten Arbeiter bei den Mitgliedern des Verbandes nichts mehr im Wege steht.

Findet eine Beilegung des Ausstandes nicht statt, so hat der Vorstand das Recht, die in der notleidenden Fabrik vorliegenden Aufträge auf die übrigen Fabriken zu verteilen, während letztere verpflichtet sind, dieselben mit gleicher Sorgfalt wie ihre eigenen Aufträge auszuführen, soweit dies nach der Natur der Sache ohne besondere Schwierigkeit oder Benachteiligung des eigenen Betriebes geschehen kann.

Sollten die Arbeitnehmer derjenigen Firma, welcher die Ausführung der Arbeit übertragen worden ist, sich weigern, die Arbeit auszuführen, so sind dieselben[Pg 718] zu entlassen. Eine weitergehende Unterstützung einzelner durch die erwähnten Ereignisse betroffener Betriebe, sei es durch Geldunterstützung, sei es in anderer Weise, kann durch die Verbandsversammlung und in dringenden Fällen durch den Ausschuß beschlossen werden.

Ein Rechtsanspruch auf die in gegenwärtigem Paragraphen in Aussicht gestellte Beihülfe steht den einzelnen Verbandsmitgliedern nicht zu.

Bei Zuwiderhandlungen hat der Ausschuß eine Konventionalstrafe in Höhe von 20 Mk. bis 5000 Mk. zu verhängen.

XX[356].

Der Tarifausschuß der deutschen Buchdrucker hat am 15./16. Mai 1899 seine dritte Jahressitzung in München abgehalten. Der erstattete Geschäftsbericht stellt fest, daß der Zweck der Organisation, die Verallgemeinerung des Tarifs, auch im verflossenen Jahre wirksam verfolgt sei und daß man dabei auch nicht davor habe zurückschrecken dürfen, Tarifgegner in beiden Lagern zu bekämpfen. Die in dieser Richtung seitens des Tarifamtes unternommenen Schritte[357] hätten freilich in gewerblichen Kreisen Aufsehen erregt, weil sie von einer Gemeinschaft der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Zeugnis ablegten, wie solche in keinem anderen Gewerbe vorhanden, wie sie aber geboten sei, wenn Ordnung und Friede im Gewerbe herrschen solle. Das Ergebnis der betriebenen Agitation zeigt folgende, mit der früher gegebenen[358] zu vergleichende Tabelle. Es wurden am 6. Mai 1899 nach dem Tarif beschäftigt:

im I. Kreise in 147 Orten bei   497 Firmen   3967 Gehülfen
II.   94   192   1450
III.   60   202   1736
IV. 111   277   2782
V. 124   299   2627
VI.   85   198   1923
VII. 127   444   5149
VIII.   58   433   6010
IX.   74   162   1805
zusammen in 880 Orten bei 2704 Firmen 27449 Gehülfen.

Da aber bei der Erhebung, auf der diese Angaben beruhen, von 6000 entsandten Fragebogen nur 2154 brauchbar ausgefüllt waren, so sind die[Pg 719] Ziffern erheblich zu niedrig, vielmehr ergiebt sich bei entsprechender Berichtigung, daß insgesamt in 3482 Betrieben 30551 tarifmäßig und 1940 unter Tarif entlohnte Gehülfen beschäftigt sind.

Zu den schon früher errichteten Schiedsgerichten sind solche in Frankfurt a. M., Karlsruhe, Königsberg, Mainz, Mannheim und Würzburg hinzugekommen, so daß jetzt 20 bestehen. Arbeitsnachweise giebt es 58. Im II. Kreise ist die Wahl eines Prinzipalvertreters für den Ausschuß noch immer nicht zustande zu bringen gewesen.

Den Hauptpunkt der Verhandlungen bildete wieder die Setzmaschinenfrage. Das Tarifamt hatte einen Tarif ausgearbeitet, aber der Antrag, denselben seitens des Tarifausschusses einzuführen, wurde mit Stimmengleichheit abgelehnt, indem die Prinzipale den Standpunkt vertraten, daß dies eine Aenderung des Tarifs bedeuten würde, die vor 1901 nicht zulässig sei, während die Gehülfen behaupteten, daß es sich um ein bei Aufstellung des Tarifs gar nicht berücksichtigtes neues Gebiet handle. Dabei wurde mitgeteilt, daß in Deutschland bereits 170 Setzmaschinen im Betriebe seien. Die Prinzipale erklärten übrigens, einer Regelung der Angelegenheit seitens des Ausschusses sich nicht widersetzen zu wollen, doch könne es sich dabei nur um eine Empfehlung handeln, deren Berücksichtigung dem freien Ermessen der Prinzipale und Gehülfen überlassen bleiben müsse, und außerdem müßten die vom Tarifamt vorgeschlagenen Sätze erst noch von einer Kommission geprüft werden. Eine solche wurde darauf gewählt.

Nachdem Büxenstein sich auf allgemeinen Wunsch bereit erklärt hatte, wieder den Vorsitz zu übernehmen, wurde beschlossen, den Sitz des Tarifausschusses und des Tarifamtes für die nächsten 3 Jahre wieder nach Berlin zu verlegen.

Fußnoten:

[326] Es war nicht möglich, bei der großen Anzahl der behandelten Organisationen überall die Darstellung bis auf die bei dem Drucke des Buches laufende Gegenwart fortzuführen, denn dies würde, abgesehen von anderen Schwierigkeiten, erfordert haben, vor Abschluß des Manuskriptes von jeder einzelnen Organisation Ergänzungen der früheren Angaben zu erbitten. Ich sehe auch nicht hierin die Bedeutung meiner Arbeit. Immerhin glaube ich dasjenige Material, welches mir bis zur Beendigung des Druckes bekannt wurde, den Lesern mitteilen zu sollen und thue dies in der Form von Nachträgen, wobei ich stets die Stelle des Buches, an welche das Nachgetragene anknüpft, angeben werde, indem ich bitte, dort die entsprechende Verweisung anzubringen.

[327] Anschluß an S. 62 u. 619.

[328] Vgl. S. 617.

[329] Vgl. S. 42.

[330] Anschluß an S. 85.

[331] Vgl. S. 81.

[332] Die letzteren sind wenig zahlreich und deshalb mit den „Unabhängigen“ zusammengerechnet.

[333] Anschluß an S. 110.

[334] Anschluß an S. 146.

[335] Anschluß an S. 154 und 622.

[336] Vgl. „Soziale Praxis“ Nr. 37 vom 15. Juni 1899.

[337] Anschluß an S. 178.

[338] Der Aufsatz ist im Korrespondenzblatt der Generalkommission Nr. 26 vom 10. Juli 1899 auszugsweise wiedergegeben.

[339] Anschluß an S. 254.

[340] In Nr. 30 des Korrespondenzblattes vom 7. August 1899.

[341] Streikunterstützung für andere Gewerbe.

[342] S. 254.

[343] Anschluß an S. 293.

[344] Anschluß an S. 312.

[345] Anschluß an S. 339.

[346] Anschluß an S. 340.

[347] Anschluß an S. 352.

[348] Die mitgeteilten Zahlen der neu beigetretenen 5 Vereine würden höhere Gesamtziffern ergeben; vielleicht sind die beiden österreichischen Vereine nicht mitgezählt.

[349] Anschluß an S. 390.

[350] Anschluß an S. 405.

[351] Anschluß an S. 407.

[352] Anschluß an S. 568.

[353] Anschluß an S. 585.

[354] Anschluß an S. 582. Das Material verdanke ich dem Verbandsvorsitzenden, Herrn Kommerzienrat Manz in Bamberg.

[355] Anschluß an S. 582. Das Material verdanke ich dem Verbandsvorsitzenden, Herrn H. Sorge.

[356] Anschluß an S. 642.

[357] Vergl. S. 641 f.

[358] Vergl. S. 637.

[Pg 720]

Register.

[Pg 731]


Berichtigungen.

S. 19 Z. 8 lies seinen Namen statt ihren Namen
S. 30 Anm. 1 ergänze Siehe unten S. 418, 419.
S. 33 Anm. 1 ergänze Siehe unten S. 433.
S. 39 Z. 7 lies seien statt seinen.
S. 40 Z. 28 lies welche statt welches.
S. 49 Z. 8 lies Labourers statt Lobourers.
S. 63 Anm. 1 Z. 5 lies professionels statt professinnels.
S. 72 Anm. 1 ergänze Siehe unten S. 422 ff.
S. 77 Z. 17 lies toute statt tonte.
S. 78 Z. 17 lies tiendront statt tiendrout.
S. 80 Z. 4 lies conseil statt conscil.
S. 93 Anm. 1 ergänze Siehe unten S. 602.
S. 132 Z. 10 v. u. lies Kantonalverbände statt Kontonalverbände.
S. 135 Anm. 1 Z. 3 lies publics statt publies.
S. 141 Z. 11 v. u. lies Groningen statt Gronigen.
S. 150 Z. 16 v. u. lies lavoratori statt lovoratori.
S. 165 Anm. 1 ergänze Siehe unten S. 416.
S. 170 Anm. 2 ergänze Siehe oben S. 136.
S. 210 Anm. 1 ergänze Siehe unten S. 265.
S. 233 Z. 8 v. u. lies Das statt Der.
S. 234 Z. 10 lies treffenden statt betreffenden.
S. 241 Z. 7 v. u. lies einer statt eines.
S. 260 Z. 6 lies Nationalbuchdruckerverein statt Rationalbuchdruckerverein.
S. 322 Z. 8 v. u. lies allgemeinen statt allgemein.
S. 332 Z. 1 lies oben statt ohne.
S. 351 Anm. 2 lies Namen statt Roman.
S. 362 Z. 8 lies deckt statt denkt.
S. 421 Z. 10 v. u. lies mehrstündiger statt mehrständiger.
S. 422 Z. 15 v. u. lies Paris statt Paries.
S. 432 Z. 7 lies Widerstand statt Wiederstand.
S. 433 Z. 16 lies Nieuwenhuis statt Nieuvenhuis.
S. 440 Z. 11 lies daß statt das.
S. 452 Z. 1 lies Verbände statt Verbünde.
S. 461 Z. 3 lies Verminderung statt Vmiernderung.
S. 464 Z. 7 lies Engländer statt Endländer.
S. 470 Z. 13 v. u. lies federation statt fédération.
S. 487 Z. 12 lies Widerspruch statt Wiederspruch.
S. 488 Z. 11 v. u. lies Widerspruch statt Wiederspruch.
S. 500 Z. 12 lies keramischen statt koramischen.
S. 504 Z. 5 lies Charleville statt Charleville.

Druck von Ant. Kämpfe in Jena.


Anmerkungen zur Transkription:

Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind kursiv dargestellt. Für Abkürzungen wie Dr. und römische Zahlen wie XV wurde dies nicht angewendet.

Gesperrter Text wurde mit Dollarzeichen ($Text$), fett gedruckter Text mit Gleichheitszeichen (=Text=) und kursiver Text wurde mit Unterstrich (_text_) markiert.

Die inkosistente Darstellung von Leerzeichen in Zahlen wurden entfernt.






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